Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/23/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Bettina Stark-Watzinger (Minister:in)

Politiker ID: 11004902

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns in einem doch wohl einig sind, dann darin: Die Idee des BAföG ist gut. Aber jedes Zukunftsinstrument wird irgendwann alt, wenn es keine Reformen bekommt, und erreicht dann auch nicht mehr alle, die es erreichen sollte. Die Zeiten ändern sich, also ändern wir heute das BAföG. ({0}) Höhere Freibeträge machen es künftig attraktiver. Der digitale Antrag macht es moderner. Die höhere Altersgrenze macht es flexibler. Und wir füllen eine weitere Stufe des Aufstiegsversprechens in unserem Land wieder mit neuem Leben. Darum geht es heute, und dafür werbe ich um Ihre Zustimmung. ({1}) Wir bringen das BAföG zurück in die Zukunft und passen es an die Realität des 21. Jahrhunderts an. Wir müssen vorankommen – dringend; denn Bildung ist zukunftsentscheidend. Deshalb bin ich froh, dass wir so schnell mit der BAföG-Reform sind. Ich bedanke mich bei den Koalitionspartnern, ich bedanke mich bei meinem Haus, und ich bedanke mich auch bei meinem Staatssekretär Jens Brandenburg, dass wir das so schnell auf den Weg gebracht haben. ({2}) Das BAföG ist ein Sprungbrett für alle, für die die Hürde sonst zu hoch wäre. Springen muss natürlich jeder noch selbst, aber jeder und jede soll es schaffen können. Das ist die Aufgabe von uns in der Politik: zu ermöglichen. Damit alle eine freie Wahl beim eigenen Bildungsweg haben und ihn selbstständig gehen können. Die bisherige Förderung hat noch zu viele ausgeschlossen. Wir kehren diesen Trend um: Mehr BAföG heißt mehr Freiheit. ({3}) Dazu gehört in unserer modernen Welt, auch mal ein Auslandsjahr zu machen, die eigene Komfortzone zu verlassen, sich in einer anderen Sprache auszutauschen, internationale Kontakte zu knüpfen und Verständnis für andere Kulturen zu entwickeln. Sich diese wertvollen Erfahrungen leisten zu können – auch das ist eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit. Deshalb stärken wir beim BAföG auch die Auslandsförderung. Das betrifft den Zuschlag für die Studiengebühren und die Ausweitung auf einjährige Masterprogramme auch außerhalb der EU. Ein Auslandsstudium darf ebenso wenig am Geld scheitern wie ein Inlandsstudium. ({4}) Die Änderungen im BAföG wirken sich übrigens auch zugunsten der beruflichen Bildung aus, im Schüler-BAföG und im Aufstiegs-BAföG. Es kommt beruflichen Aufsteigern zugute. Wer sich bilden will, der soll das auch können. Bildungschancen sind die höchste Form von Respekt, die wir jedem Einzelnen in unserem Land entgegenbringen können, egal auf welchem Weg. Heute ist auch der Berufsbildungsbericht Thema. Auch hier sehen wir: Es gibt noch viel zu tun. Es muss kein Studium sein. BAföG heißt nicht: Alle sollen studieren. Sondern: Alle sollen studieren können. ({5}) Wer lieber eine Ausbildung macht, den ermutigen wir, diesen Weg zu gehen. Die Unternehmen suchen Nachwuchs, und zwar händeringend. Die Auszubildenden von heute sind unsere Fachkräfte von morgen. Deswegen setzen wir auch weiter auf die Allianz für Aus- und Fortbildung. Sie ist ein verlässliches Bündnis. Zugleich bereiten wir eine Exzellenzinitiative „Berufliche Bildung“ vor; denn unser duales Bildungssystem ist seit Jahrzehnten Garant für unseren Wohlstand, und das muss auch so bleiben. Akademische und berufliche Bildung stehen nebeneinander, und das müssen wir tief in unsere Gesellschaft hineintragen. Beide Systeme sind gleichwertig, beide Systeme brauchen die richtigen Talente, und Abschlüsse beider Systeme sind gefragt: ob Meister oder Master, ob Bachelor oder Gesellenbrief. Und das ist gut so. ({6}) Meine Damen und Herren, deshalb ist es so wichtig, dass alle ihre ganz persönlichen Chancen leben können und auch vor Augen haben – auch das BAföG. Viele kennen es, aber nicht alle, die einen Anspruch darauf haben, wissen das. Auch das wollen wir ändern, indem wir die Reform mit einer zielgruppengerechten Informationskampagne begleiten und indem wir immer wieder deutlich machen: Nachrechnen lohnt sich. Denn: Bildung lohnt sich – für uns alle. Ich freue mich auf die Debatte. Herzlichen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Katrin Staffler. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Vorbereitung auf die heutige Debatte habe ich mir noch mal die Reformen, die in den letzten 16 unionsgeführten Jahren zum BAföG gemacht worden sind, angesehen. Fünf grundlegende Reformen waren es; drei davon haben wir zusammen mit der SPD auf den Weg gebracht, zwei zusammen mit der FDP. Jedes Mal ist das BAföG für die Studierenden Schritt für Schritt ein Stück besser geworden und hat die Bildungsgerechtigkeit in unserem Land verbessert. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie heute genauso wie in der letzten Debatte, die wir vor ein paar Wochen hier zum BAföG geführt haben, vorhaben, zu behaupten, die Union habe in den letzten Jahren nichts für die Studierenden getan, dann würde ich Ihnen vorschlagen: Schreiben Sie Ihre Reden schnell noch mal um. Das sind nämlich nichts anderes als Fake News. Da helfen Sie Ihrem Gedächtnis besser noch mal ein wenig auf die Sprünge. – Weil ich gut gelaunt bin, kann ich es auch positiv ausdrücken: Machen Sie sich doch bitte nicht kleiner, als Sie sind. ({0}) Also, weg von den Fake News, hin zu den Tatsachen. Die Gefördertenzahlen gehen seit Jahren zurück. Ja, das ist Fakt, und das gefällt uns, gleichermaßen wie Ihnen, natürlich nicht. Anders als Sie in der Ampelregierung haben wir uns aber mit der Frage auseinandergesetzt: Warum gehen denn die Gefördertenzahlen eigentlich zurück? Und anders als Sie sind wir eben nicht der Meinung, dass wir das Problem einfach irgendwie mit Geld zuschütten können. Wir müssen an die wahren Ursachen ran und da ansetzen, wo wirklich das Problem liegt. Was eben nicht zu den Ursachen gehört, die wir bekämpfen sollten, sind zum Beispiel steigende Löhne der Eltern in den vergangenen Jahren oder das zunehmende Autonomiebedürfnis der Studierenden, die sich ihr Studium sehr gerne selber finanzieren möchten und dabei gleichzeitig auch noch Berufserfahrung sammeln. Ich glaube, das sind eher Punkte, über die wir uns freuen sollten, und keine Punkte, die wir bekämpfen sollten. Das darf uns aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das BAföG sehr wohl dringend reformiert werden muss. Deshalb adressieren wir in den Anträgen, die wir gestellt haben, die wirklichen Gründe für den Rückgang der Gefördertenzahlen, zum Beispiel die komplizierte Antragstellung; wir haben das in der Anhörung dazu gehört. Auch die langen Bearbeitungszeiten sind so ein Thema. Aus unserer Sicht soll sich der Beirat für Ausbildungsförderung mit der Vereinfachung der BAföG-Antragsverfahren auseinandersetzen und dazu dann auch noch die wissenschaftliche Expertise in Form von Evaluationen einholen können. Ich glaube, dass das ein wichtiger Schritt ist, um dieses Thema voranzubringen. Außerdem fordern wir die Regierung auf, darauf hinzuwirken, dass weitere Schritte hin zur Vereinfachung bei der BAföG-Antragstellung gemacht werden. Man kann zum Beispiel die Zahl der Nachweise, die gebraucht werden, reduzieren. Wir sollten auch einen elektronischen Datenaustausch zwischen BAföG-Ämtern auf der einen Seite und anderen Behörden auf der anderen Seite möglich machen. Die rechtlichen Grundlagen für diesen Austausch haben wir am Ende der letzten Legislaturperiode mit dem Registermodernisierungsgesetz bereits gelegt; das heißt, die Grundlagen sind gegeben. ({1}) Auf dieser Grundlage kann man jetzt vonseiten des Bundes darauf hinwirken, dass die Bearbeitung der Anträge beschleunigt wird. Auch dabei kann der Ausbau der Digitalisierung helfen. Ja, ich weiß, die Länder sind in den BAföG-Ämtern federführend; aber natürlich können wir als Bund einen Prototyp zur digitalen Antragsbearbeitung entwickeln und diesen testmäßig nutzen. Auch das Thema Regelstudienzeit muss unter die Lupe genommen werden. Dafür braucht es aus unserer Sicht eine Evaluation, und zwar aufgeschlüsselt nach Studiengängen, damit wir überhaupt eine statistische Grundlage haben, nach der wir die bestehende Förderhöchstdauer sachgerecht beurteilen können. ({2}) Es wäre also vieles möglich, um beim BAföG einen weiteren Schritt in Richtung Zukunft zu machen. Leider haben Sie im Ausschuss aber schon sehr deutlich gemacht, dass Sie unsere Vorschläge ablehnen. Dabei hat uns doch der 22. BAföG-Bericht, der jetzt vorliegt, gezeigt, dass wir mit der 26. Novelle, also der Novelle, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, auf dem richtigen Weg waren; denn der Rückgang der Gefördertenzahlen ist laut Bericht ja sehr deutlich zurückgegangen. Aber natürlich sind wir hier noch nicht am Ende des Weges angekommen. Deswegen müssen wir jetzt die Schritte, die wir angesetzt haben, weitergehen. Ich möchte zum Abschluss auf unsere letzte Debatte vor einigen Wochen zu dieser Reform zurückkommen. Man hätte den Eindruck bekommen können, dass wir in der letzten Legislaturperiode in gemeinsamer Regierungsverantwortung mit der SPD gar nichts für die Studierenden getan hätten. Deshalb noch einmal zu den Fakten: Als im Jahr 2019 die 26. Novelle in Kraft getreten ist, lag die Inflation bei 1,4 Prozent. Die Bedarfssätze haben wir damals um 7 Prozent erhöht. ({3}) Im Mai dieses Jahres lag die Inflationsrate bei 7,9 Prozent. Und Sie möchten jetzt die Bedarfssätze nicht, wie ursprünglich angedacht, um 5 Prozent erhöhen, nein, sogar um 5,75 Prozent. Sie merken es selber, oder? ({4}) Wie in meiner letzten Rede schon gesagt: Die 27. Novelle des BAföGs ist ein Reförmchen. Sie schafft kleinere Verbesserungen, ja, zugegeben; sie greift aber zu kurz. Sie packt die Probleme, die es beim BAföG gibt, nicht an der Wurzel. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, die dazu beigetragen hätten, dass man einen größeren Schritt gemacht hätte, um die Studenten zu unterstützen. Es ist schade, dass Sie diese Vorschläge allesamt abgelehnt haben. Schade auch deswegen, weil wir der Meinung sind, dass wir beim BAföG einen nächsten Schritt hin zu einer Verbesserung brauchen. Wir hätten den Schritt gerne gemeinsam mit Ihnen gemacht. In der vorliegenden Form der Novelle sehen wir die Verbesserungen aber leider nicht in dem Maße, in dem sie nötig gewesen wären. Deswegen müssen wir die Gesetzesänderung und die Anträge, die dazu vorgelegt wurden, leider ablehnen. Es bleibt aber der Wunsch, dass wir mit der von Ihnen angekündigten Strukturreform des BAföG mehr für die Studierenden in Deutschland tun können. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Sönke Rix. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst an meine Vorrednerin: Natürlich hat auch die letzte Koalition etwas für Studierende getan. Da haben wir als SPD schon drauf aufgepasst. ({0}) Aber diese Koalition, die Ampelkoalition, ist eine Koalition des Fortschritts und eine Koalition der Modernisierung. Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, eine wirklich große BAföG-Reform durchzuführen, und werden das auch mit diesem ersten Schritt – Frau Kollegin, das ist nur der erste Schritt – umsetzen. Wir wollen Menschen passende Chancen geben, damit sie ihr Leben lang tatsächlich Aufstieg durch Bildung erfahren können, und das unabhängig vom Geldbeutel. Deshalb ist Ziel der BAföG-Reform und auch dieses ersten Schritts, dass am Ende mehr Menschen vom BAföG profitieren; und das wird auch erreicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wie erreichen wir das? Das erreichen wir zum Beispiel durch die Erhöhung des Freibetrags bezüglich des Einkommens der Eltern. Dadurch haben wir tatsächlich die Chance, dass noch mehr junge Menschen unabhängiger – noch nicht unabhängig genug, aber unabhängiger – vom Einkommen der Eltern vom BAföG profitieren können. Das ist ein wichtiger Schritt, um mehr Menschen zu erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Wir erreichen das auch durch die Anhebung der Altersgrenze auf 45 Jahre. Das hat nicht nur das Ziel, dass mehr Menschen vom BAföG profitieren können. Vielmehr ist damit auch der Hinweis, das Angebot verbunden: Nehmt das Motto des lebenslangen Lernens wirklich ernst! Nutzt eure zweite und dritte Chance! Wir als Staat, wir als Gesellschaft wollen dazu beitragen; daher hast du bis zum 45. Lebensjahr Anspruch auf BAföG. – Das ist eine gute Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Meine Damen und Herren, wir schützen auch das Vermögen. „Vermögen“, das hört sich groß an, so als ob wir die Finanzierung der Drittwohnung oder die Million auf dem Konto schützen wollen. Nein, das Vermögen ist das kleine Ersparte, das man von den Eltern für die Lebensplanung mit auf den Weg bekommen hat oder das man sich im ersten Teil seiner Ausbildung oder seines Lebens angespart hat. Wir sagen: Der Schutz des Vermögens soll noch umfassender werden. Auch dadurch ermöglichen wir den Menschen, zu sagen: Okay, ich nutze auch die zweite oder dritte Chance und bin auch im höheren Alter bereit, tatsächlich ein Studium oder eine Ausbildung aufzunehmen. Mit diesen drei beispielhaft genannten Schritten erreichen wir mehr Menschen, und mehr Menschen profitieren am Ende vom BAföG, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Eine bessere Förderung durch BAföG ist auch ein Stück weit eine Bekämpfung des Fachkräftemangels. Jeden Cent, den wir darin investieren, dass Menschen eine Ausbildung machen, dass Menschen ein Studium beginnen können, jede Förderung, die wir hier machen, bekämpft auch den Fachkräftemangel. Deshalb ist das auch ein Beitrag dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir diskutieren heute auch – die Ministerin hat es gesagt – den Berufsbildungsbericht. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie hier die gemeinsame Haltung der Koalition deutlich gemacht hat, dass die akademische Ausbildung und die berufliche Ausbildung für uns gleichwertig sind. Das ist wichtig, meine Damen und Herren. Das bleibt auch weiter Ziel dieser Regierung. Alle Maßnahmen, die wir machen, klopfen wir auf die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung ab. Denn es ist eine komische Debatte in der Gesellschaft, wenn man davon ausgeht, dass man den Aufstieg erst dann erreicht hat, wenn man ein Studium beendet hat. Vielmehr ist es doch so – Sie haben es richtigerweise gesagt –: Der Meister ist genauso viel wert wie ein Master, der Gesellenbrief ist nicht weniger wert als ein Bachelor. Daran halten wir auch fest. Wir machen das auch deutlich in der Vorlage zum Nothilfemechanismus, die uns heute auch vorliegt, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir reagieren damit auf die veränderte Lage des, ich sage mal, Nebenjobmarktes, der auch dazu beiträgt, dass man seine Ausbildung, sein Studium finanzieren kann. Mit dem Nothilfemechanismus erreichen wir aber nicht nur Studierende, sondern auch Schülerinnen und Schüler und Auszubildende, die von Ausbildungshilfe abhängig sind. Dadurch machen wir noch einmal deutlich: Für uns sind berufliche Bildung und akademische Bildung gleich viel wert. ({4}) Meine Damen und Herren, wir können die gesamte Debatte über das BAföG nicht unabhängig davon führen, dass wir uns als Koalition noch eine weitere große Reform vorgenommen haben, nämlich die Einführung der Kindergrundsicherung. ({5}) Auch hier unterstreichen wir: Wir sind die Koalition des Fortschritts und der Modernisierung und vor allen Dingen des sozialen Fortschritts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Denn mit der Einführung der Kindergrundsicherung sichern wir auch die jungen Menschen ab, die sich in Ausbildung befinden, egal ob in beruflicher oder in akademischer Ausbildung. Mit dieser Grundsicherung bis zu einem gewissen Alter zeigen wir, dass der Staat dafür sorgt, dass sich Familien keine Sorgen machen müssen, wenn die Kinder, wenn die jungen Menschen noch in Ausbildung sind. Wir als Gesellschaft sagen zu: Wir sichern euch da mit einer Kindergrundsicherung ab. – Wir freuen uns auf diese große Reform, meine Damen und Herren. ({7}) Abschließend will ich sagen: Wir alle haben in unseren Programmen stehen, dass wir mehr in Bildung investieren sollen. Wir alle haben in unserem Programm stehen, dass wir jungen Menschen mehr Chancen geben sollen. Wir als Ampelkoalition haben mit diesem ersten Schritt der BAföG-Reform bewiesen: Wir halten unsere Wahlversprechen. Herzlichen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sie sagten eingangs Ihrer Rede, dass Sie sich freuen, dass dieses Gesetz so schnell auf den Weg gebracht worden ist. Bitte gestatten Sie mir den Hinweis: Das merkt man dem Gesetz auch an. Die Kritik des Bundesrechnungshofes ist ja umfangreicher als das Gesetz selbst: über 40 Seiten. Ich weiß nicht, ob Sie diese gelesen haben. Da kann man heute gar nicht auf alles eingehen, meine Damen und Herren. In der Tat, das Gesetz wurde nicht nur schnell auf den Weg gebracht, Sie haben das BAföG auch auf ein neues Gleis gesetzt. Aber, meine Damen und Herren, es ist das falsche Gleis. Die Richtung stimmt nicht, und das eigentliche Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen, wird so nicht erreicht. Ich will begründen, warum das so ist. Der eigentliche Sinn und Zweck des BAföG – das war eigentlich bis vor Kurzem noch Konsens in diesem Hause – war bisher: Das BAföG sollen junge Leute bekommen, die sich ein Studium sonst nicht leisten können, also für eine Erstausbildung. Es war im eigentlichen Sinne eine Sozialleistung für einen begrenzten Kreis potenzieller Empfänger. Das heißt aber im Umkehrschluss, meine Damen und Herren, dass es eben auch Menschen gibt und geben muss, die kein BAföG bekommen, und dass die Grenzen klar definiert sein müssen. Studieren, meine Damen und Herren, ist eine Chance, aber kein staatlich garantiertes Menschenrecht für jedermann. ({0}) Ihr Gesetz weicht diese einfache und klare Regel nun auf. Das eigentliche Ziel ist offenbar eine komplett elternunabhängige Förderung für alle Studenten, und zwar egal, woher sie kommen oder wie alt sie sind. Ob sie selbst oder ihre Eltern vermögend sind, ist dann irgendwann auch egal. Zwar haben Sie sich dieses Mal noch nicht getraut, aufs Ganze zu gehen – vielleicht hat auch Herr Lindner mit Blick auf den Haushalt noch einmal interveniert –, aber die Anhebung der Altersgrenze auf 45 Jahre – die Linken fordern ja sogar die komplette Abschaffung der Altersgrenze –, ({1}) die stattliche Anhebung der Freibeträge usw. zeigen doch, wohin die Reise gehen soll. Das hat übrigens auch die Anhörung der Sachverständigen noch einmal deutlich gemacht. Vollkommen zu Recht hat der Verband der Arbeitgeber gesagt, diese Novelle – und ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin – bedeute „nichts weniger als eine Abkehr vom bisherigen Charakter des BAföG“. Man könnte es auch deutlicher sagen, meine Damen und Herren: Sie schaffen das BAföG ab. Wir hingegen wollen es erhalten. ({2}) Sie haben nicht verstanden, dass das BAföG kein Selbstzweck ist und dass die Zahl von mehr BAföG-Empfängern nicht automatisch etwas Gutes ist. Sie haben auch nicht verstanden, dass es kein Indiz für mehr Bildungsgerechtigkeit ist, wenn möglichst viele und am Ende alle Studenten BAföG erhielten. Und Sie haben auch nicht verstanden, dass es unsozial ist, wenn ein 35-jähriger Knabe aus wohlhabendem Hause mit 45 000 Euro auf der hohen Kante Transferleistungen erhält, die andere vielleicht viel dringender bräuchten. Denn die Ausweitung des BAföG auf einen immer größeren Kreis von Berechtigten hat natürlich auch ihren Preis. Sie können dann nämlich die Bedarfssätze nicht einmal an die derzeitige Inflation anpassen. Und deshalb, meine Damen und Herren, bleibt ja auch der Applaus Ihrer Wählerklientel, auf die Sie beim Thema BAföG immer schielen, aus. „Koalition … enttäuscht die jungen Menschen“ titelte gestern der „Spiegel“. Mit dem Ihnen vorliegenden neuen Antrag der AfD-Fraktion hingegen gäbe es all diese Probleme gar nicht. Da wir davon Abstand nehmen, reichen älteren Herren ein Studium zu finanzieren, so wie Sie das machen wollen, können wir den Satz für die wirklich bedürftigen Menschen erhöhen, und zwar nicht um nur läppische 5 Prozent bzw. – jetzt haben Sie noch etwas draufgelegt – 5,75 Prozent, sondern sogar um 17 Prozent. Das würde dann bedeuten, dass wir einen Zuschuss in Höhe von etwa 500 Euro hätten. Das wäre eine Summe, mit der man auskommen könnte. Wohlgemerkt: Der Kreis der Empfänger wäre geringer, sodass wir von der Gesamtsumme her noch im Haushaltsrahmen blieben. Das, meine Damen und Herren, wäre wirklich sozial gerecht und folgte nicht dem Gießkannenprinzip, nach dem Sie hier verfahren wollen. ({3}) Meine Damen und Herren, die weiteren Inhalte unseres Antrags schauen Sie sich bitte noch einmal an; da muss ich jetzt ein bisschen springen. Auch wir sagen, der Vermögensfreibetrag muss angehoben werden, aber bitte moderater. Er lag früher bei 8 200 Euro. Wir schlagen vor, ihn auf 8 500 Euro zu erhöhen. Aber es versteht doch kein Mensch, warum man, wenn man 45 000 Euro besitzt, nicht erst einmal dieses Geld nimmt, um den eigenen Unterhalt zu finanzieren. Natürlich muss das gesamte Antragsverfahren vereinfacht werden. Da haben Sie recht. Wir brauchen auch Digitalisierung. Aber hier scheint ja die Absprache mit den Ländern noch gar nicht gelaufen zu sein. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage hat uns gezeigt, dass in den meisten Ländern noch nicht einmal E‑Akten vorhanden sind und das Personal noch gar nicht vorbereitet und geschult ist. Also auch hier muss noch dringend nachgebessert werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die 28. Novelle eingehen. Die kommt ja jetzt so im Windschatten hinterher. Noch schneller wird sie auf den Weg gebracht und wurde auch nur kurz erwähnt. Die ist jetzt nicht so umfangreich, aber die hat es in sich. Und hier heißt es – ich darf zitieren aus dieser 28. Novelle –: Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats im Falle einer bundesweiten Notlage … – Sie meinen wahrscheinlich eine weitere Corona- oder ähnliche Notlage – das BAföG vorübergehend für einen Personenkreis zu öffnen, der normalerweise vom BAföG-Bezug ausgeschlossen ist. Meine Damen und Herren, kündigen Sie hier eigentlich schon den nächsten Lockdown an, obwohl wir doch noch nicht einmal den ersten evaluiert haben, ({4}) obwohl auch die ersten Lockdowns wahrscheinlich gar nichts gebracht haben in dieser Hinsicht? ({5}) – Herr Gehring, so alt sind Sie nicht, aber vielleicht kennen Sie aus den Geschichtsbüchern noch, was in den Jahren 1968 und folgende los war. Da gab es schon einmal eine Debatte um Notstandsgesetze. Da standen Sie oder Ihre Vorfahren noch auf der anderen Seite der Barrikaden. ({6}) Da gab es eine APO. Heute gibt es eine andere APO, die heißt AfD und die ist hier drin und die sagt Ihnen, meine Damen und Herren: Das ist der falsche Weg. ({7}) Wir brauchen keine Notstandsgesetzgebung. Wir brauchen keine Ausschaltung der Legislative. ({8}) Dieser Bundestag ({9}) hat in der Pandemie gezeigt, dass er schnell reagieren kann. Also verlassen Sie diesen Pfad der Untugend! Kehren Sie zurück zur parlamentarischen Demokratie! ({10}) Vielen Dank. ({11})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Nina Stahr. ({0})

Nina Stahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005227, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat einige Baustellen in der Bildungspolitik, aber wir haben vor allem ein zentrales Problem, und das ist der ungleiche Zugang zu Bildungschancen. Der eigene Bildungsweg hängt immer noch viel zu sehr vom Elternhaus ab, vom Bildungsabschluss der Eltern, vom Geldbeutel der Eltern. Bildungserfolg heißt natürlich nicht – das hat auch die Ministerin schon gesagt –, dass unbedingt jeder studieren muss. Aber jeder junge Mensch in diesem Land muss die Chance haben, zu studieren, wenn er oder sie das möchte. ({0}) Wenn sieben von zehn Kindern aus Akademikerhaushalten ein Studium beginnen, aber nur zwei von zehn aus Nichtakademikerhaushalten, dann zeigt das eins: Formal gleiche Bildungschancen reichen nicht, wir brauchen real gleiche Bildungschancen. ({1}) Ja, man kann sich natürlich auch mit wenig Geld irgendwie durchbeißen und durchkämpfen. Aber müssen wir den jungen Menschen mit Willen zu Bildung und Ausbildung das Leben wirklich so schwer machen? Dürfen wir es uns als Gesellschaft leisten, auf so viel Potenzial zu verzichten, nur weil einige nicht bereit sind, gleiche Bildungszugänge für alle zu schaffen? Für uns Bündnisgrüne ist klar: Wir wollen Chancengerechtigkeit in der Bildung, und dafür sind wir angetreten, und dafür gehen wir jetzt ans BAföG ran. ({2}) Darum werden wir nach Jahren des Stillstands in einem CDU-Bildungsministerium – Frau Staffler, das können Sie jetzt auch einfach nicht schönreden; Fakt bleibt, das ist die größte Reform seit 20 Jahren im BAföG – ({3}) oder meinetwegen nach Jahren von vielen kleinen Trippelschritten nun in der Ampelkoalition ({4}) die Reform des BAföG zu einem Schwerpunkt machen und gehen sie wirklich an. ({5}) Diese Reform erfolgt in mehreren Schritten, und wir machen heute den Anfang. Schon ab kommendem Wintersemester werden viel mehr Menschen BAföG bekommen und ihre Ausbildung, ihr Studium besser finanzieren können. Der zweite Schritt ist ein Nothilfemechanismus, der in nationalen Krisenfällen das BAföG auch für Menschen öffnet, die bislang keinen Zugang hatten. Dass ein solches Instrument notwendig ist, haben wir in der Krise gesehen – und ziehen jetzt unsere Schlüsse daraus. Und dann werden wir natürlich noch einmal strukturell ans BAföG rangehen. Wir wollen einen Mechanismus für regelmäßige BAföG-Erhöhungen, damit wir die Leistungen der Wirklichkeit anpassen. Wir wollen finanzielle Planbarkeit für diejenigen, die ein Studium aufnehmen wollen, einfachere, schnellere Bearbeitungsverfahren, eine realistische Anpassung der Förderhöchstdauer, mehr Flexibilität und mehr Unterstützung beim Beginn des Studiums mit der Studienstarthilfe. So geht Bildungsgerechtigkeit. Das BAföG wird den Bundestag weiter beschäftigen. Wir setzen gute Bildungschancen für alle ganz oben auf die Agenda. Auf die weitere Debatte freue ich mich als Bildungspolitikerin und freuen wir Bündnisgrüne uns natürlich sehr. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Nicole Gohlke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 30 Prozent der Studierenden in Deutschland sind von Armut betroffen – das geht aus einer aktuellen Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervor. Das sind bittere Zahlen. Bitter daran ist auch, dass ein großer Teil dieser armutsbetroffenen Studierenden, nämlich 45 Prozent, Studis sind, die BAföG bekommen. Das zeigt zweierlei: erstens nämlich, dass das BAföG längst nicht alle erreicht, die es bräuchten, und zweitens, dass das BAföG nicht existenzsichernd, nicht armutsfest ist. Und das ist einfach ein Skandal in einem so reichen Land wie unserem. ({0}) Ich finde es unglaublich, dass das so lange zugelassen wurde. Unglaublich ist aber auch, dass auch die neue Ampelkoalition diesen Missstand nicht beseitigen wird. Denn das, was diese 27. Novelle heute macht, ist wieder ein bisschen Kosmetik an einem eigentlich völlig heruntergewirtschafteten BAföG, aber es holt die Studis eben nicht aus der Armut. Das ist die Situation, und das ist nicht akzeptabel. ({1}) Der neue BAföG-Höchstsatz wird jetzt Pi mal Daumen um die 930 Euro sein. Davon sollen die Miete bezahlt werden, die Energiekosten, das Essen, die Kleidung, die Kranken-, die Pflegeversicherung und auch alle anderen Auslagen, die Studis so haben, also Laptop, Internet, Bücher, Kopien, Semesterticket usw. Jetzt, wo ich das so sage, da merken Sie doch selber, dass das nicht geht, dass diese Rechnung einfach nicht aufgehen kann. In meiner Heimatstadt München verschlingt die Miete über 80 Prozent des neuen BAföG-Höchstsatzes – nicht des Wohnkostenzuschusses, des neuen Höchstsatzes –, in Frankfurt sind es fast 60 Prozent. ({2}) Es gibt fast keine Hochschulstadt mehr, in der man vom Wohnkostenzuschuss im BAföG die Miete bezahlen kann. Die Inflation frisst die BAföG-Erhöhung komplett auf. Da bleibt nichts übrig. Die Studis bleiben unter Hartz‑IV-Niveau, sie bleiben unterhalb der Armutsgrenze. Das ist die Situation. Und da wundert sich dann die Ampel, warum ihr nicht alle um den Hals fallen vor lauter Dankbarkeit. Ich finde das wirklich ein bisschen weltfremd; das muss ich an dieser Stelle sagen. ({3}) Die Linke stellt ihre Vorschläge heute ebenfalls zur Abstimmung. Sie könnten Ja sagen zu einer Reform, die die Studierenden tatsächlich aus der Armut holt, Ja dazu, dass das Geld endlich mal reicht und dass die Höhe automatisch an die Inflationsrate angepasst wird und es nicht bleibt wie jetzt, wo buchstäblich die Stimmungslagen zwischen Koalitionspartnern darüber entscheiden, ob Studis mehr Geld bekommen. Sie könnten Ja sagen zu einem Mietkostenzuschuss, der tatsächlich die Miete deckt, weil er nämlich regional gestaffelt ist; denn die Miete in München oder in Berlin ist nun mal teurer als die in Greifswald oder in Bamberg. Ja zu einer Digital- und Lernmittelpauschale; denn es gehört nun mal auch zum Studium, dass man Arbeitsgerät braucht; das könnte sich nach den paar Jahren auch irgendwann mal rumgesprochen haben. Und Sie könnten Ja sagen dazu, dass sich Studierende nicht mehr fürs Studium verschulden müssen, weil wir nämlich wissen, dass vor allem junge Menschen aus einkommensarmen Familien und Haushalten diejenigen sind, die wegen der Angst vor Verschuldung dann eben auf ein Studium verzichten. Zu alldem könnten Sie Ja sagen, und das sollten Sie auch. Das wäre wirklich mal ein Schritt nach vorne. ({4}) Lassen Sie mich noch ein Wort sagen zur 28. Novelle, die wir heute auch beraten. Die Pandemie hat uns in der Tat gezeigt, dass die Einrichtung eines Notfallmechanismus im BAföG für außergewöhnliche Krisenlagen dringend notwendig ist, und es ist auch gut, dass die Ampel das jetzt angeht. Aber der Vorschlag der Ampelparteien greift eben auch hier zu kurz und hat noch einige Lücken. Zum einen ist es so, dass weiterhin viele Studierende im Falle einer Krise leer ausgehen würden. Rund 400 000 internationale Studierende zum Beispiel werden bei den Plänen der Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt. Und: Die Förderung in Notlagen sollte wirklich nicht an Regelstudienzeiten hängen. Ich meine, es ist doch wirklich komplett weltfremd, dass in Pandemiezeiten oder anderen Katastrophenlagen ausgerechnet diejenigen Regeln dann eingehalten werden können, die schon in Normalzeiten völlig an der Lebensrealität der Studierenden vorbeigehen. ({5}) Ich hoffe jetzt einfach mal, dass Sie bei dieser 28. Novelle vielleicht ein bisschen offener sind für die Anregungen aus der Gesellschaft, aus den Reihen der Studierenden und auch von den Sachverständigen. Das wäre ein echter Fortschritt, und vor allem wäre das im Sinne der Studierenden. Vielen Dank. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Ria Schröder. ({0})

Ria Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005215, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genau zur richtigen Zeit, in der durch die Pandemie bei vielen Familien die Reserven aufgebraucht sind, in der durch den russischen Angriffskrieg unsere Wirtschaft und Energieversorgung ächzen, in der die Inflation mit hohen Preisen den Menschen zu schaffen macht, in dieser herausfordernden Zeit, ist die BAföG‑Reform ein Lichtblick für Studierende. Sie kommt genau zur richtigen Zeit. ({0}) Das war nur möglich, weil die Ministerin dieses Projekt zur Toppriorität gemacht hat; da war sie noch keine zwei Monate im Amt. Und dafür, dass du die BAföG-Reform so schnell vorantreibst, liebe Bettina, danke ich dir ganz herzlich. ({1}) Es macht einen Unterschied, wer im Ministerium sitzt. Mit der FDP hat die unsägliche Ignoranz gegenüber jungen Menschen endlich ein Ende. ({2}) Ich kann verstehen, Frau Staffler, dass Sie hier direkt in die Defensive gehen – fünf Reformen in 16 Jahren, toll. Also wir arbeiten im Moment an dreien. In der letzten Legislaturperiode haben Sie eine geschafft, und den Restschuldenerlass, den Sie damit eingeführt haben, haben Sie ordentlich vergeigt. Wir führen an der Stelle jetzt Verbesserungen ein. ({3}) Sie reden zwar nicht davon; aber ich kann auch verstehen, dass Sie über die 20,75 Prozent, um die wir die Freibeträge anheben, gar nicht erst reden. Denn das ist wirklich ein riesiger Batzen, der genau dafür sorgt, dass mehr Studierende wieder BAföG erhalten, und zwar diejenigen, die es ganz dringend brauchen. ({4}) Generationengerechtigkeit, das heißt für uns Liberale, alle Generationen in den Blick zu nehmen: die Enkel-, die Eltern- und auch die Großelterngeneration. Deswegen ist lebenslanges Lernen für uns ein Herzensanliegen. Studierende sind in Deutschland zwar im Schnitt 23 Jahre jung, aber nicht jedes Leben verläuft nach dem Motto „Abi, Bachelor, Master, Berufseinstieg“. Daher erhöhen wir mit der BAföG-Novelle die Altersgrenze auf 45 Jahre und tragen dadurch Zickzacklebensläufen Rechnung. Wir wollen Menschen ermutigen, ihre Bildungsbiografie selbst zu schreiben und ihr neue Kapitel hinzuzufügen, und zwar immer wieder. Meine Eltern sind nicht reich, also, Sie verdienen schon Geld, zu viel, als dass ich BAföG erhalten könnte; aber unterstützen können sie mich nicht. – Das habe ich erst letzte Woche wieder von einem Studenten gehört. Er wird durch die beispiellose Anhebung der Elternfreibeträge zum Wintersemester das erste Mal BAföG erhalten – genau zur richtigen Zeit. ({5}) Die Erhöhung von Bedarfssätzen und Wohnkostenzuschlägen ist eine wichtige Entlastung angesichts der hohen Inflation. Aber auch der bereits beschlossene Heizkostenzuschuss in Höhe von 230 Euro, den dank unserer Ministerin auch BAföG-Empfängerinnen und BAföG-Empfänger erhalten, der sorgt dafür, dass die WG-Zimmer in diesem Winter nicht kalt bleiben. Machen wir uns ehrlich: Manchen Studierenden, die kein BAföG erhalten, bleiben im Moment am Ende des Monats manchmal nur Dosenravioli. Dank der Energiepauschale und durch die Erhöhung der Minijobgrenze von 450 auf 520 Euro, die ebenfalls zum Wintersemester kommt, werden auch sie spürbar entlastet. ({6}) Meine Damen und Herren, liebe Studierende, wir werden weitermachen und skizzieren daher in unserer Entschließung aus den Koalitionsfraktionen schon die nächsten Schritte. Denn unser Ziel ist klar: Es muss Schluss sein damit, dass das Elternhaus über Bildungsweg und Chancen im Leben bestimmt. Wir werden Studis aus Bedarfsgemeinschaften eine Studienstarthilfe an die Hand geben; denn Hartz IV darf kein Bildungskiller sein. Wir gehen das elternunabhängige BAföG an. Wir verlängern die Förderungshöchstdauer, damit der Kühlschrank kurz vor den Abschlussprüfungen nicht leer bleibt. Die Ampel ist angetreten, um BAföG besser zu machen, damit das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft erneuert wird. Heute gehen wir den ersten Schritt. Deswegen: Stimmen Sie dem Gesetzesentwurf zu. Er ist sehr gut, und er kommt genau zur richtigen Zeit. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Nadine Schön. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „ABI Looking for Freedom“, „Hakuna Matabi – Um die Sorgen kümmern wir uns morgen“ oder, ganz kreativ, „Abi 22 – Die Schule war öfter dicht als wir“, ({0}) mit diesen Abisprüchen feiern auch heute wieder viele Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss, ihr Abitur, ihr Fachabitur, ihre Möglichkeit, ein Studium zu beginnen. Endlich geschafft! Der Weg in die Zukunft steht ihnen offen. Ich will an der Stelle meine Hochachtung vor dieser Generation von Abiturientinnen und Abiturienten ausdrücken, die wirklich in den letzten zwei Jahren ganz schwierige Bedingungen hatten, um sich auf diese Abschlussprüfungen vorzubereiten. ({1}) Die Schulen waren wirklich öfter dicht. ({2}) Die Lernbedingungen waren schwierig. Deshalb einen herzlichen Glückwunsch und große Hochachtung vor dieser Leistung an alle Schülerinnen und Schüler, an die Fachabiturientinnen und Fachabiturienten und an die Abiturientinnen und Abiturienten und auch an die Eltern, die Familien, die das alles begleitet haben. ({3}) Mit diesem Schritt ist viel Freude und Hoffnung verbunden, aber natürlich auch so manch banger Blick: Wie geht es weiter? Was soll ich jetzt machen? Mache ich eine Ausbildung, mache ich ein Studium, was bietet die besten Zukunftschancen für mich? Ich will es an der Stelle noch einmal sagen: Für uns als Unionsfraktion ist beides gleich viel wert. Ausbildung und berufliche Karriere oder Studium – wir brauchen alle: Wir brauchen Facharbeiter, wir brauchen gut ausgebildete Handwerker, wir brauchen Akademiker. Deshalb soll sich jeder junge Mensch in unserem Land selbst aussuchen können, was er oder sie machen will. ({4}) Mit dem BAföG haben wir das Instrument, das dafür sorgt, dass man sich das wirklich aussuchen kann. Das BAföG ist mittlerweile über 50 Jahre alt. Es wird heute – um es noch einmal klarzustellen – zum 27. Mal reformiert. Die letzte BAföG-Reform ist zum Wintersemester 2019/2020 in Kraft getreten. Es wurde fortlaufend reformiert, fortlaufend verbessert. Es wurde nicht jahrelang liegen gelassen, wie man hier versucht, den Eindruck zu erwecken. ({5}) Die Reform, die heute auf dem Tisch liegt, hat für sehr viel Enttäuschung bei den Studentinnen und Studenten gesorgt. Die Höhe gleicht die Inflation nicht aus, die Zuverdienstmöglichkeiten sind nicht so flexibel wie etwa beim Minijob, und das Antragsverfahren bleibt komplex und langwierig. Bis man einen Bescheid hat, kann es schon mal eine ganze Weile dauern. Deshalb ist die Reform, die wirklich wichtig ist, die nächste Reform, die ansteht, nämlich die 29. BAföG-Novelle. Für diese Reform haben wir eine ganz klare Erwartungshaltung: Wir wollen zum Ersten, dass die Beantragung schnell und einfach wird, wir wollen zum Zweiten, dass das BAföG noch passgenauer wird, und zum Dritten, dass es verlässlich ist. Zur schnellen und einfachen Beantragung haben wir vorgelegt. Wir haben den BAföG-Antrag in der letzten Legislaturperiode digitalisiert. Der „Finanztest“ hat sich vor Kurzem die verschiedenen Antragsmöglichkeiten angeschaut und die staatliche Lösung explizit gelobt, explizit empfohlen. Es ist heute möglich, digital einen BAföG-Antrag zu stellen, entweder über das staatliche Portal Bafög-digital.de oder auch über die Lösungen von verschiedenen Start-ups. Den zweiten Schritt unternehmen wir heute, indem das Schriftformerfordernis abgeschafft wird. Der dritte Schritt muss dann aber sein, dass die Prozesse in der Verwaltung digitalisiert werden. Es hilft ja nichts, wenn ich den Antrag digital stellen kann, es dann aber ewig dauert, bis ich eine Rückmeldung bekomme. Wir haben mit dem Registermodernisierungsgesetz die Möglichkeit geschaffen, dass ich der Behörde erlaube, auf meine Daten zuzugreifen, die schon in anderen Behörden vorliegen. Das ermöglicht eine schnelle Beantragung. In Zukunft muss es möglich sein, dass ich mir nach Antragstellung in der Studentenkneipe ein Bier bestelle, und wenn das Bier da ist, weiß ich, ob ich BAföG bekomme oder nicht. Das muss das Ziel sein. Daran müssen Sie sich als Fortschrittskoalition messen lassen. Unsere Unterstützung haben Sie dabei. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Lina Seitzl. ({0})

Dr. Lina Seitzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Junge Menschen sehen sich gerade in vielfältiger Art und Weise mit Herausforderungen und Problemlagen konfrontiert, auf die sie kaum Einfluss nehmen können. Das sind die immer noch anhaltenden Folgen der Coronakrise; das sind die massiven Preissteigerungen infolge des Ukrainekriegs; das ist eine beängstigende außenpolitische Lage, da mit dem Angriffskrieg Russlands die aus unserer Sicht selbstverständliche Friedensordnung außer Kraft gesetzt wurde. Deswegen ist es gerade jetzt ein umso wichtigeres Zeichen dieser neuen Regierung, für junge Menschen noch zu Beginn der Legislaturperiode eine erste deutliche Verbesserung im BAföG voranzubringen, die noch in diesem Jahr, im Spätsommer, in Kraft treten wird. Wir haben das BAföG in unserer Prioritätenliste ganz weit nach oben gesetzt, um jungen Menschen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen, dass wir uns ihrer Sorgen annehmen, dass wir sie nicht im Regen stehen lassen, dass wir für sie gute Politik machen. ({0}) Was wir heute hier diskutieren, ist ein ganzes Reformpaket: ({1}) Erstens öffnen wir mit der heute zu beschließenden 27. Novelle das BAföG für viel mehr junge Menschen in Ausbildung und stellen uns damit dem Trend entgegen, dass die Beziehendenzahlen immer weiter zurückgehen. Wir setzen die Freibetragsgrenze deutlich nach oben, um 20,75 Prozent. Eine so deutliche Erhöhung habe ich in den letzten 16 Jahren nicht gesehen. Wir setzen auch die Altersgrenze deutlich nach oben. Wir bauen bürokratische Hürden deutlich ab, indem das Antragsverfahren vereinfacht und digitalisiert wird. Und wir sorgen dafür, dass diejenigen, die bereits BAföG beziehen, mehr davon haben. Deswegen freue ich mich, dass es im parlamentarischen Verfahren gelungen ist, trotz der angespannten Haushaltslage das BAföG noch mal weiter zu erhöhen. Der BAföG-Höchstsatz steigt nun deutlich. – Das ist ein deutliches Zeichen an euch, liebe Studierende, liebe Auszubildende. Wir sehen eure schwierige Situation, und wir lassen euch nicht im Stich. ({2}) Aber damit ist es natürlich nicht getan. Deshalb beraten wir heute, zweitens, den Nothilfemechanismus, die sogenannte 28. Novelle; auch der wird in diesem Jahr noch in Kraft treten. Eine Lehre aus der Coronazeit ist ja, dass wir Vorsorge betreiben müssen, wenn der sogenannte ausbildungsbegleitende Arbeitsmarkt aufgrund einer Krise einbricht. In Konstanz zum Beispiel – das ist in meinem Wahlkreis – finanzieren ganz viele Studierende ihr Studium mit Nebenjobs in der Gastronomie. Das war nie ein Problem, bis Corona kam. Dann sind Hotels, Kneipen, Restaurants lange geschlossen worden, und plötzlich wussten viele nicht mehr, wie es jetzt finanziell weitergeht. Damit das künftig nicht mehr passieren kann, verankern wir im BAföG einen krisenfesten, zuverlässigen, unbürokratischen Mechanismus. Studierende dürfen nämlich auch in dieser Situation nicht im Regen stehen gelassen werden. ({3}) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Ampel wirkt. Bereits wenige Monate nach Regierungsbeginn setzen wir erste langjährige bildungspolitische Forderungen um. Trotzdem muss man natürlich sagen, dass diese Schritte allein keine nachhaltige Transformation, keine nachhaltige Trendwende im BAföG bewirken können. Deshalb verständigen wir uns heute mit der von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorgelegten Entschließung auf eine große, nachhaltige Strukturreform des BAföG. Das, was jahrelang nicht angegangen werden konnte, wird jetzt angegangen. Auch das beschließen wir heute. Das sind natürlich Sachen wie die Anhebung der Förderhöchstdauer, die Einführung einer Studienstarthilfe zur Unterstützung von Studierenden aus Bedarfsgemeinschaften, der elternunabhängige Garantiebetrag, auch die Absenkung des Darlehensanteils und ganz viele weitere Änderungen. All dies wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder an uns herangetragen, und wir werden diese strukturellen Reformen noch in dieser Legislaturperiode verabschieden; das ist auch dringend notwendig. Ich möchte auch gerne was zu den Bedarfssätzen sagen, weil wir die Debatte immer wieder führen: Es braucht hier endlich einen Mechanismus zur regelmäßigen Anpassung. Auch das werden wir in der großen Strukturreform angehen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Die Ampelkoalition nimmt die Bedürfnisse junger Menschen ernst. Wir machen was. Die heutigen Beschlüsse sind erst der Anfang. Wir haben ein großes Paket an Reformen vor. Wir gehen die ersten Schritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Verbesserung der Ausbildungsförderung. Sie haben es gerade gesagt, Frau Schön: Das ist ein guter Anfang. – Dann stimmen Sie doch zu; denn das ist ein richtig gutes Gesetz. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Laura Kraft. ({0})

Laura Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005113, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich heute hier zum Thema BAföG reden darf. Wir stoßen heute eine Reform an, mit der wir den Kurs der letzten Jahre korrigieren. BAföG soll und muss wieder zu dem werden, als das es einst gedacht war, nämlich ein echtes Instrument der Chancengleichheit. ({0}) Was Sie von der Union hier kritisieren, hätten Sie in den letzten Jahren alles schon machen können. Sie hatten ja genug Zeit. ({1}) Denn wenn BAföG da ankommt, wo es gebraucht wird, dann kann es Ausbildungsbiografien prägen, aus Arbeiterkindern Akademiker/-innen machen, Chancen eröffnen und ermutigen. Was wir jetzt brauchen, sind echte Verbesserungen für Studierende, und die bringen wir jetzt mit diesem Gesetz. ({2}) Durch die Anhebung der Freibeträge um 20,75 Prozent ermöglichen wir mehr Menschen, ein Studium zu beginnen und damit auch die Ausbildung zu beginnen, die zu ihren Talenten und zu ihren Zielen passt. Wir heben die Freibeträge in einem Schritt um mehr an, als die GroKo in den letzten vier Jahren an Aufschwung gebracht hat. Die Lebensrealität der Studierenden muss sich endlich auch in der Grundlage für die Bestimmung der Förderbeträge widerspiegeln. Deshalb erhöhen wir auch die Bedarfssätze und die Wohnkostenpauschale weiter. Hinzu kommen die Kinderbetreuungszuschläge und die Krankenversicherungszuschläge. Und weil die derzeitige Situation für Studierende so schwierig ist, haben wir als Ampelkoalition aus dem Parlament heraus per Änderungsantrag noch eine weitere Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge auf den Weg gebracht. Damit wir in Zukunft regelmäßig die Bedarfssätze und Freibeträge erhöhen, haben wir das Ministerium aufgefordert, ein Verfahren der kontinuierlichen Anpassung zu etablieren. ({3}) Natürlich kann das nicht alles sein. Aber es ist ein erster Schritt auf dem richtigen Weg. Wir haben die Einführung eines Verfahrens vereinbart, das dafür sorgt, dass regelmäßig bedarfsorientiert und zuverlässig weitere Erhöhungen der Bedarfssätze und Freibeträge kommen. Wenn die Kosten kontinuierlich steigen, dann muss auch das BAföG kontinuierlich steigen. ({4}) Wir müssen uns auch auf die Krisen der Zukunft vorbereiten, und das machen wir mit dem Nothilfemechanismus im BAföG. Uns Grünen ist dabei sehr wichtig, noch mal zu betonen: Die Zahlungen im Rahmen des Nothilfemechanismus entsprechen den Regeln des BAföG. Also: Wenigstens die ersten sechs Monate der Nothilfezahlungen sollen für die Betroffenen zur Hälfte als Zuschuss erfolgen; das ist ganz wichtig. Egal welche Krisen in Zukunft kommen – das können wir noch nicht absehen –: Wir lassen die Studierenden nicht im Regen stehen. Wir schaffen ein Netz, das sie auffängt. ({5}) Mit dieser Novelle machen wir den ersten Schritt. Die nächsten Schritte der Reform stehen schon vor der Tür. Wir machen mit dem BAföG einen Schritt in Richtung Zukunft, und darauf freue ich mich. Vielen Dank. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Gitta Connemann. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne BAföG wäre ich heute wohl nicht Abgeordnete. Mein Weg wäre anders verlaufen; denn meine Eltern hätten mir kein Studium finanzieren können. Deshalb war BAföG für mich persönlich das Tor zur Welt, und so geht es Millionen anderen. BAföG hat uns Ausbildung ermöglicht – unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. ({0}) BAföG steht damit für Aufstieg und ist eine Erfolgsgeschichte für unser Land; denn wir haben keinen anderen Rohstoff als Bildung. Deshalb ist jeder Euro darin bestens investiert. ({1}) BAföG bedeutet für mich Freiheit und Chancen. Deshalb haben mich manche Beiträge in dieser Debatte – auch der heutigen – wirklich befremdet. Die Ampel zeichnet ein Zerrbild der Vergangenheit: Es sei nichts passiert. – Diese Aussage ist falsch! Noch einmal zum Mitschreiben: Wir haben das BAföG erhöht 2008, 2010, 2016, 2019, 2020. ({2}) Wir haben das Wohngeld erhöht um 30 Prozent statt jetzt nur um 10 Prozent. Es gäbe noch viele andere Sätze zu sagen. Aber, liebe Frau Kollegin Stahr, Sie waren gerade die Speerspitze derjenigen, die sagen, es sei nichts passiert. Sie als SPD haben 21 Jahre lang mitregiert. ({3}) Sie haben den Bundesfinanzminister gestellt. Dies jetzt kleinzureden, zeugt entweder von Amnesie oder politischer Schizophrenie. ({4}) Ebenso eigenartig sind die Beiträge von FDP und Grünen, die sich für einen Auftakt zu einer Jahrhundertreform feiern. Der aktuelle „Spiegel“ bringt es auf den Punkt – ich zitiere –: „Koalition legt beim BAföG nach – und enttäuscht die jungen Menschen“. Denn die geplante Erhöhung zum 1. August verpufft. Der Zuschuss von 5,75 Prozent kompensiert noch nicht einmal die Preissteigerungen. Sehen Sie sich die Inflationsrate an: 8,9 Prozent! Und Sie wagen es, hier von einer Jahrhundertreform zu sprechen. Das ist erbärmlich. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Frau Connemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Kai Gehring aus der Fraktion Die Grünen?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für meinen Ausschussvorsitzenden immer.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Gehring, Sie haben das Wort.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich sehr, dass auch Sie das BAföG wichtig und bedeutsam finden. Das konnte man in den 16 Jahren CDU-geführter Bildungsministerien nicht besonders bemerken. Deshalb wollte ich fragen – nachdem Sie so massiv die BAföG-Novelle dieser Ampelkoalition angreifen –, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass nach 16 Jahren Unionsregierung 89 Prozent der Studierenden kein BAföG mehr erhalten und sich die Zahl der BAföG-Empfänger in einem historischen Tiefststand befand. Jetzt ist eine neue Regierung da, macht erst mal die größte Reform seit 20 Jahren ({0}) und plant noch zwei weitere Reformen in dieser Wahlperiode. Das ist nachholende Modernisierung und aktive Gerechtigkeitspolitik; denn 89 Prozent der Studierenden haben kein BAföG mehr bekommen. Das ist Ihre Regierungsbilanz. Jetzt geht es richtig rund, und wir haben den BAföG-Turbo gezündet. Ich wollte fragen, ob Sie das zur Kenntnis genommen haben. ({1})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Gehring, ich kann nur zur Kenntnis nehmen, was Realität ist. ({0}) Was Sie erzählt haben, ist ein großes Gespinst. Denn eines erleben wir heute nicht: eine Jahrhundertreform. Die Tatsache allein, dass Sie sich feiern lassen wollen für eine Erhöhung ({1}) der Sätze um 5,75 Prozent, die aufgefressen wird von der Inflation und die weit hinter dem zurückbleibt, was wir allein 2019 in der Großen Koalition gemacht haben, zeigt doch, dass Sie die Realität verneinen. ({2}) – Gerne. – Ich würde Sie deshalb bitten: Schauen Sie sich an, was passiert ist: Im Juli 2019 haben wir unter unserer damaligen Ministerin Anja Karliczek das 26. BAföG-Änderungsgesetz in Kraft gesetzt. Wir haben die Bedarfssätze gesteigert. Wir haben die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge im BAföG eingeführt. ({3}) – Es geht nicht ums Glauben. Lesen Sie doch einfach mal! Schauen Sie sich Daten und Fakten an. Die Faktenleugnung bringt Sie hier nicht weiter. ({4}) Das Ergebnis bleibt: nichts mit Jahrhundertreform. Sie sind mit dieser Reform als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. ({5}) Bedarfsgerecht geht anders. Das wird deutlich, wenn man sich zum Beispiel den Unterkunftsbedarf anschaut. Mietzuschläge und Realmieten liegen diametral auseinander. Die Wohnpauschale bleibt immer noch 50 Euro unter den durchschnittlichen Mietkosten, und jetzt reden wir nicht über ein WG-Zimmer in München, in Frankfurt oder wo auch immer, wo man allein für ein Zimmer 600, 700 Euro zahlt. An dieser Realität gehen Sie mit Ihrer Reform komplett vorbei. Umso wichtiger wäre es, die Hinzuverdienstmöglichkeiten zu erhöhen. Genau dazu sagen Sie kein Wort. Unseren Vorschlag, die Höhe bei den Ausnahmen zu verdoppeln, haben Sie einfach vom Tisch gewischt. Was Sie Minijobbern ermöglicht haben, versagen Sie jetzt den Studierenden. Dabei würde es den Studierenden unmittelbar helfen, wie übrigens auch den Betrieben. Jede Arbeitskraft wird gebraucht. Die Studenten, die sich engagieren, sollten auch den Eindruck haben, dass Leistung sich lohnt; aber dazu von Ihnen kein Wort. Im Gegenteil: Unseren Antrag lehnen Sie ab. Wie gesagt: Auf die Reform, von der Sie sprechen, die Sie ankündigen, warten wir noch. Dabei hätten Sie jetzt die ersten Weichen stellen können und auch müssen. Das gilt insbesondere für die Förderhöchstdauer. Es braucht dafür zwingend eine Evaluation, Daten, damit man sieht, ob und inwiefern dort erhöht werden muss; denn zurzeit ist das größte Problem für Studentinnen und Studenten, dass die Regelstudienzeiten in den allermeisten Studiengängen nicht einzuhalten sind. Auch unseren Antrag auf Durchführung einer Evaluation haben Sie abgelehnt. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Reform das Wort nicht wert, mit dem Sie sie bezeichnen. Sie ist zu wenig, kommt zu spät und ist dem Grunde nach zu gering. Daher werden wir sie ablehnen. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Jessica Rosenthal. ({0})

Jessica Rosenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Connemann, vielleicht sage ich das einfach mal ganz deutlich für die SPD-Fraktion: Bei uns kann man Mitglied sein, soll man sogar Mitglied sein und im Herzen dieser Demokratie sein, wenn man eine Ausbildung gemacht hat. Es braucht kein Studium, um Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu sein. Das gilt für die SPD-Fraktion und, ich hoffe, eigentlich auch für Sie. ({0}) Deshalb möchte ich die Auszubildenden und die berufliche Bildung in das Zentrum dieser Debatte hier rücken. ({1}) Wir beraten heute nämlich nicht nur die BAföG-Reform, die natürlich auch positive Auswirkungen auf die Berufsausbildungsbeihilfe hat, sondern wir beraten auch den Berufsbildungsbericht. Genau über ihn müssen wir hier auch sprechen; denn er zeigt zum Ersten, was wir geschafft haben. Mit „wir“ meine ich die Politik, ich meine den Ausbildungsrettungsschirm, den wir auf den Weg gebracht haben, für den wir als SPD gekämpft haben, aber ich meine damit auch die Unternehmerinnen und Unternehmer. Ich meine damit alle Akteurinnen und Akteure in der beruflichen Bildung, und ich meine damit vor allem ganz besonders die Auszubildenden. Denn wenn wir uns den Berufsbildungsbericht angucken, sehen wir: Es gab stabile Ausbildungsverläufe – das ist gut, das hätten wir in der Coronapandemie nicht erwartet –, es gab einen Rückgang der Vertragslösequote – das ist auch sehr gut –, und es gab erfolgreiche Prüfungen, über 90 Prozent. Herzlichen Glückwunsch an alle Azubis, die das geschafft haben. ({2}) Aber der Berufsbildungsbericht zeigt zum Zweiten natürlich auch, was wir noch zu tun haben. Wenn 63 000 unbesetzte Stellen ungefähr 25 000 unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern gegenüberstehen, dann müssen wir sagen: Es gibt ein Passungsproblem, ja. Und deshalb ist es zum Dritten umso wichtiger, dass wir jetzt alles dafür tun, die Berufsorientierung zu stärken, mit allen Akteurinnen und Akteuren, die dazugehören. Es muss uns nämlich besorgen, dass 15 Prozent weniger junge Menschen zur Berufsberatung gegangen sind. Deshalb braucht es jetzt eine Kraftanstrengung. Es braucht aber auch politischen Willen, nicht nur die berufliche Bildung zu stärken, sondern auch zu systematisieren, endlich dafür zu sorgen, dass es nicht Zufall ist, ob ich irgendwo einen Ausbildungsplatz bekommen habe oder meine Eltern mir einen Ratschlag gegeben haben, sondern dass ich wirklich meine Stärken und Schwächen erfahren kann, dass ich mich wirklich ausprobieren kann. Und es braucht eine Stärkung der Jugendberufsagenturen. Genau das haben wir uns als Ampelkoalition vorgenommen; denn uns ist es nicht egal, dass 46 000 junge Menschen einfach verschwunden sind. Wir wissen nicht, wo die sind, was die machen. Sie machen auf jeden Fall keine Ausbildung. Und das darf so nicht sein. Wir brauchen beste Beratung in den Jugendberufsagenturen. ({3}) Und zum Vierten müssen wir natürlich die Ausbildungsmobilität erhöhen. Dazu trägt die heutige Reform auch bei. Aber wir müssen noch mehr tun. Es kann nicht sein, dass man zum Beispiel eine Ausbildung nicht anfangen kann, weil man die Miete in der Stadt einfach nicht bezahlen kann oder wenn man – das habe ich hier in Berlin und in Bonn schon viel gehört – einfach keine Wohnung findet, weil die Wohnungen an Auszubildende nicht vergeben werden. Und deshalb: Ja, wir müssen auch in der Ausbildungsmobilität unbedingt viel tun. ({4}) Aber ich will auch klar sagen, dass es nicht nur ein Passungsproblem, sondern in der beruflichen Bildung auch ungleiche Chancen gibt. Wenn man sich anguckt, dass unter den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte 34,8 Prozent Ungelernte sind, während es bei Menschen, die keine Zuwanderungsgeschichte haben, nur 8,9 Prozent sind, ({5}) dann muss man einfach sagen: Wir haben ein diskriminierendes ({6}) und ein nicht Chancen gebendes Berufsbildungssystem, und das ist nicht in Ordnung. Wenn wir Einwanderungsland sein wollen, was wir sein wollen, müssen wir da besser werden. ({7}) Dafür haben wir ein Instrument gefunden, das wir auch im Koalitionsvertrag beschreiben, und das ist die Ausbildungsplatzgarantie. Diese Garantie ist einerseits eine Chance für uns alle, von staatlicher Seite der beruflichen Bildung ein Upgrade zu geben, weil wir Maßnahmen zusammenfassen, weil wir besser werden, weil wir systematisieren, und es ist andererseits ein Angebot an die unternehmerische Verantwortung, an der Stelle mitzuwirken, ({8}) noch mal einen richtigen Boost für die berufliche Bildung zu geben. Deshalb freue ich mich darauf, all diese Projekte anzugehen und vor allem der beruflichen Bildung den Platz zu geben, den sie verdient: mitten im Herz der Parlamente, mitten im Herz der Fraktionen. Vielen Dank. ({9})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Anja Reinalter. ({0})

Prof. Dr. Anja Reinalter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005187, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Gäste! Ja, wir reden heute über das BAföG und über den Berufsbildungsbericht, und damit reden wir über Studierende und Azubis; denn berufliche und akademische Bildung sind uns gleich viel wert, und man kann auch ohne Studium und BAföG Abgeordnete werden. ({0}) Uns sind beide Gruppen gleich viel wert; denn sie tragen gleichermaßen dazu bei, dem Fachkräftemangel zu begegnen. An dieser Stelle sage ich unseren herzlichen Dank an alle, die einen Beitrag leisten, junge Menschen auf den Weg in ihre berufliche Entwicklung zu bringen, an alle Schulen, Lehrkräfte, Projektträger, natürlich an die Eltern und an alle Ausbildungsbetriebe. ({1}) Und ja, wir wissen, dass die letzten beiden Jahre hart waren. Das zeigen uns auch die Zahlen des Berufsbildungsberichtes. Wenn Sie sich zwei Zahlen merken sollten, dann bitte die 24 000 und die 63 000; denn sage und schreibe 24 000 Schülerinnen und Schüler haben im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz bekommen. Die Zahl 63 000 ist genauso alarmierend, denn 63 000 Ausbildungsplätze konnten im Jahr 2021 nicht besetzt werden. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass wir ein Problem geerbt haben, und das liegt nicht nur an Corona; denn die Zahlen waren vor der Pandemie auch nicht viel besser. ({2}) Wir sind uns einig, dass wir es uns als Gesellschaft nicht leisten können, auf der einen Seite den Fachkräftemangel zu beklagen und auf der anderen Seite Schülerinnen und Schüler ohne Ausbildungsplatz stehen zu lassen. Es ist offensichtlich, dass wir ein besseres Matching zwischen Azubis und Ausbildungsplätzen brauchen. Salopp gesagt: Jeder Topf braucht einen passenden Deckel. Deswegen werden wir erstens gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen Berufsorientierungsangebote schaffen. Denn mal ehrlich: Wie soll man denn nach einem einwöchigen Praktikum in der neunten Klasse entscheiden können, welchen Beruf man lernt? ({3}) Zweitens werden wir Jugendberufsagenturen ausbauen und mehr Beratungsangebote machen; denn wir haben doch gerade in der Pandemie gesehen, wie die Zahl der Bewerbungen sinkt, weil wir die Schüler/-innen nicht mehr direkt erreichen konnten. Drittens werden wir in den Regionen, in denen es zu wenige Ausbildungsplätze gibt, jungen Menschen mit der Ausbildungsgarantie eine Berufschance geben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben doch das gemeinsame Ziel, mehr junge Menschen darin zu unterstützen, ihren Platz im Leben und im Beruf zu finden. Wir brauchen doch mehr Menschen, die eine Ausbildung machen: im Handwerk, im Tourismus, in der Pflege, im Kampf gegen die Klimakrise. Wir sehen es doch an jeder Stelle: Die Züge haben Verspätung, weil wir auf Lokführer/-innen warten. Der Biergarten nebenan hat zu, weil der Wirt kein Personal bekommt. Kinder müssen nach Hause geschickt werden, weil die Kitas keine Erzieher/innen finden. Kurzum: Wir nehmen die Ergebnisse des Berufsbildungsberichtes ernst. Wir werden das Matching so schnell wie möglich verbessern, mehr junge Menschen für eine Ausbildung begeistern und so dem Fachkräftemangel begegnen. Herzlichen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Albani. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Seiten einer Medaille: andersartig aber gleichwertig; die zwei Säulen, auf denen unsere Wirtschaft stabil ruht. Dies sind Beschreibungen für die berufliche und akademische Ausbildung, die jeden Tag von zahlreichen Menschen aus Politik, Kammern, Schulen und vielem anderen mehr und auch heute hier gerne und häufig benutzt werden. Insofern habe ich mich schon sehr gewundert, dass die Ampelfraktionen die Debatte zum jährlichen Berufsbildungsbericht kurzerhand in die Debatte zur BAföG-Novelle haben einfließen lassen. Nach dem Verlauf der Reden – die beiden letzten waren löbliche Ausnahmen – ist der Berufsbildungsbericht – das muss man sagen – fast untergegangen. Uns war der Berufsbildungsbericht stets eine eigene Debatte wert. ({0}) Wir von der Union haben in den vergangenen Jahren die berufliche Bildung durch das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz und wesentliche Verbesserungen des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes gestärkt. Da sich die bisherigen Beiträge überwiegend mit dem BAföG beschäftigt haben, mögen mir die Studierenden verzeihen, wenn ich jetzt den Kolleginnen Staffler, Schön und Connemann in vollem Umfang zustimme, weniger das Gesagte wiederhole und mich mehr um Ausgleich bemühe. Frau Ministerin, Sie sprechen von Ihrem Haus als dem Chancenministerium. Konkrete Vorschläge zur Stärkung der beruflichen Bildung jenseits der Ankündigung eines Exzellenzclusterwettbewerbes haben Sie bisher aber nicht vorgelegt. Da wir in der letzten Legislaturperiode schon einen Exzellenzclusterwettbewerb auf den Weg gebracht haben – InnoVET –, würde ich mir wünschen, dass hier Konkretes folgt. Aber keine Sorge: Wir helfen gerne. Ich weise auf die Debatte heute Abend hin, in der wir weitere Vorschläge unterbreiten, die Sie gerne aufgreifen können. ({1}) Nach Corona brauchen wir mindestens einen Boost für die berufliche Bildung. Wenn das heute eine Jahrhundertreform ist, dann erwarte ich eine Jahrtausendanstrengung. Auch der Ausbildungsmarkt leidet in den letzten zwei Jahren mit Corona unter den Folgen der Pandemie. Ein Blick in den Berufsbildungsbericht zeigt es uns. Die Zahl der Ausbildungsverträge liegt noch immer deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau: minus 9,9 Prozent im Vergleich zu 2019. Die Zahl der Ausbildungsanfänger und ‑anfängerinnen hat sich nur leicht um 1,3 Prozent erhöht. Rückgänge zeigen sich nun leider auch in schulischen Ausbildungsgängen, die in den letzten Jahren sogar gegen den Trend aufgewachsen sind. Positiv ist jedoch zu vermerken, dass das Ausbildungsangebot auf 536 200 Ausbildungsstellen gewachsen ist. 63 000 unbesetzten Stellen stehen noch 24 000 Suchende gegenüber; Passungsprobleme sind also weiterhin ein Thema. Hier braucht es Ideen, um diese Dinge anzugehen. Wir fordern daher unter anderem eine strukturierte und zielorientierte Berufsorientierung, um junge Menschen passgenau und niederschwellig zu erreichen. Es braucht dazu individuelle, auf den Einzelnen zugeschnittene Pläne für Schnuppertage und Praktika, statt getrennt voneinander absolvierte Maßnahmen, die mehr an der Verfügbarkeit als an den Talenten der Suchenden orientiert sind. Die Bundesregierung könnte dabei übrigens auch auf die Anstrengungen aus dem letzten Sommer, dem Sommer der Ausbildung, zurückgreifen, darauf aufbauen und diese weiterverfolgen. Aber auch das wird nicht reichen. Für Weiteres reicht heute leider meine Redezeit in dieser Debatte nicht. So viel also zum Frühstück, mehr berufliche Bildung zum Abendbrot um 18.30 Uhr. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Carolin Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über ein gutes Leben nachdenken und wenn wir, wie wir als SPD, den Anspruch haben, ein gutes Leben für die vielen Millionen Menschen in diesem Land und nicht nur für die wenigen, die viele Millionen haben, zu gewährleisten, dann muss man unweigerlich über Bildungschancen nachdenken und sie in den Blick nehmen. Mit Blick auf das Studium zeigt sich hier akuter Handlungsbedarf. Viel zu lange wurde das BAföG als das zentrale Instrument zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit, zum Abbau von Bildungsschranken unter 16 Jahren unionsgeführtem Bildungsministerium vernachlässigt. Werte Frau Kollegin Staffler, das sind keine Fake News, sondern das ist die Realität. Die nackten Zahlen sprechen für sich: 2020 erhielten 27 Prozent weniger Menschen BAföG als noch 1991, und aktuell sind es nur noch 11 Prozent der Studierenden – 11 Prozent! Das Chanceninstrument BAföG haben Sie regelrecht verkümmern lassen, und daran haben auch fünf Novellen nichts geändert. Und auch in Sachen Anpassung des BAföGs an die neue Realität diverser Bildungsbiografien wurde in der Regierungszeit der Union – wie so vieles – einfach ausgesessen.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Liebe Kollegin Wagner, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von der Kollegin Staffler aus der CDU/CSU-Fraktion?

Dr. Carolin Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, freilich.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie haben das Wort.

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Besten Dank. – Sie haben gerade nochmals darauf hingewiesen, so wie in der letzten Debatte auch, deswegen möchte ich an dieser Stelle Herrn Kaczmarek zitieren: Chancengleichheit hat großes Gewicht in dieser Koalition. … Und wir passen das BAföG regelmäßig an. Nach der Erhöhung in 2017 erhöhen wir das BAföG in 2019 und werden es in 2020 noch einmal erhöhen. … Das zeigt: Das BAföG wird verlässlicher und planbarer. Das ist ein Erfolg, der sich in Regelmäßigkeit fortsetzt. … Das ist ein konkreter Beitrag zur Chancengleichheit. Das ist ein Zitat Ihres AG-Vorsitzenden – der hier auch anwesend ist – aus der Debatte zur letzten BAföG-Novelle. ({0}) Sie behaupten jetzt hier, das wäre alles Mist gewesen. Ist das Ihr Verständnis von verlässlicher Politik für die Studentinnen und Studenten in diesem Land? ({1})

Dr. Carolin Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Staffler, man sollte Politik immer wieder entsprechend der Realität anlegen. ({0}) Wenn ich mir diese Zahl anschaue – nur 11 Prozent der Studierenden erhalten BAföG –, dann zeigt sich, dass hier akuter Handlungsbedarf besteht. ({1}) Diesem begegnen wir mit entsprechenden Maßnahmen, die wir heute vorlegen, in einem ersten Schritt; weitere Schritte folgen in den nächsten Jahren. ({2}) Denn wir wissen, dass wir die einzige Ressource in diesem Land – die vielen klugen Köpfe – fördern müssen – ganz einfach. ({3}) Genau das macht jetzt die SPD-geführte Zukunftskoalition der Ampel mit der vorliegenden Gesetzesnovelle, werte Damen und Herren. Wir feiern uns dafür nicht selbst, liebe Frau Connemann, sondern wir machen schlicht und ergreifend unsere Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. ({4}) Mit der aktuellen BAföG-Reform legen wir rasch den Hebel um, damit mehr junge Menschen studieren können, auch wenn die Eltern dies eben nicht finanziell unterstützen können. Wie unmittelbar daran Zukunftschancen junger Menschen hängen, das weiß ich aus 13 Jahren Berufserfahrung als Studienberaterin. In einem meiner letzten Beratungsgespräche im Sommersemester 2021 berichtete mir ein Student, dass er einen Ablehnungsbescheid vom BAföG-Amt erhalten hatte. Das Einkommen seiner Eltern – er: Busfahrer, sie: Verkäuferin im Einzelhandel – lag knapp über dem Elternfreibetrag. Für diesen jungen Mann stand das Studium somit plötzlich auf der Kippe: mehr nebenher arbeiten konnte er nicht mehr, die Eltern gaben schon das, was ihnen möglich war. Genau an dieser Stelle setzen wir jetzt an. Wir heben die Freibeträge ganz massiv an – um 20 Prozent! So bringen wir mehr junge Menschen in ein Studium. Wir heben die Altersgrenze von 34 Jahren auf künftig 45 Jahre an und bringen damit mehr mitteljunge Menschen in ein Studium – genau das entspricht der heutigen Realität diverser Bildungswege, die eben auch erst später nach einer ersten beruflichen Phase oder nach einer Familiengründungsphase zu einem Studium führen. ({5}) Das, werte Damen und Herren, ist der erste Schritt, um das BAföG zukunftsfähig zu machen. Das ist der erste Schritt, der jetzt schnell gegangen werden kann und muss, nämlich schon zum kommenden Wintersemester, und den wir auch tatsächlich gehen. Das ist der Unterschied. Wir bringen jetzt mehr Studierende ins System hinein, und das ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Die Zukunftskoalition wäre aber nicht eine Zukunftskoalition, wenn sie nicht schon jetzt wüsste, dass weitere Schritte folgen müssen und folgen werden. Im nächsten Jahr werden wir die weiteren Aspekte, die im Koalitionsvertrag festgehalten sind, umsetzen. Darauf freue ich mich schon heute. Für das kommende Wintersemester rufe ich alle Studierenden auf: Prüfen Sie für sich, ob Sie nach den neuen Vorgaben vielleicht antragsberechtigt werden und BAföG beziehen können und somit erleichtert Ihr Studium fortsetzen können! Allen Studieninteressierten empfehle ich, sich ebenfalls zum BAföG zu informieren und bei Bedarf einen Antrag zu stellen; denn das BAföG bietet eine hervorragende Finanzierungsgrundlage für das Studium. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Bruno Hönel. ({0})

Bruno Hönel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005086, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben es von meiner Vorrednerin gehört: Wir haben uns als Koalition vorgenommen, das BAföG in dieser Legislaturperiode signifikant zu stärken und für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Neun Monate nach der Wahl liegt Ihnen nun das entsprechende BAföG-Änderungsgesetz samt Entschließung vor. So erhöhen wir signifikant die Bedarfssätze und die Freibeträge, und wir machen das BAföG unbürokratischer und flexibler. Die Zusammenfassung ist: Die Ampelkoalition steht zu ihrem Wort. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür stellen wir schon im 2022er-Haushalt 193 Millionen Euro zusätzlich bereit, und wir werden in den nächsten Jahren circa 2 Milliarden Euro mehr für chancengerechte Bildung und für sorgenfreieres Studieren ausgeben. Unser Leitsatz ist und bleibt: Der Zugang zu Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. ({1}) Und ja, die Inflation belastet die Menschen sehr, gerade auch Studierende. Sie ist auch das Resultat einer verfehlten Energie- und Geopolitik in den letzten Jahren. Aber – und das ist das Entscheidende – das können wir jetzt eben nicht mit einer einzigen BAföG-Reform auffangen. Deswegen entlasten wir gezielt auch Studierende und Azubis, indem wir zum Beispiel den Wohnzuschlag um 11 Prozent erhöhen und den Heizkostenzuschuss auf 230 Euro verdoppeln. Das schafft Sicherheit und Vertrauen in Zeiten multipler Krisen. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das konsistent versuchen kleinzureden, bei gleichzeitigem Totalversagen in 16 Jahren, ({2}) in denen Sie die Bildungsministerinnen gestellt haben, sagt mehr über Sie aus als über uns. ({3}) Jetzt höre ich auch in dieser Debatte zum wiederholten Male, dass wir viel zu wenig Geld für das BAföG zur Verfügung stellen und viel zu wenig machen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in den nächsten Jahren – ich habe es gesagt – 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen. Da frage ich mich als Haushälter schon: Was haben Sie denn eigentlich für einen Bezug zum Geld? ({4}) 2 Milliarden Euro sind doch keine Peanuts. Mein Eindruck ist, dass Sie den Bezug zur fiskalpolitischen Realität 2022 völlig verloren haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({5}) Und eins noch – es wurde auch schon angesprochen –: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der BAföG-Empfänger/-innen kontinuierlich zurückgegangen. Es ist Ihnen nicht gelungen, diesen Trend aufzuhalten. Es ist Ihnen ebenfalls nicht gelungen, das BAföG zu entbürokratisieren oder zu flexibilisieren bzw. überhaupt an den tatsächlichen Bedarf anzupassen. Wir als Ampelkoalition steuern jetzt gegen. Es wird höchste Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Herzlichen Dank. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich schließe die Aussprache.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Leben wird teurer: Lebensmittel, Energie, Mobilität. Die allgemeine Inflation liegt auf Rekordniveau – so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr –: bei rund 8 Prozent. In lebenswichtigen Bereichen sind die Preise stark gestiegen, zum Beispiel für Nahrungsmittel plus 11 Prozent, für Energie fast plus 40 Prozent. Es macht den Bürgerinnen und Bürgern Sorge. Aber es macht auch unseren Unternehmerinnen und Unternehmern Sorge. Denn Investitionen und Produktionen werden gestoppt. Den Bürgern bleibt von ihrem Einkommen und der Rente weniger übrig. Laut Schufa werden Anschaffungen geschoben. Die Nachfrage nach Kleinstkrediten steigt enorm. Und die Quittung? Die kommt erst noch, zum Beispiel am Ende des Jahres, wenn die Abrechnungen zu Strom und Heizkosten ins Haus kommen. Hält diese Inflation länger an, wird der Kaufkraftverlust dramatisch sein. Bei einer Inflation von jährlich 8 Prozent sind das nach nur neun Jahren 50 Prozent Kaufkraftverlust. Das heißt, man verliert in etwa zehn Jahren die Hälfte der Kaufkraft. Und der Staat? Der verdient mit. Er ist Inflationsgewinner. Pro zusätzlichem Inflationspunkt nimmt der Bundesfinanzminister 10 Milliarden Euro mehr ein. Was passiert mit unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern? Durch die kalte Progression zahlen sie in diesem Jahr 13,5 Milliarden Euro zu viel an Lohnsteuer. Da sollte man meinen, das sei Alarm genug für die Bundesregierung, um sofort zu handeln, sofort gegenzusteuern. Aber hier ist es bei der Ampelregierung wie in vielen anderen Bereichen auch: Mit großer Betroffenheit wird der Zustand beschrieben, und dann passiert lange nichts. ({0}) Statt die kalte Progression jetzt anzugehen, lässt sich der Bundesfinanzminister Zeit bis zum nächsten Jahr. Aber die kalte Progression ist eine heimliche Steuererhöhung. Wir fordern, die kalte Progression rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres anzugehen. Das spüren die Leute im Geldbeutel. Das ist jetzt gefragt. Dazu braucht man keine konzertierten Aktionen und auch keine Überlegungen und auch keine Studien. Das kann man jetzt machen, um die Bürger jetzt zu entlasten. ({1}) Das ist offensichtlich. Im Übrigen darf man auch Rentner oder junge Eltern bei der Energiepauschale nicht vergessen. Wir müssen mit der Stromsteuer runter, zumindest auf das Mindestmaß im europäischen Vergleich. Es braucht im Übrigen eine Bundesregierung, die handelt, statt eine, die nur Zustände beschreibt oder Stückwerk betreibt. Eines kann ich Ihnen jedenfalls sagen: Man bekämpft diese Art von Inflation nicht mit einem befristeten Tankrabatt, der nicht bei den Bürgern ankommt, oder einem 9‑Euro-Ticket für drei Monate. ({2}) Schauen wir uns diesen Tankrabatt mal an. Da haben Sie als Bundesregierung Erwartungen geweckt, die Sie gar nicht erfüllen können. Sie sind plötzlich so überrascht: Wo sind die 3 Milliarden Euro hin? Das zeigt doch nur eines, nämlich dass Sie zuvor überhaupt nichts überprüft haben, sich zuvor überhaupt nicht die Analyse der Preisgestaltung, der Preisstruktur am Mineralölmarkt angeschaut haben. Jetzt sind die 3 Milliarden Euro Steuergelder irgendwie weg. Das darf nicht noch einmal passieren; das sagen wir sehr klar. Folgen Sie unserem Vorschlag! Das Bundeskartellamt muss den Markt effektiv überwachen können. Die Mineralölunternehmen sollten wesentliche Preisbestandteile an die Markttransparenzstelle melden. Dadurch kann die Transparenzstelle unabhängig bewerten, ob eine Energiesteuersenkung oder andere Entlastungen auch bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen. ({3}) Eines will ich noch sehr deutlich sagen: Herr Scholz hat im Wahlkampf einen Industriestrompreis von 4 Cent pro Kilowattstunde versprochen. Wo ist dieser Industriestrompreis denn eigentlich? Der Preis lag 2021 im Schnitt, wenn man ihn berechnen würde, bei etwa 12 Cent. Oder: Die Energiepauschale soll erst im September ausgezahlt werden. Oder: Wo ist das Zuschussprogramm für Unternehmen, die energieintensiv und gebeutelt sind, das Sie im April angekündigt haben? Wo ist dieses Zuschussprogramm? Es sollte im April kommen; beim Industriestrompreis wird stattdessen jetzt eine Studie angekündigt, die im Herbst beginnt und 15 Monate dauern soll. ({4}) Eines kann man sehr klar festhalten: Wir sind jetzt bei einer Belastungsprobe, und diese Ampelregierung hat zwar für jede Farbe irgendetwas, was sie anbietet, aber keinen großen Wurf, kein gemeinsames Sofortprogramm für Wirtschaft und Beschäftigte. Deshalb sagen wir sehr klar: Zaudern Sie nicht, sondern handeln Sie jetzt! ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Schrodi. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die hohen Teuerungsraten stellen viele Menschen vor große Probleme. Sie treffen vor allem Bürgerinnen und Bürger mit kleinem und mittlerem Einkommen. Wir als Ampelfraktionen haben deshalb ein umfangreiches Energiepaket auf den Weg gebracht mit insgesamt 30 Milliarden Euro an Entlastungen. Übrigens, Frau Klöckner, wenn Sie mal die Steuerschätzung lesen würden, würden Sie wissen, dass ein großer Teil der Mehreinnahmen des Staates über dieses Paket rückerstattet wird. Jetzt sind es schon 30 Milliarden Euro der Mehreinnahmen, die aber gezielt eingesetzt werden. ({0}) Die „Berliner Zeitung“ schreibt diese Woche: Für Milliarden Deutsche erhöht sich im Juli das Nettogehalt. ({1}) - „Für Millionen Deutsche erhöht sich im Juli das Nettogehalt“. – Dies liegt an unseren milliardenschweren Maßnahmen. Um es Ihnen noch mal deutlich zu sagen: 30 Milliarden Euro insgesamt. Dazu gehören die rückwirkende Erhöhung des Grundfreibetrages und des Arbeitnehmerpauschbetrages sowie der Kinderbonus von 100 Euro. Diese Maßnahmen wirken jetzt, und es sind nur erste Teile der Maßnahmenpakete, die jetzt peu à peu wirken und die Inflation für die Bürgerinnen und Bürger spürbar abfedern werden. Das haben wir auf den Weg gebracht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Das zum Ersten. Zum Zweiten: Ihre Kommunikation zum Thema Inflation. Frau Klöckner, es ist doch richtig, dass die Ursache für die gestiegenen Preise für fossile Energie der Krieg in der Ukraine ist. Übrigens, es hätte geholfen, wenn Sie nicht fast schon jahrzehntelang auf der Bremse gestanden hätten beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das hätte geholfen, Angebotspreise zu senken. ({3}) Es liegt auch an den Störungen der Lieferketten in der Pandemie. Das sagen alle Ökonomen. Das sagt der Bundesbankpräsident Joachim Nagel. Beides liegt nicht in der Verantwortung der Bundesregierung. Sie aber suggerieren, Sie behaupten sogar fälschlicherweise, auch auf Ihren Social-Media-Kanälen – übrigens mit genau demselben Bild, mit dem die AfD-Fraktion ihre Fake News zur Inflation verbreitet –, diese Bundesregierung habe eine Teilschuld an der Inflation. ({4}) Das ist Populismus. Das ist unanständig. Das ist falsch und völlig unangemessen in dieser Situation, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({5}) Wir werden – das habe ich schon oft gehört – nicht alle Wohlstandsverluste ausgleichen können. Die Frage ist: Wer kann sich Wohlstandsverluste leisten, wenn wir zum Beispiel wissen, dass 20 Prozent der deutschen Haushalte überhaupt kein Vermögen besitzen und jede zusätzliche Belastung für kleine und mittlere Einkommen nur schwer zu verkraften ist? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat deswegen klar gesagt: Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen werden weitaus höher belastet. Ein größerer Anteil ihres Haushaltseinkommens geht jetzt für die höheren Energie- und Nahrungsmittelpreise drauf. Sie müssen einen größeren Anteil zahlen, zusätzlich ausgeben, mehr als beispielsweise die 10 Prozent einkommensstärksten Haushalte. Deshalb hat die Bundesregierung ganz gezielt diejenigen Haushalte entlastet, die es jetzt hart trifft: die mit kleinen und mittleren Einkommen. Ich habe schon den Grundfreibetrag erwähnt. Die Energiepreispauschale wirkt auch, weil sie höheren Einkommen weniger stark zugutekommt als den kleinen und mittleren Einkommen. ({6}) Also, wir ergreifen gezielte Maßnahmen, die genau die stärken, die wir stärken müssen. Das ist die richtige Antwort auf diese Krise. ({7}) Ganz anders verhält es sich mit Ihrem Vorschlag zur kalten Progression, den Sie jetzt unterbreiten. Das Institut der Deutschen Wirtschaft rechnet vor: Ein Jahreseinkommen von 25 000 Euro würde um 213 Euro entlastet. Ein Jahreseinkommen von 80 000 Euro und darüber – das sind auch wir Bundestagsabgeordneten – würde damit um 672 Euro entlastet. Das heißt, die hohen Einkommen würde man stark entlasten, und nur ein Drittel würde bei den kleinen Einkommen ankommen. Die Einkommen, die unter dem Grundfreibetrag liegen, würden gar nichts bekommen. Und das soll 15 Milliarden Euro kosten. Ich überlasse es mal den Bürgerinnen und Bürgern, zu urteilen, ob das in dieser Situation das richtige Instrument ist. Wir müssen die kleinen und mittleren Einkommen entlasten und nicht die an der Spitze. Nicht die Bundestagsabgeordneten brauchen mehr Geld in der Tasche, sondern die Kleinen. Dafür werden wir uns weiterhin starkmachen. ({8}) Gut ist – ich komme zum Schluss –, dass Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt ganz klar gesagt hat: Wir brauchen eine konzertierte Aktion. Diese wird am 4. Juli stattfinden. Wir haben eine große Herausforderung – nicht nur mit der Inflation, nicht nur mit dem Krieg in der Ukraine, sondern beispielsweise auch mit der Pandemie. Aber dieses Thema der Inflation und wie wir damit umgehen, das wird das Thema sein bei einem großen Treffen der Regierung, der Tarifparteien und der Deutschen Bundesbank. Denn wir wollen und werden alle Kräfte bündeln, um wirtschaftlich gut und sozial gerecht durch die Herausforderungen zu kommen. Der Bundeskanzler hat es gesagt: „Wir lassen niemanden allein!“ Wir versuchen, alle gut durch diese Krise zu bringen. Das wird die Aufgabe unserer Ampelkoalition sein; das werden wir auf den Weg bringen. Vielen Dank. ({9})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Kay Gottschalk. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Präsidentin! Man muss die Reden hier tatsächlich pausenlos umstellen; denn das war ja schon grandiose Geschichtsvergessenheit, Herr Schrodi. ({0}) Ich habe auch an die CDU zu adressieren: Wieso heißt es im Titel Ihres Antrags eigentlich „Teuerspirale“? Der richtige Titel – ich denke, das ist ein redaktioneller Fehler – lautet „Teurospirale“. Dabei haben Sie genauso mitgemacht. Der Anstieg der Inflation fing nämlich schon 2009 an mit Billionen von Euro für die Rettung der Südstaaten, meine Damen und Herren. Sie lügen den Damen und Herren hier die Hucke voll. ({1}) Die Inflation ist durch Folgendes bedingt – Stichwort „Quantitätstheorie“; ich habe das schon mehrmals gesagt –: Wenn zu viel Geld auf dem Markt ist, dann werden Waren zunächst mal teurer. Und natürlich – ich sage es mal ganz bitter –: Ihnen kommt der Ukrainekrieg da wahrscheinlich ganz schön recht. ({2}) Und diese Lügengeschichten hier aufzutischen! Es ist keine fossile Inflation. Es ist auch nicht der Ukrainekrieg. Hauptsächlich ursächlich ist Ihre verfehlte Energiepolitik, meine Damen und Herren. ({3}) Schauen Sie nach Polen! Schauen Sie nach Österreich! Die haben die gleichen Wettbewerbsbedingungen. Dort ist der Spritpreis um bis zu 40 oder 50 Eurocent weniger teuer. ({4}) Das sind die 40 oder 50 Eurocent, die diese Damen und Herren für andere Projekte gerne ausgeben, und das ist der Punkt. Den haben Sie eben ziemlich geschichtsvergessen ausgelassen, Herr Schrodi. Aber kommen wir doch zu anderen Dingen. Im Übrigen wird die ganze Inflationsmisere ja noch viel deutlicher auf den Punkt gebracht. „Der Tagesspiegel“ – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – schreibt: Das Rumeiern der EZB sei daran schuld. Es geht um – Achtung, Ohren gespitzt, Fachausdruck – „Schuldentragfähigkeit“, „Fragmentierung“. Da arbeiten Sie schon wieder dran: Wie können wir die Defizitstaaten, etwa Italien, retten? Die Angst vor einer neuen, zweiten Eurokrise geht um, meine Damen und Herren. Das ist die bittere Realität. ({5}) Sie wissen genauso gut wie wir, dass einige Südländer wie Spanien, Italien, aber mittlerweile auch Frankreich, der „Club Med“, die höheren Zinsen nicht mehr tragen können und diese sie an den Rand der Insolvenz bringen. Und wenn wir ehrlich sind: Ohne die Steuergelder von Ihnen, meine Damen und Herren auf der Tribüne, wären Länder wie Italien und Griechenland schon pleite. Ja, und nun geht es um die Schuldentragfähigkeit oder eigentlich um das Problem, dass diese Party- und Dolce-Vita-Staaten des Südens unsere niedrigen Zinsen haben wollten, aber eben weiter über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das ist die Realität. Deswegen haben wir jetzt diese Krise. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Gottschalk, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion?

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber selbstverständlich.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Sie haben das Wort.

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, dass Sie die Frage zulassen.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gerne. Da bin ich anders als einige aus anderen Parteien hier; ich weiß. Bitte. ({0})

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben davon gesprochen, dass einige Südländer aufgrund der Zinsentwicklung jetzt schon am Rande der Insolvenz sind.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Dr. Klaus Wiener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005257, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist so natürlich nicht richtig. Es gibt eine Duration der Staatsverschuldung. Die Duration im Falle Italiens liegt bei rund sieben, acht Jahren. Das heißt: Es dauert bis zu sieben, acht Jahre, bis sich ein höheres Zinsniveau tatsächlich niederschlägt und auch zu echten Verschuldungsproblemen führt. Woher nehmen Sie die Erkenntnis, dass diese Länder jetzt schon am Rande der Insolvenz sind?

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Oh! Ich gebe darauf gerne eine Antwort. Es freut mich. Danke für die Frage. – Also Italien: Wir hatten mal Maastricht-Kriterien. Ich glaube, das haben Sie und Ihr Bundeskanzler Helmut Kohl den Menschen auch gesagt, dass der Euro, wenn er denn eingeführt wird, genauso hart sein wird wie die D‑Mark und dass wir die Deutschen schützen wollen, indem wir entsprechende Kriterien – 60-Prozent-Kriterium bei der Staatsverschuldung des BIP – festlegen. Ich sage Ihnen, dass Italien mittlerweile auf die 160 Prozent zugeht, an den Zinsmärkten Italien mittlerweile für Staatsanleihen schon mehr als 3 Prozent zahlt. Ich muss Ihnen das Delta dieser Staatsverschuldung nicht erklären! Griechenland ist jenseits der 200 Prozent. Als ich in Frankreich war, hat mir der französische Finanzminister noch erklärt: Wir werden jetzt alles tun, um unter 90 Prozent zu kommen. – Pustekuchen! Sie sind jetzt bei über 100 Prozent, und Macron hat null geleistet als zweit- oder drittgrößte Volkswirtschaft. Wenn wir nach Spanien gucken, da ist es genauso grausam. Ich glaube, wenn es die Fragmentierung und die Hilfspolitik der EZB – und das ist ein Eingriff – von über 2 Billionen Schuldentiteln, die aufgekauft worden sind zur Staatsfinanzierung – da kann hier einer sagen, was er will –, nicht gegeben hätte, dann wären diese Staaten schon pleite. Denn wer würde denn Griechenland oder Italien allen Ernstes jetzt noch Geld geben in dieser Situation? Dann würde es „Zapp!“ machen und Italien wäre pleite. Die wären weg von der Finanzierung. ({0}) Deswegen ja auch schon 2009 die Verrenkung von Herrn Draghi: „Whatever it takes.“ Also, wir sind uns hoffentlich einig: Wenn die EZB zulasten von Ihnen dort oben nicht mehr als 2 Billionen Staatstitel aufgekauft hätte, dann wäre es morgen schon aus und Italien müsste wahrscheinlich über 10 Prozent zahlen. Deswegen haben wir ja auch mal über 375 Milliarden Euro gesprochen. Wir haben Griechenland einen Schuldenschnitt gegeben und haben uns auch über den berühmten Haircut unterhalten. Also ich bitte Sie von der Union ganz inständig: Wir gehören zusammen. ({1}) Kommen Sie auf den Pfad der Tugend zurück! Lassen Sie uns doch wieder zusammen währungspolitisch zur Vernunft kommen! Wir machen die Menschen dort draußen arm. Also kehren Sie zurück zu dem, was Sie und Ludwig Erhard mal stark gemacht hat! Da würde ich mich freuen. ({2}) Tatsächlich haben Sie – ich habe es eben ausgeführt –, meine Damen und Herren dort draußen und auf den Tribünen, durch die Nullzinspolitik – und das war schon ein Teil dieser Staatsrettung – mit Ihren Ersparnissen, mit Ihren Renten schon mal die Staaten des Südens finanziert. Und nun kommt eben die Endstufe einer jeden Währung – viele der Älteren haben es erlebt –: eine galoppierende Inflation. Auf der anderen Seite belastet nämlich diese hohe Inflation nicht nur die Menschen, die geringe Einkommen haben, sondern auch Normalverdiener – ich zitiere aus dem „Handelsblatt“ mit Erlaubnis der Präsidentin –: Bis zu 672 Euro haben diese Menschen weniger. Und dann kommt noch – und da sperren Sie sich ja auch; machen Sie endlich mit – die kalte Progression. Das heißt: Das kennen Sie. Wenn Sie Ihr Weihnachtsgeld bekommen, dann schauen Sie sehr verwirrt auf den Lohnzettel und sagen: Da kommt ja wenig an. Da nehme ich ja vielleicht mehr Urlaub. ({3}) Das ist genau die kalte Progression, die in unserem Steuertarif festgelegt ist. Auch da entlasten Sie viel zu wenig und haben mich immer hier der Lüge und der Falschaussage bezichtigt. Sie haben dort gelogen. Sie entlasten die Menschen nicht um den vollen Betrag der kalten Progression. ({4}) Also auch hier: kein Umdenken zu erkennen. Die Schuldenkoalition macht weiter so. Nach Gutdünken verteilt sie ein paar Almosen. Meine Damen und Herren, wie finden Sie es, dass Ihnen bei einer Nachzahlung von vielleicht 1 000 Euro, 2 000 Euro für Gas und Strom zusammen 300 Euro, die auch noch versteuert werden müssen – viel Spaß! –, als großes Geschenk dieser Regierung verkauft werden? Meine Damen und Herren, das ist nichts. Wir als AfD sagen, dass das Thema Inflation kommt, schon seit mehr als fünf Jahren, seit wir hier im Bundestag sind. Es ist Zeit, umzudenken. Es ist Zeit, umzudenken für die Union. Meine Damen und Herren, glauben Sie bitte nicht diesen Geschichten, die Ihnen hier eben aufgetischt worden sind. Vielen Dank. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Andreas Audretsch. ({0})

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der massive Preisanstieg, den wir erleben, geht weiter. Heizöl war im Mai 2022 fast doppelt so teuer wie ein Jahr zuvor. Auch bei den Industrieabnehmern sind die Preise förmlich in die Höhe geschossen. Wenn man sich das bei den Kraftwerken anschaut, stellt man fest: Die Preise für Erdgas sind im Mai um 241,2 Prozent höher gewesen als ein Jahr zuvor. Das sind dramatisch hohe Zahlen. Das zeigt einmal mehr, dass wir raus müssen aus den fossilen Energien, dass wir endlich wegmüssen von Putins Gas und Öl. Damit können wir eine ganze Reihe von Problemen lösen. ({0}) Die Klimaschutzfrage gehen wir an. Wir gehen endlich an, unabhängig von Wladimir Putin zu werden. Und wir bekämpfen die Inflation. Das passiert nämlich nicht mit irgendwelchen Taschenspielertricks, sondern indem man die Ursache angeht, und die liegt genau an dieser Stelle. ({1}) Gleichzeitig ist klar, dass diese Preise auf Lebensmittelpreise durchschlagen. Die Preise sind auch da dramatisch in die Höhe gegangen: 11 Prozent plus im Mai 2022. Diese Zahl mag abstrakt sein, aber konkret bedeutet das, dass bei den Tafeln mittlerweile Aufnahmestopps vor Ort verhängt werden, weil nicht mehr genug da ist, um es zu verteilen, oder dass jeder Sechste sagt, dass er Mahlzeiten auslässt, weil das Geld am Ende des Monats nicht mehr reicht. Das ist eine dramatische Lage. Deswegen ist es gut, dass wir schon Entlastungspakete in Höhe von 30 Milliarden Euro beschlossen haben. Es wurde schon gesagt: In den nächsten Tagen wird das Geld ganz konkret bei sehr vielen Menschen ankommen. ({2}) Am 1. Juli wird die 200-Euro-Einmalzahlung für die Menschen in der Grundsicherung auf dem Konto sein. Die Abschaffung der EEG-Umlage wird ab dem 1. Juli auch ziehen. Und wir haben das 9‑Euro-Ticket eingeführt; Sie alle haben es verfolgt: Das wirkt schon. ({3}) Aber: Wir alle wissen, dass diese Krise nicht kurzfristig enden wird. Das ist nicht das Ende der Geschichte. Der Diktator Wladimir Putin wird ohne Wimpernzucken – die Ausrufung der Alarmstufe des Notfallplans Gas heute ist, glaube ich, ein gutes Indiz dafür – Energiepreise als Waffe verwenden. Er wird sie im Herbst und im Winter verwenden; deswegen müssen wir mit der gleichen Entschlossenheit und mit der gleichen Härte in die Politik gehen und sagen, dass wir den sozialen Frieden in diesem Land sichern werden, wenn diese Situation im Herbst und im Winter ansteht. ({4}) Wir stellen dabei die Menschen, die es wirklich brauchen, in den Mittelpunkt unserer Politik, nicht die breite Masse, sondern die, die es brauchen. Das sind zuallererst die Menschen, die zu wenig verdienen, um ihre ganze Familie ernähren zu können, und deswegen aufstockend Hartz IV bekommen, oder die, die mit den kleinen Renten nicht genug haben und im Alter dann in der Grundsicherung landen. Genau diese Menschen müssen wir jetzt adressieren. Das heißt ganz konkret, dass die Hartz-IV- Regelsätze steigen müssen. ({5}) Um zu verstehen, wie sehr der Regelsatz unterbewertet ist, muss man sich angucken, wie er berechnet wird. Wir haben die Anhebung zum 1. Januar dieses Jahres mit einem Bezugszeitraum, der vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 geht. Damals gab es keine Inflation. Damals waren die Preise völlig andere. Deswegen sind die Regelsätze im Moment per Definition unterbewertet. ({6}) Das ist so; deswegen haben wir ganz konkret vorgeschlagen, eine Inflations- und Krisenreserve in Höhe von 10 Prozent des Regelsatzes auf den Weg zu bringen. Und das brauchten wir dauerhaft. 50 Euro plus wären das im Moment ungefähr. Die Krise wird nicht morgen enden. Die Krise wird weitergehen. Genauso müssen wir die Sozialpolitik behandeln. Wir müssen in dauerhafte Entlastung rein. Die Menschen brauchen Unterstützung jetzt, jeden Monat, regelmäßig und vor allem verlässlich. ({7}) Ganz genauso haben wir natürlich die Menschen mit den kleinen und mittleren Einkommen im Blick, die jeden Tag arbeiten gehen und bei denen es am Ende trotzdem nicht reicht, die Familie zu ernähren. Mit dieser Perspektive gehen wir auch in die Debatte, wenn wir über Einkommensteuer sprechen und wenn wir über die Frage reden, wie man an der Stelle Entlastungen organisieren könnte. Da ist doch völlig klar, dass Sie, Frau Klöckner – Sie haben die kalte Progression angesprochen –, keine Entlastung brauchen. ({8}) Die brauchen Sie nicht; die brauche ich nicht; die brauchen wir alle hier nicht. Die brauchen auch nicht die Fußballprofis. Die brauchen auch nicht die Konzernchefinnen und ‑chefs. Sie alle brauchen diese Entlastungen nicht. ({9}) Aber wer sie braucht, das sind die mit den ganz kleinen Einkommen. Das sind die, die wir adressieren müssen. Und wie Sie mit der Gießkanne überall drübergehen wollen, das ist genau das Problem an der Politik, die Sie machen. Konzentrieren Sie sich auf die Menschen, die es brauchen, auf die Menschen, die nicht genug haben, um zu leben. Das ist das, was wir adressieren. ({10}) Lassen Sie uns Politik machen mit einer Perspektive auf die, die es jetzt nötig haben, indem wir den Hartz‑IV-Satz anheben, für die kleinen und mittleren Einkommen Entlastungen organisieren und wir nicht die ganze Breite und die ganz oben im Blick haben, wie Sie das hier vorgetragen haben. Danke schön. ({11})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Janine Wissler. ({0})

Janine Wissler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005260, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer mehr Menschen wissen nicht mehr, wie sie ihre Gasrechnungen oder ihren Einkauf noch bezahlen sollen. Die Energiekosten steigen. Die Nahrungsmittel sind seit letztem Jahr um 11 Prozent teurer geworden, einige wie Speiseöle sogar um 40 Prozent. Das trifft Menschen mit geringem Einkommen am stärksten; deshalb muss ihnen auch am meisten geholfen werden. ({0}) Was diese Preissteigerungen im Alltag bedeuten, schildern viele Menschen offen und mutig unter der Überschrift „Ich bin armutsbetroffen“ im Internet. Dabei geht es nicht darum, ob man sich alle paar Jahre mal einen Wochenendurlaub leisten kann. Nein, für viele geht es um die Frage, ob sie Mahlzeiten auslassen und ob sie im Winter noch ihre Wohnung werden heizen können. Eine junge Mutter fragt: „Überall findet man Spartipps, da gerade alles teurer wird. Aber was macht man, wenn man diese neuen Spartipps bereits seit Jahren durchzieht? Wo sollen wir noch sparen, wenn wir schon überall kürzertreten?“ Das Entlastungspaket der Ampel war eben bei Weitem nicht ausreichend. Und es war eben auch nicht zielgerichtet. Menschen mit hohen Einkommen wurden doch deutlich stärker entlastet als Menschen, die wirklich Hilfe brauchen. ({1}) Studierende und Rentnerinnen und Rentner sind doch völlig außen vor geblieben im Gegensatz zu Ministerinnen und Ministern, die die Entlastung bekommen haben. Und das muss geändert werden. Sozialleistungen müssen kurzfristig um 200 Euro angehoben werden – mindestens. Die Kindergrundsicherung muss eingeführt werden. Zur Erinnerung: Der Hartz-IV-Regelsatz wurde in diesem Jahr um 3 Euro erhöht, für Erwachsene. Bei Kindern waren es nur 2 Euro. Und jetzt gibt es einige Jobcenter, die wegen des 9‑Euro-Tickets auch noch Geld für die Schülerbeförderung zurückverlangen von Familien, die Hartz IV beziehen, weil sie sagen, es sei eine ungerechtfertigte Bereicherung. Das ist doch wirklich eine Sauerei, meine Damen und Herren! ({2}) Nötig sind zudem staatliche Preiskontrollen, damit überhöhte Preise nicht immer weiter subventioniert werden. In einigen Ländern werden die Preise für Strom, Öl und Gas – und zwar vom Einkauf über die Produktion bis zum Verkauf – staatlich kontrolliert, damit Spekulanten sich eben nicht zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher bereichern können. Frankreich hat den Anstieg der Energiepreise beim staatlichen Stromkonzern auf 4 Prozent gedeckelt. Im gleichen Zeitraum stiegen die Preise in Deutschland um 23 Prozent. Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend eine staatliche Energiepreiskontrolle. ({3}) Stattdessen haben wir Christian Lindner, der mit seinem Tankrabatt anschaulich vorgemacht hat, wie es nicht funktioniert. Mittlerweile haben doch alle gemerkt, was viele vorhergesagt haben, Herr Lindner: Der Tankrabatt landet nämlich zu erheblichen Teilen gar nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern er fließt als Extragewinn in die Taschen der Mineralölkonzerne. Dass das auch noch mit Steuermitteln finanziert wird, meine Damen und Herren, ist doch eine skandalöse Umverteilung. Wo ist denn da Ihre Haushaltsdisziplin, die Sie sonst immer einfordern? ({4}) Die Energiekonzerne machen Gewinne, die weit über dem Durchschnitt der vergangenen Jahre liegen. Das tun sie doch nicht, weil sie ein besseres Produkt oder bessere Leistungen anbieten, nein, sondern einzig und allein durch höhere Preise. Aber die Konzerne und ihre Aktionäre, die meint Finanzminister Lindner offenbar nicht, wenn er von „fünf Jahren der Knappheit“ spricht, meine Damen und Herren. Diese Krisenerträge, diese Übergewinne müssen durch eine Übergewinnsteuer abgeschöpft werden. Solche Steuern werden auch schon erhoben, zum Beispiel in Italien. ({5}) Die EU-Kommission hat im März vorgeschlagen, außerordentliche Gewinne vorübergehend zu besteuern. Diese zusätzlichen Einnahmen brauchen wir doch, um die Menschen zu entlasten, die es wirklich brauchen, nämlich die Durchschnittsverdiener und die Geringverdiener. ({6}) Meine Damen und Herren, ich will auch deutlich machen, dass die Menschen im Globalen Süden ganz besonders unter der Teuerung und den steigenden Nahrungsmittelpreisen leiden. Nach Schätzungen des Welternährungsprogramms ist die Zahl der akut von Hunger Gefährdeten in einigen Teilen der Welt um mehr als 60 Prozent gestiegen. Deshalb – letzter Satz – sollte sich der Bundeskanzler beim G‑7-Gipfel am Wochenende für Hungerbekämpfung und für ein Verbot von Nahrungsmittelspekulationen einsetzen, weil Essen auf den Teller gehört und nicht an die Börse. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Preisschmerz, die Versorgungsunsicherheit vor allem bei Energielieferengpässen und die steigende Rezessionsangst alarmieren die Politik. Der Industriemotor stockt gewaltig. Die Brandgefahr von Russland – wir haben sie alle unterschätzt. Und jetzt brennt es lichterloh bei den Energiepreisen, den Nahrungsmittelpreisen, den Produktionskosten. Hinzu kommen auch weitere Schwierigkeiten, wie beispielsweise der Fachkräftemangel. Umso mehr ist es jetzt Zeit für eine sehr überlegte Politik. Das gilt ganz besonders für die Finanzpolitik, die die Folgen der Inflation abzufedern versucht. Deswegen ein Hinweis, den ich als Ordnungspolitiker nicht müde werde zu wiederholen: Es ist das Mandat der Europäischen Zentralbank, die Inflation mithilfe der Geldpolitik zu bekämpfen. Der Bundestag kann und darf sich nur auf Maßnahmen der Abfederung der Auswirkungen einer solchen Inflation beschränken. Das hat er voller Entschlossenheit in ersten Schritten getan. ({0}) Die Ampelkoalition hat in wenigen Monaten wie wahrscheinlich keine Regierung zuvor in so kurzer Zeit massive Entlastungen auf den Weg gebracht: die diversen Entlastungspakete I und II – vieles ist schon genannt worden –, das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz, die Abschaffung der EEG-Umlage, der Kinderbonus, die Energiepreispauschale, die Absenkung der Energiesteuern auf Kraftstoffe. Darunter sind also auch sehr strukturell entlastende Maßnahmen, die dauerhaft und nicht nur einmalig wirken, wie beispielsweise die Erhöhung des Grundfreibetrages bei der Einkommensteuer oder auch die Abschaffung der EEG-Umlage. Mal unterstellt, die EEG-Umlage bliebe ansonsten konstant, setzt die Ampel damit für den Rest dieser Legislaturperiode rund 67 Milliarden Euro für nachhaltige, vor allem auch sozial ausgewogene und zukunftsweisende Entlastungen um. Diese Maßnahmen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wirken ganz gezielt gegen die Inflation. ({1}) Geschätzte Kolleginnen und Kollegen der Union, augenscheinlich haben Sie vergessen, dass Sie vor nur drei Sitzungswochen schon einen Antrag zur Inflation gestellt haben, der sich noch im parlamentarischen Verfahren befindet. Offenbar gilt die Hälfte der damaligen Forderungen, die noch gar nicht abschließend beraten sind, so jetzt nicht mehr; ({2}) jedenfalls tauchen sie nicht mehr auf. Oder die Forderungen der beiden Anträge gelten additiv; dann wird es noch unglaubwürdiger. ({3}) Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist Gießkannenpolitik für schnelle Klicks in den sozialen Netzwerken. Damit haben Sie sich gegen eine seriöse Finanzpolitik entschieden, die jetzt so wichtig ist. Nicht ein Überbietungswettbewerb in neuen konsumtiven Ausgaben wird uns den Weg aus der Inflation weisen, sondern gezielte Wachstumspolitik zur Gestaltung der notwendigen Transformationsprozesse in unserer Gesellschaft, Haushaltsdisziplin und Subventionsabbau. Stattdessen erleben wir eine aufgeschreckte CDU/CSU, die sich mit ihren eigenen Forderungen selber überholt. Das ist schade und der ernsten Situation meines Erachtens nicht angemessen. ({4}) Meine Damen und Herren, besonders in Zeiten solcher Krisen darf man auf gar keinen Fall die Nerven verlieren. Die Politik muss vorausschauend und überlegt handeln, aber auch ehrlich sein. Da gehört es zur Wahrheit, dass jetzt alle Bürgerinnen und Bürger und ganz besonders auch der Staat mit den vorhandenen Finanzmitteln umsichtig kalkulieren müssen. Auch dieser Antrag – wie zuvor schon Ihr erster Antrag zur Inflation – verwendet keinen Moment auf den wichtigen Gedanken, woher das Geld für die vielen kleinteiligen Forderungen überhaupt kommen soll. Kein Wort zu einer soliden Haushaltspolitik, damit die Belastungen nicht noch höher werden! Das zeugt von einem sehr geringen Verantwortungsbewusstsein für den Haushalt unseres Landes, sorgt für falsche Versprechungen bei den Bürgerinnen und Bürgern und ist auch wenig staatstragend. Ihr Antrag ist sehr verkürzt, nimmt nur einen begrenzten Ausschnitt der Problematik in den Blick und ist deshalb auch nicht glaubwürdig. Wir werden diesen Antrag deshalb ablehnen. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schrodi, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten gezielt entlasten. ({0}) Was Sie gemacht haben, ist eine 300-Euro-Pauschale für fast jeden, nur für Rentnerinnen und Rentner nicht, für Eltern in Elternzeit nicht, für Studentinnen und Studenten nicht. ({1}) Was Sie gemacht haben, ist ein 9‑Euro-Ticket – übrigens das Superspreading-Event dieser Wochen – für drei Monate in der Sommerzeit. Da geht es eher um Urlaub als um Arbeit. ({2}) Die Pendler, die bei uns daheim im ländlichen Raum mit dem Auto zur Arbeit fahren, und diejenigen, die nach dem Urlaub wieder mit Bahn und Bus fahren müssen, haben davon gar nichts. ({3}) Sie haben mit der Gießkanne entlastet. Sie haben sich damit selbst Frieden in der Koalition geschaffen. Den Menschen geholfen haben Sie mit viel Geld nicht; ({4}) das muss man schon nach wenigen Tagen konstatieren. ({5}) Weil Sie gerade gesagt haben, man solle umsichtig, vorsichtig kommunizieren: In den letzten Tagen haben wir viele Vorschläge gehört – aus jeder der Regierungsfraktionen mindestens drei –, wie man richtig entlastet. Gestern Abend tagte der Koalitionsausschuss. Alle erwarten, dass in diesen Zeiten höchster Inflation endlich eine Entlastung kommt, dass es zusätzliche Maßnahmen gibt. Übrigens: Das ist die vorletzte Sitzungswoche vor der Sommerpause. Wenn Sie den Menschen noch zeitnah eine Entlastung geben wollen, dann müssen Sie eigentlich jetzt, in dieser Woche, gesetzgeberisch damit beginnen, anstatt hier Reden darüber zu halten, was man angeblich alles erreicht hat. ({6}) Das war Gießkanne. Bei keinem ist richtig was angekommen. ({7}) Wir hätten erwartet, dass wir diese Woche mal konkrete Vorschläge bekommen, wie Sie in der Breite, in der Tiefe entlasten wollen, etwa über eine Senkung der Stromsteuer, über den Abbau der kalten Progression. ({8}) Sie reden nur; viele Vorschläge, viel durcheinander. Wir machen einen konkreten Vorschlag, was nötig ist, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. ({9}) Ich will auch zur aktuellen Lage etwas sagen. Die Energiepreise haben Anteil an dieser Inflation. Der Bundeswirtschaftsminister hat gerade bezogen auf die Gasversorgung in Deutschland – das hat Auswirkungen auf die Preise und die Inflation – die Alarmstufe ausgerufen. Ich will sagen, dass das natürlich grundsätzlich richtig ist, wenn die Lage nach Einschätzung der Bundesregierung das notwendig macht. Wir haben die Änderungen des Energiesicherungsgesetzes teilweise auch mitgetragen, weil wir mit dem Überfall Putins auf die Ukraine hinsichtlich der Energieversorgung in einer Krisenzeit ungeahnten Ausmaßes sind. Deswegen gibt es – ja – in solch einer Krisenzeit einen Vertrauensvorschuss für und in die Regierung. ({10}) Aber wir haben auch Fragen. Robert Habeck hat noch am 31. März gesagt: Wir sind auf alles, was Putin tun könnte, gut vorbereitet. – Noch vor sechs Wochen hat er gesagt: Wir haben uns auf alles vorbereitet. – Nun ist übers Wochenende plötzlich Alarm. Nun heißt es: Der Winter kommt. – Das war vor sechs Wochen auch schon bekannt. ({11}) Wir haben schon die Frage: Was ist passiert, dass wir vor sechs Wochen vorbereitet waren und es jetzt nicht mehr sind? ({12}) Wir haben die Frage, warum Sie nicht früher die Kohlekraftwerke mehr genutzt haben, um die Gaskraftwerke herunterzufahren. ({13}) Wir haben das schon im März gefordert. Im März haben Sie alle noch gelacht, als ich das hier gefordert habe. Hätten Sie im März damit begonnen, wären die Gasspeicher heute voller. ({14}) Wir haben die Frage, warum Sie nicht früher begonnen haben – auch diesen Vorschlag haben wir schon im März gemacht –, für die Industrie und die privaten Haushalte Anreize zu setzen, Gas zu sparen. Nicht Frieren per Gesetz, sondern den Anreiz setzen, Gas einzusparen, wäre der richtige Weg. ({15}) Wir haben die Frage, warum Sie in einer solchen Alarmsituation, Notlage, Krisenlage bestimmte Maßnahmen von vornherein ausschließen. Der Bundeswirtschaftsminister hat heute Morgen die Alarmstufe beim Gas ausgerufen, aber gleichzeitig sagt Jürgen Trittin: Erdgasförderung in der Nordsee – 60 Milliarden Kubikmeter Gas – kommt auf gar keinen Fall infrage; das brauchen wir nicht. ({16}) Sie sprechen von einer Notlage, aber den Streckbetrieb – wir reden hier gar nicht von fünf oder neun Jahren; reden wir einfach über drei, vier Monate Streckbetrieb –, also die Kernkraftwerke jetzt etwas weniger und im Winter mehr zu nutzen – das ist technisch einfach möglich –, schließen Sie aus. ({17}) Sie sprechen richtigerweise von einer Notlage, schließen aber von vornherein bestimmte Maßnahmen aus. Das passt nicht zusammen. ({18}) – Soll ich Ihnen was sagen, Herr Kurth? Es ist mir egal, was EON und RWE davon halten, weil EON und RWE alles nur durch ihre unternehmerische Brille betrachten. Natürlich wollen die das nicht, weil es ihre Unternehmensplanungen stört. Mir ist es egal, was die Unternehmen wollen. Ich will das, was richtig ist für die Versorgungssicherheit in Deutschland. ({19}) Deswegen geht es auch darum, bei den Kernkraftwerken über den Streckbetrieb zu reden. ({20}) Ich habe noch eine Frage zum Umgang miteinander. Ich habe gerade gesagt: Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. – Wir haben sie übrigens in der Gesetzgebung an verschiedenen Stellen übernommen, gerade auch bei der Frage der Energiesicherheit. Aber ich finde es zumindest mal eine Frage wert, warum fast parallel zu dieser Debatte im Deutschen Bundestag Journalisten in einer Pressekonferenz informiert werden, aber der Deutsche Bundestag, der sich hier auch mit Fragen im Bereich „Wirtschaft und Energie“ beschäftigt, nicht informiert wird und das Ganze im Fernsehen verfolgen darf. ({21}) Sorry, auch das passt nicht zusammen. Sie, Grüne und FDP, waren es, die die letzten Jahre – manchmal vielleicht sogar zu Recht – immer wieder gesagt haben: Hier im Deutschen Bundestag spielt die Musik; hier müssen die Debatten stattfinden. – Ja, die Kommunikation über Instagram ist gut; alles richtig, alles beeindruckend. Aber ich würde mir wünschen, dass wir auch hier öfter mal informiert werden, dass der Minister sich auch hier öfter mal der Debatte stellt. ({22}) Er hat sich hier noch keiner Debatte zur Inflation gestellt, und er hat sich auch in dieser Frage keiner Debatte gestellt. Er regiert per Pressekonferenz, ({23}) und das ist gegenüber dem Deutschen Bundestag nicht angemessen. ({24})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Besucher auf den Tribünen, auch von meiner Seite! – Die nächste Rednerin in der Debatte ist Melanie Wegling, SPD-Fraktion. ({0})

Melanie Wegling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Union suggeriert, sie habe jetzt die ganz großen Antworten. Wenn ich mir aber diesen Antrag und den Titel anschaue, dann ist recht schnell zu erkennen, dass von diesem Antrag eigentlich keine seriöse Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema zu erwarten ist. ({0}) Der Titel lautet „Teuerspirale beenden“. Ich nehme an, Sie meinen damit die Inflation. Das heißt, Intention Ihres Antrags ist es wohl, die Inflation zu stoppen. Dann sprechen Sie aber auch von „entlasten“. Also ist der Inhalt dann wohl doch eher darauf ausgerichtet, die Auswirkungen abzumildern, und nicht darauf, die Inflation zu beenden. Puh! ({1}) Wer es ernst meint, erlaubt sich bei dem Thema Inflation eigentlich ausreichend Tiefgang, insbesondere in Zeiten multipler globaler Krisen. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie in Ihrer Analyse vielleicht erst mal der Frage nachgehen, was eigentlich die Treiber der Inflation sind. Ich kann Ihnen das auch nicht mit vollkommener Sicherheit sagen. Wir haben alle eine diffuse Vorstellung davon. Wissenschaftlich gesehen lassen sich die konkreten Ursachen für Inflation selten eindeutig identifizieren, manchmal noch nicht mal rückwirkend. Die Faktoren sind, so können wir vermuten, wahrscheinlich Zinspolitik, Lieferengpässe, Ukrainekrieg, steigende Energiepreise. Aber wirken jetzt alle Ursachen gleichzeitig, oder ist der eine Inflationstreiber vielleicht ein Katalysator für den anderen? Nichtsdestotrotz: Die Auswirkungen erlebe ich jeden Tag, wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin. Da ist der Baustoffhändler aus Crumstadt; der spürt seit Monaten die Lieferengpässe von Baumaterial und telefoniert überall in der Welt umher, um die Ware zusammenzubekommen. Da ist die Bäckerei aus Gernsheim; die produziert die Backwaren wegen der gestiegenen Weizenpreise jetzt nur noch auf Lücke, sodass zwar weniger Lebensmittel entsorgt werden müssen, aber es bleibt dann eben auch nichts mehr übrig, um es an Tafeln und Co zu spenden. In meinem elterlichen Handwerksbetrieb müssen jetzt Fahrtkostenpauschalen erhoben werden, damit sich die Anfahrt zu den Baustellen nicht zum Minusgeschäft entwickelt. – Wir als Ampelkoalition sehen all diese Fälle, und wir nehmen die Auswirkungen für die Menschen, die dahinterstecken, sehr ernst. Deshalb haben wir bereits zahlreiche Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht. ({2}) Wenn ich mir jetzt aber diesen zweiseitigen Unionsantrag anschaue, stelle ich mir, ehrlich gesagt, eine Frage: Ist der Antrag jetzt einfach unseriös, populistisch und zeigt viel zu wenig Respekt vor der Komplexität der aktuellen Situation, ({3}) oder zeigt der Sparflammenantrag von gerade mal zwei Seiten, dass die Regierung eigentlich alles richtig macht und die Union verzweifelt versucht, ein paar Punkte zusammenzukratzen, die Ihnen angeblich noch fehlen? ({4}) So oder so: Verantwortungsvolle, konstruktive Oppositionsarbeit sieht in meinen Augen anders aus. Falls Ihr Antrag für diese komplexe Situation tatsächlich ernst gemeint sein sollte, möchte ich darauf hinweisen, dass die aufgezählten Maßnahmen keinesfalls die Inflation stoppen, wie Sie es in dem Titel anpreisen möchten, sondern im besten Fall nur deren Auswirkungen abmildern können. Politisch bewertet, würde ich sagen, müssen wir uns dann aber fragen, für wen wir diese Auswirkungen eigentlich abmildern wollen. Ich persönlich würde mit Blick auf Ihren Antrag jetzt sagen: Wir sollten das eher nicht für die von Ihnen angesprochenen Eigenheimbesitzer mit Photovoltaikanlagen tun, sondern eher für Haushalte, die bangend auf ihre nächste Strom- oder Nebenkostenabrechnung warten, die in ihrer Mietwohnung sitzen und nicht wissen, wie sie die nächsten Rechnungen bezahlen sollen. ({5}) Einer ernsthaften Verteilungsgerechtigkeit wird Ihr Antrag deshalb nicht gerecht. ({6}) Im Übrigen noch eine Seitenbemerkung zu Ihrer Analyse: Es ist, ökonomisch betrachtet, auch gefährlich, Geld zu Stellen zu pumpen, die es eigentlich nicht benötigen. Das wäre nämlich ein weiterer Inflationstreiber. Die Abmilderung der Auswirkungen auf Haushalte und eine aktive, strukturelle Inflationsbekämpfung müssen zielgenau, besonnen und durchdacht sein. Glücklicherweise bringt die Ampelregierung genau die richtigen Köpfe mit, um das umzusetzen. Genau das machen wir schon. Und damit machen wir weiter. Danke schön. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Bernd Schattner, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner. ({0})

Bernd Schattner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005203, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wir werden ärmer werden.“ Dies ist ein Zitat unseres Vizekanzlers Robert Habeck. Der Mann, der einen Eid zum Wohle des deutschen Volkes geleistet hat, führt Deutschland, wie er selbst bestätigt, in die Armut. Ein Zitat von unserem Finanzminister Lindner auf einer Industrieveranstaltung diese Woche lautet: Der Bürger muss den Wohlstand erarbeiten, damit die Politik den Wohlstand verteilen kann. – Das ist reinste sozialistische Politik einer einst liberalen Partei. ({0}) Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass Energiepreise um 38,3 Prozent und Lebensmittelpreise um 11,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind. Allein im Dezember 2021 betrugen die Steuereinnahmen 111 Milliarden Euro für den Fiskus. Und trotzdem diskutieren unser Vizekanzler und die SPD über eine Übergewinnsteuer. Mit dieser vertreiben wir dann noch die letzten Unternehmer aus Deutschland. Ob Inflation, explodierende Energiekosten oder eine falsche Zinspolitik – seit Jahren warnt die AfD-Fraktion vor genau der Entwicklung, die jetzt über uns hereinbricht. Mittlerweile haben selbst die Grünen erkannt, dass sie auf einem Irrweg sind, und wollen zurück zur Kohleverstromung, genau wie die FDP mittlerweile die Kernenergie erhalten möchte. Herr Minister Habeck, wir wollen im Winter nicht bei Kerzenlicht sitzen und am Lagerfeuer kochen. Daher sollten Sie die von der AfD-Bundestagsfraktion vorliegenden Vorschläge, welche die CDU/CSU mit dem hier vorliegenden Antrag übrigens hervorragend kopiert, aufgreifen. Wir fordern bereits seit Jahren, die Kohle- und Kernenergie als Grundlastversorgung zu erhalten. ({1}) – Damit habe ich kein Problem. Im Übrigen muss man der Union eines lassen: Ihre Anträge sind mittlerweile fast deckungsgleich mit denen, die wir als AfD-Fraktion schon vor Wochen und Monaten gestellt haben. ({2}) Vielleicht sollten Sie mal in sich gehen, ({3}) Ihr Kooperationsverbot überdenken und gute Anträge der AfD einfach übernehmen. ({4}) Sie betreiben mittlerweile eine relativ gute Oppositionsarbeit, indem Sie Anträge von uns im Original übernehmen und zur Debatte bringen. Dies zeigt, dass Sie ein guter Koalitionspartner wären, aber uns doch bitte diese fachpolitische Richtung überlassen sollten. Und vielleicht sollten Sie gerade an dieser Stelle noch mal über Ihr Kooperationsverbot nachdenken. In Thüringen könnten Sie bereits seit Jahren gemeinsam mit uns regieren. ({5}) Mit der aktuellen Politik dieser sogenannten Fortschrittskoalition steigen nicht nur die Energiekosten ins Unermessliche, auch Lebensmittel werden für viele zum Luxusgut. Dann heißt es nicht nur „Frieren gegen Putin“, sondern auch noch „Hungern gegen Putin“. Diese Regierung ist nicht in der Lage, Deutschland mit annehmbaren Preisen für Energie und Lebensmittel zu versorgen. Sie als Regierung haben in dieser Position auf ganzer Linie versagt. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir gegenwärtig insgesamt an Preisentwicklung sehen, ist tatsächlich einmalig für die Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland. Das wird jetzt auch nicht zu Ende sein. Vielmehr werden wir nach meiner Meinung, wie Finanzminister Christian Lindner richtig eingeschätzt hat, auch in den nächsten Jahren noch erhebliche Verwerfungen an den Märkten erleben, deren Folgen für Millionen Bürgerinnen und Bürger tatsächlich existenzielle Ängste bedeuten. In dieser Situation, in dieser wirklich epischen Krise, haben die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland eine ernsthafte und seriöse Debatte verdient. Dem werden der Antrag der Union und die Rede von Frau Klöckner und das, was wir von Herrn Spahn gehört haben, leider nicht im Ansatz gerecht. ({0}) Eine seriöse Debatte fängt aus meiner Sicht damit an, dass man sich im Rückblick auch mal mit den Ursachen beschäftigt. Wer hat uns denn in diese Abhängigkeit des Kremlfaschismus gebracht? Wer hat denn jahrzehntelang die Energiewende blockiert, ausgesessen und hintertrieben? Das waren doch Sie von der Union. Das hilft jetzt natürlich nicht – hätte, hätte, Fahrradkette –; aber ich finde, zu einer ehrlichen Reflexion der Situation gehört, dass man das nicht unter den Teppich kehrt und verschweigt. ({1}) Zu einer seriösen Debatte gehört auch, sich einfach mal die Fakten anzugucken bezüglich der Entlastungspakete dieser Regierung, dieser 30 Milliarden Euro. ({2}) Jüngst ist eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung herausgekommen. Das sind ja nicht unbedingt die allerengsten Freunde aller Parteien, die in dieser Regierung sind. Aber sie zeigen in mehreren Fallbeispielen sehr klar, dass wir Familien mit einem geringen Einkommen relativ gezielt entlastet haben. ({3}) Sie haben ein Modellbeispiel angeführt, das ich hier mal nennen möchte. Bei einem Paar mit zwei Kindern und geringem Verdienst, also in der Spanne von 2 000 bis 2 600 Euro netto, werden die Preissteigerungen der letzten Monate durch die Entlastungspakete zu 90 Prozent ausgeglichen. Bei einem Geringverdienerhaushalt mit zwei Personen ohne Kinder beträgt der Ausgleich immerhin 78 Prozent. Das, finde ich, kann sich durchaus sehen lassen. ({4}) Und wenn diese Haushalte dann vielleicht ihr Auto etwas öfter stehen lassen, sofern es denn ein ÖPNV-Angebot gibt – das könnte besser sein, wenn die Union in den letzten Jahren nicht die Verkehrsminister gestellt hätte –, und das 9‑Euro-Ticket nutzen, ({5}) kann man nach den Berechnungen des IMK sogar von 100 Prozent Ausgleich in diesem Bereich sprechen. Es ist natürlich ein Kompromiss gewesen. Wir wissen selbst, dass es eine besondere Leerstelle gibt: Das sind die Rentnerinnen und Rentner bei der Energiepreispauschale. Aber man kann davon ausgehen – seien Sie gewiss –: Wenn wir weitere gezielte Entlastungen in den Blick nehmen, ({6}) dann werden wir die Rentnerinnen und Rentner nicht vergessen. Sie hingegen wollen mit der „Bekämpfung“ – wie Sie es nennen – der kalten Progression noch Menschen wie mich, die das überhaupt nicht nötig haben, unter eine warme Gelddusche stellen. ({7}) Das werden wir uns in Zukunft nicht leisten können. ({8}) Als Ampelkoalition werden wir darauf achten, dass wir mit den Mitteln des Staates verantwortlich umgehen und gezielt entlasten. Das unterscheidet uns ganz wesentlich, und das ist auch der Unterschied zwischen uns im Hinblick auf Seriosität in politischen Angeboten. Vielen Dank. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Maximilian Mordhorst, FDP-Fraktion, ist der nächste Redner. ({0})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Inflation beschäftigt uns zurzeit zu Recht prioritär, weil es zeigt, dass die Wirtschaftspolitik – bei allem guten Willen in der Sozialpolitik, bei allem guten Willen bei der Umverteilung – am Ende entscheidend dafür ist, ob wir es schaffen, dass der soziale Ausgleich in diesem Land hergestellt bleibt. Die Inflation beenden können wir nicht. Deswegen müssen wir dringend die Rahmenbedingungen so setzen, dass der Staat die Inflation nicht noch weiter antreibt. Wir müssen Ausgaben kritisch auf den Prüfstand stellen, und wir müssen für solide und verlässliche Haushalts- und Finanzpolitik sorgen. ({0}) Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir keine falschen Anreize setzen. ({1}) Sie sagen das in Ihrem Antrag selber: Sie wollen auch mehr Geld umverteilen. Aber wenn man beispielsweise mit Menschen aus dem Baugewerbe spricht, hört man: Die brauchen alles, aber nicht mehr Geld. Sie haben zu wenig Personal, sie haben zu wenig Material, und sie wollen weniger Bürokratie. Wir als Staat sollten die überhitzten Märkte nicht weiter anheizen, wir sollten eher die Ursachen bekämpfen. Und, liebe Union, warum haben die zu wenig Personal? Weil Sie sich 16 Jahre lang gegen ein vernünftiges Fachkräfteeinwanderungsgesetz verwahrt haben und weil Sie die Bildung und Ausbildung in den Ländern nicht genug stärken. ({2}) Warum haben die zu wenig Material? Weil Sie nicht dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit von China reduziert wird; jeder kennt die Bilder aus dem Hafen von Schanghai. Wir müssen mehr diversifizieren, auch in unserer Wirtschafts- und Handelspolitik, und dürfen nicht mehr auf einzelne Staaten setzen. ({3}) Wir müssen auch mehr auf die Werte schauen und darauf, dass so etwas wie eine Zero-Covid Policy ein Handelshemmnis sein kann. Und ja, wir müssen auch TTIP wieder auf den Tisch legen und neue Bündnisse für eine moderne und verlässliche Handelspolitik schließen, damit solche Lieferschwierigkeiten nicht mehr vorkommen. ({4}) – Ich freue mich, dass die Grünen klatschen. – Wir müssen eher entlasten, als die Ausgaben weiter zu erhöhen. Ich sage für die Freien Demokraten ganz klar: Was in dieser Zeit gefährlich ist, ist das Reden über eine neue toxische „Neidsteuer“, die jetzt einige auf den Weg bringen wollen. ({5}) Auch Jens Spahn hat sie ins Spiel gebracht. ({6}) So wird es in der Finanzpolitik nicht funktionieren, wenn wir dafür sorgen wollen, dass die Inflation nicht noch weiter anzieht. Es ist auch keine Sozialpolitik, wenn man nur davon spricht, dass es Fußballer und Sozialhilfeempfänger gibt. Deutschland ist doch nicht nur das. Dazwischen gibt es eine breite Mitte in der Gesellschaft, und auf die müssen wir in unserer Politik viel mehr schauen. ({7}) Es reicht nicht aus, nur von Fußballspielern und Sozialhilfeempfängern zu sprechen. Sie spielen die Gruppen damit gegeneinander aus. Wir müssen die Mitte der Gesellschaft stärken und dürfen die Menschen nicht weiter gegeneinander ausspielen. ({8}) Wir werden deshalb die Zeitenwende auf verschiedene Bereiche der Politik übertragen. Die Schuldenbremse bleibt garantiert, und das nicht nur, weil wir sie politisch richtig finden, sondern weil sie ein Gebot der Verfassung ist. ({9}) Um der Inflation Einhalt zu gebieten, können wir nichts Besseres tun, als uns an die Schuldenbremse zu halten. ({10}) Wir können in der Energiepolitik nichts Besseres tun, als darüber zu diskutieren, wie wir es in Zukunft schaffen, die Energienutzung zu diversifizieren und im Notfall auch neu zu denken, zum Beispiel zum Thema Kernenergie. Dabei geht es nicht nur um Atomkraftwerke, wie einige sagen. Es geht auch darum, dass bestimmte Forschungsbereiche seit Jahren politisch gewollt brachliegen. Da müssen wir neu denken und neu überlegen. Ich glaube, in einer Notsituation ist es richtig, pragmatisch zu sein. ({11}) Ich freue mich sehr darüber, dass wir diesen Diskurs jetzt auch als Gesellschaft suchen, indem wir gemeinsam für mehr Freiheitsenergien sorgen – ich hoffe, da klatscht die AfD nicht mehr – und indem wir auch dafür sorgen, dass eine vernünftige Haushalts- und Finanzpolitik der Inflation einen Rahmen setzt, sie beendet oder ihr Einhalt gebietet und die Wirtschaft wieder ordentlich in Gang kommt. Vielen Dank. ({12})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute schon an verschiedenen Stellen gehört: Einkaufen wird für viele Familien zum Stresstest; die Inflation ist das größte Alltagsproblem der Menschen in Deutschland. Und man muss sich fragen: Was macht die Ampel? Sie haben bisher mit Ihren Entlastungspaketen eher Stückwerk vorgelegt. Der Bundeskanzler gab hier gestern eine Regierungserklärung ab und erwähnte den Begriff „Inflation“ kein einziges Mal. ({0}) Und gestern trafen sich auch die Koalitionsspitzen der Ampel. Wir waren alle überrascht und freuten uns, dass irgendwas passiert. Aber nein. Heute Morgen lese ich in den Nachrichten: Die wichtigen Themen wurden ausgeklammert. Das Thema Inflation haben Sie nicht besprochen. Sie haben keine Beschlüsse gefasst. – So geht das nicht. ({1}) Deswegen ist es gut, dass wir diesen Antrag heute einbringen und Sie sich Ihrer Verantwortung stellen ({2}) und den Menschen in Deutschland sagen müssen, wie Sie die Inflation bekämpfen und die Folgen abfedern wollen. ({3}) Es geht auf der einen Seite um die Folgen, die abgefedert werden müssen, auf der anderen Seite aber auch um die Ursachen. Wir machen hier ganz konkrete Vorschläge, wie man die Folgen abfedern kann. Wir weisen auf das Thema „kalte Progression“ hin. Das ist eine heimliche Steuererhöhung. Dafür müssen wir einen Ausgleich finden. ({4}) Nur eine Zahl: Durch die Inflation werden jetzt 11,5 Milliarden Euro mehr über die kalte Progression eingenommen. Schaffen Sie hier Abhilfe! Sorgen Sie dafür! ({5}) Herr Mordhorst, ich höre ja gern, dass Sie meiner Meinung sind; aber ehrlich gesagt hat die FDP an dieser Stelle den Koalitionsvertrag schlecht ausgehandelt. Der Begriff „kalte Progression“ kommt im Koalitionsvertrag nicht vor, anders übrigens als bei den Großen Koalitionen in der Vergangenheit. Wir haben es hinbekommen, das mit den Sozialdemokraten auszuverhandeln. Sie haben es nicht hingekriegt. ({6}) Die Wirtschaftspolitik wurde angesprochen. Wir müssen sehen: Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist nicht gottgegeben; wir haben das gestern in den Nachrichten aus dem Saarland gehört. Deswegen müssen wir etwas bei den Strompreisen tun, nicht nur bei den Preisen für die Privathaushalte, sondern auch bei den Industriestrompreisen. Machen Sie hier was! Verlängern Sie den Spitzenausgleich! Das ist dringend notwendig. ({7}) Aber wir müssen auch die Ursachen angehen. Jetzt wurde hier gesagt: Wir als Deutscher Bundestag können nichts tun. – Das ist natürlich nicht richtig. Wir sind Haushaltsgesetzgeber, und eines ist doch klar: Verschuldung, Verschuldung, Verschuldung führt zu einer höheren Inflation. ({8}) Uns wurde in der Vergangenheit immer gesagt: Die schwarze Null ist ein Fetisch. Wieso haltet ihr an der schwarzen Null fest? ({9}) Die Grünen haben sich im Wahlkampf auf die Modern Monetary Theory berufen, nach dem Motto „immer mehr Schulden aufnehmen“, ({10}) und gesagt, wer in der heutigen Zeit keine Schulden aufnehme, sei irgendwie blöd. Jetzt sehen wir: Die hohe Verschuldung trägt dazu bei, dass wir eine hohe Inflation in Deutschland haben. ({11}) Deswegen: Kommen Sie zurück zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik! ({12}) Natürlich müssen wir uns auch die Angebotsseite anschauen, das Thema Energie. Ich würde mir schon wünschen, dass Fridays for Future wieder auf die Straße geht ({13}) und demonstriert, aber diesmal für die Verlängerung der Kernenergie. ({14}) Denn es kann doch nicht sein, dass wir jetzt die dreckige Kohle weiter verbrennen und die drei Atomkraftwerke am Ende des Jahres einfach auslaufen lassen. Das kann doch nicht sein. ({15}) Deshalb darf es in einer so existenziellen Lage keine Denkverbote geben. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung bereitet dieses Land nicht auf das vor, was im zweiten Halbjahr auf uns zukommt. In den nächsten sechs Monaten – ich wage die Prognose – kommen alle Krisen der letzten zehn Jahre zurück: ({17}) die Eurokrise, die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Coronakrise und jetzt auch die Inflationskrise. Sie bereiten die Bevölkerung nicht auf die Krisen vor, die jetzt zusammenkommen. ({18}) Setzen Sie sich endlich dran! Die Bürger erwarten Antworten von Ihnen. Herzlichen Dank. ({19})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD hat das Wort Andreas Mehltretter. ({0})

Andreas Mehltretter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005147, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Union ist eine klassische Mogelpackung. Auf dem Antrag steht: Teuerspirale durchbrechen. ({0}) Im Antrag sind aber kaum Maßnahmen enthalten, die die Inflation tatsächlich dämpfen könnten. Wir alle kennen die Zahlen: Dieses Jahr erwartet die Europäische Zentralbank eine jährliche Inflationsrate von 6,8 Prozent. Diese Inflation ist für uns alle spürbar. Für viele ist sie aber nicht nur spürbar, viele können die stark gestiegenen Preise schlicht nicht bezahlen. Natürlich müssen wir diese Menschen entlasten. Das haben wir schon getan, und das werden wir mit zusätzlichen Maßnahmen tun, vor allem gezielt dort, wo Menschen von den Kostensteigerungen überfordert sind. Wir tun auch das, was Sie versprechen, aber mit Ihrem Antrag nicht halten: Wir müssen die Inflation abdämpfen, und das heißt, wir müssen dort ran, wo die Preisanstiege tatsächlich herkommen. Eine Hauptursache sind die Energiepreise. Schon im Winter sind sie gestiegen, und seit dem Krieg in der Ukraine sind sie steil nach oben gegangen. Mit den steigenden Energiepreisen zahlen wir jetzt dafür, dass wir zu lange in der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern geblieben sind. Wir zahlen dafür, dass wir die erneuerbaren Energien nicht schnell genug ausgebaut haben. ({1}) Schon jetzt ist Strom aus Wind und Sonne viel günstiger als Strom aus Gas und Kohle und auch als Atomstrom. Während die Preise für fossile Energieträger gerade durch die Decke gehen, ist abzusehen, dass die Kosten für die Nutzung erneuerbarer Energien weiter sinken werden. Es ist und bleibt daher richtig, die Energiewende voranzutreiben – weil wir unsere Klimaziele erreichen müssen, weil wir nur so unabhängig von fossilen Energieträgern werden und weil wir nur so die Preisspirale durchbrechen können. ({2}) Die Preise sind auch deswegen so hoch, weil Gas, Öl und Kohle nicht so sicher verfügbar sind, wie wir immer geglaubt haben. ({3}) Eine Verlängerung der Laufzeit der noch betriebenen Atomkraftwerke bietet diese Sicherheit aber genauso wenig. Das Gegenteil ist der Fall; auch wenn Sie, liebe Union, das in diesen Tagen immer wieder behaupten. ({4}) Das zeigt gerade ein Blick nach Frankreich. Dort sind mehr als die Hälfte aller Atomkraftwerke gerade wegen Sicherheitsmängeln außer Betrieb. ({5}) Das heißt, Kernenergie kann die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten, und teuer ist sie auch noch. ({6}) Der Ausfall der französischen Atomkraftwerke hält in ganz Europa die teuren Gaskraftwerke am Laufen und treibt den Strompreis nach oben. ({7}) Das sind die Fakten, liebe Union. ({8}) Um Gas zu sparen und um den Strompreis wieder zu drücken, müssen wir jetzt wieder Kohlekraftwerke aus der Reserve ans Netz nehmen. Das ist bitter, aber leider notwendig. ({9}) Wir wollen weitere Anreize setzen, den Gasverbrauch zu reduzieren. Konkret sind Auktionsmodelle für die Industrie in Planung. Bei den privaten Haushalten schlagen wir zum Beispiel einen Energiesparbonus vor, weil auch ein geringerer Verbrauch insgesamt für jeden Einzelnen die Preise senkt. ({10}) Gleichzeitig tun wir alles, was sinnvoll ist, um ein ausreichendes Angebot an Gas sicherzustellen, weil mehr Angebot die Preise auch wieder drückt. Deswegen schaffen wir in einem rasanten Tempo Anlandemöglichkeiten für Flüssiggas und füllen unsere Speicher. Meine Damen und Herren, wenn wir über zu hohe Preise reden, müssen wir auch darüber reden, wo im Moment die Preise hochgetrieben werden, um möglichst großen Profit aus der aktuellen Situation zu schlagen. ({11}) Genau das ist zum Beispiel bei Benzin und Diesel das Problem. Das Kartellrecht sollte hier dagegenhalten können, aber dieses Schwert ist leider eher ein stumpfer Dolch. ({12}) Die Lücken im derzeitigen Kartellrecht sind offensichtlich; nicht erst seit heute. Eine Reform wäre auch schon unter dem letzten Wirtschaftsminister – er war übrigens von der Union – fällig gewesen. Das holen wir jetzt nach. Wir werden Sektoruntersuchungen so ausbauen, dass sie konkrete Maßnahmen zur Folge haben für mehr Wettbewerb und damit für niedrigere Preise. Wir werden die Hürden für die Vorteilsabschöpfung entscheidend senken und Entflechtungen als letztes Mittel ermöglichen. Meine Damen und Herren, zur Bekämpfung der Inflation gehört eine Energiepolitik, die den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt, statt ihn mit unsinnigen Abstandsregeln zu verhindern. Dazu gehört ein Kartellrecht, das günstigere Preise durch mehr Wettbewerb schafft. Wir brauchen keine Unionsmogelpackung, sondern diese konkreten Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben und die den Preisanstieg wirklich bremsen. ({13})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Katharina Beck ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005019, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich darf in zwei Minuten ein bisschen Ordnung in die Debatte bringen. Es gibt drei Aspekte, die sehr wichtig sind. Der erste ist natürlich die Geldpolitik. Da handelt die EZB. Sie ist unabhängig, sie handelt besonnen; das ist gut. ({0}) Der zweite ist die Entlastung. Dazu zählen einige der Maßnahmen, die Sie in Ihrem viel zu kurzen Antrag beschrieben haben. Wir haben über 15 Maßnahmen in den Entlastungspaketen I und II beschlossen. Es geht um über 30 Milliarden Euro nur dieses Jahr, 60 Milliarden Euro insgesamt. Ein Aspekt, der viel zu kurz kommt, hat mit der kalten Progression und der Einkommensteuer zu tun; es wurde angesprochen. Schon alleine die Tatsache, dass wir den Grundfreibetrag um 363 Euro rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres angehoben haben, ist toll. ({1}) Das wird die Menschen schon jetzt krass entlasten, besonders die Bezieher niedriger Einkommen. Das ist sehr gut und nur eine von ganz vielen Maßnahmen. ({2}) Der dritte Aspekt – Frau Wegling hat es so schön gesagt –: Was ist eigentlich mit der Ursachenbekämpfung? Lieber Markus Herbrand, wir sind ja nicht nur zum Abfedern da, sondern auch zur Ursachenbekämpfung. Es gibt ganz konkrete Zahlen. Fast die Hälfte der Inflation von 7,9 Prozent machen die Energiepreissteigerungen aus. Dann muss man noch einbeziehen, dass die Preise auch durch Energiekosten beispielsweise in Bäckereien und in anderen Industriezweigen steigen. Unsere Lebensmittelpreise hängen maximal davon ab, wie sehr die Energiepreise steigen. Ein bisschen hängt es von den Problemen bei den Lieferketten ab, aber der Effekt der Energiepreissteigerungen in Deutschland zeigt sich gerade darin, dass die Lebensmittel richtig teuer werden. Deswegen müssen wir an das Thema Energie ran. Das tun wir mit drei Maßnahmen. Erstens. Die oligopolistischen Marktstrukturen werden endlich mit einem verschärften Kartellrecht angegangen; denn diese haben bisher verhindert, dass es faire Preise am Energiemarkt gibt. ({3}) Zweitens: die Diversifikation. Wir Grüne fahren in bestimmte Staaten, auch wenn wir keine Lust darauf haben. Denn wir müssen uns im Übergang zu den neuen Technologien im Bereich fossiler Energien – es tut mir weh, das zu sagen, aber es ist so – diversifizierter aufstellen und endlich aus der Abhängigkeit – der Anteil allein beim Gas betrug 55 Prozent; das haben Sie uns hinterlassen, liebe CDU und CSU – herauskommen. 55 Prozent Abhängigkeit nur von Putin-Russland, das geht doch so nicht! Inzwischen haben wir eine Senkung auf 35 Prozent erreicht. So müssen wir weitermachen, und wir werden weitermachen. ({4}) Drittens: –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Katharina Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005019, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– der Ausbau der Freiheitsenergien, Bürgerenergien; hier es geht um Souveränität. Das sind die günstigsten Energieformen aller Zeiten. Ich freue mich darauf, dass wir nach 16 Jahren endlich loslegen und vorankommen. Herzlichen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort Dr. Anja Weisgerber. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen in unserem Land können nicht mehr schlafen, weil sie nicht wissen, wie es angesichts der steigenden Preise weitergeht. Der Großteil des Einkommens geht für die Miete und für die Nebenkosten drauf. Vom Rest müssen sie leben, das heißt, Lebensmittel kaufen, Versicherungen und andere Fixkosten bezahlen, die Mobilität des Alltags finanzieren. Und sie möchten auch mal mit Freunden ausgehen. Aber das ist angesichts der gestiegenen Preise schwierig. Die Lebensmittelpreise sind im Vergleich zum Vorjahr um 11 Prozent gestiegen, die Energiepreise um 40 Prozent. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil das die Ausgangslage für viele Menschen in unserem Land ist. Rentnerinnen und Rentner, Studentinnen und Studenten, Eltern in Elternzeit, sie alle profitieren nicht von der Energiepreispauschale. Ständig kündigen Sie weitere Entlastungen an. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, wann kommen die denn? Sie sind es den Menschen in unserem Land schuldig, dass die Entlastungen bald kommen. ({0}) Kündigen Sie die Entlastungen nicht nur an, sondern beschließen Sie sie in dieser und in der nächsten Sitzungswoche, meine Damen und Herren! ({1}) – Herr Schrodi, auf unsere Zwischenrufe haben Sie überhaupt nicht reagiert, weil Sie darauf keine Antworten haben. Für Rentnerinnen und Rentner, Studentinnen und Studenten haben Sie schlicht keine Antworten. ({2}) Geben Sie das doch zu! ({3}) Warum haben wir die hohen Energiepreise? Natürlich aufgrund der angespannten Lage am Energiemarkt als Folge des russischen Angriffskriegs. Es gibt aber immer noch kein stimmiges Gesamtkonzept der Bundesregierung, keinen konkreten Fahrplan zur Reduktion der Abhängigkeit von russischen Gas- und Ölimporten. Richtig ist, die Gasspeicher zu befüllen. Richtig ist auch, weiter zu diversifizieren und aus weiteren Ländern Gas zu importieren. Wir alle müssen auch den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv vorantreiben. Aber Sie springen zu kurz. Was ist mit den kleinen Wasserkraftwerken? Was ist mit der Geothermie? Was ist mit der Biomasse? Jede Kilowattstunde zählt. Und genau hier handeln Sie nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Die Entscheidungen werden politisch getroffen und nicht nach Sachargumenten. Auf der einen Seite sinniert die Regierung über einen Frosterlass, der die Menschen im Winter staatlich verordnet frieren lässt, Klimaanlagen sollen erst ab 26 Grad eingeschaltet werden – auch in den Altenheimen, auch in den Krankenhäusern –, und auf der anderen Seite weigern sich die grünen Minister vehement, die Kernkraftwerke vorübergehend weiter zu betreiben. Sie setzen stattdessen auf Kohle. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist unverantwortlich ({5}) gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern in unserem Land, und es ist klimapolitischer Unsinn. ({6}) Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das bedeutet für uns nicht, dass wir einen Ausstieg aus dem Ausstieg wollen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Liebe Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen der Grünen?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Dr. Weisgerber, Sie haben gerade von der dringenden Notwendigkeit gesprochen, die erneuerbaren Energien auszubauen, von Geothermie, Biomasse, Wasserkraft, vielem anderen mehr. Aber Sie sind ja Abgeordnete aus Bayern. ({0}) Es würde mich einmal interessieren, was Sie denn davon halten, dass in Bayern die restriktivsten Abstandsregeln für die mit Abstand günstigste erneuerbare Energie zur Stromproduktion, nämlich für die Windenergie, gelten. ({1})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum einen muss man sagen: In Bayern sind wir zum Beispiel spitze bei der Sonnenenergie. Wir sind auch spitze bei vielen anderen erneuerbaren Energien. Beim Thema Wind müssen Sie auch einmal nach Baden-Württemberg schauen. ({0}) Aber was ist denn der eigentliche Grund? Der eigentliche Grund ist, dass die Windhöffigkeit bei uns nicht so hoch ist und dass im Süden daher die Vergütung auch höher sein muss. Dafür setzen wir uns ein. Die EU muss das auch beschließen und muss diese höhere Vergütung auf den Weg bringen. ({1}) Und zum anderen muss ich sagen: Haben Sie sich eigentlich einmal mit den jüngsten Beschlüssen auseinandergesetzt, die wir in der Landtagsfraktion in Bayern diskutiert haben? ({2}) Wir haben Ausnahmen von der 10‑H-Regelung auf den Weg gebracht. ({3}) Und was ist die Reaktion von Habeck? Eigentlich ein Wortbruch. ({4}) Mit den Ausnahmen setzt man sich gar nicht auseinander. Diese Abstandsregelungen werden vom Bund pauschal infrage gestellt. ({5}) Das ist keine Energiewende mit den Menschen. Wir brauchen nämlich auch die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen auch eine höhere Vergütung, sodass auch die Kommunen von Freiflächenanlagen, von Windkraftanlagen profitieren. ({6}) Wir brauchen die Menschen; sonst kann die Energiewende nicht gelingen. Und genau so handeln Sie nicht, meine Damen und Herren. ({7}) Letztes Thema: Tankrabatt. Die Kraftstoffpreise steigen. Diesel ist jetzt teurer als vor der Steuersenkung am 1. Juni. Sie könnten für mehr Transparenz sorgen. Prüfen Sie doch einmal, ob die Mineralölunternehmen nicht dazu verpflichtet werden können, die wesentlichen Preisbestandteile an die Markttransparenzstelle zu melden. Dann wird ersichtlich, ob die Steuererleichterungen auch wirklich weitergegeben werden, meine Damen und Herren. Das hätten Sie schon vor Einführung des Tankrabatts machen müssen. Deshalb sage ich zum Schluss: Beenden Sie Ihren Dornröschenschlaf, und sorgen Sie im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher für mehr Transparenz und für wirkliche Entlastungen für alle. Das sind Sie den Menschen schuldig. Vielen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Und der letzte Redner in der Debatte ist Lennard Oehl, SPD-Fraktion. ({0})

Lennard Oehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005170, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Inflation ist ein ernsthaftes Problem. Da sind wir uns mit Sicherheit alle einig. Was den Antrag der Union betrifft, sind wir es wahrscheinlich nicht. Es beginnt schon mit der Ursachenanalyse. Wenn Friedrich Merz gestern und Herr Steiniger heute an diesem Pult behaupten, die hohen Staatsschulden seien die Ursache der aktuellen Inflation, dann muss ich ergänzen, dass zu einer Nachfragekurve auch immer eine Angebotskurve gehört und hier ganz besonders das fehlende Angebot die Preise nach oben treibt. Die Lieferkettenengpässe, der Rohstoffmangel, das Energieembargo – all das drückt die Angebotspreiskurve nach oben. Das sind die wahren Ursachen der aktuellen Inflation. ({0}) Die Bundesregierung hat bereits zwei umfassende Entlastungspakete ({1}) mit einem Volumen von insgesamt 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Das ist an Ihnen anscheinend völlig vorbeigegangen. Und bevor Sie jetzt rufen, dass die Maßnahmen nicht wirken: ({2}) Für eine ernsthafte Analyse der Maßnahmen ist es doch noch viel zu früh. Dem Kollegen Spahn, dem das alles nicht schnell genug geht, sei gesagt: Das 9‑Euro-Ticket gilt ja schon seit dem 1. Juni. Es werden bereits Pendlerinnen und Pendler entlastet, die sonst 50 Euro für eine Monatskarte zahlen. Die machen auch keine drei Monate Urlaub, wie er es behauptet hat. Das gilt zumindest außerhalb des Wolkenkuckucksheims, in dem Jens Spahn wohnt. ({3}) Sinnvoller wäre es, anstatt jetzt neue Maßnahmen zu fordern und neue Wünsche zu formulieren, doch erst einmal die konzertierte Aktion des Bundeskanzlers mit den Sozialpartnern am 4. Juli abzuwarten. Ich bin überzeugt, dass wir bis dahin ein breites Bündnis gegen die hohe Inflation mit gezielten Lösungsvorschlägen erwarten können. Was fordern Sie im Antrag konkret? Sie möchten Rentner und Studierende in die Energiepreispauschale mit einbeziehen. Das zeigt, dass Sie dieses Instrument, das diese Regierung aufgelegt hat, gar nicht so schlecht finden. Aber viele Rentner und Studierende sind noch oder schon erwerbstätig und erhalten die Energiepreispauschale sowieso. ({4}) Wir entlasten diese Personengruppen auch gezielt über andere Maßnahmen. Gleichzeitig fordern Sie eine Steuerfreiheit bei der Einkommensteuer und Umsatzsteuer für Erträge aus Photovoltaikanlagen. Welchen Entlastungseffekt das jetzt konkret haben soll, erschließt sich mir persönlich nicht. Das konnten Sie mir heute auch noch nicht erklären, außer dass die bisherigen Betreiber von Photovoltaikanlagen eine zusätzliche Steuersubvention erhalten. Im Osterpaket wurden bereits umfassende Vergütungsanreize für Photovoltaikanlagen beschlossen. Die Nachfrage ist hoch, die Auftragsbücher der Handwerker sind voll. Eine steuerliche Entlastung ist hier überhaupt nicht zielgerichtet. ({5}) Zum Tankrabatt. Der Kollegin Klöckner und der Kollegin Weisgerber sei gesagt: Das Ergebnis zeigt, dass der Rabatt nicht vollständig weitergegeben wird. Das finden auch wir schade. Dennoch sind die Preise gefallen, zwar nur leicht, aber sie sind gefallen, wie beispielsweise das ifo-Institut ermittelt hat. Die Preise wären ohne den Tankrabatt, wenn wir da nicht gehandelt hätten, deutlich höher. Erklären Sie das den Unternehmen, erklären Sie das den Haushalten! ({6}) Aber klar, Ihre Aufgabe als Opposition ist es natürlich, den Tankrabatt zu kritisieren. Umso mehr überrascht es mich, dass Sie in Ihrem Antrag mit der Senkung der Stromsteuer ein ebensolches Instrument fordern, bei dem Sie auch nicht sicherstellen können, ob die steuerliche Entlastung weitergegeben wird. ({7}) Der Antrag bleibt ein unkonkretes Maßnahmenkompott, in dem mal ein Zuschuss gefordert wird und mal eine Steuersenkung. Aber gleichzeitig wird auch der Staat zum Sparen aufgerufen. Das ist ein Widerspruch, den Sie nicht erklären können. Da wir die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen sowie die Änderung des Spar- und Konsumverhaltens der Haushalte und der Unternehmen noch gar nicht analysieren können, plädiert die SPD-Fraktion daher auf Ablehnung. Vielen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Damit schließe ich die Aussprache.

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Eine Petition ist ein Ersuchen, eine Bitte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die meisten, die ich hier sehe, wissen, von was ich spreche. In unserer Verfassung ist das Grundrecht verankert, dass sich jedermann – egal welchen Alters oder welcher Staatsangehörigkeit – damit an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretungen wenden kann. Für die Behandlung der an den Bundestag gerichteten Bitten zur Bundesgesetzgebung und zu Problemen mit Bundesbehörden ist der Petitionsausschuss zuständig. Die Bestellung dieses Ausschusses ist seit 1975 im Grundgesetz bestimmt. Der Petitionsausschuss ist verpflichtet, die Petitionen anzunehmen, sie sorgfältig zu prüfen und sie zu bescheiden. Funktionieren würde diese Arbeit allerdings nicht ohne unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, die oft als Erste den Unmut zu spüren bekommen und viel zu selten für ihren wichtigen Beitrag gewürdigt werden. ({0}) Deswegen neben dem Applaus an dieser Stelle nochmals meinen herzlichen Dank. Ohne Sie wäre unser Gemeinwesen um ein Vielfaches ärmer! Bedanken möchte ich mich am Anfang aber auch bei allen Mitgliedern des Petitionsausschusses. Die kollegiale Zusammenarbeit, die wir nach wie vor pflegen, ist nicht selbstverständlich. Im Zuge dessen auch meine besten Genesungswünsche an den Obmann der Unionsfraktion, den Kollegen Gero Storjohann. Er wird sehr vermisst. ({1}) Nun zum eigentlichen Anlass der Debatte. Jedes Jahr legt der Ausschuss dem Deutschen Bundestag seinen Tätigkeitsbericht vor. Das Jahr 2021 war neben der andauernden Coronapandemie geprägt vom Wechsel der Wahlperiode. Die letzte Sitzung des Petitionsausschusses der 19. Wahlperiode fand am 6. September 2021 statt, und bereits am 11. November 2021 erfolgte die konstituierende Sitzung des Petitionsausschusses der 20. Wahlperiode, welcher damals gemäß Einsetzungsbeschluss zunächst nur mit 19 Mitgliedern – es freut mich sehr, dass Sie, Frau Magwas, jetzt die Sitzung leiten – unter Ihrem Vorsitz, Frau Präsidentin, tagte. Seit dem 15. Dezember besteht der Ausschuss nun aus 31 ordentlichen und stellvertretenden Mitgliedern, und seitdem darf ich diesen Ausschuss leiten. Ich möchte mit ein paar Fakten aus dem Berichtsjahr beginnen: Im Jahr 2021 wurden 11 667 Petitionen beim Petitionsausschuss eingereicht; das sind ein bisschen weniger als 2020. Gerechnet auf die Werktage dieses Jahres sind das etwa 46 Petitionen pro Tag. Dabei gingen 4 860 und somit etwa 42 Prozent aller Eingaben auf elektronischem Wege über das Petitionsportal im Internet ein. Mittlerweile haben wir 4 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer. Damit ist das Petitionsportal das erfolgreichste Internetangebot des Deutschen Bundestages. ({2}) Es bietet die Möglichkeit, dem Ausschuss Petitionen auf einfachem elektronischem Weg zu übermitteln und veröffentlichte Petitionen online zu unterstützen und zu diskutieren. Viele Besucherinnen und Besucher fanden ihren Weg auf die Petitionsplattform des Ausschusses tatsächlich über den direkten Zugang, über Suchmaschinen und über Nachrichtenportale. Was zu beachten ist: Ein großer Zulauf, immerhin 26 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer, wurde wieder über soziale Netzwerke verzeichnet, die Petentinnen und Petenten immer öfter nutzen, um auf ihre Petitionen hinzuweisen. Auch eigens geschaffene Webseiten mit Informationen zu veröffentlichten Anliegen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Im Berichtszeitraum haben sich rund 330 000 Nutzerinnen und Nutzer im Portal des Petitionsausschusses neu registriert, ({3}) um eine Petition einzureichen, im Petitionsforum zu diskutieren oder Petitionen durch eine Mitzeichnung zu unterstützen. Neben den Petitionen mit Vorschlägen zur Gesetzgebung widmet sich der Petitionsausschuss ebenso den Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger, die den Ausschuss bezogen auf einen Einzelfall um Unterstützung baten. Die Bearbeitung solcher persönlicher Anliegen machte für den Ausschuss mit rund 62 Prozent auch im Jahr 2021 wieder mehr als die Hälfte seiner Arbeit aus. Viele dieser Petitionen standen – nicht unerwartet – im Zeichen der Coronapandemie und haben uns die Bandbreite der Auswirkungen dieser Pandemie auch noch einmal aufgezeigt. Dabei ging es zum Beispiel um Soforthilfen für Studierende, die oft durch den Wegfall eines Nebenjobs in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, oder um wirtschaftliche Hilfen für die Kultur- und Medienbranche, die schwer von der Pandemie getroffen wurde. Der Petitionsausschuss unterstützte nachdrücklich schnelle und unbürokratische Hilfen. Außerdem konnten oft Anfragen von Petentinnen und Petenten bereits im Vorfeld des parlamentarischen Verfahrens abgeschlossen werden. Denn häufig bewirkten Stellungnahmeersuchen des Petitionsausschusses bei den staatlichen Stellen eine gründliche Abwägung des Sachverhalts. Manchmal war das Finden von Lösungswegen aber leider auch komplizierter. Hier waren beispielsweise ausführliche Gespräche der Berichterstatterinnen und Berichterstatter unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Bundesregierung hilfreich. Im Berichtsjahr fanden elf Berichterstattergespräche zu Themen wie beispielsweise Patientenrechte, Energieversorgung, Beamtenrecht – immer wieder ein Thema, das uns beschäftigt –, Arbeitsschutz, Straßenverkehrs-Ordnung und vor allem Visaangelegenheiten statt. Auch wenn die Ortsbesichtigungen, die wir in der Regel vornehmen, wegen der Pandemie nicht stattfinden konnten, sind wir neue Wege gegangen und haben uns mit Video- und Drohnenaufnahmen einen Einblick verschafft, uns gemeinsam ein Bild von der Situation gemacht, um Lösungen herbeizuführen. Abschließend behandelt hat der Ausschuss dann tatsächlich über 12 000 Eingaben. Davon wurden 368 Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen. Etwa ein Viertel der Zuschriften betraf den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, welches letztes Jahr natürlich den ersten Platz innehatte. Dies ist, wie bereits eingangs erwähnt, insbesondere durch die zahlreichen Eingaben im Zusammenhang mit der Coronapandemie begründet. Auf dem zweiten Platz folgt, mit deutlichem Abstand, das Bundesministerium der Justiz mit etwa 13 Prozent und dann auf Platz drei das Bundesministerium des Innern und für Heimat mit knapp 12 Prozent. Der Petitionsausschuss bildet seit Gründung der Bundesrepublik die Schnittstelle zwischen dem Bundestag und seinem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern. Die Menschen sehen den Petitionsausschuss oft als letzte Möglichkeit, Hilfe und Unterstützung zu erfahren. Wenn man bedenkt, dass manche Probleme, die zunächst klein scheinen, für viele Betroffene enorme Auswirkungen auf ihre Lebensumstände haben und der Petitionsausschuss als Rettungsinstanz in der Not gesehen wird, bestätigt das einmal mehr die Notwendigkeit und die Bedeutung dieses Ausschusses. Ich darf allen danken, die hier tatkräftig mitarbeiten. ({4}) Zudem sind Petitionen ein wichtiger Gradmesser bei der Umsetzung von Gesetzen. Sie zeigen uns Parlamentariern, wo es Unstimmigkeiten gibt und wo Handlungsbedarf besteht. Die Entscheidungen des Ausschusses sind keine Gerichtsurteile. Wir können letztendlich nur Empfehlungen aussprechen. Oft führen diese aber dazu, dass Entscheidungen, Gesetze und Regeln überdacht und so für das Allgemeinwohl verträgliche Lösungen gefunden werden. Sollte dem Petenten oder der Petentin nicht zu dem gewünschten Ergebnis verholfen werden, versucht der Petitionsausschuss, zu helfen, indem er den Betroffenen die Entscheidungen der Behörden erklärt und besser verständlich macht. Gleichzeitig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir uns nicht ausruhen. Wer verharrt, erstarrt! ({5}) Auch der Petitionsausschuss muss und wird die technischen Möglichkeiten, die sich ihm heutzutage bieten, nutzen, um den Bürgerinnen und Bürgern eine niedrigschwellige und transparente Möglichkeit zu bieten, sich in politische Prozesse einzubringen und ihren Sorgen und Nöten Gehör zu verschaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich ist es eine große Ehre, für diesen wichtigen Ausschuss, das Bindeglied zwischen dem Souverän und dem Parlament als wohl bedeutendstes Instrument der direkten Demokratie, als Vorsitzende tätig zu sein. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Herzlichen Dank, liebe Frau Vorsitzende, für Ihre wichtige Arbeit im Ausschuss. – Ich erteile nun das Wort Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Martina Stamm-Fibich, hochgeschätzte Vorsitzende des Ausschusses, ({0}) ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich deinem Dank an den Ausschussdienst anschließen. Dem ist überhaupt nichts hinzuzufügen. Ohne diesen Ausschussdienst wäre der Ausschuss nichts. Das verdient einen richtigen Applaus. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, viele Menschen haben den Eindruck, dass sie die Abgeordneten des Bundestages kaum erreichen. Man fragt sich: Warum eigentlich? Wir alle bieten Sprechstunden an und bemühen uns zumeist redlich darum, die Probleme, die uns dort begegnen, auch tatsächlich zu lösen. Aber offensichtlich reicht das nicht. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes waren kluge Leute; das wird sicher niemand bestreiten. Sie haben daran gedacht, in Artikel 17 des Grundgesetzes im Prinzip den Petitionsausschuss zu verankern, und sie haben gut daran getan. ({2}) Petitionen sind wichtig, und sie wirken, egal ob es um einen falsch berechneten Rentenbescheid geht, sich jemand über mangelnde Unterstützung bei der beruflichen Rehabilitation beschwert oder das Parlament zu einer tiefgreifenden Reform aufgefordert wird, um im Angesicht einer alternden Gesellschaft auch zukünftig eine Pflege in Würde zu gewährleisten. Fast immer sind Petitionen präzise Hinweise auf bestehende Problemlagen. Oft beinhalten sie auch präzise Vorschläge, wie der Gesetzgeber, also wir, sie lösen kann. Wir sind gut beraten, ganz genau hinzuhören und unsere Petentinnen und Petenten als Partner bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen Gesellschaft wahrzunehmen. ({3}) Kommunikation auf Augenhöhe mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Petentinnen und Petenten ist wichtig, vor allem angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung. Hier hat der Petitionsausschuss sein großes politisches Potenzial in den letzten Jahren, ehrlich gesagt, leider nicht genutzt und sich auf seine aus unserer Sicht überkommenen Rolle als „Kummerkasten der Nation“ beschränkt; Bernhard Loos hat das gestern in der Bundespressekonferenz bei der Übergabe des Berichts so formuliert. Wir halten diese Perspektive tatsächlich für überkommen. Warum hat der Ausschuss sich nicht zeitgemäß weiterentwickelt? Ich meine, das hat mit der jahrelangen Unionsmehrheit zu tun, die sich geweigert hat, das Instrument tatsächlich als politisches Instrument zu nutzen und das Petitionswesen dementsprechend zu stärken. Vielleicht darf man an dieser Stelle auch einmal die kritische Frage stellen, ob die immer größer werdende Bedeutung von privaten Plattformen damit etwas zu tun haben könnte. Ich rege zur Diskussion an. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte an dieser Stelle eigentlich eine Petition näher in den Blick nehmen, die sehr viel Kraft entwickelt hat, die Petition von Frau Lechleuthner – ich will sie zumindest kurz ansprechen –: „Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerstbehinderter Kinder/Erwachsener“. Diese tolle Frau und Mutter hat unter anderem ein schwerstbehindertes, wunderbares – das will ich an dieser Stelle hinzufügen – Kind. Sie hat es satt, statt Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, Aktenordner mit der papiergewordenen Auseinandersetzung mit Krankenkassen und Medizinischem Dienst zu befüllen. Sie hat sich entschieden, den Kampf gegen diese kafkaeske Bürokratie aufzunehmen und sich damit nicht nur für ihre eigene Familie, sondern auch für ganz viele Menschen in diesem Land einzusetzen. ({4}) Sie hat es nicht nur geschafft, ein Netzwerk zu schaffen, sondern sie hat es auch in den Koalitionsvertrag geschafft. Ich bin ganz sicher, dass wir in diesem Ausschuss, aber nicht nur in diesem Ausschuss, über die Problemlage von Familien mit behinderten Kindern auch weiterhin zu reden haben werden. Ehrlich gesagt, Andreas Mattfeldt, mir pressiert es akut an einer anderen Stelle. Ich habe gestern Abend deine Pressemitteilung anlässlich der Übergabe unseres Jahresberichts an die Bundestagspräsidentin gelesen. Du schreibst darin – ich frage: allen Ernstes? –, die Ampelkoalition habe gleich nach der Bundestagswahl angefangen, parteipolitisch zu taktieren. ({5}) Mein lieber Scholli! Entweder es macht sich bei dir eine hoffentlich zeitlich begrenzte Form von Gedächtnisstörung bemerkbar, oder du machst hier bewusst den Bock zum Gärtner. Hast du wirklich nicht bemerkt, wie sich die Kultur der Arbeit in diesem Ausschuss mit dem Regierungswechsel geändert hat? ({6}) Ich sitze wöchentlich mit den Kollegen von der SPD, von der FDP, mit der Vorsitzenden zusammen, und ich weiß, was für eine Kultur wir etablieren wollen. Du weißt das, weil du jeden Mittwoch in diesem Ausschuss bist. Wir sind dabei, dieses Petitionsrecht auf neue Füße zu stellen, es transparenter zu machen, barrierefreier, zugänglicher für alle Menschen in diesem Land. ({7}) Ihr seid herzlich eingeladen, dazu beizutragen. Aber bitte hört mit dieser parteipolitischen Taktiererei auf! Das hat das Petitionswesen dieses Landes nicht verdient. Herzlichen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte: Andreas Mattfeldt, CDU/CSU. ({0})

Andreas Mattfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es gehört: Der Petitionsausschuss ist in den vergangenen Monaten in einer ganz neuen Konstellation gestartet, und – ich darf das sagen – ich freue mich besonders, dass wieder zahlreiche neue Kolleginnen und Kollegen Lust auf das so wichtige Petitionswesen, auf unseren Ausschuss bekommen haben. Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Martina Stamm-Fibich, ich darf auch Ihnen danken, dass Sie mit dem Ausschussvorsitz die Verantwortung für uns alle übernommen haben. ({0}) – Das denke ich doch, oder? Deshalb ist sie ja auch einstimmig erfolgt. ({1}) Meine Damen und Herren, die Wichtigkeit des Petitionsausschusses wird nicht nur durch seine Verankerung im Grundgesetz deutlich. Allein die Zahlen der Eingaben sprechen für sich: Im vergangenen Jahr ist mit 11 667 Petitionen zwar – Sie haben es gesagt – ein leichter Rückgang zu verzeichnen, ich möchte aber, weil ich seit 13 Jahren diesem Ausschuss angehöre, betonen, dass dies überhaupt nicht ungewöhnlich ist. Wir haben immer ein Auf und Ab. Der Petitionsausschuss ist eben immer auch ein Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung. So ein Rückgang kann auch bedeuten, dass die Menschen im Berichtszeitraum zufrieden mit ihrer Regierung waren. Und, Frau Kollegin Rüffer, der Jahresbericht betrifft ja noch die Zeit der Großen Koalition. Jetzt warten wir einfach ganz entspannt und ein bisschen ruhiger ab, wie sich die Eingaben unter der Ampel entwickeln werden. Ich muss aber auch ganz deutlich sagen, dass der Start des Ausschusses in dieser Wahlperiode irgendwie schlichtweg ein Stotterstart war. Es war schon etwas seltsam, dass die Ampel aus der Wahl von Vorsitz und Stellvertretung – das ist eigentlich ein ganz normaler, formeller Akt – sogar zwei Termine gemacht hat. In dieser Zeit hätten wir viele Petitionen abschließen können. Sie erwähnten die Parteipolitik, Frau Rüffer; da war ich irritiert. Es ist sehr seltsam gewesen, und das habe in 13 Jahren noch nicht erlebt – das zu Ihrer Kultur des Neuanfangs –: Sie haben eine Petition angehalten, die Ihnen nicht passte, weil sie ein neues Wolfsmanagement gefordert hat. ({2}) Diese Petition hat vor allem auch die Sorgen der Weidetierhalter berücksichtigt. Der Ausschuss hatte bereits das höchste Votum abgegeben, Frau Rüffer, und an die Regierung übergeben. Die Petition befand sich bereits auf dem Weg zu uns ins Plenum und wurde von Ihnen, von der Ampel, und ganz besonders von Ihnen, von den Grünen, gestoppt. Das gab es im Vorfeld noch nie. ({3}) Wie die FDP, lieber Kollege Manfred Todtenhausen, dies mit ihren ganz großen Ankündigungen im Wahlkampf zum Thema Wolf vereinbaren kann, ist mir schlichtweg schleierhaft. Ich fordere Sie wirklich auf, liebe FDP: Wenn Sie bei den Bauern Ihre Glaubwürdigkeit nicht komplett verlieren wollen, ({4}) bringen Sie diese Petition umgehend zurück ins Plenum. Behandeln Sie sie! ({5}) Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, Petitionen direkt beim Bundestag einzureichen. Viele Bürger wissen schlichtweg nicht, dass die zum Teil immer zahlreicher werdenden Internetportale – manche haben auch das englische Wort „petition“ in ihrem Titel – mit uns, mit dem Original, gar nichts zu tun haben. Leider kommen diese häufig sicherlich gutgemeinten Eingaben nicht bei uns im Bundestag an. Es handelt sich hierbei häufig um kampagnenorientierte und politisch motivierte Seiten, deren Finanzierung völlig unklar und zum Teil auch intransparent ist. Deshalb immer und immer wieder mein Rat an die Bürger: Wenn Sie wirklich etwas verändern wollen, wenn Sie gute Ideen haben, reichen Sie eine Petition beim Deutschen Bundestag ein. Dabei ist es uns im Petitionsausschuss vollkommen egal, ob Sie das als Einzelperson oder mit ganz vielen Mitzeichnenden machen. Sie können bei uns im Petitionsausschuss sicher sein, dass jede Petition sorgfältig geprüft und bearbeitet wird und die Bürgerinnen und Bürger eine qualifizierte Antwort erhalten. Das bekommen Sie bei den privaten Portalen eben nicht. ({6}) Meine Damen und Herren, immer wieder diskutieren wir über Änderungen im Petitionswesen; das ist auch richtig. Viel wichtiger ist aber, dass wir die Dauer der Petitionsverfahren verkürzen. Ich bin überzeugt, dass die lang geforderte Einführung der digitalen Petitionsakte uns noch schneller und noch effektiver werden lässt, damit die Petenten noch fixer eine Antwort bekommen. Toll wäre es auch, wenn der Petitionsausschuss noch einfacher für die Menschen erreichbar ist. Hierfür muss ganz dringend das E-Petitionsportal erneuert werden; darin sind wir uns fraktionsübergreifend alle einig. In der heutigen Zeit muss es selbstverständlich sein, dass die Petitionen auch über unsere Bundestags-App eingereicht werden können. Wir arbeiten daran. Ich hoffe, es geht schneller, als es uns zuvor angekündigt wurde. ({7}) Im Übrigen darf ich an dieser Stelle, Frau Präsidentin, ausdrücklich dafür werben, dass unser Petitionsausschuss endlich einen eigenen Sitzungssaal im Hause bekommt, um die Anerkennung unserer Arbeit und die Ideen der Bürgerinnen und Bürger angemessen zu würdigen. Seit Jahren warten wir schon darauf. Alle Fraktionen in diesem Haus dokumentieren die Wichtigkeit des Petitionsausschusses. Aber wenn es um Taten geht, sehen wir leider sehr wenig, übrigens auch unter anderen Konstellationen in diesem Hause. Ich würde mir wünschen, dass wir das in dieser Legislaturperiode hinbekommen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch Danke sagen bei unserem Ausschussdienst, vor allen Dingen auch bei unseren Mitarbeitern in den Abgeordneten- und Fraktionsbüros. Ohne Sie im Ausschussdienst, Herr Dr. Paschmanns, und die vielen Mitarbeiter, die uns zuarbeiten, wäre die Arbeit definitiv nicht zu bewerkstelligen. Gut, dass wir euch haben! Herzlichen Dank. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freut mich wirklich sehr, dass ich auch dieses Jahr wieder für die FDP einige Worte zum Jahresbericht des Petitionsausschusses hier sagen darf. Allein die Tatsache, dass es einen solchen Bericht gibt, unterscheidet uns von anderen Ausschüssen; denn nur dieser trägt hier einen Jahresbericht vor. Das zwingt natürlich eine Koalition zu Kompromissen bei Themen, die wir im Koalitionsvertrag gar nicht ausgehandelt haben. Ob wir als Ampel das in Zukunft so gut machen, wie wir uns das vorgenommen haben – das haben wir uns –, werden wir dann bei der nächsten Vorstellung des Jahresberichtes sehen. Im übernächsten Jahr werden wir wahrscheinlich hervorragende Ergebnisse bekommen. Bisher funktioniert es jedenfalls sehr gut. ({0}) Aber es ist eine der Lehren aus den letzten Jahren, dass die Kompromissfindung und die Entscheidungsdauer beschleunigt werden können und müssen. Lieber Andreas Mattfeldt – ich hätte es nicht gesagt, aber jetzt muss ich es sagen –, die letzte Regierung hat Petitionen über Jahre liegen lassen, weil man sich nicht einigen konnte. ({1}) Auch die werden wir jetzt behandeln und bearbeiten. Das wird jetzt zügig abgearbeitet. In den vergangenen Jahren wurden 11 667 Petitionen eingereicht. Von denen haben wir im Ausschuss 368 diskutiert und über diese abgestimmt. Die übrigen konnten – das weiß man eigentlich nicht, weil es nicht nach außen getragen wird – durch die Arbeit der Berichterstatter und Berichterstatterinnen bearbeitet und entschieden werden. Auch das ist eine Besonderheit des Petitionsausschusses: Nicht nur die ordentlichen Mitglieder, sondern auch die stellvertretenden Mitglieder können und müssen Themen bearbeiten und entscheiden – immer gut vorbereitet durch die Bundestagsverwaltung. Daher möchte ich an dieser Stelle auch einmal um einen Applaus für die fleißigen Mitarbeiter des Ausschussdienstes, aber auch für unsere Mitarbeiter in den Teams werben. Die haben das wirklich verdient! ({2}) Die Zahl der im letzten Jahr in den Ausschusssitzungen behandelten Petitionen ist leider zurückgegangen. Das ist durchaus ein Problem; denn in Wahljahren fehlen uns fast fünf Monate mit Sitzungswochen, die wir jetzt aufholen müssen. Ich hoffe, das bekommen wir hin. Der Petitionsausschuss soll und will ein besonders bürgernaher Ausschuss sein. Daher war es sehr bedauerlich, dass wir coronabedingt unsere verschiedenen Messeauftritte und Bürgersprechstunden absagen mussten. Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass diese direkte Art der Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments jetzt wieder möglich ist und auch genutzt wird. Eine besondere Art der Kontaktaufnahme – wir haben es gehört – ist das Internetportal des Petitionsausschusses, auf dem Petitionen eingereicht, diskutiert und mitgezeichnet werden können. Es ist – auch das haben wir schon gehört – das meistgenutzte Internetangebot des Deutschen Bundestages und damit ein besonderes Aushängeschild unseres Parlaments. Meine Damen und Herren, ich möchte gerne noch auf unsere Plattform hinweisen; ich mache einfach einmal Werbung dafür: epetitionen.bundestag.de. Dort finden Sie alle Hinweise. Gehen Sie einfach einmal auf die Seite. Es ist wichtig, dass wir in dieser Legislatur die Erneuerung unserer Petitionsplattform angegangen sind und hoffentlich auch erfolgreich abschließen werden. Denn sie muss den schweren Spagat zwischen einfacher und niedrigschwelliger Bedienung einerseits und einer sehr hohen Sicherheit andererseits schaffen. Mangelnde Sicherheit würde die Petitionsplattform zum Einfallstor für Demokratiefeinde machen. Die ersten Versuche haben wir in den letzten Jahren beobachten können. Ich könnte jetzt eine ganze Reihe von Petitionen nennen, die ich inhaltlich spannend gefunden habe: Verbesserung der Coronahilfen, zum Beispiel für die Kultur- und Medienbranche, aber auch in anderen Wirtschaftszweigen, Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Taiwan, Zwangsadoption in der DDR, Anerkennung der Völkermorde an den Jesiden oder beim Holodomor, Kennzeichnung von Arzneimitteln und viele mehr. – Aber lesen Sie doch einfach einmal unseren Jahresbericht. Er ist auf der Seite des Bundestags zu finden. Da wir hier über die Arbeit des vergangenen Jahres reden, möchte ich zum Abschluss die Gelegenheit nutzen, mich auch einmal bei Marian Wendt, dem Ausschussvorsitzenden der letzten Wahlperiode, für die sehr gute und kollegiale Zusammenarbeit zu bedanken. Ich hoffe, Marian, du verfolgst diese Rede. Auch die besten Grüße an Gero Storjohann, der uns sehr fehlt. ({3}) Ganz zum Schluss möchte ich mich noch ganz herzlich bei der neuen Vorsitzenden Martina Stamm-Fibich für ihre wirklich hervorragende Arbeit bedanken und ihr alles Gute für diese Wahlperiode wünschen. ({4}) Der Einstieg ist wahnsinnig gut gelungen. Ich hoffe, es geht weiter so. Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit im Sinne der Petentinnen und der Petenten! Vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Dirk Brandes, AfD-Fraktion, ist der nächste Redner. ({0})

Dirk Brandes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005031, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Gestatten auch Sie mir, mich zu Beginn ganz herzlich bei den Mitarbeitern des Ausschussdienstes zu bedanken. Ohne Sie, liebe Mitarbeiter, wäre – wie meine Vorredner schon gesagt haben – die ganze Arbeit definitiv nicht zu bewältigen. Nun zu Ihnen, meine lieben Kollegen. Unsere Demokratie funktioniert nicht ohne die Menschen da draußen. Frau Stamm-Fibich, Sie haben es eben gesagt: Der Petitionsausschuss ist ein Bindeglied zwischen den Bürgern dieses Landes und dem Parlament. – Wenn es nach mir geht, sollte das noch viel mehr werden. Das möchte ich kurz ausführen. Schade ist nämlich, dass die Altfraktionen in einer Art demokratischen Traumtänzerballetts die Bedürfnisse der Menschen oft ignorieren. Als AfD setzen wir das auf die Tagesordnung, was Sie in den letzten Jahren hier versäumt haben. Wir möchten mehr direkte Demokratie wagen. Deswegen lautet unsere zentrale Forderung: Zu den wichtigen Fragen in Deutschland und in Europa muss es endlich Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild geben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Dass das außer mit meiner eigenen Fraktion nicht zu machen ist, zeigen Sie stets eindrucksvoll und zur vollsten Zufriedenheit Ihrer Lobbyisten unter anderem aus den Bereichen Pharma, Nahrung und, neuerdings auch mit grüner Zustimmung, aus der Rüstungsindustrie. Wir hingegen wollen die Instrumente stärken, die es ermöglichen, dem Bürger mehr Einflussnahme auf die politische Willensbildung zu geben. Dazu wollen wir den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu einem Werkzeug direkter Demokratie machen. Dafür müssen wir aber endlich anfangen, die bestehenden Grundsätze zu überarbeiten. Seien wir doch ehrlich: Wie sieht die Realität denn aktuell aus? Politische Petitionen landen nach den Stellungnahmen des zuständigen Ministeriums bei den Abgeordneten zur Berichterstattung. Im Petitionsausschuss wird dann entschieden, ob Sie diese Anliegen für unterstützenswert halten. Das ist aber immer nur dann der Fall, wenn das Ziel der Petition ohnehin schon in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart wurde. So hatte unterm Strich keine der 6 326 parlamentarisch beratenen Petitionen im Ausschuss je eine Chance, zu bestehen, wenn sie regierungskritische Positionen zum Inhalt hatten. Der Rückgang an Petitionen betrifft im Übrigen jedes einzelne Ressort, bis auf eine sehr prägnante Ausnahme: Die Zahl der Petitionen an das Bundesministerium für Gesundheit stieg um 14,4 Prozent. ({1}) – Ja, na klar ist das logisch, und ich sage Ihnen auch, warum das so ist. – Das sind mittlerweile ein Viertel aller Eingaben, und das ist genau der Bereich, in dem die individuellen Freiheitsrechte der Bürger von Ihnen im letzten Jahr oder in den letzten beiden Jahren mit Füßen getreten worden sind. ({2}) Gegen diesen Verlust an Freiheit wendeten sich nicht nur die vielen Millionen an Demonstranten auf der Straße, sondern auch viele Petenten. Berücksichtigung fanden ihre Interessen leider nicht oder wenig. Anderes Beispiel aus dem Pflegewesen: Im Februar 2021 gab es für eine Petition immerhin 355 000 Unterzeichner. In dieser wurde die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte gefordert. Und was machen Sie vom politisch gleichgeschalteten Block der schon länger hier Sitzenden? Ich sage es Ihnen: Sie führten die Impfpflicht für das Pflegepersonal ein. Pflichtimpfungen sind für mich persönlich eine ganz merkwürdige Form von Dank für die Menschen, die Sie Monate zuvor als Helden der Coronakrise bezeichnet haben, meine Damen und Herren. ({3}) Ein Drittel aller Deutschen haben inzwischen das Gefühl, sie leben in einer Scheindemokratie. Das ist nicht nur die Meinung der AfD-Fraktion; das ist aus einer veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts, und das halte ich persönlich für alarmierend. Wie möchte die Ampel jetzt darauf reagieren? Wird unsere Innenministerin jetzt die Haldenwang-Truppe ermutigen, 30 Prozent der Bevölkerung wegen Delegitimierung des Staates zu rechtsextremen Verdachtsfällen zu erklären? Oder machen wir lieber Folgendes und ermöglichen den Menschen endlich mehr Mitspracherechte? Das Petitionsrecht muss dahin gehend reformiert werden, dass wir es den Petenten ermöglichen, dass ab einem bestimmen Quorum das Anliegen als Tagesordnungspunkt hier unser Plenum erreicht. Was würde das für die Bürger bedeuten, und was würde das für Sie bedeuten? Schauen Sie mal, wir führen hier regelmäßig Debatten über die Menschenrechtslage in 194 Ländern der Welt durch, und kürzlich diskutierten wir zwei Stunden über die Sitzordnung dieses Hauses, meine Damen und Herren. Warum debattieren wir dann nicht mal über Bürgeranliegen, die in Massenpetitionen geäußert werden? Das wäre doch mal eine Maßnahme. Das wäre schon ein kleines erstes Mittel gegen die grassierende Politikverdrossenheit in diesem Land. ({4}) Meine Damen und Herren, unser Volk ist mündig. Wagen wir endlich mehr direkte Demokratie! Ich danke Ihnen. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Echeverria. ({0})

Axel Echeverria (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005046, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Sehr geehrte Petentinnen und Petenten! Liebe Zuschauende! Herr Brandes, Menschen, die hier Vokabeln wie „Gleichschaltung“ benutzen, zeigen doch, wes Geistes Kind sie sind. ({0}) Zum Thema Impfpflicht-Petitionen: Wir haben absichtlich diese Petition öffentlich beraten, und zwar vor der Entscheidung über eine Impfpflicht. Das haben wir absichtlich gemacht, weil es uns genau darum ging, diese Argumente noch zu hören. Also dann bitte bei der Wahrheit bleiben! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stehe heute hier vor einer Herausforderung, als Obmann über den Jahresbericht Petitionen zu sprechen, der eine Zeit behandelt, in der ich noch gar kein Abgeordneter war. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, aus dem vorliegenden Bericht Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. 2020 behandelte der Ausschuss 14 134 Petitionen; 2021 waren es noch 11 667 und damit deutlich weniger. Trotzdem sprechen wir von immerhin 46 Petitionen pro Werktag im Jahre 2021. An dieser Stelle möchte ich mich dem Dank an den Ausschussdienst im Namen der SPD-Fraktion natürlich anschließen. Ohne Sie, die uns immer zur Seite stehen, wären wir, glaube ich, nicht so handlungsfähig, wie wir es im Ausschuss sind. Deshalb herzlichen Dank noch einmal von meiner Seite! ({2}) Natürlich gilt unser Dank auch unserer Ausschussvorsitzenden Martina Stamm-Fibich: Liebe Martina, du leitest diesen Ausschuss mit Ruhe, Sachlichkeit und großer Kompetenz, und ich kann dir versichern, dass es sehr auffällt, wenn du nicht da bist. ({3}) Der angesprochene Rückgang der eingegangenen Petitionen zwischen den Jahren 2020 und 2021 fällt deutlich auf. Aber wer sich die Zahlen der vorangegangenen Jahre einmal ansieht, bemerkt schnell, dass Schwankungen nichts Ungewöhnliches sind und die Zahlen auf das Niveau von 2017 zurückgegangen sind. Diese Entwicklung müssen wir trotzdem genau im Auge behalten und uns fragen, was die Gründe dafür sind. Erfreulich ist die Anzahl der Onlineeinreichungen, die 2021 42 Prozent aller Petitionen ausmachten. Allein die 330 000 Neuanmeldungen auf unserer Plattform sprechen Bände, obwohl sich diese Zahl auch im Vergleich zu 2020 fast halbiert hat. Wichtig ist, dass 26 Prozent aller Nutzer/-innen ihren Weg auf die Seite des Petitionsausschusses über Social-Media-Kanäle gefunden haben, und hierauf sollten wir einen Fokus legen, um mehr Öffentlichkeit für Petitionen zu erreichen. Daher ist es gut und richtig, dass wir im Ausschuss einstimmig dem Umbau und der Modernisierung unserer eigenen Onlineplattform zugestimmt haben. Wir haben einen großen Instrumentenkasten, um auf die Anliegen der Petentinnen und Petenten eingehen zu können, von Terminen vor Ort über Berichterstattergespräche mit der Bundesregierung bis hin zu verschiedenen Überweisungsalternativen. Der Petitionsausschuss hat viele Möglichkeiten, und wir sollten sie in Zukunft stärker nutzen. ({4}) Aber das kann nur der Anfang von einer Reform des Petitionsrechtes hin zu einem stärkeren Instrument der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sein. Das haben wir uns als Ampel vorgenommen, und das werden wir als Ampel auch umsetzen. Ich lade explizit die Opposition dazu ein, sich daran zu beteiligen. ({5}) Petitionen liegen absolut im Trend; das kann jeder erfahren, der sich die Klickzahlen auf den privaten Plattformen einmal genauer ansieht: 50 000 Mitzeichnungen und mehr sind dort keine Seltenheit. Bei uns waren es im Jahr 2021 ganze 5 – 5 von mehr als 11 000 Petitionen, die dieses Quorum erreicht haben! Das sind rund 0,05 Prozent aller Petitionen. Der Fairness halber muss man anmerken, dass nur 636 Petitionen veröffentlicht wurden und somit überhaupt mitgezeichnet werden konnten. Trotzdem sprechen wir hier nur von 0,8 Prozent aller möglichen Petitionen, die öffentlich behandelt wurden. Das ist aus meiner Sicht zu wenig: Es sind zu wenige Petitionen, die veröffentlicht wurden, zu wenige Petitionen, die das Quorum erreicht haben, und zu wenige Petitionen, die ohne das Erreichen des Quorums öffentlich behandelt wurden; denn das Erreichen des Quorums ist bekanntlich keine Pflicht für eine öffentliche Behandlung, liebe Kolleginnen und Kollegen. In der Pandemiezeit – das wurde angesprochen – waren 25 Prozent der Petitionen an das Gesundheitsministerium gerichtet oder fielen zumindest in den Zuständigkeitsbereich dieses Hauses. Wir sehen also, dass der Petitionsausschuss ein Seismograf für die gesellschaftliche Realität dieses Landes ist. Aus den vorgelegten Zahlen ergibt sich ein Reformbedarf des Petitionswesens. Wenn Petitionen als Instrument der Bürger/-innenbeteiligung gewünscht sind, dann muss es leichter werden, sie einzureichen, sie zu veröffentlichen und auch mitzuzeichnen. Ansonsten bleibt der Petitionsausschuss eine Art nationaler Kummerkasten, und das ist mir persönlich zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Machen wir uns nichts vor: Wir stehen in einer Konkurrenz um Aufmerksamkeit zu den großen Kampagnenplattformen, obwohl unser Ausschuss die einzige Plattform für Bürger/-innen ist, die eine Veränderung im Sinne einer Petition herbeiführen kann. Wir wollen, dass der Petitionsausschuss nicht nur in politischen Sonntagsreden aufgrund seines Verfassungsranges gelobt wird. Als Ampel wollen wir, dass der Ausschuss endlich die Stellung und den Einfluss erhält, die ihm aufgrund seines Ranges auch zustehen. ({7}) Darüber hinaus schlagen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten schon seit Langem vor, dem Petitionswesen durch eine beauftragte Person auch in der Regierung ein Gesicht zu geben. Einzelne Bundesländer haben vergleichbare Ombudsstellen schon geschaffen und damit gute Erfahrungen gemacht. Dies lässt sich auf Bundesebene gut auf das Petitionswesen übersetzen. So schaffen wir Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern, so unterstreichen wir auch die Bedeutung, die Petitionen im politischen Betrieb haben. Abschließend müssen wir uns eingestehen, dass wir in der Bearbeitungszeit schneller werden müssen. Aber nach kurzer Zeit als Sprecher der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Petitionsausschuss weiß ich, dass Petitionen oft viele Jahre liegen, meistens weil es keine politische Einigung gibt. Gerade in Zeiten der Großen Koalition war das leider viel zu oft der Fall. ({8}) – Die einen sagen so, die anderen so. – Das darf nicht so sein; denn so schaffen wir nicht mehr Partizipation, sondern fördern Politikverdrossenheit. ({9}) Zusammenfassend zeigt der Bericht deutlich: Es gibt viel zu tun, es gibt viel Potenzial. Also packen wir es gemeinsam an. Herzlichen Dank. ({10})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Sie haben doch noch drei Sekunden vor Redezeitende aufgehört. – Die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Ina Latendorf, Fraktion Die Linke. ({0})

Ina Latendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005123, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Petitionsausschusses ist legislaturübergreifend. Er umfasst also auch nur zu einem kleinen Teil meine eigene Tätigkeit im Petitionsausschuss. Dieser Ausschuss ist besonders, zum einen durch seinen Verfassungsrang, zum anderen, weil er der Ausschuss ist, der im parlamentarischen Geschäft die größte Nähe zu den Bürgern zulässt. Wir erfahren durch die Petitionen ungefiltert und direkt die Auswirkungen unseres gesetzgeberischen Handelns. Dies gelingt nur gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes. ({0}) Bis zum Oktober letzten Jahres war ich selbst Referentin beim Bürgerbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Ich weiß, dass die Bearbeitung von Bürgeranliegen kein Dienst nach Vorschrift ist. Es muss viel nachgehakt und erklärt werden. Die Arbeit erfordert viel Hingabe, Geduld und Ausdauer. Auch dafür im Namen meiner Fraktion vielen Dank an den Ausschussdienst! ({1}) Nun zum Bericht für das Jahr 2021: Die Zahl der Petitionen ist um circa 3 000 auf nunmehr 11 600 deutlich zurückgegangen. Es gibt also weniger Menschen, die sich mit einer Petition an den Bundestag wenden. Wenn sich Bürger von der Politik abwenden, ist das ein Alarmsignal. Denn ich glaube nicht, dass alle zufrieden sind und es keine Probleme in Deutschland gibt. Liegt der Rückgang an der rückläufigen Erwartungshaltung an die Politik oder an der Hürde des Zugangs? Oder haben die Bürger im Wahljahr vielleicht auch andere Möglichkeiten genutzt, um ihre Abgeordneten zu erreichen? Im Gegensatz zu dieser Entwicklung gibt es ein ungebrochenes Interesse an privaten Plattformen; wir haben es gehört. Und wir müssen uns fragen: Hat eine Petition an den Deutschen Bundestag für Bürger einen Mehrwert gegenüber privaten Plattformen? Im vergangenen Jahr hat der Ausschuss inklusive der Überhänge aus dem Vorjahr 12 600 Petitionen beraten und in diesen Verfahren Entscheidungen getroffen. In jedem dritten Fall wurde das Anliegen zurückgewiesen. Die Hälfte der Anliegen wurde nicht parlamentarisch beraten, und nur in circa 4 Prozent der Verfahren gab es dann ein wirklich unterstützendes Votum vom Ausschuss. Aber selbst das heißt nicht, dass diese 4 Prozent der unterstützten Anliegen tatsächlich umgesetzt werden. Die Voten des Ausschusses lösten dann eine Rückantwort des zuständigen Ministeriums aus, und oft hieß es dann: Wir sehen keinen Handlungsbedarf. Das bedeutet, wenn sich jemand mit einer Petition an den Bundestag wendet, bekommt er Post aus Berlin; immerhin, das ist sicher. Nutzt man eine private Plattform, erhält man vielleicht etwa 200 000 Mitzeichner, dann hat man mediale Wirkung. Und spätestens dann, wenn die Unterschriften öffentlich übergeben werden und der jeweilige Minister zum Gespräch vorbeikommt, erreicht man etwas. Das sollte uns nachdenklich machen für unsere Arbeit. In vielen Fällen ist es in unserem Ausschuss tatsächlich schwer bis unmöglich, Petenten zu helfen, weil alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten – Verwaltungs- und Gerichtsverfahren – ausgeschöpft wurden. Auch 2021 gab es viele solcher Petitionen. Betroffene wenden sich an uns Abgeordnete oft verzweifelt mit letzter Hoffnung, und wir haben faktisch oder praktisch keine Möglichkeit, zu helfen. Für solche Fälle hat meine Fraktion schon mehrfach, auch in den jüngsten Haushaltsberatungen, die Einrichtung eines Härtefallfonds gefordert, den der Petitionsausschuss nutzen kann, wenn wir unbillige Härten feststellen. Das wurde hier abgelehnt. Denken Sie bitte noch einmal darüber nach! Wir werden in dieser Forderung nicht nachlassen. ({2}) Reformbedarf besteht aus meiner Sicht auch darüber hinaus. Unsere wichtigsten Forderungen sind – um nur einiges zu nennen –: Erstens. Die Dauer der Verfahren sind zu verkürzen. Zweitens. Der Onlinezugang muss verbessert werden. Daran wird gearbeitet, aber es muss schneller gehen. Drittens. Die Sitzungen des Petitionsausschusses sollten grundsätzlich öffentlich sein. Viertens. Die Petitionen mit besonders hoher Mitzeichnerzahl sollten im Plenum angemessen beraten werden. Im Koalitionsvertrag findet sich das Bekenntnis zur Reform der Petitionsarbeit. Meine Fraktion Die Linke wird Ihre Einladung gerne annehmen und Sie daran erinnern. Vielen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit der Ampel ist auch ein frischer Wind in den Petitionsausschuss eingezogen. Wir arbeiten sehr kooperativ, sehr lösungsorientiert. Wir gehen trotz politischer Unterschiede Schritte aufeinander zu. Uns geht es nicht darum, ob eine Petition zufällig dem Koalitionsvertrag entspricht, um sie nur dann an ein Ministerium zu überweisen. Deshalb gibt es bei uns auch nicht mehr das Votum: „soweit es dem Koalitionsvertrag entspricht“. Ich bin mir sicher, dass wir mit dieser Haltung den Anliegen der Menschen wirklich gerecht werden. ({0}) Kollegin Latendorf, Sie haben gerade gesagt, wir hätten die Einrichtung eines Fonds abgelehnt. Wir haben gerade erst vor Kurzem eine Petition, die wir lange beraten haben, nämlich von Herrn Nowak, an die Bundestagspräsidentin weitergeleitet, um genau dazu Regelungen zu finden. ({1}) Wir schauen im Petitionsausschuss: Was steht hinter der Petition? Warum gibt es den Änderungswunsch? Weshalb funktioniert ein Gesetz in der Praxis nicht gut? Wo gibt es Handlungsbedarf? Die Forderung der Petition muss nicht eins zu eins umgesetzt werden. Es geht darum, die Kritik und den Denkanstoß anzunehmen, mit Leben zu füllen, ernst zu nehmen und dem zuständigen Ministerium mit auf den Weg zu geben. Das funktioniert in der Ampel erstaunlich gut. Deshalb möchte ich mich bei den vielen neuen Kolleginnen und Kollegen und natürlich auch bei den alten Kolleginnen und Kollegen und bei unserer tollen Ausschussvorsitzenden, Martina Stamm-Fibich, ganz herzlich bedanken. ({2}) Der Jahresbericht zeigt auch noch einmal, dass die Menschen vor allem soziale Themen umtreiben. Die Themen sind breit gestreut. Es geht um die Rechte von Beschäftigten, um das Rentensystem, um Unterstützung für Menschen mit Behinderung; es geht um Armut und soziale Sicherheit. Und wenn es im Bereich „Arbeit und Soziales“ so viele Petitionen gibt, dann müssen wir das auch sehr ernst nehmen; denn hier geht es nicht zuletzt um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. ({3}) Die Menschen, die sich an den Petitionsausschuss wenden, sind entweder selbst betroffen und brauchen konkrete Hilfe für ihren Einzelfall, oder sie machen ganz konkrete Vorschläge, wie das System insgesamt und für alle verbessert und weiterentwickelt werden kann. Dabei geht es häufig um Hartz IV, um bekannte Themen wie Sanktionen, aber auch um sehr spezielle Regelungen, beispielsweise um das sogenannte Zuflussprinzip. Auf den ersten Blick ist das ein Randthema, eine juristische Spielerei. Die Betroffenen fühlen sich aber ungerecht behandelt und können Entscheidungen einfach nicht nachvollziehen – und da ist auch nicht alles logisch. Wir nehmen so was selbstverständlich mit, und mit dem geplanten Bürgergeld gibt es da bald tatsächlich eine parlamentarische Chance. Petitionen können also wichtige Impulse sein. Das ist gelebte Demokratie, und genau so muss es sein. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat Simone Borchardt das Wort. ({0})

Simone Borchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005030, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Trotz meiner relativ kurzen Mitgliedschaft im Petitionsausschuss habe ich wirklich schon einiges erleben dürfen. Es waren sehr bewegende Momente dabei, aber so manche Petition hat mich auch wirklich zum Kopfschütteln animiert. Insgesamt ist es eine sehr bereichernde und eine sehr bürgernahe, praxisnahe Tätigkeit, die wir alle in diesem Ausschuss leisten. Sehr geehrte Damen und Herren, die Bedeutung des Petitionsrechtes in unserem Rechtsstaat ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Das kann ich jetzt schon, nach wenigen Monaten der Ausschusszugehörigkeit, sagen. Ich sehe, wie ernsthaft sich alle Kolleginnen und Kollegen mit den einzelnen Anliegen befassen und über Parteigrenzen hinweg konstruktiv in den Austausch treten – ohne diese billige Haudraufmentalität, möchte ich sagen, liebe Frau Rüffer. ({0}) Wir diskutieren sachlich, hart in der Sache und hitzig, und, liebe Frau Stamm-Fibich, es gelingt Ihnen immer wieder, uns einzufangen. Dafür herzlichen Dank! ({1}) Die Zahlen sprechen für sich – sie wurden schon oft genannt –: Im Berichtszeitraum wurden ganze 11 667 Petitionen beim Deutschen Bundestag eingereicht. Und es überrascht auch nicht, dass davon während der Pandemie 2 876 Petitionen aus dem Bereich Gesundheit waren; das entspricht einem Anteil von 25 Prozent. Ich möchte jetzt und hier die Gelegenheit nutzen und an alle Bürgerinnen und Bürger appellieren: Sie können und sollten bei Bedarf von Ihrem Grundrecht nach Artikel 17 des Grundgesetzes Gebrauch machen. Dort heißt es nämlich – mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich –: Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Bei der Bearbeitung jeder Einzelpetition können wir erkennen, welches Engagement hier von den zuständigen Stellen geleistet wird, vor allem in der Verwaltung. Auch das wird anhand der Zahlen im Bericht deutlich. Deshalb möchte ich auch von meiner Fraktion noch mal den Dank aussprechen an das Ausschusssekretariat, an den Ausschussdienst, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Fraktionen und an alle zuständigen Stellen in den Ministerien. Herzlichen Dank dafür! ({2}) Ein ordentliches und zuverlässiges Petitionsverfahren ist auch Ausdruck einer gelebten Demokratie. Als Berichterstatterin lernt man viel Neues. Man erfährt viel über rechtliche Regelungen, Hintergründe, Sachzusammenhänge, mit denen man sonst weniger zu tun hat. Und über die eigene Berichterstattung hinaus bekommt man ein Gefühl dafür, was die Menschen im Land bewegt und welche Problemkonstellationen es hier gibt. Das ist für mich und für meine politische Arbeit wirklich wertvoll und eine echte Bereicherung. ({3}) In digitalen Zeiten schafft das Internet mehr Öffentlichkeit und Möglichkeiten der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern, und das hat auch für das Petitionsverfahren eine riesengroße Bedeutung. Heute ist es durch die digitalen Prozesse viel einfacher, den Fokus auf ein Anliegen zu richten und natürlich auch online dafür Unterstützer zu gewinnen. Über die digitalen Möglichkeiten der Petentinnen und Petenten haben wir heute schon viel gehört. Es gibt Reformbedarf, und dieser wurde erkannt. Der erste Vorgeschmack auf die neue Internetplattform ist wirklich sehr vielversprechend. Dadurch werden die Petitionsverfahren effektiver, schneller und einfacher. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kann nicht für jede Sonderkonstellation und für jeden Einzelfall, den wir im Petitionsausschuss erleben, eine individuelle rechtliche Regelung geben. Es gibt ja auch keine Vollkaskoversicherung vonseiten des Staates; das würde ich entschieden ablehnen. Wenn eine Petition aber begründet ist, dann ist es mir auch ein persönliches Anliegen, die nötige Unterstützung mit all den mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu leisten. ({4}) Damit möchte ich nun zu meiner ersten öffentlichen Petition kommen. Es war eine Petition zur Erkrankung ME/CFS. Diese Petition wurde am 14. Februar öffentlich verhandelt. Der Petent war nach der öffentlichen Anhörung enttäuscht über das Ergebnis und über den Austausch. Für mich wie auch für die über 50 000 Unterstützer der Petition sind nach der Anhörung noch viele Fragen offen. Auch die erneute Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums zu dieser Sache und zu dieser Petition ist völlig unzureichend. Und weil es mir gerade bei diesem Sachverhalt ein persönliches Anliegen ist, werde ich dieses Thema intensiv weiter begleiten. ({5}) Der Petent, selbst ein Betroffener, leidet an dieser Krankheit und bringt immer wieder viel Kraft auf, sich für die Betroffenen starkzumachen. Ich drücke ihm hiermit meinen allerherzlichsten Dank dafür aus und mache ihm und allen anderen Betroffenen Mut. Wir werden an diesem Thema dranbleiben – im Petitionsausschuss und im Gesundheitsausschuss. ({6}) Sehr geehrte Frau Ausschussvorsitzende, am 1. Juni habe ich den bestehenden Beratungsbedarf zu diesem Thema schriftlich vorgetragen und ein Berichterstattergespräch dazu beantragt. Gestern wurde das Gespräch auf nach der Sommerpause terminiert. Herzlichen Dank dafür, dass das so schnell geklappt hat! Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit im Ausschuss. Mögen wir uns in der Sache bitte immer lebhaft und hitzig streiten! Ich denke, das zeichnet uns wirklich aus. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich Reginald Hanke, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Reginald Hanke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Corona prägte alle Ausschüsse sowohl inhaltlich als auch organisatorisch. Inzwischen haben wir uns alle daran gewöhnt, damit zu arbeiten. Am Anfang war es dennoch ein ungewohntes Gefühl, vom heimischen Schreibtisch aus über Petitionen zu entscheiden. Aber Corona ließ uns keine Wahl; wir mussten digital tagen. Wenn es überhaupt etwas Positives gab, dann dass die Coronamaßnahmen der Digitalisierung einen ordentlichen Schub gegeben haben, so auch im Petitionsausschuss. ({0}) Es gab viele Petitionen zu Problemen, die im Zusammenhang mit der Coronapolitik standen. Gerade hier war der Petitionsausschuss eine Echokammer für die Stimmung in der Bevölkerung. Er zeigt auf, welche Gruppen zu wenig bei den Hilfsprogrammen der Bundesregierung berücksichtigt wurden. Hier möchte ich zum Beispiel die Freiberufler, Soloselbstständigen sowie Kultur- und Medienschaffenden nennen, deren Tätigkeiten oft mit Reisen verbunden sind. Die Reisebeschränkungen haben aber auch zu vielen familiären Schicksalen geführt, die durch die eingereichten Petitionen sichtbar sind. Corona war auch eine große Herausforderung für den Tourismus. Das sieht man im Tourismusausschuss, dem ich ebenfalls angehöre. Vom Petitionsausschuss profitieren alle in ihrer gesamten politischen Arbeit. Die Stellungnahmen aus den Ministerien zu den verschiedenen Petitionen sind sehr qualifiziert. An dieser Stelle möchte ich mich nicht nur bei den Mitarbeitern des Ausschussdienstes bedanken – das wurde hier schon häufig getan, und das mit vollem Recht –, sondern ich möchte weiterhin auch den Beamten und Angestellten in den Ministerien danken. In Einzelfällen wäre manchmal eine schnellere Beantwortung wünschenswert, aber der Arbeitsaufwand für die Ministerien ist nicht zu unterschätzen. Sehr häufig geben sich die Petenten mit den qualifizierten Antworten aus den verschiedenen Häusern schon zufrieden. Das entlastet uns Abgeordnete, und wir können uns um die Petitionen kümmern, deren Anliegen eine gewisse Berechtigung haben. Vielen Dank dafür. ({1}) Bürger, die wie ich die DDR noch erlebt haben, haben ein besonderes Verhältnis zu Petitionen. Damals hieß es nicht „Petition“, sondern „Eingabe“. Es war die einzige Möglichkeit, sich gegen Verwaltungshandeln zu wehren. Aber immerhin haben einige Eingaben vor Ort doch zu Änderungen von Verwaltungsentscheidungen geführt. So bin ich 1986 persönlich nach Berlin gereist und habe im Bürogebäude von Erich Honecker eine Eingabe eingereicht, einen Telefonanschluss zu bekommen. Vier Wochen später hatte ich ihn dann, allerdings nach unglaublichen vier Jahren des Wartens. ({2}) Manchmal wünsche ich mir, dass so eine schnelle Bearbeitung auch heute möglich ist – ohne vier Jahre Wartezeit im Vorfeld natürlich. ({3}) Auch 2021 haben die Petitionen gezeigt, dass noch nicht alle Unwuchten aus der Wiedervereinigung beseitigt sind. Unser Ausschuss setzt sich daher für Zwangsausgesiedelte ein, die im Gegensatz zu Gefängnisopfern nie entschädigt wurden. Dabei geht es den Betroffenen nicht nur um Geld, sondern darum, dass ihr Leid anerkannt wird und das Unrecht einer breiten Öffentlichkeit bewusst wird. Beim Grenzbau 1961 wurden Bürger zwangsumgesiedelt, die als nicht politisch zuverlässig galten. Im neuen, erzwungenen Wohnort waren sie oft Außenseiter, über die negativ geredet wurde. „Irgendwas werden die schon ausgefressen haben“, hieß es dann immer. Besonders mussten natürlich dann immer die Kinder leiden. Junge Mütter wurden gezwungen, ihr Kind zur Adoption abzugeben. Auch wenn sie sich nach der Friedlichen Revolution, nach oft langem Weg, wiedergefunden haben, gab es nicht immer das erhoffte Happy End. Auch gibt es Hinweise, dass in der DDR Kinder von politisch unzuverlässigen Personen zur Adoption freigegeben wurden. Den Eltern wurde gesagt, das Kind sei verstorben. Nie wieder darf so etwas passieren! ({4}) Auch in meinem Wahlkreis spricht man mich an, Missstände und Gesetzesänderungen mal etwas genauer zu hinterfragen. Ein aktuelles Beispiel ist das Thema Lärmbelästigung wegen der Umgehungsstraße in Orlamünde in Ostthüringen. Bei Totalneubau wird der Schall von Bahn und Straße als Gesamtbelastung addiert. Bei Sanierungsneubau zählt jede Schallbelastung, also Bahn und Straße, für sich. Meine Damen und Herren, der Lärm ist derselbe, nur die Grenzwerte sind unterschiedlich. Petitionen sind mir eine Herzenssache, und ich halte diesen Ausschuss für einen ganz wichtigen Ausschuss im Bundestag. Vielen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Annika Klose, SPD-Fraktion. ({0})

Annika Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer/-innen! Der Petitionsausschuss bietet allen Menschen die Möglichkeit und das Recht, sich auf direktem Weg Gehör beim Deutschen Bundestag zu verschaffen. Wenn ich sage „allen Menschen“, dann heißt das tatsächlich auch genau das: allen Menschen, und zwar unabhängig von ihrem Alter, ihrem Wohnsitz, ihrer Nationalität oder der Art ihres Anliegens. Alle können sich an uns wenden. Es ist mir wichtig, dass dieses Recht den Menschen bekannt ist und dass sie es nutzen. Doch der nun vorgelegte Jahresbericht zum Jahr 2021 zeigt einen Rückgang in der Anzahl der eingereichten Petitionen, und das, obwohl wir uns in einer Pandemie befanden, die jede und jeden vor große Herausforderungen stellt, Herausforderungen, die gehört werden mussten und müssen. Als Abgeordnete aus Berlin-Mitte freut es mich darum besonders, dass Berlin das Bundesland ist, in dem im Verhältnis zur Einwohner/-innenzahl die meisten Petitionen eingereicht wurden. Denn natürlich ist das ein Zeichen von Engagement und Partizipation. ({0}) Ich wünsche mir, dass sowohl in Berlin als auch in ganz Deutschland und darüber hinaus diese Form der Beteiligung noch stärker wahrgenommen wird. Und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wunsch nicht unerfüllt bleibt. ({1}) Denn auch Bürger/-innen, die sich nicht an den Petitionsausschuss wenden, haben häufig Anliegen, die Gehör finden sollten. Obwohl alle Menschen das Recht haben, den Petitionsausschuss in Anspruch zu nehmen, fällt auf, dass nicht alle in gleichem Maße von diesem Recht Gebrauch machen. Wer sind also diejenigen, die wir stärker erreichen sollten? Einerseits sind es Frauen, die im Jahr 2021 nur ein Viertel der Petitionen eingereicht haben. Es sind außerdem Menschen mit Migrationshintergrund, und es sind generell jüngere Menschen, die bisher nicht ausreichend erreicht werden. Für seine weitere Arbeit muss sich der Petitionsausschuss deswegen zum Ziel machen, auch sie besser anzusprechen. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir Wege nutzen, um Petitionen alltagstauglicher und zeitgemäßer zu machen. So kann die Verbreitung und Mitzeichnung der Petitionen über soziale Medien eine entscheidende Rolle einnehmen. Auch durch das Angebot von Informationen in einfacher Sprache und in Fremdsprachen werden wir mehr Menschen erreichen können als bisher. Letztlich ist das beste Argument für das Einreichen einer Petition aber, wenn deutlich wird, dass sich darüber tatsächlich ein spürbarer Effekt auf das politische Geschehen in diesem Land ergibt. ({2}) Deshalb ist es unabdingbar, dass der Petitionsausschuss einen höheren Stellenwert bekommt und ihm mehr Aufmerksamkeit zuteilwird. ({3}) Die Verantwortung dafür, eine wahrnehmbare Aufwertung seiner Arbeit herbeizuführen, liegt aber nicht ausschließlich beim Petitionsausschuss selbst, sondern auch beim Deutschen Bundestag in seiner Gesamtheit. ({4}) Ich bin daher sehr dankbar dafür, dass die Koalitionsfraktionen daran arbeiten wollen, das Petitionsverfahren zu stärken, und dass sie das Vorhaben dementsprechend in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben. Den Plan, Petitionen in naher Zukunft auch in Ausschüssen und hier im Plenum beraten zu können, begrüße ich sehr. ({5}) Denn dies rückt die Anliegen der Bürger/-innen ein großes Stück näher an die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. ({6}) Petitionen sind nicht nur von großem Wert für diejenigen, die sie inhaltlich betreffen. Uns Abgeordneten ermöglichen sie einen unmittelbaren Kontakt zu den Themen, die die Bürger/-innen beschäftigen. Sie geben uns die Chance, sowohl einen persönlichen Einblick in die Einzelanliegen zu kriegen und sie im Detail zu verstehen, als auch die Themen zu spüren, die Tausende von Menschen bewegen. In meinen eigenen Zuständigkeitsbereichen in den Ausschüssen – das sind die Themen Arbeit und Soziales sowie Außenpolitik – wird das besonders deutlich. Das Spektrum reicht von individuellen Problemen mit dem Rentenbescheid oder der Anrechnung auf das Arbeitslosengeld II bis zu Themen mit globaler Relevanz wie bewaffnete Konflikte und humanitäre Krisen. Allesamt verdienen es diese Anliegen, ernst genommen zu werden und gewissenhaft behandelt zu werden. Als Mitglied des Petitionsausschusses bin ich auch sehr froh darüber, hierzu einen Beitrag leisten zu können. Ich bin froh, zu wissen, dass die Angehörigen des Ausschusses insgesamt sich diesen Anspruch an die Gewissenhaftigkeit ihrer Arbeit äußerst zu Herzen nehmen. ({7}) Einen großen Dank möchte auch ich an dieser Stelle an den Ausschussdienst aussprechen, da er die Grundlage für die Arbeit im Petitionsausschuss schafft und diese Zuarbeit wirklich unabdingbar für diese Arbeit ist. ({8}) Zu guter Letzt möchte ich noch einen Punkt ergänzen, der mir besonders wichtig ist. So gut wir den Zugang zum Petitionsausschuss auch stärken und so ausgiebig sich dieser Ausschuss auch mit den Anliegen auseinandersetzt, können wir nur dann Abhilfe schaffen, wenn die Bitten und Beschwerden der Bürger/-innen über den Ausschuss hinaus gehört werden. Insbesondere ist es hier an der Bundesregierung, hinzuhören und tätig zu werden. Ich appelliere daher an die Bundesregierung, nicht den einfachsten Weg im Umgang mit den überwiesenen Petitionen zu nehmen, sondern konstruktiv und mit Nachdruck daran zu arbeiten, Lösungen für die Anliegen zu finden, die der Petitionsausschuss als Sprachrohr für all jene Menschen, die sich an ihn wenden, an die Bundesregierung heranträgt. Schließlich kann so nicht nur Abhilfe für das beklagte Problem geschaffen, sondern auch das Vertrauen in unsere Demokratie gestärkt werden. Vielen Dank. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Swantje Henrike Michaelsen, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Swantje Henrike Michaelsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005152, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Möglichkeit, eine Petition an den Bundestag zu richten, ist zu Recht ein Grundrecht. So können sich alle Menschen in diesem Land unabhängig von Alter oder Wahlrecht an der Demokratie beteiligen. Sie können aber auch ihre Sorgen und Nöte an uns richten. Die Liste der Petitionen 2021 ist beeindruckend – beeindruckend lang, beeindruckend vielfältig, beeindruckend engagiert. Und wenn man sich einen Überblick über die Themen verschafft, dann sieht man gerade im Rückblick sehr gut, welche Themen die Gesellschaft bewegt haben. Damit können wir als Mitglieder des Ausschusses, wenn wir aufmerksam genug sind, aus den eingehenden Petitionen eben häufig mehr ablesen als die Einzelmeinung. Gerade die Petitionen, die in öffentlichen Sitzungen beraten werden, zeigen uns, dass ein bestimmtes Thema viele Menschen gleichzeitig bewegt. Wir sehen daran gesellschaftliche Stimmungen, manchmal Brennpunkte. Wir können erkennen, welche Debatten im Land geführt werden. Und wir tragen mit unseren Voten dazu bei, dass diese gesellschaftlichen Diskussionen Eingang finden in die parlamentarischen Debatten und in die Arbeit der Bundesregierung, ({0}) dass sie Eingang finden in Gesetze und in die Rahmenbedingungen, mit denen wir das Zusammenleben in Deutschland gestalten. Wir nehmen aber die Themen natürlich auch mit in die Arbeit in unseren Fachausschüssen, sodass die Petitionen auch über die Voten hinaus auf politische Entscheidungen einwirken. Dafür ist die Arbeit – vor heute wollte ich eigentlich sagen: die Zusammenarbeit – im Petitionsausschuss – ich hoffe, dass es weiter gilt – zentral. Als neues Mitglied erlebe ich das Miteinander im Petitionsausschuss ganz anders als an vielen anderen Stellen im System Bundestag. Die Debatten sind auch hier leidenschaftlich, manchmal ein bisschen verrückt, aber immer an der Sache interessiert und wirklich geleitet von dem Bemühen, die Anliegen der Petentinnen und Petenten nicht nur ernst zu nehmen, sondern diese auch in gute Voten zu überführen, denen möglichst viele Mitglieder des Ausschusses zustimmen können. ({1}) Diese Zusammenarbeit – ich will es wirklich über die meisten Fraktionsgrenzen hinweg so nennen und hoffe, dass ein Teil dieser Debatte heute für die weitere Ausschussarbeit nicht repräsentativ ist – ist für mich ein heller Lichtblick im politischen Alltagsgeschäft. Und so freue ich mich sehr auf die Arbeit im Petitionsausschuss in den nächsten Monaten und Jahren. Wir werden in dieser Wahlperiode das Petitionsrecht stärken, damit es für noch mehr Menschen einfacher wird, das Grundrecht auf Beteiligung an der Demokratie wahrzunehmen. Ich bin gespannt auf die Themen, die die Menschen an uns herantragen werden. Und ich freue mich auf gute Zusammenarbeit für die Menschen und ihre Anliegen in diesem wichtigen Ausschuss. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Martina Englhardt-Kopf hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Martina Englhardt-Kopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und vor allem: Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Auch ich bin in dieser Wahlperiode nicht nur neugewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages, sondern auch neues Mitglied im Petitionsausschuss. In dieser kurzen Zeit habe ich großen Respekt vor der Arbeit des Ausschusses und insbesondere auch vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes gewonnen. Das Pensum, das sie zu bewältigen haben, ist wirklich unglaublich. Im letzten Jahr wurden – das wurde vorher bereits mehrmals gesagt – 11 667 Petitionen eingereicht – das sind knapp 32 Petitionen pro Tag –, und wirklich jede Eingabe wird geprüft und bearbeitet, bevor sie uns als Abgeordnete überhaupt zugeht. Aber dieser hohe Aufwand lohnt sich; denn es ist das Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, dass sie sich direkt an uns, an die Vertreter im Parlament, wenden können. Genau das macht die Arbeit in diesem Ausschuss auch so spannend und abwechslungsreich, seien es die vielfältigen großen und kleinen Bitten, aber auch Beschwerden und Ideen. Die Eingaben spiegeln letztendlich das Meinungsbild der Bürgerinnen und Bürger wider und machen uns auf Probleme aufmerksam. Sie sind ein ganz feiner Seismograf, der uns widerspiegelt, was die Bürgerinnen und Bürger bewegt, aber auch welche Sorgen und Nöte sie haben, und uns auch Problemlösungen aufzeigt. In mehr als der Hälfte der Petitionen des letzten Jahres haben sich Petenten mit ganz persönlichen Anliegen an den Deutschen Bundestag gewandt. Es sind gerade diese Einzelfälle, coronabedingt, aber auch Fragen der sozialen Sicherungssysteme und vieles mehr, die die Menschen berühren, bewegen, oft für Verärgerung sorgen und direkt an uns weitergegeben werden. Ich wage deshalb, zu behaupten, dass die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern besonders in diesem Ausschuss deutlich zum Ausdruck kommt. ({0}) Was ich an dieser Stelle nochmals betonen möchte, ist, dass sich wirklich jeder – also egal welchen Alters, ob Kinder oder Erwachsene, welcher Nationalität, welcher Staatsangehörigkeit – mit einer Petition an den Deutschen Bundestag wenden kann, ganz egal ob postalisch, elektronisch oder über das Onlineportal. Ich ermutige an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal alle Bürgerinnen und Bürger, von diesem Recht und diesen unterschiedlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Im Petitionsausschuss haben wir die Möglichkeit, Ihre Anliegen von den Fachministerien prüfen zu lassen. Wir können Wissenschaftler und Gutachter beauftragen und anhören oder uns direkt vor Ort ein Bild von der jeweiligen Situation machen. Ihre Petition können wir den zuständigen Gremien überweisen, wo sie in weiteren Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung finden kann. Die Möglichkeiten sind sehr weitreichend. Petitionsverfahren können sehr aufwendig sein. Aber alles dient dem Ziel der sachgerechten Bewertung der jeweiligen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. So konnte im vergangenen Jahr zum Beispiel eine Petition zur Stärkung des Ehrenamtes erfolgreich abgeschlossen werden. Hier forderte die Petentin, dass insbesondere ehrenamtliche Aufwandsentschädigungen nicht beim Elterngeld angerechnet werden. Im Rahmen der Neuregelung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes konnten hier Verbesserungen erzielt werden. Einiges am Petitionswesen ließe sich aus meiner Sicht aber noch deutlich verbessern. Angesprochen wurde die Onlineplattform. Diese muss dringend zeitgemäß erweitert werden. Ich denke aber auch an Apps. Wir fordern ganz klar, dass es für alle Bürgerinnen und Bürger künftig möglich sein soll, im Rahmen der Bundestag-App Petitionen einzureichen – also ganz niedrigschwellige, einfache Angebote, um möglichst viele Bürgerinnen und Bürger, Jung und Alt, anzusprechen, damit diese ihre Anliegen direkt weitergeben können. ({1}) Entscheidend wird an dieser Stelle natürlich sein, dass wir die Verbesserung dieser neuen Onlineformate zügig umsetzen. Wir hatten hierzu bereits die ersten Arbeitsgespräche mit vielen Ideen für eine sehr gute Weiterentwicklung dieser Möglichkeiten. Ähnlich ist es auch in Bezug auf die Bearbeitung der Petitionen. Ich denke an die Akten. Ich war zu Beginn schon etwas irritiert, als Stapel an Akten und Papierberge in mein Büro geliefert worden sind. Auch das ist aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen die E‑Akte. Wir brauchen die Möglichkeit, diese Vorgänge auch online zu bearbeiten. Das schafft unterm Strich auch mehr Effizienz und sorgt für mehr Schnelligkeit in der Bearbeitung dieser Anliegen. Auch hier müssen wir schneller und besser werden. ({2}) Ein entscheidender Punkt an dieser Stelle, wenn es um die Bearbeitungszeit und die Schnelligkeit geht, ist letztendlich auch, dass wir uns alle zusammenreißen, damit Petitionen nicht, wie häufig der Fall, geschoben und vertagt werden. Auch ich habe mir die Zahlen des Berichtes sehr genau angeschaut und festgestellt, dass gerade in den vergangenen Monaten die ersten eingehenden Petitionen häufig geschoben wurden. 27 der ersten 100 eingegangenen Petitionen wurden vertagt; in der letzten Wahlperiode waren es nur 11 Petitionen. Auch hier müssen wir schneller und besser werden, damit die Bürgerinnen und Bürger schnelle, zeitnahe Rückmeldungen bekommen und wir gute Lösungen finden. ({3}) Ich bedanke mich abschließend insbesondere bei allen Kolleginnen und Kollegen des Ausschussdienstes, die wirklich Unglaubliches leisten – ich hatte die Zuarbeit eingangs angesprochen –, aber auch bei allen Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses. Auch ich erlebe die Arbeit und die Diskussionen als sehr vertrauensvoll und offen. Oft ist es ein leidenschaftlicher Austausch zum Wohl der Sache der jeweils persönlichen Anliegen. Gerade in puncto persönliche Anliegen: Es handelt sich oft um sehr vertrauliche Informationen und Daten, die Bürgerinnen und Bürger an uns weitergeben. Aufgrund dessen kann es in der Zukunft leider nicht möglich sein, dass Petitionen immer öffentlich behandelt werden. Das würde doch vielen Persönlichkeitsrechten widersprechen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Martina Englhardt-Kopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb müssen wir hier ganz differenziert unterscheiden. Herzlichen Dank, alles Gute und danke fürs Zuhören. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Erik von Malottki hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Erik Malottki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die sprachliche Herkunft des Wortes „Petition“ verdeutlicht sehr eindrücklich den vielfältigen Charakter von Petitionen, die wir hier im Deutschen Bundestag bearbeiten. Das lateinische Wort „petitio“ bedeutet „Bitte“ wie auch „Verlangen“. Wir erhalten also Petitionen, die eher als Bitte gestellt werden: eine sichere Überquerung einer Straße durch die Einrichtung einer Ampel an einer Bundesstraße oder die Überprüfung eines als ungerecht empfundenen Ablehnungsbescheides einer Behörde. Wir erhalten ebenso Petitionen, die eher eine Forderung erheben, zum Beispiel die Intensivierung der Bemühungen für eine bessere Verkehrswende oder das Einfordern von zusätzlichen Mitteln für die Digitalisierung an unseren Schulen. Diese beiden Typen von Petitionen – die Bitten und die Forderungen – sind gleichwertig wichtig für den demokratischen Charakter unseres Petitionswesens. Wir sind als Abgeordnete im Petitionsausschuss in einer Doppelrolle – als Kümmerer, aber auch als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für die Forderungen der Bürger und Bürgerinnen in unserem Land. Aber warum ist diese Arbeit wichtig? Weil wir Petitionen für den demokratischen Charakter des Bundestages und für unsere Demokratie unbedingt benötigen. Sie sind unsere demokratische Lebensversicherung! Gesetze haben Lücken, berücksichtigen nicht alle Perspektiven; Behörden unterlaufen Fehler. Und Menschen in unserem Land haben für die vielen Probleme und Herausforderungen häufig die besseren Ideen und Lösungen als die Ministerialbürokratie, aber auch öfter als wir Fachpolitikerinnen und ‑politiker. Ich möchte deswegen den Petentinnen und Petenten danken; denn sie leisten einen entscheidenden Beitrag für unsere Demokratie. ({0}) Mein Dank gilt ebenfalls den Beschäftigten im Ausschusssekretariat, den Mitarbeitenden in den Bundestagsbüros und in den Fraktionen sowie meinen engagierten Kolleginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss. ({1}) Ich kann mich deshalb meinen Vorrednern anschließen, wenn es um den notwendigen Reformbedarf des Petitionswesens geht. Damit unsere demokratische Lebensversicherung noch besser funktioniert, muss das Petitionswesen intuitiver, barrierefreier, kommunikativer und vor allem digitaler werden. Wir brauchen dafür endlich auch einen Härtefallfonds, um in den Fällen unkompliziert zu helfen, bei denen wir bisher keine eindeutige haushalterische oder gesetzliche Möglichkeit haben. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle einmal konkret anhand einer Petition verdeutlichen, was Petitionen leisten können. Nach der Wende haben sich die Bürgerinnen und Bürger der kleinen Insel Ummanz bei Rügen die berechtigte Hoffnung gemacht, im Rahmen von Vermögenszuordnungsverfahren ehemals volkseigene Grundstücke auf der Insel zu erwerben. Familien, die diese Flächen seit vielen Jahrzehnten gemeinschaftlich bewirtschaftet und bewohnt haben, wollten sich nach der Wende ein Stück Heimat und Sicherheit schaffen. Wie in so vielen Fällen in dieser Zeit wurden Versprechen der Politik nicht gehalten, und die Familien von Ummanz konnten die Grundstücke nicht erwerben. Um diese Ungerechtigkeit und die damit verbundenen Ungereimtheiten aufzudecken, haben sie sich in einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und auch mit einer Petition an den Deutschen Bundestag gewandt. Das Anliegen der Familien von Ummanz steht dabei exemplarisch für die unzähligen Unrechtserfahrungen in Ostdeutschland nach der Wende. Diese Unrechtserfahrungen und das Gefühl, nicht gesehen zu werden, sind heute in Ostdeutschland der Nährboden für Frustration und Politikverdrossenheit. Sie sind auch das Einfallstor für Rechtsradikale, die diese Enttäuschung nutzen wollen, um unsere Demokratie zu schädigen. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir in der Obleuterunde vereinbart haben, dem Anliegen der Familien von Ummanz in einem der ersten Vor-Ort-Termine des neugewählten Petitionsausschusses nachzugehen. Wir werden gemeinsam prüfen, was wir jetzt noch für die Familien von Ummanz bewegen können; aber wir zeigen ihnen durch unseren Besuch vor allen Dingen, dass wir sie und ihr Anliegen sehen. ({3}) Wir zeigen, dass wir uns kümmern. Dass wir als Abgeordnete das Kümmern überhaupt gemeinsam versuchen, ist genau diese Form des Respekts und der Anerkennung, auf die so viele Menschen, gerade in Ostdeutschland, so lange gewartet haben. All dies kann das Petitionswesen des Bundestages leisten; auch deshalb ist es die demokratische Lebensversicherung unserer Arbeit. Ich möchte jetzt noch auf zwei Dinge eingehen, die die Kolleginnen und Kollegen hier in der Debatte vorgebracht haben: Erstens. Zu der Debatte zwischen Herrn Mattfeldt und Frau Rüffer: Mein Eindruck als neuer Abgeordneter ist, dass der Petitionsausschuss wirklich sehr wenig durch parteipolitische Debatten geprägt ist. Ich würde mir wünschen, dass das so bleibt. Wir können vielleicht gerne auch noch einen Schritt in die richtige Richtung machen. ({4}) Zweitens. Zu Herrn Brandes von der AfD möchte ich eins sagen: Ich finde es immer wichtig, dass Worte und Taten übereinstimmen. Sie haben gesagt, dass wir als Regierungskoalition Dinge, die uns nicht passen, die unserer Ideologie nicht entsprechen, ablehnen. Sie haben in der letzten Sitzung des Petitionsausschusses eine Petition abgelehnt, in der es um den besseren Schutz von Institutionen und Menschen vor rechtsextremer Gewalt geht. ({5}) Sie widersprechen dem, was Ihrer Ideologie widerspricht. Deswegen zeigt das, dass Ihre Worte hier nicht konsistent sind. Aber was mich noch mehr ärgert, ist – Sie haben direkte Demokratie und Volksentscheide angesprochen –: Sie sehen jemanden vor sich, der zwei Bürgerbegehren in Mecklenburg-Vorpommern mit mehr als 14 000 Unterschriften mit initiiert hat. Die AfD-Fraktion im Landkreis Rostock hat dieses Bürgerbegehren mit abgelehnt und hat dafür gesorgt, dass kein Bürgerentscheid stattfindet. Im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte höre ich Ähnliches von der AfD-Fraktion. Deswegen ärgert es mich maßlos, wenn Sie einerseits sagen, Ihnen seien Volksentscheide wichtig, und im konkreten politischen Handeln tun Sie andererseits genau das Gegenteil. ({6}) Zum Schluss noch ein Thema, das zeigt, dass Petitionen nicht nur „kümmern“ und „ansprechbar sein“ bedeuten, sondern uns im besten Fall auch zum Handeln und Umsetzen bringen. Bereits in den vergangenen Wahlperioden gab es Petitionen, die auf die prekären Bedingungen der Fahrerinnen und Fahrer beim Deutschen Bundestag aufmerksam gemacht haben. Heute können die Beschäftigten nach erfolgreichem Arbeitskampf und dem nötigen Rückenwind aus dem Bundestag stolz darauf sein, dass sie ab Oktober einen Tarifvertrag bekommen. ({7}) Zu diesem Erfolg haben auch die eingereichten Petitionen einen Beitrag geleistet. Sie haben uns Abgeordnete institutionell dazu verpflichtet, uns mit dem Anliegen der Fahrerinnen und Fahrer auseinanderzusetzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie wären dann zum Schluss gekommen?

Erik Malottki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Liebe Bürgerinnen und Bürger, geben Sie uns weiter diesen Druck. Geben Sie uns weiter Rückenwind bei Anliegen, die Ihnen wichtig sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Erik Malottki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber lassen Sie uns auch Gegenwind spüren, wenn Sie mit unserer Arbeit nicht einverstanden sind. Davon lebt unsere Demokratie. Das ist unsere demokratische Lebensversicherung im Deutschen Bundestag. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache, nicht ohne mich noch einmal bei allen, die für uns im Petitionsausschuss arbeiten und die im Petitionswesen insgesamt tätig sind, bei den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und unseren Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen in unser aller Namen, nehme ich an, sehr herzlich zu bedanken. Das ist ein besonderer und ein sehr wichtiger Bereich unserer Arbeit, für den man nicht jeden Tag Blumensträuße bekommt. ({0})

Christian Görke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005067, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Deutschland ist ernst; denn die Teuerungswelle hat auch die Supermarktregale erreicht. Die Lebensmittelpreise sind zum Teil explosionsartig gestiegen: 43 Prozent mehr für Butter, 33 Prozent mehr für Nudeln, 65 Prozent mehr für Rapsöl; das sind alles die Fakten, die Sie kennen. Mit einer dickeren Brieftasche kann man sicherlich die Rechnung im Supermarkt stemmen; aber der Friseurin, dem Paketboten und den Rentnerinnen und Rentnern fällt diese Entwicklung nun wirklich auf die Füße. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei mir in Brandenburg brennt es besonders. Jeder dritte Brandenburger hat monatlich weniger als 2 300 Euro brutto zur Verfügung – jeder dritte! Sie können sich ausmalen, liebe Kolleginnen und Kollegen, was diese Mondpreise in den Supermärkten für die Menschen mit wenig Geld bedeuten. Die Teuerungswelle ist zum Teil ein finanzieller Überlebenskampf geworden, kann man sagen. Bereits jeder Sechste lässt laut einer INSA-Umfrage Mahlzeiten ausfallen. Die Preiserhöhungen dieser Woche scheinen auch noch nicht das Ende dieser Fahnenstange zu sein. Laut ifo-Institut planen neun von zehn Lebensmittelhändlern weitere Preiserhöhungen. Gleichzeitig – das spielte hier heute Vormittag schon eine Rolle – stoßen die Ehrenamtler/-innen bei den Tafeln an ihre Grenzen, weil die Lebensmittelspenden für den großen Andrang einfach auch nicht mehr ausreichen. Meine Damen und Herren, dagegen müssen wir etwas tun. ({0}) Vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren von der Mehrheitskoalition in diesem Haus, müssen etwas dagegen tun; denn die bisherigen Entlastungspakete sind absolut unzureichend. Vor allen Dingen haben Sie sich eher auf die Energiepreise konzentriert. Was sagen Sie den Menschen draußen, die sich kein Obst und kein Gemüse mehr leisten können? Deshalb erwarte ich von Ihnen als Koalition, dass Sie das endlich zur Chefsache in der politischen Arbeit machen. ({1}) Meine Damen und Herren, der schnellste und der pragmatischste Weg ist die Befreiung der Grundnahrungsmittel von der Mehrwertsteuer. Seit April ist das in der Europäischen Union möglich. Es gibt keinen ernährungspolitischen oder sonstigen Grund mehr, Grundnahrungsmittel mit einer Mehrwertsteuer von pauschal 7 Prozent zu belegen. Das sieht der Bundeslandwirtschaftsminister so, das sieht das Umweltbundesamt so, und das sehen auch wir als Linksfraktion so. ({2}) Auf der anderen Seite macht der Bundesfinanzminister bei jeder Preiserhöhung auch noch Kasse. 7 Prozent auf 250 Gramm Butter für 2,30 Euro sind eben mehr als 7 Prozent auf 1,60 Euro wie noch vor drei Monaten. Die Mehrwertsteuer, meine Damen und Herren der FDP, ist auch ein Preistreiber geworden. Stoppen Sie das mit Ihren Mehrheiten! ({3}) Meine Damen und Herren, ihre Aussetzung entlastet die breite Mehrheit der Bevölkerung, vom Busfahrer bis zum Armutsrentner. ({4}) Die Hälfte der Bevölkerung mit kleinem Geldbeutel wurde durch keine andere Steuer mehr belastet als durch die Mehrwertsteuer. Ihre Aussetzung im Rahmen eines Entlastungspaketes Ernährung ist deshalb nicht nur eine zielgerichtete und pragmatische Lösung, sondern vor allen Dingen auch eine gerechte Maßnahme. ({5}) Meine Damen und Herren, um sicherzustellen, dass die Aussetzung der Mehrwertsteuer in voller Höhe an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird, fordern wir die Einrichtung einer Preisbeobachtungsstelle in unserem Antrag, die die Entwicklung der Erzeuger- und Lebensmittelpreise in der gesamten Kette der Bewirtschaftung überwacht. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn Sie nichts tun, wird die Spaltung in diesem Land zunehmen. Das kann keiner wollen. Machen Sie was! Insofern werbe ich für unseren Antrag. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Tim Klüssendorf hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Tim Klüssendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Herr Görke, ich möchte Ihnen zunächst einmal in der Analyse zustimmen und auch noch mal auf die Situation eingehen, die wirklich dramatisch ist. Wir haben eine Inflation von knapp 8 Prozent – der höchste Wert seit über fünf Jahrzehnten. Wir haben Energiepreissteigerungen von über 40 Prozent und gerade auch im Lebensmittelbereich Preissteigerungen von 11 Prozent; ({0}) besonders bei den Grundnahrungsmitteln wie Butter, Mehl und Öl sind es weit über 40, 50, teilweise 60 Prozent. Sie haben auch mit der Analyse recht, dass gerade die kleinen und mittleren Einkommen davon betroffen sind. Wenn man sich einmal anschaut, wofür das verfügbare Haushaltseinkommen eigentlich ausgegeben wird, dann ergibt sich folgende Aufteilung: 40 Prozent für Wohnen und Energie, 15 Prozent für Lebensmittel, 15 Prozent für Mobilität. Aber das ist nur der Durchschnitt. Wir können davon ausgehen, dass es bei den kleinen und mittleren Einkommen deutlich höher ist. Deswegen ist eins klar: Wir werden uns darum kümmern. Wir haben uns in der Vergangenheit mit Entlastungspaketen darum gekümmert, und wir werden uns auch in der Zukunft darum kümmern, besonders diese Menschen zu entlasten. ({1}) Ein Einschub an der Stelle – es ist mir ein Anliegen, das zu erwähnen; denn es ist ein größeres Problem in unserer Gesellschaft –: Es gibt auch Menschen, die von dieser Krise profitieren. Es gibt hohe Vermögen, die weiter anwachsen. Wir haben eine große Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft, und ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass wir das nicht aus dem Blick verlieren, dass wir gemeinsam an Lösungen arbeiten, auch die Menschen mit höheren Vermögen stärker in die Verantwortung zu nehmen ({2}) und dadurch für mehr Gerechtigkeit und für den sozialen Frieden zu sorgen. Aber wir sprechen heute über kurzfristige Lösungen. Ich habe eben schon erwähnt: Wir haben Entlastungspakete in Höhe von 30 bis 40 Milliarden Euro gemeinsam mit FDP und Grünen auf den Weg gebracht. Wir müssen erst mal abwarten, wie die sich auswirken. Wir haben im Moment noch keine Werte darüber, wie sie ihre Entlastungswirkung entfalten. ({3}) Der Verkauf des 9‑Euro-Tickets läuft gerade; es gibt den Tankrabatt, von dem wir zumindest noch nicht wissen, inwiefern er wirklich weitergegeben wird. Aber es ist so, dass wir natürlich einfach erst mal die Wirksamkeit dieses Pakets abwarten müssen. Der Bundeskanzler hat richtigerweise zu einer konzertierten Aktion eingeladen, damit wir gemeinsam vorangehen. Die beiden ergriffenen Maßnahmen auf der einen Seite und die Einladung auf der anderen Seite: Ich finde schon, dass das Aktivität ist, die man zur Kenntnis nehmen muss und die man nicht einfach wegdiskutieren kann. ({4}) Wenn wir nun über die beiden vorliegenden Anträge bzw. über die Beschlussempfehlung sprechen, dann möchte ich sagen, dass der Antrag der Linken aus meiner Sicht schon konsequent und glaubwürdig ist, dagegen der der AfD mal wieder nicht. Ihre Forderungen sind rückwärtsgewandt, klimafeindlich und sogar europarechtswidrig – zum erneuten Male. Wir haben es im Ausschuss diskutiert, wir haben es hier diskutiert. Sie sind immer noch nicht auf die Idee gekommen, Ihre Forderungen mal anzupassen. Ich weiß nicht, welche Ziele Sie vor allen Dingen mit der Abschaffung der CO2-Steuer verfolgen. Das Ziel, die Menschen wirklich zu entlasten, verfolgen Sie damit auf jeden Fall nicht. ({5}) Warum spreche ich mich heute dennoch für eine Ablehnung aus? Es gibt drei Gründe, warum wir im Moment nicht der Auffassung sind, dass sich die im Antrag vorgeschlagene Maßnahme als Teil eines weiteren Entlastungspaketes lohnt. Zunächst einmal ist sie nicht wirksam. Sie ist nicht wirksam, weil Inflation kein Zustand ist, sondern ein Prozess. Eine einmalige Preissenkung würde vielleicht für einen kurzen Effekt sorgen, aber sie würde natürlich langfristig nichts nützen, weil die Preise weiter ansteigen. ({6}) Außerdem gibt es einen funktionierenden Markt. Andererseits sind die Bedingungen im Moment so, dass ich als Unternehmer angesichts der auch in Zukunft anzunehmenden Preissteigerungen natürlich nicht sofort reagieren würde, sondern mein Risiko für die Zukunft einfach mit einkalkulieren würde und die Preise so lassen würde, wie sie sind, um mich gegebenenfalls gegen zukünftige Kostensteigerungen abzusichern. Deswegen muss man im Moment davon ausgehen, dass die Mitnahmeeffekte so hoch sind, dass die Preissenkungen nicht auf den Konsumenten umgelegt werden. ({7}) Ein zweiter Grund ist, dass ich massive Zweifel an der aktuellen Kategorisierung von Grundnahrungsmitteln in dieser Republik habe. Vielleicht mag es auch an dem Gremium der Entscheiderinnen und Entscheider liegen; aber im Moment ist es so, dass Wachteleier, Froschschenkel und Trüffel zu den Grundnahrungsmitteln gehören, pflanzliche Milch, wie zum Beispiel Sojamilch oder Champignons im Glas, allerdings nicht. Ich weiß nicht, ob es der richtige Ansatz ist, hier mit einer Befreiung der Grundnahrungsmittel von der Mehrwertsteuer zu kommen, wenn wir uns über die Kategorisierung eigentlich noch gar nicht klar sind. Aus meiner Sicht wäre es viel sinnvoller, mal unabhängig von der Inflationsbekämpfung zu denken, grundsätzlich über die Mehrwertsteuer nachzudenken, eine neue Kategorisierung vorzunehmen und diese den wirklichen Kosten, den Klimafaktoren, den echten Umweltfaktoren anzupassen. ({8}) Der letzte Grund. Das Geld kann nur einmal ausgegeben werden. Deswegen müssen wir genau überlegen, welche Maßnahmen helfen. Aus unserer Sicht bieten sich da möglicherweise auch andere Maßnahmen an, etwa Einmalzuschüsse, die direkt bei den Menschen ankommen. Man muss ganz ehrlich sagen: Die Aufstellung des nächsten Haushaltes – ich freue mich, dass der Finanzminister der Debatte beiwohnt – wird sowieso eine anspruchsvolle, eine kreative Aufgabe. Denn um die Schuldenbremse einzuhalten, zusätzliche Entlastungen vorzunehmen, die Koalitionsprojekte durchzusetzen, die Bundeswehr zu stärken und dabei keine Steuererhöhungen vorzunehmen – wenn es einen Mathematiknobelpreis gäbe, dann wäre es auf jeden Fall ein angepeiltes Ziel des Finanzministers, diese Aufgabe zu erfüllen –, ({9}) müsste man, so könnte man sagen, fast zaubern. Also: Eines dieser Anliegen müsste man vielleicht sowieso aufgeben. ({10}) Lassen Sie uns also bei den Entlastungspaketen wirklich gucken, welche Maßnahmen ankommen, und dann gemeinsam gute Regierungspolitik machen, statt solche Anträge zu stellen! Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Fritz Güntzler spricht als Nächstes zu uns für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die Inflation ist schon angesprochen worden. Wir hatten im Mai dieses Jahres eine Rekordzahl von fast 8 Prozent. Das ist der Höchststand im vereinigten Deutschland. Zuletzt kannten wir so was in der Ölkrisenphase 1973/1974. Von daher ist es richtig, dass wir uns als Parlament und auch die Regierung sich damit beschäftigen, wie wir gerade die niedrigen und mittleren Einkommen entlasten können. Jede Entlastungsmaßnahme – es wird immer wieder das Entlastungspaket genannt – muss sich aber auch daran messen lassen, ob sie zielgerichtet ist. Herr Görke, wir haben im Ausschuss schon darüber gesprochen. Da haben wir schon Zweifel, ob diese Maßnahme wirklich dort ankommt, wo sie ankommen soll. Die Abschaffung des Steuersatzes bei Grundnahrungsmitteln, also der Nullsatz, würde circa 12 Milliarden Euro kosten. Wer profitiert von den 12 Milliarden Euro? Natürlich die auch von Ihnen adressierten niedrigen und mittleren Einkommen, aber auch die mit höheren Einkommen. Sie sagen: Relativ gesehen tragen die Haushalte mit niedrigen Einkommen sowieso eine höhere Umsatzsteuerbelastung. – Interessant sind aber auch die absoluten Zahlen. Wenn man sich die Zahlen von 2017 anguckt, würde die Entlastung den unteren 10 Prozent der Einkommensbezieher gerade mal 74 Euro bringen – oder 74 Euro; ich will das gar nicht werten –, aber den oberen 10 Prozent fast 180 Euro. Daran sehen Sie, dass Sie, absolut gesehen, die Besserverdienenden damit mehr entlasten als die, die Sie eigentlich treffen wollen. Von daher sind wir der Auffassung, dass diese Maßnahme nicht zielgenau ist. ({0}) Maßnahmen müssen entsprechend ausgerichtet werden, und wir sind dagegen, weil diese Vergünstigungen einfach ein breiter Schuss sind und alle Einkommensgruppen betreffen. Und: Sie haben zwar die Preisbeobachtungsstelle angeführt, aber es wird Mitnahmeeffekte geben. Wir als Regierungskoalition haben auch erleben müssen, dass die Mehrwertsteuersenkungen des Jahres 2020 – von 19 auf 16 Prozent bzw. von 7 auf 5 Prozent – nur zu 60 Prozent weitergegeben wurden. Es gab also Mitnahmeeffekte, und die wird es in diesen Fällen auch geben. Ich glaube nicht, dass Sie unbedingt die Lebensmittelkonzerne subventionieren wollen und deren Margen noch verbessern wollen. Übrigens glaube ich auch nicht, dass dieses bei den Landwirten ankommen würde, also bei den Produzenten, die es auch dringend notwendig hätten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, vielleicht ist das genau die Frage, die Ihnen Herr Görke stellen wollte. Möchten Sie die zulassen?

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich. Über Herrn Görke freue ich mich immer. ({0}) – Man muss sich Freunde suchen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Man muss ein bisschen aufpassen, ob das bestellt war. – Bitte schön.

Christian Görke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005067, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank auch, Herr Kollege Güntzler, dass Sie diese Frage zulassen. – Ich höre ja eine sehr skeptische Auffassung zur Absenkung oder Aussetzung der Mehrwertsteuer auf die Grundnahrungsmittel bei Ihnen heraus. Sie sind ja Mitglied der CDU/CSU-Fraktion. Deshalb würde mich mal interessieren, wie Sie das in der Fraktion gerade diskutieren, weil der Vorsitzende der CDU Deutschlands, Ministerpräsident Söder, ({0}) dies kürzlich als eine Maßnahme vorgeschlagen hat. Vielen Dank. ({1})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben ja darauf hingewiesen, dass wir eine Fraktion aus CDU und CSU sind. Ich habe auch vernommen, dass der CSU-Vorstand einen grundsätzlich klugen Beschluss mit 15 Maßnahmen gefasst hat, die tatsächlich zur Entlastung beitragen würden. Aber Sie haben meine Wortwahl richtig verstanden, dass ich mit der einen Maßnahme so nicht einverstanden bin, weil ich sie nicht für zielgerichtet halte, sie einfach zu teuer ist und eben alle trifft. Das geht nach dem Gießkannenprinzip, und das sollten wir nicht machen. Diese Diskussion führen wir ganz offen mit unseren Kollegen der CSU und werden sie auch weiter mit dem erfolgreichen Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern führen. ({0}) Zurück zum Thema. Ich glaube – Herr Kollege Klüssendorf hat es angesprochen; und das finde ich interessant und wichtig –, wir sollten alle gemeinsam den Mut haben, vielleicht mal an das Umsatzsteuerrecht insgesamt wieder ranzugehen. ({1}) Herr Görke hat auch darauf hingewiesen, dass es im April 2022 eine Änderung der Richtlinie gab, die uns mehr Flexibilität ermöglicht. Wir können Nullsätze mit Vorsteuerabzug machen, wir können zwei ermäßigte Steuersätze machen. ({2}) Wir haben in der Anlage 3 zur Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie einen umfassenden Katalog von 55 Punkten, den man rausnehmen könnte. Und dann gibt es die Kuriositäten – Sie haben einige genannt wie den Umgang mit den Wildschweinen, auf die 19 Prozent anfallen, und den Hausschweinen, auf die es 7 Prozent sind –, die man nicht nachvollziehen kann. Von daher wäre es wirklich mal des Schweißes wert, sich dieses Themas anzunehmen. Das wird nicht einfach, weil immer jemand genau seinen ermäßigten Steuersatz retten will. Aber wir als Union, kann ich Ihnen sagen, begleiten Sie gerne bei einem konstruktiven Prozess, das ganze Thema zu nutzen, um das Umsatzsteuerrecht in diesem Punkt zu reformieren. ({3}) Wir haben das Ganze übrigens auch mit einer Kleinen Anfrage begleitet, in der wir die Bundesregierung und den Bundesfinanzminister fragen, was denn bei diesem Punkt alles gemacht werden kann. Ich will zum Abschluss der Rede darauf hinweisen, dass wir, wie gesagt, diese Maßnahme für nicht zielgerichtet halten. Ich halte es – Herr Kollege Schrodi hat es schon dazwischengerufen – für viel sinnvoller, das Thema der kalten Progression anzugehen. Sie sind einen richtigen Schritt gegangen, indem Sie den Grundfreibetrag erhöht haben. Sie sind aber nicht die weiteren Schritte gegangen, dass Sie die Tarifeckwerte angepasst haben. Wir haben eine noch steilere Kurve in der untersten Progressionszone. Wir müssen also an den gesamten Tarif ran. Ich glaube, das würde die Menschen gerade mit niedrigen und mittleren Einkommen entlasten, natürlich auch die mit höheren Einkommen; das ist klar. Aber das ist ja eine Verschiebung von rechts, was wir machen sollten. ({4}) Ich glaube auch, das Thema der Pendlerpauschale muss noch mal auf den Tisch. Wir haben diese auf 38 Cent erhöht. Das war auch ein Vorschlag der Union zu einem Zeitpunkt, als wir die derzeitigen Mineralölpreise noch nicht hatten. Da die 38 Cent pro Entfernungskilometer gelten, sind es 19 Cent pro gefahrenem Kilometer. Wenn der ADAC berechnet, dass die Kosten jetzt durchschnittlich bei 67 Cent liegen, dann sieht man, dass diese 38 Cent nicht ausreichen. Und das betrifft meistens Pendler, die nicht auf das 9‑Euro-Ticket zurückgreifen können, weil sie gar keine Busverbindung oder U‑Bahn vor Ort haben. Von daher: Gehen Sie bitte noch mal an die Pendlerpauschale! Das wäre ein Punkt, der wirklich zielgerichtet wirken würde und die Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, entlastet. Das wäre mehr wert als das, was Sie hier vorschlagen, nämlich mal 12 Milliarden Euro mit einer großen Gießkanne auszuschütten. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Katharina Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005019, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Haben wir in Deutschland ein Problem mit massiven Preissteigerungen? Ja. Sehr, sehr groß ist dieses Problem. Gurken beispielsweise sind über 40 Prozent teurer geworden. Alle Lebensmittel sind durchschnittlich über 10 Prozent teurer geworden. Wie sollen sich das Menschen, deren Hartz‑IV-Sätze beispielsweise nicht gestiegen sind, oder Menschen, die wie Manager 70- oder 80‑Stunden-Wochen haben, aber das in drei Jobs erarbeiten müssen und dann vielleicht sogar noch aufstocken müssen, leisten? Dieses Problem ist wirklich massiv. Wir als Regierung – das haben jetzt schon so viele gesagt – steuern wirklich mit riesigen Entlastungspaketen schon dagegen. ({0}) Aber es ist wichtig, uns zielgerichtet und mit soliden Staatsfinanzen und für die Zukunft richtig aufzustellen. ({1}) Es wäre aber vermessen, zu glauben, das Problem sei jetzt mit einer Einzelmaßnahme bei den Lebensmittelpreisen zu lösen. Ich hatte gerade schon gesagt: Die Gurkenpreise beispielsweise und viele andere Preise sind im zweistelligen Bereich angestiegen. – Selbst wenn die Senkung zu 100 Prozent weitergegeben würde, würde wir das nicht komplett heilen. Das Problem ist viel größer. ({2}) Käme so eine Maßnahme denn auch an? Die Studien variieren da; das ist nicht komplett nachvollziehbar. Aber selbst wenn man mal annimmt, dass etwas weitergeben wird und ungefähr 60 Prozent ankommen – das DIW hat bei der letzten Mehrwertsteuersenkung von 50 Prozent gesprochen; manche sprechen von 70 Prozent im Lebensmittelbereich; wir wissen es einfach nicht –: Können wir es uns leisten, dass die restlichen 40 Prozent dann bei den Handelsketten, die in der Coronapandemie wirklich große Umsatzsteigerungen verbuchen konnten, landen? Das wären 800 Millionen bis 2 Milliarden Euro, die uns für andere, gezielte Entlastungsmaßnahmen fehlen würden. Die Meinung dieser Koalition ist: Nein, das können wir uns so nicht leisten. Wir müssen gezielt helfen. ({3}) Die Antwort kann nur sein, dass wir sagen – Herr Güntzler hat das ja selbst gesagt und viele andere auch –: Wir brauchen diese Entlastung nicht. Das heißt, wir müssen die Hartz‑IV-Regelsätze gegebenenfalls anheben, damit man sich das noch leisten kann. ({4}) Vor allen Dingen dürfen wir auch nicht vergessen, dass es in diesem Bereich einfach ist, die Menschen zu erreichen; denn sie sind schon im System. Aber diejenigen, die wirklich wenig Geld verdienen, müssen wir auch erreichen. Glücklicherweise haben wir den Grundfreibetrag angehoben. Glücklicherweise haben wir die Energiepreispauschale eingeführt, die aber auch frei verfügbar für Dinge einsetzbar ist, die man wirklich braucht. ({5}) Über Pauschallösungen müssen und sollten wir weiter nachdenken, auch im nächsten Schritt. Und – ich hatte das heute Morgen schon ausgeführt –: Die Wurzel allen Übels sind die extrem explodierten Energiepreise. Das heißt, um hier mittelfristig wirklich abzufedern und auch die Lebensmittelpreise in Deutschland wieder zu senken – die hängen in Deutschland nämlich noch viel mehr als an den Lieferketten an den Energiepreisen –, müssen wir an die Energie ran. Wir müssen uns diversifizieren. Wir machen es wirklich nicht leichten Herzens, dafür nach Katar zu fahren; aber für die Übergangstechnologien muss das sein. Den Ausbau der Erneuerbaren, der Freiheitsenergien, voranzutreiben, das machen wir, und zwar sehr beherzt. Wir geben dem hier im Planungsrecht einen Vorrang. Und drittens. Wir müssen an die Preisbildung rangehen, das Kartellrecht substanziell reformieren, sodass es nicht mehr zu der Möglichkeit kommen kann, die Preise so zu setzen, wie es geschehen ist. Um 38 Prozent sind die Energiepreise gestiegen; das ist wirklich exorbitant. In diesen oligopolistischen Markt reinzugehen, auch das macht diese Bundesregierung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Katharina Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005019, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das heißt: kluge Antworten finden, nicht Einzelmaßnahmen, die dann nicht ausschließlich denen zugutekommen, die es bräuchten, sondern die zum Teil auch versickern würden. ({0}) – Ich bin sehr konkret geworden, glaube ich, mit sehr vielen Maßnahmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das kann sie gar nicht mehr, weil sie über ihre Redezeit schon hinaus ist. ({0})

Katharina Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005019, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen machen wir einen klugen Mix an Maßnahmen und verlieren uns nicht in Einzelmaßnahmen, die im Endeffekt nicht zielgenau und effizient genug sind. Herzlichen Dank. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Zunächst etwas Nachhilfe für den Kollegen Klüssendorf – ich habe das am Vormittag auch schon für einige Kollegen getan –: ({0}) Was könnte die CO2-Abgabe mit dem Preis zu tun haben? Nun ja, gehen Sie ins Internet, schauen Sie sich die Tabellen vom ADAC, aber auch von Öl-, Gas- und anderen Anbietern an: Ab 2022 sind das 30 Euro pro Tonne; das macht 8,4 Cent pro Liter Normalbenzin. ({1}) Ab 2023 sind es 35 Euro pro Tonne; das macht 9,8 Cent pro Liter. Ab 2024 – geplante Inflation seitens der Schuldenkoalition – ({2}) sind es 45 Euro pro Tonne, demnach 12,6 Cent pro Liter. Und ab 2025 – dann haben Sie Ihr Ziel der autofreien Straßen vielleicht erreicht – sind es 55 Euro pro Tonne; das macht noch einmal 15 Cent pro Liter mehr. – Diese Nachhilfe war gratis; ich nehme auch keine 19 Prozent Umsatzsteuer oder Mehrwertsteuer, Herr Kollege. ({3}) Frau Beck, das nächste Mal richte ich mich an Sie und werde mich mit Ihrer Rede auseinandersetzen. ({4}) Aber kommen wir zum Punkt, zunächst einmal zum Antrag der Linken. Ich bin wirklich happy, dass Die Linke das Problem der Inflation tatsächlich durchdrungen und verstanden hat und auch einen guten Antrag stellt. Warum sage ich „einen guten Antrag“? Weil die AfD, ähnlich wie in der Debatte heute Vormittag, diesen genauso schon im März gestellt hat. Und was haben Sie damals getan? Sie haben ihm nicht zugestimmt. Das nenne ich heuchlerisch. Wir haben das bereits im März getan, meine Damen und Herren, weil wir erkannt haben, was die Inflation für Sie dort oben auf der Tribüne bedeutet. ({5}) Kommen wir vielleicht auch noch mal zu Fritz Güntzler. Ich finde es immer schön: Auch in Steuerfragen ist eine Rechtsverschiebung in der Gesellschaft durchaus etwas Schönes, so eben auch beim Einkommensteuertarif. Nach rechts zu rücken, ist eben gut und nicht schlecht; das kann man an dieser Stelle auch sagen. ({6}) Aber kommen wir zurück. Wir müssen natürlich darauf achten, dass diese Steuersenkungen – auch das steht in unserem Antrag – bei den Bürgerinnen und Bürgern entsprechend ankommen. Wir haben auch hier im Hohen Hause die Schuldenkoalition davor gewarnt, den Schritt, wie Sie ihn unbedingt wollten, zu gehen. Das haben auch die Kollegen aus der Union durchaus erkannt, mahnende Worte gesprochen. Sie haben es nicht berücksichtigt, und jetzt ist der Katzenjammer darüber groß, dass die Entlastung bei Ihnen oben, meine Damen und Herren, nicht ankommt. Hier allerdings, liebe Kollegen von der Linken, gebe ich Ihnen heute freiwillig und auch ganz gratis Nachhilfe: Es gibt Monopolmärkte; da brauchen wir so eine Kontrolle. Es gibt Polypole und Oligopole, meine Damen und Herren. Aber der Lebensmittelmarkt hier in Deutschland ist sicherlich – das ist auch bekannt – einer der Märkte mit dem größten Wettbewerb. Ich glaube, hier brauchen wir – und da ist Ihr Antrag verfehlt – keine Aufsicht; denn der Wettbewerb im Lebensmittelmarkt als einem Polypol funktioniert sehr gut. ({7}) Wir haben viele Nachfrager, viele Anbieter, und die Ketten liefern sich einen erbitterten Preiswettbewerb. Wenn wir das nicht hätten, dann wäre es bei Ihnen da oben auf der Tribüne mit den Preissteigerungen tatsächlich noch dramatischer. Insoweit: Das ist Mottenkiste, das ist Sozialismus. Am liebsten würden Sie wahrscheinlich auch noch die Preise festsetzen. Das wird es mit uns von der AfD-Fraktion sicherlich nicht geben. ({8}) Wir schlagen jedenfalls auch vor – genau das ist das Gute; deswegen bitte ich wie auch heute Vormittag nochmals die Union, unserem Antrag zuzustimmen –, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel zu senken. Und ja, Herr Kollege Klüssendorf – ich habe es auch gestern gesagt –, wir sagen an dieser Stelle, ähnlich wie die polnischen Kollegen, auch: Die Menschen da draußen sind uns an dieser Stelle wichtiger als eine Richtlinie, die die Mehrwertsteuer für Otto- und andere Kraftstoffe festsetzt. Deswegen fordern wir für Sie da draußen, vorübergehend die Mehrwertsteuer auf Kraftstoffe auf null zu setzen. Das hilft den Menschen, und nicht Ihre zögerliche Haltung und Ihr wiederholtes Verstecken hinter einer ohnehin verfehlten Europäischen Union. ({9}) Wir wollen auch das Brennstoffemissionshandelgesetz außer Kraft setzen; denn auch hier handelt es sich um Preistreiberei, was wir derzeit erleben, meine Damen und Herren. Deswegen glaube ich, das ist sehr ausgewogen, und es wäre sehr vernünftig – das an die Adresse der Kollegen der CDU/CSU –, demnächst beim „Tarif auf Rädern“ mitzustimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Da ist die Eckverschiebung, die Rechtsverschiebung drin. Ich fordere Sie zu einem konstruktiven Kurs gegenüber unseren Anträgen auf. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Till Mansmann hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wirkt sich nicht zuletzt auch auf die Agrarmärkte aus. Weil aber der Agrarrohstoffhandel global ist, sind die Verwerfungen auf den internationalen Märkten auch bei uns zu spüren. Unmittelbar nach dem russischen Angriff erreichte der Weizenpreis an den europäischen Börsen neue Rekordhöhen, nachdem er bereits zuvor in der Nähe der Höchststände des vergangenen Jahrzehnts notierte. Auch auf die Verfügbarkeit von Pflanzenölen hat der Krieg große Auswirkungen. Die Ukraine ist einer der weltweit größten Produzenten und Exporteure von Sonnenblumenöl. Die Verknappung führt zu höheren Preisen für Rohstoffe und Vorprodukte, sodass Lebensmittel weltweit und auch in Deutschland teurer werden. Jeder von uns kann dieses Phänomen aktuell hautnah in den Lebensmittelmärkten beobachten. Betroffen sind davon natürlich vor allem die Menschen mit kleinerem Geldbeutel, weil sie einen besonders hohen Anteil ihres Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel aufwenden. In den heutigen Tagen müssen immer mehr Menschen ihre Eurocents beim Lebensmittelkauf zweimal umdrehen, und manche müssen dabei an Stellen sparen, an denen das eigentlich kaum noch möglich ist. Die Bundesregierung und wir als Ampel sehen das, haben den Handlungsbedarf erkannt und deshalb in den vergangenen Wochen bereits – das ist hier schon angesprochen worden – umfangreiche Entlastungspakete geschnürt. Das war wichtig, weil wir damit den Menschen in diesem Land in diesen schwierigen Zeiten wieder mehr Handlungsspielraum geben können. ({0}) Nun zu den zwei Anträgen. Die Mehrwertsteuer ist eine enorm wichtige Steuer. Seit ihrer Einführung vor 50 Jahren ist sie aber auch unübersichtlich und widersprüchlich geworden. Der Kollege Zorn hat das in einer der letzten Debatten – wir führen die ja dauernd – mal sehr plastisch beschrieben, und ich freue mich auch, dass der Kollege Güntzler das heute angesprochen hat. Da müsste man also mal grundsätzlich drangehen. Warum ist die Mehrwertsteuer in diesem Zustand? Weil wir in den letzten fünf Jahrzehnten eine Unzahl von Anträgen gehabt haben, eigentlich zu viele davon angenommen haben und uns zu wenig um die Systematik dieser Steuer an sich gekümmert haben. Daher freue ich mich über Ihre Ankündigung; da haben wir viel zu tun. Muss man deswegen diese Sau dauernd wieder durchs Dorf treiben – mal von rechts, mal von links, heute im Hufeisenbogen? Ich glaube, das ist nicht die richtige Antwort. Ganz konkret zu den Anträgen: Liebe Kollegen von den Linken, ich weiß, dass Sie glauben, dass das Geld auf den Bäumen wächst. ({1}) Aber Sie hätten sich wenigstens die Arbeit machen können, mal kurz zu berechnen, was Ihre Forderung bedeutet; denn die Antwort, woher Sie das Geld dann hernehmen wollen, müssen Sie auch geben – schon gar für eine Maßnahme, die so wenig Zielgenauigkeit aufweist. ({2}) Immerhin ist Ihr Antrag ein bisschen sorgfältiger als der Antrag von den Kollegen von der AfD. Was mich an Ihrem Antrag stört, ist – neben der Interpunktion – ({3}) die inhaltliche Unschlüssigkeit insbesondere im Energiebereich. Sie wollen keine erneuerbaren Energien in Deutschland, aber Sie wollen auch keinen Wasserstoff importieren, weil Sie Abhängigkeiten fürchten. Und was wollen Sie an der Stelle haben? Sie wollen die Abhängigkeit von Russland erhalten. Das, finde ich, ist wirklich blanker Unsinn. Gestehen Sie mir bitte zu, dass wir das nicht mittragen wollen. Das ist doch klar. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Frauke Heiligenstadt ist jetzt die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Frauke Heiligenstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005077, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel: Die Inflation ist mit 7,9 Prozent im Mai 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat sehr hoch. Sie ist insbesondere für viele Menschen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, deutlich zu hoch. Erheblich teurer sind Speisefette und Speiseöle – über 38 Prozent –, Fleisch und Fleischwaren – über 16 Prozent –, Molkereiprodukte und Eier – über 13 Prozent – sowie Brot und Getreideerzeugnisse, die im Vergleich zum Mai 2021 immer noch um über 10 Prozent teurer sind. Gerade für meine Fraktion ist das sehr alarmierend. Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Inflation insbesondere im Bereich der Energie und der Grundnahrungsmittel so hoch ist, weil gerade diese Bereiche nicht von den Verbraucherinnen und Verbrauchern umgangen werden können. Denn natürlich braucht fast jeder Haushalt Kraftstoffe und Heizenergie – abgesehen von energieautarken Haushalten, von denen es noch nicht so viele gibt. Genauso ist jeder Haushalt auf Grundnahrungsmittel angewiesen. Insbesondere Bezieherinnen und Bezieher kleiner Einkommen werden hier proportional stärker belastet als Menschen mit höheren Einkommen. Genau deshalb ist es jetzt wichtig, über geeignete Maßnahmen für Bezieherinnen und Bezieher von kleineren Einkommen zu diskutieren, konkrete Maßnahmen vorzuschlagen und diese dann auch umzusetzen. Man kann nicht oft genug darauf hinweisen: Diese Bundesregierung hat bereits ein Entlastungspaket in einer Größenordnung von mehr als 30 Milliarden Euro beschlossen und umgesetzt. ({0}) Es handelt sich hierbei um umfangreiche Entlastungsmaßnahmen, die zum Teil noch gar nicht wirken können, weil sie erst in einigen Wochen in die Umsetzung gehen, zum Beispiel die Steuerfreibeträge oder auch die Heizkostenzuschüsse, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aus dem Entlastungspaket werden in der Öffentlichkeit eigentlich immer nur zwei Maßnahmen diskutiert, nämlich das 9‑Euro-Ticket und der Tankrabatt. Beim 9‑Euro-Ticket, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man sagen: Das ist ein voller Erfolg. Das trägt dazu bei, dass viele Menschen, die zum Beispiel täglich zur Arbeit pendeln und sonst teure Monatsfahrkarten kaufen müssten, deutlich entlastet werden. Beim Tankrabatt dagegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, merken wir deutlich, wie schwierig es ist, dass die beabsichtigte Steuersenkung – denn der Tankrabatt ist nichts anderes als eine Steuersenkung – auch tatsächlich bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt. Das Gleiche kann uns übrigens auch bei einer Mehrwertsteuersenkung für Grundnahrungsmittel passieren. ({1}) Wer garantiert uns denn, dass das Landbrot, das momentan 4 Euro kostet, nach einer Mehrwertsteuersenkung zukünftig wirklich nur 3,74 Euro kostet? Das funktioniert vielleicht noch beim Bäcker um die Ecke, weil er ehrlich ist und seinen Vorteil an seine Kunden weitergibt. Aber im Supermarktregal? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können doch relativ sicher sein, dass die Handelsketten die Spanne dieser Preissenkung nicht an die Kundinnen und Kunden weitergeben. ({2}) Angesicht der Preissteigerungen in Deutschland hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil aber auch schon auf die Grenzen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten hingewiesen. Er hat deutlich gemacht: Der Staat kann nicht alles für alle ausgleichen. – Und, meine Damen und Herren, ich denke, wir müssen auch deutlich machen, wo die Grenzen der Finanzierbarkeit liegen. ({3}) Sie können sich aber sicher sein, dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen intensiv darüber beraten werden, welche weiteren Maßnahmen wir in den kommenden Wochen neben den bereits gefassten Beschlüssen zum Entlastungspaket im Kampf gegen die Preissteigerung umsetzen können. Eines ist aber auch klar: Wir sollten nicht die Menschen entlasten, die ein sehr hohes Einkommen haben; denn die Spielräume des Haushaltes sind eindeutig begrenzt. Das wäre aber bei einer Mehrwertsteuersenkung genau der Fall; damit würden wir auch die Menschen mit hohem Einkommen entlasten, und das wäre nicht zielgerichtet. ({4}) Wir sind dabei, zu sondieren, wie man Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen gezielt entlasten kann. Oder anders ausgedrückt – das hat Hubertus Heil auch gesagt –: Wir müssen die Folgen der Preisentwicklung gezielt für die Menschen abfedern, für die sie eine wirklich existenzielle Bedrohung ist. Das ist das wichtigste Ziel. ({5}) Ich bin sehr froh, dass unser Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Juli zu einer konzertierten Aktion eingeladen hat, um mit Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Politik darüber zu beraten, wie man konkrete Verabredungen treffen kann bzw. was die jeweiligen Partner dazu beitragen können, um auf die Preisentwicklung Einfluss zu nehmen. Bei diesem Treffen mit dem Ziel einer konzertierten Aktion soll gemeinsam über geeignete Maßnahmen gesprochen werden. Wir wissen nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie lange diese Inflation tatsächlich noch anhalten wird. Aber wir hoffen natürlich, dass die Preissteigerungsrate wieder auf das von der EZB angestrebte Normalmaß von rund 2 Prozent sinken wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Frauke Heiligenstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005077, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eines ist aber klar: Da die Preise für die Energie weiterhin auf einem hohen Niveau bleiben, müssen wir darüber nachdenken, wie wir die kleinen und mittleren Einkommen entlasten können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Da einige Kolleginnen und Kollegen die Redezeit etwas ausgedehnt haben: Es ist immer gut, an die zu denken, die heute Nacht noch hier sitzen werden. ({0}) Ich weiß nicht, ob Sie das dann sein werden. Das geht nicht an Sie konkret, sondern auch an einige andere. Ich habe aber sozusagen noch eine Altlast hier. Frau Magwas hatte das Protokoll angefordert. Herr Brandes hat vorhin in einer Debatte von einem „politisch gleichgeschalteten Block der schon länger hier Sitzenden“ geredet. Ich erteile Ihnen dafür wegen bewussten Andockens an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, die einem demokratischen Parlament unwürdig sind, einen Ordnungsruf. ({1}) Ich gebe das Wort dem Kollegen Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ganz Deutschland entwickelt sich die Inflation zu einer der zentralen Herausforderungen, und zwar für alle am Markt Beteiligten: seien es die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch der deutsche Mittelstand. Die Inflationsentwicklung in diesem Jahr ist erschreckend: 5,1 Prozent im Februar, 7,3 Prozent im März, 7,4 Prozent im April und 7,9 Prozent im Mai. Das ist die höchste Inflation – der Kollege Güntzler hat es gesagt – seit der Ölkrise 1973/74 in unserem Land. Die Energiepreise sind um 38 Prozent gestiegen und die Lebensmittelpreise um 11,1 Prozent. Viele Menschen können sich das normale Leben nicht mehr leisten und haben Angst vor Abstieg und Wohlstandsverlust. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsparteien, brauchen wir eine wirksame Initiative gegen Inflation und kein Stückwerk, so wie Sie das derzeit praktizieren. Denn Ihre Maßnahmen kommen bei der Bevölkerung nicht an. ({0}) Wir können etwas tun, aber Sie müssen es halt angehen. Wenn Sie, liebe Frau Kollegin Beck, sagen, die Situation ist halt so, sage ich Ihnen: Sie haben es in der Hand. Machen Sie es, ({1}) nehmen Sie als Regierung die Herausforderung an, und bringen Sie entsprechenden Maßnahmen voran! ({2}) Es braucht ein sinnvolles, aber auch ideologiefreies Konzept. Wir haben hier schon einige Maßnahmen vorgestellt, die Sie aber bei jeder Debatte immer wieder abgelehnt haben. Erstens. Auf nationaler Ebene müssen wir dringend zu einem ausgeglichenen Haushalt ohne Schulden zurückkehren. ({3}) Ihre derzeitige Rekordschuldenpolitik mit 300 Milliarden Euro Schulden ist erschreckend. Das sind mehr Schulden, als für das wichtige Projekt der deutschen Einheit aufgenommen wurden. Die Linken fordern ja sogar, in den nächsten Jahren weitere Schulden zu machen, lieber Kollege Görke. ({4}) Auf europäischer Ebene – zweitens – muss die Europäische Zentralbank die Niedrigzinspolitik und die Anleihenkäufe umgehend stoppen. Die aktuellen Diskussionen um weitere Anleihenkäufe sind falsch. Sie fordern allerdings zum Teil im Parlament sogar eine Vergemeinschaftung von Schulden. Dazu gehört aber auch – drittens – eine Senkung der Steuer auf Energieprodukte auf das europäische Mindestmaß. Das tun Sie bei der Stromsteuer nicht; da könnten Sie sie deutlich reduzieren. ({5}) Wir haben es beantragt, Sie haben es abgelehnt. ({6}) Viertens. Während Sie Hartz-IV-Sanktionen abschaffen, belasten Sie diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen. ({7}) Der Kollege Güntzler hat es ja gesagt: Bei der Entfernungspauschale müssten wir dringend eine Erhöhung ab dem ersten Kilometer vornehmen. – Wir werden das beantragen; wahrscheinlich werden Sie es auch wieder ablehnen. ({8}) Fünftens. Das Energiegeld – Sie haben es ja vorhin angesprochen, Frau Kollegin Beck – haben Sie munter verteilt, aber nicht an diejenigen, die es brauchen. Der Minister bekommt es, aber der Student bekommt es nicht, ({9}) der Rentner bekommt es nicht, und Familien mit Elterngeldbezug, also mit kleinen Kindern, bekommen es auch nicht. Aber das wären diejenigen, die es brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Ein sechster Punkt – da sollten die Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Grünen, ihre ideologische Brille ablegen –: ({11}) Sie wissen, dass die Energiepreise steigen. Sie könnten jedoch eine Preisstabilität erreichen, wenn Sie die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängern würden. Aber Sie tun es nicht. ({12}) Das müssen Sie uns erklären. CO2 ist Ihnen in der Diskussion anscheinend egal. Sie hätten es in der Hand; sie handeln aber aus ideologischen Gründen nicht. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bereich der Steuern müssen wir – siebtens – die kalte Progression abschaffen. Da warten Sie auch ein bisschen ab. Die kleinen und mittleren Einkommen werden eben nicht entlastet, sondern durch die Inflation sogar durch die jetzige Bundesregierung noch weiter belastet. Und – wir haben das in der letzten Periode ja ausgiebig schon mit den Kollegen der SPD diskutiert; da haben Sie es abgelehnt – es braucht eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung, weil wir nur mit Wachstum aus der Krise kommen. Wenn man jetzt die Reden von Rot, von Rot und von Grün hört, in denen gesagt wird: „Wir brauchen eine Übergewinnsteuer“, dann heizt das die Inflation noch weiter an und belastet den Mittelstand noch mehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind falsche Maßnahmen, die Sie hier vorschlagen. ({14}) Wir brauchen übrigens auch eine Preisgleitklausel bei öffentlichen Investitionen, weil die Unternehmer derzeit überhaupt keine öffentlichen Investitionen machen; denn es ist ein Riesenkostenrisiko für die Unternehmer. Auch da müssen wir etwas tun. Natürlich müssen wir auch über die Entwicklung der Lebensmittelpreise bei Grundnahrungsmitteln sprechen, um die stabil zu halten. Sie haben richtigerweise das Beispiel gebracht: Wenn man den Preis für ein Pfund Butter verdoppelt, verdoppelt sich auch die Mehrwertsteuereinnahme für den deutschen Staat. Und deswegen müssen wir das, was der Staat mehr einnimmt, auch wieder an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben. Was aber nicht dazu gehört – das ist der Fehler in Ihrem Antrag –, ist, dass man dann im Staat gleichzeitig eine Preisüberwachungsstelle und eine unglaubliche Bürokratie einführt. Vielleicht kommt es ja dann wirklich dazu, dass man am Schluss die Preise vorgibt. Die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft ist, dass sich die Preise dezentral bilden und nicht von einem Amt vorgegeben werden. Deswegen können wir Ihrem Antrag auch nicht folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Also: Es ist die oberste Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land nicht ärmer werden. Umverteilung schafft keinen Wohlstand, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Sie haben es in der Hand, Maßnahmen anzugehen. Es gibt ein Bündel von Maßnahmen, die nachweislich die Inflation senken. Sie müssen es aber einfach tun. Nur Sonntagsreden zu halten oder dem Bundesfinanzministerium – Herr Lindner ist jetzt gegangen bei dieser wichtigen Debatte – ein Papier vorzulegen und in der tatsächlichen Politik genau das Gegenteil von dem zu machen, ist auch ein Gesicht dieser Bundesregierung. Sie tun wesentlich zu wenig. Sie treiben die Inflation, und Sie machen die Menschen in unserem Land ärmer. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Kennen Sie Brehms Tierleben? Ja, das ist, wenn man Geschichten erzählt, Herr Kollege, und hier großartig sagt: Alle anderen sind Ideologen. – Die Nummer liebe ich. Dann wird behauptet, die Studentinnen und Studenten würden keine Energiepreispauschale bekommen. 75 Prozent der Studentinnen und Studenten haben einen Minijob und bekommen deshalb eine Energiepreispauschale. So viel zu Brehms Tierleben. ({0}) Ich will aber jetzt etwas zum Antrag der Linken sagen. Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit dem Thema: Ernährung, Preise, Mehrwertsteuer usw. Jetzt muss ich doch leider ganz verhalten feststellen: Ein bisschen populistisch ist der Antrag schon, so kurz wie populistisch. Zwei kleine Forderungen und am Ende dann doch ein bisschen unterkomplex. Warum? Weil wir es doch mit zwei Punkten zu tun haben. ({1}) – Es sind Vorschläge, natürlich. ({2}) – Ja, ist gut. Danke, Gesine, mache ich. ({3}) Wir haben es doch mit zwei Aufgaben zu tun. Der erste Punkt ist, dass wir in der akuten Situation, was Sie ja eigentlich auch wollen, den Ärmsten der Armen, den Ärmeren finanziell helfen. Vor einigen Minuten hat in einer anderen Debatte Andreas Audretsch sehr genau – und andere auch – vorgerechnet, was die Entlastungspakete von uns bringen: 30 Milliarden Euro. Es gab auch andere Rechnungen. Wenn man mal alles einbezieht, kommen wir teilweise auf eine Entlastung von bis zu 100 Prozent. Und das alles wird in den nächsten Tagen wirken, zum Beispiel zum 1. Juli, meine Damen und Herren. Das ist der wichtige Punkt. Der Kern dabei ist, dass man die Maßnahmen zielgenau macht. Man muss sich bei den Maßnahmen auch überlegen, wie sie denn bei den Ärmeren, bei den Bezieherinnen und Beziehern von Sozialleistungen oder von geringeren Einkommen ankommen, meine Damen und Herren. Deshalb ist ein 9‑Euro-Ticket – auch wenn es nur drei Monate gilt – eine erhöhte Grundsicherung. Das sind die Punkte, damit die Maßnahmen zielgenau ankommen und nicht mit einer Gießkanne ausgeschüttet werden. ({4}) Zweiter Punkt. Ich bin jetzt vielleicht diejenige, die zu dem Thema „Ernährung, Obst, Gemüse“ inhaltlich Stellung nimmt. Sie sprechen immer von Grundnahrungsmitteln, was noch mehr ist. Ich will das aufnehmen. Wenn Sie darüber reden, dass die Ärmsten der Armen sich doch mehr von der gesunden Ernährung wie Obst und Gemüse leisten können müssen – das fordern wir schon lange –, dann müssen Sie sich aber auch genauer angucken, welche Maßnahme wie wirkt. Ich habe schon lange – wie auch viele bei uns – über die Mehrwertsteuersenkung für Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte laut nachgedacht. Die würde, wenn man sie so einengt, 2 Milliarden Euro kosten. Natürlich ist nicht 100-prozentig absicherbar, dass sie auch umgesetzt wird. Im Jahr 2020 wurde eine Mehrwertsteuersenkung schon einmal umgesetzt und umgelegt und kam den Kundinnen und Kunden zugute. Das EU-Recht erlaubt das. Der Wissenschaftliche Beirat des Agrarministeriums hat das 2020 auch gefordert und hat das einmal durchgerechnet: Wenn man zwei Prozentpunkte runterginge, würde das 1 Prozent Nachfragesteigerung bedeuten. Wenn wir das weiterrechnen und die 7 Prozent Mehrwertsteuer ganz wegnehmen, dann würde das zu einer Nachfragesteigerung von 3,5 Prozent führen. Das sind 13 Gramm mehr, das heißt, 379 Gramm Obst und Gemüse würden gegessen. Das ist aber nur ein Drittel der Verzehrempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. – Ich habe diese Rechenübung gemacht, meine Damen und Herren. ({5}) Daran merken wir also, dass diese Maßnahme gar nicht ausreichen würde. Ich will das aber nicht veralbern, sondern ich will Ihnen sagen, dass wir auf dem Weg sind, um akut für die Ärmsten der Armen etwas zu tun. Für die Frage, was grundsätzlich zu tun ist, braucht es mehr als diese Mehrwertsteuerdebatte, meine Damen und Herren. Ernährungsbedingte Erkrankungen gehören auch zum Thema „Ernährung“ in der Armut. 35 Milliarden Euro pro Jahr werden ausgegeben in Deutschland für die Behandlung von ernährungsbedingten Erkrankungen. Und deshalb brauchen wir ein ganzes Paket. Wir müssen über die Steuern diskutieren, über die Gemeinschaftsverpflegung. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesländer – gerne auch Thüringen – die Kinderernährung kostenlos machen und eine gute Ernährung bieten. ({6}) Wir müssen an Kinder gerichtete Werbung für Zuckerbomben eindämmen. Wir müssen Subventionen verteilen. Und ich bin froh – das ist mein letzter Punkt, Frau Präsidentin –, dass die Verbraucherministerkonferenz uns all dieses als Aufgabe mitgegeben hat und gesagt hat, dass sie froh ist, dass die Bundesregierung eine umfassende Ernährungsstrategie bis nächstes Jahr erarbeiten will. In Ziffer 49 des Beschlusses steht: –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– bitte zielgenau mittlere und kleinere Einkommen entlasten. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein, das kann nicht sein. Ich kann Ihnen genau – wir haben es hier aufgeschrieben – zeigen, bei wem wann hier ermahnt worden ist. Ich bin bei Frau Künast immer besonders genau, weil wir uns schon länger kennen. ({0}) – Das weiß ich. Jetzt aber hat der Kollege Robert Farle das Wort für die AfD-Fraktion. ({1})

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Linken zur Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel ({0}) ist meines Erachtens im Grundsatz richtig; denn er wiederholt auch eine Forderung der AfD, die schon am 6. April in diesen Bundestag eingebracht worden ist. Mit der Änderung der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie vom 5. April wäre die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel schon damals rechtlich einwandfrei umsetzbar gewesen. ({1}) Da man mit Sachargumenten bei der Ampelkoalition nichts durchbringen kann, ist unser damaliger Antrag nicht angenommen worden. Das wird auch Ihnen bevorstehen. Ich muss aber sagen: Dieser Antrag ist zielgenau, weil diese ganzen Gegenargumente nur Scheinargumente sind. Um zu wissen, welche Zielgruppen Sie erreichen, gehen Sie bitte einfach in die Supermärkte Ihrer Region, und dann schauen Sie einmal, wie viel Leute mittlerweile mit jedem Cent rechnen und wie viel Ware wieder zurückgebracht wird, weil man ein paar Euro über dem liegt, was man von zu Hause noch mitbringen konnte. Wenn Sie das nicht tun, dann machen Sie sich schuldig, hier über Dinge zu reden und zu sprechen, die Sie nicht verfolgen. ({2}) Die galoppierende Inflation und die Preissteigerungen in sämtlichen Lebensbereichen gab es schon vor dem Ukrainekonflikt. Die Ursachen bestehen vor allem in der exorbitanten Schuldenmacherei dieser Koalition, die jetzt regiert, und der Vorgängerkoalition, und darin, mit der Druckerpresse Geld in die Welt zu setzen. Die zweite Hauptursache ist die EZB-Nullzinspolitik und die ständig steigende Geldmengeninflation zur Rettung der südlichen EU-Pleitestaaten, die ständig am Tropf der EU hängen. Seit 2020 hat die EZB die Geldmenge um über 20 Prozent erhöht, immer weitere Anleihenkäufe getätigt und damit vieles mit Geld geflutet. Im Endergebnis haben wir jetzt eine galoppierende Inflation bekommen. Dazu kommen die Probleme durch den Corona-Lockdown. Die globalen Lieferketten wurden vielfach zerstört. Ein Weiteres, das man unbedingt erwähnen muss, auch in Richtung der Grünen: Es geht einfach nicht! Wir haben in Deutschland mit unserem Alleingang wahrscheinlich die dümmste Energiepolitik in der ganzen Welt, was uns die höchsten Strompreise weltweit beschert hat. ({3}) Und Sie stellen sich hier groß hin und sagen: Wir wollen aus Russland kein billiges Gas kaufen. – Sie wollen teures Gas aus den USA importieren; wunderbar. Die Abhängigkeit ist wieder da, und bei den Arabern das Gleiche. Das Ende vom Lied ist: Der Mensch kann sein Auto nicht mehr finanzieren, er kann das Fahren und die Mobilität nicht mehr finanzieren. Und dann schmeißen Sie in anderem Zusammenhang noch Milliarden raus; da müssen Sie nämlich auch bei den Steuern wieder was machen usw. Weitere Ursache der Inflation: Ihre CO2-Steuer. Das hat mein Kollege Gottschalk schon erläutert. Wenn Sie es nicht wissen oder glauben, dann schauen Sie einfach mal in die Tabellen. Das ist die dümmste Sanktionspolitik, die wir zurzeit betreiben: dass in Russland der Rubel rollt. Was soll das denn? Die sollen doch sanktioniert werden. Jetzt freuen die sich über die steigenden Energiepreise, die Sie selbst mit herbeiführen. Und: Die Energie in unserem Land machen Sie immer knapper, und das führt zur Mangelwirtschaft – Kohle weg, Atom weg. Sie gehen hier nicht ran an die wirklich notwendigen Maßnahmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme damit zum Schluss. – 10 Milliarden Euro sind nach Indien gegeben worden. Die kaufen das russische Öl billig ein –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– und verkaufen es jetzt an uns, damit wir im Winter vielleicht auch noch genug Öl haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Robert Farle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005053, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bedanke mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und sage Ihnen: Beschließen Sie was Sinnvolles, und das ist die Senkung der Lebensmittelpreise. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Maximilian Mordhorst spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aus Moskau zurück nach Berlin. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann auch im Angesicht der Anträge, die vorliegen, nur sehr dazu raten, mehr Konsequenz im Steuersystem an den Tag zu legen. Wir haben schon darüber gesprochen: Das Mehrwertsteuersystem – da kann man jeden Experten fragen – ist nicht konsequent, und wir sollten das mal grundsätzlich angehen. Ich wundere mich aber schon über die eine oder andere Aussage, die sowohl von der Union als auch von der Linkspartei kommt. Einerseits wird gesagt, die Energiesteuersenkung, wie wir sie beschlossen haben, komme nicht an. Die Union möchte dann die Stromsteuer senken; die Senkung müsste genauso weitergegeben werden. Und Sie von der Linkspartei wollen die Mehrwertsteuer senken und könnten damit nach Ihrer eigenen Argumentation den Lebensmittelkonzernen in die Hände spielen. Also doch bitte etwas mehr Ehrlichkeit, vielleicht aufs ifo-Institut verlassen – die Energiesteuersenkung kommt nämlich an –, und dann können wir auch mit mehr Ernsthaftigkeit über die Anträge diskutieren, die Sie hier vorgelegt haben. ({0}) Ich wundere mich über ein Zweites. Ich kann gut verstehen, dass man jetzt sagt: Na ja, man sollte von den 7 Prozent auf 0 Prozent Mehrwertsteuer gehen, zumindest zeitweise. – Ich als Liberaler finde Steuersenkungen prinzipiell immer gut. Aber wenn man Ihren Antrag genau liest, dann stellt man fest, dass Sie dort Ihren eigentlichen Willen offenbaren – das wurde auch schon von den Kolleginnen und Kollegen erwähnt –: Sie wollen nämlich nicht nur die Mehrwertsteuer senken, Sie wollen auch eine Preisbeobachtungsstelle. Das bedeutet im Umkehrschluss staatliche Aufsicht über Preise. Und das bedeutet übrigens nicht nur mehr sozialistische Ader im Staat, mehr Aufsicht; es bedeutet auch mehr Personal im öffentlichen Dienst, es bedeutet mehr Ausgaben. Auch das ist wieder ein Inflationstreiber und deswegen auf gar keinen Fall die Antwort auf die Frage, was wir machen können und müssen, um den steigenden Lebensmittelpreisen entgegenzuwirken. ({1}) Ich bin deswegen überzeugt, dass die bisherigen Entlastungen, die wir vorgenommen haben, richtig sind. In Richtung der Unionsfraktion: Sie fragen immer wieder: „Wann kommen die Entlastungen?“, und sagen, sie würden nicht ankommen. Einige haben wir schon auf den Weg gebracht, andere gelten erst mit der Steuererklärung, wiederum andere wie die Energiepauschale kommen im September. Dann zu sagen, die Entlastungen würden nicht ankommen, obwohl sie noch gar nicht wirken können, das ergibt keinen Sinn. Damit lügen Sie die Menschen auch ein Stück weit an, weil es schlicht und ergreifend nicht stimmt. Wir haben das Ganze schon beschlossen und auf den Weg gebracht; es muss aber erst mal wirken können. Ich glaube, das zu sagen, wäre ehrlicher den Menschen gegenüber. Entsprechend bitte ich Sie, den Weg, den wir eingeschlagen haben, weiter zu unterstützen, weiterhin dafür zu sorgen, dass wir mehr Konstanz in unser Steuersystem bringen. Gerne freue ich mich über eine Diskussion, wie auch von den Kollegen Güntzler und Brehm angekündigt, darüber, wie wir Verbrauchsteuern, Verkehrsteuern konsequenter sortieren und ein besseres System auf den Weg bringen. Man kennt das alles – Kaviar: 7 Prozent, Babywindeln: 19 Prozent. Ich glaube, für diese Diskussion sind auch viele andere Fraktionen offen, und es wäre ein richtiger Impuls, den wir aus Ihrem schlechten Antrag gerne mitnehmen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Armand Zorn hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Armand Zorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben bereits mehrfach hier im Plenum sowohl über die Mehrwertsteuer als auch über die Inflation gesprochen, zuletzt heute Vormittag. Es freut mich sehr, dass wir diese Diskussion weiterführen können. Denn die steigenden Lebensmittelpreise, die wir gerade sehen, machen es uns Politikerinnen und Politikern zur Aufgabe, dass es unsere oberste Priorität sein muss, die Menschen zu entlasten. Deswegen ist es auch richtig, dass wir heute erneut darüber diskutieren. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den vielen verschiedenen Maßnahmen, die wir hier auch kontrovers diskutieren, müssen wir schon unterscheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen Maßnahmen, die wir jetzt, die wir sofort brauchen, um Bürgerinnen und Bürger zu entlasten, und strukturellen Maßnahmen, die wir brauchen, um die Inflation zu bekämpfen. Beim Ersteren ist es ja nicht so, dass wir als Ampelkoalition bis jetzt nicht geliefert hätten. Wir haben umfangsreiche Entlastungspakete verabschiedet, die vor allem Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen gezielt erreichen werden. Angesichts über 16 Millionen verkaufter 9‑Euro-Tickets – dazu kommen noch über 10 Millionen Menschen mit bestehenden Abos, die sich auch solche Tickets gekauft haben – kann man sagen, dass allein das 9‑Euro-Ticket eine hervorragende Maßnahme war und dass es bei all den Menschen ankommt und bereits jetzt schon wirkt. ({0}) Weitere Maßnahmen sind die Abschaffung der EEG-Umlage, der erhöhte Grundfreibetrag, der Heizkostenzuschuss; meine Kolleginnen und Kollegen haben das vorhin schon erwähnt. Diese Maßnahmen werden gezielt wirken. Ja, wir wissen, es gibt den Tankrabatt. ({1}) Darüber wird ja auch sehr kontrovers diskutiert. Der kommt nicht an; das muss man hier auch selbstkritisch sagen. Aber die Entlastungspakete, die wir auf den Weg gebracht haben, sind ja mehr als nur der Tankrabatt. Diese Maßnahmen werden gezielt wirken, und sie werden die Menschen erreichen, und zwar genau die, die es auch brauchen. ({2}) Aber wenn es jetzt darum geht, strukturell die Inflation zu bekämpfen, wissen wir, dass die Europäische Zentralbank hier in der Verantwortung ist, und sie wird ihren Teil dazu beitragen; das wissen wir. Aber auch wir als Parlament können einen Beitrag dazu leisten. Um aber die Inflation strukturell zu bekämpfen, müssen wir die Ursachen verstehen. Die aktuelle Inflation ist nicht eine Inflation wie aus dem Wirtschaftslehrbuch. Es geht nicht um eine weitflächig überhitzte Wirtschaft, die sozusagen durch das Erhöhen der Zinsen und die Reduktion der Geldmenge so einfach wieder gebremst werden kann. Für die Inflation gibt es vor allem zwei Hauptursachen: Das ist vor allem der Schock über die Energiepreise durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das sind aber auch die Lieferengpässe, die unterbrochenen Lieferketten, die wir als Folgen der Covid-Pandemie und auch als Folgen des russischen Angriffskrieges sehen. Beides führt dazu, dass die Preise für viele Produkte ansteigen: auf der einen Seite für Unternehmen in der Produktion, auch bei den Lebensmitteln, und auf der anderen Seite für Verbraucherinnen und Verbraucher in den Supermärkten und an der Tankstelle. Daher ist es hilfreich, jetzt nicht Konsum und Investitionen bremsen zu wollen; denn diese sind in den letzten Wochen nicht gestiegen. Im Gegenteil: Im letzten Monat konnten wir einen Rückgang des Konsums beobachten. Deswegen kann das nicht die Lösung sein, um die Inflation zu bekämpfen. Vielmehr brauchen wir strukturelle Maßnahmen, um die speziellen Ursachen der Inflation zu bekämpfen und die Wirtschaft zu unterstützen: Erstens. Um den Schock über die Energiepreise zu reduzieren, müssen wir unsere Abhängigkeit von russischen fossilen Rohstoffen beseitigen. Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv vorantreiben. Das haben wir uns als Ampelkoalition vorgenommen, und das werden wir tun. ({3}) Zweitens. Es braucht aber auch Maßnahmen, um die Engpässe dauerhaft zu beseitigen. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir unsere Lieferketten diversifizieren müssen, dazu gehört, dass wir mehr in Infrastruktur investieren müssen, dazu gehört aber auch, dass wir Maßnahmen zur Gewinnung von Fachkräften brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Ampelkoalition haben hier einen ganz klaren Fokus: Wir wollen die Menschen sofort unterstützen, insbesondere die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, aber auch die strukturell notwendigen Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Inflation zu bekämpfen. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren hier auf den Rängen und an den Übertragungsgeräten! Ganz offensichtlich sind wir hier uns weitestgehend zumindest in drei Punkten einig. Zum einen erkennen wir eine allgemeine Inflation auf Rekordniveau. An der Stelle würde ich gerne ergänzen, dass der sehr kurzfristige steile Anstieg der Inflation besonders kritisch ist, weil Anpassungsmaßnahmen dadurch schwieriger sind. Wir sind uns, zweitens, einig, dass von der Inflation Unternehmen und private Haushalte unterschiedlich stark betroffen sind, einige heftigst. Und wir sind uns, drittens, offensichtlich einig, dass schnell etwas unternommen werden muss – das hatten auch Sie, Herr Görke, und Sie, Frau Beck, ausgeführt –; allerdings müssen diese Maßnahmen gezielt und wirksam sein, und sie sollten abgestimmt und in ein zusammenhängendes Konzept eingebunden sein. Daher müssen wir uns etwas umfassender Gedanken machen – so habe ich auch Ihren Beitrag, Herr Zorn, gerade verstanden –, wie wir der Inflation begegnen können. Das heißt, wir müssen zumindest zwischen Maßnahmen zur Abmilderung der akuten Folgen der Inflation für einzelne Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen auf der einen Seite und auf der anderen Seite Maßnahmen, die die Ursachen der Inflation bekämpfen, unterscheiden. ({0}) Ich halte das für eine sehr wichtige Unterscheidung. In Deutschland haben uns weniger die erwarteten Nachholeffekte im Anschluss an die Coronapandemie erreicht als Angebotsschocks. Wenn wir auf diese reagieren wollen, dann müssen wir tendenziell mit einer Angebotspolitik antworten. Das wäre unser Vorschlag als Union. Wir müssen uns darüber klar sein, meine Damen und Herren, dass günstige Energiequellen, internationale Wirtschaftsbeziehungen und Arbeitsteilung uns viele Jahre lang ein hohes Wohlstandsniveau ermöglicht haben, wir aber wenig diversifiziert haben und damit abhängig waren. Und das fällt uns jetzt auf die Füße. Wir stellen Lieferengpässe und Preissteigerungen fest. Ich befürchte, dass wir in den nächsten Monaten auch eine sehr angespannte allgemeine wirtschaftliche Situation feststellen werden; darauf müssen wir uns vorbereiten. Was können wir gegen Inflation tun? Einige Punkte sind angesprochen worden. Was können wir grundsätzlich gegen Inflation tun, etwa im Bereich der Handels-, Energie- und Wirtschaftspolitik? Da möchte ich nur kurz auf die vielen Vorschläge, die wir seitens der Union schon gemacht haben, verweisen. Ich kann nach wie vor nicht erkennen, warum wir uns nicht um neue Handelsbeziehungen bemühen, etwa durch den Abschluss eines Vertrags mit Kanada. ({1}) Zweitens kann ich nicht verstehen, warum wir nicht mehr Engagement an den Tag legen, um Energie aus anderen Quellen zu beschaffen und noch mehr Energie hier zu generieren; wir haben jüngst in unserem Antrag aufgezeigt, wie das gehen könnte. Und drittens ist es wichtig, glaube ich, angebotspolitisch die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln zu verbessern. Das heißt, wir brauchen Bürokratieabbau und beschleunigte Genehmigungsverfahren, Unternehmungsgründungen müssen gefördert werden, und ein wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht muss realisiert werden. Dazu haben wir viele Vorschläge gemacht. Das sind Beiträge, um angebotspolitisch die Rahmenbedingungen zu verbessern, um diese Engpässe aufzuheben. Dafür brauchen wir mehr Unterstützung. Das erwarten wir von der Ampel, und da erkennen wir zu wenig Engagement. ({2}) Im Bereich der Fiskalpolitik sollten wir uns um etwas Zurückhaltung bemühen. Ausgaben des Staates zur Förderung der Konjunktur können preissteigernd wirken. Was wir für richtig und wichtig halten – auch die Kollegen haben es gerade gefordert –, ist eine verlässliche und konsequente Anpassung des Einkommensteuertarifs. Die brauchen wir endlich; da warten wir immer noch auf ein Handeln der Ampel. ({3}) Auf geldpolitische Möglichkeiten möchte ich an dieser Stelle nur ganz kurz hinweisen; Herr Zorn, Sie hatten einige Anmerkungen dazu gemacht. Wir wissen alle: Die Zinsen zu erhöhen, könnte die Sparneigung befördern, könnte den Außenwert des Euro steigern. Das wäre zu wünschen. Aber wir wissen auch um die Risiken in den Büchern der Kreditgeber, und wir wissen auch um die nachteiligen Effekte bei der Investitionsbereitschaft. Wir haben uns als Union wiederholt über die Geldpolitik der EZB in den letzten Jahren geärgert. Sie hat sich in eine Situation hineinmanövriert, in der sie jetzt nicht mehr effizient handeln kann. Die einzige Möglichkeit ist, langsam, in kalkulierbaren Schritten die Zinsen zu erhöhen, damit die Geldpolitik endlich wieder berechenbar und glaubwürdig wird. Das dämmt die Inflationserwartungen. Das ist die Maßnahme, das ist die Politik, die wir von der EZB dringend einfordern. ({4}) Meine Damen und Herren, damit bin ich bei dem Punkt, wie wir den akuten Belastungen der Haushalte und auch der Unternehmen begegnen können. Dazu haben wir hier zwei Vorschläge vorliegen, auf die schon ausführlich eingegangen worden ist. Allein der Titel des Antrags der AfD vom 16. März 2022 – „… Steuersenkungen als Reaktion auf die Inflation …“ – lässt erkennen: Hier geht es gar nicht um Ursachenanalyse, sondern nur um irgendeine Antwort. Wir haben darüber diskutiert: Was ist mit den Zeiträumen? Was ist mit der Zielgruppe? Was ist mit einem Finanzierungsvorschlag? – Was bleibt, ist eine unterstützenswerte Motivation, aber ansonsten nichts. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab. In dem Vorschlag der Linken – auch darauf ist bereits eingegangen worden – geht es um die akute Milderung der Auswirkungen der Inflation. Über die Definition der Grundnahrungsmittel werden wir streiten müssen. Ich freue mich, dass die Kollegen schon signalisiert haben, dass sie das Umsatzsteuerrecht noch mal auf den Kopf stellen wollen. Über die Wirkung haben wir diskutiert. Was ich überhaupt nicht verstehen kann – hierauf haben einige vorherige Redner, insbesondere Herr Güntzler, hingewiesen –, ist, dass gerade Die Linke einen Antrag stellt, der am Ende offensichtlich gerade den nicht so sehr Betroffenen hilft. – Herr Görke möchte eine Frage stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist eine gute Idee, aber es ist zu spät ({0}) angesichts Ihrer verbliebenen Redezeit, was Herr Görke ja nicht wissen konnte. Insofern würde ich Sie jetzt einfach bitten, vielleicht zu erahnen, was er fragen will, und darauf die Antwort zu geben, und dann ist die Redezeit gänzlich um bzw. überschritten.

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, ich habe Sie jetzt so verstanden, dass ich die Rede zum Ende bringen soll.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das werde ich auch machen. – Herr Görke, wir freuen uns auf die Debatte über Ihren Antrag im Ausschuss; da werden wir das vertiefen. Sie können an den wenigen Bemerkungen schon erkennen: Wenn wir der Inflation wirksam und entschlossen begegnen wollen, dann müssen wir die Ursachen bekämpfen und die akuten Belastungen abmildern, und zwar in einem abgestimmten Konzept. Dazu leistet der Antrag der Linken keinen zufriedenstellenden Beitrag. Wir werden ihn deswegen vermutlich ablehnen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dieter Janecek ist jetzt der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Dr. Tebroke, ich fand Ihren Beitrag wohltuend differenziert. Dann habe ich aber nachgeschaut und gesehen, dass Sie aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion kommen. Wir hatten ja heute früh schon eine Diskussion zum Thema „Bekämpfung der Inflation“. Dort hatte ich ganz andere Töne gehört, nämlich dass wir einen umfangreichen Nachfragestimulus brauchen würden, um die Inflation zu bekämpfen; da wurde weniger der Angebotsschock, den es ja gibt, betont. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Aussagen und wünsche Ihrer Fraktion ein bisschen mehr von Ihrer Expertise. ({0}) – Ja, die Vielfalt bilden Sie ab, Herr Güntzler; das mag schon sein. Aber Sie müssen sich auch mal entscheiden, was Sie wollen. Sie können ja nicht einfach sagen, Sie bekämpften die Inflation, indem Sie breiten Schichten der Gesellschaft jetzt mehr Kaufkraft geben. Denn wenn Sie ein bisschen in ökonomischer Theorie unterwegs sind, wissen Sie, dass das die Inflation anreizt. Also müssen wir zielgerichtet entlasten. Insofern ist der Vorschlag der Linken, in einem bestimmten Bereich Entlastungen vorzunehmen, natürlich ein ernstzunehmender Vorschlag. Trotzdem glaube ich, gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den Mehrwertsteuerdebatten in den letzten Jahren, dass wir eine umfassende Ordnung brauchen und wir nicht in einzelnen Bereichen Entlastungen herbeiführen sollten. Dass der Vorschlag der Linken natürlich auch gesundheitliche, ernährungspolitische Implikationen hat, das will ich gar nicht kleinreden. Auch in unserer Fraktion wird intensiv darüber diskutiert. Sie haben da einen Punkt getroffen, der auch uns sehr bewegt. Aber ehe wir ein Entlastungspaket beschließen, müssen wir doch fragen: Wodurch wird eigentlich die Inflation getrieben? Kollegin Beck hat es vorhin schon gesagt – in der „Zeit“ gab es eine gute Übersicht dazu –: Die 8 Prozent Inflation ergeben sich zum Großteil aus Preissteigerungen bei Energie, Kraftstoff und Wohnen, und diese Preissteigerungen werden bei den Lebensmitteln, im Kultur- und Gastronomiebereich weitergegeben. Was kann man in einer solchen Situation tun? Den Angebotsschock kann man ja nicht kurzfristig ausgleichen. Ein Stück weit macht das die EZB zwar, indem sie sagt, sie dämpfte die Wirkungen, aber letztlich kann der Angebotsschock nur ausgeglichen werden, indem es wieder mehr Angebot gibt. Das ist nichts, was wir kurzfristig leisten können; da müssen wir ehrlich sein. Also müssen wir dort entlasten, wo es sinnvoll ist. Das haben wir, glaube ich, mit den ersten 30 Milliarden Euro, die wir auf den Weg gebracht haben, gut getan. Wir müssen immer auch im Blick behalten, dass die Maßnahmen dazu beitragen müssen, die Inflation zu bekämpfen und nicht auszuweiten. Das ist, glaube ich, eine Diskussion, die ganz wichtig und schwierig ist. Denn am Ende bringt es uns ja nichts, wenn wir eine Nachfrageexplosion in bestimmten Bereichen haben und dann steigende Preise. ({1}) Abschließend möchte ich sagen: Ich freue mich, dass wir alle gemeinsam um den richtigen Weg ringen. Es ist auch absolut notwendig, dass wir das tun. Heute ist der Tag, an dem die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen wurde. Das bedeutet, dass eine weitere Verschlechterung der Situation eingetreten ist. Wir werden sicherlich nicht das letzte Mal darüber sprechen, sondern auch im Winter noch mal genau gucken müssen: Wo können wir entlasten? Gerade der Themenbereich „Gas- und Heizungskosten“ ruft bei vielen Besorgnis hervor; das kann ich nachvollziehen. Wir sind nicht am Ende der Diskussion, aber es ist notwendig, dass wir uns differenziert und zielgerichtet damit auseinandersetzen. Vielen Dank Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ingo Bodtke ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Ingo Bodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag „Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel aussetzen“ soll einkommensschwache Haushalte unterstützen. Sie argumentieren damit, dass Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen einen größeren Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben als Spitzenverdiener. Allerdings haben Sie außer Acht gelassen, dass in Deutschland die Ausgaben für Grundnahrungsmittel prozentual am verfügbaren Einkommen gar nicht so hoch sind. Die Einspareffekte für den einzelnen Verbraucher – sei er nun reich oder arm – werden nicht signifikant im Geldbeutel der Menschen spürbar sein. Diese Art von Sozialpolitik mit der Gießkanne funktioniert nicht, weil sie nicht zielsicher auf die betreffenden Personengruppen ausgerichtet ist. Eine Mehrwertsteuersenkung für Grundnahrungsmittel verfehlt in diesem Fall ihre Wirkung. Vielmehr sollte eine zielgenaue Entlastung erfolgen, beispielsweise über eine Einkommensteuersenkung. Eine direkte Subventionierung ist ebenfalls treffsicher. Mit den Entlastungspaketen I und II hat die Bundesregierung zielgerichtete Maßnahmen auf den Weg gebracht, um schnell und unbürokratisch zu helfen. ({0}) Die Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro für Sozialhilfeempfänger und der Kinderbonus in Höhe von 100 Euro stellen eine echte Entlastung für einkommensschwache Menschen dar. Ich gebe zu bedenken: Mit dem Aussetzen der Mehrwertsteuer werden auch Gutverdiener entlastet, obwohl sie nicht die Zielgruppe für die Steuerentlastung sind. Fakt ist: Durch eine solche Maßnahme gehen dem Staat Einnahmen in Milliardenhöhe verloren. Angesichts der aktuell angespannten Haushaltslage können wir es uns einfach nicht leisten, auf diese Steuereinnahmen zu verzichten. ({1}) Das eigentliche Ziel einer Entlastung der Geringverdiener wird verfehlt. Sehr geehrte Damen und Herren, unser Außenminister machte jüngst den Vorschlag, die Mehrwertsteuer für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abzuschaffen ({2}) – Entschuldigung, Sie haben recht: der Landwirtschaftsminister –, um damit einkommensschwache Haushalte zu entlasten. ({3}) Bei den Hülsenfrüchten scheint er eines nicht bedacht zu haben: Wer mehr Hülsenfrüchte isst, stößt mehr CO2 aus. ({4}) Im gleichen Atemzug wird das Argument vorgebracht, dass die Menschen dann auch mehr Obst und Gemüse kaufen und damit einen Anreiz erhalten, sich gesünder zu ernähren. Es hört sich für mich so an, als ob die Mehrwertsteuerbefreiung eine Lenkungswirkung in Richtung gesunde Ernährung übernehmen soll.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Ingo Bodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehen Sie mir die Kritik nach, aber für mich ist das nichts anderes als Klientelpolitik, und der Steuerzahler zahlt die Zeche. Zum Glück konnte sich dieser Vorschlag auch in der Koalition nicht durchsetzen. Die beiden Anträge lehnen wir ab. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Wunsch nach einer Zwischenfrage nach dem CO2-Ausstoß war schon am Rand der Redezeit; deswegen konnte ich sie nicht zulassen. Das kann man ja von dort, wo man wünscht, nachzufragen oder eine Intervention zu machen, nicht sehen. Deswegen rufe ich jetzt den Kollegen Michael Schrodi für die SPD-Fraktion auf. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich die zwei Debatten heute zum Thema Inflation und – mit Ausnahme des Kollegen Tebroke – die Reden und Anträge der CDU/CSU dazu zusammenfasse, muss ich festhalten, wie sich die CDU/CSU die Inflationsbekämpfung vorstellt: milliardenschwere Steuersenkungen, Weiterlaufenlassen der Atomkraft, das Ganze ohne neue Schulden oder Steuersenkungen. Selbst die großen Illusionskünstler warten auf die Antwort, wie Friedrich Houdini Merz das alles zusammenbringen will. Sie warten vergeblich auf diese Antwort; die gibt es nämlich nicht. Das ist unseriös, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Was in der Inflation inflationär wird, sind Anträge zur Mehrwertsteuersenkung. Es ist ein Allheilmittel für alle möglichen Lenkungswirkungen. Die Frage ist: Hilft es in dieser Situation wirklich, um die Inflation zu dämpfen und zu bekämpfen? Richtig ist, Herr Görke, dass die Mehrwertsteuer regressiv wirkt. Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen wenden für die Mehrwertsteuer mehr von ihrem Haushaltseinkommen auf als Menschen mit hohen Einkommen. Das gilt dann auch für die Entlastung. Das ist so. Deswegen war ich auch ein Befürworter der Mehrwertsteuersenkung in der Pandemie, als wir einen konjunkturellen Impuls setzen wollten – und das auch geschafft haben in einem anderen Umfeld –; gleichzeitig hat es regressiv gewirkt. Das fand ich damals richtig, das habe ich gefordert, das haben wir gemacht. Das war, glaube ich, auch ganz gut. ({1}) In der jetzigen Situation ist es aber anders. Schauen wir es uns an. Die Beschränkung auf die Grundnahrungsmittel ist gerade schon erwähnt worden. Wie viel Geld geben Menschen, gerade mit kleinen Einkommen, eigentlich für Nahrungsmittel aus? Das hat Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ausgerechnet: 155 Euro im Monat. Die Steuersenkung würde zu einer Entlastung um 10 Euro im Monat führen; wenn man sie nur auf Hülsenfrüchte beschränken würde um 2 Euro im Monat. Das ist nicht die Welt. Das ist ein kleiner Beitrag, aber nicht das, was wirklich gebraucht wird. Hubertus Heil hat gestern zum Thema Mehrwertsteuersenkung eines richtig gesagt: Von dieser Steuerentlastung profitieren auch Bezieher höchster Einkommen, die die Entlastung gar nicht brauchen. Gleichzeitig haben wir Mindereinnahmen in Höhe von 13 Milliarden Euro. Die Senkung ist nicht zielgerichtet. Alleine die 200 Euro, die wir als Einmalzahlung für Grundsicherungsempfänger auf den Weg gebracht haben, entsprechen genau 20 Monaten der Steuersenkung, die Sie fordern. Sie erhalten aber gezielt diejenigen, die sie brauchen. Es ist eine gezieltere Maßnahme, die wir bereits auf den Weg gebracht haben. Deswegen lehnen wir die Mehrwertsteuersenkung ab. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie denn, Herr Kollege, die Zwischenfrage zulassen?

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Schrodi, für die Möglichkeit, die Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben sich ja gerade auf Ulrich Schneider bezogen. Auf den beziehen sich viele in solchen Diskussionen. Nun stellt sich ja die Frage: Welche Forderung nimmt man auf, und welche nimmt man nicht auf? Ich glaube, eine ganz wichtige Forderung vom Paritäter Ulrich Schneider ist, die Regelsätze zu erhöhen, und zwar auf mindestens 600 Euro. Was halten Sie denn von dieser Forderung, und warum wollen Sie die nicht umsetzen? ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Wir werden viele Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Inflation entsprechend den Preissteigerungen abzudämpfen. Bei der Grundsicherung gehören Direktzahlungen dazu, weil sie schnell und wirksam helfen. Deshalb haben wir gesagt: Die Mehrwertsteuersenkung werden wir an der Stelle nicht unterstützen. Mit dem großen Thema, wie wir mit den Regelsätzen umgehen, beschäftigt sich auch diese Koalition. Sie wird diskutieren, dass wir bei Preissteigerungen eine Erhöhung an die Inflationssätze anpassen müssen. Das auf den Weg zu bringen, halte ich für richtig. In dieser Situation reden wir aber über die Frage, wie wir inflationsdämpfend Maßnahmen auf den Weg bringen können. Ihren Vorschlag zur Mehrwertsteuersenkung hat Ulrich Schneider als Gag bezeichnet – das wollte ich Ihnen nur mitgeben –, und auch deswegen lehnen wir Ihren Antrag heute ab. ({0}) An der Stelle muss ich auf Fritz Güntzler und seine Rede zurückkommen, weil er genau mit dieser Argumentation heute die Mehrwertsteuersenkung abgelehnt hat. Er hat gesagt: Das nützt, wenn man die absoluten Zahlen nimmt, mehr den höheren Einkommen. Ich gebe nur einmal eines mit, weil es mein Zwischenruf war: Gilt das nicht auch für die kalte Progression? Ich möchte nur mal darlegen, dass wir uns anschauen müssen, welche Maßnahmen wir auf den Weg bringen, um gezielt die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen tatsächlich zu entlasten. Wir haben in den letzten Jahren immer die kalte Progression vollständig ausgeglichen, weil wir das für richtig gehalten haben. Wir schauen uns gemeinsam den Steuerprogressionsbericht an. Aber wir müssen auch schauen, dass wir gezielte Maßnahmen auf den Weg bringen, die den Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen helfen. Auf die Frage, die ich da gestellt habe, hat Herr Güntzler leider keine Antwort gegeben. Eins noch als Letztes. Der Pferdefuß, den die Mehrwertsteuersenkung hat – das steht auch im Antrag –, ist die Weitergabe, die nicht gesichert ist, die gerade im inflationsgetriebenen Umfeld zu hohen Mitnahmeeffekten führt und dann 13 Milliarden Euro kosten würde, die verpuffen könnten. Das wollen wir nicht; insofern ist das nicht die richtige Maßnahme. Wir werden uns das natürlich noch genauer anschauen. Aber meine Fraktion ist zu dem Schluss gekommen, diesen Antrag abzulehnen. Danke schön. ({1})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir haben mit unserem Wahlvorschlag Malte Kaufmann zur Wahl eines Stellvertreters der Präsidentin aufgestellt. Im Vorfeld hatten wir am 30. Mai entsprechend § 2 Absatz 2 Satz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, der da lautet: „Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden“, versucht, einen anderen Wahlvorschlag einzureichen. Das hat die Verwaltung am 1. Juni zurückgewiesen. Deshalb beantrage ich gemäß der Geschäftsordnung, dass wir weitere Vorschläge machen dürfen und würde dazu gerne das Wort erteilt bekommen.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist tatsächlich aktueller als bei Beantragung gedacht, und zwar dadurch, dass der Bundesminister heute Morgen die Alarmstufe des Notfallplans Gas, die zweite von drei Stufen, ausgelöst hat. Es ist grundsätzlich richtig, das zu tun, wenn die Bundesregierung die Lage so einschätzt, dass dieser Schritt notwendig ist. Es ist tatsächlich doch so, dass die Lage nicht nur bereits jetzt ernst ist angesichts der Drosselungen der Gaslieferungen aus Russland, wie wir gesehen haben, sondern dass sie noch richtig ernst werden kann. Nach allen Szenarien der Bundesnetzagentur für die nächsten Monate hätten wir, selbst wenn es bei den Gaslieferungen von 40 Prozent bliebe, die aktuell noch durch die Pipeline Nord Stream 1 aus Russland kommen, spätestens im Februar nicht genug Gas, um die deutsche Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger zu versorgen. Die Lage ist also ernster, als sich das in manchen Debatten widerspiegelt. Deswegen, Herr Minister, können wir Ihnen sagen, dass Sie grundsätzlich bei dem, was in dieser ernsten Lage notwendig ist zu tun, unsere Unterstützung haben. Wenn es um diese Unterstützung geht, haben wir aber eben auch Fragen. Zum Beispiel haben Sie selbst noch vor sechs Wochen gesagt: Wir sind auf alles vorbereitet, was Putin, was Russland noch tun könnte. – Und nun gibt es plötzlich über das Wochenende neue Strategiepapiere, neue Meldungen, und sozusagen über Nacht wird heute Morgen die Alarmlage verkündet. Da haben wir natürlich schon die Frage: Was ist passiert zwischen „Wir sind gut vorbereitet auf alles, was Putin tun könnte“ und dieser plötzlichen Wendung heute Morgen, die sich selbst gestern in der Ausschussdebatte so noch nicht abgezeichnet hat? Wir haben eine Frage zu den Kohlekraftwerken, die Sie richtigerweise jetzt stärker nutzen wollen. In Ihrem Gesetzentwurf, der dem Deutschen Bundestag vorliegt, steht als Datum übrigens noch der 1. November, ab dem die Kohlekraftwerke möglicherweise stärker genutzt werden können. Ich habe das so verstanden, dass das jetzt schon früher, ab Juli, möglich sein soll, was wir richtig finden. Aber die Frage ist natürlich, warum das nicht schon seit März gemacht worden ist. Als wir das im März in der Diskussion hier im Deutschen Bundestag gefordert haben, gab es darüber zum Teil noch Gelächter in einigen Reihen. Diese Maßnahme ist notwendig, um jetzt die Gaskraftwerke zu entlasten und um die Gasspeicher zu füllen. Hätten wir damit bereits im März begonnen, wären die Gasspeicher heute möglicherweise schon voller. ({0}) Es stellt sich die Frage, warum wir nicht früher auch Anreize zum Sparen gesetzt haben, statt Debatten über Frieren per Gesetz zu führen. Es müsste Anreize für die Verbraucher geben. Es gibt Vorschläge, über den Energiegutschein zu gehen, oder Vorschläge, der Industrie Anreize zu geben und dort über einen Marktmechanismus denjenigen zu belohnen, anzureizen, der Gas einspart. Die Instrumente sind richtig, aber die Frage ist natürlich: Warum gibt es sie nicht schon seit März, als wir sie diskutiert haben? Wir haben auch die Frage: Wenn die Lage so ernst ist – und sie ist nach allem, was wir sehen, ernst, sogar ernster, als es die Debatte in der Öffentlichkeit bisher teilweise widerspiegelt, jedenfalls aus unserer Einschätzung –, dann ist es auch notwendig, alle Optionen in den Blick zu nehmen. In einer solchen ernsten Lage, in der wir Stand jetzt auch nach den Szenarien der Netzagentur im Laufe des Winters in einen tatsächlichen Mangel hineinkommen, muss man alle Optionen nutzen. Dazu gehören neben den Kohlekraftwerken auch – zumindest im Streckbetrieb; wir müssen ja nicht gleich über fünf oder sieben Jahre reden – die Kernkraftwerke. Warum schließen Sie eine solche Option in einer solch schwierigen Lage kategorisch aus? ({1}) Heute Morgen, während Sie die Alarmlage ausgerufen haben, hat Ihr Kollege Trittin ausgeschlossen, dass Deutschland in der Nordsee 60 Milliarden Kubikmeter Erdgas fördert. Auch das passt nicht zusammen. Wir können doch nicht am selben Tag einerseits sagen: „Wir kommen in Deutschland in eine Mangellage“, und andererseits sagen: „Bei uns in der Nordsee wollen wir nichts dafür tun, um diese Mangellage zu adressieren.“ Ja, wir brauchen die Unterstützung anderer Länder, aber wir sind, wie ich finde, auch in der Verantwortung, das, was in Deutschland möglich ist, zu tun. Auch das passt nicht zusammen. Nehmen Sie bitte auch diese Erdgasvorkommen bei Ihren Überlegungen in den Blick. ({2}) Dazu gehören übrigens auch Biogas und Biomasse. Auch dies und das Potenzial, das da ist, spielt – das sagen die Betreiber, das sagen die Verbände – bis jetzt keine Rolle. Wenn die Lage so ist, wie sie ist, dann nehmen Sie bitte alle Optionen in den Blick. Eine letzte Bitte, Frau Präsidentin: Bereiten Sie – und das in der Diskussion mit dem Deutschen Bundestag – jetzt alles vor für die mögliche dritte, die letzte Stufe, auf dass sie nie nötig werde. Wenn sie nötig würde – das ist ein sensibles Thema, aber man muss ja darüber reden –, hätte das Folgen, schmerzhafte Folgen für die deutsche Wirtschaft, für die Bürgerinnen und Bürger. Es käme einem Schock gleich. Der Schock wäre aber geringer, wenn es vorher einen Plan, diskutiert und akzeptiert, gäbe, –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– einen Plan, den wir hier im Deutschen Bundestag seit Wochen einfordern. Bitte bereiten Sie auch das vor, was noch kommen kann, mit einem Plan, der transparent und nachvollziehbar ist. Es ist gut, dass Sie jetzt hier sind, um das dem Deutschen Bundestag darzulegen. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gucke schon die ganze Zeit und kann jetzt so richtig keine Schuldigen ausfindig machen; es kommt aber zumindest hier vorne ein unglaubliches Gemurmel an. Wir haben auch Zuschauerinnen und Zuschauer. Versuchen Sie also bitte, die Gespräche hier im Saal einzustellen; denn man kann sonst ganz schlecht folgen. Als nächste Rednerin rufe ich auf Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist eine besorgniserregende Situation, in der wir stecken. Mit der Ausrufung der Alarmstufe des Notfallplans Gas – das ist ja die zweite Stufe von dreien – ist in der Tat, wie es der Notfallplan auch besagt, eine Situation gegeben, in der Maßnahmen ergriffen werden müssen, um einer Versorgungsnotlage zu entgehen, um einem Versorgungsengpass zu entgehen. Es sind auch schon vorher Vorkehrungen getroffen worden, und es ist klar, dass mit diesen bereits beschlossenen Maßnahmen alles darangesetzt wird, eine Mangellage auszuschließen. An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, was wir schon in den letzten Monaten alles auf den Weg gebracht haben, um zu ermöglichen, dass eben keine Versorgungsmangellage eintritt. Wir haben ein Gasspeichergesetz verabschiedet, das dafür sorgt, dass die Füllstände rechtzeitig zum Winter wirklich so hoch sind, dass später nicht wieder eine Situation eintritt, in der Gasspeicher nicht gefüllt sind, wie es zum Jahresanfang war. Wir haben gesetzlich geregelt, dass das nicht wieder passiert. Wir sind bisher auch auf einem guten Weg. Innerhalb von 30 Tagen, von heute aus zurückgerechnet, hätte man die Speicher vollständig befüllen können; denn an einem Tag wurde zuletzt so viel eingefüllt, dass man das hätte erreichen können. Aber offenbar war auch genau das ein Element, das von russischer Seite sehr genau beobachtet wurde. Man kann, wenn man die Gesamtlage beobachtet, schon erkennen, dass auch die Vorsorgemaßnahmen, die wir zur Gewährleistung der Verfügbarkeit von Energie, von Gas in Deutschland getroffen haben, von Russland jetzt konterkariert werden. Die Gaslieferungen werden tatsächlich als strategisches, politisches Erpressungsinstrument eingesetzt, um uns auch politisch in die Knie zu zwingen. Das ist das Ansinnen, das man hinter der Drosselung von Gasflüssen entdecken kann; denn sie korrespondiert in der Tat mit den Ermöglichungen von mehr Gaseinspeicherung, wie wir sie in den letzten Wochen verstärkt angeschoben haben. Aber darauf gilt es geschickt und auch besonnen zu reagieren, weil wir alle wissen, dass noch eine hohe Abhängigkeit besteht und dass wir auch versuchen müssen, uns in dieser Situation nicht zu gefährden. Die Gasflüsse haben es nun einmal an sich, dass man nicht einfach nur in Mengen kalkulieren darf, sondern auch in Durchflüssen kalkulieren muss und die Versorgung eben nur dann überall in Deutschland gewährleistet ist, wenn die Durchflüsse stimmen. Das ist nicht nur ein Mengenproblem. – Das war der eine Bereich. Wir haben zum Zweiten auch ein LNG-Gesetz verabschiedet, womit wir ermöglichen, dass diversifiziert wird, dass wir wegkommen von den Importabhängigkeiten von russischem Erdgas und mit Anlandungen an den deutschen Küstenhäfen verstärkt andere Bezugsquellen nutzen. Auch das ist geschehen. Wir haben zum Dritten ein Energiesicherungsgesetz verabschiedet, das auch Regelungen vorsieht, wie man damit umgeht, wenn auf einmal eine Mangellage eintritt: Wie kann man Versorger in die Lage versetzen, dass sie weiterhin Versorger sind? Wie kann der Staat eingreifen, wenn die Versorger eben nicht mehr in der Lage sind, ihre Versorgungsaufgaben zu erfüllen? Zu guter Letzt sind wir jetzt – das ist ein weiteres Kapitel – gerade im parlamentarischen Verfahren, ein Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz auf den Weg zu bringen, das regeln soll, dass wir im Ernstfall den Versorgungsprioritäten, zu denen wir auch europäisch verpflichtet sind, nämlich dass die Endkunden immer versorgt sind, auch gerecht werden können, dass wir also den Daseinsvorsorgeauftrag in Richtung der Endkunden erfüllen. ({0}) Insofern: Das ist schon ein ganzer Strauß von Maßnahmen. Er steht in Verbindung mit dem Riesenpaket, das noch deutlich größer ist als das gerade geschilderte und das in der Perspektive das deutlich wichtigere ist, weil es nämlich Maßnahmen umfasst, um beschleunigt auf erneuerbare Energien umsteigen zu können. Das wirkt heute in der Aktuellen Stunde wie Begleitmusik, aber es enthält eigentlich den Großteil der politischen Aufgaben, die wir gerade verfolgen. Es muss uns so schnell wie möglich in die Lage versetzen, dass wir gar nicht mehr von fossilen Energien abhängig sind und dass wir diese Situation überwinden. Das wird mit dem Osterpaket und dem Sommerpaket verfolgt. ({1}) Insofern ist der Weg, der hier gegangen wird, ein sehr herausfordernder, aber er ist der richtige. Der falsche wäre, jetzt wieder in diese Abhängigkeiten zurückzufallen. Wenn wir Ihrer Forderung nach Laufzeitverlängerungen folgen würden, dann würden wir weiter bei den teuersten Energieformen verharren, dann wären wir weiter in den Abhängigkeiten und würden uns weiter dabei behindern, die Energiewende schnell voranzubringen. ({2}) Das wäre der falsche Weg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält für die AfD-Fraktion Sebastian Münzenmaier. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „15 Grad im Winter hält man mit Pullover aus. Daran stirbt niemand.“ Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben diese Aktuelle Stunde aufgesetzt, und Sie, Herr Spahn, haben darüber geredet, dass im Winter niemand frieren müssen soll. Aber dieses Eingangszitat, dieses unsägliche Eingangszitat, ist von Ihrem CDU-Landwirtschaftsminister in Baden-Württemberg, Peter Hauk. Sie sollten sich schämen. ({0}) Wer hier große Reden schwingt und dann in Interviews die eigene Arroganz und Überheblichkeit durchscheinen lässt, der zeigt eines: Ihnen geht es eben nicht um die Bürger dieses Landes, Ihnen geht es um reine Symbolpolitik. Diese Aktuelle Stunde der Unionsfraktion zeigt doch symptomatisch ein Grundproblem der deutschen Politik der vergangenen Jahre, das Sie alle, also von der CDU bis hin zur Ampel, gemeinsam zu verantworten haben. Ideologisch verblendet haben Sie in nahezu allen wichtigen Politikbereichen notwendige Substanz abgebaut, die nicht mehr ersetzt wurde. Und wenn dann Krisenzeiten kommen, wird dieses Problem schonungslos offengelegt. Beispiel eins. Ein Krieg in Europa bricht aus, und ganz plötzlich fällt Ihnen allen auf, dass die Bundeswehr über Jahre vernachlässigt wurde und nicht mal unser eigenes Land verteidigen könnte. Beispiel zwei. Als Corona über uns kommt, wird Ihnen vom einen auf den anderen Moment bewusst, dass Sie das ganze Gesundheitssystem kaputtgespart haben. Und jetzt Beispiel drei. Nun werden die Energievorräte zum Winter hin knapp, und ganz plötzlich fällt den Altparteien auf, dass Deutschland in ideologischer Verblendung in der Energiepolitik aufs falsche Pferd gesetzt hat und die Versorgungssicherheit unseres Landes gefährdet ist. ({1}) Schon vor dem Angriff Putins auf die Ukraine lag die Preissteigerung bei Erdgas bei 32 Prozent, bei Heizöl waren es sogar 52 Prozent. Schon 2019 mussten laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes 2 Millionen Menschen in Deutschland, darunter insbesondere Alleinerziehende mit ihren Kindern, frieren, weil sie sich die Heizkosten nicht mehr leisten konnten. Der drohende Kältewinter und diese enormen Preisexplosionen fallen also nicht vom Himmel, sondern sind die Folge Ihrer verfehlten Energiepolitik, meine Damen und Herren. ({2}) Aber ich bin ja froh – ich versuche immer, das Positive zu sehen –, dass die Unionsfraktion und auch Bundesfinanzminister Lindner jetzt in der Krise offensichtlich panisch nach Lösungen suchen und deshalb in unser AfD-Wahlprogramm reingeschaut haben. Denn ganz plötzlich – wir haben es gerade eben hier vom Pult auch von Herrn Spahn gehört – werden die Rufe nach einer Kernforderung unserer Bürgerpartei laut: Wir brauchen eine Rückkehr zur sicheren und sauberen Kernenergie, um Versorgungssicherheit und vor allem bezahlbare Energie zu gewährleisten, meine Damen und Herren. ({3}) Was wir schon jahrelang predigen, fordert nun also auch die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Wieder mal zeigt sich: Wir als AfD haben die besseren Ideen für Deutschland, und wir wirken, meine Damen und Herren. ({4}) In puncto Themensetzung haben Sie sich jetzt ja also schon erfolgreich bei uns bedient. Das ist in Ordnung; aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wort und Tat sollten bei guten Politikern übereinstimmen, meine Damen und Herren. Und wie sieht es bei der CDU aus? Stimmen da Worte mit Taten überein? Lieber Herr Spahn, Sie haben gerade gefordert, wir müssten wieder zurück zur Kernenergie. Leider – erinnere ich mich vielleicht falsch? – war es doch so, dass Sie, von den Grünen getrieben, 2011 dafür gesorgt haben, dass Deutschland völlig überstürzt aus der Kernenergie aussteigt. Und war es nicht so, dass Sie sogar noch im April 2022, also vor wenigen Wochen, hier im Ausschuss für Klimaschutz und Energie zusammen mit den Vertretern der Ampelparteien unseren AfD-Antrag zur Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke einstimmig abgelehnt haben? Entweder leiden Sie also an Demenz, oder Sie versuchen hier böswillig, unsere Bürger da draußen für blöd zu verkaufen. ({5}) Was davon schlimmer ist, kann ich Ihnen nicht sagen, aber eines bleibt klar: Die CDU/CSU ist sicher keine Alternative zur Ampelpolitik, sondern ein konservativ lackierter Wurmfortsatz rot-grüner Politik, meine Damen und Herren. Und ganz im Gegensatz zu Ihnen stehen wir als AfD zu unserem Wort und haben die Kernenergie als Baustein eines breiten Energiemixes schon in unserem Grundsatzprogramm fest verankert, als Sie noch mit Ihren grünen Freunden vom nächsten Windpark geträumt haben. Aber unsere Bürger brauchen jetzt dringend eine sichere und vor allem eine bezahlbare Energieversorgung, damit sie im Winter nicht frieren müssen. ({6}) Deswegen sehen wir mal über die Vergangenheit hinweg. Und wenn Union und FDP hier jetzt unserer Meinung sind, bieten wir gerne unsere Unterstützung an. Eine Mehrheit wäre ja da, meine Damen und Herren. ({7}) Also hören Sie auf, zu reden, und handeln Sie endlich! Verlängern Sie die Laufzeit der verbliebenen Kernkraftwerke! Investieren Sie endlich in Forschung und Weiterentwicklung, sodass langfristig auch neue Werke gebaut werden können! Und entlasten Sie unsere Bürger durch Steuersenkungen, zum Beispiel im Bereich der CO2-Steuer! Sorgen Sie also dafür, dass das Geld unserer fleißigen Bürger hier in Deutschland bleibt und nicht überall auf der Welt verschleudert wird! Werden Sie endlich Ihrer Verantwortung gerecht! Denn in diesem Winter soll kein Deutscher frieren müssen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die Bundesregierung erhält das Wort der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck. ({0})

Dr. Robert Habeck (Minister:in)

Politiker ID: 11005074

Frau Präsidentin! Starke Worte – „ideologische Verblendung“ - ({0}) von einer Partei – das vielleicht vorweg –, die sich weiter in die Abhängigkeit von Putins Gas treiben lassen will, die die Sanktionen aufheben will, ({1}) die im Grunde will, dass die Ukraine sich nicht so anstellen, sondern sich Putin unterwerfen soll. ({2}) Man muss unterstellen, dass man schon sehr blind sein muss, um anderen da ideologische Verblendung vorzuwerfen. ({3}) Diese Partei ist nicht gut für Deutschland; sie ist gut für Putin und selber in der eigenen ideologischen Blindheit verhaftet. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin nicht der Meinung, dass diese Debatte Symbolpolitik ist. ({5}) Im Gegenteil: Man muss der CDU dankbar sein, dass wir heute die Gelegenheit zur Aussprache haben. Sie ist genau angemessen. Wir müssen uns darüber austauschen, parlamentarisch wie in der Gesellschaft, was eigentlich gerade passiert, und diese Aktuelle Stunde kann dazu einen Beitrag leisten. ({6}) Dass wir diese Debatte führen, sollte allerdings auch verstanden werden als gemeinsame Debatte im Streit um die besten Argumente. ({7}) Lieber Jens Spahn, Sie haben gefragt: Was ist passiert? – Nun, passiert ist, dass Putin das gemacht hat, wovor einige – ich würde für mich reklamieren, auch ich – immer gewarnt haben: dass er den Gashahn zwar noch nicht komplett zugedreht hat, ({8}) aber die Gaslieferungen schrittweise reduziert, ({9}) um die Preise in Deutschland hoch zu halten, den Druck auf die Bevölkerung zu erhöhen und dieses Land zu spalten, um den Nährboden für seine Freunde von ganz rechts, ({10}) im rechten Populismusspektrum zu bereiten. ({11}) Ich will aber auch daran erinnern – ich bemühe mich wirklich, diese Debatte auch mit den Kollegen auf der Landesebene als gemeinsame Austauschdebatte zu führen –, dass Ihr Fraktionsvorsitzender, lieber Jens Spahn, erst vor wenigen Wochen genau das gefordert hat, wovor Sie jetzt warnen, nämlich ein sofortiges Embargo von Gas einzuführen. Ich frage mich: Was ist passiert bei der Union? Gab es so wenige Kenntnisse um die Energieversorgung und Energiesicherheit in Deutschland? ({12}) Bei den konkreten Punkten will ich Ihnen gerne folgen bzw. Punkte, wo wir selber noch nicht gut genug arbeiten, auch übernehmen. Aber es grenzt schon an Selbstherrlichkeit, sich hierhinzustellen und zu sagen: Wie konntet ihr nur so langsam sein! – Von einer Partei, die über Jahre, ja Jahrzehnte, ({13}) die Abhängigkeit Deutschlands von einem – und das darf man nach 2014 und dem Angriff auf die Ukraine wohl schon sagen – mindestens zwielichtigen Herrscher immer größer gemacht hat und das, was uns wirklich helfen würde, nämlich die Unabhängigkeit durch den Ausbau von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz, systematisch abgewürgt hat, sich anzuhören, dass wir uns nicht gut genug vorbereitet hätten, das ist schon eine ziemliche Verdrehung der Wirklichkeit. ({14}) Wir sind vorbereitet, so gut man es eben sein kann, wenn man keine Datengrundlage für die BNetzA vorfindet, wenn man keine Gesetze vorfindet, die überhaupt nur in irgendeiner Form politische Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Wir haben uns darauf vorbereitet. Das, was Sie jetzt staunend bewundern – die Vorschläge vom Wochenende und das Ausrufen der Alarmstufe –, ist exakt das Ergebnis dieser Vorbereitungen. Wir haben uns über Wochen und Monate Schritt für Schritt mit dem Szenario auseinandergesetzt. Wir machen jetzt konkrete Vorschläge und können die Gelder bereitstellen, um auf diese Situation zu reagieren. ({15}) Ja, es ist ärgerlich, dass wir den Gas-Auktionsmechanismus jetzt noch nicht haben. Aber wo kommt der Ärger denn her? Es gab null Datengrundlage, wo denn überhaupt die Gasverbräuche sind. Es sind die BNetzA und der Trading Hub Europe, die jetzt in Windeseile ein digitales System erstellen müssen, um überhaupt zu verstehen, wo die Gasmengen in Deutschland verbraucht werden und wie sie zusammenhängen. Klar, es wäre super, schon alles fertig zu haben. War aber nicht; nur leere Schreibtische! Jetzt sind wir schneller als bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter. Und wer hatte die noch eigentlich zu verantworten? ({16}) Sehr geehrte Damen und Herren, dass wir die Voraussetzungen für Gesetze geschaffen haben, die jetzt in der Alarmstufe gegebenenfalls aktiviert werden können – und ich sage: können; denn die Alarmstufe ist die Voraussetzung für das, was jetzt im parlamentarischen Raum ist, nämlich das Kohle-rein-Gas-raus-Gesetz, das am 8. Juli verabschiedet werden soll und gebunden ist an die Alarmstufe –, ist Zeichen guter Vorbereitung. Dass wir einen Marktmechanismus etablieren und in der Gasalarmstufe einsetzen können, ist Zeichen guter Vorbereitung. Dass wir auch einen Preismechanismus einsetzen können über § 24 des Energiesicherungsgesetzes, ist Zeichen guter Vorbereitung. Aber das ist kein Spiel. Deswegen ist die Aktuelle Stunde wichtig, um zu verstehen, was gerade los ist. Die Alarmstufe auszurufen, bedarf einer Analyse, was eigentlich los ist. Wir müssen einen Punkt überwinden, den wir alle in uns tragen: Es ist Sommer. Wir wollen eigentlich raus. Wir wollen nach zwei Pandemiesommern endlich mal wieder frei sein. Aber der Winter steht vor der Tür – jetzt schon; politisch steht er vor der Tür. Wir müssen dieses Vorsorgeparadoxon loswerden, dass wir jetzt, wo die Konsequenzen überhaupt noch nicht spürbar sind, nicht die Maßnahmen ergreifen wollen, die wir im Winter brauchen. ({17}) Das ist die Herausforderung. Dafür leistet die Alarmstufe ein wichtiges Signal. Wir haben eine Gaskrise in Deutschland. Und wir haben diese Gaskrise in Deutschland, obwohl im Moment die Versorgungssicherheit gewährleistet ist und, ja, obwohl im Moment die Speicherstände steigen. ({18}) Aber wenn es wieder kälter wird und möglicherweise weitere Szenarien eintreten – Sie haben es vielleicht schon gehört, dass vom 11. Juli an Nord Stream 1 regulär auf null gefahren wird, um Wartungsarbeiten durchzuführen; dann kommt also gar kein Gas mehr durch; ({19}) in der Vergangenheit hat diese Wartungszeit ungefähr zehn Tage gedauert; das kann aber, wie die Lage aussieht, natürlich auch länger als zehn Tage dauern – und sich die Dinge verschärfen, dann rutschen wir in ein Szenario rein, wo wir nicht genug Gas haben werden, um über den Winter zu kommen. ({20}) Deswegen ist jetzt jede Kraftanstrengung notwendig, das Gas, was wir einsparen können, einzusparen. ({21}) Natürlich sind das schmerzhafte Entscheidungen. ({22}) Da Sie immer wieder mit Atom kommen, will ich es noch einmal klarstellen. Wir brauchen Gas. Wir müssen heizen, und das tun wir nicht mit Atomkraftwerken. ({23}) Auch die Industrie braucht Wärme. ({24}) – Ja, ja. Die Debatten sind ja schon mehrfach geführt worden. Wenn Sie wollen, gehe ich gleich noch einmal kurz darauf ein. ({25}) – Ja, das habe ich Ihrem Kollegen im Ausschuss erklärt. Man muss immer so viel reden, aber Sie verstehen es trotzdem nicht. Das ist manchmal auch anstrengend. ({26}) Die Aufgabe ist, die höheren CO2-Emissionen durch das Hereinnehmen von Kohlekraftwerken später wieder einzusparen. ({27}) Das ist das Interessante, was gerade in Deutschland passiert. Wir haben eine Oberfläche, auf die stark geschaut wird: LNG, Gas, Kohlekraftwerke. Diese Oberfläche steht unter Druck. Sie ist zerkratzt. Sie ist zerbeult. Da gibt es keine guten Entscheidungen. Niemand sollte sich dafür rühmen, schwierige Entscheidungen zu treffen oder das gut zu finden. Aber unterhalb der Oberfläche passiert eigentlich gerade das Entscheidende in diesem Land. Wir haben eine hohe Dynamik, erneuerbare Energien ausbauen zu wollen. Wir haben eine hohe Bereitschaft der Unternehmen, zu investieren, und zwar in klimaneutrale Technologien. Die Anträge, auf Wasserstoff umzustellen, die Infrastruktur auszubauen, übersteigen jedes Fördervolumen. Wir haben im Moment eine hohe Nachfrage nach energetischer Gebäudesanierung. ({28}) Jeder von uns hat sich hierhingestellt und gesagt: Wir sind da viel zu langsam; ({29}) der schlafende Riese „Gebäudesanierung“. Bei 1 Prozent oder weniger pro Jahr brauchen wir noch 100 Jahre, bis wir fertig sind. – Auf einmal explodiert das geradezu, und wir haben zu wenig Handwerker für die Gebäudesanierung. Das passiert gerade in Deutschland. ({30}) Was unter der Oberfläche gerade besonders ist, ist die große Ge- und Entschlossenheit der Menschen. Wir haben eine hohe Inflation. Die Menschen leiden darunter, die Unternehmen leiden darunter. Trotzdem gibt es die Bereitschaft, zusammenzustehen und die Lasten gemeinsam zu tragen – da ist es unsere Aufgabe, die notwendigen Dinge zu tun, um die Lasten fair zu verteilen –, weil wir wissen, dass dieser Angriff ein Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist und dass wir diesen Angriff mit allem, was wir haben, zurückweisen müssen. Vielen Dank. ({31})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält nun Ralph Lenkert das Wort. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Draußen ist ein heißer Junitag, die Sommerferien stehen bevor, und viele sehnen sich nach Urlaub ohne Coronaeinschränkungen. Der grausame Ukrainekrieg scheint so weit weg wie der Winter. Aber Putins Krieg trifft auch uns; die Gasversorgung ist nicht mehr sicher, auch ohne Gasembargo. Seit letzter Woche liefert Russland weniger Gas als vereinbart – Tendenz fallend. Ohne konsequente Maßnahmen droht Deutschland und Europa ein Zusammenbruch der Gasversorgung im Winter. Der Bundestag hat bereits viel auf den Weg gebracht, um die Gasversorgung und die Energiesicherheit zu gewährleisten, aber es reicht nicht. Wir brauchen weitere Schritte, um die Energie- und Wärmeversorgung für Haushalte, Handwerk und Industrie zu garantieren. Und Energie muss bezahlbar bleiben. Trotzdem dürfen wir den Klimaschutz nicht vergessen. ({0}) Jetzt glauben AfD, Gestrige der Union und selbst Teile der FDP, Atomkraft wäre die Lösung. Als Techniker glaube ich nicht; ich halte mich an Fakten, und die sprechen klar gegen die Atomkraft. ({1}) Frankreich hat 56 Atommeiler, über die Hälfte ist seit Monaten außer Betrieb. Die restlichen AKW können keine volle Leistung liefern, weil wegen der Dürre in Frankreich Kühlwasser fehlt. Ohne massive Stromlieferungen aus Deutschland und anderen EU-Staaten gäbe es längst einen Blackout. Atomkraft bringt keine Versorgungssicherheit, selbst bei Ausblenden der Super-GAU-Gefahr. ({2}) Eine Kilowattstunde Strom aus neuen Atomkraftwerken hat Herstellkosten von 12 Cent, eine Kilowattstunde Strom aus einem Windrad weniger als 6 Cent. Auch preislich ist Atomkraft keine Alternative. ({3}) Seit März versucht Deutschland, Gas zu sparen, um die Speicher für den kommenden Winter zu füllen. Und seit Monaten müssen deutsche Gaskraftwerke laufen, um Frankreich vor dem Blackout zu retten. Es ist nicht absehbar, wann in Frankreich wieder ausreichend Atomenergie bereitgestellt wird. Wir müssen aber Gas sparen. Daher werden jetzt alte Kohlekraftwerke reaktiviert. Das ist schlecht fürs Klima. Auch deshalb müssen wir Energie einsparen, wo immer es geht. Es sind noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Einige Beispiele: In Lübeck steht ein großer Speicher für Fernwärme. In Schleswig-Holstein gibt es oft zu viel Windstrom, dann stehen die Windräder. Logisch ist es, mit überschüssigem Windstrom den Wärmespeicher zu füllen, statt mit Erdgas zu heizen. ({4}) Liebe Koalition, ändern Sie sofort die Netzentgeltproblematik, damit Lübeck mit Überschussstrom heizen kann, Windräder nicht ungenutzt stehen, Gas gespart wird und Lübeck nicht wie derzeit draufzahlen muss. ({5}) 2012 haben Union und FDP den Einspeisebonus für Biomethan gestrichen. Es ist Zeit, diesen Fehler zu korrigieren. ({6}) Ich weiß, es ist kein populärer Vorschlag, Ladenöffnungszeiten am Sonntag vorübergehend abzuschaffen und nachts Geschäfte zu schließen. Doch all diese Vorschläge verursachen kleine Mühen im Vergleich zum Problem kalter Wohnungen im Winter. Kolleginnen und Kollegen, besonders in Krisenzeiten muss der Staat handlungsfähig sein. Der Schutz der Menschen vor explodierenden Energiekosten ist unverzichtbar. Er kostet Milliarden. Aber das Geld darf nicht in die Profite von Spekulantinnen und Spekulanten fließen. Deshalb fordert Die Linke eine staatliche Energiepreisaufsicht. ({7}) Und deshalb müssen Krisen- und Kriegsgewinne über Steuern wieder einkassiert werden. Wir brauchen das Geld zum Ausgleich der hohen Energiekosten. Zum Ausgleich will Die Linke für 8 Monate monatlich 125 Euro für Singlehaushalte, 175 Euro für Zwei-Personen-Haushalte und je 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied bereitstellen. ({8}) Damit Deutschland zukünftig nicht erneut durch Energieabhängigkeit erpressbar wird und gut durch kommende Winter kommt, braucht es mehr staatlichen Einfluss im Energiesektor, gestärkte Stadtwerke und Energiegenossenschaften. ({9}) Die Übertragungsnetze gehören in staatliche Hand. Wir brauchen einen Masterplan Energiespeicher und natürlich deutlich mehr Wind- und Solarenergie. Vielen Dank. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt folgt die FDP-Fraktion mit Dr. Lukas Köhler. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, allen ist bewusst, dass die Lage ernst ist. Die Aktuelle Stunde, liebe Union, ist an der richtigen Stelle auch eingesetzt. Es ist tatsächlich notwendig, darüber zu sprechen, insbesondere in einer sich weiter zuspitzenden Situation. Wenn man sich die Szenarien der Bundesnetzagentur anschaut, dann laufen wir mit Pech in dramatische Situationen über den Winter. Ich glaube, das kann und muss man so ernst sagen, weil uns das klar sein muss. Ich glaube, es ist hundertprozentig richtig, dass wir jetzt darüber nachdenken, jetzt handeln, jetzt Gesetze schaffen, dass wir jetzt miteinander darüber sprechen, was alles zu tun ist und was wichtig ist. Diese Regierung hat in den letzten Wochen und Monaten – „Jahren“ hätte ich gerne gesagt; aber das ja leider nicht –, seit Anfang des Jahres, seit Anfang dieser Krise vieles vorgelegt. Wir als Parlament haben im schnellen Verfahren gehandelt; an dieser Stelle auch noch mal Dank insbesondere an die Union, die das sehr oft und richtigerweise unterstützt, wenn es um Verantwortung für dieses Land geht. Wir haben schon viel getan. Aber wir laufen Gefahr, dass nicht sicher ist, ob das reicht, was wir tun. Wir müssen jetzt, lieber Ralph, über alle Optionen nachdenken, wie wir weitermachen, ({0}) nicht nur darüber, wie wir zum Beispiel den Biomethaneinsatz verbessern; ich glaube, das kann eine Quelle sein, mit der wir viel erreichen. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir einsparen. Man muss sagen: Die aktuellen Preise im Gasbereich setzen ja schon für die Industrie das Signal, einzusparen. Kein Unternehmen sagt aktuell: Mensch, ich verfeuere gerne Gas, weil das so teuer ist. – Da läuft ja schon viel. Und wir haben viele kluge Menschen, tolle Tüftler und Ingenieure in Deutschland, die jeden Tag daran arbeiten, dass wir für den Winter und die hoffentlich zu vermeidende Situation, in der wir die dritte Stufe des Notfallplans ausrufen müssten, wonach Unternehmen kein Gas mehr bekämen, gerüstet sind. Wie wir das verhindern, darüber denken viele Leute nach, nicht nur wir hier im Bundestag, nicht nur der Regulator. Es ist an der Zeit – das müssen wir uns bewusst machen –, dass die Menschen, die das können, das auch machen, und wir müssen sie dabei unterstützen. Es gibt genug Regularien, die wir abschaffen wollen. Im Solarbereich ist das relativ einfach; da geht es um die Netzanschlusszertifikate. Das klingt total absurd. Das ist ein kleines Thema, das aber verhindert, dass große Mengen an Solaranlagen ans Netz gehen können. Wir arbeiten daran, dass das schnellstmöglich abgeschafft wird. ({1}) Das ist ein ganz konkreter Punkt. Der Teufel liegt insbesondere bei der Gesetzeslage, die wir in Deutschland haben, sehr oft in den Details, die wir ändern müssen. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Wir müssen, lieber Ralph – das habe ich schon gesagt –, über alle Ideen und Optionen nachdenken. Ich glaube, wir wünschen uns alle nicht, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir in den nächsten Wochen und Monaten Energie produzieren können, ohne dabei Gas zu nutzen. Natürlich gibt es große Chancen; es gibt tolle Möglichkeiten. Wir müssen, wir sollen und wir werden darauf setzen, dass wir die Freiheitsenergien ausbauen. Ich bin mir auch sicher, dass die aktuelle Situation den Kohleausstieg, den wir idealerweise 2030 vollziehen wollen, nicht infrage stellt. ({2}) Ich weiß auch, dass die aktuell höhere Verstromung aus Kohle nicht dazu führen wird, dass wir mehr CO2 ausstoßen, weil der europäische Emissionshandel das zum Glück verhindert. Wir haben da ein gutes Instrument, das Klimaschutz sicherstellt. Klar ist aber auch, dass wir über alle Optionen nachdenken müssen. Ja, wir haben über Kosten gesprochen. Und ja, ich habe mich hier schon oft genug hingestellt und gesagt: Die Atomenergie ist keine zukunftsfähige Energie, weil sie einfach zu teuer ist und weil sie andere Probleme mit sich bringt. Zumindest gilt das für die alten Meiler; wir sehen im Moment in Frankreich, welche Probleme es gibt. Aber in der Situation, in der wir jetzt sind, nicht weiter darüber nachzudenken, was wir tun können, um Energie einzusparen, können wir uns, glaube ich, nicht erlauben. Es tut uns weh, das ist nicht schön, und wir machen das nicht gerne; aber es ist notwendig, dass wir darüber nachdenken und diskutieren, wie wir es schaffen, über den Winter zu kommen. Vor dieser Herausforderung stehen wir. Deswegen müssen wir das meiner Meinung nach weiter tun, und zwar gesamtgesellschaftlich. Es ist ja ein Problem für alle Menschen in Deutschland, wenn wir nicht genügend Gas haben. Wir müssen das so sinnvoll angehen, wie wir können, und wir müssen anhand der Optionen, die wir haben, so gut wie möglich darüber nachdenken und darüber sprechen, was wir tun können, um dieser Situation Herr zu werden. ({3}) Ich bin mir aber absolut sicher, dass wir das gemeinsam hinkriegen, weil ich weiß, wie gut viele Dinge in dieser wunderbaren Koalition funktionieren. ({4}) – Das ist gut. Ich freue mich, dass ich auch die AfD beruhigen konnte. Vielen Dank. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Dr. Thomas Gebhart. ({0})

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser furchtbare Krieg gegen die Ukraine, den Putin führt, zeigt uns jeden Tag mehr, wie notwendig es ist, dass wir so schnell wie möglich unabhängig werden von russischen Energielieferungen; denn es ist unerträglich, dass wir Geld nach Russland geben und so zumindest indirekt diese Kriegsmaschinerie finanzieren. Zudem müssen wir damit rechnen, dass Putin den Gashahn zudreht. ({0}) Zur Hälfte ist er bereits zugedreht; möglicherweise wird er ganz zugedreht. Es könnte im Winter verheerende Auswirkungen bei uns haben, wenn Gasmengen fehlen sollten, wenn Preise durch die Decke gehen. ({1}) Wie stark die Auswirkungen sein werden, hängt auch maßgeblich davon ab, inwieweit die Regierung in dieser Lage richtig agiert. Seit Kriegsbeginn sagen wir: Alle Möglichkeiten, um russisches Gas bei uns zu ersetzen, müssen auf den Tisch; sie müssen ehrlich bewertet werden. Und wir brauchen einen Ausstiegsfahrplan – ({2}) das hat der Deutsche Bundestag übrigens im April mit ganz großer Mehrheit beschlossen –, einen Plan, der aufzeigt: Wie können wir Gaslieferungen kompensieren, durch welche konkreten Maßnahmen, in welchen zeitlichen Schritten, zu welchen Kosten? Aber ich frage Sie, Herr Minister Habeck: Wo ist dieser Fahrplan? Er liegt uns nicht vor. Es sind jetzt vier Monate seit Kriegsbeginn vergangen. Sie ignorieren offenkundig diesen Bundestagsbeschluss. Ich fordere Sie auf: Legen Sie einen solchen Ausstiegsfahrplan vor! ({3}) Herr Minister Habeck, Sie haben angekündigt, weniger Gas zur Verstromung einzusetzen. Ja, das ist richtig. Es ist sogar notwendig, dass wir Gasmengen einsparen und zusätzliches Gas einspeichern. Das unterstützen wir. Aber auch hier frage ich: Warum erst jetzt? Am 8. März hat die Leopoldina mit einer Sofortmaßnahme einen Weg aufgezeigt, wie man Gasmengen bei der Verstromung einsparen kann, wenige Tage danach eine Studie der Energiewirtschaft zum gleichen Thema. Ich habe die Bundesregierung im März gefragt: Welche Maßnahmen werden in dieser Hinsicht ergriffen? Die Antwort der Bundesregierung: Wir prüfen. – Ich habe im April die gleiche Frage gestellt. Antwort der Bundesregierung: Wir analysieren. – Wir haben es in der Zwischenzeit im Ausschuss, im Plenum immer wieder thematisiert. Es ist nichts passiert. Daher ist die Frage mehr als berechtigt: Warum erst jetzt? ({4}) Hätte die Regierung an dieser Stelle früher gehandelt, könnten wir heute relevant größere Mengen an Erdgas in den Speichern haben. Wir wären auf den nächsten Winter besser vorbereitet, als es heute der Fall ist. Herr Minister, ich sage Ihnen: Ich habe Respekt vor Ihrer Kommunikationsleistung in diesen Wochen – ich meine es genau so, wie ich es sage –, aber das tatsächliche Regierungshandeln hinkt hinterher. Meine Damen und Herren, weniger Gas für die Verstromung heißt im Moment mehr Strom aus Kohle, heißt mehr CO2. ({5}) Das ist zunächst aus Klimaschutzgründen nachteilig. Umso mehr müssen wir uns an anderer Stelle anstrengen, um beim Klimaschutz noch schneller zu werden, noch besser voranzukommen. Daher ist es richtig – auch das unterstützen wir –, mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu erreichen und die Wasserstoffstrategie konsequent umzusetzen. ({6}) Aber warum nutzen Sie kurzfristig nicht die vorhandenen Biomassepotenziale? Das ist ebenfalls seit März Thema. Warum passiert nicht mehr beim Thema Energieeinsparen? Auch hier könnte man konsequenter vorangehen. Und warum haben Sie sich dagegen entschieden, die drei Kernkraftwerke, die noch am Netz sind und am 31. Dezember abgeschaltet werden sollen, einen Tick länger laufen zu lassen? ({7}) Ich habe Zweifel, dass das offen und ehrlich geprüft wurde. ({8}) Herr Minister, Sie haben gestern im Ausschuss selbst gesagt: Es war eine politische Entscheidung, die drei Kernkraftwerke nicht etwas länger laufen zu lassen. – Natürlich gibt es Hürden, wenn man das tun würde; das ist klar. Aber diese Hürden wären überwindbar gewesen. Ich sage: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. ({9}) Aber der Wille war nicht vorhanden. ({10}) Ich hoffe, dass wir Ihre Entscheidung, auf die drei Kernkraftwerke in diesem Winter zu verzichten, nicht bitter bereuen müssen. Noch wäre Zeit. Daher: Bitte überdenken Sie diese Entscheidung. ({11})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächster Redner folgt für die SPD-Fraktion Bengt Bergt. ({0})

Bengt Bergt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005024, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die wichtigste Botschaft vorweg: Im Winter soll und wird niemand in seiner Wohnung frieren müssen. ({0}) Die Ampelkoalition und die Bundesregierung sind vorbereitet. ({1}) Aber ich will nicht drum herumreden: Die Energieversorgung in Deutschland ist angespannt, und die Lage ist ernst. Gerade heute wurde die Alarmstufe für Gas ausgerufen, und der Grund ist offensichtlich: Putins gezielter Einsatz von Energie als Waffe. Das zwingt uns zur Abkehr von Russland. Jeder, der das anders sieht, sollte wirklich mal an seinem moralischen Kompass arbeiten, meine Damen und Herren. ({2}) Die deutschen Gasspeicher füllen sich. Derzeit bewegen sich die Füllstände etwa auf Vorjahresniveau, bei etwa 58 Prozent. Allerdings sind die Gaslieferungen aus Russland durch Nord Stream 1 deutlich gedrosselt, und das ist politisch motiviert. Natürlich müssen wir uns angesichts dieser angespannten Lage auf alle Eventualitäten vorbereiten, auch auf den Worst Case; da gebe ich Ihnen recht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Aber genau das tun wir doch seit Wochen und Monaten. Auch die Ausrufung der Alarmstufe ist ein Teil davon. Für die Versorgungssicherheit in Deutschland haben wir bereits die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen: die vorgeschriebenen Mindestfüllstände der Gasspeicher, die zeitweise Kontrolle des Speichers in Rehden durch die Bundesnetzagentur, der Ausbau der LNG-Infrastruktur an der Küste, Verträge mit alternativen Lieferanten. Aber auch in diesen Wochen schärfen wir an dieser Stelle nach: für Gaseinsparungen, um unsere Speicher zu füllen, und vor allem für den massiven Ausbau erneuerbarer Energien. ({3}) Über die Beweggründe für diese Aktuelle Stunde kann ich nur mutmaßen: Entweder, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, waren Sie in den letzten Wochen nur selten anwesend, oder Sie haben nicht richtig zugehört. Oder aber – und das scheint mir leider am wahrscheinlichsten – Sie wollen Angst vor einem „Kältewinter“ schüren. Es gibt sicher viel, das uns in dieser Situation weiterhilft. Und da haben Sie in den vergangenen Monaten sehr konstruktiv mitgearbeitet. Dafür danken wir Ihnen. Aber Angstmacherei gehört nicht dazu, meine Damen und Herren. ({4}) Es ist nicht die Zeit, in der es auf Aktionismus und schnittige Interviews ankommt, ({5}) sondern auf Besonnenheit, einen klaren Kompass und einen nachhaltigen Plan, meine Damen und Herren. Sie, Herr Merz, und Ihre Fraktion holen gerade die Rezepte des vergangenen Jahrtausends aus der Mottenkiste, gegen jede Vernunft. Gemeint ist natürlich die Atomkraft, in die Sie wieder einsteigen wollen. ({6}) Ich will nur mal kurz daran erinnern: Das ist die Technologie mit den radioaktiven Uranbrennstäben, die alles verstrahlen, was in die Nähe kommt, und die ewig gelagert werden müssen. Die Lagerung taucht aber in keiner Rechnung auf. Dafür zahlen wir alle. ({7}) In Deutschland fallen bis 2060 – selbst nach dem Atomausstieg – über 60 000 Kubikmeter radioaktiven Mülls an. Das sind mal eben 15 000 Lkw-Ladungen. Teil dieses Mülls ist Plutonium-239. Das ist das radioaktive Zeug, dessen Atome erst nach 24 000 Jahren zur Hälfte zerfallen sind. Der Rest braucht „nur“ 12 bis 5 000 Jahre. Wissen Sie, meine Herrschaften, was vor 5 000 Jahren war? Da hat die Bronzezeit begonnen, und die Pyramiden wurden gebaut. In so eine zeitliche Dimension wollen Sie noch mehr Atommüll hineinproduzieren, ({8}) für den wir noch immer kein Endlager haben? ({9}) Meine Damen und Herren, Sie merken: Das ist alles nicht nachhaltig. Atomkraftwerke zu reaktivieren, ist wirtschaftlich schlicht nicht sinnvoll, rechtlich fragwürdig und mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden. ({10}) Und warum sollten wir für ein wenig mehr elektrische Energie – gerade mal um die 4 von 221 Gigawatt – deutlich höhere Risiken eingehen, wenn wir doch Wärme brauchen? Auch die Diskussion um Fracking in Deutschland führt uns nicht weiter. ({11}) Für die Gewinnung in Deutschland wären massive Investitionen nötig – für eine nicht nachhaltige und umweltschädliche Technologie. Und eine Erschließung braucht nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Fünf Jahre bräuchten wir für eine Förderrate, die gerade mal 20 Prozent unseres Bedarfs deckt, und das auch nur zehn Jahre lang. Das hilft uns auch nicht über den Winter. Ich mache mal folgenden Vorschlag: Wir setzen auf Lösungen, die realisierbar sind, nützlich, zügig umsetzbar und vor allem sicher. ({12}) Und dabei achten wir auch noch auf den Dreiklang von Energiesicherheit, Energieersparnis und Energiewende. Die Energiesicherheit gewähren wir durch die Mindestfüllstände der Gasspeicher; parallel schaffen wir Alternativen zu Putins Gas und bauen die LNG-Terminals bis zu diesem Winter noch weiter aus. Die Energieersparnis generieren wir durch Informationen, Anreize und Kommunikation. Firmen werden nicht gebrauchtes Gas zurückgeben können, und Bürger bekommen Infos, wie man einspart. Das Gesetz, das die Kohlekraftwerke im Notfall reaktiviert, liegt bereits auf dem Tisch. Auch das macht Gas frei für die Speicher. Und das Dritte und Wichtigste von allem ist die Energiewende. Solar, Wind, Speicher, Netze, Innovationsanlagen sind der Schlüssel zur Tür, die uns aus dieser fossilen Energiekrise herausführt. Dabei transformieren wir die Wirtschaft und retten nebenbei noch ein kleines bisschen den Planeten, meine Damen und Herren. ({13}) Insofern ist mein Fazit recht eindeutig: Atomkraft gehört der Vergangenheit an. LNG brauchen wir leider für den Übergang. Fracking ist unwirtschaftlich. ({14}) Und den erneuerbaren Energien gehört die Zukunft. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Sie daran erinnern, dass in gut zehn Minuten die Wahl endet. Es wird bestimmt den einen oder anderen geben, der noch nicht gewählt hat. Nutzen Sie die Zeit! In der Zwischenzeit erhält jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Bernhard Herrmann. ({0})

Bernhard Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005083, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, liebe CDU/CSU, dass Sie Ihr Recht und Ihre Pflicht als Opposition wahrnehmen und diese Aktuelle Stunde zu einem wahrlich ernsten Thema beantragt haben. Wir werden uns schnell einig, dass wir über die Versorgungslage im kommenden Winter nicht oft genug debattieren können, gerade vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen. Noch mehr hätte ich mich aber gefreut, wenn Sie in den 16 Jahren Regierungszeit mit gleichem Eifer gehandelt hätten. Dann wären wir heute beim Ausbau der Erneuerbaren inzwischen Spitzenreiter, und die heutige Debatte wäre eine ganz andere. ({0}) Und jetzt fordern Sie Planwirtschaft, Herr Gebhart, auch noch den VEB Atom? Sie fordern, dass der Staat einsteigt? Ist das Ihr Ernst? ({1}) Die Heizkosten werden steigen, weil Deutschland die Energiewende verschlafen hat und der Ausbau der Erneuerbaren jahrelang ausgebremst wurde. Unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern haben wir einer Politik des Ausweichens und Blockierens zu verdanken. Deshalb ernten wir heute, was Sie jahrelang gesät haben. ({2}) Wir Grüne haben immer schon vor dieser fatalen Abhängigkeit gewarnt. ({3}) Liest man den von Ihnen gewählten Titel der Aktuellen Stunde, so könnte man meinen, Sie hätten auch die letzten Monate verschlafen. Seit Beginn des Ukrainekriegs arbeiten Herr Habeck und sein Ministerium mit Hochdruck daran, die Versäumnisse vergangener Jahre wieder geradezubiegen. Entschlossener und zielgerichteter kann man gar nicht vorsorgen. Am heutigen Tag zeigt sich das umso mehr. Wir rufen die Alarmstufe aus, weil wir schnell und vorausschauend handeln. Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ohne Zweifel müssen wir die Aufgabe, die uns ab sofort für den kommenden Winter bevorsteht, gemeinsam und solidarisch als Gesellschaft bewältigen. Dahin gehend richtet sich auch der heutige Appell des Wirtschaftsministers, den ich mit aller Kraft unterstütze. ({4}) Damit uns dieser gemeinsame Kraftakt gut gelingt, haben wir hier im Bundestag längst Gesetze auf den Weg gebracht und bereiten weitere vor. Oster- und Sommerpaket sind ja breit bekannt. Unser Kurs ist klar und lösungsorientiert: Wir tun alles, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, vor welcher Ausgangslage wir noch vor wenigen Monaten standen. Für die aktuelle Situation bestanden keine vorausschauenden Gesetzespakete; es gab keine Pläne in der Schublade. All das musste innerhalb weniger Wochen im Akkordtempo aus dem Boden gestampft werden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat also sofort angepackt und mit der Diversifizierung unserer Energieversorgung losgelegt. Mit höchstem Tempo wird die Versorgung mit Flüssigerdgas vorbereitet. Unsere Abhängigkeit von Russland bei Kohle und Öl ist beachtlich geschrumpft. ({5}) Wir haben noch vor wenigen Wochen das Gasspeichergesetz im Bundestag auf den Weg gebracht. Und auch, wenn wir uns alle einen anderen Verlauf gewünscht hätten: Wir haben gegenwärtig Rechtsinstrumente, mit denen wir unverzüglich reagieren konnten. ({6}) Zur langfristigen Wahrung unserer Versorgungssicherheit gehört ohne Wenn und Aber ein beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren; da müssen wir schleunigst auf die Tube drücken. An der Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, können Sie uns tatkräftig unterstützen, damit wir unseren gemeinsamen Zielen endlich näherkommen. Gleichzeitig wissen wir um die Last und die Sorgen vieler Menschen, die nicht warten können, bis wir politisch alle Wogen geglättet haben. Deshalb haben wir kurzfristig gehandelt und mehrere Entlastungspakete und Maßnahmen auf den Weg gebracht, darunter den Heizkostenzuschuss und die Energiepreispauschale. Hohe Energiekosten betreffen auch den täglichen Arbeitsweg. Dazu haben wir das 9‑Euro-Ticket eingeführt, und wir Grüne werden die Erfahrungen mit der Ticketnutzung ernst nehmen und uns dafür einsetzen, dass wir längerfristige Lösungen für eine bezahlbare, klimafreundliche Mobilität finden. ({7}) Und wir werden uns generell starkmachen für eine gerechtere Lastenverteilung. Zur gegenwärtigen Wahrheit gehört aber auch, Unbequemes zu benennen. Wir müssen sorgsam mit vorhandener Energie umgehen. Alles, was wir heute an Energie einsparen, hilft unserer Versorgungssicherheit, hilft uns allen, hilft unserer Industrie und bringt uns gelassener über die Wintermonate. Deshalb begrüße ich es als Fachpolitiker ausdrücklich, dass das BMWK gemeinsam mit einem breiten Bündnis von Verbänden zum Energiesparen aufgerufen hat. Jede und jeder kann und sollte mitmachen. Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Möglichkeit des Mithelfens und die Wirkungskraft dahinter viel tiefer in unser aller Bewusstsein rückt und auch breiter in die Gesellschaft hinein und vor allem über diejenigen hinaus, die ohnehin schon energiesparsam sind oder bisher schon sein mussten. ({8}) Gerade für diese Menschen haben wir alle gemeinsam die Pflicht, uns solidarisch zu verhalten. Vielen Dank. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält das Wort für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Michael Kruse. ({0})

Michael Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005117, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst mal möchte ich sagen, dass ich es sehr angemessen finde, dass diese Debatte jetzt in einem sehr ernsten Tonfall stattfindet. Ich freue mich, dass bis auf eine Fraktion – von der habe ich es aber auch nicht erwartet – alle anderen hier dem Ernst der Lage angemessen geworden sind, auch in der Art und Weise, wie man mit Regierungspolitik umgeht. ({0}) Zur Realität gehört: Die Lage, in der wir sind, suchen wir uns nicht mehr aus. Jemand anderes entscheidet darüber, wie schwerwiegend diese Krise wird. Jemand anderes entscheidet, ob durch bestimmte Pipelines aus dem Osten noch Gas zu uns fließt. Das heißt, der Rahmen ist längst gesetzt. Und, Herr Spahn, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Diesen Rahmen haben die letzten beiden von Ihnen geführten Regierungen gesetzt. ({1}) Diesen Rahmen haben Sie zu verantworten. Was wir von Tag eins dieser Ampelregierung an machen, ist, hinter Ihnen aufzuräumen. ({2}) Man muss sich das wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen: Das ist, als wenn Sie in einem Klub abends randalieren und am nächsten Tag hingehen und den Aufräumtrupp beschimpfen, dass er keinen Plan hat, wie er nun aufräumen soll. ({3}) Wir machen hier Nachtschichten und unterbrechen unsere Gesetzesberatungen nur noch für Aktuelle Stunden und Debatten, Herr Spahn, weil es hinter Ihrer Politik so viel aufzuräumen gibt. ({4}) Sie haben natürlich das Recht als Opposition, einen Plan von uns einzufordern; das würde ich auch tun. ({5}) – Ja, selbstverständlich haben wir ihn beschlossen. Es gehört ja auch eine ganze Menge dazu. ({6}) Das Speichergesetz haben wir als Allererstes auf den Weg gebracht. Zu diesem Speichergesetz möchte ich Ihnen mal was sagen: Der richtige Zeitpunkt, dieses Gesetz zu beschließen, wäre letztes Jahr im Juli gewesen, als der Bundeswirtschaftsminister Altmaier hieß. ({7}) Letztes Jahr im Juli gab es Zahlen darüber, dass Gazprom in Deutschland ausspeichert. Letztes Jahr im Juli hätte man erkennen können, dass hier ein wirtschaftlicher Angriff – parallel zu einem militärischen Angriff, der vor den Grenzen der Ukraine vorbereitet wurde – stattfindet. ({8}) Das wäre der Zeitpunkt gewesen, zu erkennen, dass hier ein wirtschaftlicher Krieg gegen die deutschen Interessen beginnt. ({9}) Wenn Sie sich jetzt hierhinstellen und sagen, wir müssten noch Dinge anders machen, wenn Sie fragen, warum das, was wir im März beschlossen haben, noch nicht da ist, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben – erstens – seit März eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht, damit wir mit dieser Krise bestmöglich umgehen können, und wir räumen – zweitens – hinter Ihnen auf, genauso wie ich es Ihnen eben erklärt habe. ({10}) Was haben Sie uns denn eigentlich hinterlassen? Das betrifft auch, aber nicht nur die Energiepolitik. ({11}) Ich möchte mal kurz sagen: Das 100-Milliarden-Euro-Programm, mit dem unsere Bundeswehr wieder einsatzbereit gemacht wird, haben wir nach Ihrer 16‑jährigen Regierungszeit beschlossen. Wir räumen hinter Ihnen auf. Sie haben uns mit Ihrer Energiepolitik in Putins Arme getrieben. Wir räumen hinter Ihnen auf. ({12}) Auch im Haushalt sieht es ja nicht besser aus. Unser Haushalt ist ja um 20 Milliarden Euro besser als der, den Sie noch für dieses Jahr geplant haben. Wir machen weniger Schulden als Sie. Sie haben uns einen Schuldensumpf hinterlassen. Wir räumen hinter Ihrer Politik auf, lieber Kollege Spahn. ({13}) Und wenn Sie einen Plan von uns einfordern, dann kann ich nur sagen: Speichergesetz – ich habe es eben schon vorgetragen –, ({14}) Energiesicherungsgesetz. Wir sorgen dafür, dass niemand die deutsche kritische Infrastruktur gegen unsere Interessen missbrauchen kann. Wo waren Sie eigentlich, als die kritische Infrastruktur in die Hände von Staaten gelangt ist, die nichts mit unseren Interessen gemein haben? ({15}) Wo waren Sie, als es darum ging, zum richtigen Zeitpunkt LNG-Terminals durchzusetzen? Ein grüner Wirtschaftsminister muss das erledigen, Herr Spahn, weil Sie es in 16 Jahren nicht auf die Kette gekriegt haben. ({16}) Ein grüner Wirtschaftsminister muss jetzt sagen: LNG-Terminals im Turbotempo. Ich räume all die Blockaden aus dem Weg. Wir machen das maximale Tempo, damit das in diesem Land gelingt. – Herr Spahn, ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber das ist Teil unseres Plans, ({17}) um dieses Land aus der Krise im Gasbereich zu führen, in die Sie dieses Land gebracht haben. Das ist der Plan, Herr Spahn! ({18}) Und hier sind wir ja auch – Stichwort „erneuerbare Energien“ – gerade dran: Das EEG, das Windenergie-an-Land-Gesetz, das Windenergie-auf-See-Gesetz und weitere Gesetze verhandeln wir gerade alle parallel. Herr Spahn, ich habe in meinem ersten halben Jahr im Deutschen Bundestag mehr gute Gesetze auf den Weg gebracht ({19}) als Sie in Ihrer ganzen Zeit als Gesundheitsminister zum Thema Corona. ({20}) Natürlich gibt es noch viele weitere Maßnahmen, die wir im Gasbereich ergreifen werden, etwa die eigene Gasförderung in der Nordsee; dazu kommen wir dann separat. Ich kann Ihnen sagen: Wir warten nicht auf den nächsten März und hoffen, dass der uns aus der Krise führt, ({21}) sondern wir handeln, damit dieses Land nicht so weit in die Krise reinkommt, wie es geschehen würde, wenn Sie es zu verantworten hätten. Vielen Dank. ({22})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde es schon ein bisschen albern, wenn man jetzt darauf hinweist, wer was zu welcher Zeit nicht gewusst hat. ({0}) Wir könnten ja auch in den Koalitionsvertrag der Ampel schauen. Da hat auch noch nicht jeder gewusst, was dann alles im Februar stattfinden würde. Natürlich ist die jetzige Situation ernst. Die Eskalationshandlung von Putin, der die Gaslieferungen noch mal einseitig einschränkt, bringt uns in eine noch schwierigere Situation. Die Bundesregierung hat die zweite Stufe, die Alarmstufe des Notfallplans Gas, richtigerweise ausgerufen. Diese Maßnahme war sogar überfällig, wenn man die Situation bei Lichte betrachtet. Wir müssen als Land, aber natürlich auch als Gesellschaft zusammenrücken und auch zusammenstehen. Das heißt natürlich auch, dass wir gerade jetzt sämtliche Gaslieferungen aus Russland verstärkt zum einen durch Gas anderer Lieferanten, zum anderen natürlich auch durch Erneuerbare ersetzen müssen. Wir müssen aber auch Gaspotenziale erschließen. Wir müssen andere Ressourcen nutzen, und wir müssen einsparen – das ist überhaupt keine Frage –: durch Anreize, aber auch durch Belohnungen. Wir verlangen in der Tat seit März einen Plan, wie das russische Gas ersetzt werden soll. Die Regierung hat diesen Plan auch zugesichert. Das muss man dann schon aushalten, wenn wir darauf hinweisen, dass dieser Plan eben noch nicht vorliegt, liebe Damen und Herren. Die Bundesregierung handelt in der Tat sehr zaghaft. Es ist viel Zeit verstrichen. Wir müssen die Menschen, wir müssen aber auch die Wirtschaft vor Mangel und vor Not schützen; denn beides droht in Zukunft. Bundesminister Habeck hat ja recht, wenn er sagt, es gehe um jede Kilowattstunde. Umso unverständlicher ist es übrigens, dass im März noch der Block A des Kohlekraftwerks Neurath mit 300 Megawatt von Ihnen vom Netz genommen wurde. Allein mit diesem Block hätten Sie ein Zehntel des monatlich verstromten Gases einsparen können. Keiner kann alles wissen und alles richtig machen; aber das war eben nicht richtig zur damaligen Zeit, und darauf weisen wir hin. Umso unverständlicher ist es übrigens auch, dass der begrenzte Weiterbetrieb der noch laufenden AKWs nicht ernsthaft aufs Tableau kommt. Da geht es nicht um neue Atomkraftwerke, wie sie die AfD beispielsweise fordert. Es geht auch nicht darum, dass Unmengen an zusätzlichen Brennstäben endgelagert werden müssen. Es geht darum, dass wir mit den drei verbliebenen Kernkraftwerken – immerhin mit einer Nennleistung von 4,3 Gigawatt – ein Drittel des verstromten Gases einsparen könnten. Allein das Kernkraftwerk Isar 2 produziert so viel Strom wie alle Gaskraftwerke in Bayern, ähnlich das Kraftwerk in Neckarwestheim in Baden-Württemberg. Wir müssen, wenn es um Netzstabilität, wenn es um Versorgungssicherheit geht, natürlich auch die regionalen Besonderheiten berücksichtigen. Es ist doch schlicht nicht glaubhaft, dass die Reaktoren, die im Dezember noch sicher laufen können und werden, dies im Januar, im Februar und im März nicht mehr können. Deshalb fordern wir eine ideologielose Prüfung eines Weiterbetriebs, wie das ja auch Teile der FDP tun. ({1}) In Deutschland wurde im Mai so viel Gas verstromt wie noch nie, nämlich rund 4 Terawattstunden. Das ist doch Wahnsinn in der jetzigen Situation. Wir laufen in eine Gasmangellage und verstromen gleichzeitig Gas, das wir gar nicht verstromen müssten. Im Moment geht es nicht darum, entweder das Kohlekraftwerk oder das Atomkraftwerk einzuschalten oder zu reaktivieren. Wir brauchen ein Sowohl-als-auch, und Sie handeln hier einfach zu spät. Sie machen zu wenig und sind auch zu unentschlossen angesichts der Tragweite der Schwierigkeiten, denen wir uns ausgesetzt sehen. ({2}) Wir müssen jetzt wirklich alle Kapazitäten nutzen. Wie gesagt: Wir müssen die Laufzeiten der AKWs verlängern, die Kohlekraftwerke nutzen, alle Erneuerbaren nutzen und natürlich massiv ausbauen. Wir müssen aber auch die Biomasse nutzen, und dazu hören wir nicht mehr als Ankündigungspolitik. Viele dieser Anlagen wären in der Lage, kurzfristig ihre Strom-, Wärme-, aber auch Gasproduktion signifikant zu erhöhen und damit auch die Gasspeicher zu schonen. Sie haben es in der Hand, mit vergleichsweise leicht umzusetzenden regulatorischen Anpassungen dieses Potenzial zu heben. Stattdessen schalten Sie mit dem Osterpaket die Wasserkraft ab. ({3}) Sie ignorieren konsequent das Potenzial der Geothermie, und Sie zeigen keinen Fahrplan auf. Den brauchen wir aber, weil die nächsten Wochen und Monate nicht leicht werden. Wie gesagt: Wir müssen einsparen, ersetzen, erschließen und natürlich letzten Endes auch auf etwaige Notsituationen reagieren. Wir sind gerne gesprächsbereit, wenn es um Lösungen geht, bitten Sie aber auch, Ihrer Verantwortung nachzukommen. Herzlichen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält Timon Gremmels das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stellen wir uns vor, wir hätten im März auf Merz gehört. ({0}) Am 9. März hat Friedrich Merz der Presse gesagt: Nach dem Aus der Ostseepipeline Nord Stream 2 fordert die CDU/CSU im Bundestag auch den Stopp von Nord Stream 1. Diese Einschränkungen in der Gasversorgung wären hart, aber akzeptabel. Zitat Friedrich Merz: „Wir sind der Meinung, dass wir das akzeptieren müssen angesichts der Lage, die dort entstanden ist.“ ({1}) Sie haben im März gefordert, Nord Stream 1 vom Netz zu nehmen. ({2}) Was wäre dann passiert? Wir hätten erstens unsere Speicher nicht füllen können, zweitens wäre es für die Verbraucher richtig teuer geworden, und drittens hätten wir insgesamt weniger Gas zur Verfügung. Man kann zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde beantragen, aber in der muss man dann auch die eigene politische Verantwortung adressieren. ({3}) Hätten wir auf die CDU/CSU gehört, hätten wir Nord Stream 1 abgeschaltet, aber dann hätten wir heute eine ganz andere Situation. ({4}) Deswegen sind Ihre Krokodilstränen heuchlerisch. ({5}) – Natürlich haben Sie das gefordert. Das könne Sie gerne nachlesen. Aber wenn Sie sich von Ihrem eigenen Fraktionsvorsitzenden distanzieren, Herr Spahn, dann ist das auch eine Nachricht wert. Sie sagen, Sie hätten das nie gefordert. Lesen Sie bitte nach, was Friedrich Merz gesagt hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Nun fordern Sie Alternativen. Das kann man machen. Sie sagen auf einmal, die Atomkraft sei eine Alternative. Ich habe das Gefühl, dass manch einer in der Union lange darauf gewartet hat, diese alten Konzepte aus der Schublade rauszuholen. ({7}) Nach dem Motto „Jetzt ist Krieg, jetzt können wir alles Mögliche fordern“ kommen diese alten Konzepte wieder auf den Tisch. Das ist nicht die richtige Antwort. ({8}) Überlegen Sie doch mal: Wenn wir die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängern würden: Wo kommen denn die Brennelemente her? ({9}) Die Hälfte der Brennelemente kommt aus Russland. ({10}) Man würde sozusagen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wenn wir statt Gas aus Russland Atombrennstäbe aus Russland importieren würden. Das ist die Politik der Union. ({11}) Blicken wir in die Atomrepublik Frankreich. Was machen die Franzosen? 56 Atomkraftwerke haben sie am Netz. Viele sind stillgelegt, weil sie in Wartung sind bzw. weil es so warm ist, dass mit den Flüssen gar nicht mehr ausreichend gekühlt werden kann. Das ist doch der Punkt. Herr Spahn, wir haben im Mai Strom nach Frankreich exportiert, weil die Atomkraftwerke dort nicht funktioniert haben. ({12}) Wir haben dafür gesorgt, dass in Frankreich die Lichter nicht ausgehen. Und Sie sagen, die Antwort sei, dass wir mehr auf Atomkraft setzen müssen? Das ist viel zu kurz gesprungen, was Sie hier fordern, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({13}) Die Antwort kann nur sein – und ich bin Robert Habeck und der Bundesregierung sehr dankbar, dass wir hier handeln –: ({14}) Wir müssen aufpassen. Wenn Nord Stream 1 jetzt in die geplante Revision geht – die dauert in der Regel zehn Tage –, dann besteht doch die große Gefahr, dass sie danach nicht wieder hochgefahren wird. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes russisches Roulette, wenn wir uns darauf verlassen. Wir müssen jetzt vorsorgen, damit wir reagieren können und damit uns Putin nicht an der Nase herumführt. Die Politik der Bundesregierung ist der richtige Weg, um uns hier voranzubringen. ({15}) Wir müssen viel mehr auf erneuerbare Energien setzen. ({16}) Ich höre immer – das ist sehr schön –, dass die Union das jetzt auch fordert. Wir werden Ihnen Ende der nächsten Sitzungswoche die Gelegenheit geben, Ihren Worten auch Taten folgen lassen. ({17}) Dann werden wir eine ganze Reihe von Gesetzen des Osterpaketes auf den Weg bringen. Und wir werden sehr genau darauf achten, ob Sie Ihren Erkenntnisgewinnen – Sie verkünden, dass Sie jetzt auf einmal auch für den Ausbau von erneuerbaren Energien sind – auch Taten folgen lassen. ({18}) Wir werden Sie daran messen. Hoffentlich unterstützen Sie die von der Ampelkoalition vorgelegten Gesetze dann auch. ({19}) Wir werden sehen, ob Sie zustimmen. Daran werden wir Sie messen. ({20}) – Wir tun für den Winter einiges. Wir werden auch die Versäumnisse der letzten CDU-geführten Regierung nachholen und aufräumen. ({21}) Es war doch Ihr Minister, der blockiert hat. Sie tun immer so, als ob Sie mit den Versäumnissen der letzten 16 Jahre nichts zu tun hätten. Wer war denn Wirtschaftsminister? Das war Peter Altmaier! Deshalb können Sie sich an dieser Stelle überhaupt nicht wegducken. Wir holen das nach, was Sie versäumt haben. Sie tragen für die Situation die Verantwortung. Wir fühlen uns in dieser Bundesregierung gewappnet. Wir sind gut und senden den Menschen das Signal, dass wir ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen; das gilt auch für die Industrie. ({22}) Wir setzen uns dafür ein, dass am Ende des Jahres keiner friert. Dafür schaffen wir die Voraussetzung. Es wird hart. Es wird nicht einfach. ({23}) Aber wir tun alles dafür, dass die Menschen in Sicherheit und in Wärme leben können. Vielen Dank. ({24})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als letzter Redner in dieser Debatte erhält das Wort Stefan Wenzel für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Wenzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir in dieser Lage eine Bundesregierung haben, die handelt und die sich sehr bewusst den Herausforderungen stellt, die aufgrund des Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar dieses Jahres entstanden sind. Es geht um drei Maßnahmen. Zum einen um Maßnahmen zur Notfallvorsorge. Herr Spahn, dafür wurden jetzt im Vorfeld die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um Prioritäten zu klären, um zu prüfen: „Wie hoch sind eigentlich die Verbräuche?“, um die Maßnahmen entsprechend administrieren zu können. Dabei wurden auch sehr unbequeme Entscheidungen getroffen: der Import von LNG, die Nutzung der Netzreserve. Das sind Maßnahmen, die in den letzten Wochen eingeleitet wurden. Zum anderen geht es um das Thema „Effizienz und Einsparung“. Es ist deshalb von elementarer Bedeutung, weil diese Maßnahmen zur Preisdämpfung führen. Das hilft der Industrie und den Verbraucherinnen und Verbrauchern, und zwar weil einerseits die Nachfrage gedämpft wird und andererseits die Rechnungsbeträge kleiner werden. Darüber hinaus geht es um den Ausbau der erneuerbaren Energien, der ganz entscheidend ist. Die Gesetze hierzu – mein Kollege hat darauf hingewiesen – werden zum größten Teil in zwei Wochen auf dem Tisch liegen. ({0}) Wo kommen wir her, Herr Spahn? Sie haben gesagt, das gehe alles nicht schnell genug. Im letzten Jahr um diese Zeit, den ganzen Sommer über bis zur Regierungsübernahme im Herbst haben Sie nicht gemerkt, dass der größte Gasspeicher in Deutschland schlicht und einfach fast leer war. ({1}) Wo war die Regierung, wo war der Wirtschaftsminister Altmaier? Warum haben wir nicht einmal gehört, wie die Situation tatsächlich ist, meine Damen und Herren? ({2}) In den letzten drei Jahren Ihrer Regierungszeit ist der Windkraftausbau um 90 Prozent eingebrochen. ({3}) Das ist wirklich eine heftige Zahl. Wir wären schon längst viel unabhängiger. Vor allen Dingen hätten wir auch die Industrie im Land gehalten. Die Arbeitsplätze, die hier verloren gegangen sind, hätten wir gehalten. Ich muss manchmal auch an den letzten Ausstieg aus dem Ausstieg denken, Herr Spahn. Diese Entscheidung wurde 2010 getroffen und hat uns am Ende Milliarden gekostet. Das haben Sie mit zu verantworten. ({4}) Meine Damen und Herren, klar ist: Wir haben ein Gasproblem, und das spüren die Firmen und die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht erst im Winter, sondern bereits jetzt. Im Moment liegt der Gaspreis im Großhandel bei etwa 130 Euro pro Megawattstunde. Im letzten Jahr hat BASF wahrscheinlich noch für einen Preis von 15 oder 20 Euro eingekauft. Dann gibt es noch Altverträge. Einige haben möglicherweise noch kostengünstige Bezugsquellen. Aber alle, die am Spotmarkt einkaufen müssen, zahlen die hohen Preise, und die haben die Probleme natürlich schon heute. Deswegen geht es jetzt auch darum, zu überlegen: Wie können wir unsere Industrie für die Zukunft wettbewerbsfähig machen, wie sorgen wir dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Wohnung zu vertretbaren Preisen beheizen können? Eine ganz enorme Rolle spielt jetzt, dass wir vorausschauend in die Technologien investieren, die uns in Zukunft helfen. Der Blick nach Frankreich zeigt, dass der Weg, der dort eingeschlagen wurde, nicht der richtige ist. In den letzten drei, vier Monaten des letzten Jahres hatte Frankreich beispielsweise durchweg deutlich höhere Strompreise als wir hier in Mitteleuropa. ({5}) Im Moment sehen wir das auch wieder. Atomkraft, Herr Spahn, hat sich als Preistreiber erwiesen. Und der Bau des einzigen Atomkraftwerks, das dort derzeit neu gebaut wird, ist mittlerweile zehn Jahre in Verzug. Die Kosten betrugen ursprünglich 3,5 Milliarden Euro, jetzt ist man bei 19,5 Milliarden Euro. ({6}) Wenn wir wettbewerbsfähige Preise wollen, muss das anders gehen. Wir dürfen uns auch nicht wieder in neue Abhängigkeiten begeben. Selbst die USA haben 25 Prozent ihrer Brennelemente aus russischen Quellen bezogen. 18 nukleare Kraftwerke in Osteuropa hängen noch von russischen Quellen ab. 53 Prozent der Welturanvorkommen kommen aus Usbekistan, Kasachstan und Russland. ({7}) Diese Zeit lassen wir hoffentlich bald hinter uns, Herr Spahn. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass wir die entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft hier mit möglichst breiten Mehrheiten vornehmen können.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Stefan Wenzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bei solch großen Herausforderungen ist es immer gut, wenn sich auch eine große Oppositionspartei den Herausforderungen stellt. Vielen Dank fürs Zuhören. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.

Dr. Ralf Stegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich bin putzmunter. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die dramatischen Bilder vom Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan sind nach wie vor allgegenwärtig, die humanitäre Situation vor Ort ist weiterhin dramatisch. Man kann es nicht oft genug wiederholen: 95 Prozent der Bevölkerung können sich nicht ausreichend ernähren. Das ist eine Katastrophe, die medial kaum beachtet wird. Hinzu kommen massive Gewalt gegen Frauen, schwere Menschenrechtsverletzungen, zu allem Überfluss noch das Erdbeben, das mutmaßlich Tausende Menschenleben gefordert hat. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und den Angehörigen. Sie brauchen unsere Hilfe. ({0}) Afghanistan befindet sich einmal mehr in einer existenziellen Krise. Wichtige Fortschritte, die die Bundeswehr in Zusammenarbeit mit zivilen Partnerinnen und Partnern der internationalen Gemeinschaft bei der Bildungsarbeit, bei Frauenrechten über viele Jahre erreicht hat, wurden durch die Taliban rückgängig gemacht. Wie kam es zu den fragwürdigen Lageeinschätzungen, zur blitzschnellen Machtübernahme der Taliban und dem hastigen Abzug aus Afghanistan? Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht, für eine transparente Aufklärung zu sorgen. Das gilt gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, gegenüber den afghanischen Ortskräften, die teilweise noch heute in Bedrängnis sind. Sie haben die Arbeit der Bundesrepublik Deutschland und deutscher Organisationen und Institutionen jahrelang unterstützt. Ihnen allen gilt unser großer Respekt und Dank. Alle haben unter extrem schwierigen Bedingungen gearbeitet. Das gilt auch für die zivilen Helferinnen und Helfer. Wir müssen uns schon fragen, ob der Umgang mit Hilfsorganisationen, die wegen der Sanktionen gegen das Talibanregime nicht ins Land dürfen, obwohl sie dort dringend gebraucht werden, an dieser Stelle richtig ist. Ich bedanke mich für die entsprechenden Ankündigungen der Bundesaußenministerin und auch von Staatssekretär Annen heute Morgen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition festgelegt, dass wir die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten. Wir werden den Zeitraum vom Abschluss der Doha-Konferenz 2020 bis zum Abzug der internationalen Streitkräfte untersuchen. Das werden wir parallel zu einer Enquete-Kommission tun. Insgesamt kann das helfen, für zukünftige Auslandseinsätze zu lernen. Und wir werden, lieber Kollege Michael Müller, mit beiden Gremien so gut es geht zusammenarbeiten, auch wenn die Instrumentarien und die Auftragstellungen unterschiedlich sind. Diejenigen, die einen Untersuchungsausschuss für den gesamten Afghanistan-Einsatz fordern, verkennen, dass zwar manches schiefgegangen ist in 20 Jahren, aber ein solcher Zeitraum unmöglich von einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden könnte. Es ist richtig, das mit der Enquete-Kommission zu tun. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will an dieser Stelle positiv hervorheben, dass die Union diesen Antrag unterstützt. Genau diesen Geist der Aufarbeitung werden wir brauchen, um hier ganz konkrete Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn eines ist doch klar: Es ist ja auch eine besondere Konstellation in Regierung und Opposition, die dazu beitragen sollte, dass dieser Untersuchungsausschuss jedenfalls kein oppositionelles Kampfinstrument wird. Wir haben ein gemeinsames Interesse, über Fraktionsgrenzen hinweg unserer Verantwortung gerecht zu werden. ({3}) Was heißt das konkret? Erstens. Wir werden detailliert aufarbeiten, wie es zu der problematischen Lagebewertung kam. Natürlich müssen wir die Frage stellen, warum die Bundesregierung nicht frühzeitig über den drohenden Machtgewinn der Taliban im Bilde war. Wichtig ist auch die Frage, warum die afghanischen Streitkräfte innerhalb von wenigen Tagen von den Taliban überrannt wurden. Lag es an der unzureichenden Ausbildung der afghanischen Soldaten, oder standen tatsächlich große Teile der Bevölkerung hinter der Machtübernahme der Taliban? Hier müssen wir auch in Bezug auf zukünftige Auslandseinsätze ehrlich darüber reden, ob und unter welchen Bedingungen es ein legitimes Ziel von Auslandseinsätzen sein kann, eine Gesellschaft in unserem Sinne umkrempeln zu wollen bzw. einen Regimewechsel anzustreben. ({4}) Zweitens. Wir werden die Kommunikationswege zwischen den zuständigen Ministerien innerhalb der Bundesrepublik und ihren Partnern aufarbeiten, auch was die internationalen Kontakte angeht. Eine besondere Rolle spielt die Kommunikation mit den Vereinigten Staaten, deren Ex-Präsident Trump maßgeblich den unkoordinierten Abzug der internationalen Streitkräfte zu verantworten hat. Drittens. Wir werden klären müssen, welche Maßnahmen möglicherweise früher hätten ergriffen werden müssen. Das schließt auch unzureichende Notfallpläne für die deutsche Botschaft sowie Schwierigkeiten bei der Evakuierung und Aufnahme von gefährdeten Ortskräften ein. Denn klar ist doch: Das wird möglicherweise, vielleicht sogar wahrscheinlicherweise nicht der letzte Evakuierungseinsatz sein, der uns drohen könnte, und es ist unsere Pflicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, darauf dann besser vorbereitet zu sein. ({5}) Das sind drei große Linien, derer sich der Untersuchungsausschuss annehmen wird. Alles andere wird der Verlauf der Arbeit zeigen. Einige Staaten haben übrigens schon begonnen mit der Aufarbeitung. Deutschland ist also gefragt, im internationalen Kontext ebenso seinen Beitrag zu leisten. In seiner Zeitenwende-Rede hier im Hause hat der Bundeskanzler angekündigt, dass wir mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro endlich für eine anständige und zeitgemäße Ausrüstung unserer Soldatinnen und Soldaten sorgen werden. Das gilt für Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch für die Auslandseinsätze. Daher ist es auch unser Auftrag, die Erkenntnisse aus dem Afghanistan-Einsatz nun in eine moderne und zeitgemäße Ausrichtung unserer Auslandseinsätze fließen zu lassen. Lassen Sie uns also an die Arbeit gehen und nach der Konstituierung und der parlamentarischen Sommerpause im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten und der afghanischen Bevölkerung gemeinsam und überparteilich diesen Fragen nachgehen. Dabei geht es uns nicht primär um politische Schuldzuweisungen, sondern darum, Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Wir haben die Verantwortung dafür, zu klären, ob alles für unsere Bundeswehr und die Menschen vor Ort getan wurde. Ich bin froh, dass das auch interfraktionell so gesehen wird. Das öffentliche Interesse am Untersuchungsausschuss ist schon jetzt sehr hoch. Lassen Sie uns einfach etwas Gutes daraus machen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion mag etwas müde aussehen wegen des Sommerfestes. ({0}) Aber spätestens dann, wenn der Kollege Ralf Stegner hier das Wort ergreift, sind wir hellwach, hören aufmerksam zu. Herr Kollege Stegner, ich kann 99 Prozent des Gesagten unterstützen und wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss. Zur Sicherheit werden wir den Kollegen Erndl bitten, als Stellvertreter zu agieren. Ich darf nur folgenden Hinweis geben und mich an der Stelle wirklich ganz ernsthaft auch bei den Kollegen Heinrich, Brugger und Graf Lambsdorff sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken: Wir unterstützen nicht Ihren Antrag, sondern wir haben diesen Antrag gemeinsam erarbeitet, und die CDU/CSU-Fraktion hatte einen nicht unwesentlichen Anteil daran. ({1}) Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss aufgearbeitet werden. Deutsche Soldatinnen und Soldaten, aber auch Entwicklungshelfer, viele Zivilbeschäftigte, viele Diplomatinnen und Diplomaten haben 20 Jahre lang in diesem geschundenen Land vieles getan. Wir haben Opfer zu beklagen, bedauerlicherweise auch viele Tote. Aber wir haben auch vieles erreicht. Das möchte ich ganz grundsätzlich zum Einsatz Deutschlands – nicht nur militärisch, sondern auch diplomatisch, was die Zivilbeschäftigten angeht – sagen, und ich glaube, das muss uns auch weiterhin leiten. Es war grundsätzlich ein guter, ein richtiger Einsatz, der sich nicht nur um Terrorismusbekämpfung gekümmert hat, sondern der in diesem Land auch für soziale Verhältnisse gesorgt hat, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht haben, insbesondere für die Frauen und Mädchen, die in diesem Land leider jetzt wieder von den Taliban schlecht behandelt werden und die geschunden, vergewaltigt und erniedrigt worden sind. Dieser Einsatz Deutschlands für diese Menschen ist in 20 Jahren gut und sinnvoll gewesen. ({2}) Dennoch: Die Bilder des Abzuges können wir nicht vergessen. Wir alle denken an die dramatischen Evakuierungssituationen, in denen sich die Menschen dort befunden haben, auch an die Ängste, die viele ausgestanden haben, und natürlich auch an die Todesopfer, die der hektische Abzug gefordert hat. Wir alle haben uns damals gesagt, auch in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes – ich finde das ein gutes Zeichen für die Verlässlichkeit des deutschen Parlamentarismus, dass wir miteinander unser Versprechen einhalten –: Das Erste, was wir jetzt in dieser akuten Situation tun müssen, ist, die Menschen zu retten. Aber wir haben genauso eine Verpflichtung als Parlament, die wir immer wieder die Menschen dorthin geschickt haben, das aufzuarbeiten. Wie konnte es zu einer derart dramatischen, schrecklichen Situation kommen? Daraus müssen wir für die Zukunft Lehren ziehen. Deswegen ist es richtig: Wir müssen das wirklich kritisch und ohne Ansicht der Person, des Amtes und erst recht einer politischen Zugehörigkeit aufarbeiten. Das schulden wir insbesondere den Menschen, die wir dort in diesen Einsatz hineingeschickt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich möchte ganz herzlich natürlich den Soldatinnen und Soldaten danken, die sich in der Tat in eine Situation begeben haben, die außerordentlich gefährlich war. Immer wieder wird darüber nachgedacht und spekuliert: Was bedeutet das, sich in so einer konkreten Situation dann wirklich einzusetzen und bereit zu sein, den Dienst zu tun? Die Soldaten schwören ja, im Zweifel auch unter Einsatz von Leib und Leben dies zu machen. Aber das haben Sie in dieser Situation getan. Das ist auch ein Moment des Dankes an und des Stolzes auf die Soldatinnen und Soldaten, die diese Evakuierung zusammen mit anderen hinbekommen haben und denen sie gelungen ist. Sie haben viel Leid verhindert, wenn sie auch nicht den Zusammenbruch dieses Regimes haben verhindern können. Deswegen machen wir diese Untersuchung nicht, um irgendjemanden, der dort in der akuten Rettungssituation gehandelt hat, an den Pranger zu stellen, sondern um aufzuklären, warum wir diese Menschen überhaupt in so eine schwierige Situation gebracht haben. Das muss aufgeklärt werden, und dazu bedarf es des parlamentarischen Einsatzes aller; das ist gerechtfertigt. Daher biete ich die Unterstützung meiner Fraktion an und bitte alle herzlich, sich dem anzuschließen. Herzlichen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für Bündnis 90/Die Grünen erhält jetzt das Wort Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum jemand von uns aus den demokratischen Fraktionen, der letzte Legislaturperiode diesen Sommer erlebt hat, wird, glaube ich, die Anrufe vergessen, die wir erhalten haben, die Verzweiflung, die Bilder, die wir gesehen haben vom Flughafen in Kabul, wo Menschen ihre kleinen Babys den Soldatinnen und Soldaten in die Hand gereicht haben, um sie nach der Machtergreifung der Taliban irgendwie in Sicherheit zu bekommen. Und ja, es gab gravierende Fehler und schlimme Versäumnisse, die es aufzuarbeiten gilt. Bereits im Sondierungspapier der Ampel haben wir diesen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss versprochen, und ich freue mich, dass wir heute gemeinsam mit der Union hier mit diesem Untersuchungsauftrag auch liefern. ({0}) Es ist ein guter Untersuchungsauftrag; denn er ist sehr breit gewählt. Er beginnt sehr früh, schon mit den ganzen Abzugsplänen von Donald Trump, wo vieles dessen vorangelegt war, was wir nachher an dramatischen Entwicklungen gesehen haben. Der Untersuchungsausschuss wird sich darum kümmern, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen, wie es zu diesem Lagebild kam, auf Basis welcher Informationen welche Szenarien und Entscheidungen getroffen und vorbereitet worden sind. Er wird sich aber auch damit beschäftigen, warum trotz zahlreicher Warnungen und Aufforderungen im März, im April, im Mai, Juni und Juli letzten Jahres die Bundesregierung teilweise nicht gehandelt hat oder, wenn sie gehandelt hat, sehr unpragmatische und auch schwierige Vorschläge gemacht hat für die Ortskräfte und für besonders betroffene und gefährdete Gruppen wie Menschenrechtlerinnen oder Frauenrechtsaktivistinnen. Ganz ehrlich: Es ist auch gut, dass die Frage der Abschiebungen in diesem Untersuchungsauftrag mit erwähnt ist. Denn es gab Kreise in der damaligen Bundesregierung, die zu der Zeit, als es noch sicherer war und in der man eigentlich hätte Charterflüge organisieren müssen, um die Ortskräfte aus dem Land zu bekommen, sich darum gekümmert haben, wie man in dieser Lage möglichst noch Abschiebeflüge organisiert. Das war verantwortungslos, und auch das muss aufgeklärt werden. ({1}) Dann wird es natürlich auch um die Abläufe der Evakuierung gehen, wo wir noch einmal genau hinschauen werden, was wir damals bewusst und aus guten Gründen nicht getan haben. Dieser Parlamentarische Untersuchungsausschuss ist nicht nur für uns Grüne ein Herzensanliegen und eine Ehrensache; er ist auch Teil unserer Verantwortung – Verantwortung für die Menschen in Afghanistan, die eben nicht mit diesem dramatischen Abzug geendet ist. Auch wenn die Öffentlichkeit nicht mehr so hinschaut und dieser Untersuchungsausschuss eben nur ein Teil der Verantwortung ist, ist es wichtig, dass wir mit der Enquete-Kommission auf die ganzen 20 Jahre Engagement in Afghanistan noch einmal breit und selbstkritisch schauen und daraus Lehren ziehen. Es muss jetzt darum gehen – auch in dieser furchtbaren Lage, die die Menschen in Afghanistan erleben, nicht nur aufgrund der Regierung der Taliban und der Terrorherrschaft dort, sondern vor allem auch angesichts der dramatischen Folgen des Erdbebens –, dass wir alles tun, um die Menschen dort zu unterstützen, gerade die Frauen, gerade die Mädchen, gerade im Bildungsbereich, ohne die Taliban anzuerkennen und das Regime zu rechtfertigen. ({2}) Teil der Verantwortung ist aber auch das, was die Bundesaußenministerin heute gemeinsam mit der Bundesinnenministerin angekündigt hat. Ich hoffe, dass den Eckpunkten im Juli dann jetzt auch schnell entsprechende und großzügige Taten folgen werden, um das Aufnahmeprogramm endlich auf den Weg zu bringen. Auch das hat etwas mit den Versäumnissen des letzten Jahres zu tun. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, in diesem Untersuchungsausschuss geht es nicht darum, irgendjemanden vorzuführen oder an den Pranger zu stellen, sondern Licht ins Dunkle zu bringen, aufzuklären und die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Es geht darum, Prozesse, Strukturen und Fehler zu beleuchten und zu erkennen, was man tun muss, um genau das in Zukunft abzustellen. Aber ja, es geht auch darum, Verantwortung zu benennen. Deshalb möchte ich am Ende auch noch darauf zu sprechen kommen, dass wir eine Verantwortung haben für die Menschen, die wir in diesen 20 Jahren in die Einsätze geschickt haben, und auch für die Menschen, die sich einfach so, beispielsweise im Rahmen einer NGO, dort für eine bessere Zukunft engagiert haben. Heute ist Tag des Peacekeeping. Vorhin war ich mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen, auch der Außenministerin, der Innenministerin und der Verteidigungsministerin, im Bundesinnenministerium, wo wir Polizistinnen und Polizisten, zivile Expertinnen und Experten und auch Soldatinnen und Soldaten für ihr Engagement geehrt haben, wo wir ihre Berichte, ihre Motivation gehört haben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ganz besonders all denjenigen danken, die sich nicht nur in 20 Jahren dort engagiert haben, sondern auch angesichts der schwierigen Diskussionen, die wir im letzten Sommer über die Rückkehr der Soldatinnen und Soldaten hatten, die Evakuierungsmission durchgeführt haben und die aus meiner Sicht nicht genug geehrt worden sind. Letztes Jahr haben unter den schlimmsten und schwierigsten Bedingungen sehr viele Menschen, trotz aller Fehler und Versäumnisse, sowohl im Auswärtigen Amt als auch im Verteidigungsministerium, in der Bundeswehr und auch viele Zivilistinnen und Zivilisten aus NGOs, die selbst Flüge organisiert haben, dafür gesorgt, dass Menschen gerettet werden. Ihnen gilt unser tiefster Dank. Heute ist der Tag, das noch einmal zu würdigen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende möchte ich mich wirklich ganz besonders noch bei der Kollegin Heinrich sowie bei den Kollegen Lambsdorff und Wadephul bedanken. Der Verhandlungsprozess mit Ihnen war wirklich so, wie ich mir Politik im besten Sinne vorstelle. Grüne und FDP hatten es da etwas leichter. Wir waren in der letzten Legislaturperiode in der Opposition. Wir mussten uns nur anhören: Werdet ihr denn eigentlich liefern, wenn ihr dann Regierungsverantwortung tragt? – Sie hatten in der letzten Legislaturperiode die Regierungsverantwortung, und die Verhandlungen waren derart konstruktiv. Sie haben nicht versucht, irgendwas zu blockieren, irgendwie herumzutricksen. Das ist genau die Art von Parlamentarismus und Politik, die die Menschen von uns erwarten, nämlich eine Politik, die sich der Verantwortung stellt, die Fehler aufarbeitet, ({5}) die für die Zukunft lernen will, die auch jenseits der so oft nervigen Rollen von Opposition und Koalition gemeinsam an einem Strang zieht, für die Menschen in Afghanistan, für die Menschen, die wir in die Einsätze geschickt haben. Deshalb vielen Dank, dass wir diesen Untersuchungsausschuss gemeinsam so auf den Weg bringen können. Hoffentlich können wir genau in diesem Geiste auch in diesem Untersuchungsausschuss zusammenarbeiten. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt erhält das Wort für die AfD-Fraktion Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Vor einigen Wochen hat die AfD-Bundestagsfraktion hier einen Antrag auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses eingebracht, der die politischen, militärischen, zivilen Engagements in Afghanistan aufarbeiten sollte, und zwar über den gesamten Zeitraum des Einsatzes. Unser Antrag ist abgelehnt worden. Sie hatten einen eigenen Antrag angekündigt. Der liegt uns jetzt vor. Wie erwartet, befasst dieser sich nur mit der Evakuierung und nicht mit den Entscheidungen, die zur Katastrophe in Afghanistan geführt haben. Die Pseudoopposition Union zeichnet hier mit. Das Afghanistan-Desaster vereint Sie im selben Boot. Man möchte auch sagen: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. ({0}) Und was für ein Desaster das war: 59 deutsche Soldaten haben ihr Leben gelassen, drei Bundespolizisten, 64 000 afghanische Sicherheitskräfte, 43 000 afghanische Zivilisten, 42 000 regierungsfeindliche Kämpfer, Millionen von Afghanen waren zur Flucht gezwungen, und die totale Destabilisierung eines Kulturraums war die Folge. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, stelle ich fest, dass bereits auf der ersten Seite „deutsche Friedensmission in Afghanistan“ steht. Das, meine Damen und Herren, ist blanker Hohn. ({1}) Eine Gesamtaufklärung ist dringend nötig. Jeder Bürger weiß, dass Afghanistan ein Desaster war. Es muss um Aufarbeitung gehen, und nicht nur um den katastrophalen Abzug. Eine oberflächliche Enquete-Kommission reicht hier nicht aus. Ich darf unsere Außenministerin Annalena Baerbock zitieren, die der SPD im August letzten Jahres sagte – Zitat –: Bei dem einen kann man Zeugen … laden und die Bereitstellung von Akten beantragen, bei dem anderen werden Schlussfolgerungen für die Zukunft getroffen. Wie sollen wir denn Schlussfolgerungen für die Zukunft treffen, wenn wir nicht bereit sind, über Fehler der Vergangenheit zu reden? Damit hat unsere Außenministerin recht. Aber sie macht einen weiteren Fehler; auch sie will den Untersuchungszeitraum nur auf den Abzug beschränken. Der ausschlaggebende Zeitpunkt für dieses Desaster ist nicht im Herbst 2021, sondern 20 Jahre davor, im Jahr 2001 zu suchen, als die rot-grüne Bundesregierung den Amerikanern in den Krieg folgte. ({2}) Eine weitere interessante Frage, die zu klären wäre, ist: Warum setzte die GroKo den Einsatz fort, selbst als im Jahr 2010 die Niederländer abzogen, zwei Jahre später unsere französischen Partner. Deutschland hätte sich wie die Niederlande und Frankreich für nationale Interessen einsetzen müssen. Stattdessen erzählte man sich im Berliner Elfenbeinturm zwei Jahrzehnte lang Märchen und behandelte unsere deutschen Soldaten wie Luft – eine selbstreferenzielle Blase, welche die eigenen Werte auf die außenpolitische Lage projiziert. Wenige Wochen vor der desaströsen Evakuierung verkündete der damalige SPD-Außenminister Heiko Maas, eine westlich geprägte afghanische Zivilgesellschaft würde den Taliban standhalten und es gebe kein Zurück in das Jahr 2001. Welch Hybris! Eine reine Realitätsverweigerung! ({3}) Wir täten gut daran, mit anderen Nationen in einen respektvollen Dialog zu treten, ohne westliche Chauvinismen zu transportieren. Ihre sogenannte wertebasierte Außenpolitik wurde am 27. August letzten Jahres widerlegt. Afghanistan ist das mahnende Symbol für das Scheitern des Nationbuilding. Und es ist krachend gescheitert. Daran hat sich Deutschland beteiligt, und es ist bitter notwendig, auch aus Respekt vor den gefallenen deutschen Landsleuten, eine komplette Aufarbeitung herbeizuführen. Die Altparteienregierungen sind dafür verantwortlich. Es muss aufgezeigt werden, welche Fehler hier 20 Jahre lang gemacht worden sind; da kann man sich nicht darauf zurückziehen, das seien zu viele Akten. Genau das aber ist mit Ihrem Antrag nicht möglich, und ich sage Ihnen: Es ist von Ihnen auch gar nicht gewollt, weil Sie dafür die Verantwortung tragen. ({4}) Das ist wirklich schandhaft. Schämen Sie sich! ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die FDP-Fraktion erhält jetzt das Wort Alexander Müller. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im August letzten Jahres endete der deutsche Afghanistan-Einsatz. Es ist immer wieder interessant, von der AfD zu hören, dass es den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages offensichtlich überhaupt nicht gegeben hat und wir uns da in ein Abenteuer gestürzt haben. Aber gut, das ist eine andere Sache. Die Bundeswehr, politische Stiftungen und zahlreiche Entwicklungsorganisationen leisteten unter schwierigsten Bedingungen dort Höchstleistungen. 35 Soldaten der Bundeswehr sind dort gefallen; insgesamt 59 Soldaten kamen nicht lebendig nach Hause. Nach dem sehr plötzlichen Ende des Einsatzes im letzten Sommer, initiiert durch Donald Trump, sind heute die Taliban wieder zurück an der Macht. Die Unterdrückung der Freiheitsrechte und die wirtschaftliche und existenzielle Not der Menschen bestimmen dort jetzt wieder den Alltag. Viele fragen sich daher: War dieser Einsatz umsonst? Ich bin sicher: So pauschal lässt sich die Frage nicht beantworten. Wir haben einer ganzen Generation von Afghaninnen und Afghanen ermöglicht, Bildung, Demokratie und Freiheit zu erleben. ({0}) Wir haben die terroristischen Strukturen der al-Qaida zerstört und damit auch die Terrorgefahr für Europa verringert – Terror, der lange Zeit aus Afghanistan heraus koordiniert worden ist. Wir haben es geschafft, dort viele Schulen und Straßen zu bauen. Die Infrastruktur zur Strom- und Wasserversorgung ist installiert und verbessert worden. Wir haben zwei Jahrzehnte genutzt, um gemeinsam mit den Afghanen an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Der deutsche Einsatz in Afghanistan endete im letzten Jahr aber chaotisch. Der schnelle Abzug, insbesondere unserer US-amerikanischen Partner, überraschte die damalige Bundesregierung. Der Vormarsch der Taliban wurde von unseren zuständigen Ämtern und Nachrichtendiensten krass falsch eingeschätzt, mit katastrophalen Folgen. Die Kampfkraft der afghanischen Armee wurde von deutschen Dienststellen viel zu positiv eingestuft, diejenige der Taliban viel zu schwach bewertet. Die Bilder aus Juli und August 2021 haben uns alle tief berührt: Taliban, die brutal und schnell das Land einnehmen, Menschen, die um ihr Leben bangen und das Land hastig verlassen wollen, Horden von Menschen, die sich vor dem Flughafen gegenseitig erdrücken aus Angst um ihr Leben, Bombenanschläge in diese Menschenmassen hinein, Babys, die über den Stacheldrahtzaun hinübergereicht werden, um den Kindern eine Zukunft zu ermöglichen, panische Räumung von Botschaften, Ortskräfte, die uns vorher vor Ort unterstützt hatten und nun um die Rettung ihres Lebens flehten – dies alles darf sich nicht wiederholen. Wir müssen jetzt die richtigen Lehren daraus ziehen. ({1}) Als FDP-Fraktion haben wir früh darauf hingewiesen, dass jeder Einsatz der Bundeswehr eine Strategie braucht und regelmäßig evaluiert werden muss. Wir müssen uns immer im Voraus fragen: Was wollen wir erreichen? Bis wann wollen wir es erreichen? Wann kann die Aufgabe erfüllt sein? Und wo ist der Zeitpunkt für einen Abzug erreicht? Diese Fragen wurden im Fall Afghanistan aber gar nicht gestellt. Das gipfelte im Chaos in Kabul im Sommer 2021. Als Parlament stellen wir uns dieser Verantwortung und arbeiten die Vergangenheit auf, um daraus für die Zukunft zu lernen. Wir wollen fokussiert den Zeitraum Februar 2020 bis September 2021 untersuchen. Dabei werden wir der Frage nachgehen, welche Erkenntnisse die Bundesregierung hatte. Welches Entscheidungsverhalten und Handeln fand in der Bundesregierung statt? Wir fokussieren uns dabei auf die Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr und weiterer NATO-Kräfte, der Diplomaten sowie der Evakuierung von Menschen aus Afghanistan. Es geht uns dabei nicht um pure Schuldzuweisungen. Daher werden wir ergänzend eine Enquete-Kommission einsetzen. So stellen wir sicher, dass wir auf der einen Seite die konkreten Versäumnisse und Fehler der letzten Jahre parlamentarisch untersuchen und auf der anderen Seite gleichzeitig die Lehren daraus für zukünftige Bundeswehreinsätze der Bundesrepublik ziehen. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses und der Enquete-Kommission werden von großer Bedeutung sein für unser zukünftiges Engagement. Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat uns gezeigt, wie schnell Frieden und Sicherheit gefährdet sein können, hier bei uns in Europa. Es ist daher von größter Bedeutung, dass wir reaktionsfähig sind, dass wir Krisen meistern können, dass alle relevanten Ministerien, Behörden und Akteure miteinander abgestimmt und handlungsfähig sind ({2}) und dass wir auch ein klares politisches Verständnis unserer Ziele artikulieren. Daher begrüße ich auch ausdrücklich die Erstellung einer nationalen Sicherheitsstrategie. Diese Fortschrittskoalition bekennt sich zur Verantwortung Deutschlands in der Welt, für unseren Beitrag zu Stabilität und Frieden, zur Aufrechterhaltung des internationalen Völkerrechts. Die Einsetzung dieses Parlamentarischen Untersuchungsausschusses unterstützt diesen Auftrag. Daher bitte ich um Ihre Unterstützung für den Auftrag. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält das Wort für die Fraktion Die Linke die Abgeordnete Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan wollen SPD, Grüne, FDP und Union, die 20 Jahre lang die Hand für diesen Krieg gehoben haben, einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Was Sie aber auf keinen Fall wollen, ist eine umfassende Aufarbeitung Ihrer Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Sie verweigern dies, weil Sie sonst aus dem mörderischen Desaster des Krieges am Hindukusch Konsequenzen ziehen müssten, und das wollen Sie nicht. Sie wollen so weitermachen wie bisher. Deshalb soll sich der Untersuchungsausschuss damit gar nicht beschäftigen, sondern nur mit dem chaotischen Abzug und der Evakuierung durch die Bundeswehr. Dabei gäbe es vieles mehr zu untersuchen. Ich spreche jetzt nicht von den ganzen Kriegslügen, mit denen Sie hier 20 Jahre lang den Krieg gerechtfertigt haben, obwohl Sie wussten, dass die Bundeswehr weder zur Frauenbefreiung noch zum Brunnenbohren an dem blutigen Gemetzel beteiligt war. ({0}) Ich spreche von den 200 000 getöteten Afghaninnen und Afghanen, ({1}) von den 59 toten Bundeswehrsoldaten, die ihr Leben in diesem sinnlosen Abenteuer verloren haben, von den immensen Kriegskosten von über 12 Milliarden Euro, die die deutsche Gesellschaft zu schultern hatte. All das soll nicht untersucht werden. Da sagen wir: Was für eine Farce! ({2}) Auch die zahlreichen Kriegsverbrechen Ihrer engsten Verbündeten rufen nach Aufklärung, Untersuchung und Ahndung. Stattdessen soll jemand wie der Journalist Julian Assange, der nicht nur die Kriegsverbrechen der USA im Irak, sondern auch die Ihrer NATO-Verbündeten in Afghanistan publik gemacht hat, lebendig begraben werden. Die Bundesregierung duckt sich auch hier wieder weg. Wir als Linke sagen ganz klar: Nicht wer Kriegsverbrechen aufdeckt, gehört ins Gefängnis, sondern wer sie begeht oder befiehlt. ({3}) Afghanische Leben zählen einfach nicht. Sie sind Ihnen den Untersuchungsausschuss nicht wert. Und kommen Sie mir nicht damit, dass dies in einer Enquete-Kommission aufgearbeitet werden könnte. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Abgeordnete.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Diese interfraktionelle Arbeitsgruppe soll den umfangreichen und bedeutsamen Sachkomplex lösen? Sie wissen, dass das nicht stimmt. Ein Untersuchungsausschuss hat ganz andere Instrumente und Möglichkeiten als eine Enquete-Kommission.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischen- -

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Wahrheit ist, dass Sie sich bereits – –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Frau Abgeordnete, ich möchte Sie etwas fragen: Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Strack-Zimmermann?

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Alles klar.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Wahrheit ist, dass Sie sich bereits nach neuen Kriegen umschauen: in der Sahelzone und anderswo. ({0}) Wer ernsthaft, meine Damen und Herren, an Aufklärung und Konsequenzen interessiert ist, darf jedenfalls den Untersuchungsauftrag nicht auf die Tage des Abzugs der Bundeswehr beschränken. Der Abzug – so chaotisch er war – war nicht der Grundfehler, sondern das waren die 20 Jahre Krieg in Afghanistan. ({1}) Die Linke war von Anfang an gegen diesen Krieg. Wir als Linke wollen einen Untersuchungsauftrag, der die gesamte Zeit des Afghanistan-Kriegs umfasst und der die begangenen Kriegsverbrechen nicht einfach ausblendet. ({2}) Das ist offensichtlich der Grund, warum sich all die Parteien, die 20 Jahre lang Ja gesagt haben zu diesem Krieg, im Vorfeld dieser Debatte auf diesen Untersuchungsauftrag geeinigt haben und wir Linke, die Nein gesagt haben zu diesem Krieg, einfach von den bisherigen Beratungen ausgeschlossen wurden. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält für die SPD-Fraktion der Kollege Jörg Nürnberger das Wort. ({0})

Jörg Nürnberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005169, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte eine Bitte: Wenn die AfD und Die Linke ihre ideologischen Scheuklappen ablegen würden, könnten sie erkennen, dass die parallele Einsetzung von Enquete-Kommission und Untersuchungsausschuss in diesem Fall sachgerecht ist. ({0}) Rund 20 Jahre lang haben deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan gedient, haben sich Entwicklungskräfte, Journalistinnen und Journalisten, Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtler und viele andere Personen für Menschenrechte und eine Demokratisierung des Landes eingesetzt. Es war eine der wohl anspruchsvollsten Missionen, und sie endete nicht mit einem koordinierten Abzugsverfahren, sondern mit einer elftägigen Evakuierungsoperation durch das Auswärtige Amt und vor allem durch die Bundeswehr. ({1}) Die dramatischen Bilder aus dem vergangenen Sommer sind uns allen in Erinnerung geblieben: Menschen, die auf dem Flughafen Kabul versuchten, sich einen der wenigen Plätze in einem der Evakuierungsflüge zu sichern. Durch den Fall von Kabul hatte sich die Sicherheitslage in Afghanistan schlagartig verändert. Eine sofortige Evakuierung des Personals der deutschen Botschaft, deutscher Staatsbürger/-innen sowie betroffener Ortskräfte wurde unumgänglich und musste quasi von heute auf morgen vorbereitet und durchgeführt werden. Was die Bundeswehr im Rahmen dieser Evakuierung geleistet hat, verdient unseren größten Respekt. Vom 16. bis zum 26. August 2021 wurden mehr als 5 340 Schutzsuchende über eine Luftbrücke der Bundeswehr in Sicherheit gebracht. Für diese Leistung möchte ich mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bei unseren Streitkräften sowie allen anderen daran Beteiligten bedanken! ({2}) Offen ist bis heute die Frage, wie es überhaupt zu dieser unerträglichen Situation kommen konnte. Genau diese Frage müssen wir dringend beantworten. Bereits in unserem Koalitionsvertrag – es wurde mehrfach darauf hingewiesen – haben wir festgehalten, die Evakuierungsoperation in einem Untersuchungsausschuss aufzuarbeiten. Hier stellen wir als SPD und damit als Mitglied der damaligen Bundesregierung uns selbstverständlich unserer Verantwortung. In einem gemeinsamen Antrag, lieber Herr Dr. Wadephul, der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion haben wir nun die genauen Details für die Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss festgehalten. Ziel des Untersuchungsausschusses wird es sein, den gesamten Abzug aus Afghanistan aufzuarbeiten. Der Untersuchungszeitraum ist, wie bereits erwähnt, vom Doha-Abkommen vom Februar 2020 bis zum tatsächlichen Abzug im September 2021. Wir werden uns im Rahmen dieser Arbeit intensiv mit den Fehlern, die in diesem Zeitraum gemacht wurden, auseinandersetzen. Wir wollen vor allem die folgenden Fragen beantworten: Warum war die Bundesregierung nicht frühzeitig und nicht ausreichend über die Lage im Land und die bevorstehenden Zugewinne der Taliban informiert? Warum gab es zu dem Zeitpunkt, als die Evakuierung angeordnet wurde, offenbar nur unzureichende Notfallpläne, unter anderem mit der Folge, dass zum Beispiel akut gefährdete Ortskräfte mit dem Abzug der Bundeswehr weiterhin in Afghanistan verbleiben mussten? Im Detail haben wir dazu eine Liste von fast 40 offenen Fragen, von denen ich hier nur einige Beispiele nennen möchte. Wir werden klären müssen: Wie erfolgte die Abstimmung zwischen den betroffenen Häusern, und welche Absprachen gab es mit NATO-Verbündeten, insbesondere den USA? Welche Schwierigkeiten und Verzögerungen gab es bei der Evakuierung und bei den Prozessen zur Identifizierung und Aufnahme der gefährdeten Ortskräfte? Wie intensiv war die Gewinnung und wie zuverlässig war der Austausch dieser nachrichtendienstlichen Informationen, die hier vorlagen? Für all diejenigen, die im Rahmen der Friedensmission in Afghanistan Leib und Leben riskiert haben, müssen wir genau diese Antworten geben. Das betrifft auch den Umgang mit den Ortskräften, die deutschen Stellen über zwei Jahrzehnte treue Dienste geleistet haben. Dabei geht es uns keinesfalls darum, ein Tribunal abzuhalten oder über einzelne Akteure den Stab zu brechen. Vielmehr wollen und werden wir objektiv die Geschehnisse und Fehler aufarbeiten und die bereits genannten Fragen beantworten. Wir werden also auch einen Blick in die Zukunft richten, um Schlüsse für künftige Evakuierungsmissionen zu ziehen und so aus unseren eigenen Fehlern zu lernen. Eine eigene Aufarbeitung der Evakuierung ist daher in Richtung unserer internationalen Partner ein wichtiges Signal, dass auch wir unseren Beitrag zur Aufklärung der Ereignisse leisten und dass wir bei zukünftigen gemeinsamen Friedensmissionen ein leistungsfähiger Partner sein werden. Ich gehe davon aus, dass die betreffenden Ministerien und auch das Bundeskanzleramt – inklusive des BND – die notwendigen Unterlagen dem Parlament zur Verfügung stellen und uns bei unserer Arbeit unterstützen. Ich freue mich daher auf eine intensive und am Ende erfolgreiche Zusammenarbeit im Untersuchungsausschuss, um aus den dort gewonnenen Erkenntnissen die notwendigen Maßnahmen ergreifen zu können, damit wir künftig besser auf ähnliche Situationen vorbereitet sein werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Afghanistan hat sich in den vergangenen Tagen ein schweres Erdbeben ereignet; ein weiterer Schicksalsschlag für dieses geschundene Land. Ich möchte den vielen Hunderten Familien, die Angehörige verloren haben, mein Mitgefühl ausdrücken. Ich hoffe, dass die Bundesregierung trotz der schwierigen politischen Lage humanitäre Unterstützung und Katastrophenhilfe leisten kann; die Ankündigung haben wir heute vernehmen können. Meine Damen und Herren, eine Katastrophe ist es wahrlich auch, was sich mit der Machtübernahme der Taliban im letzten August in Afghanistan abgespielt hat. Viele Errungenschaften aus den letzten 20 Jahren sind damit auf einen Schlag zerstört worden. Wenn man vernehmen muss, was hier von links und rechts zu der terroristischen Gefahr gesagt wurde, die letztendlich 2001 von al-Qaida ausgegangen ist, auch für Europa, dann kann nur der Hinweis gelten, dass man sich hier noch mal eindringlich mit den Details und mit der Geschichte der letzten 20 Jahre auseinandersetzen sollte. Was den Abzug betrifft, haben wir sicherlich alle noch die Bilder von den Menschenmassen am Flughafen vor Augen, von der Angst in den Gesichtern der Menschen und von kleinen Kindern, die von ihren verzweifelten Eltern über die Absperrungen gehoben wurden. Das geht einem nahe, und natürlich haben wir uns alle den Abschluss eines 20-jährigen Militäreinsatzes anders vorgestellt. Was hier auch deutlich werden muss: Unsere Bundeswehr hat diese schwierige und gefährliche Mission, die Aufträge, die auch wir als Parlament ihr gegeben haben, umgesetzt. Dafür sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten von ganzem Herzen dankbar. ({0}) Wenn wir unseren Dank ausdrücken, dann gehören natürlich immer auch die Gedanken an die dazu, die nicht mehr zu ihren Familien heimkehren konnten. Meine Damen und Herren, dass es so kam, wie es gekommen ist, ist vor allem eine politische Niederlage. Und deswegen ist es wichtig, dass wir bei der Evakuierungsoperation die politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungen konsequent aufarbeiten, reflektieren und daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen. Wenn Deutschland in der Welt Verantwortung übernehmen will, dann müssen wir auch ein leistungsfähiger und verlässlicher Partner sein. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Strukturen genügen, um zukünftig solche Situationen zu vermeiden. Die Debatten zur nationalen Sicherheitsstrategie und auch über einen nationalen Sicherheitsrat sind hier sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Heute, knapp ein Jahr nach dem Abzug, ist die Frage der Evakuierungen immer noch nicht abgeschlossen. Das Schicksal der immer noch in Afghanistan befindlichen Ortskräfte und ihrer Familien muss uns jeden Tag antreiben, schneller und besser zu werden. Es ist nämlich fundamental, dass wir die Ortskräfte, die unsere Arbeit vor Ort erst ermöglicht haben, nicht hängen lassen. Das wäre auch ein schwieriges Signal an die Ortskräfte in den anderen Einsatzländern. Meine Damen und Herren, ja, dieser Abzug muss aufgearbeitet werden, hat er doch für viele Menschen und auch für unsere Soldatinnen und Soldaten eine hohe Gefährdung verursacht. – Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Die Einsetzung des Untersuchungsausschusses auf Basis eines gemeinsamen Antrags von vier Fraktionen ist deshalb richtig. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und darauf, dass wir über Fraktionsgrenzen hinweg ausarbeiten, was wir in Zukunft besser machen können. Herzlichen Dank. ({1})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Letzter Redner in dieser Debatte ist Patrick Schnieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Vorredner haben zu Inhalt und Genese des Auftrags und zu dem, was wir mit diesem Antrag hier erreichen wollen, das Wesentliche gesagt. Ich möchte deshalb noch einige Anmerkungen zum Verfahren machen. Wir werden das voraussichtlich in der Folge nach gängiger Praxis an den Geschäftsordnungsausschuss überweisen. Aber gestatten Sie mir zuvor noch eine Bemerkung zu dem, was wir von den Extremen auf der linken und rechten Seite gehört haben. ({0}) Da schwadroniert die AfD von einem angeblich respektvollen Dialog – so wörtlich –, der hier geführt werden soll, und das, was dann inhaltlich damit verbunden wird, ist nicht nur destruktiv; es ist das genaue Gegenteil. Und Die Linke ist sich nicht zu schade, das nicht nur im Duktus aufzugreifen. Sie hätten diesen Antrag hier gemeinsam einbringen können. Da wächst wieder zusammen, was zusammengehört: die beiden Enden eines Hufeisens. ({1}) – Und das, was Sie jetzt wieder hier an Lärm verursachen, bestätigt ja nur, dass das richtig ist, was wir sagen. – Sie eint wieder einmal, dass Sie an einer Diskussion, die an der Sache orientiert ist, überhaupt kein Interesse haben, dass Sie an einer parlamentarischen Untersuchung gar kein Interesse haben. Es ist sachgerecht, dass wir das, was im letzten Sommer passiert ist, in einem Untersuchungsausschuss aufklären, ({2}) aber auch diesen gesamten Einsatz, der nicht nur negativ bewertet werden kann. Sie nehmen übrigens schon Schlussfolgerungen voraus, die Sie in einem Untersuchungsausschuss angeblich erst klären wollen. ({3}) Deshalb ist es vollkommen sachgerecht, was wir vorhaben: das in diesen beiden Gremien zu bearbeiten. Es ist auch sachgerecht, dass die Opposition, dass wir an diesem Untersuchungsauftrag mitwirken. Ich bin dankbar dafür, dass wir das mit den Regierungsfraktionen so hinbekommen haben. Wir haben über zwei Jahrzehnte gemeinsam politisch diese Mandate getragen, und deshalb ist es auch sinnvoll, dass wir gemeinsam den Untersuchungsausschuss einsetzen. Wir wollen – ich will das noch einmal betonen und hervorheben – aus den Fehlern lernen, wir wollen für die Zukunft lernen, und wir wollen die nötigen Schlussfolgerungen ziehen. Das steht im Mittelpunkt, und dafür ist auch dieses Gremium der richtige Ansatz. ({4}) Ich möchte mich sehr herzlich für ein faires Verfahren bedanken. Wir waren gerade in den Verfahrensfragen nicht in allen Punkten einig – es gab hier oder da Dissens –, und es ehrt auch die Regierungsfraktionen, dass sich die Union mit ihren Auffassungen dort an einzelnen Stellen durchsetzen konnte, was die Größe des Ausschusses mit zwölf Mitgliedern angeht, damit wir spiegelbildlich abbilden, wie das Plenum zusammengesetzt ist, aber auch hinsichtlich des Verfahrens. Mir ist wichtig, zu sagen: Wir wollen kein Hauruckverfahren. Der Respekt gebietet es, dass wir hier in einem ordentlichen Verfahren jetzt auch unter Einbeziehung des Geschäftsordnungsausschusses vorankommen. Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, noch einmal herzlichen Dank an alle, die konstruktiv hier mitgearbeitet haben. Ich hoffe, dass die weiteren Beratungen und die anschließende Arbeit des Untersuchungsausschusses in diesem Geiste weitergeführt werden. Das wäre ein Gebot des Respekts gegenüber den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Ministerien, aber auch gegenüber den Menschen in Afghanistan. ({5})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von Preisschock und Mietschulden schreibt der Mieterbund, von Angst vor einer Spirale nach unten der Bundesverband der Deutschen Industrie, und die Bundesregierung ruft die Alarmstufe aus. Wir sind im Krisenmodus. Die Lage ist ernst. Doch in jeder Krise liegt auch eine Chance. Wir als Unionsfraktion begrüßen es ausdrücklich, dass sich der Bundeskanzler mit dem Staatsminister in der letzten Woche gemeinsam auf den Weg gemacht hat und die Riemser Erklärung auf den Weg brachte, um Ostdeutschland zu stärken und als die Region, die am meisten von diesen Krisen, die jetzt auf uns zukommen, geplagt ist, weiter fitzumachen, um eine Chance zu haben, Ostdeutschland weiter nach vorne zu bringen. Und das ist unser Antrag. ({0}) In jeder Krise liegt auch eine Chance, auch eine Chance für Ostdeutschland, für unsere Region, gemeinsam nach vorne zu schauen. Dafür brauchen wir die Punkte der Riemser Erklärung, und darum möchten wir auch der Ampelregierung die Hand reichen, uns gemeinsam als Deutscher Bundestag auf den Weg zu machen und die Riemser Erklärung auch hier im Deutschen Bundestag umzusetzen. Wir brauchen Infrastruktur, insbesondere für die Standorte der Raffinerien in Leuna und in Schwedt. ({1}) Der Bundeswirtschaftsminister hat eine Taskforce eingerichtet und Staatssekretär Kellner als deren Leiter nach vorne gerückt. Ja, es ist richtig, miteinander zu sprechen, um Lösungen zu finden. Aber wir fordern auch Transparenz, und zwar nach innen und außen, Transparenz auch gegenüber dem Deutschen Bundestag, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, gerade in Ostdeutschland, um die drängenden Probleme zu adressieren und natürlich zu lösen. Was sind die drängenden Probleme? Wir wissen, dass das Öl aus Russland endlich sein wird. Und wir wissen auch, dass die Leitung aus Rostock nicht ausreicht, um Schwedt mit russischem Rohöl zu versorgen. Es ist richtig, jetzt darüber nachzudenken, weitere Pipelines zu bauen; aber das werden wir in einem halben Jahr nicht hinkriegen. Darum muss die Frage beantwortet werden: Wie transportieren wir ausreichend Rohöl nach Schwedt, um diese Raffinerie am Laufen zu halten? – Wir reichen die Hand in Richtung der Ampelfraktionen: Lassen Sie uns gemeinsam die Antworten finden, damit die Kraftwerke, die Industriearbeitsplätze vor Ort erhalten werden, damit Versorgungssicherheit in ganz Ostdeutschland gewährleistet ist. ({2}) Ja, wir sind im Krisenmodus. Dieser Krisenmodus bietet die Chance, Ostdeutschland wieder zum Wirtschaftsmotor in Mitteleuropa zu machen. Polen und Tschechien blicken jetzt nach Deutschland, was wir in diesen Tagen und Wochen gemeinsam miteinander vereinbaren, um dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine standzuhalten. Ja, es ist richtig, dass sowohl in der Riemser Erklärung als auch hier im Deutschen Bundestag gefordert wird, dass Infrastruktur geschaffen wird, dass Eisenbahninfrastruktur von Deutschland nach Polen, von Deutschland nach Tschechien ausgebaut wird, damit Menschen miteinander korrespondieren können, damit Güter von Ost nach West transportiert werden können, damit Mitteleuropa wieder das Herz der Industrie wird. Liebe Ampel, wir legen Ihnen unseren Antrag vor. Es ist die Riemser Erklärung. Wir würden uns freuen, wenn Sie nicht nur Staatsminister Schneider, sondern auch Ihrem Bundeskanzler folgen, indem Sie unserem Antrag zustimmen. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Bundesregierung hat das Wort Staatsminister Carsten Schneider. ({0})

Carsten Schneider (Gast)

Politiker ID: 11003218

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Müller! Vielen Dank für die Möglichkeit, heute hier in der Debatte das Thema Ostdeutschland und die Stärkung der Innovationen dort zu besprechen und insbesondere auf die Fortschritte hinzuweisen, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten gemacht haben, was wirtschaftliche Ansiedlungen betrifft. Denn eine Entscheidung wie zum Beispiel Tesla in Brandenburg anzusiedeln, ist keine Eintagsfliege. Das gilt insbesondere für die viel wesentlichere Entscheidung, die noch von der Vorgängerregierung angelegt wurde, nämlich Intel in Magdeburg anzusiedeln. Das ist der Zusammenarbeit zwischen der Stadt Magdeburg, der Landesregierung, der jetzigen Koalition, aber auch den Vorbereitungen der vorherigen Großen Koalition zu verdanken. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die das auch im Rahmen des Bundeshaushalts unterstützt haben. Denn die Ansiedlung von Intel in Magdeburg wird mit einem einstelligen Milliardenbetrag massiv vom Bund unterstützt. Dass wir diese Investitionsentscheidung zu 100 Prozent finanzieren, ist ein klares Bekenntnis des Bundes zu Ostdeutschland. Wir tun das im Rahmen der Europäischen Union, der IPCEIs, die das klare Ziel haben, Zukunftstechnologien in Europa anzusiedeln. Wir wissen alle, dass wir bei den Halbleitern von einem Hersteller in Taiwan abhängig sind. Wir wollen unabhängig werden, wir wollen eigenständig werden, und das wollen wir in Ostdeutschland werden. An dieser Stelle noch mal vielen herzlichen Dank für die Unterstützung in den vergangenen Jahren! ({0}) Herr Kollege Müller, Sie haben auf die Riemser Erklärung hingewiesen; sie ist wirklich bemerkenswert, weil sie kein einfaches Beschlusspapier ist, sondern ein politischer Text. Sie ist ein politischer Text zur Lage in Ostdeutschland. Sie wird nicht nur von der Bundesregierung getragen, sondern von allen ostdeutschen Ländern, und die sind ja farbig sehr unterschiedlich konturiert, was die Zusammensetzung betrifft. Fast alle vertretenen Parteien hier im Hause sind an den jeweiligen Landesregierungen beteiligt. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg und zeichnen eine Zukunftsvision, die Hoffnung macht, ein Bild eines Booms; das kann man durchaus sagen, wenn man die Industriearbeitsplätze sieht. Ich glaube, dass wir vor einer Reindustriealisierung in Ostdeutschland stehen. Das ist auch das Ergebnis der Aufbauarbeit der vergangenen 20, 30 Jahre, die von Umbruch geprägt waren, insbesondere was Infrastruktur, was Forschungsförderung, was Universitäten betrifft, und es ist vor allem denjenigen zu verdanken, die die Arbeit gemacht haben, nämlich die Beschäftigten in Ostdeutschland. ({1}) Von daher stehen wir vor einer sehr neuen Situation. Die Herausforderungen, die Sie beschrieben haben, Herr Müller, sind korrekt, insbesondere was die Energieversorgung betrifft. Das betrifft uns alle, ganz Deutschland, aber Ostdeutschland besonders, unter anderem wegen der Lage in Schwedt, was die Raffinerie betrifft, aber auch aufgrund der Preissensibilität der Bevölkerung. Sie haben das Ausrufen der Gaswarnstufe angesprochen. Wir gehen davon aus, dass sich der Gaspreis vielleicht verdrei- oder vervierfachen wird. Wir wissen es nicht, weil wir nicht wissen, wie sich der Marktpreis entwickelt und wie lange Russland Gas als politische Waffe benutzt. Es wird als politische Waffe benutzt; deswegen wollen wir unabhängig werden. Aus diesem Grunde ist die Kompensation des hohen Gaspreises insbesondere für kleine und mittlere Einkommen – darunter fallen auch einige Soloselbstständige und viele Familien – so zentral. Ich glaube, dass wir mit den bisherigen Schritten in diesem Jahr fast 90 Prozent der zusätzlichen Kosten abgedeckt haben. Das sagen uns zumindest Herr Hüther und Herr Dullien von zwei unterschiedlichen Forschungsinstituten, einmal wirtschaftsnah, einmal eher gewerkschaftsnah. Aber für das nächste Jahr und die fortfolgenden Jahre ist nicht der Benzinpreis, sondern sind vor allen Dingen die Kosten für eine warme Wohnung ein ganz zentraler Punkt. Aus diesem Grund bin ich wie die gesamte Bundesregierung und, ich denke, auch das Parlament da sehr sensibel. Wir werden erstens für Versorgungssicherheit sorgen müssen und zum Zweiten aber auch für eine Kompensation bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, die am Ende des Monats vielleicht noch 20 Euro in der Tasche haben, deren frei verfügbares Einkommen 100 oder 200 Euro sind. Es gibt ganz viele, die nur 2 300 oder 2 400 Euro brutto im Monat verdienen. Das sind zum Beispiel in Thüringen fast ein Drittel, die darunterfallen. ({2}) Aus diesem Grund sind die Stärkung der Tarifautonomie, mehr Tarifverträge, aber auch die Entscheidung, die der Bundestag vor drei Wochen getroffen hat, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen, so wichtig und auch entscheidend gewesen, um die Eigenständigkeit und letztendlich auch das Überleben – im wahrsten Sinne des Wortes – in weiten Teilen der Bevölkerung in Ostdeutschland zu sichern, um nicht zusätzlich abhängig von sozialen Leistungen zu werden. Von daher vielen Dank dafür! Ich will noch drei weitere Punkte herausgreifen, die bemerkenswert sind. Das Erste ist das klare Bekenntnis der Bundesländer für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft. Wir stehen vor enormen demografischen Problemen. Wir haben es nicht nur mit einem Geburtenknick überall im Bundesgebiet zu tun – im Osten war er um 1990 besonders stark –, sondern insbesondere mit dem Ausscheiden von großen Teilen der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt. Das wird in den nächsten fünf bis sechs Jahren in Ostdeutschland in einem extrem hohen Maße stattfinden. Von daher: Wir brauchen Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Viele haben in den 90er-Jahren, weil sie der Arbeit gefolgt sind, die ostdeutschen Bundesländer Richtung Stuttgart, Hamburg, Frankfurt verlassen, insbesondere viele junge Frauen, viele junge qualifizierte Frauen. Ich möchte alles tun, um sie zurückzuholen. Zum Zweiten. Niemand darf ohne Schulabschluss und Ausbildung die Schule oder die Berufsschule verlassen. Jeder oder jede, der oder die das nicht schafft, ist nicht nur persönlich stark betroffen, sondern fehlt auch auf dem Arbeitsmarkt. Von daher brauchen wir ganz klar Initiativen zur Stärkung der Möglichkeit des Nachholens des Berufsschulabschlusses und des Schulabschlusses. ({3}) Und zum Dritten. Wir brauchen Zuwanderung. Wir brauchen eine gesteuerte Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere in Ostdeutschland, und das in einem sehr hohen Maß. Ich hoffe sehr, dass uns das gelingt – deswegen ist das Dokument politisch so wichtig, weil es weit über die Parteigrenzen hinausgeht –; dafür brauchen wir erstens die Erkenntnis und zweitens den Willen, diese Menschen hier willkommen zu heißen, sie zu bitten, bei uns zu leben, sie zu integrieren und ihnen letztendlich auch eine Heimat zu geben. Ich finde, das ist ein sehr guter Ausgangspunkt in einer nicht ganz einfachen Zeit, die von Herausforderungen gekennzeichnet ist. Und wer in Ostdeutschland kennt nicht Herausforderungen, die wir nicht schon gemeistert haben? Vielen herzlichen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Enrico Komning, AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Bürger auf den Tribünen! Herr Staatsminister, Sie waren als Ostbeauftragter eigentlich die Hoffnung der neuen Bundesregierung. Was Sie hier heute vorgetragen haben, lässt mich doch sehr stark daran zweifeln. Sie haben hier ein großes Lob für die CDU, ein großes Lob für die Vorgängerregierung formuliert. Wahrscheinlich können Sie nicht anders; Sie gehörten ja vormals selbst zur Regierung. Von 20 Jahren Umbruchs- und Forschungsarbeit im Osten kann ich aber wirklich nicht viel erkennen. Herr Müller, Sie haben den BDI zitiert, Sie sprachen von einem Krisenmodus. Ja, einen Krisenmodus gibt es tatsächlich. BDI-Präsident Russwurm sagte unlängst zum Tag der Industrie hier in Berlin: „Es brennt lichterloh.“ Meine Damen und Herren, das liegt nicht allein am trockenen Sommerwetter oder am Ukrainekrieg, sondern, Herr Staatsminister, an der Politik der Bundesregierung der letzten 17 Jahre. ({0}) Zu leiden hat darunter insbesondere die Wirtschaft im Osten unseres Vaterlandes. In meinem Wahlkreis im östlichen und südlichen Mecklenburg-Vorpommern sind in den Jahren der Mitregierung der CDU in Bund und Land unzählige Unternehmen pleitegegangen; Einwohner sind weggezogen, Straßen sind maroder und die Menschen ärmer geworden. Und da kommen jetzt Sie, liebe Kollegen von der Union, mit diesem Antrag daher. Dieser Antrag ist wie so viele andere Anträge in den letzten Monaten ein scheinoppositionelles Feigenblatt, das Sie sich vor die Scham Ihres Versagens als Regierungspartei hängen. ({1}) Ihr Hoffen auf Tesla in allen Ehren; aber Tesla hat schon Stellenstreichungen angekündigt, bevor es in Grünheide so richtig losging. Ihr Antrag jedenfalls – ich weiß nicht, aus welcher grünen Schublade Sie den geholt haben – wird daran nichts ändern. Im Gegenteil, liebe Union: Mehr Windräder sind eben nicht die Antwort auf die Energie- und Wirtschaftskrise. Der Ausbau der erneuerbaren Energien auf Kosten von Kern- und Kohlekraft hat uns doch erst in die gegebene Gasabhängigkeit getrieben. ({2}) Solar- und Windenergie sind nicht grundlastfähig. Kapieren Sie das endlich, und hören Sie auf, den Menschen etwas vorzumachen! ({3}) Wirtschaftliche Stärke geht auch und vor allem in Ostdeutschland nur mit einem starken Mittelstand, und dessen Rahmenbedingungen, meine Damen und Herren, sind miserabel. Allein die Bürokratiebelastungen – im Vergleich zu großen Konzernunternehmen – sind der Wahnsinn. Und in Brüssel macht man munter weiter mit immer neuen Nachhaltigkeitsberichtspflichten. Ostdeutschland wird aber nur mit einem starken Mittelstand innovativ und leistungsstark werden. ({4}) Wir brauchen einen Gleichklang aus einer Politik des radikalen Bürokratieabbaus, der Energiesicherheit – mit Kohle- und Kernkraft –, einen Gleichklang aus Ausbildungs- und Forschungsschwerpunkten und eine Infrastrukturoffensive, analog und digital. Und wir brauchen einen kräftigen Anschub, um den Exodus der jungen Familien und Menschen aus den ländlichen Regionen aufzuhalten. Warum denken Sie nicht wenigstens mal kurz über Sonderwirtschaftszonen nach? Das habe ich seit Beginn der letzten Legislaturperiode hier immer wieder vorgeschlagen, vor allem nach Ihrer versenkten Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, die Sie vor vier Jahren eingerichtet hatten und die für den Osten gar nichts gebracht hat. Wir brauchen Sonderwirtschaftszonen wie in Italien oder in Polen; die beiden Länder machen es doch vor. Meine Damen und Herren von der Union, Ihr Antrag ist unehrlich, er ist ein Wendehalsbeweis für Ihre Fraktion und nicht geeignet, im Osten unseres Landes irgendetwas zu verbessern.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Komning.

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Daher werden wir Ihren Antrag ablehnen, ebenso wie den sozialistischen Unsinn der Linken. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Bernhard Herrmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Bernhard Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005083, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Komning, Grundlast ist im neuen Energiesystem genauso eine Last, wie Ihre AfD eine Belastung für die Willkommenskultur in Ostdeutschland ist. ({0}) – Das bestätigt; danke schön. Ich war doch etwas überrascht, als ich diesen Antrag der Union das erste Mal gelesen habe. Dieselbe Union, die 24 der 32 Jahre seit der Wende das Kanzleramt innehatte, bemerkt, welches Potenzial in Ostdeutschland steckt! Aber jetzt nennen Sie durchaus die richtigen Themen, die helfen, genau dieses Potenzial zu heben: Erneuerbare, Wasserstoffindustrie, Fachkräftesicherung, Infrastrukturausbau, bessere Repräsentation. Wenn Sie von der Union das jetzt fordern, müssen Sie sich auch fragen lassen, warum diese Projekte in diesen 24 Regierungsjahren seit der Wende nicht längst angeschoben wurden. Aber wir gucken gemeinsam nach vorn. Denn zum Glück wissen wir Ostdeutschen uns selbst zu helfen. So werden bei uns mehr als 20 Prozent der in Europa gefertigten E‑Autos gebaut, Tendenz steigend. Allerdings war es, Herr Müller, gestern erschreckend für mich, das Lamento zu hören, das von der Union hier im Plenarsaal gegen Elektromobile kam. Meine Güte! War das nicht ein Schlag ins Gesicht der Bandarbeitenden in Zwickau, in meiner Region? Aber wenigstens die Schiene haben Sie entdeckt, Herr Müller; vielen Dank dafür. Die Solarproduktion hat wirtschaftlich und politisch schwere Zeiten – viele Jahre Minister Altmaier – überlebt und wächst wieder neu in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und, nicht zu vergessen, in Sachsen-Anhalt. Die Chipindustrie in Dresden und Magdeburg kommt mit dem Ausbau kaum hinterher. Und der Mittelstand füllt mit innovativen Unternehmen die Landkarte. Als Ampelkoalition räumen wir dem innovativen Aufbruch in Ostdeutschland jetzt bisherige Hindernisse aus dem Weg, weiterhin gern in konstruktiver Zusammenarbeit mit den demokratischen Parteien im Bund und in den Ländern. Dann muss es aber bitte auch konkret werden. Das bedeutet unter anderem, die Potenziale für Erneuerbare auch gegen den weiterhin starken Widerstand ostdeutscher CDU-Kolleg/-innen vollständig zu heben, um günstigen Strom für Bürger/-innen und Industrie zu gewinnen. Die Windkraftgesetze bringen den Windkraftausbau massiv voran. Wir berücksichtigen die Interessen der Bürger/-innen vor Ort und lassen sie mit profitieren. Aber auch den Mangel an Wasser, von Dresden über die Lausitz bis nach Berlin, gilt es endlich als wesentlichen Standortfaktor zu verstehen und Lösungen anzugehen. ({1}) Dieses Problem wurde von Bund und Ländern zu lange ignoriert. Wir packen es jetzt an. ({2}) Verlässliche Pläne für den Ersatz der Kohleverstromung, Weiterbildung, Qualifizierungsgelder: So halten wir vorhandene Fachkräfte in den Regionen und machen sie fit für die Herausforderungen des Strukturwandels. Wir stärken die Tarifbindung und verringern die Einkommenslücke zwischen Ost und West. Es darf nicht weiter sein, dass ganze Landstriche heute Niedriglohngebiete sind. Aber es braucht in Ostdeutschland verbreitet auch eine bessere Willkommenskultur, damit Fachkräfte aus dem In- und Ausland gern zu uns kommen. Ich bin zuversichtlich, dass Ostdeutschland so eine der innovativsten Regionen Europas wird. Danke schön. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort dem Kollegen Sören Pellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein innovatives und leistungsstarkes Ostdeutschland, das hört sich gut an, das wünschen wir uns doch alle. Die Inflation und die Politik der Bundesregierung machen dem aktuell aber einen Strich durch die Rechnung. Erstens. Die Inflation trifft Ostdeutschland deutlich härter, weil die Bürgerinnen und Bürger dort zum einen weniger Einkommen und zum anderen weniger Rücklagen haben. Zweitens. Die Preise für Strom und Gas sind im Osten absolut höher. Und drittens. Die Auswirkungen des Ölembargos werden in den ostdeutschen Bundesländern deutlich heftiger ausfallen. Aus diesen Gründen, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir einen Schutzschirm gegen die Folgen von Inflation und Embargo, vor allem für Ostdeutschland. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre bisherigen Maßnahmen zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger reichen nicht aus. Positiv ist das 9‑Euro-Ticket. Es soll allerdings schon am 31. August enden. Das wäre fatal. Es muss verlängert werden! ({1}) Es gibt aber auch Profiteure der Krise, und Finanzminister Lindner ist einer von ihnen. Auch hier sprudeln Übergewinne; denn die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer explodieren aufgrund genau dieser Preisanstiege. Sie rechnen mit 32 Milliarden Euro Mehreinnahmen in diesem Jahr. ({2}) Fällt Ihnen irgendetwas daran auf? Das ist mehr, als Ihre Entlastungspakete umfassen. ({3}) Wir brauchen insbesondere ein drittes Entlastungspaket, das die Mehrkosten tatsächlich ausgleicht und insbesondere Rentnerinnen und Rentner, aber auch Studierende einbezieht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ölembargo wird die Inflation weiter antreiben, und das Ölembargo wird Ostdeutschland deutlich mehr schaden als Wladimir Putin. ({5}) Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 60 Prozent der Öllieferungen Russlands an Drittstaaten übernahmen und übernehmen griechische Tanker. Griechenland hat die größte Flotte der Welt und darf weiter russisches Öl in alle Welt schippern. Was für ein Irrsinn! ({6}) Warum hat die Bundesregierung dieser Ausnahme für milliardenschwere griechische Reedereien zugestimmt, Herr Habeck? Zunächst sollten diese Tanker nämlich vom Embargo erfasst werden. Das wurde gestrichen. Offensichtlich haben griechische Reedereien in der EU eine größere Lobby als Ostdeutschland in der Bundesregierung. ({7}) Griechische Tanker beliefern die ganze Welt mit russischem Öl, aber in Schwedt darf kein Öl ankommen. Diese Heuchelei, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Sie den Ostdeutschen nicht erklären. ({8}) Aber Sie müssen mehr tun, um die Bürgerinnen und Bürger vor der Inflation und dem Embargo zu schützen. Wir brauchen einen Schutzschirm, insbesondere für Ostdeutschland. Vielen Dank. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner in der Debatte ist Gerald Ullrich, FDP-Fraktion. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Riemser Erklärung vom 13. Juni dieses Jahres fasst eine Vielzahl von Punkten zusammen, die wir als Ampelkoalition zusammen mit den ostdeutschen Landesregierungen voranbringen wollen. Jetzt bringen die Union und Die Linke als Oppositionsfraktionen die Punkte der Erklärung unkonkret zusammengefasst noch einmal als Antrag in den Bundestag ein. Das ist sehr interessant. Denn zum einen ist es überflüssig, weil die Bundesregierung schon dargelegt hat, was sie zur Unterstützung Ostdeutschlands vorhat. Zum anderen sitzen Sie, entweder die CDU oder Die Linke, in allen ostdeutschen Ländern mit in den Regierungen, in Thüringen sogar quasi gemeinsam. Somit waren Sie beide als Parteien doch aktiv an den Verhandlungen beteiligt. Es ist ja nicht so, dass Sie in den Ländern nicht genügend Hausaufgaben zu machen hätten: moderne Verwaltung, funktionierende Schulen, gute Infrastruktur – um nur ein paar zu nennen. Ziel muss es doch sein, dass Ostdeutschland aus seinem Rückstand zum Westen herauswachsen kann. Ich möchte daran erinnern: Ostdeutschland ist nicht das Versorgungsgebiet von Berlin, sondern die Heimat von Millionen Menschen. Der demografische Wandel ist sicherlich das größte Problem; das wurde schon angesprochen. Dazu mal ein Fakt: Allein in Thüringen hatten wir letztes Jahr einen Sterbeüberschuss von 20 000 Menschen. Stellen Sie sich das vor! Thüringen ist nicht sehr groß, und wir haben 20 000 Menschen nur durch den Sterbeüberschuss verloren. Das wird uns aber nicht gelingen, wenn die Menschen in Ostdeutschland immer wieder Steine in den Weg gelegt kriegen. Das sehen wir ja zum Beispiel an der Energieversorgung. Natürlich ist das ein gesamtdeutsches Problem. Aber wie wir alle wissen, ist es auch ein besonderes ostdeutsches Problem. Ich war vor einigen Wochen schockiert, als ich zum ersten Mal die Deutschlandkarte der Öl- und Gaspipelines gesehen habe. Man muss es an dieser Stelle wirklich so hart sagen: Hier hat die Wiedervereinigung nicht stattgefunden. Das müssen wir definitiv ändern. ({0}) Deshalb dürfen wir jetzt die Menschen in Ostdeutschland nicht alleine die Suppe auslöffeln lassen. Auch bei den Verteilstromnetzen sehen wir wirklich große Probleme, vor allem in Ostdeutschland. Diese sind nach einer kompletten Transformation jetzt 30, manche auch nur 20 Jahre alt, haben aber bis 50, bis 60 Jahre Nutzungsdauer. Das heißt, dass sich diese Projekte für die Netzbetreiber noch gar nicht refinanziert haben. Jetzt stehen sie wieder vor einem kompletten Umbau der Netze für die Energiewende. Hierdurch werden diese aber zusätzlich belastet – bei sinkendem Eigenkapitalzins. Hier bräuchten die ostdeutschen Länder wirklich Unterstützung. Deshalb begrüßen wir es auch, dass wir die Region jetzt energieunabhängiger machen wollen. ({1}) Um Energieunabhängigkeit zu erreichen, benötigen wir meiner Ansicht nach selbstverständlich alternative Kraftstoffe. Hier bittet die Riemser Erklärung explizit um ein vom Bund gefördertes Projekt. Meine Damen und Herren, wenn wir dem Verbot von Verbrennungsmotoren auf europäischer Ebene zustimmen, ist eine solche Initiative aber obsolet. Dann können wir damit nichts mehr anfangen. Setzen wir uns aber für einen technologieoffenen Wandel ein, geben wir den Menschen im Osten eine zusätzliche Chance auf Wachstum und Wohlstand. ({2}) Forschung und Entwicklung, das sind die Mittel, um dies zu erreichen. Dazu brauchen wir aber auch Menschen vor Ort, die genau das machen. Die ostdeutsche Wirtschaft ist sehr mittelständisch geprägt, wie jeder weiß. Selbiges gilt auch für die Forschungslandschaft im Osten. Die gemeinnützigen industrienahen Forschungseinrichtungen sind gerade im Osten ein großer Gewinn für Unternehmen und die Entwicklung von Produkten. Hier entstehen Ideen und Innovationen, und das vor allem in der Praxis und auch wirtschaftsnah. Gleichzeitig befürchte ich, dass viele dieser Institute bald die Segel streichen müssen. In der Riemser Erklärung wird ja auch auf diese Problematik verwiesen. Übrigens sagt die CDU kein Wort davon, weil das eine sehr komplexe Sache ist, die man auch durchdringen muss. Sie nennen einfach nur die relativ einfachen Fakten, die ohnehin bekannt sind und mit denen wir hier im Parlament nicht allzu viel anfangen können. Ich selbst habe mich in den vergangenen Monaten intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Es ist kompliziert; aber wenn wir hier nicht tätig werden, verlieren wir Fach- und Führungskräfte im Osten, und das ist ja gerade das, was wir eigentlich verhindern wollen. Wichtig ist erst einmal, dass wir die vom BMWK gesetzte Frist zur Einhaltung des TVöD bis zum Jahresende rechtzeitig verlängern. Von den Instituten sind Kündigungsfristen einzuhalten; deswegen ist eine Verlängerung im Oktober oder November zu spät. Wir müssen den Instituten erst einmal Luft zum Atmen verschaffen, bis wir eine Lösung umsetzen können. Ich kann Ihnen hier sagen, dass die Übernahme in das Wissenschaftsfreiheitsgesetz leider nicht funktionieren wird, so wie sie von manchen angedacht wurde. Man kann Ungleiches nicht mit Gleichem regeln. Wir brauchen hierfür eine klare, definierte, unbürokratische Ausnahme vom Besserstellungsverbot für diese Institute. Dafür möchte ich auch noch mal explizit in diesem Hause werben. Die letzten Sätze sind an die Fraktion der Linken gerichtet. Herr Pellmann, dass Sie einen Schutzschirm für Ostdeutschland fordern, zeigt meiner Meinung nach wieder mal Ihr völlig falsches Verständnis von unserer Region. Die Menschen wollen nicht alimentiert werden. Die Menschen wollen nicht behandelt werden, als wäre Ostdeutschland eine Förderschule. Sie wollen sich selbst verwirklichen und durch Leistung auffallen und nicht durch eine Alimentierung von Staats wegen.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geben Sie den Menschen in Ostdeutschland auch die Chance dazu. Danke. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Simone Borchardt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Simone Borchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005030, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben seit dem fürchterlichen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine eine Zeitenwende mit Auswirkungen auf alles und jeden. Vor allem die stark gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise sind eine unmittelbare Folge des Krieges. Viele kleine und mittelständische Betriebe geraten in Not. Bedroht sind vor allem die Schwächeren in unserer Gesellschaft. ({0}) In den strukturell schwächeren Regionen Deutschlands, zu denen viele Regionen in Ostdeutschland gehören, sind auch die unmittelbaren Folgen ausbleibender Energieimporte zuerst spürbar. Deutschland ist und wird ein Gradmesser sein, auch in Zukunft und in jeder Hinsicht. Der weitere Preisanstieg bei Öl und Gas ist absehbar; wir hatten das heute schon in mehreren Debatten. Uns steht ein harter Winter bevor, wenn die Bundesregierung jetzt nicht alle nötigen Maßnahmen einleitet. Wenn wir perspektivisch kein Öl und immer weniger Gas aus Russland beziehen, brauchen wir alternative Bezugsquellen. Verzögerungen, Auf-die-lange-Bank-Schieben, Hinhaltetaktiken, das alles ist jetzt absolut fehl am Platz, und es wurde heute in den Debatten bereits gut praktiziert. Wir müssen jetzt unmittelbar die Versorgung der ostdeutschen Länder langfristig sicherstellen, die der Haushalte und Unternehmen. Es geht letztendlich um die Energiesicherheit in ganz Deutschland. ({1}) Dazu brauchen wir dringend die erforderlichen Hafen- und Verteilinfrastrukturen, insbesondere in den ostdeutschen Seehäfen in Rostock und Lubmin. ({2}) Ja, das wird eine Kraftanstrengung, und deswegen ist hier auch eine leistungsfähige Unterstützung durch den Bund ganz wichtig. Sehr geehrte Bundesregierung, wir konnten die Ankündigungen von Bundeskanzler Scholz über die Standorte Rostock und Lubmin aus der Presse entnehmen. Handeln Sie endlich! Kündigen Sie nicht nur an! Die Menschen haben genug davon. ({3}) Schaffen Sie endlich die Voraussetzungen für die Planung und für die Genehmigung der Vorhaben der Häfen in Rostock und Lubmin! Meine Damen und Herren, damit wir die ostdeutschen Regionen nicht nur wirtschaftlich gut aufstellen, sondern auch lebenswert erhalten und machen, ist auch die Sicherstellung der medizinischen Versorgung gerade im ländlichen Raum unverzichtbar. ({4}) Bisher haben wir von unserem Gesundheitsminister außer bei Corona nichts als Ankündigungen gehört – keine Maßnahmen, keine Umsetzung, gar nichts. ({5}) Es gibt keine Vorschläge für eine Reform der Krankenhausfinanzierung; es gibt keine Vorschläge für eine Krankenhausstrukturreform. Besonders im ländlichen Bereich müssen wir von der Mengenregulierung abweichen. ({6}) Es gibt auch keinen Vorschlag, wie man Kosten- und Effizienzgewinne durch Bürokratieabbau generiert. Wir müssen die Digitalisierung und damit auch die Telemedizin stärken. Stattdessen hören wir von einer Strukturlücke von 17 Milliarden Euro, die mittlerweile auf 20 Milliarden Euro zugeht und die unser Gesundheitsminister mit Beitragserhöhungen kompensieren möchte – genau in dieser Zeit jetzt. Wir sagen: Das ist genau der falsche Weg. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Simone Borchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005030, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie endlich den ostdeutschen Regionen die Bedeutung zukommen, die sie verdienen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Hannes Walter, SPD-Fraktion. ({0})

Hannes Walter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst halte ich einmal fest: Der Osten Deutschlands ist eine innovative und leistungsstarke Region. Dafür brauchen wir keinen Antrag der CDU/CSU. ({0}) Seit 1990 ist uns Ostdeutschen eine beispielhafte Modernisierung gelungen. Das war nicht einfach, und der Blick geht weiter nach vorn. Ostdeutschland ist ein Innovationsmotor. Wir schaffen es immer wieder, namenhafte Hightechinvestoren anzulocken: von Intel in Magdeburg bis zu Tesla in Grünheide. Die Liste ist lang, und sie wird länger. Das ist gut so. ({1}) Allein in meinem Wahlkreis, in Schwarzheide, hat BASF im letzten Jahr fast 300 Millionen Euro investiert. Die Kathodenfabrik, die gerade gebaut wird, wird jährlich 400 000 Elektroautos ausstatten. So entstehen Innovationen in wichtigen Schlüsseltechnologien und tiefe Wertschöpfungsketten. ({2}) Die positiven Effekte sind nicht zu übersehen. Auf rund 2 000 BASF- Beschäftigte kommen knapp 1 500 Beschäftige in unmittelbarer Nähe. Das sind Logistikdienstleister, mittelständische Zulieferer und Handwerksunternehmen. Solche Beispiele gibt es überall in Ostdeutschland: von Rostock bis runter nach Ilmenau, von Magdeburg bis nach Cottbus. Das zeigt: Ostdeutschland kann Spitzentechnologie. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mit Veränderungsbereitschaft, Fleiß und Geschick haben wir den Strukturbruch hinter uns gelassen. Zum Erfolgskonzept gehören auch Kooperationen mit Forschungseinrichtungen. Sie sind ein absoluter Innovationstreiber, und sie haben einen weiteren positiven Effekt: Ausbildungsangebote, wie duale Studiengänge, bieten jungen Leute eine Perspektive in unserer Region. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen. ({3}) Um dieses wirtschaftliche Potenzial voll auszuschöpfen, sind aus meiner Sicht drei Dinge wichtig: Erstens. Erneuerbare Energien werden zum entscheidenden Faktor für Industrie und Mittelstand. Hier ist Ostdeutschland gut aufgestellt. Weitere ausbaufördernde Maßnahmen sind auf dem Weg. Das Thema Wasserstoff als Energieträger muss eine besondere Rolle spielen. Der Anschluss an die europäische Wasserstoffinfrastruktur ist absolut notwendig. ({4}) Die gemeinsame „Interessenvertretung Wasserstoff Ostdeutschland“, die vom Bund unterstützt wird, ist ein erster guter Schritt. Mein Dank geht an Carsten Schneider für seinen Anstoß in dieser Sache. Es zeigt sich einmal mehr, wie richtig und wichtig es war, dass der Beauftragte für die neuen Länder im Kanzleramt angesiedelt ist. ({5}) Zweitens. Ostdeutschland liegt im Zentrum Europas. Die gute geografische Lage und die verfügbaren Flächen sind ein großer Standortvorteil. Wir brauchen aber auch eine gut ausgebaute Infrastruktur. Das gilt für den Verkehr genauso wie für die digitale Infrastruktur. Drittens. Als Handwerksbeauftragter meiner Fraktion will ich auch das Thema Fachkräftemangel betonen. Er ist eine Bremse für die Wirtschaft; das höre ich in jedem Unternehmen, das ich in meinem Wahlkreis besuche. Und eins ist völlig klar: Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte; sonst verpassen wir den Anschluss. ({6}) Wir werden deshalb die duale Ausbildung stärken. ({7}) Außerdem sorgen wir für einen leichteren Zugang zur Meisterausbildung. Ein Meister muss genauso viel wert sein wie ein Master. ({8}) – Ja. Auch ganz zentral – der Staatsminister hat darauf hingewiesen –: Ohne Fachkräfte aus dem Ausland geht es nicht. Deshalb werden wir die Fachkräfteeinwanderung stärker fördern. Wir haben also einiges zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende möchte ich noch einmal betonen: Der Osten hat die besten Voraussetzungen, weiterhin vorne mitzuspielen. Lassen Sie uns zusammenarbeiten – gemeinsam statt gegeneinander! Nur wenn wir uns als ein Wirtschaftsraum verstehen, bringen wir den Osten Deutschlands weiter voran. Vielen Dank und Glück auf! ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Michael Kellner. ({0})

Michael Kellner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11005102

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Osten tut sich was. Wir sehen große Ansiedlungen: Wir sehen Intel in Magdeburg; wir sehen Tesla in Grünheide; wir haben BASF – das haben wir gerade gehört – in Schwarzheide. Dort wird übrigens jeder Ingenieur und jede Ingenieurin der LEAG-Unternehmen mit Kusshand von der BASF genommen. Wir sehen, dass dort grüne Gewerbegebiete entstehen, weil in Ostdeutschland die bessere Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien zu einem Standortvorteil geworden ist. Das ist eine Stärke Ostdeutschlands. ({0}) Wir sehen – und das will ich unterstreichen – die Frage des Fachkräftemangels. Ich war letztens in meiner Heimatstadt Gera bei einem Textilunternehmen, das 24/7 produziert und große Schwierigkeiten hat, das Personal zu finden, um die Produktion 24/7 aufrechtzuerhalten. Deswegen brauchen wir eine erleichterte Fachkräfteeinwanderung – auch für Ostdeutschland. ({1}) Ich will aber auch sagen: Man kann die heutigen Verhältnisse nicht mit denen in den 1990er-Jahren vergleichen, als wir Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland hatten, als alle aus der Generation meiner Eltern mal arbeitslos waren. Heute ist die Situation am Arbeitsmarkt viel besser. Noch dieses Jahr werden wir gemeinsam mit den Ländern die GRW reformieren zum Goldstandard der Regionalförderung, um den Weg in Richtung Dekarbonisierung und Fachkräfte zu stärken. Das ist ein gemeinsames Projekt, das wir als Bundesregierung mit den Bundesländern dieses Jahr voranbringen. ({2}) Für Ostdeutschland ist das Entscheidende, dass wir nicht festhalten am Alten. Ich habe mich heute Morgen gefreut, als ich gelesen habe: Nordrhein-Westfalen – Kohleausstieg bis 2030. Ich finde, was in NRW möglich ist, das ist auch in Ostdeutschland möglich. ({3}) Für Ostdeutschland gibt es große Chancen. Wir haben gerade über das Thema Wasserstoff geredet. Die Brücke hin zum Gas ist kürzer geworden. Das sehen wir doch als Konsequenz dieses Krieges. Das heißt, wir können Ostdeutschland – und da haben wir beste Voraussetzungen – im Zusammenhang mit Grünem Wasserstoff zur Erzeugerregion, zur Importregion – über Mecklenburg-Vorpommern; da sind wir in sehr guten Gesprächen mit der Landesregierung – und auch zur Transportregion machen, indem wir beispielsweise die Landpipeline von Nord Stream 2, EUGAL, nutzen. Das sind zwei Röhren. Eine davon brauchen wir für Flüssiggas. Die zweite können wir sofort für den Wasserstofftransport nutzen. Das sind doch Zukunftsvisionen und Punkte für Ostdeutschlands Veränderung. ({4}) Lassen Sie mich noch dazusagen: Ich werde am Montag wieder in Leuna sein; in Leuna ist vieles auf dem Weg. Am Mittwoch werde ich wieder in Schwedt sein. Ich will klar sagen: Wir werden auch in Schwedt in 2023 und in den folgenden Jahren Rohöl verarbeiten. Wir werden aber zugleich die Transformation hin zu einer grünen Raffinerie vorantreiben müssen. Ich weiß nicht, wer heute in die Zeitung geschaut hat. Dort steht, dass der Bestand an Verbrennern in der Fahrzeugflotte in Deutschland erstmals abgenommen hat, weil mehr E‑Autos zugelassen wurden. Das heißt, wir sehen dort jetzt schon einen Zuwachs, und das zeigt doch, wie wichtig diese Transformation ist. Packen wir sie an! Herzlichen Dank. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in der Debatte ist Lars Rohwer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Glück auf, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über den Innovationsstandort Ostdeutschland diskutieren, dann greifen wir das nicht aus der Luft, sondern wir schreiben die Geschichte fort. Erinnern Sie sich? Tageszeitung, Zahnpasta, Kaffeefiltertüte, Teebeutel und Bundeshaushalt: Alles in Ostdeutschland erfunden, und alles sind Innovationen ihrer Zeit. ({0}) Heute geht es natürlich nicht mehr um den Teebeutel, sondern es geht um hochmoderne Produkte und aktuelle Forschungsprojekte wie PtL-Kerosin, Wasserstoff, Halbleiterproduktion, Hochleistungsbatterien und so einiges mehr. Herr Kollege Walter, ich will Ihnen jetzt im Folgenden aufzeigen, warum dieser Antrag so dringend notwendig ist und weshalb wir ihn gestellt haben. Wenn wir uns einmal auf die Mikroelektronik konzentrieren, sehen wir: Wir haben rund um Dresden den wichtigsten Standort der Halbleiterproduktion europaweit. Darauf können wir stolz sein; aber wir dürfen uns darauf nicht ausruhen. Das ist kein Selbstläufer, Herr Staatsminister Schneider. ({1}) Staatssekretär Brandenburg habe ich zum Stand und zur Umsetzung des IPCEI Mikroelektronik hier im Plenum befragt. Herausgekommen ist – nichts! Das BMBF bildet sich noch immer seine Meinung; das ist eindeutig zu wenig. Allein fünf IPCEI-Projektpartner haben wir in Dresden. Ein Projektunternehmen ist in Erfurt. Die ostdeutschen Standorte sind also, wie Sie sehen, präsent und leistungsstark. Aber wir brauchen Geschwindigkeit. Wir sind gegenüber Asien bereits im Hintertreffen. Viele unserer Debatten hier im Hohen Haus sind unweigerlich verknüpft mit den Themen „Klimaschutz“ und „Nachhaltigkeit“. Nachhaltigkeit, auch wieder so eine sächsische Innovation, die uns allen was wert ist. ({2}) Kluge Innovationen sind oft gefragt, auch wenn es um die Zukunft geht, beispielsweise der Luftfahrt. In diesem Bereich geht es um ein enormes Entwicklungspotenzial. Wir wollen vorangehen. Bei Leipzig soll mit dem Bau der weltweit ersten industriellen Anlage zur Herstellung von nachhaltigem Flugkraftstoff auf Basis von erneuerbarem Strom der Weg in eine grüne Zukunft der Luftfahrtindustrie gestaltet werden. Ein wichtiger Grundsatz ist hier die Technologieneutralität. Der Staat sollte also nicht vorgeben, an welchen Technologien geforscht und gearbeitet wird, sondern sollte im Gegenteil Ziele definieren. ({3}) Deswegen sind Technologieverbote, wie sie gerade im Europäischen Parlament für den Verbrennungsmotor ab 2035 beschlossen worden sind, grundlegend falsch. ({4}) Wir fordern die Bundesregierung auf, die ostdeutschen Länder bei einer gemeinsamen Initiative zum Einsatz alternativer Kraftstoffe zu unterstützen. Ganz zum Schluss noch der Hinweis auf den Punkt 8. Wir erwarten, dass die Bundesregierung die ostdeutschen Bundesländer bei der Gewinnung von Fachkräften unterstützt. Deswegen brauchen wir dringend den „Fachkräftegipfel Ostdeutschland“. Bitte stimmen Sie diesem Antrag meiner Fraktion zu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Krieg ist Leid; das wissen wir nicht erst seit dem fürchterlichen Überfall Russlands auf die Ukraine. Das wissen gerade die Menschen in Libanon seit Jahrzehnten. Sie haben so viel erleiden müssen in einem Land mit gewaltigen Potenzialen, mit einer glorreichen Historie und mit so viel kultureller Geschichte. 15 Jahre Bürgerkrieg: ein grausamer Bürgerkrieg, der so viele Kriegsverbrechen gesehen hat, viele Konflikte, viele konfessionelle Auseinandersetzungen, sehr viel Zersetzung gerade in den letzten Jahren, gerade durch die Hisbollah. Vor diesem Hintergrund diskutieren wir heute über die Verlängerung der Beteiligung des Einsatzes der Bundeswehr an der UN-Mission UNIFIL – ein Einsatz, der 44 Jahre alt ist, eine der ältesten Blauhelmmissionen, die es überhaupt gibt. Seit 2006 gibt es eine maritime Komponente; seitdem ist die Bundeswehr auch dabei. Man darf gar nicht vergessen und kann es nicht oft genug sagen: Es ist ein Einsatz, der damals einen Krieg beendet hat, ein Einsatz, der auf Wunsch sowohl des libanesischen Staates als auch der israelischen Regierung begonnen wurde. ({0}) Dieser Einsatz überwacht weiterhin den Waffenstillstand, der stets fragil ist. Wir sehen wieder Raketenbeschüsse der Hisbollah auf Israel in unregelmäßigen Abständen seit Mai letzten Jahres, und das ist nun nicht das erste Mal. UNIFIL soll den Waffenschmuggel nicht nur im Süden von Libanon, sondern vor allem in Libanon an sich überwachen und unterbinden. An Land funktioniert das nicht besonders gut, auf dem Seewege schon besser. UNIFIL soll der Armee Libanons beistehen. Sie ist eine Institution, die in einem konfessionell doch sehr zerrissenen Land nationale Unterstützung genießt, und sie ist die einzige Plattform offizieller Art zwischen der israelischen und der libanesischen Regierung. Das ist schon an und für sich eine Errungenschaft. Das ist der Grund, warum meine Fraktion diesem Einsatz zustimmen wird. ({1}) Es ist aber offensichtlich, dass der Libanon auch weit größere Probleme hat und auf noch unsicherere Zeiten zuläuft. Die Zukunft des Landes sieht alles andere als rosig aus. Es ist im Übrigen das Land auf der Welt mit der höchsten Rate von aufgenommenen Menschen: 1,5 Millionen Menschen aus Syrien. Das Land leidet massiv unter Korruption, unter dem Zerfall der Fragilität des politischen Systems, unter einer unglaublichen Finanzkrise, unter der Pandemie. Seit August des Jahres 2020 hat sich die Stadt Beirut, aber auch die Bevölkerung des gesamten Landes von der gewaltigen Explosion des Hafens nicht erholen können, des größten Handelsdrehkreuzes des gesamten Landes. Wenn man sich die Zahlen der Weltbank hinsichtlich der Ökonomie des Libanons anschaut, dann sieht man: Das ist blanker Horror: Das Bruttoinlandsprodukt ist von 2019 bis 2022 um 58 Prozent runtergegangen. Die Inflation betrug letztes Jahr 224 Prozent. Das libanesische Pfund hat 90 Prozent an Wert verloren. Die Arbeitslosigkeit ist um 40 Prozent gestiegen. 80 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Die Weltbank bescheinigt dem Libanon einen Zerfall der Wirtschaft auf eine Art und Weise, wie es ihn in anderen Ländern der Welt in den letzten 150 Jahren selten gegeben hat. Der Libanon hatte einmal eines der besten Gesundheitssysteme der gesamten Region. Dieses ist dabei, zu kollabieren. Die Lebensmittelpreise explodieren. Sie explodierten schon vor dem Krieg in der Ukraine. Jetzt ist es dadurch umso dramatischer, dass Putin nun Getreide und Düngemittel als Waffe einsetzt. Es droht – wer das Land kennt, hätte sich das vor 15 Jahren nicht vorstellen können – eine massive Hungersnot in diesem Land. Obendrauf kommen die Energiekrise und eine Hisbollah, die keine Sekunde aufhört, zu provozieren. Wir haben es dieser Monate erlebt: Die Hisbollah hat gedroht, ein britisches Schiff zu versenken, weil sie sich davon innenpolitisch massiv etwas erhofft und darauf setzt, daraus im Konflikt mit Israel um das Gasfeld Karish einen Vorteil zu ziehen. Ich bin sehr dankbar, dass das Auswärtige Amt unter der Leitung der Außenministerin Annalena Baerbock dieser Tage sehr viel dafür tut, um diesen Konflikt zu dämpfen, und eingreift, damit es nicht wegen Gas in dieser Region zu einem weiteren Krieg kommt. ({2}) Ich bin auch sehr dankbar, dass die Bundesregierung sehr genau weiß, dass die Hilfe, die wir im Libanon für Entwicklungszusammenarbeit, für humanitäre Hilfe und zur Transition zwischen diesen beiden Hilfen bereitstellen, wirklich sehr signifikant sein muss; denn genau das brauchen die Menschen im Libanon. Obendrauf kommt die Notwendigkeit – und damit schließt sich der Kreis –, dass es, weil sich die Sicherheitslage verschärfen wird, internationale Präsenz braucht. Diese Präsenz bietet UNIFIL. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass in den letzten Jahren die Bundeswehr dort so viel geleistet hat. Ich möchte unseren Soldatinnen und Soldaten vor Ort einen Riesendank aussprechen. ({3}) Ich möchte nicht in irgendeiner Funktion und auch nicht nur im Auftrag meines Mandats, sondern aus tiefster Überzeugung als ein Freund des Landes, als einer, der dieses Land sehr oft besucht und sehr lieben und schätzen gelernt hat, sagen: Ich kann allen, die noch überlegen, wirklich nur empfehlen, sich das gewissenhaft anzuschauen und diesem Mandat, das eine kleine, aber signifikante und notwendige Hilfe für die Menschen im Libanon ist, zuzustimmen. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Roderich Kiesewetter, CDU/CSU, ist der nächste Redner in der Debatte. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es gerade von Omid Nouripour gehört: Die Lage im Libanon verschärft sich zusehends: Die Wahlen im Mai brachten kein stabilisierendes Ergebnis, und die Lage insgesamt droht außer Kontrolle zu geraten. Dazu kommt, dass die Hisbollah Israel mit über 150 000 Raketen – viele Tausend davon hochpräzise – bedroht. Allein das ist ein Grund, diesen Einsatz zu unterstützen. Aber wir als Union unterstützen diesen Einsatz durchgehend seit 2006, seitdem er seinerzeit von der Großen Koalition ins Leben gerufen wurde. Aber dieser Einsatz ist natürlich älter, und wir müssen auch schauen, dass dieser Einsatz kein Selbstzweck ist, sondern dass wir alles tun, um mitzuhelfen, dass dem Libanon mit diplomatischen und auch mit militärischen Mitteln geholfen wird. Was sind denn unsere Interessen? Folgende Gründe sprechen aus Sicht der Union für diesen Einsatz: Das Erste ist, dass dies ein Einsatz zur Krisenprävention und auch zur Kriseneindämmung ist. Das ist auch deshalb so entscheidend, weil, wie wir es eben auch gehört haben, diese Mission die einzige Plattform ist, wo sich unter internationaler Mediation die Libanesen und Israelis treffen und austauschen. Und wir wissen, wie gespannt die Lage ist. Das führt gleich zum zweiten Grund: Das ist unsere Mitverantwortung für Israel. Das ist auch eine Mitverantwortung, alles dafür zu tun, dass das Völkerrecht aufseiten Israels bleibt und Luftraumverletzungen nur in den notwendigsten Fällen geschehen; auch das gehört dazu. Aber die Gefahr, die von der Hisbollah ausgeht, rechtfertigt auch den einen oder anderen gezielten Schlag. Das Dritte ist, dass wir sehen, dass die internationale Gemeinschaft Libanon nicht aufgegeben hat. Über 40 Staaten der Vereinten Nationen sind an UNIFIL beteiligt und wirken daran mit, dass wir im Rahmen dieses internationalen Mandats die Seeraumkontrolle leisten, dass Ausbildung stattfindet und dass – was auch sehr wesentlich ist – Ertüchtigung erbracht wird. Das führt mich zum vierten Grund. Dieser vierte Grund ist schlichtweg in unserem reinen deutschen Interesse, weil wir mit dieser Beteiligung zeigen, dass man relativ niedrigschwellig große Wirkung erzielen kann. Ich danke deshalb im Namen der Union und, wie ich denke, auch im Namen des ganzen Hauses den Soldatinnen und Soldaten vor Ort und auch unseren Bundeswehrangehörigen. Bis zu 12 000 Soldaten sind dort. Von der Bundeswehr sind es bald wieder rund 300, wenn die Korvette „Augsburg“ dort eintreffen wird. Also an dieser Stelle große Anerkennung für den über all die Jahre geleisteten Einsatz. ({0}) Wenn wir sehen, wie fragil dieses Land ist, dass die Armut immer weiter um sich greift und es nur eine Frage der Zeit ist, dass das Überleben nicht mehr gesichert ist, dass das Welternährungsprogramm eingreifen muss und dass wir vermutlich noch stärker schauen müssen, dass die Hisbollah keine Souveränität in ihren Bereichen ausübt, dann wissen wir, dass dieses Mandat jegliche Überprüfung und auch Stärkung braucht. Worauf will ich hinaus? Wir beobachten mit Freude, dass die Bundesregierung an der Evaluierung von Auslandseinsätzen arbeitet. Wir erwarten, dass dies in enger Beteiligung des Parlaments und der Fraktionen erfolgt, dass auch die Expertise unserer Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig in den Libanon oder in den Nahen und Mittleren Osten reisen, abgefragt und eingebunden wird. Denn wir sehen durch die Gespräche mit der Zivilgesellschaft, mit den politisch Verantwortlichen und der Opposition, mit den Nichtregierungsorganisationen die Entwicklung der Lage doch in einem breiten Spektrum, das über das der militärischen Einsätze hinausgeht. Das ist schon auch ein Appell an die Bundesregierung, uns hier stärker einzubinden. Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich noch deutlich machen, dass wir alle Einsätze, die wir im Mittelmeerraum haben, stärker ganzheitlich betrachten müssen. Zu einer vernünftigen Nah- und Mitteloststrategie gehört auch, dass unsere Interessen im Bereich UNIFIL verknüpft werden mit dem Einsatz Counter Daesh, aber auch, dass wir sehr klar schauen, wo die Ursache der Unterstützung der Hisbollah ist. Solange der Iran das Existenzrecht Israels leugnet und die Hisbollah als Proxy in die Lage versetzt, Israel anzugreifen, müssen wir mit einem verstärkten Engagement rechnen und deshalb alles dafür tun, dass der Iran nicht nuklearwaffenfähig wird. In diesem Sinne ist UNIFIL also nur ein Baustein mehrerer internationaler Engagements. Ich denke, wir dürfen als Opposition formulieren, dass wir hier auch in Bezug auf die nationale Sicherheitsstrategie klare Aussagen erwarten, wie wir Stabilität gemeinsam mit den anderen Staaten der Europäischen Union um die EU herum schaffen – in Mitverantwortung und auf Augenhöhe. In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Zeit und das Zuhören, ({1}) und vor allen Dingen danke ich Ihnen, wenn Sie sich für dieses Mandat entscheiden. Wir werben um Unterstützung. Herzlichen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Jürgen Coße hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Jürgen Coße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004639, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist Tag des Peacekeeping 2022. In einem Festakt hat die Bundesregierung ausgewählte deutsche Teilnehmerinnen und Teilnehmer an internationalen Friedensmissionen ausgezeichnet. Die Arbeit von Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten sowie zivilen Expertinnen und Experten wurde gewürdigt. Diese gemeinsame Ehrung durch die Ministerinnen – also drei Frauen – unterstreicht die besondere Bedeutung eines Ansatzes, der vernetzt ist. Wir nennen das vernetzten Ansatz. Ich danke an dieser Stelle im Namen der gesamten SPD-Fraktion – und ich bin mir sicher: auch im Namen des Hauses – den deutschen Kräften in internationalen Missionen für ihren Einsatz und für ihr Engagement. Die Beteiligung an internationalen Einsätzen von Deutschen wird weltweit hoch geschätzt. Das ist insbesondere ihr Verdienst. Dafür herzlichen Dank! ({0}) Eine Soldatin der Marine wurde heute für ihren Einsatz geehrt. Sie ist Teil der deutschen Kräfte bei der Mission UNIFIL im Libanon. Über die Fortführung entscheiden wir heute. Als Parlament, welches jeden einzelnen Einsatz deutscher Truppen berät und abstimmt, tragen wir natürlich besondere Verantwortung. Ich wiederhole mich an dieser Stelle, weil es mir wichtig ist: Es ist gut, notwendig und vernünftig, dass der weltweite Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten so intensiv Jahr für Jahr in diesem Haus diskutiert wird. Es ist und bleibt unsere Parlamentsarmee, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Als Parlament tragen wir Verantwortung für unsere Bundeswehr. Dazu gehört die bestmögliche Ausstattung in jeder Hinsicht. Fragen, wie sie untergebracht sind, wie sie verpflegt werden, welche Technik sie nutzen, sind richtig und fürsorglich. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind und bleiben Staatsbürger in Uniform, und als Abgeordnete tragen wir eine große Fürsorgepflicht ihnen gegenüber. Daher ist es gut, dass wir das Sondervermögen mit großer Mehrheit in diesem Haus beschlossen haben. Auch das ist gut für die Soldatinnen und Soldaten, die wir in einen Auslandseinsatz schicken. Zum Libanon drei Bemerkungen: Erstens. UNIFIL ist einer der ältesten friedenserhaltenden Einsätze, und – Omid Nouripour hat es gesagt – seit über 44 Jahren sind Blauhelmsoldaten für die Einhaltung des Waffenstillstandes an der 121 Kilometer langen Blue Line zwischen Israel und dem Libanon stationiert. Diese Linie wurde 2000 von der UNO als Rückzugslinie zwischen dem Libanon und Israel festgelegt; sie ist aber nicht die internationale Grenze zwischen beiden Staaten. Zweitens. Im Zuge des zweiten Libanon-Krieges im Sommer 2006 wurde das Mandat verändert: Die Mission wurde personell aufgestockt. Das Mandat wurde um die Überwachung des Waffenstillstandes sowie die Unterstützung der Stationierung der regulären libanesischen Streitkräfte entlang der Blue Linie erweitert. Drittens. Die Vereinten Nationen griffen zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf Seestreitkräfte zurück und gaben eine Maritime Task Force in Auftrag. Seit 2006 war Deutschland personell mit Soldatinnen und Soldaten sowie Booten an dieser Mission beteiligt. Derzeit besteht der maritime Teil aus vier Schiffen, gestellt von Bangladesch, Griechenland, Indonesien und der Türkei unter dem Kommando eines deutschen Admirals. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist internationale Verantwortung. ({2}) Die Mission UNIFIL hat einen klaren Auftrag: die Seewege vor dem Libanon zu sichern, um den Schmuggel von See her in den Libanon zu unterbinden, Unterstützung bei der kontinuierlichen Erstellung eines Lagebildes im Gebiet, und drittens die Ausbildung der libanesischen Marine, sodass sie ihre Seegrenzen zukünftig am besten auch eigenverantwortlich schützen kann. Deutschland unterstützt den Libanon noch intensiver. Das Land ist politisch weiterhin instabil. Das Ergebnis der Wahlen im Mai – das haben wir eben gehört – wird dieses Land vor große Herausforderungen stellen. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht noch viel fragiler werden kann als heute. Der Libanon ist nach wie vor das Land mit der höchsten Flüchtlingsquote. Infolge des Konfliktes in Syrien sind über 1,5 Millionen Syrerinnen und Syrer in den Libanon geflüchtet. Insgesamt besteht die Bevölkerung aus 6 Millionen Menschen. Auch das ist in der deutschen Öffentlichkeit häufig etwas, was kaum thematisiert wird. Die Wirtschaft ist durch die schwere Explosion im Hafen von Beirut, die Coronakrise und die globale Rezession geschwächt. Grundnahrungsmittel wie Weizen sind auch im Libanon knapp geworden. Der Krieg von Putin in der Ukraine droht das Land noch tiefer in die Krise zu stürzen. Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Überfall von Putin für mich ebenso ein Verbrechen an den Menschen, die auf diese Nahrungsmittel angewiesen sind. ({3}) Deutschland unterstützt daher den Libanon. Seit 2012 sind mehr als 2,5 Milliarden Euro, davon 888 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und 1,7 Milliarden Euro für Vorhaben der Entwicklungsarbeit, geflossen. Wir stimmen uns eng mit unseren UN-Partnern ab. Das ist auch wichtig. Der Libanon und die gesamte Region bleiben instabil, und die schwierige internationale Lage wird dieses Land weiterhin belasten. Unsere Aufgabe und unsere Verantwortung ist es, weiterhin an der Seite dieser Menschen zu stehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir vor Ort bleiben und wirken. Wir als SPD unterstützen ausdrücklich den Antrag der Bundesregierung, dieses Mandat zu verlängern. Dieser Blauhelmeinsatz ist notwendig, richtig, und er bleibt klug. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Das Wort hat Hannes Gnauck, AfD-Fraktion. ({0})

Hannes Gnauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005066, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestag entscheidet über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon, kurz UNIFIL, und das zu einer Zeit, da über die militärische Kampffähigkeit und Rüstungsausgaben fast täglich medial berichtet wird und die Bundeswehr vermutlich so stark wie nie zuvor im politischen Diskurs stattfindet. Das ist ein Novum und, wie wir alle wissen, eine unmittelbare Folge und Konsequenz des Krieges in der Ukraine. Daran war natürlich 2006, zum Zeitpunkt der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, noch gar nicht zu denken. Aber wir leben nun mal in einer anderen Zeit. Dementsprechend sind Auslandseinsätze mit der Bestrebung abzuwägen, unsere Streitkräfte auszurüsten und einen Rückstand von mindestens vier Jahrzehnten aufzuholen. Wie bei vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr bleibt auch bei diesem Mandat der Beleg einer tatsächlichen Wirksamkeit aus. In diesem Fall betrifft dies vor allem die Verhinderung von Waffenschmuggel. Ursprünglich stellte Deutschland sechs Schiffe und um die 700 Soldaten für die Leitung der Maritime Task Force im Rahmen des Mandats. Nun sind bloß noch 68 deutsche Soldaten vor Ort. Meine Damen und Herren, es wäre doch weitaus sinnvoller, die deutsche Beteiligung an UNIFIL zu beenden. Holen wir endlich die noch verbliebenen Kameraden nach Hause! ({0}) Diese Heimkehr wäre doch auch gar kein Ausdruck des Scheiterns; denn die Bedingungen dafür sind doch erfolgreich geschaffen worden. Die libanesische Marine ist in der Lage, selbst auszubilden. Das geht auf die hervorragende Leistung unserer Männer und Frauen in Uniform zurück. Nun ist es aber an der Zeit, die eigene Ausbildung wieder in den Fokus zu nehmen und unsere Marine in Verteidigungsfähigkeit zu versetzen. ({1}) Und das, meine Damen und Herren, erfolgt in heimischen Gefilden und nicht in fremden Gewässern. Man gewinnt ja bei Ihren Reden in dieser Debatte teils den Eindruck, als seien Auslandseinsätze grundsätzlich ein Geschenk und ein Gefallen für die Soldaten wie eine nette Urlaubsreise und Extrataschengeld. Auch das, meine Damen und Herren, ist ein Produkt Ihrer verzerrten Darstellung unserer Streitkräfte als international ausgerichtetem Arbeitgeber und nicht als das, was unsere Bundeswehr wirklich ist, nämlich eine professionelle nationale Verteidigungsarmee. ({2}) Meine Damen und Herren, Sie würden als politische Verantwortungsträger den Soldaten tatsächlich einen Gefallen tun, wenn diese sich endlich wieder dem Auftrag widmen können, für welchen sie sich mal verpflichtet haben, nämlich der verfassungsgeregelten Kernaufgabe der Bundeswehr, also der nationalen Landesverteidigung hier vor Ort in Deutschland. Für unsere Marine bedeutet dies vor allem, die Ostsee im Blick zu haben und nicht die levantinische Küste im Mittelmeer. Wir haben hier ganz andere Prioritäten zu setzen und Herausforderungen zu bewältigen. An fragwürdige NATO-Mandate ist dabei gar nicht mehr zu denken. Die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr wiederherzustellen, ist eine gigantische, wohl generationenübergreifende Aufgabe. ({3}) Die wiederkehrenden Phrasen von der Zeitenwende sind zwar medial präsent, doch die Handlungen seitens der Regierung zeigen, dass der notwendige Wille eben nicht vorhanden ist. Sonst würde man auch unsere Marine ganz anders einsetzen, und man würde hier und heute mit solchen Einsätzen ganz anders umgehen als noch 2006. Andere Bündnispartner sind gut aufgestellt. Somit ist es endlich an der Zeit, dass wir uns ebenfalls wieder gut aufstellen. Das, meine Damen und Herren, muss jetzt absolute Priorität haben. Die AfD-Fraktion lehnt deshalb eine Fortsetzung der Beteiligung Deutschlands an UNIFIL ab. Wir benötigen jedes Schiff und jeden Soldaten genau hier, in Deutschland. Vielen Dank. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion Christian Sauter. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bereits seit 2006 beteiligt sich die Bundeswehr durchgängig am maritimen Teil der UN-Mission UNIFIL. Seit 1978 ist UNIFIL nunmehr eine der längsten UN-Missionen überhaupt. Der formulierte Auftrag im vorliegenden Mandatstext ist dabei die seewärtige Sicherung der libanesischen Küste, Überwachung der Feindseligkeiten und des UN-Mandatsgebietes und die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte, um diese zu befähigen, zunehmend selbst Verantwortung zu übernehmen. Aus diesem Grund stellt Deutschland im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative auch Mittel dafür bereit. Weiterhin leisten die im Rahmen des Mandates von uns eingesetzten Kräfte ihre Aufgaben. Die Verhinderung des Waffenschmuggels auf See und die Sicherung der Seegrenzen zu Israel sind dabei besonders zu erwähnen. In den vergangenen Jahren haben deutsche Soldaten bislang stets mit viel Engagement und Professionalität im Mandat ihren Dienst geleistet und lieferten durch ihre Präsenz einen wichtigen Beitrag für UNIFIL. Hierfür gebührt ihnen unser aller Dank und Anerkennung. ({0}) Neben diesem Beitrag steht der ebenso wichtige Beitrag weiterer Länder im Rahmen von UNIFIL. Die allgemeine Sicherheitslage im Libanon ist nach wie vor sehr angespannt. Hier gab es zahlreiche Einflussfaktoren wie eine enorme Inflation und die Folgen der Pandemie. Es ist deshalb gut und richtig, dass es UNIFIL weiterhin geben wird. Die Gefährdung Israels durch die Hisbollah verbleibt auf hohem Niveau, und weiterhin wird das Land regelmäßig durch Angriffe mit Raketen und Waffen bedroht. Der andauernde Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien wirkt ebenfalls destabilisierend auf die Sicherheitslage. Wir Freie Demokraten haben in vergangenen Jahren an dieser Stelle deshalb wiederholt darauf hingewiesen, dass die UNIFIL-Mission aus einem langfristigen Blickwinkel betrachtet werden muss. UNIFIL leistet einen kontinuierlichen Beitrag zur Stabilisierung der Region. Dies kommt der Sicherheit Israels zugute: Wir stehen unmissverständlich zu Israel und zur Sicherheit Israels. ({1}) Trotz des Einflusses unserer Beteiligung ist jedoch klar, dass dieser Einsatz die Deutsche Marine dauerhaft bindet. Ich möchte deshalb den Blick auf diejenigen schärfen, die diesen Einsatz bestreiten: Aktuell sind 61 Soldaten der Bundeswehr im Hauptquartier in Naqoura, in Limassol und später planmäßig auf See im Einsatz. Zudem führt ein deutscher Admiral – das wurde angesprochen – derzeit den multinationalen UNIFIL-Flottenverband. Der Faktor Mensch ist entscheidend. Mit bis zu 300 Soldaten ist die Obergrenze im Mandatstext festgelegt. Dahinter stehen Frauen und Männer, die sich nach Kräften auf diesen Einsatz vorbereiten, um anschließend die an sie gestellten Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen. Dabei ist wegen der personellen Belastungen der Marine durch zahlreiche weitere Verpflichtungen die Einsatzvorbereitung nicht immer einfach und wird oft unter großen Anstrengungen erbracht; das wird auch immer in Gesprächen deutlich, die man mit bereits UNIFIL-Erfahrenen führt. Im Regelfall stellt Deutschland auch eine seegehende Einheit, zuletzt in Form einer Korvette, bereit. Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist diese allerdings zum Marineverband zur Verstärkung der NATO-Nordflanke beordert worden. Bald wird Deutschland wieder eine Korvette in UNIFIL einsetzen. Dies zeigt aber auch deutlich: Deutschland stehen nur begrenzte Ressourcen in der derzeit sehr kleinen Marine zur Verfügung, die auch aufgrund hoher Belastung von Personal und Material oft im Grenzbereich arbeitet. Gut, dass das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro durch die Koalition und die Union beschlossen wurde! ({2}) Aus diesem Grund halte ich persönlich es für sinnvoll, sich perspektivisch Gedanken über eine Entlastung der Marine zu machen und bei der zukünftigen Mandatsgestaltung zu überlegen, wo gegebenenfalls andere deutsche Kräfte ergänzen können. Damit unsere Marine auch künftig in der Lage ist, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, aufgrund der sicherheitspolitischen Lage auch dauerhaft, müssen die personelle Situation verbessert und die Verfügbarkeit von Schiffen und Booten weiter gesteigert werden. Dies sind Voraussetzungen dafür, dass wir uns auch weiterhin an Missionen wie UNIFIL beteiligen können. Die zugesagte Evaluierung auch dieses Einsatzes durch die Bundesregierung ist sehr zu begrüßen. Diese Forderung haben wir als Fraktion stets bei allen Auslandseinsätzen aufgestellt. Es ist gut und richtig, dies nun auch für UNIFIL zu tun. Abschließend gilt unser Dank denjenigen Soldaten, die nun künftig im Rahmen des Mandates eingesetzt werden. Wir bitten um Zustimmung zu diesem Mandat. Danke. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Zaklin Nastic. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ein immer wiederkehrendes Spiel: Eine Bundesregierung gaukelt der Bevölkerung vor, ein Militäreinsatz würde die Welt friedlicher machen. Deswegen fordert Die Linke seit ihrer Gründung einen grundlegenden Wandel in der deutschen Außenpolitik: nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen, sondern sich vermittelnd zwischen den Kriegsparteien für Frieden einzusetzen, ({0}) für Abrüstung im Geiste von Heinrich Böll, Petra Kelly und Willy Brandt. Kann uns denn jemand von der Regierungsbank glaubhaft erklären, wie es effektiv funktionieren soll, wenn Sie mit UNIFIL den Seeweg gegen Waffenschmuggel absichern, aber gleichzeitig die Hintertür, den Landweg, sperrangelweit offenlassen? ({1}) Die Bundesregierung tut ja nichts dagegen, im Gegenteil: Ihnen ist sehr wohl bekannt, dass Ihr NATO-Waffenbruder Erdogan fleißig über den Landweg im Libanon zündelt. Dass Sie dagegen nichts tun wollen, ist ein Skandal. ({2}) Der UNIFIL-Einsatz soll angeblich, wie Sie schreiben, dauerhaften Frieden und Stabilität im Nahen Osten nachhaltig fördern. Aber UNIFIL geht eben nicht auf Kosten der großen Waffenschmuggler dort, sondern auf Kosten der kleinen Steuerzahler hier. ({3}) Im Libanon wird mit der humanitären Krise gleichzeitig ein Failed State organisiert. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsquote. Kraftstoff und Strom sind für die Bevölkerung kaum noch vorzufinden, und die Vereinten Nationen warnen, dass Medikamente und Trinkwasser zur Mangelware geworden sind. ({4}) Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, Ihre Sanktionen gegen den wichtigsten Handelspartner des Libanon, Syrien, verschärfen nicht nur die Situation für die Ärmsten in Syrien, sondern auch für die im Libanon, ({5}) ebenso wie die ausbleibenden Lieferungen von Weizen und Sonnenblumenöl, die der Libanon zu 90 Prozent aus Russland und der Ukraine bezieht. ({6}) – Entschuldigen Sie, Kollege, das Thema ist Libanon. ({7}) Und hören Sie endlich auf, dem Libanon, der über keine funktionierende Regierung mehr verfügt, durch unerfüllbare Forderungen von IWF und Weltbank auch noch zusätzlich Druck zu machen. Der Schutz von Menschenleben, den Sie hier so bigott und flott immer wieder, aber sehr selektiv zitieren, zeigt sich doch in Ihrer Politik ganz klar: Obwohl Sie genau wissen, dass weltweit immer mehr Menschen verhungern, kürzen Sie die Gelder für das Welternährungsprogramm. Die Linke sagt ganz klar: Diese gehören endlich erhöht und nicht auch noch zusätzlich gekürzt. ({8}) Statt also Geld für solche kostspieligen Einsätze auszugeben, nehmen wir es, helfen wir den 1 Million Kriegsgeflüchteten aus Syrien und den 500 000 palästinensischen Geflüchteten vor Ort, meine Damen und Herren, damit sich nach Bankenkrise, Corona und dem jetzigen Krieg in der Ukraine nicht zusätzlich noch Millionen von Menschen auf gefährliche Fluchtrouten begeben müssen. ({9})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz, Frau Präsidentin. – Denn helfende, vermittelnde und aufbauende Hände werden überall auf der Welt gesucht, aber nicht die deutsche Bundeswehr. Die Linke lehnt dieses Mandat ab. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat beantragt, dass der Bundestag dem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen der Operation UNIFIL im Libanon zustimmt und das Mandat mit der Mandatsobergrenze von 300 Soldatinnen und Soldaten bis zum 30. Juli 2023 verlängert. Die Unionsfraktion wird diesem Antrag zustimmen. Dieser Einsatz ist wichtig und ist ein Kern unserer Politik im Nahen Osten, um Stabilität und Sicherheit für die Region zu gewährleisten. Worum geht es? Es geht darum, dass in den 70er-Jahren ein grausamer Bürgerkrieg im Libanon herrschte und dass die erste UNIFIL-Mission 1978 dazu diente, die Folgen dieses Bürgerkriegs zu beheben. Der Libanon-Krieg im Jahr 2006 hat es notwendig gemacht, dass die Demarkationslinie überwacht wird und dass vor allen Dingen auch der Süden Libanons so kontrolliert wird, dass Waffenschmuggler, aber auch die Hisbollah keine Chance haben, hier ihren Untaten nachzugehen. ({0}) Wenn ich jetzt höre, Frau Kollegin Nastic, dass Sie davon sprechen, dieser Einsatz gaukele den Deutschen nur etwas vor und er gieße – ich zitiere Sie – „Öl ins Feuer“, ({1}) dann will ich Folgendes sagen: Wir haben im Deutschen Bundestag vor drei Jahren ein Betätigungsverbot der Hisbollah beschlossen. ({2}) Aus dem Süden Libanons fliegen immer noch im Monatstakt Raketen auf israelische Städte. Es ist in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir Israel beistehen und dass wir der Hisbollah das Handwerk legen. ({3}) Wer hier von „Öl ins Feuer gießen“ spricht, der steht nicht an der Seite Israels, und das sollten Sie erklären. Der Libanon hat im Augenblick nicht die Ressourcen, um mit seiner Armee die wichtigsten Punkte des Waffenstillstandsabkommens und sein Territorium insgesamt zu kontrollieren. Die Gründe sind vielfältig: Das Land leidet unter ökonomischer Armut, einer Inflation von 200 Prozent. Stromausfälle führen dazu, dass es in vielen libanesischen Metropolen nur zwei bis drei Stunden Strom am Tag gibt. ({4}) Es herrscht Nahrungsmittelknappheit und damit eine Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Und es gibt auch eine Spaltung der Bevölkerung zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen. Das Ziel muss sein, dass der Libanon gerade angesichts der unterschiedlichen Ethnien in diesem Land zur Ruhe kommt und Stabilität existiert, damit er ein gutes Beispiel dafür abgeben kann, dass auch im Nahen Osten Menschen unterschiedlichster Religionen friedlich zusammenleben können. Der Libanon ist ein Land, in dem das möglich sein muss; aber dazu muss dieses Land stabilisiert werden. Es gibt genügend Player, die diese Stabilität nicht wollen. Ich spreche den Iran an, der die Hisbollah finanziert und damit die Destabilisierung des Libanons vorantreibt. Der Libanon leidet natürlich auch unter einer langen Grenze zu Syrien: 394 Kilometer beträgt die Länge der Landgrenze zu Syrien. Allein 1,5 Millionen Menschen aus Syrien hat der Libanon aufgenommen. Das ist nicht destabilisierend, aber das ist eine große Herausforderung für das Land. Wir dürfen diese Region und das Land nicht alleinlassen. ({5}) Der Umstand, dass sich 40 Nationen mit über 10 000 Soldatinnen und Soldaten an dieser Mission beteiligen, zeigt doch, dass dieser Einsatz wichtig ist. Das ist eine gelebte Operation der Vereinten Nationen. Hier kann sich Deutschland, Frau Kollegin Nastic, nicht wegducken, sondern wir müssen unseren Beitrag dafür leisten, dass diese Region stabil bleibt. Deswegen werden wir diesem Antrag zustimmen, auch in der Hoffnung, dass gerade durch die deutsche Führung im Bereich der Maritime Task Force ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet wird, dass die Situation im Libanon sich verbessert und dass vor allen Dingen auch die Raketenangriffe auf Israel ein Ende finden. Das muss ein wesentlicher Bestandteil dieser Mission sein. Herzlichen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dr. Joe Weingarten, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Joe Weingarten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zeitenwende verändert auch unseren Blick auf Konflikte außerhalb Europas. Auch Auseinandersetzungen im östlichen Mittelmeer können Auswirkungen auf unsere Sicherheit haben. Wir wollen, dass dort die brisante Situation nicht weiter eskaliert. Das ist nicht nur ein Gebot humanitärer Verpflichtung, sondern auch der politischen Klugheit und der strategischen Absicherung. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass uns jemand mit zweifelhaftem Verfassungsleumund, für den ein Uniformtrageverbot bei der Bundeswehr gilt, hier das Gegenteil erklären will, ist ein starkes Stück. ({0}) Meine Damen und Herren, der Libanon ist schwer angeschlagen; das ist hier schon oft angesprochen worden. 1,5 Millionen Flüchtlinge, Inflationsrate über 200 Prozent, zwei Fünftel der Bevölkerung arbeitslos – die Zahlen sind dramatisch. Auch dass die libanesische Regierung zu einem großen Teil handlungsunfähig und ohne funktionierenden Haushalt ist, erschwert die Lage. Die Wahlen haben die reformorientierten Kräfte zwar gestärkt, aber das grundsätzliche Patt im libanesischen Parlament nicht beseitigt. Die verbrecherische Taktik Russlands, die Welt vom ukrainischen Weizen abzuschneiden und bislang belieferte Länder auszuhungern, trifft den Libanon besonders hart. Die Brotpreise haben sich in den letzten zwei Wochen verdoppelt. Deswegen geht auch in dieser Debatte der Appell an den Kreml: Hört auf, Nahrungsmittel als Waffe zu verwenden! Öffnet die ukrainischen Häfen für dringend benötigte Weizenexporte! ({1}) Frau Kollegin Nastic, wenn Sie eben über die Blockade Syriens reden, aber kein Wort über das, was Russland macht, über die Lippen bringen, ({2}) dann ist das auch ein bisschen traurig und ein weiterer Beweis dafür, dass Die Linke im internationalen Bereich nicht handlungsfähig ist. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die militärische Lage darf nicht weiter eskalieren. Ich kann nur allen zustimmen, die darauf hingewiesen haben, dass wir dafür sorgen müssen, dass der Einfluss der im Südlibanon aktiven Hisbollah-Milizen nicht noch zunimmt und sich nicht auf die Seeregion im östlichen Mittelmeer erstreckt. Deshalb ist es richtig, dass die Bundeswehr Teil der UNIFIL-Mission bleibt und dass wir heute dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, das Mandat bewaffneter deutscher Streitkräfte um ein Jahr bis längstens zum 30. Juni 2023 zu verlängern. Deutschland übernimmt dabei Aufgaben bei der Überwachung vor der Küste des Libanon und bei der Ausbildung von Marinesoldaten. Die libanesische Marine macht dabei Fortschritte – das können wir feststellen –, aber sie wäre aktuell immer noch nicht in der Lage, diesen Aufgaben alleine nachzukommen. Neben diesen lokalen Aspekten müssen wir bei der Bewertung der Sinnhaftigkeit der Mission aber auch das größere Bild im Auge behalten. Ich bin sehr dankbar, dass von mehreren Fraktionen hier auf die Sicherheit Israels hingewiesen wurde. Der geschwächte libanesische Staat wird von fremden Mächten, allen voran vom Iran, aber auch von Syrien, vereinnahmt und unterwandert, und das gefährdet auch die Sicherheit Israels. Wir konnten uns als Verteidigungsausschuss ein Bild von der Situation an der Waffenstillstandslinie, der Blue Line, machen und haben gesehen, wie die vom Iran finanzierte Hisbollah versucht, Israel durch Raketenangriffe anzugreifen, wie Tunnels gegraben werden und dass es permanente Angriffe gibt. Es ist sehr gut, dass die UNIFIL dort stationiert ist und versucht, dieser Situation entgegenzuwirken. Die Präsenz der Bundeswehr in dieser Region dient aber auch unseren Sicherheitsinteressen. Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Maritime Task Force ein multinationaler Flottenverband ist, der ab Ende Juni durch die Korvette „Erfurt“ der Deutschen Marine verstärkt wird. Damit stärken wir nicht nur UNIFIL, sondern wir haben auch einen wesentlichen Informationszugriff auf das wichtige Seegebiet zwischen israelischer und libanesischer Küste, Syrien, der Türkei und Zypern. Das ist auch für unsere Verteidigung von Bedeutung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen bei der internationalen Krisenbewältigung. Das größte und wirtschaftlich stärkste Land Europas übernimmt Verantwortung für die Konflikteindämmung – humanitär, wirtschaftlich und, wenn es notwendig ist, auch militärisch. Das ist die Verantwortung einer Führungsnation, nicht weil wir sie um jeden Preis anstreben, sondern weil sie von uns erwartet wird, auch vom Libanon und von Israel. Ich danke im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion – ich freue mich, dass das auch die anderen demokratischen Fraktionen getan haben – allen deutschen Soldatinnen und Soldaten, die sich im Rahmen von UNIFIL für Frieden, Freiheit und Sicherheit einsetzen, im Einsatz vor Ort, in den Stäben, auf der „Erfurt“ und auch in der Einsatzführung hier in der Heimat. Geben wir ihnen durch das klare politische Signal der Mandatsverlängerung Rückendeckung! Vielen Dank. ({4})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie heute Morgen schon angekündigt, geht es heute Abend noch einmal um die berufliche Bildung und die Stärkung der beruflichen Bildung. Was wir heute Abend mit unserem Antrag vorlegen, sind nicht mehr und nicht weniger als zwei zentrale Punkte, die als kritische Aspekte aus der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ in der letzten Legislaturperiode entwickelt, festgestellt und im Juli letzten Jahres dem Deutschen Bundestag für die weitere Arbeit übergeben worden sind. Hieraus leiten wir unter anderem für den Bereich der Berufsorientierung eine klare Verstärkung, einen Boost, wie ich heute Morgen gesagt habe, für die Berufsorientierung ab. In diesem Bereich – wer mit seinen Kammern spricht, der weiß das – werden unglaublich viele Maßnahmen durchgeführt: Praktika, Messen, Schnuppertage etc. etc. Aber all diese Maßnahmen stehen nebeneinander und sind nicht Teil eines gesamten Prozesses. Und genau das zu erreichen, ist die Aufgabe. Denn stellen Sie sich vor: Die jungen Menschen haben am Ende die Wahl momentan zwischen ungefähr 300 beruflichen Ausbildungen und ungefähr 20 000 Studiengängen. Angesichts der Frage „Was wähle ich da aus?“ – stellen Sie sich mal eine Speisekarte mit 300 Vorspeisen und 20 000 Hauptgängen vor –, ist jeder überfordert. Und hier bedarf es der Orientierung. ({0}) Ich will das Problem mit der Orientierung, wie sie heute stattfindet, an einem Beispiel illustrieren. Ich fragte zum Zeitpunkt der Praktika einen Freund meiner Kinder: „Was hast du denn für einen Praktikumsplatz? Was machst du denn in den zwei Wochen?“ Da sagte er: „Ich mache eines in der Bank.“ Da habe ich gesagt: „Das ist à la bonne heure. Aber du wolltest doch eigentlich in den grünen Berufen in der Baumschule bei uns im Ammerland arbeiten.“ Daraufhin sagte er: „Aber doch nicht im Februar, wenn es schneit und regnet. Da mache ich das schön in der Bank. Da ist es geheizt und warm.“ Das dient nicht der Berufsorientierung, insbesondere im Hinblick auf eine entsprechende Entscheidung in der Zukunft. Insofern fordern wir unter Nummer 1 Buchstabe c unseres vorgelegten Antrages, „ein System zu schaffen, in dem sämtliche Maßnahmen der Berufsorientierung aufeinander aufbauend einen strukturierten, individuellen Suchprozess ermöglichen“. Was heißt das? Wir machen am Anfang eine Potenzialanalyse: Wo sind die Talente der jungen Menschen? Wir finden heraus: Was macht ihnen Spaß? Was macht ihnen Freude? Und dann werden die Schnuppertage genau darauf ausgerichtet – genauso die Praktika; dann bitte mehrere Praktika und zu verschiedenen Jahreszeiten –, um herauszufinden, was die Talente und die Interessen sind. Und das führt dann am Ende auch zum Ziel. ({1}) Das zweite Thema, das wir aus der Enquete-Kommission mitgenommen und als Vorschlag bzw. Forderung für die Stärkung der beruflichen Bildung heute vorlegen, ist das Ziel der Vergleichbarkeit. Das wurde heute Morgen schon gesagt. Gleichwertig, wenn auch andersartig, zwei Seiten einer Medaille, zwei gleichwertige Säulen etc. – das sind die Worte, die wir alle wählen. 2006 wurde ein Prozess begonnen, mit dem 2013 der DQR, der Deutsche Qualifikationsrahmen; geschaffen wurde, ein achtstufiges System, in dem alle Berufsausbildungen sukzessive eingeordnet werden. Was auf einer Stufe ist, ist auch entsprechend vergleichbar. Dieses wurde in den letzten Jahren erprobt. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass dieses zwar dem einen oder anderen immer noch Schwierigkeiten macht, aber das Ziel am Ende, die Vergleichbarkeit, wird natürlich nur erreicht werden, wenn man auch sagt: Was gleich ist, muss dann auch entsprechend gleich behandelt werden. ({2}) Ich will die Überzeugungskraft unserer Vorstellung dahin gehend unterstreichen, indem ich erwähne, dass es auch mal eine Zeit gab, in der 1 Kilogramm Pflaumen in Flensburg etwas völlig anderes war als 1 Kilogramm Pflaumen in Hamburg. Das führte schlussendlich dazu, dass man ein Eichamt eingeführt hat, das klar festlegte, wie viel 1 Kilogramm ist. Denn wenn sich damals zwei Leute aus Flensburg und Hamburg begegneten, waren sie stinkesauer, weil der eine viele und der andere wenig Pflaumen hatte. Das hatte mit Gleichwertigkeit nichts zu tun. Beide dachten, sie hätten 1 Kilogramm Pflaumen dabei. Und um genau das geht es hier. Genau dieser Maßstab, genau diese Eichung ist der DQR, der dann eine Garantie der Vergleichbarkeit gibt und letzten Endes bei einem Treffen von zwei ausgebildeten jungen Menschen, die auf einer DQR-Stufe angekommen sind, auch besagt: Ihr beide seid hiermit wirklich gleichwertig ausgebildet. – Dafür ist nicht nur Transparenz notwendig; hierfür ist eine rechtliche Verbindlichkeit notwendig, die an dieser Stelle die Forderung ist, die wir heute vorlegen. Herzlichen Dank. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Ich erteile das Wort Jessica Rosenthal, SPD-Fraktion. ({0})

Jessica Rosenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich mich bei Ihnen bedanken, liebe CDU/CSU-Fraktion, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, dass Sie heute die berufliche Bildung als Tagesordnungspunkt im Plenum aufrufen. ({0}) Ich möchte Ihnen auch gerne anbieten, dass wir konstruktiv zusammenarbeiten und die vielen guten Vorschläge aufgreifen. Aber ich möchte gerade in Ihre Richtung einmal klar sagen, dass dieser vorliegende Antrag deutlich zeigt, dass es gut ist, dass Sie nicht mehr Teil der Regierung sind. In den letzten 16 Jahren sind Sie nämlich die Systematisierung der Berufsorientierung, die Sie hier anmahnen, nicht angegangen. Es gab keinen Fokus auf die berufliche Bildung. ({1}) Die Mindestausbildungsvergütung haben wir im Arbeitsministerium erstritten. Bevor Sie sich jetzt zu lautstark aufregen: Ich habe verstanden, dass Sie mit den letzten 16 Jahren eher nichts zu tun haben wollen und daran nicht erinnert werden wollen. Das ist in den letzten Monaten deutlich geworden.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Albani?

Jessica Rosenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Wenn Sie das so sagen – und ich möchte Sie extra früh bremsen –, nehmen Sie dann bitte zur Kenntnis – ich hoffe, Sie können mir da zustimmen –, dass wir in der letzten Legislatur mit der grundsätzlichen Veränderung des Berufsbildungsmodernisierungsgesetzes und der erstmaligen Einführung der DQR-Stufen 5 und 6 genau diesen Weg begonnen haben, den wir heute konsequent weitergehen. Wenn das nichts ist, verstehe ich das nicht ganz. Und auch das Aufstiegs-BAföG haben wir deutlich modernisiert, mehr Geld hineingepackt: 350 Millionen Euro. Wenn 350 Millionen Euro nichts sind, dann bitte ich Sie, mich zu korrigieren. Ignorieren Sie das bitte nicht. Sind Sie dazu bereit? ({0})

Jessica Rosenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe sehr gerne auf Ihre Frage ein, Herr Kollege. Ich werde in den weiteren Ausführungen meiner Rede noch einmal deutlich machen, was wir jetzt in der beruflichen Bildung eigentlich brauchen, was wir übrigens auch in den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Da stehen nämlich nicht nur kleine kosmetische Veränderungen drin, sondern eine strukturelle Antwort. ({0}) Und deshalb mache ich meine Kritik – wenn Ihnen das besser passt – auch sehr gerne an Ihrem Antrag selbst deutlich und würde damit jetzt auch fortfahren. ({1}) Wenn man sich Ihre Analyse anguckt, dann möchte ich Sie – das ist auch in Ihren Ausführungen deutlich geworden – auf einen Umstand hinweisen: Hier sind einige junge Menschen, die uns zuhören. Wo kommen die eigentlich in Ihrem Antrag vor? Wo findet die Perspektive junger Menschen in Ihrem Antrag statt? Wo geht es eigentlich um Freiräume, auszuprobieren, wo Stärken und Schwächen sind? Wo geht es darum, welche Berufswünsche junge Menschen haben? Wo geht es in Ihrem Antrag darum, dass junge Menschen sich geregelte Arbeitszeiten wünschen, Kreativität in ihrem Beruf und auch gute Arbeitsbedingungen? Wo geht es in Ihrem Antrag um Ausbildungsmobilität, darum, dass man sich Wohnraum nicht leisten kann, dass es tatsächlich auch ein Problem ist, dass man mit dem Bus zum Beispiel nicht zur Berufsschule kommen kann, dass man sich die Preise nicht leisten kann? Wo geht es um junge Menschen in Ihrem Antrag? Ich sehe davon nichts. ({2}) Das Zweite ist: In Ihrer Analyse kommen Sie sehr klar dazu, dass Sie die akademische Bildung und die berufliche Bildung gegeneinanderstellen, und ich glaube, es ist falsch, das gegeneinanderzustellen. ({3}) Wir haben zwei Säulen, und worum es dieser Ampelkoalition hier geht, ist, Brücken zu bilden, Brücken zwischen den Säulen, dass man immer wieder von der einen Säule zur anderen gehen kann. Es geht darum, unterschiedliche Lebensmodelle möglich zu machen und nicht das eine gegen das andere auszuspielen. Das ist nicht unser Stil. Wir wollen viel innovativer, viel moderner sein. ({4}) Wenn wir über Gleichwertigkeit sprechen, dann muss es auch darum gehen, Weiterbildung zusammen mit beruflicher Bildung, mit Ausbildung zu denken, dann muss es um Weiterbildungspfade gehen. Auch das sehe ich nicht in Ihrem Antrag. Dann wurde ein weiterer Punkt völlig außen vor gelassen, und das ist die Frage, was eigentlich mit den vielen jungen Menschen ist, die im Übergang sind. Der Berufsbildungsbericht hat es wieder deutlich gemacht: 230 000 Menschen sind im Übergang. Was ist eigentlich mit ihnen? Auch nicht gesprochen haben Sie darüber, was eigentlich mit der Integrationskraft unseres beruflichen Bildungssystems ist. Sie sagen nicht wirklich: Wir wollen ein Einwanderungsland sein, und wir bilden das in diesem beruflichen Bildungssystem auch ab. Deshalb muss ich sagen: Wenn ich mir nur die Analyse Ihres Antrags angucke, dann wundert es mich auch nicht, dass Sie in den Forderungen wirklich weit hinter dem zurückbleiben, was eigentlich strukturell verlangt ist. Es ist gut und richtig, auf Digitalisierung einzugehen. Vielleicht haben Sie in den letzten Haushaltsberatungen zur Kenntnis genommen, dass das bereits im Haushalt angelegt ist. Es ist natürlich auch richtig, dass wir eine Systematisierung der Berufsorientierung brauchen; genau das werden wir jetzt angehen. Auch hier haben wir schon viele Instrumente im Haushalt abgebildet. ({5}) Zusätzlich wollen wir aber noch die Jugendberufsagenturen als ein Mittel, damit junge Menschen wirklich einen Anlaufpunkt haben, ({6}) einen Anlaufpunkt, an dem sie immer auch Menschen erreichen können, die ihnen die Hand reichen, die ihnen neue Perspektiven und vielleicht auch neue Ausbildungswege aufzeigen. Das haben wir im Koalitionsvertrag verankert. Das wollen wir stärken. Wir wollen, dass das eine Stütze für junge Menschen ist. Wir wollen die Ausbildungsmobilität erhöhen. Gerade hierfür werden wir jetzt ein Programm für junges Wohnen auflegen. Und wir wollen eine strukturelle Antwort auf all diese Fragen geben und dabei auch diejenigen, die in den Übergängen sind, diejenigen, die ungelernt sind, ansprechen. Wir wissen doch, dass es extrem schwer ist, wenn man keine Ausbildung hat, eine gute Berufsbiografie zu haben, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Deswegen sprechen wir immer wieder von der Ausbildungsgarantie. ({7}) Diese Ausbildungsgarantie ist noch mal an ein Angebot an Unternehmerinnen und Unternehmer, an alle Akteurinnen und Akteure der beruflichen Bildung und natürlich auch an alle hier im Parlament. Sie soll die Berufsorientierung, die berufliche Bildung insgesamt neu auflegen, ihr ein Upgrade geben und vom Übergang zwischen Schule und Beruf bis hin zu den schulischen Angeboten in der beruflichen Bildung die Ausbildungsangebote im schulischen Bereich zusammendenken und vor allem – auch hier bleiben Sie auf jeden Fall hinter meinen Erwartungen zurück – Kleinstbetriebe und mittelständische Unternehmen dabei unterstützen, dass sie ausbilden können. Denn das zeigt der Berufsbildungsbericht ja auch: dass gerade an dieser Stelle wirklich strukturelle Defizite und Probleme vorhanden sind. Deswegen wollen wir zum Beispiel auch die Verbundausbildungen stärken. ({8})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Jessica Rosenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also, Sie sehen: Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil er einfach viel zu kurz greift und wir als Fortschrittskoalition strukturell sehr, sehr Großes vorhaben und genau das auch umsetzen werden. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Dr. Götz Frömming von der AfD-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die letzte Rednerin erzählt uns, was Sie noch alles vorhaben. ({0}) Ihr Vorredner hat dann natürlich auch zurückschauend sich selbst loben müssen, was nicht alles schon damals getan wurde. Aber, meine Damen und Herren, die Realität ist eine andere, und es ist eine bittere. Im Jahr 2020 verfügten nach den Daten des neuen Mikrozensus in Deutschland bei den jungen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren 15,5 Prozent, hochgerechnet etwa 2,33 Millionen, über keinen Berufsabschluss. Gleichzeitig teilt uns der Zentralverband des Deutschen Handwerks mit: Rund eine Viertelmillion Menschen könnten sofort bei uns anfangen. – Und im ländlichen Raum wird eine Berufsschule nach der anderen geschlossen, mit fatalen Folgen. Meine Damen und Herren, was läuft da eigentlich schief? Wir teilen – vielleicht wird Sie das freuen, Herr Albani – Ihre Analyse in weiten Teilen und können auch etliche Ihrer Empfehlungen mittragen, weil Sie uns in weiten Teilen an das erinnern, was wir schon in der letzten Legislaturperiode zur beruflichen Bildung hier vorgetragen und gefordert haben. Damals haben Sie das natürlich alles noch zusammen mit Ihrem früheren Koalitionspartner abgelehnt. Zum Antrag der Linken nur ganz kurz: Die Analyse ist auch überwiegend richtig. Aber Ihre Lösungsvorschläge gehen für uns zumindest dann zu sehr in eine planwirtschaftliche Richtung, die wir natürlich nicht mittragen können. Allerdings, meine Damen und Herren, es wirkt schon kurios, wenn die CDU/CSU in ihrem Antrag nun ganz richtig erkennt, dass die Bologna-Reform, die ja dazu geführt hat, dass noch mehr junge Menschen an die Universitäten streben und dort nicht nur den Bachelor, sondern auch den Master anstreben, auch mitursächlich ist für den Niedergang der beruflichen Bildung. ({1}) Das ist richtig, meine Damen und Herren. Aber man fragt sich dann schon: Warum haben Sie denn diese Bologna-Reform die ganze Zeit mitgetragen? Also hier sind doch dringend Reformen notwendig. ({2}) Meine Damen und Herren, der rosa Elefant ist doch ein ganz anderer, und über den müssen wir heute ja auch mal sprechen. Es ist doch so: Weil inzwischen ganz viele Abitur haben – in den Großstädten ist es schon mehr als die Hälfte –, glaubt auch jeder, er müsse studieren und könne alles werden. Das, meine Damen und Herren, ist aber letztlich nichts anderes als eine Lüge und Heuchelei. Es kann eben nicht jeder alles werden. Es ist ein bisschen so wie im Sport: Wenn man jemandem, der vielleicht kurze Beine hat, sagt: „Du kannst den Marathon gewinnen“, ja, dann wird er das vielleicht eine Weile glauben, aber er wird scheitern. Und das Gleiche machen Sie im Bildungsbereich: Sie versprechen jungen Menschen das Blaue vom Himmel, tun so, als seien alle gleich, und das führt dazu, dass junge Menschen sich mitunter jahrelang quälen, weil es niemanden mehr gibt, um sie frühzeitig richtig zu beraten. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn heutzutage ein Lehrer beispielsweise den Kindern sagt: „Für dich ist das Gymnasium nicht der richtige Weg“, was passiert denn dann? Er hat schon am nächsten Tag ein Gespräch beim Direktor, oder die Eltern stehen mit dem Anwalt vor der Tür. Da, meine Damen und Herren, liegt das eigentliche Problem. Hier müssen wir dringend umsteuern. Wir brauchen den Mut zur Wahrheit. Wir müssen unser dreigliedriges Schulsystem wieder stärken. Denn das ist die Kehrseite des Handwerkermangels: dass wir schlichtweg zu viele Akademiker haben, meine Damen und Herren. ({4}) Ich komme zum Schluss. Es gibt natürlich noch einen weiteren Grund, den Sie hier auch berücksichtigen müssen. Das ist die Fehlsteuerung in der Zuwanderung. Wir sehen leider, dass der Großteil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund es immer noch viel, viel schwerer hat, in einem Beruf zu landen. Auch darüber müssen wir mal sprechen, meine Damen und Herren. Es ist ein weiterer rosa Elefant, der im Raum steht. Haben Sie den Mut, mit uns mal darüber zu reden! Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Anja Reinalter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005187, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Und vor allem heute: Liebe Azubis! Jetzt reden wir heute doch tatsächlich zum zweiten Mal über berufliche Bildung. Das ist super; denn berufliche Bildung ist ein sehr wichtiger Schlüssel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Von mir aus können wir das jetzt jede Woche machen. ({0}) Denn die Zahlen im Berufsbildungsbericht rufen uns ganz klar zum Handeln auf: 2,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren standen 2021 ohne Bildungsabschluss da – 2,3 Millionen, das sind 15,5 Prozent der 20‑ bis 34‑Jährigen in Deutschland! Diese jungen Leute, egal ob im Süden, im Norden, im Osten oder im Westen, haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden weniger verdienen und ein viel, viel höheres Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut haben. Es darf nicht sein, dass junge Menschen ohne Schulabschluss dastehen und keinen Ausbildungsplatz finden. ({1}) Wir dürfen uns das als Gesellschaft nicht leisten. Die Bekämpfung des Fachkräftemangels ist in unser aller Interesse; wir brauchen diese jungen Leute. ({2}) Wenn ich mir jetzt diese beiden Anträge anschaue, dann stelle ich fest, dass wir in der Problembeschreibung gar nicht weit auseinanderliegen. Im Antrag der Linken steht vieles, was wir schon längst im Koalitionsvertrag beschlossen haben. ({3}) Im Antrag der Union steht vieles zur Digitalisierung als Lösung des Fachkräftemangels. Das ist gut; aber als Berufsschullehrerin kann ich Ihnen versichern, dass in den letzten 16 Jahren viel zu wenig in die digitale Infrastruktur investiert wurde, um Ihre Forderungen durchzusetzen. ({4}) In meiner ehemaligen Schule in Biberach waren wir glücklicherweise sogar in der komfortablen Situation, dass die Technik immer auf dem neuesten Stand war. Aber das ist leider nicht überall so. Ich kenne wirklich viele berufliche Schulen, in denen Kupferkabel und Tageslichtprojektor noch zum Alltag gehören. ({5}) – Nein, überall. – Daher sage ich: Sie machen es sich mit Ihrem Ruf nach mehr digitalen Angeboten einen Tick zu einfach. Versuchen Sie doch mal, mit einem Faxgerät in eine Onlinejobbörse zu kommen. ({6}) Deswegen wird die Ampelkoalition die Digitalisierung der Berufsschulen beschleunigen. ({7}) Der DigitalPakt läuft inzwischen seit drei Jahren. Es ist aber nur ein Fünftel der Mittel abgeflossen. Deshalb werden wir Hürden abbauen und aus diesem Antragsmarathon einen Sprint machen. Die Idee, KI beim Matching zwischen Ausbildungsplätzen und Azubis einzusetzen, ist nicht schlecht. ({8}) Aber Künstliche Intelligenz ist keine Wunderpille, mit der man schwuppdiwupp alle Probleme der Zukunft lösen kann. ({9}) Algorithmen werden nie und nimmer individuelle Beratung und die persönliche Begegnung zwischen Menschen ersetzen. ({10}) Gerade die letzten beiden Jahre der Pandemie haben uns gezeigt, wie wichtig dieser persönliche Kontakt zu Schülerinnen und Schülern ist, dass wir sie eben nicht erreichen, wenn es keine persönliche Beratung gibt. Mal ehrlich: Wir haben uns doch alle einmal im Leben für einen Beruf entschieden, eine Entscheidung für einen Berufsweg getroffen. Erinnern Sie sich an diese erste Entscheidung für einen Berufsweg? Wie wichtig war da die persönliche Ansprache? Weil die persönliche Beratung so wichtig ist, brauchen wir mehr Berufsbildungsmessen, um in den persönlichen Kontakt zu kommen. Und wir brauchen mehr Möglichkeiten für ein Praktikum. Ich muss doch wissen, wie es in einer Schreinerei riecht und wie sich Holz anfühlt, wenn ich Schreinerin werden möchte. Das kann kein noch so cooles Kampagnenvideo ersetzen. Das funktioniert nicht. ({11}) Ich habe es heute Morgen schon einmal gesagt: Das einwöchige Praktikum in der neunten Klasse reicht beim besten Willen nicht aus, um sich für einen Beruf zu entscheiden. Schülerinnen und Schüler – wir haben es eben gehört – müssen ihre Stärken kennen, ihre Fähigkeiten, ihre Kompetenzen kennenlernen und testen. Nur so finden sie ihren Traumberuf, den Beruf, der zu ihnen passt. Ja, in den letzten 16 Jahren wurde einiges versäumt. Das werden wir jetzt nachholen. Wir werden mit der Berufsorientierung früher anfangen, und wir werden sie flächendeckend in den Städten, aber auch in den ländlichen Räumen ausbauen. Sie sehen: Wir haben uns viel vorgenommen. Besonders freut uns, dass die zuständige Bundesministerin, Bettina Stark-Watzinger, die berufliche Bildung zu ihrem Thema gemacht hat. – Vielen Dank! ({12}) Für uns in der Ampel ist es wichtig, dass Studium und Ausbildung gleichstehen. Wir werden die akademische Ausbildung definitiv nicht gegen die berufliche Bildung ausspielen. Bauen Sie doch mal ein Haus. Dann werden Sie ganz schnell sehen, dass Sie allein mit einer Architektin nicht weit kommen. Es braucht viel mehr. Neben der Architektin brauchen Sie die Schreinerin, die Elektrikerin, die Fliesenlegerin. Und wer krank ist, braucht die Ärztin und Pflegepersonal. Wir brauchen also beides: mehr Master und mehr Meister. ({13}) Deswegen: Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit in der Koalition. Gemeinsam werden wir die berufliche Bildung stärken und dem Fachkräftemangel begegnen. Einen ganz wichtigen Meilenstein für bessere Ausbildungsbedingungen haben wir heute Morgen beschlossen. Wir haben nicht nur das BAföG für Studierende erhöht, nein, wir haben auch das BAföG für Azubis erhöht. Ich bin schon etwas verwundert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wenn Sie sich morgens hierhinstellen und gegen mehr Geld für Azubis stimmen, können Sie doch abends nicht sagen, dass Sie nur das Beste für Auszubildende im Sinn haben. ({14}) Ist das nicht quasi ein Schlag ins Gesicht von Azubis? Heute Morgen hätten Sie doch eine sehr gute Gelegenheit gehabt, die Situation von Auszubildenden zu verbessern. ({15}) Sie hätten einfach zustimmen können. Dann hätten Sie tatsächlich etwas ganz Praktisches getan, um die berufliche Bildung von Azubis zu stärken. ({16}) Sie bekommen aber noch eine Chance. Wir freuen uns drauf. Vielen Dank. ({17})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst mal muss man sich an dieser Stelle ja tatsächlich bei der Union bedanken; denn dank der Union erhält die berufliche Bildung heute im Plenum einen eigenen Tagesordnungspunkt und damit eben auch den Stellenwert, den sie verdient. Die Regierungsfraktionen hatten eine Debatte zur beruflichen Bildung nicht vorgesehen. Sie hatten das gemeinsam mit dem BAföG diskutieren wollen. Damit – das muss man einfach sagen – wird man aber weder dem einen noch dem anderen Thema gerecht. Die berufliche Bildung sollte wirklich nicht so abgespeist werden. ({0}) – Die Union darf an dieser Stelle klatschen, genau. Aber jetzt zum Thema. Die Zahlen des jüngsten Berufsbildungsberichts werfen einen ziemlich dunklen Schatten auf die Perspektiven junger Menschen. Die Wirtschaft vergießt wieder mal Krokodilstränen: Sie findet keine Leute, bekommt ihre Ausbildungsplätze nicht besetzt. Ja, 63 000 Plätze wurden im letzten Jahr nicht besetzt. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass 68 000 Menschen im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz gefunden haben und dass 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren gar keinen Berufsabschluss haben und dringend die Chance brauchten, einen zu machen. Es ist einfach zu kurz gegriffen, wenn immer wieder behauptet wird, wir hätten vor allem oder nur ein Passungsproblem. Die Probleme liegen an dieser Stelle tiefer. Da muss die Politik jetzt endlich ran. ({1}) 228 000 junge Menschen sind im letzten Jahr im sogenannten Übergangssystem gelandet oder vielmehr gestrandet; denn dieses System führt ja nirgendwohin, es führt nicht zu irgendeinem Abschluss. Aber zwei Drittel der Jugendlichen in diesem Übergangssystem haben einen Schulabschluss, sie haben einen Hauptschul- oder einen mittleren Schulabschluss. Ich sage Ihnen: Genau solche Zustände, sich einen Schulabschluss erarbeitet, vielleicht sogar erkämpft zu haben und dann nichts damit machen zu dürfen, sind schuld daran, dass junge Menschen das Gefühl haben, ihr Abschluss, ihre Arbeit sei nichts wert. Genau das ist das Resultat, und das darf nicht so bleiben. ({2}) Das ist auch deswegen verrückt, weil gleichzeitig 230 000 Erzieherinnen und Erzieher und 300 000 Pflegekräfte fehlen und im Handwerk ein massiver Fachkräftemangel herrscht. Wie zur Hölle kann man es denn da verantworten, dass junge Menschen nach der Schule erst mal Extrarunden im Übergangssystem drehen müssen oder ungelernt in prekären oder schlechten Jobs arbeiten müssen? Das ist doch wirklich vollkommen irre. ({3}) Doch statt hier wirklich konkret gegenzusteuern, setzt die Bundesregierung offenbar auf die alten Rezepte – so lesen wir den Koalitionsvertrag –, auf die Allianz für Aus- und Weiterbildung, auf einen Berufsbildungspakt, allesamt Rezepte, von denen wir aus den letzten Jahren wissen, dass sie nicht fruchten. Was die jungen Menschen jetzt brauchen, sind Sicherheiten. Sie brauchen die Sicherheit, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, die Sicherheit, von der Ausbildungsvergütung leben zu können und während der Ausbildung gut betreut zu werden, sie brauchen die Sicherheit, nach der Ausbildung eine Perspektive im Unternehmen zu haben. Darum muss es jetzt gehen: um sichere Ausbildungsplätze und um Ausbildungsqualität. ({4}) Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Ausbildung, der allen Menschen eine vollqualifizierende Ausbildung garantiert, eine solidarische Umlagefinanzierung, die alle Betriebe für die Finanzierung der Ausbildung junger Menschen in die Pflicht nimmt, und es geht vor allem darum, die Schutz- und Mitspracherechte von Auszubildenden zu stärken. So lässt sich der Fachkräftemangel bekämpfen. Vielen Dank. ({5})

Friedhelm Boginski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005028, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Das ist heute wirklich ein guter Tag für Deutschland. Wir haben heute früh mit der Bildung begonnen – wir haben die 27. Novelle des BAföG beschlossen –, und wir sind zum Abend hin wieder beim Thema Bildung, und zwar bei der beruflichen Bildung. Wir haben heute früh sehr oft den Satz gehört: Die akademische Ausbildung ist der beruflichen Ausbildung gleichgestellt. – Ich frage mich immer wieder: Ist das wirklich so? Können wir das in Deutschland so sagen? Ich glaube, angesichts der aktuell niedrigen Zahlen von neuen Ausbildungsverträgen, des Fachkräftemangels in einigen Bereichen und leider auch der zunehmenden gesellschaftlichen Geringschätzung für Lehrberufe kann der Satz nicht uneingeschränkt bestätigt werden. Neue Einflussfaktoren wie die Unsicherheiten durch gestörte Lieferketten, Betriebsschließungen aufgrund der Pandemie sowie konjunkturelle Unsicherheiten und Auswirkungen unter anderem durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine stellen und stellten das duale Ausbildungssystem vor neue Herausforderungen. Daher ist es gut, dass wir heute im Bundestag über den Stand der beruflichen Ausbildung und Bildung diskutieren. Über 400 Empfehlungen hat die Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ im Abschlussbericht im vergangenen Jahr vorgelegt. Wenn ich in den Koalitionsvertrag der Ampel blicke, sehe ich den starken Willen, ein klares Signal an das Land zu senden: Wir updaten die berufliche Bildung und schaffen moderne, attraktive Ausbildungsmöglichkeiten. Denn sie sind die unverzichtbare Grundlage für die Sicherung des Fachkräftenachwuchses, für den Wettbewerb der deutschen Wirtschaft und damit für die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft. ({0}) Das arbeitsmarkt- und bildungspolitische Ziel der Ampelkoalition ist es, Entwicklungsimpulse zu setzen und individuelle Ausbildungs- und Arbeitschancen zu eröffnen. Wir müssen die Frage beantworten: Kann man mit einer beruflichen Ausbildung in Deutschland gut leben? Denn die Antwort auf diese Frage ist möglicherweise auch die Antwort auf die Frage, warum sich immer weniger Menschen in den vergangenen Jahren für einen Ausbildungsberuf entschieden haben. Fragt man Handwerker oder Facharbeiter, sagen die einem: „Ja, man kann. Das ist möglich“, doch der gesamtgesellschaftliche Eindruck erzeugt eine andere Wahrnehmung. Ich war in der vergangenen Woche auf Einladung des QualifizierungsCentrums der Wirtschaft in Eisenhüttenstadt, einer Stadt in Brandenburg. In einer Expertenrunde aus Bildung und Unternehmen beschrieb man die aktuelle Entwicklung Brandenburgs. Doch bevor man in die Einzelbetrachtung einstieg, forderte man von mir eine Kampagne zur gesellschaftlichen Anerkennung der Lehrberufe. Wenn ich sage „von mir“, meinte man natürlich den Bundestag und die Bundesregierung. Zwar wissen wir alle, auch die Menschen vor Ort, dass es nicht mit einer Vorgabe der Regierung getan ist, doch es muss für uns Parlamentarier – sowohl im Bund als auch im Land – eine Selbstverpflichtung sein: Wenn wir etwas für das Hochschulstudium tun, müssen wir auch die berufliche Bildung immer mit im Blick haben. ({1}) Diese klare und unmissverständliche Linie brauchen wir heute, und die Ampelkoalition macht damit den Anfang. Zurück nach Eisenhüttenstadt. Hier fördert die Bundesregierung über InnoVET – den Innovationswettbewerb für exzellente berufliche Bildung – die Schaffung einer Modellregion Ostbrandenburgs für neue Bildungswege, die individuelle Fachkarrieren ermöglichen und mit einem Studium auf Augenhöhe sind. Es geht darum, Karrieremöglichkeiten der beruflichen Bildung sichtbar zu machen und über neue Kooperationsformen Ausbildungen attraktiver auszugestalten. 17 Projekte werden bundesweit finanziert, um ein neues vernetztes Denken und Arbeiten in der beruflichen Bildung zu fördern und Hands-on-Ergebnisse vorweisen zu können. Wir werden dieses Programm weiter ausbauen. Ostbrandenburg setzt aber auch auf die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung, die im kommenden Jahr eine noch stärkere Wirkung erzeugen muss. Über den DigitalPakt hinaus müssen Länder und Sozialpartner Modelle finden, um Berufsschulen zu modernisieren und mit digitalen Angeboten die Lehre flexibler zu gestalten. Das ist ein wichtiger Baustein, um die duale Ausbildung in der Fläche attraktiver zu machen. Das ist, glaube ich, ein großes Problem; denn wir müssen die regionalen Unterschiede auf dem Ausbildungsmarkt berücksichtigen. Strukturschwache Regionen wollen wir von der Koalition stärken. ({2}) Ein wichtiges Feld dabei ist die Berufsorientierung an Schulen. Die Länder müssen ihren Fokus schärfen und dürfen sich nicht, wie es in Brandenburg passiert, aus der Finanzierung zurückziehen und sich auf die Gelder der Bundesagentur verlassen. Das ist ein falsches Signal. Zum Abschluss möchte ich noch auf ein Potenzial hinweisen, das wir noch nicht genügend nutzen. Ich spreche von den Menschen, die ohne Berufsabschluss, ohne ausreichende Grundbildung im Erwerbsleben stehen, denen aber beruflicher Aufstieg verwehrt wird. Diese Ungelernten sind meist Menschen ohne Schulabschluss, Menschen mit eigener Migrationserfahrung, mit Migrationshintergrund, Menschen, die zum Teil funktionale Analphabeten sind. Sie verdienen ihren Unterhalt durch eine harte Arbeit.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Friedhelm Boginski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005028, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jawohl. – Diese Menschen gilt es besonders zu fördern. Das sollten wir uns zur Aufgabe machen. Ich kann nur immer wieder sagen: Jede Diskussion zur beruflichen Bildung ist eine gute Diskussion. Deshalb ist das heute ein guter Tag. Danke. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es folgt für die SPD-Fraktion Dr. Holger Becker. ({0})

Dr. Holger Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005021, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste in diesem Haus! Demografischer Wandel, Arbeitskräftemangel auf allen Qualifikationsstufen, disruptive Veränderungen in der Arbeitswelt und die Interaktion zwischen Studium und beruflicher Ausbildung – all dies sind Herausforderungen, vor denen die Arbeitswelt in unserem Land in der Tat steht. Nicht umsonst sind wir daher im intensiven Austausch mit relevanten Verbänden wie kürzlich zum Beispiel mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, ZDH. Und auch unser Koalitionsvertrag beinhaltet nicht umsonst – unter anderem – das Bekenntnis zur Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Nun haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Anträge vorgelegt, die diesen Dingen Rechnung tragen sollen – wohlgemerkt: tragen sollen. Denn was hier vorliegt, erscheint mir eine Mischung aus nicht schlechten, aber teilweise etwas unambitionierten und vielleicht auch nicht immer zu Ende gedachten Ideen zu sein. So wird zum Beispiel bei der Union die Digitalisierung wiederholt als eine Wurzel des Übels aus der Mottenkiste geholt, die für das Aussterben von Arbeitsplätzen sorgt. ({0}) Dabei ist längst allen Akteuren klar, dass Digitalisierung nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist, Ihnen von der Union eigentlich auch; denn bei Ihren Forderungen taucht sie dann ja wieder auf ({1}) – doch, doch; das taucht auf –, aber eben in einem Maße, das wir schon längst auf dem Schirm haben, wie man zum Beispiel an der gestern angekündigten Förderbekanntmachung zum Kompetenzzentrum für digitales und digital gestütztes Unterrichten sehen kann. ({2}) Klar ist nämlich: Digitalisierung ist eines der Mittel, um Ausbildung attraktiver zu machen und gleichzeitig dem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. ({3}) 39 Prozent der Ausbildungsunternehmen gehen da in Deutschland laut IW Köln schon voran, 41 Prozent wollen nachziehen und haben bereits in digitale Tools für die Ausbildung investiert. Besonders für den ländlichen Raum stecken hier nicht nur neue Chancen, die Menschen an modernen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten teilhaben zu lassen, sondern es besteht obendrein auch die Möglichkeit, dass ländliche Regionen aufholen, wenn es um Attraktivität und Konkurrenz mit urbanen Räumen geht. Ich vermisse leider den Fokus auf Umschulung, Fortbildung und lebenslanges Lernen; denn in der heutigen Arbeitswelt verlaufen Karrieren häufig nicht mehr klassisch geradlinig. Dem wird zu wenig Rechnung getragen. Da sind wir mit unserem Koalitionsvertrag schon ein bisschen weiter. Auch die Forderung nach Vernetzung von Instrumentarien taucht bei Ihnen auf. Schauen Sie mal in unseren Koalitionsvertrag; da steht zum Beispiel auf Seite 67 etwas zu diesem Thema. Sie sprechen von einer Konkurrenzsituation zwischen Ausbildung und Studium und davon, dass beides gleichwertig sein sollte. Das ist für uns selbstverständlich; da sind wir durchaus bei Ihnen. Aber Sie vergessen: Selbst wenn es uns gelingt, alle Potenziale an Arbeitskräften, die wir in unserem Land haben, zu mobilisieren, reicht das leider noch nicht aus. Auf absehbare Zeit haben wir in Deutschland mehr Arbeit als Menschen, die diese verrichten. Deswegen vermisse ich auch das Thema Zuwanderung in diesen Anträgen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend stelle ich erfreut fest, dass wir in zahlreichen grundlegenden Fragen durchaus übereinstimmen. Zugleich bin ich davon überzeugt, dass wir mit der Fortschrittskoalition gerade die richtigen Weichen stellen. Vielen Dank. ({5})

Lars Rohwer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005190, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Glück auf, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Plenum widmet sich heute wirklich intensiv dem Thema der Ausbildung. Heute Morgen war das Thema die BAföG-Reform; so haben wir schon viel über die Bildungsgerechtigkeit und die Chancengleichheit gesprochen. Wenn wir es aber wirklich ernst meinen mit der Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung, dann müssen wir der beruflichen Bildung eben auch wirklich einen gleichwertigen Stellenwert in der Debatte einräumen. Eine Berufsausbildung ist nicht weniger wert als ein Studium. Der Gymnasiast eignet sich genauso als Führungskraft wie der Real- oder Hauptschüler. Durch die Akademisierung sinkt die Akzeptanz einer Berufsausbildung in der Wahrnehmung vieler junger Menschen. Diesem Image wollen wir dringend entgegenwirken. Trotz Fachkräftemangel bleiben viele Ausbildungsstellen unbesetzt, weil keine passenden Bewerber gefunden wurden. Ende September 2021 standen den 63 200 unbesetzten Ausbildungsstellen ganze 24 600 gänzlich unversorgte Bewerberinnen und Bewerber gegenüber. Die Zahlen zeigen: Erstens. Insbesondere während der Coronakrise haben sich viele Schulabgänger für ein Studium entschieden. Sie erhoffen sich einen krisensicheren Arbeitsplatz. Zweitens. Wir brauchen eine optimale und effektivere Zusammenführung von Ausbildungsplatzbewerbern und Ausbildungsbetrieben. Drittens. Wir sind auf Zuwanderung angewiesen. Meine Kolleginnen und Kollegen, unser Berufsausbildungssystem in Deutschland ist ein starkes Instrument, das uns zu dem wirtschaftlichen Erfolg verholfen hat, den wir heute kennen. ({0}) Die Berufsausbildung ist das Standbein des deutschen Mittelstandes. Daher müssen wir die berufliche Bildung zukunftssicher machen. Bei der Reform der Ausbildungsgänge müssen sie zeitgemäß gestrafft und bei der Ausgestaltung von unnötiger Bürokratie befreit werden. In vielen Berufsbildern ist der große Wurf notwendig und nicht das Verlieren im Kleinteiligen. Damit werden die Berufsbilder auch attraktiver für junge Leute. ({1}) Ich will noch mal auf die Enquete-Kommission in der vergangenen Legislaturperiode zurückkommen: Wesentliche Maßnahmen hinsichtlich der Digitalisierung hat diese Enquete-Kommission aufgezeigt. Der Abschlussbericht ist ein Geschenk an die neue Bundesregierung. Nutzen Sie ihn, Frau Bundesministerin Stark-Watzinger! ({2}) Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes ist von der Existenz und Exzellenz der ausgebildeten Fachkräfte abhängig. Wir müssen innovativ sein und modern denken; denn die berufliche Bildung ist unverzichtbare Grundlage für die Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet damit, dass 2030 5 Millionen Fachkräfte fehlen werden. Wir wissen alle, dass der Fachkräftemangel nicht von heute auf morgen behoben wird. Deshalb ist die berufliche Bildung in Deutschland nicht nur ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, sondern sie ist auch eine Integrationschance. ({3}) Wir werden den Fachkräftemangel nicht besiegen, wenn wir die Potenziale der Zuwanderung nicht nutzen. ({4}) Die Integration der Zuwanderer in den Ausbildungsmarkt ist nicht nur besonders wichtig, weil unser Grundgesetz jedem Menschen ein Recht auf Bildung und Ausbildung einräumt, sondern auch, weil wir sehr dringend mehr gut ausgebildete Menschen brauchen. Die zugewanderten Menschen sind auch die Fachkräfte von morgen. Hier will ich auf ein Problem hinweisen, das wir kennen: Die Anerkennung und die Übersetzung von Abschlusszeugnissen sowie fehlende Deutschkurse stellen weitere bürokratische Hürden hierbei dar. Zuwanderer brauchen mehr Unterstützung. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden. ({5}) Zum Schluss. August Bebel sagte einmal: Genies fallen nicht vom Himmel. Sie müssen die Gelegenheit zur Ausbildung und Entwicklung haben. Schaffen wir die Rahmenbedingungen, um allen Menschen in unserem Land die Chance zu geben, ein Genie zu werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Zum Abschluss dieser Debatte erhält Ruppert Stüwe das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ruppert Stüwe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005236, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Schon heute Morgen haben wir uns mit dem BAföG und mit dem Berufsbildungsbericht beschäftigt. Jetzt geht es noch mal um die berufliche Bildung. Eines will ich sagen, Herr Kollege: August Bebel können wir uns in der Frage seitens der SPD-Fraktion nur anschließen. Vielen Dank! ({0}) Die berufliche Bildung ist es tatsächlich wert, dass wir uns auch zweimal am Tag mit ihr beschäftigen. Mich hat ein bisschen gestört, dass wir gerade am Anfang der Debatte darüber geredet haben, dass Studium und berufliche Bildung sich gegenseitig etwas wegnehmen. Ich finde das immer dann besonders befremdlich, wenn man ins Handbuch guckt und sieht, dass es Kollegen sind, die selbst studiert haben, die sagen, dass man berufliche Bildung eigentlich anders bewerten muss und dass nicht jeder Abitur machen sollte und dass es nicht für jeden notwendig ist, an die Universität zu gehen. Ich finde, wer sich in seinem Leben dafür entschieden hat, diesen Weg einzuschlagen, der sollte es anderen nicht vorwerfen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich schreibe niemandem vor, ({2}) welchen Bildungsweg er wählen soll, ({3}) und unser Problem ist gerade nicht, dass sich zu viele für ein Studium entscheiden. Wir haben im Gegenteil noch zu viele junge Menschen, die ihren Weg in eine Ausbildung gar nicht finden, sei es die berufliche Ausbildung oder das Studium. Und genau da müssen wir ansetzen. Denn es ist ja richtig: Es herrscht Fachkräftemangel, die Coronapandemie hat einige Branchen hart getroffen. Und ja, eine Ausbildung ist eine gute Grundlage, sein eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen, und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen in die Hände spucken und etwas tun. Diese Koalition hat sich genau das vorgenommen. Wir wollen eine Ausbildungsgarantie abgeben und alles dafür tun, dass diese auch erfüllt werden kann. Das ist die entscheidende Änderung der Haltung bei der Ausbildung, für die diese Koalition steht. ({4}) Wir werden die Jugendberufsagenturen flächendeckend stärken. Das ist der Ort und die Institution, wo kontinuierlich für eine gute Berufsorientierung gesorgt werden kann. Sie haben ja recht, dass das an sehr vielen unterschiedlichen Orten passiert. Ich finde, es ist ein Skandal, dass wir nicht überall Jugendberufsagenturen haben. Wir werden dafür sorgen, dass die Ausbildung mit dem Programm „InnoVET“ wieder attraktiv wird – da waren Sie übrigens in der Regierung dabei –, und wir planen jetzt eine Exzellenzinitiative Berufliche Bildung ({5}) und werden die Begabtenförderwerke für die Azubis öffnen. Ich finde, das ist richtig gut. Gleichstellung von beruflicher und akademischer Ausbildung muss man wollen, und im Koalitionsvertrag haben wir uns ebenfalls vorgenommen, dass wir sie im öffentlichen Dienst durchsetzen wollen. ({6}) Wir müssen die Ausbildung internationaler machen und dafür sorgen, dass mehr Menschen mit Migrationsgeschichte auch in der Ausbildung ankommen. Aber wir müssen auch an der anderen Seite ansetzen, und dafür möchte ich zum Ende der Debatte werben. Ich war gerade in Brüssel. Viel zu wenige junge Auszubildende nehmen die Möglichkeit wahr, mit „Erasmus+“ ins Ausland zu gehen. Das ist einfach, das ist eine europäische Erfolgsgeschichte, und wir sollten überall dafür werben, dass Auszubildende diesen Weg „Erasmus“ auch gehen. Ich möchte das hier an dieser Stelle tun und bitte Sie darum, mich zu unterstützen. Wir haben heute zweimal über die Berufsausbildung diskutiert. Ich freue mich auf die weitere Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Gast)

Politiker ID: 11003212

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Friedenspreisrede hat Carolin Emcke 2016 gesagt – ich zitiere –: Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. Wer die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzungsherrschaft in Osteuropa kennt – zur Erweiterung unserer Kenntnis soll das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ beitragen –, wird erkennen, dass aus dem Bekenntnis zur historischen Verantwortung Deutschlands nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch eine politische Verantwortung erwächst. ({0}) Wir haben gemeinsam die Pflicht und die Verantwortung, die Erinnerung wachzuhalten und damit die Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Erst durch dieses aktive Tun bewahren und gestalten wir unsere Freiheit; denn – Zitat –: Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. Wir als Bundesregierung wollen dieser Verantwortung – ich sage das auch mit Blick auf aktuelle Diskussionen – gerecht werden. Deswegen werden wir auch da, wo es heißt: „Über den Zweiten Weltkrieg wissen wir doch schon genug“, darauf beharren, dass die Aufarbeitung, vor allem in Osteuropa, aber auch in Griechenland, auf dem Balkan, in Italien, Frankreich oder Norwegen, nicht abgeschlossen ist, weil sie niemals abgeschlossen sein wird. ({1}) Aufarbeitung bedeutet, historisches Wissen und Erfahrung nutzbar zu machen für die Gegenwart. Dazu gehört eine an konkreten Ereignissen orientierte Wissensvermittlung. Sie muss der Tatsache gerecht werden, dass mit dem wachsenden zeitlichen Abstand das Geschehen für viele abstrakter wird. Dazu gehört auch, anzuerkennen, dass ein Einwanderungsland andere und neue Formen der Wissensvermittlung braucht. Und dazu gehört schließlich, die deutsche Besatzungsherrschaft in ihrer Gesamtheit zu betrachten, das heißt im gesamten Gebiet deutscher Besetzungsherrschaft in Europa von 1939 bis 1945. Genau dies leistet das vorliegende Konzept. Ich bin dem Ideengeber und den Gestaltern des Dokumentationszentrums, der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und dem Deutschen Historischen Museum, dankbar dafür, dass sie in Zusammenarbeit mit sehr vielen nationalen und internationalen Expert/-innen einen überzeugenden Vorschlag für die Realisierung dieses Vorhabens erarbeitet haben. ({2}) Sicherlich werden wir über Details der Governance-Struktur im Laufe des parlamentarischen Verfahrens noch sprechen, aber grundsätzlich ist dies ein Realisierungsvorschlag, der der historischen und politischen Aufgabe mehr als gerecht wird. Denn wir sprechen über eine Zeitenwende, die der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine markiert. Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen! ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es folgt für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dorothee Bär. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat auf der Kabinettsklausur in Meseberg die Neugestaltung der Erinnerungspolitik zu ihrem zentralen Vorhaben erklärt. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat das Konzept für ein neues Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ vorgelegt. Ich finde spannend, dass das von einschlägigen Wissenschaftlern öffentlich noch nicht so kommentiert wurde, wie ich es damals erwartet hätte. Deshalb ist es vielleicht auch kein Zufall, wenn die „FAZ“ heute in einem Beitrag dazu ein Fragezeichen hinter das Zentrum in der Überschrift setzt und es auch um das Austarieren von zwei Sollbruchstellen geht. Als die Errichtung des Zentrums beschlossen wurde, war die Situation eine andere als jetzt. In der Tat steht die deutsche Erinnerungskultur vor einem Neuanfang. Denn es stellt sich schon die Frage: Wie begehen wir ein Kriegsende, wenn mitten in Europa wieder Krieg herrscht? Wie gehen wir damit um, wenn die Geschichte des Zweiten Weltkrieges von Russland für die Legitimierung des Ukrainekrieges missbraucht wird? Wir sehen, dass die Auswirkungen und die Folgen des Zweiten Weltkriegs Europa bis heute sehr stark prägen. Es gibt immer noch Themen, die vernachlässigt oder verdrängt worden sind, wie beispielsweise das Schicksal und die Geschichte der Kriegsgefangenen. Laut der aktuellen Ausgabe von „Spiegel Geschichte“ sagt immer noch ein Großteil der Deutschen in einer Umfrage, dass sie einen Vater, Großvater oder Urgroßvater haben, der selbst Kriegsgefangenschaft erlebt hat, mich eingeschlossen. Deswegen soll in Berlin im Sinne eines strategischen Überbaus eine Begegnungs- und Bildungsstätte zur Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges errichtet werden. Das haben wir beschlossen. Aber die Frage, die sich mir, die sich uns stellt, ist: Wie machen wir es richtig? Wie knöpfen wir von Beginn an die Jacke richtig ein, damit wir keinen historischen Fehler machen? Es ist eine einmalige Chance bei einem Projekt dieser Dimension, von Anfang an darauf zu achten, nicht sehenden Auges irgendwo reinzulaufen, was danach vielleicht nicht mehr eingefangen werden kann. ({0}) Dieses Zentrum soll Raum sein, Raum geben, Raum spenden für ein würdiges Gedenken. Das war auch die Intention des Beschlusses des Deutschen Bundestages im Oktober 2020. Ich hoffe, dass wir uns einig sind, dass – erstens – die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs einen umfassenden Ansatz haben muss, dass – zweitens – Erinnerung nicht nationalisiert und vor allen Dingen nicht fragmentiert werden darf und dass wir – drittens – darauf achten müssen, dass keine Parallelstrukturen entstehen. Wir müssen genau hinschauen, wo Aufarbeitung schon ausreichend stattgefunden hat, aber auch, wo es noch Orte des Erinnerns bedarf. ({1}) Frau Roth, Sie haben in Meseberg auch betont – ich darf Sie zitieren – : Wir stellen unsere Erinnerungspolitik bewusst in den europäischen Zusammenhang. Aus gemeinsamer Erinnerung soll gemeinsame Zukunft erwachsen. Ich habe im Konzept nachgeschaut, wo der europäische Zusammenhang und die gemeinsame Erinnerung vorkommen. Von den 65 Seiten bin ich auf maximal 3 Seiten fündig geworden. Die Dauerausstellung richtet den Fokus vor allem auf Gewaltphänomene der deutschen Besatzungsherrschaft. Die besetzten Länder Europas kommen als eigenes Thema gar nicht vor; sie werden nur in der Einführung auf den Seiten 8/9 erwähnt. Auf Seite 42 steht, dass der richtige Ort für zeremonielles Gedenken an den historischen Leidensorten in Deutschland und Europa gesehen wird. Der Bundestag hat aber gefordert, den Nachkommen der Opfer – Zitat – Raum für Gedenken und Erinnerung im Dokumentationszentrum zu geben. Ich finde wichtig, das zu betonen. Wenn ich zusammenfassen darf: Ich bin der festen Überzeugung: Das, was hier konzeptionell vorliegt, ist noch nicht genau das, was wir uns beim Einsetzungsbeschluss vorgestellt haben. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie am Schluss Ihrer Rede gesagt haben, Sie freuen sich auf den Dialog. Den würde ich mir nämlich wirklich wünschen. Denn wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehen noch intensiven Beratungsbedarf. Ich würde mir wünschen, ohne Analogien zu wählen zu Vorgängen, die wir gerade im Moment erleben, dass wir nicht noch mal Fehler machen und dass wir nicht sehenden Auges in ein Konzept reingehen, in eine Umsetzung reingehen, über die wir später sagen: Das war nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben. Denn bei einem Projekt von dieser Dimension – nicht nur, was die Millionen oder die Quadratmeter oder die Mitarbeiter betrifft, sondern hier geht es um Erinnerungskultur – dürfen wir wirklich von Anfang an keine Fehler machen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen bereit. Wir sagen: Wir wollen daran mitarbeiten, dass das Ergebnis genau so ist, wie wir alle es uns 2020 vorgestellt haben. Vielen Dank. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Es folgt für die SPD-Fraktion Marianne Schieder. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwa 230 Millionen Menschen haben unter der nationalsozialistischen Besatzung und dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg gelitten. Eine unfassbare Zahl und ein unfassbares menschliches Leid. Gewaltsam errichteten die Nationalsozialisten in weiten Teilen Europas ein verbrecherisches Regime und fügten Ländern und deren Bevölkerungen mit Krieg, Besatzung, Ausbeutung, Hunger, Misshandlung, Zwangsarbeit, Kulturzerstörung, Deportation, Mord und Holocaust unermessliches Leid zu. Wir Deutschen, von deren Land diese Gewalt ausging, stehen ungebrochen in der Verantwortung – moralisch wie politisch; da haben Sie recht, Frau Staatsministerin –, ({0}) der Opfer würdig zu gedenken, die Verbrechen aufzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Deutschland hat eine gute und kritische Erinnerungskultur, meine ich. Wir leisten viel. Wir haben in unserem Land eine vielfältige Gedenkstättenlandschaft und eine solide, mannigfaltige Bildungsarbeit, die an vielen Orten und von vielen sehr, sehr engagierten Bürgerinnen und Bürgern ehrenamtlich, aber auch hauptamtlich getragen wird. Bei all dem, was man immer und überall optimieren kann, und bei allen Herausforderungen, denen man immer neu begegnen muss, möchte ich doch sagen: Wir dürfen stolz sein auf unsere Erinnerungskultur. Herzlichen Dank all denen, die dafür arbeiten! ({1}) Dennoch: Es gibt Lücken. So ist außerhalb der Wissenschaft das Ausmaß der Verbrechen, beispielsweise was die Besatzungsherrschaft der Nationalsozialisten betrifft, doch in weiten Teilen der Gesellschaft wenig bekannt. Gerade deshalb hat der Deutsche Bundestag in der vergangenen Wahlperiode nach intensiver Diskussion die Errichtung eines Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ beschlossen. Liebe Frau Kollegin Bär, gerade jetzt ist es doch wichtig, dieses Thema aufzuarbeiten, gerade im Hinblick auf die osteuropäischen Länder, darauf, was wir in der Ukraine, was wir in Belarus, was wir in Russland den Menschen angetan haben. Ich nehme Ihre Kritik ernst; aber wir müssen noch einmal darüber reden. Ein Stück weit habe ich einfach nicht verstanden, was Sie wollen. ({2}) Heute liegt ein Realisierungsvorschlag vor, ein grobes Konzept für dieses neue Dokumentationszentrum, erarbeitet unter der Federführung des Deutschen Historischen Museums und unter Mitwirkung zahlreicher Expertinnen und Experten. Diesen Expertinnen und Experten und dem DHM möchte ich persönlich, aber auch im Namen der SPD-Fraktion herzlichen Dank sagen. ({3}) Wir wollen, dass dieses Zentrum ein Ort wird, an dem die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft und ihre Folgen für den gesamten Kontinent dargestellt und aufgearbeitet werden. Bei all dem stehen zunächst die Opfer im Mittelpunkt. Es geht aber auch um die Täter und deren menschenverachtende Ideologie, die zu diesen Verbrechen geführt hat. Eine ständige Ausstellung wird sich der Thematik grundsätzlich nähern und das gesamte Besatzungsgebiet umfassen. Ergänzt wird sie durch Wechselausstellungen mit dem Fokus auf historische Kontexte, spezifische Ereignisse und Kontinuitäten bis heute. Zudem verfolgt das Dokumentationszentrum das Ziel der Erforschung der Geschehnisse in den besetzten Ländern; die Erforschung weiter voranzubringen, ist das Ziel. Das Zentrum ist europäisch gedacht. Es soll über ein Fellowship-Programm, Konferenzen, mehrsprachige Publikationen und ein eigenes Archiv die internationale Forschung zusammenbringen. Weiterhin soll ein vielfältiges und niedrigschwelliges Bildungsangebot mit Museumpädagogik für Schülerinnen und Schüler, Fortbildungen, Onlineformaten, einer Bibliothek sowie öffentlichen Veranstaltungen entstehen. Auch ein Ort des Gedenkens soll geschaffen werden. Das haben wir bewusst – ich war nämlich auch dabei – in diesen Antrag hineingenommen. Dieses Gedenken soll natürlich nicht das einzige Gedenken sein, Frau Kollegin Bär. Natürlich muss das Gedenken an den historischen Orten genauso stattfinden; das eine soll doch das andere nicht ersetzen. Aber gerade in einem solchen Zentrum soll es einen Ort des Gedenkens und die Möglichkeit zum Gedenken geben. All das ist ein großes, nicht einfaches Vorhaben, aber ein wichtiges Vorhaben. Klar ist auch, dass das Dokumentationszentrum Parallelen zu bestehenden Gedenkstätten haben wird. Es soll aber nicht deren Konkurrenz, sondern deren Ergänzung sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, das Fundament ist gelegt. Wir haben jetzt die Aufgabe, diesen Realisierungsvorschlag eingehend zu prüfen, im Dialog mit Wissenschaft und Betroffenen zu diskutieren und das Dokumentationszentrum bei seiner Entstehung engagiert zu begleiten. Das ist eine herausfordernde und spannende Aufgabe – das wussten wir von Anfang an – und, ich sage es noch einmal, ein großes Projekt. Die SPD-Fraktion wird diese Aufgabe sehr ernst nehmen. Ich freue mich auf eine gute und intensive Diskussion hier im Bundestag, aber auch weit darüber hinaus. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die AfD-Fraktion erhält jetzt Dr. Marc Jongen das Wort. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein „neuer Gedenkort für deutsche Gräueltaten“ soll also errichtet werden – so nannte „Spiegel Online“ in schöner Direktheit das geplante Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“. Ich schicke voraus: Auch die AfD-Fraktion weicht nicht von der einzig möglichen Meinung ab, die man als informierter und vernünftiger Mensch von den historischen Vorgängen haben kann. Das nationalsozialistische Regime mit seiner aggressiven Rassenideologie und der von Hitler hemmungslos eingesetzten Kriegsmaschinerie hat unsägliches Leid über Europa gebracht und insbesondere mit der Shoah ein Verbrechen von historischer Monstrosität begangen, auf das die Antwort nur lauten kann: Nie wieder! ({0}) Nun haben wir das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wir haben die Topographie des Terrors, wir haben die KZ-Gedenkstätten, das Programm „Jugend erinnert“ und vieles mehr. All das hat aber nicht verhindert, dass auf der Documenta in Kassel – der Kunstausstellung mit weltweiter Ausstrahlung, unter Mitverantwortung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth – vor wenigen Tagen ein riesiges Banner einer indonesischen Künstler- oder Aktivistengruppe zu sehen war, das widerwärtige antisemitische Karikaturen nach Art des „Stürmers“ enthielt, wirklich Hass und Hetze schlimmster Art – um die Begriffe zu verwenden, mit denen Sie sonst immer so schnell zur Hand sind.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nicht.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Heißt das Nein?

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das heißt Nein, ja. – Das hat nicht verhindert, dass Sie, Frau Roth, das alles verharmlost haben, nicht Kunstpolizistin sein wollten, wie Sie sagten. Erst als der Druck zu groß wurde und bereits die „Jüdische Allgemeine“ Ihren Rücktritt forderte, rufen Sie nun scheinheilig nach Konsequenzen. ({0}) Werte Kollegen, wie viele Dokumentationszentren wollen Sie denn noch bauen, damit diese Heuchelei endlich aufhört, Sie nicht mehr unterscheiden zwischen den bösen Antisemiten und den vielleicht doch irgendwie guten Antisemiten? ({1}) Erkennen Sie denn nicht, dass Ihr exzessives Zelebrieren der deutschen Schuld und Verantwortung völlig unglaubwürdig ist und zunichte gemacht wird, wenn Sie gleichzeitig die postkolonialistische Ideologie, die diese Karikaturen produziert hat und die erwiesenermaßen eine antisemitische Schlagseite hat, quasi zur kulturellen Staatsdoktrin erheben in Deutschland? ({2}) Die Probleme gehen noch weiter. Im ersten Satz Ihrer Unterrichtung schreiben Sie: Der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen der Deutschen – der Deutschen – prägen Europa bis heute. Und weiter hinten: Die Deutschen – die Deutschen – wandten Gewalt bislang ungekannten Ausmaßes an … Das heißt: Sie fabrizieren hier – und wollen es schon der Jugend so vermitteln – das Negativnarrativ einer deutschen Kollektivschuld. Ich erinnere Sie an die Worte des Bundespräsidenten a. D. Roman Herzog, der sagte: Eine Kollektivschuld des deutschen Volkes … können wir … nicht anerkennen; ein solches Eingeständnis würde zumindest denen nicht gerecht, die Leben, Freiheit und Gesundheit im Kampf gegen den Nationalsozialismus und im Einsatz für seine Opfer aufs Spiel gesetzt haben ({3}) und deren Vermächtnis der Staat ist, in dem wir heute leben. ({4}) Diesem besseren Deutschland, das auch in finstersten Zeiten im Untergrund immer lebendig war, ({5}) werden Ihre Pläne jedenfalls eklatant nicht gerecht. Wenn wir dann noch lesen, parallel zur Dauerausstellung zur Kriegszeit sollen Wechselausstellungen zur Gegenwart wie auch zur Vorgeschichte stattfinden, dann wird klar: Die Nazigräuel sollen hier zum Fluchtpunkt der gesamten deutschen Geschichte stilisiert werden. ({6}) Unter der Last dieser Schuld und der Pflicht der unendlichen Wiedergutmachung sollen jetzt in aktuellen Debatten alle Argumente verstummen, etwa gegen die schrankenlose Masseneinwanderung oder jetzt gegen eine bis zur Selbstschädigung reichende Opferbereitschaft bei Maßnahmen im Ukrainekrieg. Stets wird eine hypermoralische Haltung als alternativlos präsentiert – abweichende Sichtweisen werden schnell unter Naziverdacht gestellt. ({7}) Das, meine Damen und Herren, ist ein Missbrauch der historischen Erinnerung. Es ist auch ein Missbrauch der Opfer des Nationalsozialismus. Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag in dieser Form ab. Wir sind gespannt auf die Debatte. Danke. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die FDP-Fraktion erhält das Wort Thomas Hacker. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der vermeintlich seelenhygienischen Nabelschau der AfD kommen wir zurück zum Thema. Herr Jongen, auch die Documenta werden wir im nächsten Kulturausschuss ausführlich besprechen. ({0}) Da haben wir dann den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt – es freut mich auch, wenn Frau Bär dabei ist –, da werden wir die Dinge diskutieren. ({1}) Es war der 9. Oktober 2020 – das ist noch keine zwei Jahre her –, als der Deutsche Bundestag den Weg für das zukünftige Dokumentationszentrum geebnet hat, das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“. Heute leben wir in einer anderen Welt. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Wir stehen vor Herausforderungen, deren wirkliche Dimension wir heute nur erahnen. Wunden sind wieder aufgerissen worden. Verdrängte Erinnerungen lassen sich nicht weiter verstecken. Wenn tagtäglich Menschenleben ausgelöscht werden, wenn Bomben Häuser, Dörfer und ganze Städte zerstören, bewegt das auch uns, weil der Krieg auch Teil unserer Geschichte ist, unserer gemeinsamen europäischen Geschichte, weil unsere Anstrengungen in den letzten 77 Jahren, Frieden zu halten, Frieden zu schaffen, letztendlich vergeblich waren. Im Umgang mit Putin waren wir alle in diesem Haus zu leise, zu pragmatisch, zu naiv. Unser eigenes Erinnern ist kein Selbstzweck. Unsere Gedenkstätten sind kein Ersatz für erlittenes Leid. Unser Erinnern muss immer auch Auftrag für unsere Zukunft sein. Erinnern kennt keinen Schlussstrich. Aus den Erfahrungen unserer Vergangenheit leitet sich ein konkreter Auftrag an uns ab: Nie wieder Krieg, nie wieder! ({2}) Diesen Auftrag müssen wir erfüllen: nicht leise, sondern mit fester und deutlich hörbarer Stimme; nicht pragmatisch, sondern engagiert, auf der Grundlage unseres Wertekanons; nicht naiv, sondern konkret, im Einklang mit unseren Nachbarn, über die Deutschland so viel Leid gebracht hat. Heute diskutieren wir einen Gedenkort für unsere Zukunft, für die Zukunft Europas. Uns liegt ein 65 Seiten umfassender Realisierungsvorschlag vor. Das Dokumentationszentrum wird die bis heute nachwirkenden Erfahrungen der von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Länder in ganz Europa umfassend würdigen. Die Perspektive dieser Länder ist es, die wir in die breite Öffentlichkeit tragen wollen. Das Dokumentationszentrum wird dann Erfolg haben, wenn es aus der Mitte des Parlaments und auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus gemeinsam entwickelt wird. Das neue Dokumentationszentrum ist für alle Menschen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Breite, Wahrnehmung und Relevanz wird es nur erreichen, wenn konsequent der fortlaufende Dialog mit Opfern, Opfervertretungen, Opferverbänden und zivilgesellschaftlichen Initiativen aus allen Ländern auch gesucht wird. Ich möchte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, ihrer Vorgängerin Monika Grütters und Raphael Gross, dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, herzlich danken. Ich danke ihnen und ihren Kolleginnen und Kollegen für die intensive Arbeit der vergangenen Monate, genauso den zahlreichen Expertinnen und Experten aus den 27 Ländern, an die sich dieses Zentrum richtet, sowie der Arbeitsgruppe „Erinnern und Gedenken“. Wir Freien Demokraten haben das Vorhaben von Beginn an unterstützt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns dazu klar bekannt. Wir wollen unseren Beitrag leisten, dass dieses Dokumentationszentrum ein Erfolg wird und zu einer weiteren Aussöhnung beiträgt. Am 9. Oktober vor fast zwei Jahren stellte ich die Frage: Verwundert es uns denn wirklich, dass die Ukraine für sich das Recht auf ein eigenes Erinnern einfordert …? Bei der Antwort auf diese Frage gibt es heute sicherlich keine zwei Meinungen mehr. Doch umso mehr Sensibilität erfordern die Umsetzung und die Einbindung unserer Nachbarn heute. Wenn wir Räume der Begegnung und des Dialogs schaffen wollen, dann müssen wir auch Außerordentliches leisten. Der vorliegende Realisierungsvorschlag stellt eine solide, eine gute Grundlage dar, um die vielen offenen Fragen auch im Umgang mit der Ukraine, der Russischen Föderation und Belarus für uns neu zu beantworten. Wie gewährleisten wir Bildung und Forschung vor Ort angesichts der angespannten Sicherheitslage? Wie gewährleisten wir in der aktuellen Situation, dass beteiligte Historikerinnen und Historiker nicht Vertreter ihrer Länder, sondern allein Vertreter der Wissenschaft sind? Der „Spiegel“ beschrieb es Anfang März provokant, traf jedoch einen Punkt, dem wir uns bewusst stellen sollten. Zitat: Ungefähr zu der Zeit, als dieses Papier abgeliefert wurde, ließ Russland Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren. Aus der Bedrohung ist ein Krieg geworden. Präsident Gross hat daher absolut recht, wenn er umso mehr eine weitere, intensive wissenschaftliche Begleitung einfordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft“ im Dialog weiterentwickeln, hier im Parlament, in Forschung und Wissenschaft, in der Gesellschaft, aber vor allem im Dialog mit den Menschen in den Ländern, denen Deutschland so viel Schmerz bereitet hat. Dann wird es seine Aufgabe erfüllen: Menschen versöhnen, die Jugend sensibilisieren und Zukunft ermöglichen. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als Nächstes erhält das Wort die Fraktion Die Linke, und zwar Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich für die Fraktion Die Linke feststellen, dass ich den vorliegenden Realisierungsvorschlag sehr gut finde. Der ist übrigens auch auf der Höhe des wissenschaftlichen Diskurses. Ich will mich auch namens meiner Fraktion bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herzlich bedanken. Das ist eine sehr gute Grundlage zur weiteren Diskussion. ({0}) Ich möchte zum Zweiten feststellen, dass es allerdings dort einige Leerstellen gibt, die wir unbedingt weiter diskutieren müssen, auch hier im Bundestag. Es gibt geschichtspolitische Komponenten. Da ist zunächst einmal die Frage der juristischen Aufarbeitung insbesondere der Taten und der Umgang mit den Tätern. Da ist eine große Leerstelle; denn hier wird zu pauschal gesagt, dass die juristische Aufarbeitung in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich vergleichbar ist. Das ist dezidiert nicht der Fall; denn in der DDR gab es bekanntermaßen eine deutlich intensivere Entnazifizierung, wenn man so will, als in der damaligen Bundesrepublik, ({1}) wo die ganzen alten SS- und Reichssicherheitshauptamtleute nämlich wieder in Amt und Würden gekommen sind und es deswegen eben keine vorbildliche Aufarbeitung gegeben hat. Das muss man hier so feststellen, sonst hat man keine Ahnung von Geschichte. ({2}) Das Dritte, was ich schon noch mal feststellen will – und das ist ja in Ansätzen dort auch wirklich vorhanden –, ist eine Einordnung des völlig entgrenzten Vernichtungskrieges gegen den Osten damals. Das ist doch zu wenig spezifiziert. Denn der ist ja gerade nicht nur durch die Suspendierung aller Rechtsregeln gekennzeichnet gewesen, die es bis dahin gab, in der Kriegsführung beispielsweise, sondern vor allem dadurch gekennzeichnet gewesen, dass er alle bis dahin gekannten Zivilisationsregeln aufgehoben hat. Das will ich an Zahlen deutlich machen. Die Sterblichkeitsrate bei Kriegsgefangenen der Roten Armee lag bei 60 Prozent; das sind 3,3 Millionen Leute. Sie sind vor allem in Wehrmachtslagern schlicht verhungert. Wenn wir uns dagegen die Sterblichkeitsrate bei westlichen alliierten Kriegsgefangenen angucken, sehen wir: Sie lag bei 3,5 Prozent. Daran können wir erkennen, dass wir es hier mit etwas anderem zu tun haben. Ich möchte dazu, warum dieses Dokumentationszentrum wirklich dringend notwendig ist, noch auf die aktuelle Debatte und bestimmte Töne dabei eingehen. So leid es mir tut, ich will noch mal Jürgen Trittin hier direkt ansprechen; denn insbesondere Sie von den Grünen sind hier auffällig geworden. Jürgen Trittin sagte in einem aktuellen Interview – ich darf zitieren –: Jetzt erleben wir die Rückkehr des imperialen Eroberungskrieges. Und der ähnelt in vielen Orten dem Vernichtungskrieg von SS und Wehrmacht gegen die Sowjetunion. Es gab mehrere Vergleiche von Ihnen dort in dieser Hinsicht. Ich möchte das in aller Form zurückweisen. Das ist nichts anderes als eine Relativierung der Verbrechen des deutschen Faschismus, um das in aller Klarheit zu sagen. ({3}) Auch in den Medien, wo von einem Vernichtungskrieg von Russland gegen die Ukraine gesprochen wird, wollen wir, bitte schön, historisch korrekt bleiben. Es ist ein verbrecherischer Angriffskrieg. Es ist kein Vernichtungskrieg. Was ein Vernichtungskrieg ist, möchte ich zum Abschluss kurz zitieren: Im Morgengrauen des 29. September sperrten Angehörige der Polizeibataillone die Umgebung der am Stadtrand von Kiew gelegenen Schlucht Babi Yar und die Straßen, auf denen die Opfer von der Stadt kommen sollten. In langen Kolonnen zogen jüdische Männer, Frauen und Kinder zu dem befohlenen Platz. Von dort trieb sie die SS weiter zur Schlucht von Babi Yar. In der Nähe des Eingangs zur Schlucht registrierten SS-Männer die Opfer, sie mussten ihre Wertsachen abgeben und die Kleider ablegen. In der Schlucht erschossen die Angehörigen des Sonderkommandos 4a im Laufe des 29. September und des nächsten Tages über 33 000 Menschen. Das ist der Vernichtungskrieg gewesen. Der Begriff des Vernichtungskrieges ist in geschichtspolitischen Auseinandersetzungen von der Wissenschaft bitter erkämpft worden, und er ist mit nichts anderem zu vergleichen. Deswegen weise ich das zurück und lade auch insbesondere einige von Ihnen herzlich zur Eröffnungsausstellung in dieses notwendige Dokumentationszentrum ein. Vielen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Korte, wenn Sie die Rede abgeben, sollten Sie bitte auch sagen, woher das Zitat ist. Am besten nennen Sie es immer gleich. ({0}) – Nein, jetzt nicht mehr. Es war schon lang genug. Man sollte Zitate vielleicht auch nicht erst dann beginnen, wenn die Redezeit zu Ende ist. Das kann ich auch noch dazusagen. Jetzt erhält für Bündnis 90/Die Grünen Erhard Grundl das Wort. ({1})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich sinngemäß eine Rede zitieren, die unser ehemaliger Kollege Manuel Sarrazin am 9. Oktober 2020 von diesem Platz aus gehalten hat. Er sagte: Als mein Großvater 1939 nach Polen einmarschierte, marschierte er nicht als Nazi ein. Er marschierte ein als Deutscher. Er marschierte ein als Teil einer deutschen Gesellschaft, die eine andere Nation unterjochen und auslöschen wollte, und breite Teile der deutschen Gesellschaft teilten dieses Ziel. – Zitat Ende. Wer sich der Vergangenheit, sei sie auch noch so schmerzhaft, nicht stellt, der kann die Zukunft nicht gewinnen. ({0}) Nur eine lebendige Erinnerungskultur kann uns davor schützen, jemals wieder Täternation zu werden. Das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ will genau das: die Erinnerung wachhalten. Das Dokumentationszentrum will ein Ort sein, an dem Fakten dokumentiert werden und Wissen vermittelt wird, und ein Ort, an dem der Opfer gedacht wird – 230 Millionen Tote in heute 27 europäischen Staaten als Folge von Krieg und deutscher Besatzung. Es geht darum, die Zusammenhänge zwischen dem rassistischen, menschenverachtenden Weltbild und der nationalsozialistischen Lebensraumideologie aufzuzeigen. Es geht um Zwangsarbeit, um Lagersysteme, es geht um ein grausames Weltbild der Menschenschinder, das von Antisemitismus, Antiziganismus, Antikommunismus und Antislawismus geprägt war. Dabei war das Entwickeln von Feindbildern konstitutiv für den Nationalsozialismus. Der gemeinsame Feind einte dort, wo es keine positive Zukunft zu gestalten gab. Es geht auch um den Rassenwahn und das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoa, des Holocaust. Vor einer Woche stand ich am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, dort, wo Willy Brandt sich am 7. Dezember 1970 zur deutschen Schuld bekannt hat und für unser Land auf die Knie ging. Ich war damals knapp 8 Jahre alt, aber ich kann mich noch sehr gut an den negativen Aufruhr, den diese Geste in erzkonservativen Kreisen der deutschen Gesellschaft auslöste, erinnern. Erinnern hilft manchmal wirklich, meine Damen und Herren. ({1}) Heute erlebt Polen die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine unmittelbar. Gleichzeitig steht die polnische Bevölkerung solidarisch zu ihren ukrainischen Nachbarn. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tut, berührt und beschämt. Diese Solidarität und diese Menschlichkeit machen Mut und Hoffnung. Sie nehmen uns aber auch in die Pflicht, unsere Nachbarn mit dieser Aufgabe nicht alleine zu lassen. Meine Damen und Herren, das Dokumentationszentrum kann dazu beitragen, dass uns bewusst bleibt, dass unsere Gegenwart alles Vergangene enthält und damit auch unsere gemeinsame Zukunft in Europa. Ich danke Ihnen. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Sie haben die Quelle genannt. Sinngemäßes Zitieren kannte ich zwar noch nicht; das ist aber in Ordnung. Damit erhält jetzt das Wort Dirk Wiese für die SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist ein wichtiger Meilenstein, den wir heute erreicht haben, um den Realisierungsvorschlag für ein Dokumentationszentrum speziell zur Erinnerung an den Vernichtungskrieg in Ost- und vor allem auch Südosteuropa auf den Weg zu bringen. Ich will noch einmal daran erinnern: In der letzten Legislaturperiode – wir hatten noch die Große Koalition – war es nicht einfach, dieses Projekt noch auf den Weg zu bringen. Es war ein durchaus steiniger Weg, das hinzubekommen, und darum will ich heute, liebe Gitta Connemann, noch einmal Danke sagen. Es war gut, dass wir das realisiert haben. Uns eint in diesem Haus, glaube ich, dass wir sagen, wie wichtig und bedeutend dieses Dokumentationszentrum gerade in diesen Zeiten ist. Darum ist es gut, dass wir das gemeinsam auf den Weg bringen werden. ({0}) Es ist wichtig, dass wir mit diesem Dokumentationszentrum noch einmal deutlich machen, wie widerwärtig diese Rassen- und Lebensraumideologie gewesen ist. Es wurde von „minderwertigen Slawen“, von „Untermenschen“ gesprochen. Ich glaube, es ist unsere Verantwortung, gerade auch für die nachfolgenden Generationen, das in einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung zu beleuchten und in den Blick zu rücken. Sind wir doch ehrlich: Es gibt viele Orte grausamer Kriegsverbrechen, gerade in Belarus, in der Ukraine, in der Republik Moldau, die teilweise namenlos sind, die nicht bekannt sind; an die müssen wir letztendlich erinnern. ({1}) Ich will es sehr offen sagen: Ich war 2018 mit Bundespräsident Steinmeier in der Nähe von Minsk, in Malyj Trostenez, einem Ort, an dem Kriegsverbrechen in gravierendem Ausmaß stattgefunden haben. An diesem Ort sind über 50 000 Menschen getötet worden – erschossen oder in mobilen Gaskammern. Ich kannte diesen Ort vorher nicht. Und wenn man durch diesen Ort geht, kommt man zu einem kleinen Wald. An den Bäumen sind Namensschilder mit Geburtsdaten angebracht, und daran sieht man: Sie waren drei Jahre, sieben Jahre, acht Jahre, zwei Jahre alt. Es ist unsere Verantwortung, an die Kriegsverbrechen, die da an vielen namenlosen Orten gerade in Osteuropa stattgefunden haben, zu erinnern, gerade in Zeiten, in denen der Geschichtsrevisionismus an vielen Stellen wieder zum Vorschein kommt, ({2}) durch die rechte Seite hier im Parlament, aber auch durch den russischen Staatspräsidenten. Die Geschichte muss beleuchtet werden; sie darf nicht in Vergessenheit geraten. ({3}) Es ist unsere Aufgabe, das auf den Weg zu bringen. Ja, wir werden sicherlich noch die eine oder andere Diskussion über die Struktur führen können. Wir laden alle ein, sich daran zu beteiligen. Das Dokumentationszentrum soll sich in die bestehende Gedenkstättenlandschaft hier in Berlin einfügen. Das ist das Entscheidende. Ich glaube, wir werden hier gemeinsam einen guten Weg finden, das voranzubringen, um die Erinnerung an die Orte, die Timothy Snyder mal als „Bloodlands“ bezeichnet hat, lebendig zu halten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe und Verantwortung. Ich danke allen, die daran in nächster Zeit mitwirken. Vielen Dank. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächste Rednerin in der Debatte erhält Annette Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa sind Geschichte, und doch sind das Erinnern und das Gedenken an deren Opfer kein abgeschlossenes Kapitel. Durch sie bleibt Wissen erhalten, werden wir unserer Verantwortung bewusst, wird Versöhnung möglich. Sie sind stete Mahnung und konstruktive Motivation – jetzt und für die Zukunft. Wie man mit Geschichte umgehen, sie unterschiedlich erzählen, interpretieren und erinnern kann, zeigt uns im Moment auf ganz besonders perfide Weise Wladimir Putin. Seine haltlosen Darstellungen und Deutungen des Zweiten Weltkriegs sind Ausdruck eines politischen Kalküls, kollektive Ängste und Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Historische Unwahrheiten werden so zur Propaganda- und Kriegswaffe. Weshalb Verantwortung zu übernehmen so wichtig ist und wir dafür nicht zwangsläufig erst nach Russland blicken müssen, zeigen die antisemitischen Darstellungen auf der Documenta. Wer wie Sie, Frau Staatsministerin Roth, das Problem über Monate ignoriert und kleinredet, hat die Verantwortung aus unserer Geschichte noch nicht gänzlich begriffen. Das ist ein politischer Skandal. ({0}) Auch deshalb brauchen wir ein Dokumentationszentrum, das die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa dokumentiert, die einzelnen, oft national geprägten Aspekte verbindet und in einer europäischen Perspektive vermittelt. Ein Dokumentationszentrum, das sich mit der nationalsozialistischen Kriegs- und Besatzungspolitik in heute 27 europäischen Ländern auseinandersetzt und die Verbrechen und die extreme Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung sowie die Verfolgung von ganzen Bevölkerungsgruppen darstellt, ist eine politische, wissenschaftliche und finanzielle Herausforderung. Wie anspruchsvoll die Erarbeitung eines solchen Konzepts und dessen Umsetzung ist, zeigt der vorliegende Entwurf. Auch ich schließe mich dem Dank an Raphael Gross und die Beteiligten an. Nicht nur die große geografische Breite und die historischen Unterschiede in der Besatzungspraxis in Europa, sondern auch die Tatsache, dass es sich um ein Projekt des Landes handelt, in dessen Namen der Krieg begonnen und die Verbrechen begangen wurden, erfordern eine besondere Sorgfalt und Sensibilität. Der vorgelegte Vorschlag begegnet dieser Herausforderung konzeptionell, indem spezifische Handlungsmuster der Kriegs- und Besatzungsverbrechen herausgearbeitet und systematisiert in einer länderübergreifenden Perspektive zusammengefasst werden. Ob diese Herangehensweise den zum Teil sehr unterschiedlichen nationalen Ausprägungen und folglich auch den unterschiedlichen Opfererfahrungen gerecht wird, werden wir noch intensiv zu diskutieren haben. Neben der Opferperspektive charakterisiert diesen Realisierungsvorschlag die Darstellung der Zusammenhänge zwischen Eroberungskrieg, Rassenideologie, Besatzung und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, so wie es bereits aus den Protokollen der Wannseekonferenz hervorgeht. Gerade deshalb darf weder die Perspektive auf die Täter und die Rolle der Wehrmacht noch die Verantwortung von Mittätern und die Bedeutung von Kollaboration in den Hintergrund geraten, auch wenn wir wissen, dass dieser Blick bei uns wie in den damals besetzten Ländern noch immer schmerzhaft und kontrovers besetzt ist. Wichtige Erkenntnisse über den Krieg, über das Leid, die Zerstörung und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen stehen, dürfen darüber hinaus auch nicht verloren gehen. Auch schwer zu erfassende Kriegsverbrechen wie sexualisierte Gewalt müssen noch mehr Beachtung und vor allen Dingen explizite Würdigung finden. Denn damals wie heute sind Vergewaltigungen von Frauen eine Waffe im Krieg zur lebenslangen Demütigung des jeweiligen Gegners. Das dürfen wir so nicht stehen lassen. ({1}) Ein einheitliches und gemeinsames würdiges Gedenken an die Opfer, auch die bislang weniger beachteten, bleibt unbestritten eine besonders schwierige Aufgabe. Ein lediglich individuelles Gedenken, so wie es in der Konzeption vorgeschlagen wird, bleibt aber hinter dem Auftrag des Deutschen Bundestages zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Dokumentationszentrum ist in seiner Dimension und in seiner Bedeutung für unser historisches Gedächtnis, unser nationales Selbstverständnis und die deutsche Verantwortung in Europa das vermutlich größte kulturpolitische und historische Projekt der Gegenwart. Dem müssen Größe, Struktur und Governance entsprechen. Neben der inhaltlichen Konzeption wird auch darüber – und das nicht nur aus haushalterischer Sicht – intensiv zu diskutieren sein; denn dieses Projekt ist zu wichtig. Die Debatte heute kann deshalb nur der Ausgangspunkt einer umfassenden Auseinandersetzung im Parlament und mit der nationalen und europäischen Öffentlichkeit sein –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– mit dem Ziel, zu einer möglichst breit getragenen Entscheidung zu kommen, auf dass das Dokumentationszentrum ein Beitrag Deutschlands zum Frieden in Europa werde. Vielen Dank. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Letzter Redner in dieser Debatte ist Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Jongen, wie wollen Sie sich ernsthaft mit Antisemitismus beschäftigen, wenn Sie selbst ein rein instrumentelles, parteitaktisches Verhalten gegenüber Antisemitismus pflegen, wie Sie es gerade wieder vorgeführt haben? ({0}) Und wie – erklären Sie mir das – wollen Sie über Hypermoralismus urteilen, wenn Sie selber amoralische Politik machen? Ich verstehe das nicht. ({1}) Wenn wir heutzutage über den Willen der Ukraine sprechen, Mitglied der EU zu werden, dann können wir nicht über die deutsche Besatzungsherrschaft auf ukrainischem Boden schweigen. Und wenn wir urteilen und Ratschläge zur Haushaltsdisziplin in Griechenland geben oder zu den dortigen humanitären Standards, zum Staatssystem, dann sollten wir uns immer die Mühe machen, die Perspektive der Griechinnen und Griechen selbst zu betrachten und ihrer kollektiven Erinnerung an die Terrorherrschaft der Deutschen während der Besatzung dort. Das ist notwendig. Das bedeutet auch, Europa nicht nur abstrakt als Projekt der Versöhnung zu begreifen, sondern ganz konkret als eine auch deutsche Verantwortung, die aus den vielen Facetten der unerträglichen Besatzungsherrschaft über ganz Europa erwächst. Das ist der Kern der Verantwortung. Deshalb ist insbesondere Deutschland gefragt, das zu dokumentieren und entsprechend im Jetzt zu handeln. ({2}) Wenn wir das so sehen und so begreifen, dann müssen wir uns klarmachen, dass es eben viel zu einfach ist, von einem Hitlerismus zu sprechen. Wir müssen uns klarmachen, dass dieses NS-System, die Besatzungsherrschaft aus der Mitte der Gesellschaft möglich war, dass, wie es Kershaw ins Zentrum seiner Studien stellte, eben sehr viele dem Führerstaat zuarbeiteten. In Jozefow zum Beispiel, auf polnischem Boden, stellte Major Trapp, Anführer des deutschen Reserve-Polizeibataillon 101, ungefähr 500 Leuten frei, an Erschießungskommandos teilzunehmen, Frauen, Kinder und angeblich nicht arbeitsfähige ältere Männer zu erschießen.12 von ihnen – ganze 12 – nahmen diese Möglichkeit wahr. Alle anderen waren Menschen, die tagtäglich Hunderte, wenn nicht Tausende ermordeten und am Abend Brahms hörten, Briefe an ihre Familie schrieben oder sich besoffen. Um sich diese und viele andere Formen der Besatzungsherrschaft klarzumachen, brauchen wir ein solches Zentrum. Wir brauchen es auch, um zu begreifen, dass jede Form der Normalisierung, der Bagatellisierung der NS-Herrschaft und der Besatzungsherrschaft in ganz Europa und auch jede Form der Instrumentalisierung, egal von wem – ich weise da auf aktuelle Debatten hin –, unbotmäßig ist und dass es auch in Deutschland nicht duldbar ist, wenn wir im öffentlichen Raum NS-„Stürmer“-Ästhetik erleben, weil ebendiese Ästhetik im Original, diese Bildsprache zu den Bedingungen der Möglichkeit der Massenmorde durch Deutsche in Jozefow gehörte. Vielen Dank. ({3})

Claudia Tausend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004423, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen das kommunale Vorkaufsrecht wiederherstellen, vollumfänglich und rechtssicher, und unseren Kommunen damit ein bewährtes und 35 Jahre lang unbeanstandetes Instrument des Milieuschutzes zurückgeben, ein Instrument – um das klarzustellen –, das sie anwenden können, aber nicht anwenden müssen. Es handelt sich um ein Vorkaufsrecht, nicht um eine Vorkaufspflicht. ({0}) Ich bin überzeugt, dass unsere Kommunen sehr verantwortungsvoll damit umgehen, und zwar zum Schutz der Zusammensetzung der angestammten Wohnbevölkerung und zur sozialen Stabilisierung der Quartiere, wie es im Gesetz vorgesehen ist. Wir wollen doch alle keine Situation wie in London oder Paris. Wir kennen die schmucken Innenstädte, die schmucken Citys; sie sind für uns Touristen sehr attraktiv. Aber leisten kann sie sich niemand mehr, vor allem nicht die Menschen, die die Stadt am Laufen halten, die jeden Tag anderthalb Stunden mit Vorortzügen ein- und auspendeln. Das wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wir wollen in unseren Städten lebendige und durchmischte Quartiere, gerade in den begehrten innerstädtischen Lagen, und werden daher alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit die Menschen, die dort seit Jahrzehnten leben, nicht durch Spekulationen verdrängt und vertrieben werden. Das kommunale Vorkaufsrecht ist ein Baustein dafür. ({1}) Das wird aber nicht der einzige Baustein zur Sicherung von bezahlbarem Wohnraum sein. Wir werden auch die Kappungsgrenze absenken, die Mietpreisbremse verlängern und den Mietspiegel überarbeiten. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir den Kommunen mit dem Baulandmobilisierungsgesetz eine Vielzahl von Instrumenten an die Hand gegeben, preisdämpfend auf den Wohnungsmarkt einzuwirken, teilweise leider über den Umweg der Länder, die eine Rechtsverordnung erlassen müssen. Dies haben bis zum heutigen Zeitpunkt vollumfänglich leider nur Berlin und Hamburg geleistet. Aber das zeigt: Diese Instrumente wirken, vor allem das allgemeine Umwandlungsverbot von Miet- in Eigentumswohnungen, wie man an den eindrucksvollen Zahlen hier in Berlin sieht. – Berliner hätten jetzt klatschen dürfen. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, für uns Sozialdemokraten ist die Schaffung, aber auch die Sicherung von bezahlbarem Wohnraum gerade in Ballungsräumen die zentrale soziale Frage; ({3}) darauf hat Hans-Jochen Vogel unermüdlich hingewiesen. Er hat betont: Der Wohnungsmarkt ist eben kein funktionierender Markt, auch wenn er so heißt, weil das knappe Gut „Grund und Boden“ nicht vermehrbar ist wie ein x‑beliebiges Gut. Deshalb ist der Staat, deshalb sind wir in der besonderen Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass Wohnen bezahlbar bleibt. In diesem Ziel unterstützen uns nicht nur die Mieterverbände und zahlreiche Mieterinitiativen, sondern auch die Bürgermeister und Oberbürgermeister, namentlich die aus den hauptbetroffenen Städten Berlin, Hamburg und – bei mir natürlich Dieter Reiter – München, der Städtetag, aber auch der Bundesrat. Die öffentliche Anhörung am 9. Mai hat uns gezeigt, dass wir hier sehr genau hinschauen müssen, um zu einer rechtssicheren Lösung zu kommen. Das ist durchaus eine herausfordernde Aufgabe. Es wird leider nicht reichen – das hat die Linkspartei erkannt –, das Vorkaufsrecht durch das Hinzufügen eines einfachen Halbsatzes zu reparieren. Wir müssen die andere Seite der Medaille mit betrachten, nämlich die Abwendungserklärung, und beides ins Verhältnis setzen zu § 172 BauGB, zum Milieuschutzparagrafen. Wir werden einige Präzisierungen vornehmen müssen, zum Beispiel dass Abwendungserklärungen dem demografischen Wandel und der notwendigen Barrierefreiheit, aber auch den klimapolitisch erwünschten energetischen Sanierungen nicht im Wege stehen können. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, Die Linke hat ihren Gesetzentwurf nach der Anhörung nachgebessert; aber es fehlen noch einige Aspekte. Wir werden den Vorschlag daher ablehnen und nach der Sommerpause einen eigenen, ausgewogenen, handhabbaren Gesetzentwurf einbringen, der sich an den Kriterien der Vollziehbarkeit und Verhältnismäßigkeit orientiert. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen nach der Sommerpause und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Ganz herzlichen Dank, vor allen Dingen für die Einhaltung der Redezeit. Ich möchte alle noch einmal daran erinnern, dass es heute recht lang werden kann. Deswegen bitte ich Sie, auf die Redezeit sehr genau zu achten. Das kann als Allererstes Enak Ferlemann für die CDU/CSU-Fraktion machen. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zum Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten einen Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke und einen dazugehörigen Antrag sowie einen Antrag der AfD-Fraktion. Ich kann es vorwegnehmen: Die Union wird allen dreien nicht zustimmen, weil sie keine Lösung für das Problem darstellen, über das wir schon länger diskutieren. Wir haben ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, das wir für absolut richtig halten. Die kluge Entscheidung der höchsten Verwaltungsrichter in Deutschland besagt: Ein Vorkaufsrecht kann eine Kommune nur ausüben, wenn im aktuellen Bestand ein Missstand erkennbar wäre. Sie kann aber nicht sagen: Weil sich in fünf oder zehn Jahren vielleicht eine andere Entwicklung ergibt, übe ich heute schon mal das Vorkaufsrecht aus. – Insofern ist das ein vollkommen richtiges Urteil des Gerichts. Warum ist es richtig? Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft. Das ist eine Grundlage des Erfolges der Bundesrepublik Deutschland. Und eine der Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft, aller marktwirtschaftlichen Ordnungen ist das Eigentumsrecht. Das Eigentumsrecht ist im Grunde eines der wesentlichen Fundamente jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Deswegen muss das Eigentumsrecht geschützt werden, und dafür sind die Richter verantwortlich. Dieser Verantwortung sind sie, wie wir finden, sehr gut nachgekommen. ({0}) Nun schlägt uns die Fraktion Die Linke einen Gesetzentwurf vor, der im Grunde dazu führt, dass es zu einem Pokerspiel kommt. Es geht ja in den Milieuschutzgebieten gar nicht unbedingt darum, das Vorkaufsrecht auszuüben, sondern darum, Abwendungsvereinbarungen zu provozieren. Das ist etwas, was Frau Tausend vorhin toll erklärt hat. Wenn es so käme, wie Sie es versprochen haben, wäre das eine super Sache. Wenn wir bei den Abwendungsvereinbarungen in Zukunft die Regelung hätten, dass zum Beispiel Fahrstühle oder Balkone eingebaut werden könnten, dass eine energetische Sanierung vorgenommen werden könnte und anderes mehr, wäre das eine Lösung, über die man durchaus nachdenken könnte. Aber danach sieht es nicht aus; jedenfalls sieht das der Gesetzentwurf der Linken nicht vor. Da kommt der alte sozialistische Grundgedanke vom Volkseigentum wieder hervor, und deswegen geht der Gesetzentwurf völlig fehl. Man muss Ihnen allerdings eines zugestehen: Sie haben immerhin einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Regierung hat das ja bis heute nicht geschafft, obwohl sie das mehrfach versprochen hat. Trotzdem habe ich dafür Verständnis und meine Fraktion auch, weil das ein sehr schwierig zu regelnder Bereich ist. Es ist nicht so einfach. Man kann evidenzbasiert nicht alles so ableiten, wie man es gerne hätte, weil es ein Recht ist, das im Wesentlichen nur einige Großstädte betrifft. Wir werden das im Laufe der Debatte sicherlich noch erleben. Für uns kommen die vorliegenden Vorschläge von daher nicht infrage. Aber wir werden uns weiter engagiert an der Diskussion beteiligen, weil wir glauben, dass wir eine Regelung finden können und müssen, die aber das Eigentumsrecht an die erste Stelle setzt und schützt. Denn wir brauchen Investitionen durch privates Kapital in den Wohnungsmarkt. Wir werden die Wohnungsprobleme in Deutschland nicht staatlicherseits lösen können. Das wäre viel zu teuer, viel zu aufwendig. ({1}) Das wird nur mit privatem Engagement, mit privatem Kapital gehen. Deswegen lehnen wir die Anträge und den Gesetzentwurf heute ab und freuen uns auf die Debatte. Wir sind gespannt, was nach der Sommerpause von der Koalition vorgelegt wird. Der derzeitige Referentenentwurf, der umherkreist, ist noch schlimmer als der Gesetzentwurf der Linken. Der wird es wohl nicht werden. Deswegen setzen wir darauf, dass die Kollegen der FDP die Freiheit hochhalten. In diesem Sinne freue ich mich auf eine weitere Debatte. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Wunderbar – also bezogen auf die Redezeit. ({0}) Nicht dass das falsch verstanden wird. Für Bündnis 90/Die Grünen erhält jetzt das Wort Canan Bayram. ({1})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Die Situation auf dem Immobilienmarkt in den Städten ist in den letzten Jahren außer Kontrolle geraten. Häuser werden zu Preisen verkauft, die das 30-, 40-, ja 50-Fache der Jahresmieteinnahmen betragen. Zur Erinnerung: Noch vor wenigen Jahren wurden Finanzierungen, die das 20-Fache der Einnahmen übersteigen, als unseriös angesehen. Diese überhöhten Preise lassen sich mit den Mieteinnahmen nicht mehr refinanzieren, auch wenn die neuen Eigentümer die Möglichkeit der Mieterhöhungen bis zum Letzten des gesetzlich Erlaubten ausreizen. Um dieser Spekulation einen Riegel vorzuschieben, hatten die Städte und Kommunen in der Vergangenheit die Möglichkeit des Vorkaufsrechts, und es wurde genutzt. In Berlin wurde das Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten seit 2015 erfolgreich angewandt, und es konnten so circa 2 700 Wohnungen aufgekauft werden. In München wurden im gleichen Zeitraum etwa 1 050 Wohneinheiten vor Verdrängung geschützt, meine Damen und Herren. ({0}) Das ist etwas, was wir erhalten wollen. Allein in Friedrichshain-Kreuzberg, in meinem Wahlkreis, sind über 700 Wohnungen der Spekulation entzogen und die Mieter/-innen vor Verdrängung geschützt worden. Landeseigene Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften wurden die neuen Eigentümer, und in manchen Fällen waren es sogar die Mieter/-innen selbst, wie in der Krossener Straße 36 in Friedrichshain, nach dem Motto „Homes for the people, not for the profit“, oder wie ich es immer sage: Die Häuser denen, die drin wohnen. – So übernehmen die Bewohner/-innen die Verantwortung für ihre Immobilie, und das müsste sogar Ihnen gefallen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({1}) Doch es könnte noch mehr erreicht werden. Um den Vorkauf durch die Kommune zu vermeiden, haben eine Vielzahl von Eigentümern Abwendungsvereinbarungen unterschrieben und sich damit verpflichtet, keine Umwandlung in Eigentum oder Luxussanierungen vorzunehmen. Dies war praktisch der Prüfstein, ob der Eigentümer sich als verantwortungsbewusster Vermieter betätigen will oder rücksichtslose Mieterhöhungen und Spekulationen auf baldigen Wiederverkauf und damit seine Profitinteressen in den Vordergrund stellt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung festgestellt, dass das nach § 24 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 des Baugesetzbuchs im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung bestehende Vorkaufsrecht von der Gemeinde nicht lediglich in der Annahme ausgeübt werden darf, dass der Käufer in Zukunft satzungswidrige Nutzungsabsichten verfolgen werde. Es sei nach seinem Wortlaut eindeutig auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über das Vorkaufsrecht bezogen. Diese Entscheidung hat zur Folge, dass die bisher geübte Anwendung des gemeindlichen Vorkaufsrechts in Gebieten einer Erhaltungssatzung kaum mehr möglich ist. Wir haben als Fortschrittskoalition eine Prüfung vereinbart, ob sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum kommunalen Vorkaufsrecht in Gebieten einer Sozialen Erhaltungssatzung gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt. Diese Prüfung hat die Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Frau Geywitz, abgeschlossen und als Ergebnis einen Vorschlag vorgelegt. Mit diesem Entwurf eines Gesetzes wird die bisherige Verwaltungspraxis der Gemeinden zur Ausübung ihrer Vorkaufsrechte in Gebieten mit einer Erhaltungssatzung wieder ermöglicht und auf eine sichere Rechtsgrundlage gestellt, meine Damen und Herren. Ich gehe davon aus, dass die Abstimmung mit der FDP, insbesondere dem Justizminister Herrn Buschmann, bald abgeschlossen sein wird und wir zeitnah das Gesetz beraten können. Darüber hinaus wird gerade angesichts der hohen Immobilienpreise noch mehr gesetzgeberische Tätigkeit notwendig sein; denn die Kommunen müssen auch finanziell in der Lage sein, in nennenswertem Umfang Immobilien aufzukaufen. Deswegen setzen wir Grüne uns weiterhin vehement dafür ein, dass die Kommunen finanziell besser ausgestattet werden, um ihrer Verantwortung im Milieuschutz gerecht werden zu können. ({2}) Gleichzeitig sollte darüber diskutiert werden, wie gesetzliche Regelungen geschaffen werden können, damit Kommunen nicht den vertraglich vereinbarten Preis, sondern nur einen gesetzlich geregelten spekulationsbereinigten Verkehrswert aufbringen müssen, damit die Kommunen die Häuser auch tatsächlich kaufen können. Außerdem ist mir sehr wichtig, dass die Frist zum Vorkauf verlängert wird, damit wir genügend Zeit haben, Käufer/-innen zu finden, um die Mieter/-innen tatsächlich schützen zu können. Das sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Mieter/-innen schuldig. Dafür setze ich mich ein, dafür setzt meine Fraktion sich ein, dafür setzt die Fortschrittskoalition sich ein, liebe Frau Kollegin Lay. Dass uns das gemeinsame Ziel, die Mieter/-innen zu schützen, ({3}) weiterhin Auftrag und Verpflichtung zugleich ist, kann ich Ihnen hiermit versichern. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Carolin Bachmann erhält das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Carolin Bachmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005014, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten verfehlt grundsätzlich das Ziel des bezahlbaren Wohnraums. Wohnraum wird in Deutschland dann bezahlbar, wenn die Bundesregierung endlich Politik für das eigene Land macht. ({0}) Das Vorkaufsrecht hindert Eigentümer an der Modernisierung. Mieter müssen auf Balkon und Aufzug verzichten, und der Wohnbestand verfällt. Wer unzufriedene Menschen in heruntergekommenen Wohnungen haben möchte, der kann diesem Gesetzentwurf zustimmen. Wir lehnen ihn ab. ({1}) Wer bezahlbaren Wohnraum wirklich möchte, der muss sich mit den tatsächlichen Ursachen für die Explosion von Wohnkosten auseinandersetzen. Ich nenne Ihnen drei große Kostentreiber: Erstens. Mit fast 8 Prozent haben wir die seit 40 Jahren höchste Inflationsrate, Tendenz steigend. Schuld ist die Niedrigzinspolitik der EZB. Die Geldmenge wurde seit 2008 nahezu verachtfacht. Seit März 2016 liegt der Leitzins bei 0,0 Prozent. Der für die Sparer wichtige Einlagenzins liegt bei minus 0,5 Prozent. Für Mieter und Vermieter heißt das alles: steigende Wohnkosten, sich auflösende Ersparnisse und schmelzende Rendite. Die AfD warnt schon immer vor der Währungsunion und ihren Folgen. Wir müssen aus dem gescheiterten Euroschuldgeldsystem austreten und nationale, steuerbare Währungen wieder einführen. ({2}) Der zweite große Wohnkostentreiber sind die Energiekosten. Inflation und Sanktionspolitik verdreifachten innerhalb eines Jahres die Gaspreise. Auf private Haushalte entfallen satte 31 Prozent des gesamten Gasverbrauchs. Die Bundesregierung eskaliert diese komplizierte energiepolitische Lage noch vorsätzlich. Ihre naive Sanktionspolitik führt zu einer Kostenexplosion, und das treibt die Wohnkosten in die Höhe. ({3}) In meiner Kleinen Anfrage zur Substitution russischen Erdgases gibt die Bundesregierung zu: Sie kann keine ständigen Lieferländer von Flüssigerdgas nennen. Der Bundesregierung liegen keine Informationen über die Transportkosten von Flüssiggas vor. ({4}) Sie hat keine Kenntnis über die Kosten des Gases. Sie geht aber davon aus, dass es teurer wird als Pipelinegas. Wir wissen schon, wer die Kosten schultern muss: Es wird wieder der Bürger sein. Wir als AfD lehnen diese engstirnige und ideologische Energiepolitik ab. ({5}) Was wir stattdessen brauchen und schon lange fordern, ist eine zuverlässige, planbare Energieversorgung und sichere Kernkraft als Grundlage für unseren Wohlstand. Kommen wir zum dritten großen Wohnkostentreiber. ({6}) – Ich habe schon zwei genannt und komme jetzt zum dritten. – Nach offiziellen Zahlen sind von 2014 bis 2021 1,2 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland zugewandert. ({7}) Das entspräche der viertgrößten Stadt Deutschlands, größer als Köln. Die Millionenstadt überwuchert die ohnehin schon übervollen Ballungsräume. Dort steigt der Druck gerade für Mieter in prekären Verhältnissen. Seit 2015 warnt die AfD vor den Folgen der Flüchtlingskrise. ({8}) Wir müssen die illegale Einwanderung nach Deutschland beenden und damit beginnen, Ausreisepflichtige auszuweisen. ({9}) Sehr geehrte Kollegen, die wahren Ursachen für die steigenden Wohnkosten – und die bekämpfen Sie nicht mit dem Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten – sind Inflation durch falsche Währungspolitik, Kostenexplosion durch Energiepolitik und platzende Ballungsräume durch falsche Einwanderungspolitik. Die Lösungen liegen im Programm der AfD: in einer eigenen Währung, in einer sicheren, kernkraftbasierten Energieversorgung und in sicheren Grenzen. Kurz gesagt: Nationale Politik senkt Wohnkosten. Danke schön. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion Rainer Semet. ({0})

Rainer Semet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005223, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fünf Monaten habe ich bereits an dieser Stelle über das kommunale Vorkaufsrecht gesprochen; aber noch immer höre ich die gleichen, mich nicht überzeugenden Argumente für eine vorgeschlagene Änderung. Hören wir endlich auf, private Investoren in eine grundsätzlich schlechte Ecke zu rücken, und hören wir auf, mit dem Vorkaufsrecht weitgehend in das Eigentum von Menschen einzugreifen! ({0}) Nicht der Staat baut maßgeblich die Wohnungen, sondern private Investoren. Lassen Sie uns lieber darüber diskutieren, wie wir auch in Ballungszentren und in den Kiezen unserer Großstädte mehr Wohnungen bauen können. Nachverdichtung und Aufstockung sind hier zentrale Punkte. Grundsätzlich sagen auch wir, dass Milieus erhalten und geschützt werden sollen. ({1}) Doch die Kommunen haben durch die Regelungen in § 172 des Baugesetzbuchs und durch eine entsprechende Erhaltungssatzung weitreichende Möglichkeiten, Milieus vor Ort zu schützen. Zudem gibt es bereits bundesweit starke Schutzrechte für Mieter und regulierte Miethöhen durch Mietspiegel. Anstatt beispielsweise in Berlin für 500 Millionen Euro bestehenden Wohnraum aufzukaufen, hätte man dieses Geld besser in Neubauprojekte, Genossenschaftsmodelle oder sozialen Wohnungsbau investiert. ({2}) Die Praxis des jetzigen kommunalen Vorkaufsrechts bezieht sich ohnehin auf nur ganz wenige Großstädte in Deutschland, sprich: Es betrifft im bundesdeutschen Vergleich nur ganz wenige Menschen ({3}) und lässt völlig außer Acht, dass der Wohnungsmangel in ganz Deutschland das eigentliche Problem ist. Der generelle Wohnungsmangel übt Druck auf die Milieus aus und nicht eventuelle zukünftige Eigentümer; denn durch das kommunale Vorkaufsrecht wird keine einzige neue Wohnung gebaut. Ich sehe derzeit keinerlei Notwendigkeit, das bestehende kommunale Vorkaufsrecht zu ändern. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf und Ihren Antrag deshalb ab. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für Die Linke erhält das Wort Caren Lay. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn deutsche Großstädte nutzten das Instrument des kommunalen Vorkaufsrechtes. Sie kauften Häuser auf, bevor es Spekulanten taten, um damit alteingesessene Mieterinnen und Mieter vor Verdrängung zu schützen. München ist als Beispiel genannt worden oder auch Berlin, wo über 2 700 Wohnungen zurückgekauft wurden und für über 9 000 weitere Wohnungen aufgrund dieses Instrumentes niedrige Mieten und soziale Standards vereinbart werden konnten. Das ist doch wirklich eine tolle Sache, meine Damen und Herren! ({0}) Nun hat das Bundesverwaltungsgericht vor über sieben Monaten das kommunale Vorkaufsrecht praktisch ausgehebelt oder, um die Worte der CDU zu verwenden, dieser sozialistischen Praxis ein Ende bereitet. Den Kommunen wurde damit das letzte Instrument im Kampf gegen Verdrängung genommen. Seitdem wurden schon Hunderte Wohnungen an Investorinnen und Investoren verkauft, und zwar in solchen Fällen, in denen die Städte sie eigentlich selber kaufen wollten. Tausende Mieter/-innen fürchten jetzt die Verdrängung. Doch fehlerhafte Gesetze können korrigiert werden. Deshalb haben wir als Linksfraktion schon vor Monaten einen Gesetzentwurf eingebracht. Es gab eine gute Anhörung, und wenn Sie sich heute einen Ruck geben würden, dann könnte das alte Vorkaufsrecht sofort wieder eingesetzt werden. Also geben Sie sich einen Ruck! Die Mieterinnen und Mieter können nicht länger warten. ({1}) Es war ja wirklich eines der Ergebnisse dieser Anhörung, dass man die Wiederherstellung des Vorkaufsrechts jetzt sofort angehen und andere notwendige Veränderungen beim Vorkaufsrecht noch etwas länger diskutieren muss. Aber leider wird das heute nicht passieren, und ich verstehe es nicht. Wenn das so wichtig ist mit dem Vorkaufsrecht, dann frage ich mich natürlich: Warum machen wir es nicht? ({2}) Jetzt höre ich, unser Gesetz sei nicht gut genug. Also, so schlecht kann es ja nicht sein: Es ist mehr oder weniger das gleiche Gesetz, das die Linken gemeinsam mit SPD und Grünen durch das Land Berlin im Bundesrat eingebracht haben. ({3}) Wir haben wichtige Anregungen der Bundesregierung aufgegriffen, beispielsweise die, dass man die Abwendungsvereinbarung noch regelt. Aber Sie haben doch den entsprechenden Änderungsantrag abgelehnt. Meine Damen und Herren, das sind doch wirklich alles Ausreden. ({4}) Es ist ja gerade sehr klar geworden, dass die FDP das Vorkaufsrecht nicht will. Deswegen hat die Ampel bis heute keinen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Fortschritt ist wirklich eine Schnecke, jedenfalls mit dieser Koalition. ({5}) Ich stelle aber auch fest: Die FDP will das nicht, die SPD stellt den Kanzler und die Ministerin und hat mit den Grünen zusammen die Mehrheit in der Koalition. Also, so richtig verstehe ich nicht, wie man es in sieben Monaten nicht schaffen kann, wenige kleine Paragrafen zu ändern. Was wir als kleinste Oppositionsfraktion hingekriegt haben, das müsste die Fortschrittskoalition oder wenigstens die Regierung ja wohl auch hingekriegt haben. ({6}) Anstatt sich also von den Freunden der Immobilienwirtschaft vorführen zu lassen, stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Ich habe vorgeschlagen, dass wir die Abstimmung freigeben. Auch die CSU behauptet ja in München, sie sei für die Wiederherstellung des Vorkaufsrechts. Dann müssen Sie doch heute zustimmen. Die Koalitionsdisziplin sollte Sie von der Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf nicht abhalten. Stimmen Sie für das Vorkaufsrecht und gegen Spekulationen und Verdrängung! Das Wohnopoly muss beendet werden. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die SPD-Fraktion erhält das Wort Bernhard Daldrup. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste, ich will versuchen, auch Sie mit einzubeziehen und ein bisschen was zu erklären. Aber vorher will ich sagen: Frau Bachmann, Sie haben ja selbst einen Antrag gestellt und gar nichts dazu gesagt. ({0}) Also, ich hätte am Ende was gesagt: Das ist nämlich sozusagen das typische Mixtum compositum des politischen Unsinns, den Sie verbreitet haben. ({1}) Auch in diesem Fall ist es so: Sie beschreiben die Kräfte des Marktes und dass das alles so toll sein soll. – Ich sage Ihnen mal was: Letzte Woche war ich in München und sah eine vom Makler beschriebene Altbauwohnung, 29,5 Quadratmeter mit Balkon, für 335 000 Euro. Das sind die Schnäppchen, von denen Sie reden, die Sie glauben, nicht mehr in den Griff bekommen zu können. ({2}) Das sind die Ergebnisse Ihrer Arbeit – erstens; jetzt habe ich schon wieder viel zu viel Zeit auf Sie verwendet; das wollte ich eigentlich gar nicht. Zweitens. Ich möchte für die Gäste noch mal erklären, worüber wir eigentlich reden. ({3}) Wir haben das Baugesetzbuch als zentrales Element der Stadtentwicklung. Das Baugesetzbuch regelt Pläne, enthält Instrumente, enthält auch Punkte, die für die Eigentümer verbindlich sind, zum Beispiel das Modernisierungsgebot, das Abbruchgebot und einen Punkt, den nennt man Vorkaufsrecht. Die Regelung des Vorkaufsrechts hat eigentlich den Zweck, Fehlentwicklungen zu verhindern. Das ist der eigentliche Punkt. Dieses Vorkaufsrecht ist über Jahre von den Kommunen angewandt worden, um Fehlentwicklungen heute und in Zukunft zu vermeiden. Sie haben sozusagen im Geiste des Gesetzes gearbeitet. Und jetzt hat das Gericht geguckt und gesagt: Das ist aber nicht der Buchstabe des Gesetzes. ({4}) Das ist das eigentliche Problem. Was machen wir jetzt? Wir haben in der Koalition gesagt: Gut, wenn das das Problem ist und das Gericht das so feststellt, dann stellen wir den Status quo ante wieder her. Daran arbeiten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Das machen wir gerade ganz konkret. Lieber Kollege, das gilt für uns alle, wenn ich das mal so sagen darf, und manchmal ist es eine Anstrengung. ({5}) Dieser Anstrengung unterziehen wir uns, aber wir machen eben keinen Schnellschuss. Wir machen nicht mal eben ein Gesetz – wir haben nicht die schnellere und bessere Lösung –, hinter dem ja in Wirklichkeit, liebe Caren, das Motto steht: „Wir haben sozusagen den roten Stein der Weisen gefressen, wir sind an der Spitze des Fortschritts, und ihr in der Ampel packt es nicht.“ – Das ist das Ziel jenseits des Inhaltes. ({6}) Wie kommt es eigentlich bei den Linken dazu? Das liegt einfach daran, dass Sie nicht wissen, wie Regieren geht, wie man in einer Koalition zusammenarbeitet, ({7}) wie man Politik für die Praxis macht, die für Menschen erfahrbar ist und nicht nur für die Schlagzeile im „Neuen Deutschland“. ({8}) So funktioniert das. Und an dieser Geschichte – – ({9}) – Ja, reg dich ruhig auf, ich kann mich auch aufregen. ({10}) An dieser Geschichte arbeiten wir, und das machen wir ganz seriös und nicht mit blinden Versprechungen über Verbesserungen am Markt, ({11}) nicht mit pauschalen Vorwürfen über das Versagen der öffentlichen Hand ({12}) und schon mal gar nicht auf dem Rücken der Zuwanderer, die ja diese Wohnungen bauen müssen, weil wir es sonst gar nicht hinbekommen würden. Herzlichen Dank. ({13})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es ist schön, festzustellen, dass Sie alle noch wach sind oder wieder wach sind. – Als Nächstes erhält das Wort Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über den Gesetzentwurf der Linken mit dem Titel „Wiederherstellung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten“. Ich dachte, ich habe versäumt, dass wir es abgeschafft haben. Nein, wir haben es nicht abgeschafft: Es steht nach wie vor im Baugesetzbuch, aber das Bundesverwaltungsgericht hat eine Klärung herbeigeführt, und das ist auch gut so. Herr Semet hat es gut dargestellt: Eigentum ist zu schützen, ist zu wahren, und wir müssen sorgfältig damit umgehen. Darum kann man den Gesetzentwurf der Linken einfach nur ablehnen. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass wir uns einmal darüber Gedanken machen müssen, wer diese Wohnungen baut. Alle müssen Wohnungen bauen, das ist nicht einseitig die öffentliche Hand. Es gehört eine Ausgewogenheit dazu. Was sich in unserem Haus, zumindest hier auf der linken Seite, öfters abspielt, ist, dass so getan wird, als ob der Investor, der Vermieter der Böse ist, der immer versucht, jemanden über den Tisch zu ziehen, als ob der Mieter immer der Geschädigte ist und der Staat alles besser kann. Meine Damen und Herren, wenn sich diese Haltung bei uns hier durchsetzt, wer soll dann die Wohnungen noch bauen? Wir sehen doch, dass es nicht besser ist, wenn der Staat baut; die Geschichte zeigt es doch. ({0}) Daher sage ich: Wir brauchen alle. Das Vorkaufsrecht mag ein Baustein sein, ja. Aber es ist nicht der Sinn, damit günstige Wohnungen zu bauen. Dafür brauchen wir mehr, und da haben wir in der letzten Regierung mit dem Baulandmobilisierungsgesetz auch schon vorgelegt. Es gibt ja schon Bauleitplanungstools, um Wohnungen zu schaffen. Dafür brauchen wir nicht das Vorkaufsrecht. Das gilt es zu nutzen. Wir müssen verdichten, wir müssen nachbauen. Wir müssen natürlich auch schauen, dass wir Investoren auch in die großen Städte bringen und entsprechend Wohnraum schaffen; denn wo angespannter Wohnungsmarkt ist, sind in der Regel wenige Wohnungen da. Wo wenige Wohnungen da sind, da steigen die Kosten. Da müssen wir schauen, dass das Angebot stimmt. ({1}) Dafür brauchen wir die Genossenschaften. Dafür brauchen wir die Kommunen, die das Baurecht schaffen. Dafür brauchen wir aber auch Private. Wir wissen ja auch, wer die meisten Wohnungen vermietet. Es sind die kleinen Leute, die Wohnungen vermieten, es sind nicht die Großen. Und je mehr Steine wir diesen Leuten in den Weg legen, umso weniger wird gebaut und umso weniger wird investiert. ({2}) Deswegen brauchen wir diese Ausgewogenheit. Ich wünsche der SPD viel Vergnügen in den Verhandlungen mit den Grünen, und ich hoffe, Herr Semet, dass sich die FDP dort auch durchsetzen kann. Das ist schon ein Punkt, bei dem ich sage: Für bezahlbaren Wohnraum in den Städten brauchen wir Wohnungen, und die müssen gebaut werden. Dazu gehört auch die Nachverdichtung. Das Vorkaufsrecht kann hilfreich sein, aber dann unter maximalem Schutz des Eigentums; das muss man einfach so sehen. Das ist ein riesiger Eingriff. Von daher hoffe ich auf einen guten Gesetzesvorschlag von der Koalition, obwohl ich bezweifle, dass es ihn geben wird. ({3}) Milieuschutz hat nichts mit Mieterschutz zu tun. Es wird gerade so getan, als diene das Vorkaufsrecht dem Mieterschutz; das ist Schwachsinn, meine Damen und Herren. Wenn eine Wohnung verkauft wird, ist der Mieterschutz nach wie vor gegeben. Das hat mit dem Vorkaufsrecht erst mal gar nichts zu tun. Mit dieser Mär müssen wir erst mal aufräumen, dann können wir uns darüber unterhalten: Was macht Sinn? Wenn eine Kommune städtebauliche Belange sieht, einen Bereich zu entwickeln, dann hat sie auch die dafür nötigen Werkzeuge, ({4}) etwa einen sektoralen Bebauungsplan und einen projektbezogenen Bebauungsplan. Es gibt schon viel, und das muss entsprechend funktionieren. Nur das Vorkaufsrecht auszuüben, um eine Abwendungsvereinbarung zu erzwingen, das ist der falsche Weg; da brauchen wir andere Mittel. ({5}) Von daher, liebe FDP: Wir zählen auf Sie, wir hoffen auf Sie. Aber wir glauben nicht, dass der Entwurf der Regierung unseren Ansprüchen gerecht wird. Herzlichen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es folgt Daniel Föst für die FDP-Fraktion. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was ich in der ganzen Debatte wirklich schwierig finde, ist, dass sich hier diejenigen, die es eigentlich besser wissen, nach vorne stellen und so tun, als gebe es im Milieuschutzgebiet, im Gebiet mit Erhaltungssatzung, überhaupt keinen zusätzlichen Schutz für Mieterinnen und Mieter, wenn es kein Vorkaufsrecht gibt. Da frage ich mich: Wenn das Vorkaufsrecht wieder verschärft wird – Frau Bayram, das ist ja das, was Sie wollen –, schaffen wir dann alle weiteren Milieuschutzmaßnahmen ab? Sie tun ja so, als gebe es keine. Natürlich gelten auch in Erhaltungssatzungsgebieten die Kappungsgrenze, die Mietpreisbremse, der Kündigungsschutz, die reduzierte Modernisierungsumlage ({0}) plus die Regelung, dass jede Maßnahme, die zu einer Mieterhöhung führen kann, egal von welchem Eigentümer in einem Erhaltungssatzungsgebiet, unter besonderem Vorbehalt der Kommune steht. Das ist ein massiver Schutz der Mieterinnen und Mieter, und ich halte ihn auch für gerechtfertigt. Deswegen – Sie sagen: mit dem Vorkaufsrecht lösen wir alle Schutzprobleme –: Ich wäre sehr dagegen, dass wir dann, um Ihrer Logik zu folgen, alle anderen Schutzmechanismen aufheben. Es bleibt völlig unwidersprochen, dass wir gewisse Gebiete in den Kommunen schützen müssen. Da muss ich jetzt kurz auf meinen Kollegen Bernhard Daldrup eingehen: Bernhard, du bist wirklich ein sehr guter Redner. Wir haben dich auch schon damals in der Opposition als sehr klugen Mann kennengelernt. Aber festzustellen, die Kommune hätte im Geiste des Gesetzes gehandelt, wenn das höchste Verwaltungsgericht sagt: „Die Praxis war rechtswidrig“, ist unter deinem intellektuellen Niveau. ({1}) Das hat mich ein bisschen enttäuscht. Umso mehr gefreut hat mich tatsächlich die Behandlung der Linken, die mehr oder weniger im Alleingang die schöne Stadt Berlin wahrlich zugrunde richten. ({2}) Was wir tatsächlich machen müssen, ist, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die da sind: Belegungsrechte nutzen, statt 500 Millionen Euro, eine halbe Milliarde Euro, für ein paar einzelne Mieter auszugeben. Warum kaufen die Städte keine Belegungsrechte? ({3}) Die Nachverdichtung können wir umsetzen, und es gibt nach wie vor ein Vorkaufsrecht. Das wurde übrigens seit diesem Urteil auch ausgeübt. Es ist nicht so, dass es nicht ausgeübt wurde; es wurde bereits zweimal ausgeübt. Gleichzeitig haben die Berichte zugenommen, dass eine Modernisierung in Erhaltungssatzungsgebieten fast unmöglich ist, dass wir den Bestand nicht demografiefest hinkriegen, weil wir keine Aufzüge einbauen dürfen. Auch ist im Erhaltungssatzungsgebiet nicht überall automatisch die Zulässigkeit von Klimaschutzmaßnahmen gewährleistet. Daraus ergeben sich für uns freie Demokraten sehr wichtige Fragen: Wie machen wir weiter? Wie entwickeln wir das? Deshalb steht völlig zu Recht – danke, dass Sie es erwähnt haben, Frau Bayram – ein Prüfauftrag im Koalitionsvertrag. Sie scheinen bereits das Ergebnis der Bauministerin zu haben, ich habe es nicht. Der Prüfauftrag ist nicht erfüllt. Wir wissen nicht, wie das Vorkaufsrecht wirkt, wir wissen nicht, wie es wirklich gelingt, das Milieu zu schützen. Was vorliegt, ist eine Liste von Verbänden, die den Schutz fordern.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum Schluss meiner Rede ganz kurz zu der Anhörung: ({0}) Das Thema ist hoch umstritten. In der Expertenanhörung wurde in keiner Weise eindeutig gesagt: Wir müssen das Vorkaufsrecht verschärfen. – Deswegen werden wir uns das sehr genau anschauen und dann sehr klug handeln. Momentan schließe ich mich meinem Kollegen Semet an: Ich sehe die Notwendigkeit für eine Verschärfung nicht. Vielen Dank. ({1})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Zum Schluss dieser Debatte erhält Kaweh Mansoori für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Kaweh Mansoori (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005141, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein gutes Zuhause darf kein Luxus sein. In Städten wie München oder Frankfurt, wo ich herkomme, ist genau das die Herausforderung. In dem Zusammenhang stellt die AfD-Fraktion einen Antrag, der überschrieben ist mit „Mehr Wohnungsmarkt wagen“. Wenn ich Ihren Ausführungen so folge, dann ist, ehrlich gesagt, nicht nur der Titel gewagt; denn was sich darin findet – und Sie haben das noch mal ausgeführt –, sind billige Ressentiments gegen Zugewanderte. Sie haben es wieder geschafft, die Zugewanderten für verantwortlich zu erklären. ({0}) „Mehr rassistische Ressentiments wagen“ wäre ein ehrlicherer Titel gewesen, meine Damen und Herren. ({1}) Darüber hinaus glänzen Sie wieder mit sozialer Kälte. Was das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betrifft – das gilt auch für die Kollegen von der Union –: Das haben Sie entweder nicht gelesen oder nicht verstanden, ({2}) weil das Bundesverwaltungsgericht nämlich gerade nicht sagt, dass ein Vorkaufsrecht, das Kommunen eine Prognoseentscheidung zubilligt, schlechterdings unmöglich sei, sondern es sagt: Wenn der Gesetzgeber ein solches Vorkaufsrecht will, muss er ein solches Vorkaufsrecht regeln. – Genau das ist das, was wir vorhaben, meine Damen und Herren. ({3}) Worum geht es da im Detail? Es geht um das Zusammenspiel zweier Vorschriften im Baugesetzbuch, um § 24 und § 26. § 24 billigt den Kommunen grundsätzlich ein Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten zu, § 26 schränkt das wieder auf den Zustand der Gegenwart ein, sodass das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass die Kommune das Vorkaufsrecht nicht mit der Begründung ausüben darf, dass „in Zukunft“ eine erhaltungswidrige Nutzungsabsicht verfolgt werden soll. Gerade in Großstädten wie Frankfurt haben wir es aber mit einem dynamischen Immobilienmarkt zu tun, der neben den anständigen Vermietern, von denen gesprochen worden ist, eben auch die Spekulantinnen und Spekulanten anzieht. Ich will mal aus meiner Beratungspraxis als Rechtsanwalt erzählen, wo ich viele Vorkaufsfälle in Großstädten betreut habe. Da kommt es häufig vor, dass ein Investor für einen Preis eine bewohnte Immobilie erwirbt, die, wenn Sie sie zu den Bestandsmieten weitervermieten würden, 80 Jahre lang vermietet werden müsste, um den Kaufpreis wieder einzuspielen. Wer bei solchen Preisen ernsthaft glaubt, dass der Investor da Mehrgenerationenwohnen für 11 Euro pro Quadratmeter anbietet, der ist, ehrlich gesagt, schief gewickelt. ({4}) Deswegen ist es gut, dass die Bundesbauministerin da Handlungsbedarf ausgemacht hat; es gibt gesetzlichen Handlungsbedarf. Aber, liebe Linksfraktion, man muss es dann auch richtig machen. Das ist genau das, woran wir jetzt arbeiten. ({5}) Aus unserer Sicht ist die Verschärfung des Vorkaufsrechts der wichtige und richtige Weg neben vielen anderen Maßnahmen, neben mehr Tempo beim Wohnungsbau, einer Bau- und Investitionsoffensive, dem „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ und dem aktiven Mieterschutz durch Mietpreisbremse, Mietspiegel und all die Maßnahmen, über die heute schon gesprochen worden ist. Kurzum: Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, aus unserer Sicht ist eine Reform des Vorkaufsrechts bitter nötig als ordnungspolitisches Instrument zur Erhaltung von Gestaltungsspielräumen für die Kommunen in dieser Republik und zur Erhaltung von intakten Quartieren. Da sind wir innerhalb der Koalition in enger Abstimmung. Der Vorschlag des Bundesbauministeriums ist da sicherlich von großer Bedeutung. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Sommerpause einen geeinten Vorschlag vorlegen werden; denn am Ende muss sich jeder von uns die Frage stellen: Wollen wir unsere Innenstädte rein renditeorientierten Investoren zum Fraß vorwerfen? Wir wollen das nicht. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Jan Dieren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005041, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen in den demokratischen Fraktionen! Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Unternehmen und Betrieben! In meinem ersten Job in Moers habe ich als Jugendlicher, wie viele andere, Zeitungen ausgetragen. Damals hat mir der Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt, auf dem stand schwarz auf weiß alles, was ich an wichtigen Informationen für diesen Vertrag brauchte. So soll es sein. ({0}) Als Jugendlicher hätte ich sonst vermutlich nicht gewusst, was meine Rechte sind. Was ich auch nicht wusste: Schon damals galt das Nachweisgesetz, das Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dazu verpflichtet, ihren Beschäftigten die wesentlichen Arbeitsbedingungen schriftlich niederzulegen. Mit der Umsetzung der Arbeitsbedingungenrichtlinie der Europäischen Union erneuern wir heute dieses Gesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei geht es um Klarheit. Wenn zwei einen Arbeitsvertrag schließen, dann müssen beide Seiten wissen, unter welchen Bedingungen dieser Vertrag zustande kommt. Wo der Arbeitsvertrag selbst nicht schriftlich abgeschlossen wird, müssen Beschäftigte die wichtigsten Informationen zu ihrem Arbeitsverhältnis nachgewiesen bekommen. Was verdiene ich? Wie viel Urlaub habe ich? Welche Arbeitszeiten gelten? Und so weiter. Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei um Klarheit, und dazu möchte ich heute auch beitragen. Erstens. Beschäftigte müssen von nun an auch informiert werden über die vereinbarte Probezeit, über Überstunden, über Abrufarbeit, über Kündigungsfristen, das Verfahren bei Kündigung und auch über betriebliche Altersvorsorge. Zweitens. Durch die Änderung beim Nachweisgesetz ändert sich für die betriebliche Altersvorsorge gar nichts. Für monatliche Entgeltumwandlung gilt die Schriftform auch weiterhin. Soweit dazu bei einigen Unternehmen Unklarheiten und Unsicherheiten bestanden, sei das hier einmal klargestellt: Das gilt so, wie es bisher galt. ({1}) Drittens. Es gibt jetzt einige, die sich beklagen, wir würden mit diesem Gesetz die Unternehmen ab dem 1. August verpflichten, plötzlich Unmengen an Papier zu produzieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, das tun wir nicht. Die Nachweispflicht gibt es seit über 20 Jahren. Das ändern wir nicht. Seit mehr als 20 Jahren muss dieser Nachweis schriftlich erfolgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Was sich jetzt ändert: Ab dem 1. August kann der Verstoß gegen diese Rechtspflicht mit einer Geldbuße geahndet werden. ({2}) Wer jetzt aber zu erkennen gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, sich an Gesetze erst dann halten zu wollen, wenn ein Verstoß dagegen bestraft werden kann, der beweist ein sehr schwieriges Verhältnis zur Rechtsordnung. ({3}) Die Schriftform selbst ist doch kein Selbstzweck. Aber ein Stück Papier mit einer Unterschrift sorgt für Klarheit. Der Nachweis muss schriftlich erfolgen, damit die Beschäftigten ihre Rechte aus dem Vertrag auch vor Gericht beweisen und durchsetzen können. ({4}) Ja, wir sind sehr dafür, die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um den Rechtsverkehr zu vereinfachen, Bürokratie abzubauen. Doch das darf kein Freischein sein, um die Rechte von Beschäftigten auszuhebeln. ({5}) Wenn man jetzt, wie die Unionsfraktion mit ihrem Antrag, die Schriftform völlig streichen möchte, dann lässt man Millionen Beschäftigte völlig ohne Beweismöglichkeiten und damit schutzlos gegenüber Missbrauch. ({6}) Das mögen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion, zwar genau so wollen, aber das machen wir nicht mit. Wir machen Politik für die arbeitenden Menschen. ({7}) Das heißt, wir geben denen in prekären Beschäftigungsverhältnissen das an die Hand, was sie brauchen, um ihre Rechte und Interessen wahren und durchsetzen zu können. ({8}) Als ich meinen letzten Arbeitsvertrag unterschrieben habe, kannte ich meine Rechte sehr genau. Ich hatte zwischendurch Jura studiert und war Anwalt geworden. Das ist aber nicht gerade selbstverständlich. Es sollte aber selbstverständlich sein, dass alle Beschäftigten ihre Rechte kennen und durchsetzen können. Genau dabei unterstützen wir sie. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Wilfried Oellers das Wort. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Ampelkoalition zur Umsetzung der EU-Richtlinie für transparente Arbeitsbedingungen geht weit über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus, nutzt die Spielräume für Erleichterungen und digitale Lösungen nicht und führt auch noch zu Rechtsunsicherheit bei neu eingeführten Rechtsbegriffen. Zur Umsetzung eins zu eins folgendes Beispiel. Artikel 12 der Richtlinie sieht den Übergang zu anderen Arbeitsformen in demselben Arbeitsverhältnis, bei demselben Arbeitgeber vor. Gemeint sind damit Befristungen und Teilzeitbeschäftigungen. Nicht erwähnt ist aber Zeitarbeit, auch nicht in dem Erwägungsgrund 36, den Sie immer gerne vortragen. Wie Sie darauf kommen, dass auch die Zeitarbeit hier erfasst sein soll, ist mir, ehrlich gesagt, total schleierhaft. Begründen kann man das nur damit, dass Sie das System der Zeitarbeit einfach nicht verstanden haben oder aus ideologischen Gründen auch nicht verstehen wollen. ({0}) Die Zeitarbeitnehmer befinden sich in einem festen Arbeitsverhältnis zum Personaldienstleister. Liebe Ampel, akzeptieren Sie doch endlich einmal, dass die Zeitarbeit eine eigene Branche ist. Die Gewerkschaften tun dies übrigens. Wie sonst ist zu erklären, dass die Zeitarbeitsbranche nahezu vollständig tarifgebunden ist und in dieser Woche einen Tarifabschluss von insgesamt sage und schreibe über 24 Prozent Lohnerhöhung vereinbart hat. Ihre Abneigung zur Zeitarbeit, liebe SPD und Grüne, wird von den Gewerkschaften offensichtlich nicht geteilt. Und dass Sie, liebe FDP, das so geräuschlos mitmachen, verwundert schon wirklich sehr. ({1}) Zum Thema „Spielräume der Richtlinie nutzen“. Liebe Ampel, da gibt Ihnen die EU in dieser Richtlinie schon die Möglichkeit, sich als Fortschrittskoalition zu beweisen, und was machen Sie? Sie lassen die Gelegenheit einfach verstreichen. ({2}) In Ihrem Koalitionsvertrag heben Sie mehrfach die Potenziale der Digitalisierung hervor. Dann wäre es doch logisch, die Möglichkeit der Richtlinie zu nutzen, dass die Arbeitsbedingungen auch in digitaler Form an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übermittelt werden können. Das ist rechtssicher und technisch sicher möglich. Die Sachverständigenanhörung hat dies belegt. Und was machen Sie? Sie bleiben bei der alten Papierform. Sie bezeichnen sich selber als „Fortschrittskoalition“ und kommen mit der Steinzeittafel um die Ecke. ({3}) Also, bei der SPD und bei den Grünen verwundert das ja nicht; aber bei der FDP wundert das nun wirklich. Zum Thema Rechtssicherheit. Wenn Sie schon den neuen Begriff „Verhältnismäßigkeit der Probezeit“ einführen, dann sollten Sie zumindest in der Gesetzesbegründung einmal sagen, was Sie unter „verhältnismäßig“ verstehen. Das machen Sie auch nicht und rufen damit Rechtsunsicherheit in der Rechtsanwendung hervor. In unserem Entschließungsantrag haben wir diese und alle weiteren Kritikpunkte aufgeführt und zeigen auf, wie man eine Richtlinie eins zu eins umsetzt, wie man die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzt und auch Rechtssicherheit herstellt. ({4}) Wenn Sie eine Fortschrittskoalition sein wollen, sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir in dieser Form ab. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Beate Müller-Gemmeke das Wort. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute bei diesem Gesetz um mehr Transparenz. Die Beschäftigten müssen zukünftig über alle relevanten und wesentlichen Arbeitsbedingungen informiert werden. Nur dann wissen sie, was vereinbart wurde, und nur dann können sie auch überprüfen, ob die Arbeitsbedingungen, die auf dem Papier stehen, auch mit dem Arbeitsalltag im Unternehmen übereinstimmen. Mit dem Gesetz schaffen wir also nicht nur Transparenz, sondern auch mehr Sicherheit für viele Beschäftigte, vor allem, wenn sie ohne schriftlichen Arbeitsvertrag oder prekär beschäftigt sind. Das ist eine echte Verbesserung. ({0}) In den Berichterstattergesprächen haben wir das Gesetz und die Details intensiv beraten. Die Gespräche waren sehr konstruktiv, und es ist vor allem viel Vertrauen zwischen den Berichterstatterinnen und Berichterstattern entstanden. ({1}) Dafür möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei den Kollegen Jan Dieren von der SPD und Carl Cronenberg von der FDP bedanken. Das war richtig gut; gerne wieder. ({2}) – Mein Gott! Ein wesentlicher Punkt, über den wir alle – auch in der Anhörung – heftig diskutiert haben, ist die Frage, ob die Beschäftigten die Informationen über die Arbeitsbedingungen weiterhin nur schriftlich bekommen sollen oder ob wir doch eine Form der digitalen Übermittlung ermöglichen wollen. Die Frage, wie Informationen digital versendet werden und gleichzeitig die Beschäftigten auch tatsächlich geschützt werden können, ist nicht so einfach zu beantworten, wie die CDU das gerade immer so tut, ({3}) und doch wären wir Grüne gerne diesen Schritt gegangen. ({4}) Voraussetzung dafür wäre beispielsweise – hören Sie genau zu! –, dass die Beschäftigten der digitalen Übermittlung aktiv zustimmen müssen. ({5}) Nur so kann tatsächlich sichergestellt werden, dass sie auch die technischen Voraussetzungen dafür haben und damit auch umgehen können, und das fehlt im Antrag der Union. Natürlich reicht als Nachweis nicht aus, dass der Arbeitgeber mal eben ein formloses E‑Mail mit Vertragsänderungen verschicken kann, so wie es eben die Union fordert; denn so ein digitaler Nachweis muss natürlich auch rechtssicher sein, und gewährleistet wird das im Moment nur mit einer qualifizierten elektronischen Signatur. Die Union hat hier einseitig die Wirtschaft im Blick, die Beschäftigten nicht. ({6}) Deshalb können wir diesen Entschließungsantrag nur ablehnen. ({7}) Ja, wir Grünen hätten uns mehr Mut zur Digitalisierung gewünscht. Wir wollen nicht an Papier und Aktenordnern festhalten. Wir wollen aber auch keine Digitalisierung, die einseitig zulasten der Beschäftigten geht. Wir wollen eine Balance: Wir wollen die Digitalisierung vorantreiben und gleichzeitig die Rechte der Beschäftigten stärken; denn beides ist wichtig. ({8}) Auf Digitalisierung konnten wir uns nicht verständigen; die Rechte der Beschäftigten aber haben wir definitiv gestärkt. Wir verkürzen die Fristen, erweitern den Katalog der Nachweispflichten, Auszubildende werden einbezogen. Es gibt Änderungen zum Glück auch bei der Leiharbeit und beim Teilzeit- und Befristungsgesetz. Mit diesem Gesetz schaffen wir genau das, was in der EU-Richtlinie angelegt ist: mehr Transparenz, mehr Sicherheit und damit bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf zeigt einmal wieder besonders deutlich, warum wir die Europäische Union in dieser Form verlassen müssen. ({0}) Da ersinnt die EU-Kommission eine Zwangsrichtlinie zu vorhersehbaren und transparenten Arbeitsbedingungen. Ich sage Ihnen ganz offen: Die EU hat im deutschen Arbeitsrecht absolut nichts verloren! ({1}) In Deutschland, Frankreich, Italien leben wir anders, wir wohnen anders, wir bauen anders, wir arbeiten anders. Das ist gelebte Diversität; das ist Pluralität. Das wäre Europa und keine hirnlose Nivellierung von Brüssel. ({2}) Zumal diese Richtlinie wirklich absolut nichts transparenter, absolut nichts vorhersehbarer, sondern alles nur wesentlich bürokratischer macht. Wir haben in Deutschland eigentlich ein wunderbares Nachweisgesetz, und das funktioniert auch wunderbar. Aber jetzt plötzlich kommen neue Nachweispflichten auf die Unternehmen zu, Unternehmen übrigens, die gerade gar nicht wissen, womit sie anfangen sollen ob der Coronafolgen Ihrer Politik, ob der drohenden Gasknappheit, ob der Inflation, mit der sie auch kämpfen müssen. Die haben echt eigentlich keine Lust, jetzt eine EU-Richtlinie umzusetzen, die absolut niemandem etwas bringt. Zumal Sie in dem Gesetzentwurf auch noch schlecht von der Richtlinie abgeschrieben haben. Ja, Sie haben im Endeffekt deutsches Arbeitsrecht verunstaltet mit Tintenklecksen aus Brüssel, weil Sie Begriffe importiert haben, die zwar in der Richtlinie so halbwegs definiert sind, aber nirgendwo im deutschen Recht. Plötzlich taucht dort eine „Referenzstunde“ auf oder eine „begründete Antwort“ oder ein „entsprechender Arbeitsplatz“. Aber nirgendwo haben Sie das definiert, weder in der Begründung noch im Gesetzestext selbst. Damit ist der Gesetzentwurf einfach schlecht. Ich habe immer meinen Schülern gesagt: Lieber nicht abschreiben als schlecht abschreiben. – Das darf gerne auch einmal bei den Altparteien ankommen. ({3}) Die beiden großen Hauptprobleme sind tatsächlich neben der Bürokratielast diese Unsicherheit in den Rechtsfolgen gewisser Bestimmungen. Nach sechs Monaten sollen jetzt eben Leiharbeitnehmer und befristet Beschäftigte – und das mag ja gut sein – ein Übernahmegesuch an den Arbeitgeber stellen. Aber dieser Arbeitgeber muss dann eine „begründete Antwort“ geben. Die Frage ist: Was passiert denn, wenn es keine „begründete Antwort“ gibt? Und was ist vor allem eine „begründete Antwort“? Ist „Mir passt deine Nase nicht“ oder „Du bist mir zu häufig krank“ eine begründete Antwort? ({4}) Sie würden das sicherlich verneinen. Aber da sehen Sie schon, wie der Spielraum für Rechtsstreitigkeiten eröffnet wird. Das Gleiche bei der Probezeitdebatte; Herr Oellers hat es kurz angesprochen. Da soll jetzt die Probezeit bei befristeten Arbeitsverhältnissen im Verhältnis stehen zur Dauer des Arbeitsverhältnisses. Es steht aber nicht im Gesetz, was passiert, wenn die Probezeit zu lang ist, ob die dann einfach gar nicht gilt oder ob die als kürzer vereinbart gilt. Beide Definitionen sind möglich. Sie sehen schon: Sie lassen einfach einmal wieder eine Flut auf die Arbeitsgerichte zurollen, und das ist nicht in Ordnung. ({5}) Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf bringt keinem einzigen Arbeitgeber was, er bringt keinem einzigen Arbeitnehmer was, er bringt unserem Land nichts. Er bedient lediglich Ihr Bedürfnis, absolut unsinnige Vorlagen aus der Europäischen Union irgendwie, und zwar mehr schlecht als recht, in deutsches Recht umzusetzen. So kann man keine Politik machen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kerstin Griese, Frau Staatssekretärin! Die Arbeitswelt ist im Wandel. Arbeit ist globaler, mobiler und digitaler als je zuvor. Das wird auch noch viele Jahre so anhalten. Folgerichtig hat die EU ihre Richtlinie zu transparenten Arbeitsbedingungen überarbeitet und dabei den Arbeitnehmerschutz gestärkt und gleichzeitig dem Wandel der Arbeitswelt Rechnung getragen. Die neue Richtlinie schafft den Rahmen für bessere Arbeitsbedingungen nicht nur, aber auch in einer digitalen Arbeitswelt mit Öffnungsspielräumen für die Sozialpartner. Das ist genau der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist eine gute Grundlage. ({0}) Die Umsetzung in deutsches Recht liegt nun vor. An einigen Stellen geht sie über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus; das kritisiert die Union in ihrem Entschließungsantrag. Aber, Kollege Oellers, mal ganz ehrlich: Als Sie in der Regierung waren, waren sie großzügiger mit Draufsatteln und Gold-Plating, oder? Da kann ich mich aber noch richtig erinnern, nicht? ({1}) Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass das Gesetz die Möglichkeit einer Tariföffnungsklausel nutzt. Das hätte denjenigen, die das betrifft, bei der Ausgestaltung sinnvoller Rahmenbedingungen mehr Spielraum gegeben. Der DGB hat es in der Anhörung auf den Punkt gebracht: Das Gesetz zielt auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Na ja, meine Definition von „prekär“ und die des DGB mögen nicht gänzlich übereinstimmen; da verrate ich wohl kein Geheimnis. Aber sei’s drum, das vorliegende Gesetz erreicht dieses Ziel, und das ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Nun sind – Gott sei Dank – nicht alle Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland prekär. Circa 80 Prozent der Arbeitsverträge sind schriftlich und enthalten alle wesentlichen Vertragsbestandteile im Sinne des Nachweisgesetzes. 80 Prozent der Beschäftigten haben also einen nachweisersetzenden Arbeitsvertrag in der Hand – dachten wir jedenfalls. Das dachte vermutlich auch das BMAS, als es das Gesetz entwickelt hat. Die Annahme war: Für 20 Prozent verbessern wir, für 80 Prozent ändert sich nichts. Diese Annahme hat unserem Praxischeck leider nicht standgehalten. Teile der Wirtschaft haben längst ihre Personalverwaltung digitalisiert, Start-ups sowieso. Das spart unnötige Kosten und Bürokratie. Fachkräfte, sofern man überhaupt welche findet, sollen Werte schaffen und nicht Papier verwalten. ({3}) Viele Unternehmen haben ihre Personalverwaltung also längst digitalisiert. Digitale Arbeitsverträge sind erlaubt und bleiben es auch, den Nachweis ersetzen können sie jedoch nicht, und das ist auch richtig so. Im Kern geht es also um die Frage, ob der Nachweis in Schriftform erfolgen muss oder in elektronischer Form mit qualifizierter Signatur erbracht werden kann, solange der Arbeitnehmer damit einverstanden ist; das ist selbstverständlich die Voraussetzung. Befürchtungen, dass die Schriftform und die qualifizierte elektronische Signatur nicht gleichwertig sind, sind also unbegründet. § 126a BGB erkennt die Gleichwertigkeit mit der Schriftform ausdrücklich an, und die Prozessordnungen setzen diese Gleichwertigkeit für die Klageverfahren um. Das hat die Anhörung bestätigt. Die Branchen des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes würden bei einer Öffnung ebenso ausgeschlossen wie die geringfügige Beschäftigung. Aber es ist, wie es ist. Die gesetzliche Umsetzung erfolgt nun fristgerecht zum 1. August und verbessert den Arbeitnehmerschutz im Bereich der sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnisse. Das ist gut. Die digitale Rückständigkeit des deutschen Arbeitsrechts ({4}) besteht fort, und das ist schlecht. Für viele Unternehmen bedeutet das Nachweisgesetz tatsächlich einen Rückschritt, ein Zurück zum Papier. ({5}) In Zeiten von Fachkräftemangel und Inflation dürfen wir da nicht stehen bleiben. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Beate Müller-Gemmeke und Jan Dieren ({6}) für die wirklich sehr konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Hieran gilt es anzuknüpfen. Dann bin ich zuversichtlich, dass wir Versäumtes werden nachholen können. Es ist nicht klug, Positionen erst zu korrigieren, wenn Krieg oder Krise da ist. Diese schmerzliche Erfahrung habe ich, haben wir wahrscheinlich alle gemacht. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, bei weiteren Redebeiträgen Danksagungen und Ähnliches in die reguläre Redezeit einzupreisen. – Das Wort hat der Kollege Pascal Meiser für die Fraktion Die Linke. ({0})

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Recht haben und recht bekommen, das sind leider auch in der Arbeitswelt oft zwei verschiedene Paar Schuhe. Das gilt insbesondere für all jene, die eh schon unter äußerst prekären Bedingungen hart schuften, um überhaupt über die Runden zu kommen, so wie die Millionen Menschen in diesem Land, die leider jedes Jahr um Teile ihres Lohns oder ihres Urlaubs geprellt werden. Wir sollten uns in diesem Haus zumindest in diesem einen Punkt einig sein: dass diese unhaltbaren Zustände beendet werden müssen. ({0}) Ein Problem ist bekanntlich, dass viele der Betroffenen gar nicht wissen, welche Ansprüche ihnen überhaupt zustehen. Deshalb ist es gut, dass die Europäische Union jetzt Mindeststandards vorgibt, wie Arbeitgeber ihre Beschäftigten über deren Ansprüche und Rechte informieren müssen. Herr Kleinwächter, wenn man sich anhört, was für einen Unsinn Sie hier verzapfen, dann kann man nur froh sein, dass Sie das hier tun und nicht mehr als Lehrer vor Schülerinnen und Schülern in den Schulen tun dürfen. ({1}) Es ist äußerst bedauerlich, dass die Ampelkoalition bei der Umsetzung dieser europäischen Vorgaben in deutsches Recht doch nur Dienst nach Vorschrift macht. Ich will nur auf einige besonders gravierende Leerstellen ihres Gesetzentwurfs hinweisen. Erstens. Warum sorgen Sie nicht dafür, dass wirklich alle wesentlichen Informationen, die das Arbeitsverhältnis betreffen, bereits mit dem ersten Arbeitstag dem Beschäftigten ausgehändigt werden? Zweitens. Wieso verzichten Sie darauf, klar festzulegen, welche konkreten tarifvertraglichen Regelungen dem Beschäftigten schriftlich mitzuteilen sind? Durch einen abstrakten Verweis auf geltende Tarifverträge ist für Betroffene auch weiterhin nicht ohne Weiteres zu erkennen, ob sie zum Beispiel um Teile ihres Urlaubs geprellt werden oder nicht. Drittens. Warum verzichten Sie bei Verstößen gegen die Nachweispflichten auf einen verbindlichen Bußgeldrahmen? Die europäische Richtlinie schreibt explizit vor, dass die zu ergreifenden Sanktionen abschreckend sein müssen. Ein Bußgeld von bis zu 2 000 Euro, das nicht einmal erlassen werden muss, sondern nur erlassen werden kann, wird diesem Kriterium jedenfalls nicht gerecht. Meine Damen und Herren, das sind alles Kritikpunkte, die auch in der Anhörung vorgebracht wurden, etwa vom Deutschen Gewerkschaftsbund und der Beratungsstelle Faire Mobilität. Deshalb – ich komme zum Schluss – ist das, was Sie hier heute als Ampelkoalition verabschieden wollen, wirklich eine große vertane Chance. Wer wirklich dafür sorgen will, dass Beschäftigte künftig nicht mehr so leicht um ihren Lohn geprellt oder um anderweitige Ansprüche gebracht werden können, der muss bei einem solchen Thema mehr machen als einfach nur Dienst nach Vorschrift. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Zanda Martens das Wort. ({0})

Dr. Zanda Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Wir werden gleich ein Gesetz verabschieden, das die Arbeitsbedingungen in Deutschland spürbar verbessert. Ich will auf das Ziel dieses Gesetzes näher eingehen. Wir setzen mit diesem Gesetz die EU-Richtlinie über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union um. Ihr Ziel ist es, die Beschäftigten zu schützen, insbesondere die, die bislang ohne einen schriftlichen Arbeitsvertrag arbeiten müssen, Minijobber, Aushilfskräfte oder prekär Beschäftigte, also die, die am dringendsten auf den Schutz angewiesen sind. Die Arbeitgeber müssen ihren Beschäftigten deshalb die wesentlichen Informationen über die Arbeitsbedingungen, die sie festgelegt haben, schriftlich vorlegen. Das müssen die Arbeitgeber nach dem Nachweisgesetz schon heute tun, nur wird es zukünftig eine Ordnungswidrigkeit sein, wenn sie sich nicht daran halten. Dann droht ein Bußgeld von bis zu 2 000 Euro. Wir nehmen noch weitere wesentliche Arbeitsbedingungen auf, über die jeder Beschäftigte informiert werden muss: die Dauer der Probezeit zum Beispiel, die Zusammensetzung und die Höhe des Arbeitsentgelts, die Vergütung von Überstunden, Zuschläge, Zulagen, Prämien und Sonderzahlungen sowie die vereinbarte Arbeitszeit, Ruhepausen und Ruhezeiten. Aber im Fall der Fälle muss man als Beschäftigter seine Rechte nicht nur kennen, sondern auch beweisen. Dafür war bisher die Schriftform erforderlich. Dabei bleibt es auch, und das ist gut und richtig so, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir als SPD lassen es nicht zu, dass unsere Beschäftigten über ihre wichtigsten Arbeitsbedingungen lediglich in elektronischer Form informiert werden, die nicht sicher ist und so im Streitfall nicht als Beweismittel dienen kann. Diejenigen, die hier versuchen, den Eindruck zu vermitteln, dass das Festhalten an der Schriftform furchtbar rückständig wäre, eine unglaubliche Hürde für die Arbeitgeber, gar ein Bärendienst an der Digitalisierung, diejenigen will ich noch einmal klar und deutlich an das Ziel der Richtlinie und des Gesetzes erinnern: Das Ziel ist und bleibt der Schutz von Beschäftigten, ihrer Rechte und Interessen gegen die Willkür mancher Arbeitgeber. ({0}) Die Richtlinie sieht Mindeststandards vor. Aber wir sollten die Beschäftigten in Deutschland nicht mit Mindeststandards zufriedenstellen wollen. Ich will den bestmöglichen Schutz für die Beschäftigten. Unser Rechtssystem kennt die Schriftform nun einmal als die sicherste Form für viele verschiedene Rechtsgeschäfte, und sie funktioniert hervorragend. Warum sollten wir ausgerechnet bei Arbeitsverhältnissen diesen hohen Standard zum Nachteil der Beschäftigten unnötig aufweichen? Diese Rechtssicherheit für die Beschäftigten zu gefährden, das wäre das genaue Gegenteil von dem, was wir mit unserem Gesetz erreichen wollen. Wir wollen die Arbeitsbedingungen verbessern und nicht verschlechtern. ({1}) Ich freue mich von Herzen für alle Beschäftigten, dass wir in diesem 20. Deutschen Bundestag eine Mehrheit dafür haben. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vielen Dank, auch für die Punktlandung, was das Einhalten der Redezeit betrifft. – Das Wort hat der Kollege Maximilian Mörseburg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maximilian Mörseburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005159, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns im Jahr 2022 nach Christus. Ganz Europa kann nun den digitalen Arbeitsvertrag einführen. Ganz Europa? ({0}) Nein! Eine unbeugsame Regierungskoalition im Deutschen Bundestag hört nicht auf, gegen die digitalen Eindringlinge Widerstand zu leisten. ({1}) Es ist ja grundsätzlich zu begrüßen, dass unsere Regierung scheinbar den Kampfeswillen der unbeugsamen Gallier hat, ({2}) es fragt sich nur, gegen was Sie hier so beharrlich kämpfen. Im Koalitionsvertrag steht doch, Sie wollen Digitalisierung voranbringen und bürokratische Hemmnisse abbauen. Ich möchte es jetzt nicht für Sie noch ein zweites Mal zitieren; stattdessen wiederhole ich lieber die Worte des Kollegen Cronenberg von der FDP-Fraktion aus der letzten Debatte. Er sagte: Machen wir möglich, dass sich die Betriebe so digital präsentieren dürfen, wie die neuen Beschäftigten … Und weiter: Dazu gehören heute eben auch elektronische Arbeitsverträge. Er hat es heute wieder bestätigt. ({3}) – Ja, es geht um den Nachweis im Nachhinein. Das ist im Prinzip das Gleiche; denn das Schriftstück kommt doch auf jeden Fall, Frau Müller-Gemmeke. ({4}) Der Kollege Cronenberg hatte uns die schöne Geschichte vom ersten Job seines Sohnes erzählt, der sich über den digitalen Arbeitsvertrag gefreut hat. Ich kann gut verstehen, dass Sie sich nicht getraut haben, Ihrem Sohn zu sagen, dass dieser Arbeitsvertrag gegen § 2 Absatz 1 Satz 3 Nachweisgesetz verstoßen hat. Ich verstehe das, weil Sie heute ja nichts an dieser veralteten Rechtslage ändern. Um dieses unangenehme Gespräch von letztem Mal zu Hause zu vermeiden, gibt es eine ganz einfache Lösung: Sie stimmen einfach dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu, dann haben Sie sich das schon mal gespart. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mörseburg, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke? ({0})

Maximilian Mörseburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005159, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es geht ganz schnell. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie das Gesetz gelesen haben und ob Sie bemerkt haben, dass es in keiner Weise um Arbeitsverträge geht. In Deutschland können Arbeitsverträge per Hand geschlossen werden, sie können einfach mündlich, schriftlich, digital – egal wie – geschlossen werden. Wir ändern daran nichts. Es geht um Nachweispflichten. Von daher wäre es schön, wenn Sie heute einfach mal über die Nachweispflichten reden würden und nicht über den Arbeitsvertrag. ({0})

Maximilian Mörseburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005159, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Möglichkeit, das noch mal zu spezifizieren. Es ist schön, dass Sie dieses Gesetz ebenfalls gelesen haben. Natürlich kann man den Arbeitsvertrag einfach per Handschlag oder digital abschließen. Aber durch das Nachweisgesetz muss man dann die Informationen aus dem Arbeitsvertrag im genau gleichen Maße ({0}) schriftlich an die Person weiterleiten. Das führt im Praxistest dazu, dass die Arbeitsverträge eben doch schriftlich abgeschlossen werden, ({1}) weil wir diese Informationen doch geben müssen. Wir können heute darüber reden, dass es genau genommen nur der Nachweis über die wichtigen Informationen aus dem Arbeitsvertrag ist. ({2}) Aber de facto ist es doch der schriftliche Arbeitsvertrag, Frau Kollegin. ({3}) Auch aus Ihrer Fraktion, Frau Kollegin, sind entsprechende Stimmen gekommen. Sie wollen doch inzwischen auch, dass wir auf den elektronischen Weg umstellen. Aber, liebe Grüne und liebe FDP, Sie verhindern die Digitalisierung dieses Prozesses der SPD zuliebe. Die hat für das Ganze hauptsächlich einen Grund: Das machen wir seit 1995 schon so, und deswegen sollten wir es auch weiterhin so machen. – Außerdem konnte Herr Dieren als Jugendlicher anscheinend nicht unbedingt eine E‑Mail öffnen, um seine Rechte zu lesen; das ist ja schön und gut. ({4}) Wenn Sie wirklich eine Fortschrittskoalition sein wollen, dann bemisst sich das daran, wie Sie handeln, und nicht daran, wie oft Sie das behaupten. Heute haben Sie die Möglichkeit dazu, eine Fortschrittskoalition zu sein. Stimmen Sie einfach unserem Antrag zu, und gut ist es! ({5}) Vielen Dank. ({6})

Volker Mayer-Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne und zu Hause! Kennen Sie den original polnischen Bodenseefelchen? Ein Speisefisch, der niemals auch nur einen Schluck Bodenseewasser durch seine Kiemen bekommen hat, sondern viele Hundert Kilometer weit mit dem Lkw auf die Teller der Konsumenten geliefert wird, die eigentlich Regionales erwarten. Oder kennen Sie sonnengereifte italienische Tomaten, die tatsächlich aber niemals die rote Sonne Apuliens, sondern vielmehr den roten Drachen Chinas zu Gesicht bekommen haben? Kennen Sie vielleicht Anti-Aging-Cremes, nach deren Verwendung man älter aussieht als davor? Oder kennen Sie Fünf-Sterne-Bewertungen auf Internetportalen, hinter denen sich aber wahre Ramschprodukte verbergen, die die Käufer zu Hause schwer enttäuscht auspacken? Vom Kleinkind bis zum Senior, alle sind wir Verbraucherinnen und Verbraucher, Konsumenten, Käufer und Anwender, und wir alle haben uns sicherlich schon das eine oder andere Mal an der Nase herumführen lassen, weil wir Produktbeschreibungen und Produktnamen vertraut haben, die etwas anderes versprochen haben, als uns schlussendlich erwartet hat. Dabei sind die meisten Menschen in diesem Land durchaus kritisch bei ihrem Verbraucherverhalten: Sie vergleichen, sie forschen nach, sie überprüfen. Und trotzdem passiert es immer wieder, dass wir allesamt in gewissem Maße in die Irre geführt werden, und das, meine Damen und Herren, sollten wir ändern. ({0}) In unserem Antrag stellen wir fest, dass eine fundierte Verbraucherinformation – keine Bevormundung, sondern eine gesunde Information – immer die Basis für eine bewusste Kaufentscheidung sein sollte, und da gibt es Nachholbedarf. Das wird uns auch vor dem Hintergrund der aktuellen Krise deutlich. Wenn zum Beispiel der Tankrabatt der Bundesregierung sicherlich gut gemeint war, so wird hinterfragt, ob er denn überhaupt bei den Menschen ankommt. Oder machen sich am Ende die Mineralölkonzerne die Taschen voll? Wir fordern in unserem Antrag eine vollständige Preistransparenz beim Verkauf von Kraftstoffen an Tankstellen. Durch eine verpflichtende Offenlegung aller Preisbestandteile kann für jeden nachvollzogen werden, ob der Tankrabatt die gewünschten Effekte hat oder eben nicht. Das ist es, was wir wollen. ({1}) Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, neben einer nationalen Herkunftskennzeichnung für Lebensmittel, der Eindämmung von irreführenden Produktbezeichnungen oder einem Vorgehen gegen Fake-Bewertungen im Internet sich auf europäischer Ebene für die Möglichkeit von Produktinformationen in Form von QR-Codes direkt auf dem Produkt einzusetzen. So könnten auch Umverpackungen und damit Müll eingespart werden. ({2}) Unterstützen Sie unseren Antrag! Denn das wäre auch eine Unterstützung der Menschen in ihrem Alltag. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Nadine Heselhaus für die SPD-Fraktion. ({0})

Nadine Heselhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Chapeau, liebe Union! Ein solcher Antrag von einer Fraktion, die in den letzten Wahlperioden verbraucherpolitisch permanent auf der Bremse stand – das ist schon mutig. ({0}) Nehmen wir den Ernährungsbereich, der in Ihrem Forderungskatalog viel Raum einnimmt. Wer hat denn beispielsweise die nationale Einführung des Nutri-Scores so lange wie möglich verhindert? – Ihre Ministerin Julia Klöckner! ({1}) Dabei ist der Nutri-Score eine Erfolgsgeschichte. Mittlerweile ist er in Deutschland auf den Produkten von fast 600 Marken zu finden. Die farbliche Nährwertkennzeichnung hilft, sich bewusst und ohne großen Aufwand für gesündere Lebensmittel zu entscheiden. Die SPD hat sich jahrelang dafür eingesetzt, und es ist gut, dass Cem Özdemir jetzt daran arbeitet, ({2}) den Nutri-Score europaweit verbindlich zu machen. ({3}) Oder nehmen wir an Kinder gerichtete Werbung für besonders zucker-, fett- oder salzhaltige Lebensmittel. Auch das hat ja mit Verbraucherinformation und Kaufverhalten zu tun, und auch da standen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in der Großen Koalition einer wirksamen Regulierung zum Wohle unserer Kinder im Weg. Gleiches gilt für das von Ihnen jetzt angeführte Verbraucherinformationsgesetz und das Internetportal „lebensmittelwarnung.de“. Einige Ihrer Forderungen sind zwar ganz nett, aber überflüssig, weil bereits auf dem Weg oder in Planung. Auch Sie verstehen sicher, dass der verbraucherpolitische Fokus der Bundesregierung in den vergangenen Monaten vor allem darauf lag, die privaten Haushalte angesichts der enormen Preissteigerungen finanziell zu entlasten. Ihren Antrag werte ich deshalb weniger als ernsthaften Beitrag oder Ausdruck eines wundersamen Sinneswandels, sondern vielmehr als Griff in die politische Trickkiste. ({4}) Wir in der Ampel bringen lieber wirklich etwas voran, ({5}) darunter eben auch das, was mit Ihnen in der Vergangenheit eben nicht ging. ({6}) So werden wir ein staatliches Tierwohllabel einführen, an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel verbieten und eine Ernährungsstrategie beschließen. Und diese Linie verfolgen wir nicht nur im Ernährungsbereich, sondern in der gesamten Verbraucherpolitik, vom Ausbau der Schuldnerberatung bis zur Neuregelung der Unabhängigen Patientenberatung, vom Recht auf Reparatur bis zur Bestätigungslösung für telefonisch geschlossene Verträge, um nur einige Beispiele aus dem Koalitionsvertrag zu nennen. Was in Ihrem Antrag leider komplett fehlt, ist die Verbraucherbildung; denn um bewusste Kaufentscheidungen zu fördern, brauchen wir nicht nur mehr Transparenz und bessere Regulierung. Wir müssen auch die Konsumierenden selbst stärken, ihr Urteilsvermögen und ihr Bewusstsein etwa für nachhaltigen Konsum: Wie nachhaltig kann eine Jeans für 10 Euro sein? Wie sinnvoll ist ein Ratenkredit? Welche Versicherungen brauche ich denn eigentlich wirklich? Das sind Fragen, denen alle Menschen früher oder später begegnen. Zu wenige davon spielen aber im Schulalltag und damit an dem Ort eine Rolle, der junge Menschen auf ihr späteres Leben vorbereiten soll. Deshalb ist es mir ein Anliegen, die Verbraucherbildung auszubauen. ({7}) Ein realistisches Verbraucherbild berücksichtigt auch, dass Voraussetzungen und Lebensumstände von Konsumierenden unterschiedlich sind. Soziale Situation, Bildungsniveau und Sprachkenntnisse spielen eine wichtige Rolle bei Kaufentscheidungen. Notwendig sind daher mehrsprachige und auf verschiedene Zielgruppen abgestimmte Informations- und Beratungsangebote. An dieser Stelle danke ich den Verbraucherzentralen; denn sie haben schon bald nach Beginn des Krieges in der Ukraine reagiert und umfassende verbraucherrelevante Informationen für ukrainische Geflüchtete bereitgestellt – auf Ukrainisch, wohlgemerkt. Diese Form von zielgruppenorientierter Verbraucherarbeit ist der richtige Weg, und den wird auch diese Koalition politisch konsequent weiterverfolgen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zunächst einmal einen guten Abend! Zu später Stunde geht es nun um Verbraucherpolitik, und die Union versucht sich daran. Die Spritpreise sind so hoch wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie sind in den letzten zwei Jahren so schnell gestiegen wie noch nie zuvor, und das schon lange vor Putins Angriff auf die Ukraine. Es ist genau das eingetreten, was die Grünen schon immer wollten: Individualverkehr wird teurer und teurer. Jetzt will die CDU/CSU plötzlich dagegenhalten. Ihr Antrag liest sich wie ein Sammelsurium aller Vorhaben, die Sie in 16 Jahren an der Regierung nicht haben umsetzen können, weil 16 Jahre ja viel zu kurz sind. ({0}) Aber tatsächlich sind Sie mitverantwortlich für die extreme Preissteigerung; denn beim Klimawahn mit einer CO2-Abgabe nach der anderen haben Sie brav mitgemacht. Sie rücken die Verbraucherzentralen in den Fokus. Liebe Kollegen von der Union, es waren Sie selbst, die es zugelassen haben, dass der Bundesverband der Verbraucherzentralen zur Versorgungszentrale der Grünen degradiert wurde. Seit 15 Jahren wird der Vorstand durchgehend mit grünen Parteipolitikern besetzt. Gerd Billen, Klaus Müller und jetzt Ramona Pop, diese Personalia veranschaulichen beispielhaft: Die Grünlinken haben sich Staat und Gesellschaft zur Beute gemacht, und zwar unter Duldung der Union. ({1}) Jetzt haben Sie Ihr Interesse am Verbraucherschutz entdeckt; besser spät als nie, kann man da nur sagen. Immerhin positionieren Sie sich in dem Antrag klar gegen die Mode des veganen Fleischersatzes aus pflanzlichen Abfallprodukten. Früher wären solche Waren schlichtweg als Lebensmittelfälschungen betrachtet worden. Heute glaubt die gläubige Gemeinschaft der heiligen Vegania, sich dabei besonders gesund zu ernähren, mitunter wegen fehlender Kennzeichnung. ({2}) Sonderlich originell ist Ihr Antrag aber nicht. Die Österreicher zum Beispiel sind uns meilenweit voraus. Sie haben schon seit mehreren Jahren einen elektronischen Spritpreismonitor. Darüber hinaus erlaubt die österreichische Spritpreisverordnung Preisänderungen nur einmal täglich um Punkt zwölf Uhr. Das ist auch für Deutschland eine Überlegung wert. Die Teuerung des Rohöls muss aber zu einer viel wichtigeren Erkenntnis führen, nämlich dass der von der Union verantwortete Ausstieg aus Kohle und Kernkraft ein Desaster ist. Was die AfD seit vielen Jahren sagt, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Sogar in die „Tagesthemen“ hat diese Position Eingang gefunden – ich zitiere –: Kein großes Industrieland ist uns auf dem Irrweg des überstürzten Ausstiegs aus der Atomkraft gefolgt. AfD wirkt, wenn auch oft erst Jahre später. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Linda Heitmann das Wort. ({0})

Linda Heitmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005078, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Unionsfraktion, Lebensmittelkennzeichnung, Tankrabatt, UPD, Verbraucherinnenschutz, Konferenzergebnisse und Verbraucherschlichtung – ich muss ehrlich sagen: Glückwunsch! In diesem Antrag haben Sie wirklich alles untergebracht, was Ihnen zum Thema Verbraucherinnen gerade eingefallen ist, so mein Eindruck. Dabei finde ich zwei Punkte ganz besonders faszinierend. Im Titel und auch fast im gesamten Antrag findet sich der Begriff „Verbraucherinformation“ – im Sinne von Verbraucherbildung und Verbraucheraufklärung –, den sie auch in der letzten Legislatur bei diesem Thema fast ausschließlich genutzt haben. Eigentlich geht es in vielen Punkten in diesem Antrag aber um echten Verbraucherinnenschutz. Das ist der zweite faszinierende Punkt: Sie fordern hier sehr konkrete Dinge im Verbraucherinnenschutz, die diesen auch wirklich voranbringen würden, die Sie in der letzten Legislatur aber immer wieder blockiert haben. Ich sage nur: Lebensmittelkennzeichnung. Meine Kollegin Frau Heselhaus hat das schon erläutert. Gerade beim Nutri-Score stand Ihre Ministerin Frau Klöckner in der letzten Legislatur auf der Bremse. Man musste sie wirklich zum Jagen tragen. ({0}) Und jetzt fordern Sie hier genau das flächendeckend ein. ({1}) Sie fordern – das ist ja richtig – eine europaweit einheitliche, verlässliche Kennzeichnung bei Lebensmitteln. Unser Minister Cem Özdemir – das konnte man in der Presse in den letzten Wochen gut nachverfolgen – arbeitet bereits sehr intensiv daran. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, in diesem Punkt von Ihnen bestätigt. Wir sind hier als Ampel offenbar tatsächlich auf dem richtigen Weg. ({2}) Auch andere Forderungen aus Ihrem Antrag setzen wir bereits um. Zur Unabhängigen Patientenberatung hatten wir gerade gestern ein Berichterstatterinnentreffen und haben wichtige Eckpunkte für eine Neuaufstellung festgeklopft. Denn wir möchten, dass die UPD künftig, ab 2024, die Patientinnen und Patienten in Deutschland auch wirklich unabhängig berät und nicht länger in der Trägerschaft eines Pharmakonzerns, sondern staatsfern und unabhängig ist, um wirklich gute Beratung für alle gewährleisten zu können. Ein zentraler Punkt im Bereich Verbraucherinnenschutz fehlt mir in Ihrem Antrag allerdings, nämlich das Thema Greenwashing. Sie wollen übersichtliche Labels und Produktkennzeichnungen. Volle Zustimmung! Das Problem ist nur: Momentan ist es bei Begriffen wie „nachhaltig“, „ökologisch abbaubar“, „klimaneutral“ oder auch „umweltfreundlich“ leider so, dass wir von einer Einheitlichkeit in Deutschland und auch in Europa weit entfernt sind. Unternehmen können mit diesen Begriffen werben. Sie können sie groß auf ihre Packungen drucken, ohne erklären zu müssen, was sich dahinter eigentlich genau verbirgt. Das führt unter anderem dazu, dass Produkte, die aus sogenanntem recycelbaren Plastik bestehen, nicht nur in den Supermarktregalen stehen, sondern am Ende auch in der Biotonne landen, weil die Verbraucherinnen denken, diese Kunststoffe seien tatsächlich in der Biotonne abbaubar. Das sind sie aber leider nicht. Genau hier brauchen wir mehr Aufklärung. Wir brauchen klare Kriterien, Nachvollziehbarkeit und Ehrlichkeit, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich wissen, mit welchen Produkten sie es zu tun haben. ({3}) Ich sehe wirklich gute Ansätze in Ihrem Antrag. Arbeiten Sie mit uns zusammen in dieser Legislatur daran, dass wir auch im Bereich Greenwashing klare Richtlinien hinbekommen! Dann kommen wir beim Verbraucherinnenschutz gemeinsam ein großes Stück weiter. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede des Kollegen Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll. ({0}) – Das wird ihm sicherlich übermittelt. Das Wort hat der Kollege Muhanad Al-Halak für die FDP-Fraktion. ({1})

Muhanad Al-Halak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005008, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Union, im vorliegenden Antrag soll es um die Stärkung von Verbraucherinformationen gehen. Verbraucht hat dieser Antrag vor allem meine Nerven. Informativ ist er aber trotzdem; denn er zeigt, dass der Fachkräftemangel inzwischen auch bei der Union angekommen ist. ({0}) Sie stellen 22 Forderungen auf: 16 auf nationaler Ebene, 6 auf europäischer Ebene. Ich sage: gute Zusammenfassung und ein großes Dankeschön für die Hitparade aus 16 Jahren Baustellen, die mit der Union nicht angegangen werden konnten. ({1}) Sie fordern, das Verbraucherinformationsgesetz an die Digitalisierung und den technischen Fortschritt anzupassen. Sie fordern, einen Beschluss der Verbraucherschutzministerkonferenz von vor zwei Jahren umzusetzen. Sie haben auch QR-Codes entdeckt, die Sie jetzt auf allen Ebenen fordern – #Digitalisierung. Sie fordern hektisch alles Mögliche, in allen möglichen Bereichen. Aber wo ist Ihr Ansatz? Welches Verbraucherbild haben Sie eigentlich, ({2}) welches Problembewusstsein aus den letzten 16 Jahren? Sie schreiben von bewussten Kaufentscheidungen. Das wollen wir alle. Aber das erreichen wir nicht, wenn wir auf Herausforderungen in einer komplexen Verbraucherwelt mit Antworten aus den Neunzigern reagieren. ({3}) Wenn wir Innovation und Verbraucherschutz zusammen denken wollen, dann müssen wir bei der Verbraucherbildung ansetzen und diese entschieden stärken, meine Damen und Herren. ({4}) Wir müssen auch darauf hinwirken, dass Kreativität, Innovation und bewusste Verbraucher den Zukunftsmarkt für unsere Wirtschaft und die folgenden Generationen bilden. Deswegen, meine Damen und Herren, stärken wir Verbraucherschutzorganisationen wie die Verbraucherzentrale und die Stiftung Warentest. Das haben Sie in Ihrem Wahlprogramm abgelehnt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. Deswegen haben wir in unserem Koalitionsvertrag auch ein Recht auf Reparatur festgeschrieben. Denn schonend mit Ressourcen umzugehen, ist überlebenswichtig; schonend mit Ressourcen umzugehen, ist strategisch wichtig – heute mehr denn je –; schonend mit Ressourcen umzugehen – über das Wegschmeißen hinaus –, ist wichtig für Innovation und Wertschöpfung. Das, meine Damen und Herren, sind Leitplanken für einen Verbraucherschutz, der mündige Entscheidungen ermöglicht und Raum für Wettbewerb und Innovationen lässt. ({5}) Meine Damen und Herren der Union, alles, was Sie in 16 Jahren nicht auf den Weg gebracht haben, schreiben Sie jetzt in Ihren Antrag. ({6}) Das ist keine konstruktive Oppositionsarbeit; das ist Traumabewältigung. ({7}) Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei. Diese Koalition wird Ihnen im Rückspiegel dabei zusehen. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Christina Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005235, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen auf mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist das Leitbild unserer Union. Sie sollen und wollen eigenverantwortliche und bewusste Entscheidungen treffen. Damit sie das auch können, brauchen sie an erster Stelle Aufklärung und Information. Ob es um das Bauen, um Reisen, um Geldanlagen, Gesundheitsdienstleistungen oder eben um Ernährung geht: Nur mit Übersichtlichkeit bei der Regulierung und mit mehr Transparenz stärken wir das Verbrauchervertrauen. ({0}) Nehmen Sie zum Beispiel die Aussagen auf Lebensmittelverpackungen, die einen Inhalt suggerieren, der nicht wirklich vorhanden ist, weil zum Beispiel die abgebildeten Früchte tatsächlich nur minimal enthalten sind. Aber gerade beim Lebensmitteleinkauf gilt: Wir wollen klar erkennen können, was in den Produkten drinsteckt, woher sie kommen und wie sie erzeugt wurden. Kürzlich hat der Bundeslandwirtschaftsminister endlich erste Eckpunkte für die für dieses Jahr zugesagte staatliche Tierhaltungskennzeichnung vorgestellt. Doch was er da präsentiert hat, ist kaum der Rede wert. Was nützt eine Kennzeichnung, wenn sie ohne Finanzierungskonzept daherkommt? Liebe Ampel, wie wäre es denn, wenn Sie eine solide Planung erarbeiten, die auch zeitnah umgesetzt wird, und sich nicht immer in unkonkreten Ankündigungen verlieren, sondern endlich Taten folgen lassen? ({1}) Zur Wahrheit, liebe Frau Heselhaus, gehört auch: Sie von der SPD haben in der letzten Legislaturperiode dem Nutri-Score zugestimmt; er wurde gemeinsam auf den Weg gebracht. ({2}) Meine Damen und Herren, auch die Herkunft von Fleischprodukten muss klar erkennbar sein, und zwar im Supermarkt und in der Gastronomie; sonst wird Fleisch aus Deutschland unbemerkt durch billigere Alternativen aus dem Ausland ersetzt. Hier müssen wir national vorangehen und dürfen nicht auf die EU warten. Hier braucht es wirklich eine transparente Regelung. Wie soll man sich sonst gezielt für heimische, regionale Produkte entscheiden können? Noch wichtiger ist Transparenz bei der Lebensmittelsicherheit. Salmonellen in Schokoladeneiern, Listerien in Gurkenscheiben, das möchten wir nicht haben. Solche Meldungen haben uns aber in den letzten Monaten immer wieder aufgeschreckt. Die Verbraucherschaft erfährt von Missständen in Lebensmittelbetrieben oft erst, wenn fatale Krankheitsausbrüche aufgetreten sind. Das darf nicht passieren, das gefährdet unsere Gesundheit und – noch schlimmer, wie zuletzt im Fall Ferrero – die Gesundheit unserer Kinder. Hilfreich wäre beispielsweise ein Verbraucherbarometer oder ein Smiley, das die Verbraucher über alle erfolgten amtlichen Kontrollen in geeigneter Weise informiert. Hierzu gibt es noch keine einheitliche gesetzliche Regelung. Die Bundesländer können bereits derzeit eine solche Transparenzregelung einführen, wenn sie dies möchten. Wenn wir einen Flickenteppich für die Verbraucher vermeiden wollen, wäre aber eine bundeseinheitliche Lösung sinnvoll. ({3}) Die für den Verbraucherschutz geltenden Transparenzregelungen finden sich in sage und schreibe vier verschiedenen Gesetzen wieder. Es wäre an der Zeit, eine Überarbeitung vorzunehmen und das Zusammenspiel neu zu regeln. Es wäre nicht nur an der Zeit, meine Damen und Herren, es ist an der Zeit für flächendeckend mehr Information und Transparenz für unsere Verbraucherinnen und Verbraucher.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin.

Christina Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005235, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sorgen Sie dafür, und stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({0})

Maximilian Mordhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist 22.03 Uhr. Ich nehme Ihre Worte gerne auf und fasse mich entsprechend kurz. Wir reden über ein sehr ernstes Thema. Die Ampelkoalition hat sich diesen Auftrag nicht selbst gegeben, er wurde uns im letzten Jahr vom Bundesverfassungsgericht erteilt, und wir führen ihn jetzt ordnungsgemäß aus. Worum geht es? § 233a Abgabenordnung, der die Zinsen für Steuernachzahlungen und Steuererstattungen regelt, und § 238 Abgabenordnung, der die Höhe regelt, werden geändert. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich festgestellt, dass der Zinssatz in Höhe von 6 Prozent – das kann man sich vielleicht vorstellen; darauf hätte auch eine frühere Regierung schon kommen können – nicht mehr unbedingt der Realität entspricht. ({0}) – Sie zeigen mit dem Finger auf andere. Drei Finger Ihrer Hand zeigen währenddessen auf Sie selbst. – Dieser Zinssatz ist nicht mehr unbedingt angemessen. Wir werden das mit unserem Gesetzentwurf rückwirkend so ändern, dass der Zinssatz statt 0,5 Prozent pro Monat nur noch 0,15 Prozent pro Monat beträgt. Das bedeutet 1,8 Prozent im Jahr statt 6 Prozent im Jahr, also eine Senkung. Wir halten nichts davon, die Verzinsung abzuschaffen, weil es weiterhin eine Regulierung in dem Maße braucht, vor allem dann, wenn jemand Steuern nachzahlen muss. Insofern glaube ich, dass wir mit 0,15 Prozent pro Monat einen guten Zinssatz gefunden haben. Er errechnet sich aus verschiedenen anderen Sätzen. Das kann man sehr genau nachlesen, wenn man es denn möchte. Ich glaube, das ist insgesamt eine gute Lösung. Es ist auch wichtig, dass wir, wenn wir den Zinssatz rückwirkend zum 1. Januar 2019 ändern, den Vertrauensschutz aufrechterhalten. Bei Erstattungen kann der niedrigere Zinssatz nicht rückwirkend gelten; das wäre unfair gegenüber denjenigen, die mit einem bestimmten Zinssatz gerechnet haben. Ab der Änderung werden wir den Zinssatz für Erstattungen aber anpassen und angleichen. Wir werden diese Regelung zügig evaluieren – das bedeutet, ab dem 1. Januar 2024 –, weil wir wissen oder die Erwartung haben können, dass die Zinsen, wie wir es jetzt erleben, wieder steigen; davon können nicht nur der Bundesfinanzminister und die Haushälter ein Lied singen. Ich glaube, dass wir damit eine flexible, gleichzeitig nicht zu flexible Regelung gefunden haben, die die Steuerverwaltung und die Steuerberater nicht vor zu große Herausforderungen stellt. Insofern ist das, glaube ich, ein gutes Ergebnis, dem auch wer zu dieser späten Stunde aufmerksam ist, mit gutem Gewissen zustimmen kann. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sebastian Brehm das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie immer zu später Stunde sprechen wir über die Abgabenordnung. Ich sage das ja immer gerne: Das ist die stille Erotik des deutschen Steuerrechts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 8. Juli 2021 die Vollverzinsung in der bisherigen Höhe ab 2014 für nicht rechtens erklärt und sie, aus pragmatischen Gründen, ab 2019 abgeschafft. Wir haben in der letzten Legislaturperiode schon vor Ergehen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts versucht, den Zinssatz anzupassen. Das ist damals leider gescheitert – am heutigen Kanzler und damaligen Bundesfinanzminister Scholz. Lieber Kollege Mordhorst, Sie haben gesagt – die Grünen haben es auch gesagt –, Sie täten jetzt das, was das Gericht Ihnen aufgetragen hat. Leider tun Sie nicht mehr; denn einiges wäre noch zu tun. Ich sage: Ihnen fehlt hier der Gestaltungswille. Ich möchte in der kurzen Zeit drei Punkte ansprechen: Der erste Punkt ist eine Frage der Systematik. Wenn man den Zinssatz für Steuererstattungen und den Zinssatz für Steuernachzahlungen auf 0,15 Prozent pro Monat anpasst, dann müsste man auch die dazugehörenden Zinssätze – für Aussetzungszinsen, für Prozesszinsen, für Stundungszinsen – anpassen; das ist aus der Anhörung, glaube ich, deutlich hervorgegangen. Das tun Sie aber nicht. Übrigens: Man hätte die Verzinsung auch ganz abschaffen können. Die Erhebung der Zinsen bedeutet für die Verwaltung nämlich mehr Aufwand, als an Ertrag entsteht. Darauf sind Sie noch eine Antwort schuldig geblieben. Der zweite Punkt. Sie müssen einen Systemfehler beheben – wir haben in der letzten Legislaturperiode versucht, das zu korrigieren; aber Sie sind anscheinend auch an der SPD gescheitert –: Die Erstattungszinsen sind steuerpflichtig, aber Nachzahlungszinsen lassen sich steuerlich nicht ansetzen. Diesen Systemfehler hätten Sie jetzt korrigieren können. Das haben Sie aber leider nicht gemacht. Ich komme zum dritten Punkt – der für meine Begriffe eine Rechtsunsicherheit hervorruft, die schwierig ist –: Sie ziehen bei der Berechnung des Zinssatzes die Konsumentenkredite heran. Wenn Sie den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts genau anschauen, dann sehen Sie, dass die Konsumentenkredite dort nicht als Grundlage für die Berechnung des Zinssatzes dienen, sondern man hätte sich auch an den Unternehmenskrediten ausrichten müssen. Das tun Sie nicht. Das bedeutet, der Zinssatz ist eigentlich zu hoch bemessen. Das wird zu Rechtsunsicherheit führen, weil nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die ersten Klagen dagegen kommen werden. Sie sind dafür verantwortlich, wenn wir jetzt Rechtsunsicherheit haben. Ich hätte mir gewünscht, dass man das noch anpasst. Übrigens: Bei der Evaluierung machen Sie es dann richtig; da knüpfen Sie dann an den Basiszinssatz an. Das ist unlogisch. Wenn, muss man eine transparente und klare Regelung machen. Aber gut, Sie machen die drei Dinge nicht; Sie sind hier mutlos. Sie setzen um, was das oberste Gericht uns aufgetragen hat, aber anders. ({0}) Das schafft Rechtsunsicherheit. Deswegen müssen wir den Gesetzentwurf so ablehnen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Nadine Heselhaus das Wort. ({0})

Nadine Heselhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat den Bundestag verpflichtet, den Zinssatz für Steuernachzahlungen und Steuererstattungen bis Juli 2022 neu zu regeln. Dabei wurde es dem Gesetzgeber überlassen, eine neue, angemessene Zinshöhe zu finden. Für die SPD stand bereits zu Beginn fest, dass der neu berechnete Zinssatz transparent sein muss. Das ist wichtig; denn nur ein nachvollziehbarer Wert führt zu Akzeptanz bei den Steuerpflichtigen. ({0}) Der bislang geltende Zinssatz liegt bei 6 Prozent pro Jahr. Das ist bereits seit 60 Jahren so und wurde lange Zeit als gegeben akzeptiert. Sowohl während Hochzinsphasen als auch in Zeiten niedriger Zinsen wurde keine Anpassung des Zinssatzes vorgenommen. Da die aktuelle Niedrigzinsphase bereits länger anhält und die Zinsen sich zwischenzeitlich sogar im Minus bewegten, ist eine Anpassung allerdings erforderlich. Die Umsetzung erfolgt dabei rückwirkend zum 1. Januar 2019. Der Gesetzentwurf sieht, wie eben schon ausgeführt, einen Zinssatz von 0,15 Prozent pro Monat, also 1,8 Prozent pro Jahr, vor. Dabei handelt es sich um ein Mischzinssatz von Guthabenzinsen und Verzugszinsen. Das ist auch schlüssig, weil es sich um einen gemeinsamen Zinssatz sowohl für Nachzahlungen als auch für Erstattungen handelt. Meiner Fraktion war es wichtig, dass die Zinshöhe in regelmäßigen Abständen durch den Bundestag bewertet wird. Eine Überprüfung mindestens alle zwei Jahre wird sicherstellen, dass sich der Zinssatz auch zukünftig in angemessener Höhe bewegt. ({1}) Die erste Überprüfung wird bereits zum 1. Januar 2024 erfolgen, weil sich bereits jetzt Bewegungen im Zinsniveau andeuten. In der Opposition gibt es Forderungen, den Zinssatz für Steuernachzahlungen und Steuererstattungen auf null zu setzen und die Verzinsung damit gänzlich aufzugeben. Was hierbei nicht erwähnt wird, ist, dass diese Forderung einseitig diejenigen bevorzugt, die Steuern nachzahlen müssen. Steuerzahlende, die länger auf ihre Rückzahlung warten, würden nach dem Konzept der CDU leer ausgehen, sie bekämen keinen Ausgleich, müssten dem Staat ein zinsloses Darlehen gewähren, egal wie lange das Verfahren dauert. Diese Herangehensweise teilen wir deshalb ausdrücklich nicht. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht und die Mehrzahl der Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung haben die Verzinsung von Steuererstattungen und ‑nachzahlungen nach einer Karenzzeit im Grundsatz bestätigt. Beträgt der Zeitraum zwischen Steuerentstehung und Steuerfestsetzung mehr als 15 Monate, wird der Erstattungsbetrag für darüber hinausgehende Monate verzinst. Selbiges gilt für eine Steuernachzahlung. Auch hier muss gelten: Gleiches Recht für alle! Denn bei der Verzinsung geht es nicht darum, wer die späte Steuerfestsetzung zu verantworten hat; es wird nicht geprüft, ob die Steuerpflichtigen oder das Finanzamt hieran ein Verschulden trifft. Es geht darum, einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung entgegenzuwirken. Der durch den unterschiedlichen Zeitpunkt der Steuerfestsetzung entstehende finanzielle Vorteil – oder eben auch Nachteil – wird ausgeglichen, und das zu einem Zinssatz, der angemessen ist; das stellen wir mit diesem Gesetz sicher. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Klaus Stöber für die AfD-Fraktion. ({0})

Klaus Stöber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005232, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Werte Gäste auf der Tribüne! Politiker verschiedener Parteien stellen sich oftmals die Frage, wieso die Wahlbeteiligung rückläufig ist. Dabei ist die Antwort eigentlich relativ einfach: Die Bürger haben einfach die Nase voll von der Politik, die in diesem Land gemacht wird. Sie haben das Vertrauen in die Politik und in die Regierung verloren. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass diese Politik nicht nur an der Realität vorbeigeht, sondern auch gegen die Interessen der Bürger gerichtet ist, dann zeigt es gerade dieses Gesetz. ({0}) Da musste erst das Bundesverfassungsgericht kommen und Ihnen erklären, dass ein Zinssatz von 6 Prozent nicht verfassungsgemäß ist. In welcher Welt leben Sie eigentlich?! Dank der genialen Politik der EZB bekommen die Bürger seit gefühlt zehn Jahren keine Zinsen auf ihre Sparguthaben. Altersvorsorgeverträge werden von der Inflation aufgefressen. Trotzdem haben Sie den Bürgern bei Steuernachzahlungen unverändert 6 Prozent Zinsen abgeknöpft. Da hilft vielleicht auch ein Blick ins Gesetz – nicht ins Steuergesetzbuch, sondern ins Strafgesetzbuch. Dort finden Sie § 291. Er behandelt den Begriff des Zinswuchers. Von Zinswucher spricht man, wenn der vereinbarte Zinssatz mehr als doppelt so hoch ist wie der marktübliche. Die Regierung hat einen Gesetzentwurf mit einem Zinssatz von 1,8 Prozent vorgelegt, und sie hat seit 2014 6 Prozent erhoben. Das ist mehr als das Dreifache des üblichen Zinssatzes. Zinswucher ist auch ein Straftatbestand, ({1}) der mit Geldstrafe und mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft wird. Vielleicht sollte mal jemand als Steuerbürger die Gelegenheit nutzen, die Politiker diesbezüglich anzuklagen. Das würde auch dazu führen, dass der Bundestag sich vielleicht etwas verkleinern würde. Nun könnte man vermuten, dass die Regierung, wenn sie schon durch das Bundesverfassungsgericht angemahnt wird, gleich Nägel mit Köpfen macht – aber weit gefehlt! Kollege Brehm hat es bereits ausgeführt: Es wird nur Stückwerk abgeliefert. Die Bedenken der Opposition und auch der Sachverständigen in der Anhörung werden einfach ignoriert. ({2}) – Doch. ({3}) – Waren Sie in der Anhörung? Ich war schon da. Auf einen Punkt möchte ich kurz eingehen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Zinsen seit 2014 nicht verfassungsgemäß sind. Aus Vereinfachungsgründen haben sie dem Steuergesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, den Zinssatz erst ab 2019 zu ändern. Aber je länger der Zeitraum zurückliegt, umso höher ist auch der Zinsnachteil. Das führt dazu, dass jemand, der in einem kleinen Betrieb 2015 eine Betriebsprüfung hatte, für sechs Jahre neben seinen Steuernachzahlungen Zinsen nachzahlen muss. Ob das korrekt ist, wage ich stark zu bezweifeln. ({4}) Kollege Mordhorst, Sie haben einen richtigen Satz in Ihrer Rede gesagt. Sie haben nämlich gesagt, man hätte dieses Gesetz eigentlich noch viel früher auf den Weg bringen können. Genau das haben wir gemacht: Wir haben bereits 2018 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Zinssatz von 6 auf 3 Prozent reduzieren sollte. Sie haben ihn abgelehnt. Ich kann es mal kurz zusammenfassen: Kommen Sie einfach aus Ihrer Blase raus! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie müssen jetzt bitte den Punkt setzen.

Klaus Stöber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005232, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. – Gehen Sie mal zu den Bürgern, und hören Sie sich deren Probleme an! Dann würden Sie nämlich auch eine Politik machen, die die Bürger verstehen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Stefan Schmidt das Wort. ({0})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zurück zur Sachlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat vor rund einem Jahr verkündet: Ein halbes Prozent Zinsen pro Monat oder 6 Prozent pro Jahr auf Steuernachzahlungen und Steuererstattungen sind verfassungswidrig; der Zinssatz muss an die Realität angepasst werden. – Ein Urteil, das wir Grüne – damals noch in der Opposition – begrüßt haben. Heute beschließen wir als Teil der Regierung die gebotene Änderung. Als Ampelregierung legen wir den Zinssatz für Nachzahlungs- und Erstattungszinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung rückwirkend ab dem 1. Januar 2019 neu auf 1,8 Prozent pro Jahr fest. Dieser Zinssatz ist sachgerecht, auch und gerade weil wir eine lange Phase der Null- und Negativzinsen hatten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie haben schon in den Ausschussberatungen Zweifel gesät. Sie befürchten, dass auch dieser neue Zinssatz von 1,8 Prozent gerichtlich angefochten werden könnte. Und ja, angefochten werden könnte er. Aber mit Rechtsunsicherheit, Herr Brehm, hat das aus meiner Sicht wenig zu tun; denn entscheidend ist doch, wie potenziell erfolgreich solche Klagen sein könnten. Wir sind überzeugt: Mit dem neuen Zinssatz erfüllen wir die Vorgaben des Verfassungsgerichtes. Das Verfassungsgericht hat uns als Gesetzgeber ja auch den üblichen Gestaltungsspielraum eingeräumt. Sie von der Union schlagen außerdem eine automatische Zinsanpassung vor. Das halten wir für nicht sachgerecht, auch für zu bürokratisch. Denn eins dürfen wir nicht vergessen: Eine Änderung des Zinssatzes bedeutet einen großen Aufwand in den Finanzbehörden. Diesen Aufwand sollten wir nicht zu häufig betreiben. Ein verbindlicher Zinssatz und die Evaluierung alle zwei Jahre hingegen haben konkrete Vorteile. Zum einen halten sie die Bürokratie flach – das ist übrigens eine Daueraufgabe für die Ampelregierung –, und zum anderen bekommen die Menschen und die Unternehmen Planungssicherheit. Auch das ist uns wichtig, gerade jetzt. ({0}) Für den Zeitraum rückwirkend ab 2019 sind 1,8 Prozent angemessen. Für die Zukunft passt das womöglich schon nicht mehr; denn die Zinsen steigen aktuell. Deswegen haben wir vereinbart, dass wir den Zinssatz regelmäßig evaluieren, regelmäßiger noch, als es im Entwurf der Bundesregierung stand, und zwar alle zwei statt nur alle drei Jahre, zum ersten Mal zum 1. Januar 2024. Wenn sich dann herausstellt, dass der Zinssatz angepasst werden muss, dann passen wir ihn an. Das ist unsere Aufgabe hier im Parlament. Zum Schluss noch ein Punkt, den die Opposition eingebracht hat: Wir sollten bei der Gelegenheit doch gleich alle möglichen anderen Zinssätze mit anpassen. – Klar kann man auch darüber streiten, insbesondere darüber, bei welchen Zinssätzen ein wie enger Sinnzusammenhang mit den Erstattungs- und Nachzahlungszinsen besteht. Warum sollten wir das eigentlich tun? Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gesagt: Andere Zinstatbestände im Steuerrecht sind gesondert zu betrachten. – Einfach schnell mal alles Mögliche mit anzupassen, das erscheint uns nicht zielführend. Das sollten wir nicht übers Knie brechen. Deshalb lehnen wir diesen Vorschlag ab. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke. – Die Beiträge des Kollegen Christian Görke für Die Linke und der Kollegin Frauke Heiligenstadt für die SPD nehmen wir zu Protokoll. ({0}) Das Wort hat der Kollege Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Oliver Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005244, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere deutsche Landwirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Allen voran sehen wir die Auswirkungen des Klimawandels deutlich in der Zunahme von Extremwetterereignissen in den vergangenen Jahren. Dürren und Überflutungen gefährden unsere landwirtschaftliche Produktion. Zugleich fordern Politik und Verbraucher, dass auf immer weniger Fläche und mit möglichst wenig Dünge- und Pflanzenschutzmitteln unsere Ackerbauern die Ernährung unserer Bevölkerung sicherstellen – eine Aufgabe, der sich unsere Landwirte seit Generationen gerne stellen. ({0}) Dies ist aber eine Aufgabe, die in Zeiten nie dagewesener Anforderungen und Herausforderungen auch einen vollen Werkzeugkasten benötigt. Wir als Unionsfraktion wollen heute mit unserem Antrag unseren Landwirten eines dieser Werkzeuge zur Verfügung stellen, nämlich schnellere und gezielte Pflanzenzüchtungen mittels neuer genomischer Techniken. Mit der Entdeckung von CRISPR/Cas steht den deutschen Pflanzenzüchtern ein Weg zur Verfügung, in kürzester Zeit regional angepasste Sorten zu züchten, die beispielsweise resistent gegenüber Krankheiten und resilient gegenüber Dürren sind. In Teilen der Regierungskoalition wird dies auch anerkannt; denn selbst die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Carina Konrad hat die Biotechnologie als „industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. ({1}) Wenn wir uns aber die weltweite Forschung zu grünen Biotechnologien ansehen, dann sehen wir leider, dass chinesische und amerikanische Universitäten und Forschungseinrichtungen in den vergangenen zehn Jahren über 320 Patente angemeldet haben, während es bei uns in der Europäischen Union lediglich 18 waren. Hier lassen wir ein erhebliches Potenzial liegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. CRISPR/Cas hat nichts mit der Gentechnik der 1980er-Jahre zu tun, wenngleich Teile dieses Hauses immer etwas anderes behaupten. Mit den neuen genomischen Techniken werden gerade keine Killertomaten gezüchtet, sondern genau die gleichen Weizensorten, die wir auch durch jahrzehntelanges Kreuzen, also durch konventionelle Züchtung, erhalten können. ({2}) Das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe. Lediglich der Weg dorthin ist schneller, günstiger und genauer. ({3}) – Liebe Frau Künast, ich habe heute extra eine grüne Krawatte für Sie angezogen, damit Sie sich nicht so aufregen müssen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, konzentrieren wir uns im Interesse unserer Landwirte und der Ernährungssicherheit auf das Ergebnis und nicht auf den Weg, um Klimaresilienz, Biodiversität und Nahrungsmittelversorgung zu vereinen! Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johannes Schätzl für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schätzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005204, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Keine Angst, ich nutze nicht die ganzen sieben Minuten meiner Redezeit; ich schaffe es ein wenig schneller, ({0}) zu begründen, warum wir Ihren Antrag ablehnen; denn nach der Einleitung, in der Sie vollkommen richtig beschreiben, dass die Landwirtschaft vor Herausforderungen steht, können wir tatsächlich kaum mehr Gemeinsamkeiten finden. Ja, Sie schreiben, wir haben einen breiten Werkzeugkasten. Tatsächlich haben wir den; der ist auch prall gefüllt mit hochinnovativen Systemen. Nur, bei diesen Systemen gibt es einen Unterschied. Sie sind angeblich vollkommen befreit von Risiken. Genau das ist der Unterschied zum eigentlichen Kern Ihres Antrages. Sie sprechen über geneditierende Verfahren, und da haben wir ein Problem. Die sind eben nicht komplett frei von Risiko, und sie sind auch dann nicht frei von Risiko, nur weil Sie das Wort „Risiko“ weder in Ihrem Antrag noch in Ihrer Rede erwähnen. ({1}) Tatsächlich kenne ich kaum eine Diskussion, die mit mehr Emotionalität geführt wird. Es ist eine öffentliche, emotional geführte Diskussion, die aus meiner Sicht vollkommen legitim ist und die wir auch brauchen. Im gleichen Maße müssen wir aber die politische Diskussion – die Diskussion, die wir hier im Parlament führen – mit einer maximalen Besonnenheit führen. Genau diese Besonnenheit ist es tatsächlich, die ich in Ihrem Antrag vermisse. ({2}) Ich gehe auf zwei Punkte ein, an denen ich das tatsächlich feststellen kann. Zum einen schreiben Sie, dass die genomeditierenden Verfahren keiner GVO-Regulierung unterliegen sollen – und Sie haben es so gesagt –, nur weil am Ende das gleiche Produkt wie bei klassischen Züchtungen hervorgeht. Ich bin ein wenig verwundert. Vor einer Stunde haben wir Ihren Antrag zu Verbraucherinformationen beraten, und Sie, Frau Stumpp – Sie sind noch anwesend –, haben gesagt, sie wollten mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. An dieser Stelle haben wir wirklich einen Konsens. Ich fasse Ihre Aussage zusammen: Sie wollen keine Transparenzpflichten, keine Rückverfolgbarkeiten und keine Kennzeichnungspflicht, weil das Produkt am Ende das Gleiche zu sein scheint wie das durch klassische Kreuzungen. Tatsächlich verstehe ich Ihren Denkfehler; den haben Sie in Ihrem Antrag selbst aufgeschrieben. ({3}) Sie schreiben, Sie wollen „ausschließlich gewünschte Veränderungen“. Wenn Sie schreiben, Sie wollen „ausschließlich gewünschte Veränderungen“, dann stelle ich mir wirklich die Frage: Reden wir über den gleichen Prozess? Dieser Prozess ist doch nicht frei von Risiken, und wir können nicht zu 100 Prozent bestimmen, dass am Ende das gleiche Produkt herauskommt wie bei klassischen Kreuzungsverfahren. ({4}) Genau das ist aus meiner Sicht der Punkt, an dem wir uns in der Diskussion unterscheiden. Und das ist auch nicht meine Privatmeinung; es muss nicht mal eine politische Meinung sein. Es ist die Meinung des Europäischen Gerichtshofs, der am Ende eben genau den Prozess und nicht nur das Produkt bewertet hat.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der CDU/CSU-Fraktion?

Johannes Schätzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005204, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Oliver Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005244, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Schätzl, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich möchte Sie mit Blick auf Ihre Ausführungen zu unserem Antrag fragen, ob Sie Kenntnis davon haben, was im Koalitionsvertrag zwischen der SPD und der Partei Die Linke im Land Mecklenburg-Vorpommern zu lesen ist. Falls nicht, möchte ich es Ihnen kurz zur Kenntnis geben: Der wissensbasierte Einsatz neuer Züchtungsmethoden ist in Zeiten des Klimawandels notwendig. Wir fordern die Zulassung neuer Züchtungstechniken beim Bund und der EU ein. Wie sehen Sie Ihre Aussagen, die Sie gerade ausgeführt haben, im Zusammenhang mit diesen Äußerungen Ihrer Parteikolleginnen und Parteikollegen in Mecklenburg-Vorpommern? ({0})

Johannes Schätzl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005204, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für diese Zwischenfrage. – Tatsächlich kennen wir unseren Koalitionsvertrag; denn da ist der Wortlaut ähnlich. Ich bitte Sie jetzt wirklich, einmal zwischen Züchtungsmethoden und gentechnischen Verfahren zu unterscheiden. Sie sind eben nicht genau das Gleiche, und genau an dieser Stelle sage ich Ja zu neuen Züchtungsverfahren, aber eben kein bedingungsloses Ja zu gentechnischen Züchtungsverfahren. ({0}) – Tatsächlich habe ich diesen Antrag relativ oft gelesen, ({1}) und deswegen gehe ich noch auf einen zweiten Punkt Ihres Antrages ein. Zweiter Punkt. Sie drängen auf eine schnelle zeitliche Entscheidung und schreiben – ich zitiere sogar aus Ihrem Antrag –, Sie wollen schnell neue Pflanzensorten, um auf die „plötzlichen Auswirkungen des Klimawandels“ zu reagieren. Tatsächlich finde ich es fast obszön, diese beiden Worte in einem Satz zu verwenden. Die „plötzlichen Auswirkungen des Klimawandels“! An dieser Stelle unterscheiden wir uns wirklich vehement, und ich kritisiere nicht nur diese Formulierung, sondern ich sage auch: Es gibt ein deutlich größeres Problem; denn wir sprechen über die Auswirkungen des Klimawandels und über Wassermangel. Genau das ist die Stelle, an der Sie eben nicht nur einen Eingriff in die DNA-Struktur eines komplexen Organismus brauchen, sondern deutlich mehr. Genau aus diesem Grund sage ich Ihnen: Wir werden uns auch in dieser Koalition dem Thema mit großer Seriosität stellen, der Seriosität, die wir brauchen und die unsere Verbraucherinnen und Verbraucher auch verdienen. Genau an dieser Stelle heißt das konkret: Wir wollen Untersuchungen und Nachdefinitionen der Gerichte, und zwar mit so viel Zeit wie nötig und nicht mit so viel Tempo wie möglich. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Peter Felser für die AfD-Fraktion. ({0})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Gäste zu der späten Stunde! Liebe Landwirte! Liebe Kollegen von der CDU/CSU, wenn es um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft geht, wenn wir über Digitalisierung reden, wenn wir über neue Techniken reden, wenn wir endlich künstliche Intelligenz in unsere landwirtschaftlichen Betriebsdaten bringen, ja, wenn es um Forschung und Entwicklung geht, dann sind wir von der Alternative für Deutschland dabei. Das wissen Sie. Heute aber vermitteln Sie den Eindruck, in dieser schweren Zeit, in der sich die Landwirtschaft befindet, sei die Lösung in der Gentechnik zu finden. Mit CRISPR/Cas soll wie bei einer Wundermedizin alles zum Besten werden. Werte Kollegen von der CDU/CSU, mit diesem Werkzeugkasten gehen wir nicht mit. ({0}) Das ist auch überhaupt nicht das Thema der Stunde; darauf wartet kein einziger Landwirt in Deutschland. Und daran sieht man, wie weit Sie von den Nöten und Herausforderungen unserer Bauern mittlerweile entfernt sind. ({1}) Wenn wir tatsächlich auf unseren Schlägen, auf unseren Feldern neue Sorten benötigen: Wir haben doch hervorragende mittelständische Saatgutbetriebe in Deutschland. Unterstützen wir diese mittelständischen Saatgutbetriebe! Diese leisten seit Jahrzehnten Hervorragendes. ({2}) – Schauen Sie sich mal die ungeheure Vielfalt an, Herr Kollege, die auch ohne Gentechnik zur Verfügung steht. In Spitzbergen gibt es eine Samendatenbank mit Zehntausenden Samen – alte Sorten, von allen Kulturpflanzen dieses Planeten. Die werden uns in Zukunft vermutlich eher weiterbringen als suspekte Experimente. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, heute über Gentechnik zu beraten. Unsere Bauern brauchen heute, zur Stunde, etwas ganz anderes: ({3}) endlich wieder Planungssicherheit, Unterstützung bei den enorm gestiegen Preisen für Betriebsmittel und natürlich eine Aufhebung der 4-Prozent-Zwangsbrache. Da, liebe Kollegen von der CDU/CSU, bräuchten die Bauern Sie als Opposition – und keine Experimente, keine angeblichen Wundermittel und keine leeren Versprechungen. ({4}) Und ganz ehrlich: Wo, bitte schön, gibt es denn überhaupt einen Markt für solche genveränderten Produkte? Viele Umfragen zeigen, dass die Bürger in Deutschland – ja in ganz Europa – diese Produkte ablehnen. Letztes Jahr erst ergab eine Umfrage: 80 Prozent der Deutschen lehnen solche Produkte ab, egal ob alte Gentechnik, neue Gentechnik oder wie immer Sie das auch bezeichnen wollen. ({5}) Bleiben wir dabei, die echten Herausforderungen in dieser Zeit zu bewältigen. Dann haben wir wirklich etwas für unsere Bauern und für die Zukunft unserer Ernährungssicherheit getan. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Karl Bär für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Karl Bär (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005017, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Patentantrag EP 2943060 wollte sich eine Firma aus Minnesota beim Europäischen Patentamt genetisch hornlose Rinder patentieren lassen. Genetisch hornlose Rinder sind seit der Römerzeit beschrieben. Auch Bäuerinnen und Bauern in meiner Region züchten zum Beispiel genetisch hornloses Fleckvieh, erzeugen so einen Mehrwert für die Haltung im Laufstall und verdienen damit Geld. Die Firma hatte diese natürliche Mutation mithilfe einer neuen Gentechnikmethode nachgebaut und als Erfindung angemeldet. Sie können das „Innovation“ nennen; ich nenne es „Diebstahl“. ({0}) Das Patent wurde glücklicherweise nicht erteilt. Wissenschaftler/-innen der US-Umweltbehörde hatten bemerkt, dass die ach so präzise Methode Gene eines Bakteriums mit ins Erbgut der Rinder eingefügt hatte. Weil solche Fehler passieren können und weil sie tatsächlich auch passieren, brauchen wir auch bei den neuen Gentechnikmethoden für jedes einzelne Produkt ein Zulassungsverfahren mit Risikoprüfung. ({1}) Ich muss an der Stelle betonen – und da liegt auch der Koalitionsvertrag in Mecklenburg-Vorpommern einfach daneben –, dass Gentechnik in Europa nicht verboten ist. Die Erfinderin der CRISPR/Cas-Technologie, Emmanuelle Charpentier, hätte nach ihrem Nobelpreis überall einen Job bekommen können. Sie hat sich für die Humboldt-Universität in Berlin entschieden. Wir haben hier kein Problem mit Innovationen, aber bevor genmanipulierte Pflanzen oder Tiere freigesetzt oder verspeist werden, müssen sie geprüft, zugelassen und gekennzeichnet werden. Das ist gut so, und das muss so bleiben. ({2}) Wir brauchen auch bei der neuen Gentechnik eine Kennzeichnungspflicht. Die Menschen in Europa wollen wissen, ob ihr Essen mit Gentechnik hergestellt wurde oder nicht. Und wenn das Essen mit Gentechnik hergestellt wurde, dann wollen sie es meistens nicht essen. Das ist ihr gutes Recht. ({3}) Daran stört sich die Gentechindustrie, weil das dazu führt, dass niemand ihre Produkte kaufen will. CDU und CSU wollen nun, dass Produkte, die eindeutig gentechnisch veränderte Organismen sind, nicht mehr unter das Gentechnikrecht fallen und damit ohne Zulassungsverfahren und Kennzeichnungspflicht auf unsere Teller kommen. ({4}) Sie stellen sich auf die Seite der Agrarindustrie und gegen 80 Prozent der Verbraucher/-innen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das mit diesem Antrag so offen sagen. ({5}) – Das steht da so. ({6}) Sie wollen diese Produkte vom Gentechnikrecht ausnehmen. Die Einleitung des Antrags ist eine Themaverfehlung. ({7}) Wir müssen – da sind wir zusammen – die Landwirtschaft an die Klimaveränderung anpassen, Emissionen senken und das Artensterben aufhalten. Das heißt, wenn wir auch in 30 Jahren noch Ernten haben wollen, von denen wir satt werden, müssen wir das ganze landwirtschaftliche Produktionssystem verändern. Sie haben jetzt 16 Jahre lang die Agrarwende blockiert. Sie bekämpfen den Vorschlag von Umweltministerin Lemke, das Verheizen von Lebensmitteln als Treibstoff zu beenden. Und Sie weigern sich beharrlich, den Elefanten im Raum wahrzunehmen, auf dem in Leuchtschrift „Fleischproduktion“ steht. Dann erwecken Sie hier den Eindruck, dass all diese Krisen – Klimawandel, Artensterben, Welthunger – durch Änderungen im Genom von Kulturpflanzen gelöst werden können. Das ist völlig absurd. ({8}) Vielleicht ist das auch der letzte Rest Christentum in der CSU und CDU. Sie hoffen auf Wunder. Ich sehe darin allerdings eher einen gefährlichen Versuch, von drängenden Problemen abzulenken und nötige Veränderungen zu blockieren. Die Ampelregierung packt jetzt die Agrarwende an: Umbau der Tierhaltung, Ernährungsstrategie, Glyphosatverbot, Ökolandbau, Digitalisierung. You name it, we do it. ({9}) – Das ist alles nicht einfach. Das dauert seine Zeit. Aber es ist notwendig. Cem Özdemir hat dafür die Unterstützung der Menschen im Land. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Ina Latendorf das Wort. ({0})

Ina Latendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005123, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen der Unionsfraktion, ist das Ihre Lösung? Gentechnik? Neue genomische Techniken, abgekürzt NGT, sind nichts anderes. Der Begriff „Gentechnik“ ist in der Landwirtschaft zu Recht weitestgehend negativ besetzt, weil die Auswirkungen nicht geklärt sind. Und NGT haben ohne Frage gentechnisch manipulierte Pflanzen zur Folge. Zwar fordern Sie in Ihrem Antrag eine wissenschaftliche Bewertung, die Folgenabschätzung und einen bundesweiten Dialogprozess bei diesem Thema. Aber das Ergebnis wollen Sie gar nicht abwarten oder berücksichtigen. Denn der Rest des Antrages ist ein vehementes Plädoyer für die Einführung der neuen gentechnischen Verfahren im Blindflug. Von den Zweifeln der Wissenschaft, ob die sogenannten neuen genomischen Techniken tatsächlich so zielgenau und gefahrenarm sind, wissen Sie, meine Damen und Herren. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat die intensive Arbeit der EU-Kommission zu einem verantwortungsvollen Umgang mit NGT begrüßt. Dort heißt es aber auch – Zitat –: Bei der Beurteilung von Lösungsansätzen sind ökologische und sozialökonomische Aspekte sowie mögliche Folgeentwicklungen einzubeziehen. Das BMEL hat sich also den ökologischen Landbau zum Leitbild für eine nachhaltige Landwirtschaft gemacht. Augenscheinlich gibt es wohl nicht nur aus der Perspektive meiner Fraktion erhebliche Zweifel an der praktischen Realisierung einer rein technischen Lösung der globalen Ernährungs- und Klimaprobleme. Ich sage: Wir brauchen für eine Lösung eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. ({0}) Der Teufel steckt auch darüber hinaus im Detail dieses Antrages. Die Union fordert nämlich, dass diese neuen genomischen Techniken nicht unter die GVO-Regularien fallen. Im Klartext: NGT, obwohl nachweislich Gentechnik, sollen nicht länger unter die Regeln für gentechnisch veränderte Organismen fallen. ({1}) Das ist Etikettenschwindel, den meine Fraktion nicht mitmacht. Vielen Dank. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Gero Hocker. ({0})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz innovativer Züchtungsmethoden des Genome Editings von CRISPR/Cas hat das Potenzial, ebenso segensreich für die Menschheit zu sein wie die Erfindung der Dampfmaschine, wie die Erfindung des Penicillins. Getreide, das hitzeresilient ist und auch in Regionen gedeiht, in denen der Klimawandel mit besonderer Härte zuschlägt; Weizen, der mit sehr viel weniger Wasser auskommt und weniger Wasser zum Wachsen benötigt und in Ostafrika, in den trockensten Regionen der Welt, im Sudan, in Eritrea, in Äthiopien, gedeihen kann; Feldfrüchte, die für Schädlinge ungenießbar sind und damit dazu beitragen, den Einsatz von Insektiziden, vielleicht auch von chemischem Pflanzenschutz zu reduzieren: Meine sehr verehrten Damen und Herren, all dies sind Verheißungen für die Menschheit anstatt Bedrohungen. Wir wären in Deutschland, wir wären in Europa gut beraten, wenn wir endlich aufhören würden, eigenbrötlerisch immer nur das Haar in der Suppe zu suchen. ({0}) Meine Damen und Herren, von diesem Pult aus wurde vor wenigen Wochen von einer Zeitenwende gesprochen. Es ist überfällig, dass wir sie auch in der Landwirtschaft und in diesem Bereich tatsächlich einläuten. Aus Überzeugung, dass dies sinnvolle Technologien sind, haben sich höchstwahrscheinlich mehr als 90 Prozent der Mitglieder dieses Hauses – ich auch und wahrscheinlich die allermeisten im linken Teil dieses Hauses – vor einigen Wochen oder Monaten entschieden, sich mit einem mRNA-Impfstoff impfen zu lassen. Es ist gut und richtig, dass da schnell eine Zulassung erfolgt ist und dass diese technologische Möglichkeit, eine Pandemie zu überwinden und in ihren Auswirkungen zu reduzieren, genutzt wird. Aber meine sehr verehrten Damen und Herren, es entbehrt jeder innerlichen Logik, dass wir mRNA-Impfstoffe zur Anwendung kommen lassen – zu Recht und zum Glück –, wenn es darum geht, Menschen vor Erkrankungen zu bewahren und die Risiken zu reduzieren, aber gleichzeitig im Pflanzenbau auf Genome Editing verzichten wollen. Niemand hat mir in der Vergangenheit erklären können, wie man zu der einen Seite so stehen kann und zu der anderen wiederum anders. ({1}) Ich sage es Ihnen ganz ausdrücklich: Wer wirklich Probleme lösen möchte, der ist gut beraten, sich nicht alleine und nicht naiv, aber auch auf Technik zu verlassen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und nicht vielleicht im Geheimen zu hoffen, von Problemen und Herausforderungen politisch profitieren zu können. Wer von Problemen vor allem nicht politisch profitieren will, der kann sich im Grunde eigentlich nicht gegen eine Technologie, die im Ergebnis dasselbe herbeiführt wie konventionelle Züchtungsmethoden, die es bereits seit Jahrtausenden gibt, aussprechen, die dazu geeignet ist, den Hunger in der Welt dauerhaft zu bekämpfen, Flüchtlingsströme erst gar nicht entstehen zu lassen und Menschen in armen Regionen dieser Welt tatsächlich eine Perspektive, eine unternehmerische, eine eigenverantwortliche Möglichkeit und Chance, ihr Leben zu bestreiten, zu geben. Das sind Chancen und Verheißungen für die Menschheit. Wir sind alle gut beraten, uns alle innerlich noch einmal zu prüfen, ob wir nicht tatsächlich diesen Technologien in Europa, auch in Deutschland eine Chance geben können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Engelhard. ({0})

Alexander Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst heute Morgen war ich gemeinsam mit einigen Kollegen verschiedener Fraktionen auf einer Veranstaltung von BIO Deutschland e. V.; auch der Kollege Hocker war mit dabei. Ich glaube, er hat gut zugehört. Besser, als Sie es in Ihrer Rede ausgedrückt haben, hätte ich es nicht sagen können. ({0}) – Dann können Sie ja Ihre Kollegen in der Ampel überzeugen. – Die jungen Gründer der innovativen Lebensmittelunternehmen haben sehr überzeugend dargestellt, dass die neuen genomischen Techniken die Schlüsseltechnik der Zukunft in ganz vielen Bereichen sein werden. Mit CRISPR/Cas wird die Pflanzenzucht weltweit revolutioniert. Diese Art der genomischen Technik darf jetzt nicht mit der klassischen Gentechnik gleichgesetzt werden. ({1}) Der Schweizer Professor Urs Niggli, einer der bekanntesten Pflanzenwissenschaftler und vehementer Gegner der Gentechnik der 80er-Jahre, betont, dass sich CRISPR/Cas stark von der damaligen Gentechnik unterscheidet. Zahlreiche Kritikpunkte von damals sind für ihn ausgeräumt, weshalb er sich für den Einsatz dieser Technik ausspricht. Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und weitere renommierte deutsche Forschungseinrichtungen sprechen sich ausdrücklich für neue Regulierungs- und Zulassungsverfahren in der Europäischen Union für diesen Bereich aus. Wir müssen von Beginn an darauf achten, dass wir sprachlich und argumentativ fair mit dem Thema umgehen. In unserem Antrag gehen wir sehr differenziert vor und fordern eine wissenschaftliche Folgenabschätzung, die gleichermaßen die Potenziale und die Risiken im Blick hat. Wenn wir nicht zügig die Reform des veralteten EU-Gentechnikrechts angehen, finden die Innovationen dieser Zukunftstechnologie nicht in Europa statt. Das können wir uns aufgrund der großen Herausforderungen nicht leisten. ({2}) Auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Flächenkonkurrenz ist die nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft ein entscheidender Baustein, um den globalen und regionalen Herausforderungen bei Klimawandel und Artenschutz gerecht zu werden und die Ernährungssicherung einer wachsenden Weltbevölkerung zu gewährleisten. Ich hoffe auf eine konstruktive Debatte im Ausschuss, die diesem wichtigen und spannenden Thema gerecht wird. Besten Dank. ({3})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem achten Verbrauchsteueränderungsgesetz werden wir im Wesentlichen die Verbrauchsteuersystemrichtlinie und die Alkoholstrukturrichtlinie im Biersteuerrecht umsetzen. Was unspektakulär klingt, wird lebenspraktisch erhebliche Erleichterungen für die betroffenen Betriebe mit sich bringen. In Deutschland müssen sich die Bürger und Unternehmen viel zu lange mit bürokratischen Herausforderungen herumschlagen. Damit gehen in vielen Fällen bemerkenswerte Kosten einher. Das gilt in ganz besonderem Maße auch bei den Verbrauchsteuern. Gemeinsam mit unseren Ampelpartnern werden wir daher bürokratische Hürden abbauen. Die Umstellung der Beförderung von Bier im steuerrechtlich freien Verkehr von einem papiergebundenen hin zu einem elektronischen Verfahren ist hierbei besonders hervorzuheben. Das klingt nach einer Kleinigkeit, aber wenn man den Staat modernisieren möchte, sind genau solche Dinge das, was man tun muss. ({0}) Es handelt sich dabei um einen erheblichen Digitalisierungsschub, der damit endlich Einzug in die Verfahren rund um die Biersteuer erhält. Viele Brauereien wurden von der Pandemie schwer getroffen. Ohne Großveranstaltungen, offene Kneipen, Restaurants und Bars wurde es für etliche Betriebe wirtschaftlich sehr eng. Deshalb werden wir es nicht beim Abbau bürokratischer Hürden belassen. Die europäische Alkoholstrukturrichtlinie sieht eine höhere Belastung der Brauereien insofern vor, als dass künftig auch nach Abschluss der Gärung hinzugefügte Zutaten bei der Messung in Grad Plato berücksichtigt werden müssen. Das käme jetzt zur Unzeit. Deshalb werden wir richtigerweise von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Regelung zur Besteuerung von Biermischgetränken erst ab dem 1. Januar 2031 zur Anwendung zu bringen. Zeitgleich führen wir ein Zertifizierungssystem für rechtlich und wirtschaftlich unabhängige Kleinproduzenten ein. So können Hersteller von Bier leichter von Steuerermäßigungen in anderen EU-Mitgliedstaaten profitieren. Im Bereich des Zertifikatehandels mussten wir bislang die Erfahrung machen, dass der Handel enorm betrugsanfällig ist. Der klassische Fall des Karussellbetrugs bei der Umsatzsteuer ist hier besonders einfach durchzuführen. Andersherum handelt es sich beim Karussellbetrug um ein ganz besonders perfides Vorgehen auf Grundlage enormer krimineller Energie und zulasten ehrlicher Steuerzahler. Das können und dürfen wir nicht akzeptieren und werden deshalb mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tätig. ({1}) Durch die Erweiterung des Reverse-Charge-Verfahrens auf die Übertragung von Emissionszertifikaten werden wir diese Betrugsmöglichkeiten stark einschränken. Langfristig bleibt unser Ziel aber vor allem auch, schnellstmöglich ein elektronisches Meldesystem bundesweit einheitlich einzuführen, das für die Erstellung, Prüfung und Weiterleitung von Rechnungen verwendet wird. So senken wir die Betrugsanfälligkeit unseres Mehrwertsteuersystems erheblich und modernisieren und entbürokratisieren gleichzeitig die Schnittstelle zwischen der Verwaltung und den Betrieben. ({2}) Es gibt noch einiges zu tun. Mit dem achten Verbrauchsteueränderungsgesetz gehen wir dabei heute schon die ersten Schritte. Ich freue mich auf die detaillierte Beratung im Ausschuss. Vielen Dank. ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der etwas sperrige Titel des Gesetzentwurfs fasst im Wesentlichen zusammen, worum es geht – in 140 Seiten. Der Kollege Mansmann hat ja auf viele Dinge wie Bürokratie, Digitalisierung, Abbau von Bürokratie und technische Änderungen hingewiesen. Es gibt aber einige wichtige Sachverhalte in diesem gesetzgeberischen Verfahren, die es aufzuarbeiten und zu begleiten gilt. Dabei geht es um das Thema Biersteuer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, worum geht es bei der Biersteuer konkret? Bei kleinen und mittelständischen Brauereien werden unterhalb der Produktionsmenge von 200 000 Hektolitern pro Jahr in gestaffelten Etappen unterschiedlich angemessene, vergünstigte Biersteuersätze erhoben. Vielleicht waren Sie schon einmal in meiner Heimat, in Franken. Da gibt es eine ganze Reihe von kleinen Brauereien mit Brauereigasthöfen, und die haben natürlich eigenes Bier, sogar ohne besondere industrielle Zusätze. Die könnten aber ohne die Steuervergünstigung der Biermengenstaffel nicht überleben und ihr Angebot verkaufen. Diese Biermengenstaffel ist deswegen richtig, weil die kleinen Brauereien davon profitieren. ({0}) Genau diese Brauereien, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren durch Corona doppelt betroffen. Zum einen konnten sie ihr Bier regional und überregional nicht verkaufen, zum anderen mussten sie gleichzeitig die Brauereigasthöfe schließen und haben deswegen noch einmal zusätzlich Verluste hinnehmen müssen. Wir haben versucht, das mit den Coronahilfen auszugleichen. Aber es ist natürlich kein vollständiger Umsatzausgleich erfolgt. Deswegen haben wir in der Koalition damals eine zusätzliche Regelung verabschiedet, indem wir die ermäßigten Biersteuersätze für die kleinen Brauereien noch einmal reduziert haben. Im vorliegenden Entwurf soll diese Regelung zur Reduzierung nun zum 1. Januar 2023 auslaufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das so passiert, dann legen Sie die Axt an die vielen kleinen Gasthöfe, an die vielen kleinen Brauereien in Deutschland. ({1}) Wir haben uns dafür eingesetzt, die Biermengenstaffel und die Reduzierung dieser Steuer zu erhalten. Der Bundesrat hat übrigens in einer 16-zu-0-Entscheidung unserer Intervention zugestimmt, und wir begrüßen die Gegenäußerung der Bundesregierung, die da jetzt lautet: Ja, da könnte man vielleicht etwas machen. – Aber eine Reaktion fehlt von der Bundesregierung noch, und deswegen fordern wir Sie auf, diese Biersteuersenkung auch über den 1. Januar 2023 hinaus laufen zu lassen. Damit retten Sie die kleinen Brauereien. Damit unterstützen Sie übrigens auch „Original Regional“, was eigentlich in Ihrem Sinne sein müsste. Ich freue mich auf die weiteren Diskussionen zu diesem Gesetzentwurf. Es gibt noch viele andere Punkte, die wir besprechen müssen. Aber das machen wir in der Anhörung in der nächsten Woche und dann im parlamentarischen Verfahren. Herzlichen Dank. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Carlos Kasper. ({0})

Carlos Kasper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005097, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über das Achte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen. Eine Band, die regelmäßig zu musikalischen Höchstleistungen aufläuft, hat mal gesungen: „Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist.“ ({0}) Mit diesem Gesetzentwurf helfen wir dabei, das Kulturgut Bier zu unterstützen; denn wir greifen vor allem kleineren Brauereien unter die Arme. Durch die Fortsetzung der ermäßigten Steuerstaffelsätze sorgen wir dafür, dass kleinere und mittlere Brauereien auch durch diese schwierigen Zeiten kommen können. ({1}) Damit leisten wir einen substanziellen Beitrag zur Beibehaltung der Vielfältigkeit des deutschen Bieres. ({2}) Mit unserem Gesetzespaket für die Verbrauchsteuern verfolgen wir für die Biersteuer drei klare Linien: Harmonisierung, Digitalisierung und Entbürokratisierung. Harmonisierung: Wir harmonisieren unsere Verbrauchsteuern gemäß der Alkoholstrukturrichtlinie und vereinheitlichen damit Steuern für alkoholische Getränke. Digitalisierung: Wir gehen weg von Papier hin zum EMCS-Verfahren. Künftig müssen Begleitdokumente beispielsweise nicht mehr in Papierform mitgeführt werden. Die Prozesse werden effizienter, die Bearbeitung wird vereinfacht und sorgt für mehr Transparenz. ({3}) Schlussendlich Entbürokratisierung: Durch die monatsweise Abgabe der Steuer- und Entlastungsanmeldungen kommen wir den Brauereien entgegen und bauen Bürokratie bei den Prozessen ab. Harmonisierung, Digitalisierung, Entbürokratisierung – das alles erreichen wir mit dem Achten Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen. Somit gestalten wir für alle Brauereien die Steuer einfacher, digitaler und einheitlicher. Besonders die kleineren Brauereien standen während der Coronakrise vor großen Schwierigkeiten. Deshalb haben wir sie mit einem ermäßigten Steuerstaffelsatz unterstützt. Jetzt ist es der Überfall Russlands auf die Ukraine, der die Brauereien vor große Herausforderungen stellt. Die Hopfen-, aber auch die Lebensmittelpreise im Allgemeinen sind stark gestiegen, und zusätzlich ist ein wichtiger Exportmarkt weggefallen. Das stellt vor allem kleinere Brauereien vor große Herausforderungen. Daher haben wir uns dazu entschieden, die ermäßigten Mengenstaffeln der Biersteuer beizubehalten. ({4}) All diese Anpassungen betreffen nicht nur die Wirtschaft. Der Zoll ist bei den Verbrauchsteuern für die Erteilung von Erlaubnissen, für die Bearbeitung von Anträgen und nicht zuletzt für die Erhebung der Verbrauchsteuern zuständig. Daher ist es so wichtig, den Zoll zu unterstützen und gerade auch im Bereich Verbrauchsteuern neue Stellen zu schaffen. Deswegen werden wir den Zoll bei den Mehrbelastungen nicht alleine zurücklassen ({5}) und haben dafür bereits jetzt schon Stellen im Haushalt eingestellt. ({6}) Mit diesem Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuern machen wir wichtige Schritte: Wir digitalisieren unsere Verfahren, vereinfachen und erleichtern. Wir unterstützen die Brauereien und sorgen so dafür, dass das Schlimmste nicht eintritt, nämlich dass das Bier alle ist. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jan Wenzel Schmidt. ({0})

Jan Wenzel Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005210, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir nehmen uns hier und heute eine halbe Stunde Zeit, um diesen von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zu besprechen. Leider ist die Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union grundsätzlich zwingend. So liegt dem Deutschen Bundestag eine Vorlage zur Abnickung vor – zur kollektiven Abschiebung in den Finanzausschuss, wo er dann von der Öffentlichkeit weitestgehend unbehelligt verschwindet. Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht um eine europaweite Vereinheitlichung von Verfahren zur Besteuerung, insbesondere von Alkohol und Tabakwaren, alkoholischen Getränken und Energieerzeugnissen. Im Endeffekt betrifft das eine Vielzahl von Verbrauchsgütern, die zahlreiche Lebensbereiche unserer Bürger berühren. Der Deutsche Brauer-Bund bedauert beispielsweise, dass zum Ende dieses Jahres die ermäßigten Biersteuersätze auslaufen sollen. Gerade kleinere Brauereien stehen schon jetzt mit dem Rücken zur Wand. Die überzogenen Coronamaßnahmen der letzten Jahre haben zahllosen Brauereien endgültig das Genick gebrochen. Und viele werden im Herbst folgen, da wir erneut Pandemiemaßnahmen von Ihnen vorgesetzt bekommen. Dass Sie gerade in einer solchen Existenzkrise die Steuerermäßigung ersatzlos streichen wollen, ist an Rücksichtslosigkeit kaum zu überbieten. ({0}) Durch Ihre Politik steigen die Preise doch ohnehin schon. Wir haben in Deutschland ein Steuersystem, das Leistungsträger immer weiter ausbeutet. Die Abgabenlast ist mittlerweile so immens geworden, dass sich Mehrarbeit kaum noch lohnt. Ihr gefeierter Mindestlohn wird schließlich auch von den Abgaben aufgefressen. ({1}) Damit auch Sie das einmal gehört haben: Jeder sechste Deutsche verzichtet mittlerweile auf Mahlzeiten, weil er sich das Essen nicht mehr leisten kann. Das können Sie sich heute Abend beim Abendbrot einmal durch den Kopf gehen lassen. ({2}) Dass Sie Familienbetriebe und nicht zuletzt Brauereien trotz ihrer immer noch andauernden Notlage nun wieder stärker belasten wollen, ist nicht nachzuvollziehen. ({3}) Eine Reduzierung der Abgaben wäre auch weiterhin möglich und für viele Brauereien überlebenswichtig. Die Systemrichtlinie, die wir heute überweisen, sieht allerdings auch einige Maßnahmen zum Bürokratieabbau vor, was zu begrüßen ist. Zahlreiche Unternehmen, auch in anderen Branchen, leiden unter der enormen Belastung durch übertriebene Verwaltungshürden. Bürokratieabbau und Steuerbegünstigungen sind Grundanliegen der AfD. Jedoch sind viel größere Würfe notwendig, um Deutschland für Unternehmen wieder attraktiver zu gestalten. Neben dem längst überfälligen Bürokratieabbau sind vor allem Steuersenkungen wichtig. Immer wieder entstehen für Familienbetriebe enorme Belastungen durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer. An dieser Stelle muss der Rotstift angesetzt werden, um Familienbetriebe zu stärken. ({4}) Wir freuen uns über eine offene Debatte im Ausschuss. Vielen Dank. ({5})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Und vor allem: Liebe Sparer! Die EZB hat ein Projekt, von dem die Öffentlichkeit viel zu wenig weiß. Sie will einen sogenannten E-Euro einführen, also digitalisiertes Zentralbankgeld, einen EZB-Bitcoin, quasi einen Zentral-Digital-Euro. Das Projekt ist intransparent und wird nach dem Motto von Jean-Claude Juncker durchgezogen: Wir beschließen etwas und warten ab. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, dann machen wir weiter, Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt. ({0}) Wir, die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, machen hiermit einen Aufstand gegen diesen Zentral-Digital-Euro. Es gibt eben noch ein Zurück. Wir wollen Transparenz und fordern erstens eine Informationskampagne über die Entstehung von Geld in einem Zentralbanksystem, über die Aufgaben der Zentralbank selbst und die Chancen und Risiken des E-Euros und danach zweitens eine Volksabstimmung nach Artikel 20 Grundgesetz über die Einführung des Zentral-Digital-Euros. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, bei der Euroeinführung gab es damals keine Volksabstimmung. Heute haben wir Inflation, Schulden, Armut und eine wacklige Währung. Der Euro musste schon mehrmals gerettet werden. Wir erinnern uns an das „Whatever it takes“ des Schuldenmeisters Mario Draghi. Man beachte dabei: immer zulasten Deutschlands. Gestern Abend sagte Peer Steinbrück bei „Maischberger“: Schuld an der Inflation ist die überexpansive Geldpolitik der EZB. – Recht hat er. Die Aufgabe der EZB ist laut Satzung aber die Sicherung der Preisniveaustabilität. Der Brandstifter EZB wird uns hier als Feuerwehr verkauft. Digitalisiertes Zentralbankgeld, so wie die EZB es will, macht das zweistufige Bankensystem überflüssig. Gerade in Deutschland haben wir 800 Volksbanken und 400 Sparkassen mit insgesamt 340 000 Mitarbeitern. Wenn das vorbei wäre: Das wäre das Ende für den Finanzstandort Deutschland und ein endgültiger Abschied von unserem Wohlstand. Die Risiken des zentralen Digitaleuros sind riesig. Der Datenschutz ist fraglich. Minuszinsen könnten direkt vom digitalen Bargeld abgezogen werden. Und sogar die selektive digitale Enteignung von missliebigen Personen wäre möglich, zum Beispiel von jemand, der partout nicht auf seinen Diesel verzichten will, von jemand, der weiter fünfmal im Jahr mit dem Flugzeug Kurzreisen machen will, von jemand, der sich nicht mit mRNA impfen lassen will. Ein solcher zentraler Digitaleuro ist ein feuchter Traum von Klaus Schwab und seiner großen Transformation. Weg damit! ({2}) Stellen Sie einfach sicher, dass Papier- und Münzgeld das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel bleiben. Dazu gehört auch, dass man seine Steuern mit Bargeld begleichen kann; denn nur Bares ist Wahres. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und passen Sie auf Ihr Geld auf! ({3})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Der Kollege Armand Zorn hat seine Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Antje Tillmann. ({1})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit gleich zwei Anträgen versucht die AfD erneut, Bürgerinnen und Bürger zu verunsichern. ({0}) Unter dem Titel „Bargeld ist gedruckte Freiheit“ stellt sie erneut die These auf, in Deutschland stünde die Abschaffung des Bargelds zur Diskussion. ({1}) Dazu nur ganz kurz: Ich kenne keinen Vertreter der Bundesbank und ich kenne keinen ernsthaften Bundestagsabgeordneten, der über die Abschaffung des Bargelds auch nur diskutiert. ({2}) Da können Sie jede Woche einen Antrag stellen – das Bargeld wird in Deutschland bleiben, egal ob Sie sich das vorstellen können oder nicht. ({3}) Die Bevölkerung braucht sich deswegen keine Sorge zu machen. Sie hetzen, weil Sie diese Sorge in der Bevölkerung schüren wollen, völlig sinnloserweise. ({4}) Der zweite Antrag startet knackig mit dem Titel „Keinen zentralen Digitaleuro“. Was dann kommt, ist aber eher eine Maus, kein Wort zur Verhinderung. Alles das, was Sie gerade angesprochen haben, steht in dem Antrag gar nicht drin. Sie wollen den digitalen Euro gar nicht verhindern, Sie kommen zu der grandiosen Idee, man sollte die Risiken analysieren, man sollte informieren, man sollte den Fortschritt und die Ziele öffentlich diskutieren. ({5}) Alle Achtung, alle Achtung! All diese Ideen hat die Bundesbank längst gehabt, ({6}) und es haben dazu bereits vier Frühstücke mit dem Bundesbankvorstand Burkhard Balz hier im Deutschen Bundestag stattgefunden. ({7}) Ich kann mich nicht daran erinnern, Herr König, dass Sie daran teilgenommen hätten. ({8}) Wenn Sie das getan hätten, dann würden Sie viele Ihrer Bedenken vielleicht dort diskutieren und nicht hier und um diese Zeit. ({9}) Dann hätten Sie auch mitbekommen, dass die Bundesbank immer wieder selbst auf mögliche Risiken hinweist: auf Risiken beim Abfluss von Einlagen im Bankensektor, auf Risiken durch plötzliche Umschichtungen im Zentralbankgeld, beim Datenschutz, beim Thema Geldwäsche; all das steht transparent auf der Internetseite der Bundesbank. Sie hätten das nur anschauen müssen. Dann hätten Sie erkennen können, dass die Bundesbank für den digitalen Euro einen Höchstbetrag von 3 000 Euro vorschlägt, weil sie viele dieser Bedenken teilt ({10}) und in ihre Forschungen einbezieht. Es braucht keinen AfD-Antrag, um ihr das auf den Weg mitzugeben. ({11}) Sie zitieren selbst, dass es laut Umfragen einen ganz klaren Bedarf an digitaler Währung gibt. Unternehmen brauchen digitale Währungen. Dass Sie der EZB misstrauen, bleibt Ihnen ja unbenommen. Dass Sie aber unkontrolliert zulassen wollen, dass Unternehmen und Bürger mangels digitaler Währungen im Zweifel auf chinesisches Digitalbankgeld zurückgreifen, ({12}) zeigt doch nur, wie naiv Sie sind. Sie glauben, Sie könnten Deutschland von den internationalen Entwicklungen abschirmen. Das wird Ihnen nicht gelingen. ({13}) Deshalb stellen wir uns auf die Position: Wir wollen bei Neuerungen im Finanzmarkt lieber von Anfang an dabei sein, wir wollen sie begleiten, wir wollen sie mitgestalten, und wir wollen vor allen Dingen, dass sie europäisch beaufsichtigt werden. ({14}) Das werden wir in der Diskussion weiter begleiten. Ich bin sehr gespannt, ob Sie beim nächsten Frühstück all Ihre geballte Kompetenz mit einbringen. ({15}) Das wäre vielleicht einmal eine Neuerung. Herzlichen Dank. ({16})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sabine Grützmacher. ({0})

Sabine Grützmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss gestehen, ich bin ein bisschen verwirrt. Sie wollen keinen zentralen Digitaleuro, haben aber gerade von einem sogenannten Bitcoin-E-Euro gesprochen. Ihnen ist schon bewusst, dass der Bitcoin technisch die dezentrale Lösung ist? Manchmal macht es Sinn, über Anträge nachzudenken, bevor man sie stellt. ({0}) Ihre Anträge zeigen auf jeden Fall eines: das Misstrauen gegenüber der EZB. ({1}) Die Frage ist eher: Warum führen wir überhaupt eine Diskussion über den digitalen Euro? Während einige am liebsten die Zeit zurückdrehen oder statt eines digitalen Euros vielleicht lieber eine D‑Mark auf Blockchain-Basis generieren möchten, besteht die reale Gefahr, dass digitale Zahlungsmittel anderer Länder bald den europäischen Zahlungsmarkt dominieren. Und wenn große Techunternehmen eigene Zahlungsmittel anbieten, dann profitieren Sparkassen und Volksbanken davon garantiert auch nicht. ({2}) Eine europäische Lösung ist für die finanzwirtschaftliche Souveränität Europas wirklich wünschenswert und wichtig. Die Untersuchungsphase zeigt, dass eine Entwicklung von Zahlungssystemen europäischer Anbieter durch den digitalen Euro begünstigt werden könnte. Soll der digitale Euro Bargeld ersetzen? Nein, das soll er nicht. Soll er als Geldanlage dienen? Nein, das soll er auch nicht. Ist die zentrale technische Lösung überhaupt schon gesetzt? Nein, ist sie nicht. Ist er als Stablecoin wahrscheinlich verlässlicher als Krypto-Assets? Definitiv. Während Sie in Ihrem Antrag digitale Kryptowährungen anscheinend als erfolgreich ansehen, stürzt dieser Markt in der Realität derzeit ab. Wünschenswert wäre es, eine europäische Alternative zu diesen Krypto-Assets zu schaffen. Denn gerade die jungen Menschen, um die Sie sich angeblich sorgen, sind durch sogenannte Finfluencer zum Investieren in Krypto-Assets wirklich mehr als animiert worden und haben teilweise Totalverlust erlitten; das nur als Randnotiz für die sogenannten Bitcoin-Unternehmer/-innen in Ihren Reihen. Ich wollte eigentlich noch etwas zum Thema Stromverbrauch sagen und dass die beste Vorsorge gegen Blackouts nicht Bargeld oder unversicherbare Atomenergie ist, sondern der Ausbau von Erneuerbaren. Aber das möchten Sie sowieso nicht hören. Deswegen lasse ich das mit Blick auf die Zeit weg. Zurück zum digitalen Euro. Herr Balz, Vorstand der Bundesbank, hat gerade auf der BaFinTech bestätigt, dass es um eine sinnvolle Ergänzung, nicht um eine Abschaffung des Bargelds geht. Fabio Panetta, Mitglied des EZB-Direktoriums, hat klargestellt, dass der digitale Euro als weitere Option für Bezahlvorgänge gedacht ist, nicht als Konkurrenzprodukt auf dem Anlagemarkt. Das lässt sich durch Instrumente wie quantitative Obergrenzen für individuelle Guthaben oder andere Instrumente auch wirklich steuern. ({3}) Die Diskussion – wenn man an ihr teilnehmen möchte – wird mit den beteiligten Akteurinnen und Akteuren technologieoffen und auch konstruktiv geführt. Aber dieser Vorstoß hier ist unzulänglich und trägt nicht zu einer konstruktiven Debatte bei. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, auch ich hätte gerne zu Protokoll gegeben; aber wir haben in der Koalition vereinbart, dass einer aus der Koalition zu dem, was wir heute machen, etwas sagt. Ich möchte, wenn ich an diesem Ort zu dieser Zeit etwas sagen muss, gerne mit Shakespeare anfangen, um am Abend noch ein wenig zu erfreuen. ({0}) Im „Sommernachtstraum“, dritter Akt, zweite Szene, sagt Hermia so schön: Die Nacht, die uns der Augen Dienst entzieht, Macht, daß dem Ohr kein leiser Laut entflieht. Was dem Gesicht an Schärfe wird benommen, Muß doppelt dem Gehör zugute kommen. Das passt zu einer Rede an einem solchen Abend, aber es passt auch zu dem so trocken klingenden Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Regelungen zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften. Was machen wir? Sehr vereinfacht – für all die, die nicht im Rechtsausschuss sind –: Wir sorgen dafür, dass die Regelungen für Beglaubigungen – hier würden einige Veränderungen ohne dieses Gesetz sowieso schon in Kraft treten – jetzt noch so erweitert werden, dass die Notare die Möglichkeit haben, im Gesellschaftsrecht, im Genossenschaftsrecht, im Vereinsrecht die Digitalisierung so fortzuschreiben, wie die Zukunftskoalition, die Ampel, es sich vorgestellt hat, und das, wie ich finde, in einer sehr produktiven und harmonischen Art und Weise. ({1}) Meine Damen und Herren, ohne zu sehr in die Details zu gehen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir dabei zwei Dinge gleichzeitig machen: Einerseits geben wir den Notaren die Möglichkeit, in diesen Verfahren weiterhin, was die Technik angeht, voranzugehen. Dabei sind sie bisher sehr zuverlässig. Wenn wir die Vorzüge der Digitalisierung nutzen wollen, müssen wir andererseits erkennen: Wir müssen Vertrauen in die Digitalisierung schaffen, beim Bürger wie beim Unternehmer. Das schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf. Es gab bestimmte Änderungswünsche, insbesondere seitens des Deutschen Anwaltvereins. In der Frage „Welchen Notar kann ich denn im Gesellschaftsrecht nehmen?“, bleiben wir letztlich bei dem, was im tatsächlichen Leben der Fall ist. So haben wir durch die Berichterstatter – ich bedanke mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD – noch erreicht, dass – anders als im Entwurf der Bundesregierung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Strasser, noch vorgesehen – der Wohnsitz des Eigentümers, des Gesellschafters – wenn er denn identifizierbar ist, also nicht bei Aktiengesellschaften und anderen, wo das nicht klar ist –, auch Maßgabe sein kann für die Frage „Welchen Notar nehme ich digital in Anspruch?“. Verworfen haben wir dagegen Wünsche des – hier jetzt wieder einmal nicht vertretenen – Bundesrates, noch andere Parallelverfahren zu finden, die eine Vermischung mit öffentlich-rechtlichen Institutionen vorgesehen hätten. Das war nicht in unserem Sinn. Denn wir wollen bei der Digitalisierung erreichen, dass das, was wir bei Beglaubigungen durch Notare an Vertrauen haben, auch in der digitalen Welt ermöglicht wird. Für all das gäbe es noch viele weitere Argumente. Aber da, wie gesagt, die Nacht die Schärfe ein wenig kaputtmacht, höre ich jetzt einfach auf und danke. ({2})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Die Abgeordneten Stephan Mayer und Esra Limbacher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion Tobias Matthias Peterka. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Auch zu später Stunde kann ich Sie nicht verschonen und werde mich zu diesem Umsetzungspaket äußern. Ja, ich weiß, nachts um halb zwölf sind wir alle schon die länger hier Sitzenden – wir für uns und Sie da drüben als gleichlaufender Einheitsblock. ({0}) – Sie wissen genau, warum ich das gerade gesagt habe. Mit der Vorlage wird hinsichtlich eines ersten Umsetzungsgesetzes aus dem letzten Jahr kurzum nur nachgebessert. Die Stellungnahmen von Verbänden und Vereinigungen begrüßen weitestgehend, dass Onlinebeglaubigungen nun konsequent für noch mehr Teilnehmer im Rechtsverkehr möglich werden. Von der Registerführung quasi per Karteikarte wendet man sich also richtigerweise langsam ab. Dass Deutschland sich aber die längere Frist zur endgültigen Umsetzung herausgenommen hat, ist mal wieder bezeichnend. Sie haben dafür sicher wieder tolle Gründe. Jedenfalls werden die elektronischen Zertifikate vieler anderer europäischer Staaten erst jetzt in dieser Ergänzung bedacht. So richtig motiviert wirkt das Ganze nicht wirklich. Aber gut, wir haben es ja wahrscheinlich gleich geschafft, zumindest mit Wirkung zum August 2023. Das alles ist für den Wirtschaftsverkehr auch durchaus sinnvoll. Das ist gar nicht mal das Schlechteste, was man zwischenstaatlich andenken kann. Besser noch ist aber justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen durch sichere elektronische Kommunikation; das bringt bei richtiger Technik allen etwas. Da passiert derzeit einiges, wie interessierte Kreise wissen. – Deutschland muss mal wieder zum Jagen getragen werden. ({1}) Weniger umtriebig ist die Bundesregierung erwartungsgemäß bei ganz anderen digitalen Chancen, etwa bei echter Bürgerbeteiligung. Da wird auch kein Fingerzeig vom Spiritus Rector „EU-Kommission“ kommen; denn da fürchtet man das genauso wie der Teufel das Weihwasser. Onlineanmeldungen einer GmbH sind jetzt kein Problem mehr – Onlineteilnahme an echten Volksbefragungen und ‑abstimmungen sind auf gar keinen Fall gewünscht. Als Kaufmann kann ich meine Firma jetzt per Videokonferenz eintragen lassen – als Bürger kann ich nicht einmal auf der kommunalen Ebene auf digitalem Wege direkt mit meinem Volksvertreter diskutieren. ({2}) Das alles wäre auch allzu mühsam und gefährlich. Nein, hier wird auf EU-Ebene bereits das Placebo der Bürgerräte vorgeschoben – Sie wissen genau, worum es geht –, hinzu kommt ein sinnbefreiter Kommentarbereich auf irgendeiner Homepage, und fertig ist die Brandmauer zu echter, direkter Demokratie im digitalen Zeitalter. ({3}) Deutschland kopiert das freilich brav: Wenn sich demnächst Bürgerräte aus linientreuen NGO-Aktivisten mit viel Tagesfreizeit einbringen, wird Otto Normalbürger wieder einmal über den Leisten gezogen. ({4}) Digitale Teilhabe in der Politik für alle Bevölkerungsschichten und ohne Filter, das geht, wenn man will, und es ist auch kaum schwieriger als das vorliegende Paket zum Registerwesen. Wir werden Sie bei Gelegenheit daran erinnern. Vielen Dank. ({5})

Johannes Arlt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wichtige Gesetzesvorhaben wie das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz rechtfertigen, dass man auch zu sehr später Stunde hier noch mal einen Redebeitrag abgibt. Wir machen es, wie gesagt, so, dass wir als Koalitionsfraktionen für die AG Wirtschaft mit Rücksicht auf die Zeit nur diesen einen Beitrag abgeben. Die zentralen Fragen sind doch: Was schulden wir als politisch Verantwortliche, was schulden wir als Gesellschaft unseren über 180 000 Soldatinnen und Soldaten? Was schulden wir unseren über 3 600 Soldatinnen und Soldaten, die sich derzeit im Auslandseinsatz befinden? Und: Was schulden wir den Soldatinnen und Soldaten, die derzeit an der Ostflanke der NATO ihren Dienst verrichten? – Wir schulden ihnen Anerkennung, Dank und Respekt für ihre Leistungen. ({0}) Aber Anerkennung, Dank und Respekt verkommen zu Worthülsen, wenn sie sich nicht in moderner Ausstattung, in modernem, funktionierendem Gerät niederschlagen. Als Offizier, der in Afghanistan und Mali seinen Dienst geleistet hat, weiß ich aus eigener Erfahrung, wie essenziell dies ist. Lassen Sie mich sagen: Wir haben viel zu lange damit gewartet. ({1}) Wir brauchen eine optimal ausgestattete Bundeswehr, um Landesverteidigung und Bündnisverpflichtungen zu garantieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben eine Zeitenwende, weil Putin ohne Anlass und Grund völkerrechtswidrig einen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt hat. Diese Zeitenwende darf für uns in Deutschland und für die Bundeswehr nicht folgenlos bleiben. Lars Klingbeil hat es am Dienstag wie folgt beschrieben: Von Deutschland wird Führung gewünscht. – Wir wollen diesen Erwartungen auch entsprechen. Dafür benötigen wir eine leistungsfähige Bundeswehr. Eine leistungsfähige Bundeswehr wird es ohne eine leistungsfähige Beschaffung aber nicht geben; auch dies gehört zur Zeitenwende. ({2}) Mit dem vorliegenden Gesetz schaffen wir dafür die Voraussetzungen. Wir brauchen eine Kombination aus kurzfristigem und langfristigem Handeln. Beides leisten wir mit diesem Gesetzentwurf. Er führt einerseits – angesichts der dramatischen Lage – zu einer unmittelbaren Verbesserung der Beschaffung und schafft die Voraussetzungen dafür, dass das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zielgerichtet eingesetzt wird. Andererseits beinhaltet der Entwurf bereits Weichenstellungen für eine zukünftige Beschaffungspolitik. Wie gelingt uns das im Detail? Erstens durch Beschleunigung in der Vergabe und in den Nachprüfungsverfahren. Wir ermöglichen eine Zusammenlegung von Fachlosen aus wirtschaftlichen, technischen und auch zeitlichen Gründen. Wir entbürokratisieren Nachprüfungsverfahren. Wir ermöglichen schnelle richterliche Entscheidungen. Wir legen auch Wert darauf, dass die Interessen der mittelständischen Unternehmen gewahrt bleiben, nicht nur im vorgelegten Entwurf, sondern auch durch die Ausgestaltung von Ausschreibungen. ({3}) Daneben werden wir durch ein konsequentes Forderungscontrolling in der Bundeswehr von eierlegenden Wollmilchsäuen Abstand nehmen und in Zukunft schauen, dass wir durch die frühestmögliche Festlegung der Beschaffungsvariante einen Beitrag zu schneller Beschaffung leisten. ({4}) Zweitens. Wir wahren deutsche und europäische Interessen, indem wir unsichere Drittländer von Ausschreibungen ausschließen können; das ist angesichts der sich polarisierenden Weltlage elementar. Drittens. Unser Entwurf legt Grundsteine für eine künftige Beschaffung, beispielsweise dadurch, dass sich unsere Beschaffung auch an ökologischen Kriterien orientiert; das ist kein Selbstzweck, sondern eine Frage der Effizienz. Zugleich kann die Zeitenwende Ausgangspunkt für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union sein. Indem wir Beschaffung mehr europäisieren, stellen wir die Weichen für mehr einheitliche europäische Ausrüstung, stellen wir die Weichen für ein starkes Deutschland in einem wehrhaften Europa, stellen wir die Weichen für mehr gemeinsame europäische Verteidigung. ({5}) Ich komme zum Schluss. Wir schulden unserer Bundeswehr eine funktionierende und moderne Ausstattung, und wir schulden unseren Bürgern eine einsatzbereite Bundeswehr. Nachdem in den letzten 16 Jahren im unionsgeführten Verteidigungsministerium ein Tiefschlaf eingetreten war, legen wir als Ampelkoalition die Grundsteine für eine beschleunigte Beschaffung und für eine gemeinsame europäische Verteidigung. Wir laden auch die Union herzlich zur Mitarbeit am Gesetz ein. Vielen Dank. ({6})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Malte Kaufmann.

Dr. Kristian Klinck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005107, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Vorbereitung auf die heutige Tagesordnung habe ich an meinen aktiven Dienst als Soldat gedacht. Ich sehe dort gewisse Parallelen; denn auch dort gab es Spätdienste und Nachtdienste: zur Ausbildung, bei Übungen oder als Wache. Aber wir waren damals in einer anderen politischen Situation. Als ich ein junger Soldat war, spielte es keine große Rolle, auf welchem Stand unsere Ausrüstung war, wir improvisierten einfach. Der Kalte Krieg war vorbei, und wir waren von Freunden umgeben. Heute aber ist die Bedrohung so groß wie selten zuvor. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges müssen wir bereit sein, unsere Freiheit zu verteidigen. Deswegen freue ich mich heute über unseren gemeinsamen Spätdienst zu dieser Stunde. Im Sinne der Bundeswehr ist es gut, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf als Zusatzpunkt auf die Tagesordnung bekommen haben. Vielen Dank, dass Sie da sind; damit zeigen Sie Ihre Anteilnahme für die Bundeswehr. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fähigkeiten jeder Streitkraft basieren auf den Komponenten Personal, Material und Ausbildung. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind hervorragend ausgebildet. Doch das Material ist nicht vollzählig, das vorhandene Gerät ist teilweise nicht funktionsfähig oder veraltet. Das muss sich ändern. Das wird sich auch ändern. Doch im Beschaffungswesen gibt es Herausforderungen. Trotz des großen Einsatzes der hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAAINBw, unseres Beschaffungsamtes, dauern die Vorgänge teilweise ermüdend lange. Daher sind das Sondervermögen und Verbesserungen im Beschaffungswesen zwei Seiten einer Medaille. Der richtige Zeitpunkt, etwas zu ändern, ist jetzt, und die Ampelkoalition wird diesen Zeitpunkt nicht verschlafen. ({1}) Mit dem Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz passen wir den Rechtsrahmen so an, dass er zu unseren militärischen Bedarfen passt. Zusätzlich werden wir die internen Prozesse vereinfachen und beschleunigen. Dabei gilt für uns: Bei den Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr ist eine hohe Kompetenz vorhanden. Wir lassen uns keinen Sand in die Augen streuen, wir sehen keine Notwendigkeit für den teuren Einsatz externer Berater. ({2}) Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke: Unter dem Schutz der Bundeswehr und unseres Bündnisses leben wir in Frieden und in Freiheit. Der Rechtsstaat schützt die Menschen, die ihm anvertraut sind. Das Ziel der Ampelkoalition ist es, dass dieses Schutzversprechen des Rechtsstaats möglichst im ganzen europäischen Haus gelten soll. Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO passt genauso zu dieser Zielvorstellung wie unsere fortgesetzte Unterstützung der Ukraine. Das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz wird einen Beitrag zur Stärkung unserer Bundeswehr und unseres Bündnisses leisten. Ich freue mich auf die weitere Beratung. Eine gut ausgestattete Bundeswehr muss kein Traum bleiben. Seien Sie behütet und schlafen Sie gut! ({3})