Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/17/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche hat die Deutsche Stiftung Organtransplantation die Organspendezahlen für 2018 bekannt gegeben. Die Nachricht ist eine gute: Die Zahlen sind um etwa 20 Prozent gestiegen – von knapp 800 auf über 950 Organspenden. Das ist gut, aber das ist noch nicht gut genug angesichts der Zahl von 10 000 Patientinnen und Patienten in Deutschland, die auf ein Organ warten, und angesichts des Umstandes, dass jeder von uns, jeder in Deutschland morgen auf eine Organspende angewiesen sein könnte. Das zeigt aber – das ist ja auch erst mal etwas Gutes –, dass allein schon der Umstand sich positiv ausgewirkt hat, dass wir es im letzten Jahr geschafft haben, durch öffentliche Diskussionen, durchaus auch durch Informationskampagnen zu erreichen, dass ein Diskurs in der Gesellschaft – ich habe das in vielen Rückmeldungen mitbekommen – am Mittagstisch, auf der Arbeit, in der Nachbarschaft geführt worden ist. So ist aus der politischen Debatte hier im Bundestag, aus unserem Ringen auch um grundsätzlichere Fragen der Organspende, eine Debatte geworden, die tatsächlich in die Breite der Gesellschaft gestreut ist. Das zeigt eben: Sich mit dem Thema zu beschäftigen und Aufmerksamkeit zu schaffen für die Fragen von Organspende, vor allem für die Situation, dass 10 000 Menschen warten, führt dazu, dass Organspendezahlen steigen. Und das zeigt: Eine Debatte macht einen Unterschied. Ich halte das für sich genommen auch schon für ein gutes Signal. ({0}) Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir vor allem die Strukturen in den Krankenhäusern verändern, die Organisation dort verbessern, auch Vergütungsfragen so regeln, dass es für die Krankenhäuser, die sich um Organspende und höhere Spendenzahlen kümmern, nicht auch noch ein Nachteil ist, das zu tun. Was genau haben wir vor? Ich will vier Punkte kurz aufgreifen. Das Erste ist die Frage des Transplantationsbeauftragten, der es im Klinikalltag heute oft schwer hat, den nötigen Freiraum, die nötige Zeit und manchmal auch die nötige Aufmerksamkeit in der jeweiligen Klinik zu haben. Das ist, wie ich aus vielen Gesprächen weiß, sehr unterschiedlich. Einige Krankenhäuser machen das sehr vorbildlich; andere tun sich da bis jetzt eher schwer. Es geht also darum, dem Transplantationsbeauftragten durch verbindliche Freistellungsregelungen und eine entsprechende Refinanzierung mehr Freiraum und mehr Zeit zu geben. Seine Position im Klinikalltag soll aufgewertet werden, auch hinsichtlich Informationsmöglichkeiten, also Zugang zu Informationen und zu Intensivstationen, aber vor allem auch hinsichtlich der Möglichkeiten, potenzielle Organspender zu identifizieren und insbesondere – das ist ja das Entscheidende – in sehr schwierigen Lebenslagen Gespräche in aller Ruhe zu führen. Das zweite große Thema ist die Frage der Vergütung. In den Krankenhäusern, in denen die Organe entnommen werden, bedeutet das natürlich auch eine Beanspruchung von Ressourcen und Kapazitäten, ob es um Apparate, Diagnostik, Pfleger, Ärzte oder auch den Operationssaal geht, der dann über Stunden entsprechend vorgehalten wird. Es muss dafür gesorgt sein, dass ein Krankenhaus, das sich aktiv darum kümmert, dass die Spenderzahlen steigen und dass Organe entnommen werden können, nicht auch noch finanziell schlechtergestellt ist. Deswegen haben wir sehr großzügige Regelungen vorgesehen, um diese Mehrkosten abzudecken. Ich denke, dass das auch ein wichtiges Zeichen für die Kliniken ist, sich hier mehr zu engagieren. ({1}) Wir haben drittens die Einrichtung eines konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes vorgesehen. Was ist das Ziel? Das Ziel ist, in jedem Entnahmekrankenhaus sicherzustellen, dass zu jeder Zeit Neurologen oder Neurochirurgen feststellen können, wann die Hirnfunktionen unwiederbringlich ausgefallen sind und damit eben eine Organspende möglich ist. Durch Verträge zwischen den Kostenträgern und der Ärzteschaft soll sichergestellt werden, dass wir regional entsprechende Bereitschaftsdienste haben, die kurzfristig abrufbar sind. Wir sammeln parallel ja auch Erfahrungen aus dem Transplantationsregister; dabei geht es darum, gezielt im Einzelfall zu sehen, was dann passiert ist oder woran möglicherweise eine Organspende gescheitert ist. Ein letzter, ein vierter Punkt, den ich ansprechen will, der mir auch persönlich sehr wichtig ist, ist die Frage der Angehörigenbetreuung. Die Empfänger eines Organs, einer Organspende möchten ihren Dank gerne ausdrücken, auch ausdrücken können gegenüber der Familie, den Angehörigen des Spenders. Das muss natürlich anonym passieren. Es muss aber trotzdem möglich sein. Nach der derzeitigen Rechtsprechung haben wir keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür. Das heißt, der Dank des Empfängers erreicht heute nicht die Angehörigen des Organspenders. Und das wollen wir hiermit ändern. Ich weiß aus dem eigenen Bekanntenkreis etwa von einer Familie, die ihren Sohn leider sehr früh durch einen Unfall verloren hat und die bis heute im positiven Sinne davon zehrt, dass ihr Sohn – sie musste ja in einer sehr schwierigen Situation die Entscheidung treffen, dass er als Organspender zur Verfügung steht – ({2}) helfen konnte. Eine solche Entscheidung fällt einem ja erst einmal schwer. Die Dankesbriefe und auch die Treffen, die die Stiftung im Rahmen der Nachbetreuung organisiert, sind für sie sehr wichtig, auch emotional, weil sie so wissen, dass es geholfen hat, und das dann auch für sich selbst klar haben. Deswegen ist das eine relativ kleine, aber eine wichtige Regelung, gerade auch für die Angehörigen der Organspender. ({3}) Ich würde mich sehr freuen, wenn dieses Gesetz in einem relativ großen Konsens beschlossen würde. Wir haben schon im Bundesrat gemerkt, dass dies einer der ganz wenigen Gesetzentwürfe ist, zu dem es nicht einen einzigen Änderungswunsch des Bundesrates gegeben hat. Meine Bitte an den Deutschen Bundestag ist, dass wir schnell in die Beratungen einsteigen und sie möglichst zügig abschließen, damit die entsprechenden Verbesserungen dann auch sehr schnell in den Kliniken spürbar sind. Parallel werden wir hier im Deutschen Bundestag noch die grundsätzlichen Fragen, zum Beispiel ob Entscheidungs- oder Widerspruchslösung, miteinander debattieren. Ich fände es aber ein starkes, ein schönes Signal, wenn wir dieses Gesetz, das vor allem Organisations- und Finanzfragen, die aber sehr konkrete positive Wirkungen haben, beinhaltet, jetzt auch zügig in die Beratungen bringen. Danke schön. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Axel Gehrke, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von Ihnen, Herr Spahn, soeben vorgelegten Änderungen zum Transplantationsgesetz leisten in der Tat einen Beitrag zu entsprechenden Verbesserungen der Organisationsabläufe im Krankenhaus. Eine entscheidende Rolle spielt dabei – Sie sagten es – der oder die Transplantationsbeauftragte. Soweit es sich dabei um Verbesserungen organisatorischer Zuweisungen handelt, sind wir weitgehend einer Meinung. Die Transplantationsbeauftragten sollen aber auch die Angehörigen „in angemessener Weise“ begleiten. Während Sie in Ihrem Gesetzentwurf an allen möglichen Ecken und Enden Verfahrensabläufe geändert haben, lassen Sie an dieser Stelle einen unbestimmten Rechtsbegriff als leere Worthülse stehen. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie hier nur Organisatorisches vorlegen, aber die wahren Fragen, Sorgen und Ängste der Bevölkerung ausklammern. ({0}) Es fehlt Ihnen der Mut – der Mut zur Wahrheit. Das laste ich Ihnen gar nicht persönlich an. Denn dieser Mut fehlte auch allen Ihren Vorgängern, und dieser Mut fehlt sogar Ärzteverbänden bis hin zur Bundesärztekammer. ({1}) Der Gesetzgeber sollte in einer so sensiblen Lebenssituation es eben nicht den Transplantationsbeauftragten anheimstellen, was sie unter „angemessen“ verstehen, sondern klare, der Wirklichkeit entsprechende Angaben machen. Dazu gehören erstens der wahre Umgang mit dem Hirntod als Todesfeststellung – der Hirntod ist zwar ein sicheres Zeichen des unabdingbaren Sterbens, aber nicht der Tod eines mit künstlichen Maßnahmen am Leben gehaltenen Organismus –, zweitens eine klare Festlegung, ab wann und unter welchen Bedingungen sie, die Transplantationsbeauftragten, anordnen dürfen, mit sogenannten organprotektiven Maßnahmen zu beginnen, drittens klare Regelungen, dass sie zu keinem Zeitpunkt psychischen Druck auf die Angehörigen in dieser für diese sowieso schon schweren Zeit ausüben dürfen, und viertens gehört dazu, das Prozedere des Abschiednehmens nach der Transplantation verpflichtend so zu regeln, dass dadurch die Würde des Todes für die Angehörigen nicht genommen wird. ({2}) Nur solche klaren Regelungen machen es möglich, al­truistisches, mitmenschliches Engagement durch Spende eigener Organe auch ehrenamtlich zu würdigen. Darüber hinaus werden die Transplantationsbeauftragten mit umfassenden Rechten ausgestattet. Während sie vor der Änderung des Gesetzes lediglich organisatorische Helfer nach Hirntodfeststellung waren, werden sie jetzt ermächtigt, die Verfahrensregelungen im Krankenhaus eigenständig und zu beliebigen Zeitpunkten zu bestimmen. So ein Fehlen allgemeingültiger, gesetzlich bestimmter Verfahrensregelungen schafft kein Vertrauen, und genau darum geht es, wenn Sie Organspender gewinnen wollen. ({3}) Zusätzlich werden Entnahmekrankenhäuser für ihre Leistungen bei der Organspende besser vergütet, wobei die Vergütung dafür außerhalb dessen liegt, was über das DRG-System abgerechnet werden kann. Die ganze Problematik hat das Mitglied des Deutschen Ethikrates, Professor Höfling, in einem prägnanten Satz zusammengefasst. Ich zitiere: Was die deutsche Transplantationsmedizin und ihre Patienten wirklich brauchen, ist ein Systemwechsel vom Defizitmodell der Selbstregierung zu einem demokratisch legitimierten, rechtsstaatlich strukturierten und kontrollierten Transplantationssystem. Haben Sie den Mut, in diesem Sinne zu handeln. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Dr. Karl Lauterbach, SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ist festzustellen, dass eine leichte Zunahme der Spendenbereitschaft und eine leichte Zunahme der Zahl der Organspenden zu verzeichnen sind. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Nach wie vor stehen zehnmal so viele Menschen auf der Warteliste, wie Organspender zur Verfügung stehen. Weiterhin sterben pro Jahr doppelt so viele Menschen an einem Organversagen, wie es Organspenden gibt. Jetzt nach der Zunahme wurden zwar etwa 1 000 Organspenden durchgeführt, trotzdem sterben jedes Jahr 2 000 Menschen, während sie auf ein Organ warten. Jeder einzelne Organspender hilft im Durchschnitt drei bis vier anderen Menschen, die auf ein Organ warten. Betrifft das Leber-, Lungen- oder Herztransplantationen, bedeutet das, dass die Betroffenen vor dem sonst sicheren Tod gerettet werden. Für Menschen, die an der Dialyse sind, bedeutet eine Transplantation, dass ihre Lebensqualität verbessert und ihre Lebenserwartung verlängert wird. Im Durchschnitt warten die Menschen in Deutschland zehn Jahre auf ein Organ. Stellen Sie sich vor, was das für eine Belastung ist. Es handelt sich oft um junge Menschen, die zehn Jahre auf ein Organ zu warten. Viele wissen, dass im Ausland um uns herum die Wartezeiten viel kürzer sind. Es gibt mittlerweile sogar Spendebedürftige, die ins Ausland ziehen, weil dort eher die Möglichkeit besteht, ein Organ zu bekommen. Es gibt Wegzüge aus Deutschland nach Spanien, wo die Zahl der Organspenden um ein Vielfaches höher ist. Daher bitte ich Sie, die Bedeutung des Gesetzes nicht zu unterschätzen. Ich bin dankbar, dass Konsens über die Notwendigkeit einer Änderung besteht. Ich möchte betonen: Bei der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs haben wir gezeigt, wie gute Zusammenarbeit funktioniert. Wir haben wirklich jeden Vorschlag aufgegriffen, übrigens auch Vorschläge aus der Opposition. ({0}) Wir haben uns nicht auf das Wissen innerhalb der Großen Koalition beschränkt, sondern wir haben alle Anregungen aufgenommen, weil wir ein Gesetz aus einem Guss machen wollten. Lassen Sie mich etwas zum Geist der Gesetzgebung insgesamt sagen. In kaum einem anderen Bereich verhält es sich wie bei der Organspende im Krankenhaus. Dort ist es nämlich so: Wenn ich es gut mache, dann mache ich Verluste. Tatsächlich können Krankenhäuser mit einer guten Organisation der Organspende nur Verluste machen, weil der Transplantationsbeauftragte nicht freigestellt ist und nicht ausreichend bezahlt wird. Die Pauschale für die Vorbereitung der Spende ist nicht ausreichend; denn sie ist undifferenziert, zu niedrig und berücksichtigt keine Sonderposten. Alle drei Probleme lösen wir. Wir werden eine differenzierte Pauschale einführen, es wird eine Kostenerstattung für Mehrkosten geben, und wir werden darüber hinaus eine direkte Vergütung der Anteile, die nicht in der Pauschale enthalten sind, vornehmen. Das ist eine deutliche Verbesserung. Das führt aber nicht dazu – das sage ich in Richtung derjenigen, die es falsch darstellen –, dass man mit einer Organspende Gewinne machen kann; das ist für ein Krankenhaus ein eher kleiner Posten. Hier ist aus meiner Sicht die Rückkehr zur Kostenerstattung die richtige Herangehensweise, nicht die Hinkehr zur Gewinnmaximierung. Die Kosten müssen erstattet werden, aber es dürfen keine Gewinne gemacht werden. Wir wollen an die Krankenhäusern nicht den Anreiz weitergeben: Spendet mehr als notwendig! – Jede Spende muss angemessen sein. Weder zu wenige noch zu viele Spenden sind akzeptabel. ({1}) Die Basis für eine Organspende ist das Vertrauen, dass der Tod auch eingetreten ist; der Kollege von der AfD hat es eben angesprochen. Dafür brauchen wir eine gute, belastbare und sichere Feststellung des Hirntods. Dafür muss in den Kliniken eine Konsiliarbetreuung auf höchstem Niveau zur Verfügung stehen; denn in diesem Bereich ist jeder einzelne Fehler absolut unverzeihlich. Daher werden wir einen Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst organisieren, der einen entsprechenden Ablauf auf höchstem Niveau sicherstellt. Auch das ist eine wichtige Initiative. ({2}) Wir werden insgesamt über zwei Gesetzentwürfe debattieren. Heute debattieren wir über die Organisation der Organspende, demnächst debattieren über einen Gesetzentwurf, mit dem wir die Spendebereitschaft regeln wollen. Wir sollten diese beiden Gesetzentwürfe nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen beides. Beides muss optimal funktionieren. Was nützt eine optimale Organisation eines Ablaufs, für den uns dann aber die Spender fehlen. Wir müssen über die vorliegenden Vorschläge diskutieren. Herr Spahn und ich haben sogar einen eigenen Vorschlag vorbereitet, der sich noch in der Diskussion befindet. Hierzu gibt es auch Gegenvorschläge. Letztendlich brauchen wir eine optimale Organisation, aber wir müssen auch sicherstellen, dass jeder potenzielle Spender auch tatsächlich zum Spender wird. Bisher wollen 85 Prozent der Menschen spenden, aber nur rund 35 Prozent der Menschen haben einen Organspendeausweis. Das ist ein großes Problem. Wir müssen beide Aspekte zusammenbringen. Wir werden die entsprechende Debatte führen, die aber den vorliegenden Gesetzentwurf in keiner Weise entwertet oder überflüssig macht. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katrin Helling-Plahr, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie treffen einige überfällige Maßnahmen wie etwa die Freistellung der Transplantationsbeauftragten, die wir lange gefordert haben und die die Bundesregierung bisher verschlafen hat. Hierfür haben Sie auch aus der Opposition heraus Respekt verdient. Aber, Herr Minister Spahn, ich hätte mehr Mut von Ihnen erwartet. Kürzlich ging der Fall von Alexander Ernst durch die Medien. Alexander Ernst ist 31 Jahre alt, dialysepflichtig und wartet auf eine Spenderniere. Seine Mutter würde ihm sehr gerne eine Niere spenden. Leider ist das Organ für ihn nicht kompatibel. Es hätte aber die Möglichkeit zu einer Überkreuzspende gegeben. Damit wäre sowohl Alexander Ernst als auch einem weiteren Betroffenen geholfen gewesen. Eigentlich eine großartige Chance, doch die Überkreuzspende scheiterte an unserem Transplantationsgesetz. Danach bedarf es für die Lebendspende stets verwandtschaftlicher Beziehungen oder jedenfalls eines besonderen Näheverhältnisses zwischen Organspender und -empfänger. Das besteht zwar zwischen Alexander Ernst und seiner Mutter, nicht aber zu dem fremden Überkreuzspendepaar. Die Spende ist damit bei uns gesetzlich nicht zulässig. Alexander Ernst hängt weiter an der Dialyse. ({0}) Herr Spahn, Sie weisen zu Recht darauf hin, dass alle acht Stunden ein Mensch auf der Warteliste stirbt, weil kein passendes Spenderorgan gefunden wird. Wir haben über 10 000 Menschen auf der Warteliste. Neun von zehn warten auf eine Leber- oder Nierenspende. Ihnen könnte mit einer Lebendspende geholfen werden. ({1}) Wenn Sie es ehrlich meinen, wenn Sie wirklich etwas ändern wollen, dürfen Sie den Bereich der Lebendspende nicht einfach bewusst vergessen. Zu dem Fall Alexander Ernst wollte Ihr Ministerium keine Stellung nehmen. Bringen Sie dann wenigstens jetzt den Mut auf, sich der Thematik der Organlebendspende zu stellen. Auch über die Problematik der Überkreuzspende hinaus ist unser Uralt-Transplantationsgesetz dringend überarbeitungsbedürftig. Warum ermöglichen wir keine Spenden in anonyme Organpools? Wir finden, wenn sichergestellt ist, dass jemand freiwillig aus selbstlosen Motiven spenden möchte, dann soll er das auch dürfen! ({2}) Lassen Sie uns außerdem die Nachrangigkeit der Lebendspende gegenüber der postmortalen Spende aufheben. Derzeit ist die Organspende eines Verstorbenen stets einer Lebendspende vorzuziehen. Das gilt zum Beispiel auch, wenn der eigene Ehepartner ausdrücklich spenden möchte; er darf nicht. Obwohl die medizinischen Aussichten für einen Betroffenen nach der Lebendspende besser sind, muss er erst darauf warten, dass eine andere Person stirbt. Das ist doch absurd. ({3}) Lassen Sie es uns dem Ehegatten künftig auch erlauben, zu spenden. Einem weiteren Patienten auf der Warteliste ist dann gleich mitgeholfen. Sehr geehrter Herr Minister Spahn, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist die Lebendspende ein ethisch schwieriges Thema. Aber die Chance auf Leben für Betroffene auf den Wartelisten ist es wert, sich dieser Debatte zu stellen. Natürlich muss sichergestellt werden, dass eine Lebendspende freiwillig und aus selbstlosen Motiven erfolgt. Spender müssen umfassend aufgeklärt werden. Wenn sie dann aber als mündige Patienten eine Entscheidung für eine Spende treffen wollen, sollen sie das auch dürfen. ({4}) Die derzeitige Situation in Deutschland wird weder unseren humanistischen Werten noch den Anforderungen an eine moderne Versorgung gerecht. Es ist Zeit, etwas daran zu ändern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Harald Weinberg, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema des Antrags der FDP, die altruistische Lebendspende, ist natürlich ein schwieriges Thema. Ich habe dafür durchaus ein paar Sympathien, sehe allerdings auch bestimmte Risiken. Ich denke, im weiteren Verfahren werden wir sehen, was die Anhörungen und die Debatten dazu bringen. Wir haben gerade gehört, dass die lange Zeit rückläufigen Spenderzahlen jetzt wieder anziehen. Das ist schön. Es gibt aber immer noch sehr, sehr viele Menschen auf der Warteliste. Nicht so im Fokus sind die Entnahmekrankenhäuser. Darauf möchte ich ganz kurz zu sprechen kommen. Insgesamt haben wir knapp 2 000 Krankenhäuser in Deutschland. Davon sind etwa 1 300 als Entnahmekrankenhäuser gemeldet, darunter 36 Uniklinika, 124 Krankenhäuser mit Neurochirurgie – dort ist das alles sicher kein großes Problem –, aber auch über 1 000 Krankenhäuser ohne Neurochirurgie. Angesichts von insgesamt weniger als 1 000 Entnahmen pro Jahr – wir haben es ja gerade gehört; im Schnitt sind es 950 Spender im Jahr – ist klar, dass die Organentnahme bei einem Spender in vielen Häusern eher ein seltenes Ereignis ist. Das führt logischerweise dazu, dass die Stellung des Transplantationsbeauftragten in diesen Häusern nicht besonders stark ist, dass das eher sozusagen nebenherläuft und insgesamt nicht so besonders wichtig genommen wird. Und im Falle eines Spenders muss Expertise, zum Beispiel für die Hirntodfeststellung, von weither angefordert werden. Angesichts weniger Intensivbetten und Operationssälen in diesen kleinen und mittleren Häusern, die bei einer Entnahme logischerweise für längere Zeit belegt wären, ist klar: Es bestehen nicht besonders gute Strukturen, um das nach vorne zu bringen. Die bisherige Vergütung deckt womöglich die Kosten der Infrastruktur, gleicht aber den Erlösausfall unter den Bedingungen der dia­gnoseorientierten Fallpauschalen in den Krankenhäusern nicht aus. Das alles sind also keine günstigen Strukturen für die Organspende. Auch wenn die Debatten über die Zustimmungsregelung sicher mehr Öffentlichkeit erzielen als die Debatten über die Strukturen, weil sie leichter in ein Talkshowformat – Infotainment – zu überführen sind, und auch wenn der neueste Vorschlag, die Spendenbereitschaft mittels Ehrenamtsnadel und Vergünstigungen bei Einkäufen und Eintritten anzureizen, nett sein mag – vielleicht auch etwas merkwürdig daherkommt –, sind all das aus meiner Sicht nicht die entscheidenden Punkte. Ich bin trotz allem überzeugt, dass die ungünstigen Strukturen in der Organisation der Organspende der eigentliche Flaschenhals sind. ({0}) Insofern setzt der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, auch aus unserer Sicht an den richtigen Stellen an, um das noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen. Das Gesetz, wenn es so oder ähnlich verabschiedet wird – es geht ja noch durch die Beratungen in den Ausschüssen und durch die Anhörung –, ist dazu angetan, den bestehenden Flaschenhals in den organisatorischen Strukturen der Entnahmekrankenhäuser weiter zu machen. Beseitigen wird es den Flaschenhals aus unserer Sicht allerdings nicht. Dazu wäre eine sehr viel weitreichendere Umstellung notwendig, vor allen Dingen in der Finanzierung der Krankenhäuser, weg von den Fallpauschalen. Das ist aber nicht in Sicht, auch wenn das DRG-System immer weiter unter Druck gerät, wie wir in den Diskussionen merken. Aber auch innerhalb der bestehenden Systematik würden wir uns weiter gehende Regelungen an ein paar Stellen wünschen, so zum Beispiel bei der Vergütung, bei der Organisation und bei der Begleitung der Angehörigen und auch der Beschäftigten; denn eine Organentnahme in den Krankenhäusern ist für alle auch eine seelisch herausfordernde Situation, die verarbeitet werden muss. ({1}) Transparenz, Vertrauen und eine sensible Begleitung bei der Organentnahme sind wichtige Aspekte, die einen Einfluss auf die Spendenbereitschaft haben, und zwar einen großen Einfluss. Ob eine Stiftung mit einem zentralen Einfluss der Bundesärztekammer als privatrechtlicher Verein – in dem Fall also die DSO, die Deutsche Stiftung Organtransplantation – die dazu notwendigen Voraussetzungen herzustellen vermag, dahinter darf man mit Blick auf die vergangenen Jahre ein Fragezeichen setzen. Ich denke an die Skandale, die in den Jahren 2010, 2011 und 2012 in der Diskussion waren. Schon 2012 haben wir in einem Antrag gefordert, diese Aufgaben einer staatlichen Instanz unter strenger Fachaufsicht zu übertragen. Wir werden das wieder in die Anhörung und die Beratungen einbringen. ({2}) Fazit: Alles in allem ist der Gesetzentwurf sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sind auf die weiteren Beratungen und die Anhörung gespannt. Davon wird letztlich das Votum unserer Fraktion abhängen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine einzige Organspenderin, ein einziger Organspender kann im Schnitt drei Menschen helfen, die auf ein Spenderorgan warten. Organspende rettet Leben; das ist völlig klar. Gleichzeitig bereitet das Thema vielen Unbehagen, weil es immer die Konfrontation mit dem eigenen Tod bedeutet. Darum ist es so wichtig, dass wir uns alle mit diesem komplizierten Thema auseinandersetzen. Wir haben das jüngst in einer, wie ich finde, bemerkenswerten Orientierungsdebatte hier im Deutschen Bundestag getan. In dieser Debatte ging es vor allem um die ethischen Aspekte dieses ganzen Themas. Heute nun debattieren wir über einen Gesetzentwurf, der die Strukturen in den Kliniken verbessern soll. Diese Strukturen sind die entscheidenden Stellschrauben, um die Zahl der tatsächlich realisierten Organspenden endlich zu verbessern. ({0}) Stellen Sie sich vor, Sie haben sich zu Lebzeiten komplett freiwillig und selbstbestimmt dazu entschieden, im Fall Ihres Todes Organspenderin oder Organspender zu sein. Und dann gehen im Fall der Fälle Ihre Organe als Spenderorgane verloren, weil Sie als potenzieller Organspender in der Klinik nicht identifiziert und Ihre Organe nicht gemeldet werden. Das ist tragisch. Doch das ist leider noch viel zu oft Realität in unseren Kliniken. Das darf so nicht bleiben. ({1}) Eine Studie der Universität Kiel hat klar gezeigt: Die entscheidenden Stellschrauben liegen im Erkennen und Melden potenzieller Organspender. Das ist der Hebel. Im vergangenen Herbst haben wir mit dem Gesundheitsausschuss eine Reise zum Organspendeweltmeister Spanien gemacht, um zu hören: Wie können sie ihre guten Organspendezahlen realisieren? Auch dort dasselbe Ergebnis – die Antwort war eindeutig –: Organisation und das Vertrauen der Bevölkerung in das Organspendewesen. Es gibt keinen Grund, in die Entscheidungsfreiheit der Menschen einzugreifen, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Was wir brauchen, sind gute Abläufe in den Kliniken und Menschen, die sich des Themas mit Kenntnis und Herzblut annehmen: Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte. Was wir brauchen, ist eine angemessene Vergütung der Organspende in den Kliniken. Was wir brauchen, ist ein sensibler Umgang mit den Angehörigen. ({2}) Ich will mal zum Äußersten schreiten und anerkennen, Herr Minister Spahn – Sie sitzen da hinten –: Das ist wirklich ein gutes Gesetz, das Sie hier vorlegen – endlich. ({3}) Früher wäre noch besser gewesen. Aber immerhin jetzt sollen die Transplantationsbeauftragten angemessen freigestellt werden, die Finanzierungslücke soll geschlossen werden, und ein neurologischer Konsiliardienst soll verbindlich eingerichtet werden. Das ist alles richtig. Darum unterstützen wir Grünen diesen Gesetzentwurf – weitgehend. ({4}) Anders als von Ihnen vorgeschlagen, finden wir, dass die private Krankenversicherung bei der Finanzierung des geplanten neurologischen Dienstes stärker in die Verantwortung genommen werden muss. ({5}) Die Expertinnen und Experten, die sich mit dem Nervensystem auskennen, sollen überall und jederzeit bei der Hirntodfeststellung zurate gezogen werden können. Warum soll dieser Dienst allein von den gesetzlich Versicherten finanziert werden? Warum erhält die private Krankenversicherung ein Mitspracherecht bei der Ausgestaltung, ihr finanzieller Beitrag aber bleibt freiwillig? Das ist ungerecht und muss noch geändert werden. ({6}) Aus meiner Sicht brauchen wir auch über das Gesetz hinausgehende Strukturverbesserungen. Wir brauchen ein zentrales Organspenderegister; ({7}) ein Register, in das sich alle freiwillig eintragen können, die Organe spenden wollen. Die gesetzliche Grundlage steht bereits im Transplantationsgesetz. Warum nutzen Sie diese Möglichkeit nicht, Herr Minister? Diese Möglichkeit nicht zu nutzen, bedeutet verschenktes Potenzial. ({8}) Ganz besonders wichtig ist es, das Vertrauen in das Organspendesystem wiederherzustellen, und zwar stärker, als das jetzt der Fall ist. Viele Menschen, die in ihrem Organspendeausweis ein Nein stehen haben – das hat jüngst eine Erhebung der BZgA ergeben –, geben als Grund mangelndes Vertrauen an; mangelndes Vertrauen in die Transplantationsmedizin durch die Skandale der letzten Jahre. Das darf uns nicht kaltlassen. Es wäre dringend geboten, gerade in diesem sensiblen Bereich für mehr Transparenz und klare und, wie ich finde, staatliche Aufsichtsstrukturen zu sorgen. ({9}) Im europäischen Ausland sind die Kenntnis und das Wissen über Organspenden in der Aus- und Weiterbildung sowohl der Ärztinnen und Ärzte als auch des Pflegepersonals viel stärker verankert. Das macht doch Sinn! Wir sollten Wege finden, das Thema Organspende auch in Deutschland stärker in den Curricula zu verankern. ({10}) Diese Aspekte und vielleicht noch ein paar mehr werden wir im Zuge der Beratungen noch debattieren. Dann wird dieses Gesetz vielen Menschen helfen, die jetzt auf den Wartelisten stehen und die sich nichts mehr wünschen als ein Spenderorgan. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Pilsinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Meine Damen und Herren! Zuallererst: Danke an Bundesminister Spahn für den gelungenen und zielführenden Entwurf des Gesetzes für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende. Der Gesetzentwurf baut auf der zentralen Erkenntnis auf, dass die niedrigen Organspendezahlen in Deutschland auf Probleme im Prozess der Organspende zurückzuführen sind. Das ist richtig. Und daraus zieht der Gesetzentwurf auch die richtigen Schlüsse. ({0}) Bei der Erhöhung der Zahl der Organspenden in Deutschland kommt den Krankenhäusern, in denen Organe entnommen werden, eine entscheidende Rolle zu. Deshalb setzt der Gesetzentwurf auch hier an. Fünf Punkte hebe ich hervor: erstens mehr Zeit für die Transplantationsbeauftragten, zweitens eine faire Bezahlung der Entnahmekrankenhäuser, drittens eine regionale Rufbereitschaft für qualifizierte Ärzte, viertens eine verbesserte Qualitätssicherung und fünftens eine bessere Betreuung der Angehörigen von Spendern. Das alles wird dazu beitragen, mehr Menschenleben zu retten. Erstens. Die Transplantationsbeauftragten werden mehr Zeit für ihre wichtige Aufgabe haben; denn das Gesetz sieht vor, dass sie anteilig von ihren sonstigen Aufgaben im Entnahmekrankenhaus freigestellt werden. Diese anteilige Freistellung der Transplantationsbeauftragten wird zukünftig vollständig refinanziert. Darüber hinaus stärken wir die Rolle der Transplantationsbeauftragten deutlich. Sie bekommen künftig Zugang zu den Intensivstationen und alle erforderlichen Informationen zur Auswertung des Spenderpotenzials. Außerdem sollen sie hinzugezogen werden, wenn Patientinnen und Patienten nach ärztlicher Beurteilung als Organspender in Betracht kommen. Künftig können die Transplantationsbeauftragten zudem für fachspezifische Fort- und Weiterbildungen freigestellt werden. Die Kosten dafür trägt die Klinik. All diese Neuerungen sind Ausdruck der Wertschätzung der wichtigen Tätigkeit der Transplantationsbeauftragten. ({1}) Zweitens. Die Entnahmekrankenhäuser erhalten mehr Geld. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes. Bisher ist eine Organentnahme für die Entnahmekrankenhäuser defizitär, das Krankenhaus zahlt drauf. Die aktuellen Erstattungsbeträge mögen zwar den tatsächlichen Aufwand der Organentnahme abdecken. Die Beträge berücksichtigen aber unter anderem nicht, dass das Bett auf der Intensivstation nicht mit einem anderen Patienten belegt werden kann, dass das Personal nach einer nächtlichen Organentnahme am nächsten Tag im Routinebetrieb fehlt oder dass ein Arzt Zeit aufwendet, um potenzielle Organspender zu identifizieren. Wer Organe entnimmt, macht zurzeit ein Minus. Das hört jetzt endlich auf. ({2}) Drittens. Mit dem neuen Gesetz wird zudem ein bundesweiter neurologischer Konsiliardienst in Rufbereitschaft eingeführt. Dieser gewährleistet, dass jederzeit flächendeckend qualifizierte Ärzte bei der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalles zur Verfügung stehen. Damit unterstützen wir insbesondere die kleineren Entnahmekrankenhäuser; denn diese stehen vor dem Problem, dass sie oft nicht über die notwendige Expertise verfügen, um den Hirntod festzustellen. Mit dem Gesetz zeigen wir einen Ausweg. Viertens. Mit dem Gesetz führen wir ein klinikinternes Qualitätssicherungssystem ein. Das ist Grundlage für ein flächendeckendes Berichtssystem. Dieses ermöglicht es den Entnahmekrankenhäusern und den Landesbehörden, zu beurteilen, ob und inwieweit die einzelnen Entnahmekrankenhäuser die vorhandenen Organspendemöglichkeiten realisieren. Mit diesem System werden potenzielle Organspender besser erkannt und gemeldet. Fünftens – das ist für Angehörige von Organspendern zentral –: Mit dem neuen Gesetz werden die Angehörigen künftig besser betreut. Insbesondere regeln wir verbindlich den Austausch zwischen den Organempfängern und den nächsten Angehörigen der Organspender in anonymisierten Schreiben. Ein solcher Kontakt ist für viele Betroffene von großer Bedeutung. ({3}) All diese Regelungen tragen dazu bei, die Strukturen in Bezug auf die Organspende in den Entnahmekrankenhäusern zu verbessern. Sie tragen dazu bei, dass die Zahlen der Organtransplantationen in Deutschland wieder steigen. Das sind wir den etwa 10 000 Patienten schuldig, die dringlichst auf ein Spenderorgan warten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Detlev Spangenberg, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zahl der freiwilligen Organspender in Deutschland zu erhöhen, ist das Thema. Ansatz: Wir haben zu wenig Organspender. Wir müssen zwischen der geringen Organverfügbarkeit und der geringen Spendenbereitschaft unterscheiden. Die zu geringe Organverfügbarkeit hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir einen anderen Standard haben: Hirntod gegenüber Herztod. Aber das ist heute nicht das Thema, sondern es geht um die Bereitschaft. Meine Damen und Herren, die Spendenbereitschaft betrifft einen der sensibelsten Bereiche in der Medizin. Hier geht es um Leben und Tod. Der eine kann nur dann leben, wenn der andere stirbt. Das heißt, Vertrauen als Grundlage, als Motivation, zu spenden, ist hierbei das Wichtigste, was wir haben. Das bedeutet weiterhin, dass wir uns keine Skandale leisten können. Auch der leiseste Ansatz kann die Motivation, Spender zu sein, zerstören. Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier ganz vorsichtig und ganz korrekt vorgehen. Die Verfahren, die wir zurzeit mit Spenderausweis oder Information auf der elektronischen Patientenkarte haben, reichen nicht aus, weil man solche Karten öfter gar nicht bei sich hat oder nicht bei sich haben wird. Das heißt, wir brauchen eine andere Erfassungsstelle. Da schwebt mir als Vorschlag vor, dass wir eine zentrale Stelle einrichten, sodass diejenigen, die aufgrund der Organisationsstrukturen Transplantationen durchführen, per Knopfdruck sofort wissen: Das ist ein Spender. So haben sie keinerlei Zweifel. Sie können arbeiten, ohne dass sie recherchieren müssen. Aber: Bei der Einführung einer solchen Kartei, einer solchen zentralen Stelle, müsste auch eine Widerspruchsmöglichkeit vorgesehen werden, sodass man im Laufe seines Lebens von einer Zustimmung wieder zurücktreten kann, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, der Meinung ist, man möchte das nicht mehr tun. Das Problem der Patientenverfügung sollte vom Gesetzgeber unbedingt mitberücksichtigt werden; denn eine solche kann die Organentnahme verhindern. Im Gesetzentwurf des Ministeriums, des Ministers wird unter A. Allgemeiner Teil, zweiter Absatz suggeriert, die niedrige Anzahl an Spendern habe mit der Stärkung der Position der Transplantationsbeauftragten zu tun. Das kann ich hier nicht erkennen. Wir müssten erst einmal wissen, welche konkreten Aufgaben ein Transplantationsbeauftragter wirklich hat, welche Qualifikationen er haben müsste. Vor allen Dingen brauchen wir für ihn bundeseinheitliche Regelungen und keinen Flickenteppich, dass die einen Länder das so und die anderen das so machen. Das, denke ich, wird geregelt werden müssen. Daran kommen wir nicht vorbei. Unter 3.5 im Allgemeinen Teil steht, dass „der Grundstein für den Aufbau eines Qualitätssicherungssystems“ gelegt werden solle. Da ist natürlich die Frage: Hatten wir vorher kein Qualitätssicherungssystem? Es macht keinen guten Eindruck, wenn so etwas erst eingeführt werden muss. ({0}) Ich möchte eines deutlich machen, meine Damen und Herren: Mit Gewinnerzielungsabsichten im Gesundheitswesen hatte ich sowieso schon immer Probleme, damit, das als wirtschaftlichen Zweckbetrieb zu sehen. In diesem Bereich finde ich das besonders problematisch. Es müsste anders gemacht werden, dass vielleicht Spezialkliniken ohne ein eigenes Budget dafür Transplantationen als Pflichtaufgabe mit einem allgemein höheren Budget durchführen, zum Beispiel eine Universitätsklinik. Diese würde nur diese Arbeit durchführen: kein externer Ausweis der anfallenden Kosten, nur ärztliche Pflichtaufgabe, kein Interesse an der Organverpflanzung aus wirtschaftlichen Erwägungen. Das würde das Vertrauen stärken. Denn wenn jemand hört, für die Entnahme eines Organs bekommt die Klinik die und die Vergütung, macht das keinen guten Eindruck auf die Spender. Ich denke mir, wenn das eine Pflichtaufgabe wäre, die wirklich eingebaut ist, sodass es für die Krankenhäuser uninteressant wäre, wie viele sie durchführen, dann hätten wir mehr Vertrauen. Das könnte ich mir vorstellen. Dann denke ich daran, dass auch das einbezogene Personal durch eine schlüssige moralisch-ethische Begründung ihrer Tätigkeit gestärkt werden müsste. Es gibt viele, die an einer Organentnahme beteiligt sind, die bei diesem sensiblen Thema wirklich Probleme haben. Diese Menschen müssten entsprechend geschult und eingeführt werden, dass sie diese Arbeit auch wirklich ohne Beklemmung, ohne irgendwelche Nachwirkungen auf ihre eigene Sensibilität durchführen können. Abschließend möchte ich noch eines sagen: Es ist mittlerweile der Trend zu verzeichnen, dass derjenige, der spendet, als ganz lieber Mensch dargestellt wird. Das ist auch so. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die nur Anerkennung findet. Aber gleichzeitig dürfen wir nicht dazu übergehen, dass diejenigen herabgewürdigt werden, die das nicht tun. Ein Organ zu spenden, ist eine freiwillige Aufgabe, eine freiwillige Leistung, ist eine eigene Entscheidung. Diese sollte jeder für sich treffen können, ohne dass er den moralischen Zeigefinger gezeigt bekommt, auch wenn wir die Spender in dieser Gesellschaft wirklich ganz deutlich anerkennen und loben müssen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sabine Dittmar, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Orientierungsdebatte hier vor wenigen Wochen hat eines zum Ausdruck gebracht: Organspende ist ein Thema, mit dem sich viele Menschen nur sehr ungern auseinandersetzen und worüber sie nur ungern eine Entscheidung treffen. Letztendlich bedeutet es die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Gleichzeitig ist eine Organspende aber für die gut 10 000 Menschen, die aktuell auf der Warteliste stehen, eine Frage von Leben und Tod. Statistisch gesehen werden auch am heutigen Tag wieder drei bis vier Menschen in Deutschland versterben, weil sie nicht rechtzeitig ein passendes Spenderorgan erhalten haben. Diese Zahlen zeigen ganz deutlich: Wir haben dringenden Handlungsbedarf. Erfreulicherweise waren die Spenderzahlen 2018 deutlich höher als in der Vergangenheit. Aber machen wir uns nichts vor: Wir bewegen uns noch immer auf einem sehr niedrigen Niveau. Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode mit zwei wichtigen Vorhaben das Thema Organspende anpacken. In einer offenen Debatte werden wir nach Möglichkeiten suchen, die Organspendebereitschaft zu erhöhen. Wir diskutieren von der Widerspruchslösung bis zur verbindlichen Entscheidungslösung, und das in einer sehr fairen Art und Weise. Ein weiterer immens wichtiger Baustein ist aber das Gesetz, über das wir heute hier sprechen. Wir werden die Rahmenbedingungen für die Entnahmekrankenhäuser mit dem vorgelegten Gesetzentwurf deutlich verbessern. So haben wir aktuell in sehr vielen Entnahmekrankenhäusern erhebliche Defizite bei der Erkennung, bei der Dokumentation und bei der Meldung von potenziellen Organspendern. Ein freigestellter Transplantationsbeauftragter ist keineswegs Standard. Viele Häuser sind mit dem Prozessablauf einer Organspende überfordert – von einer kostendeckenden, leistungsgerechten Vergütung ganz zu schweigen. Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern. Wir stärken die Schlüsselposition des Transplantationsbeauftragten. Wir werden verbindlich regeln, dass er freigestellt wird, dass er refinanziert wird und dass er vor allem die erforderlichen Durchsetzungsbefugnisse bekommt. Das ist wichtig; denn der Transplantationsbeauftragte ist in der Klinik der erste Ansprechpartner für alle Fragen rund um die Organspende: für medizinisches und pflegerisches Personal, für die Deutsche Stiftung Organtransplantation und vor allem für die Angehörigen. Das Thema Organspende in einer für Angehörige emotionalen Ausnahmesituation zu besprechen, das erfordert sehr viel Sensibilität, Empathie und vor allem Zeit. Es ist wichtig, dass sich die Angehörigen in dieser Phase gut betreut wissen und mit dem Transplantationsbeauftragten ihre Fragen klären können. Erfahrungen aus Ländern mit einer hohen Bereitschaft zur Organspende belegen die zentrale Rolle des Transplantationsbeauftragten. Weiterhin werden wir sicherstellen, dass die Kliniken, die Verantwortung für diese Gemeinschaftsaufgabe Organspende übernehmen, transparent, kostendeckend und leistungsgerecht finanziert werden. Wir schreiben für die Kliniken im Gegenzug aber verbindlich fest, dass sie potenzielle Spender identifizieren und diese auch melden müssen. So kann sich kein Krankenhaus der Verantwortung beim Thema Organspende entziehen. Sehr gut sind auch die Regelungen zur Angehörigenbetreuung; denn es ist sehr wichtig, dass diese sich austauschen können. Da werden wir den anonymisierten Datenaustausch ermöglichen. Abschließend noch eine Bemerkung zu einem Thema, das mir wichtig ist, nämlich die Bereitstellung eines neurologischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes. Damit werden wir dafür sorgen, dass zu jeder Zeit qualifizierte Ärzte für die notwendige Diagnostik zur Verfügung stehen. Das hilft vor allem den kleinen Häusern; denn auch in einem Haus der Grundversorgung kann eine Organspende realisiert werden. Ich habe das in meinem Wahlkreis vor einigen Jahren erlebt. Das kleine Haus in Ebern mit etwa 70 Betten hat mit großem Engagement der Beschäftigten und mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Organtransplantation eine Organspende realisieren können. Das verdient höchste Anerkennung. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass wir mit den in dieser Legislatur geplanten Maßnahmen vielen Menschen auf der Warteliste neue Hoffnung geben können. Ich freue mich sehr auf die parlamentarische Beratung und auf weitere Anregungen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Spahn! Die Organspende ist ein Themenkomplex, den wir als FDP-Fraktion von Beginn der Legislaturperiode an intensiv begleitet haben. Daher haben wir schon frühzeitig, noch bevor Sie Minister waren, Herr Spahn, auf die schlechten Rahmenbedingungen in den Kliniken aufmerksam gemacht. Die FDP-Fraktion war es auch, die im September 2018 einen Fachkongress zu diesem Thema veranstaltet hat und mit allen Beteiligten aus Kliniken, mit Fachleuten und sogar mit Kirchenvertretern intensiv zu diesem Thema diskutiert hat. Aus dieser Erkenntnis heraus kann ich sagen: Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein richtiger, ein wichtiger Schritt, um die Organspenderzahlen in Deutschland zu erhöhen; ({0}) denn Ursache für die alarmierenden Zahlen in Deutschland ist nicht die mangelnde Spendenbereitschaft der Bevölkerung, sondern es sind vielmehr der arbeitsintensive Klinikalltag und der Organisationsablauf in den Kliniken. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht klar definierte Freistellungsregelungen für Transplantationsbeauftragte vor, die – und das ist ganz wichtig – vollständig refinanziert werden. Meine Damen und Herren, das ist eine Forderung, die auch wir immer so gestellt haben und sehr begrüßen. Auch die besseren Vergütungsregelungen, die Angehörigenbetreuung und die Einrichtung eines neurologischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes sind wichtige und notwendige Maßnahmen, die wir sehr begrüßen. Umso weniger verstehen wir, Herr Spahn, dass Sie für uns zur Unzeit und ohne die Wirkung Ihres irgendwann jetzt zu verabschiedenden Gesetzentwurfs abzuwarten, die Widerspruchslösung auf den Tisch gelegt haben. Haben Sie doch einfach mal Vertrauen in Ihr eigenes Gesetz. Wir vertrauen darauf, dass die darin ergriffenen Maßnahmen mehr helfen als eine Widerspruchslösung, ({1}) die ich zum Beispiel vehement ablehne, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger missachtet. ({2}) Herr Kollege Lauterbach, hier wird auch nicht das eine gegen das andere ausgespielt. Sie führen immer – das haben Sie eben auch getan – Spanien als Beispiel an für die tollen Zahlen. Ja, die haben tolle Zahlen – aber nicht wegen der Widerspruchslösung; denn die wird dort gar nicht angewandt. ({3}) Das hätten Sie gewusst, wenn Sie mal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen gesprochen hätten, die in Spanien waren, oder wenn Sie einmal im Gesundheitsausschuss auftauchen würden. Da hatten wir das auch als Thema, und da ist ganz klar hervorgehoben worden, dass die Widerspruchslösung dort nicht angewandt wird. Was dort gemacht wird, entspricht genau den organisatorischen Maßnahmen, die jetzt im Gesetz stehen und die wir befürworten. ({4}) Meine Damen und Herren, was wir brauchen, sind mehr Informationsangebote – damit meine ich übrigens auch Informationen durch Ärzte, die dafür vergütet werden müssen –, ein Organspenderregister, eine regelmäßige Abfrage der Spendenbereitschaft und eine rechtliche Erleichterung der Lebendspende. Ich glaube, meine Kollegin Katrin Helling-Plahr hat hier einen wunderbaren Antrag dazu vorgestellt, und ich hoffe, dass wir diesen entsprechend beraten können. Wir finden den vorliegenden Gesetzentwurf gut. Unser Antrag ist aber auch gut. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss, und zwar zum Wohle der schwerkranken Patientinnen und Patienten, die dringend auf ein Spenderorgan warten. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Riebsamen, CDU/CSU. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen alle, dass es nicht diese eine Stellschraube gibt, die man bewegen muss, um zu mehr Organspenden in unserem Land zu kommen; denn zu vielschichtig ist dieses Problem. Es geht darum, dass man sich mit dem eigenen Tod beschäftigen muss, und das unter Umständen schon in jungen Jahren; das ist eine Herausforderung. Es geht um ethische Fragen, die wir in der wichtigen Orientierungsdebatte vor einigen Wochen aufgegriffen haben, und es geht um die rein technischen, organisatorischen Fragen, die wir mit diesem Gesetz regeln wollen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich hege die Hoffnung, dass wir uns mit diesem Gesetz und mit dieser Regelung der organisatorischen und technischen Fragen möglicherweise etwas leichter tun bei den ethischen Fragestellungen, damit man sich nicht entscheiden muss – vielleicht muss man es eines Tages trotzdem –, zur Widerspruchslösung Ja zu sagen. Ich hoffe, dass das nicht nur ein frommer Wunsch bleibt, sondern dass es wirklich so ist. ({0}) Wir haben es bei diesem Punkt als Gesetzgeber in der Hand, abschließende Regelungen in einem Gesetz zu treffen und es nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, sozusagen der Philosophie zu überlassen, ob es zu mehr Organspenden kommt oder nicht. ({1}) Wichtigster Punkt in diesem Gesetz ist der Transplantationsbeauftragte. Diesen gibt es zwar schon heute in den Krankenhäusern, aber seine Ausgestaltung ist nicht bundesweit einheitlich geregelt, sondern von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich. Es wird zukünftig die Freistellung – das ist wichtig – je nach Größe des Krankenhauses, je nach Größe der Intensivstation, je nach Anzahl der Beatmungsplätze geben. Es wird eine Klarstellung geben, welche Rechte und natürlich auch Pflichten der Transplantationsbeauftragte im Krankenhaus hat, und es wird – und das ist insbesondere für mittlere und kleine Krankenhäuser wichtig – einen neurologischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienst geben, um rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr, ständig Zugriff zu haben auf zwei Neurologen, die in der Lage sind, den Hirntod festzustellen. Als vierten Punkt regeln wir in diesem Gesetz die Finanzierung. Es ist sicher nicht so, dass Krankenhäuser transplantieren wollen oder Transplantationskrankenhäuser sein wollen, um Geld zu verdienen. Das ist ganz gewiss nicht der Fall. Allerdings war die Finanzierung in der Vergangenheit nicht auskömmlich. Wir werden jetzt mit diesem Gesetz die einzelnen Prozeduren, die notwendig sind, voll ausfinanzieren. Wir werden eine Pauschale dafür zur Verfügung stellen, dass die Spender überhaupt gemeldet werden, und wir werden einen Zuschlag gewähren für die Inanspruchnahme der Infrastruktureinrichtungen der Krankenhäuser. Damit haben wir sozusagen ein Selbstkostendeckungsprinzip, und es wird nicht mehr am Geld liegen, wenn ein potenzieller Spender nicht weitergemeldet wird. Wir werden eine bessere Qualitätssicherung dadurch bekommen, dass auch gemeldet werden muss, wenn die Spende eines ursprünglich potenziellen Spenders nicht infrage kommt, und dass einmal im Jahr Bericht erstattet werden muss von den Transplantationskrankenhäusern. Ich hoffe sehr, dass es aufgrund dieses Gesetzes nicht mehr dazu kommt – das wurde mir vor kurzem auf einem Neujahrsempfang geschildert –, dass ein Mensch, der lange Zeit auf eine Gewebespende gewartet hat, ins europäische Ausland gehen muss, um dort eine Gewebespende zu bekommen. Das sollte der Vergangenheit angehören. Ich hoffe sehr, dass uns dies mit diesem Gesetz gelingt oder wir dem zumindest ein Stück näher kommen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie in den vorangegangenen Debatten schon deutlich gemacht wurde, muss die Entscheidung zur Organspende eine Entscheidung freier Bürger bleiben, frei von jedweder Form staatlicher Beeinflussung. Damit sich wieder mehr Menschen für eine Spende entscheiden, bedarf es der Transparenz und Glaubwürdigkeit der Prozesse und Strukturen. Zum vorliegenden Entwurf möchten wir deshalb, auch wenn wir keinen eigenen Vertreter im Gesundheitsausschuss haben, einige konstruktive Anmerkungen und Vorschläge einbringen. Für jede Intensivstation wird ein Transplantationsbeauftragter gefordert. Dessen Verfahrensanweisungen sollen die Kliniken verbindlich umsetzen. Faktisch wird diese Freistellung vor allem in kleineren Häusern Lücken an anderen Stellen reißen, weil man hier meist nur auf sowieso schon oft überarbeitetes vorhandenes Personal zurückgreifen kann. 0,1 Stelle für bis zu zehn Betten. Was heißt das in der Praxis? Das sind knapp vier Stunden in der Woche. Wird das reichen, wenn von den zehn Betten plötzlich drei Fälle akut werden? Kann das reichen, wenn eine angemessene Angehörigenbetreuung nicht erst nach der Entnahme, sondern schon weit vorher ansetzen müsste und am Prozess der DSO andocken soll? Wodurch wird all das sichergestellt, wenn in großen Häusern mit mehreren Intensivstationen mehrere Transplantationsbeauftragte eigene Regelungen erlassen, die dann insbesondere das Pflegepersonal, wie zum Beispiel die Springer, vor zusätzliche Herausforderungen stellen? Während eine ganze Reihe von sicherlich sinnvollen Änderungen für Ärzte und Entnahmekrankenhäuser gesetzlich verankert werden soll, fehlt eine solche Verankerung jedoch für die Weiterbildung und Spezialisierung des Pflegepersonals. Deshalb sollte man darauf achten, dass dieses nicht wieder auf der Strecke bleibt; denn auch wenn die DSO solche Weiterbildungen bundesweit anbietet, sind sie weder verpflichtend, noch besteht ein Rechtsanspruch darauf. Die Mehrkosten für die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes in Höhe von 34 Millionen Euro werden von den gesetzlichen Krankenkassen getragen; die privaten können sich beteiligen. Faktisch heißt das, diese Kosten werden früher oder später beim Beitragszahler landen; so ehrlich sollten wir dann auch sein. Altruistische Spenden, wie von der FDP vorgeschlagen, sind hoch kontrovers. Denkt man den Begriff „Individualrechtsgüter“ konsequent zu Ende, stellt sich die Frage, wie das Thema später gegen „high urgent“ Gelistete abgewogen werden soll. Ein anderer Vorschlag – er wurde gestern noch eingebracht – lautet, Ehrenamtskarten einzuführen. Dessen Umsetzung koppelt dieses hochsensible Thema letztlich doch mit wirtschaftlichen Aspekten. Ich mag mir gar nicht ausmalen, worauf so etwas hinausläuft. Anstecknadeln und öffentliche Ehrungen, am besten noch in Innenhöfen – ein seltsamer Vorschlag. Wir würden uns sehr freuen, wenn diese Ideen Eingang in die Diskussionen im Ausschuss fänden und wir uns mit diesen Denkanstößen ein klein wenig am Prozess beteiligen könnten. Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Hilde Mattheis, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat aus einer Studie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, das mit dieser Studie eventuell genau die richtige Grundlage für dieses Gesetz gelegt hat. Da heißt es: Der Rückgang der postmortalen Organspenden ist mit einem Erkennungs- und Meldedefizit in den Entnahmekrankenhäusern assoziiert. Gelingt es, diesen Prozess organisatorisch und politisch zu stärken, könnte die Zahl der Organspenden erheblich gesteigert werden. ({0}) Genau darum geht es. Ich bin sehr dankbar, dass dieses Gesetz vorliegt, bevor wir das Thema „Zustimmungs- oder Widerspruchslösung“ hier im Hohen Haus noch mal debattieren. Warum? Weil wir uns – ich glaube, alle Wortbeiträge haben das gezeigt – einig sind, dass die Entnahmekrankenhäuser gestärkt werden müssen, dass es darum geht, den Transplantationsbeauftragten oder die Transplantationsbeauftragte entsprechend freizustellen, auch die Finanzierung dieser Freistellung zu gewährleisten und dadurch natürlich auch die Angehörigenarbeit zu verbessern. Das ist also alles eine gute Grundlage. Ob das ausreichend ist – schon jetzt wird angemerkt, dass die PKV sich entsprechend beteiligen muss –, das werden wir im parlamentarischen Verfahren diskutieren. Im Hinblick auf meine Fraktion sage ich: Da werden wir offen sein, weil es darum geht, diese wichtige Grundlage zu legen, um die Entnahmekrankenhäuser zu entlasten. ({1}) Das ist der wichtige Punkt, den wir immer wieder kommunizieren müssen: dass es darum geht, beim Thema Organspende nicht nur die ethische Frage zu debattieren, sondern auch darum, die Organisation zu verbessern. Dabei waren die Reise nach Spanien und auch der Austausch in Kopenhagen wirklich hilfreich. Ich fand es besonders bemerkenswert, dass die Intensivmediziner, mit denen wir diskutiert haben, damit insbesondere auch die ethische Frage verbunden haben, dass sie die Debatte nicht nur unter medizinischen Gesichtspunkten geführt haben, sondern dass sie auch zu dem Schluss gekommen sind – dies haben sie uns auch so kommuniziert –: Es geht letztendlich um die Würde des Sterbens in den Entnahmekrankenhäusern. Das fand ich besonders beeindruckend. ({2}) Es geht also darum, alles dafür zu tun, dass die Angehörigen sich in den Entnahmekrankenhäusern wirklich so aufgehoben fühlen, dass sie sich nicht überrumpelt fühlen, dass ihre Angehörigen, die im Sterben liegen, die auf der Intensivstation liegen, nicht als Ware betrachtet werden, sondern als Menschen, die keine Verpflichtung haben, sondern die in äußerster Solidarität mithelfen, dass anderes Leben erhalten bleibt. ({3}) Diesen Gesichtspunkt fand ich schon sehr beeindruckend. Für all das braucht es einen guten organisatorischen Rahmen. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir uns heute mit diesem Gesetz befassen und dass wir anstreben, es womöglich noch ein Stück weit effektiver zu machen. Es ist aber auch wichtig, in weiteren Schritten Debatten zu führen, die dann wirklich so was wie Organhandel – auch das ist ein Thema – und auch das Thema, das wir in der Orientierungsdebatte aufgegriffen haben – Widerspruchs- oder Zustimmungslösung –, zum Gegenstand haben. All das führt, glaube ich, dazu, dass wir auch in Deutschland erhöhte Organspendezahlen haben, wenn wir das Ganze transparent und immer mit dem Blick auf beide Aspekte, nämlich auf diejenigen, die eine Spende brauchen, und diejenigen, die spenden, gestalten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tino Sorge, CDU/CSU. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach knapp einer Stunde Debatte zum Thema Transplantationsgesetz ist natürlich vieles schon gesagt worden. ({0}) Insofern will ich mich an den Ausspruch halten – der Kollege hat es gerade so ähnlich zugerufen –: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Ich will nur noch mal darauf hinweisen, dass wir uns, glaube ich, alle in dem Punkt einig sind, dass die Organspendezahlen, so wie sie momentan sind – auf einem solch niedrigen Niveau –, nicht bleiben dürfen. Auch deshalb ist es so wichtig, dass wir bei der Frage „Worum geht es in dem Gesetz?“ offen darüber sprechen, dass wir hier nicht wieder alles miteinander vermengen sollten. Das hat ja der Kollege Spangenberg von der AfD wieder gemacht. Er hat so getan, als würde hier grundsätzlich über die Frage diskutiert werden, welche Lösung wir letztendlich bei der Frage, ob Organe eines Einzelnen gespendet werden, vorschlagen. Vielmehr diskutieren wir heute tatsächlich nur darüber, wie wir die strukturellen Defizite, beispielsweise im Bereich der Entnahmekrankenhäuser, verbessern können. Insofern, glaube ich, helfen wir der Diskussion, wenn wir hier nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir mit Einzelregelungen, mit punktuellen Lösungen die Organspendebereitschaft der Bevölkerung, die ja – es ist mehrfach angesprochen worden – bei über 80 Prozent liegt, erhöhen. Wir müssen stattdessen auch nach außen viel offensiver darstellen, dass es mit diesem Gesetz konkret darum geht, beispielsweise den angesprochenen Flickenteppich, den wir in den Ländern bei den Fragen haben: „Welche Transplantationsbeauftragten sind in den Entnahmekrankenhäusern tätig?“, „Welche Aufgaben haben die Transplantationsbeauftragten?“, „Wie werden sie freigestellt?“, nunmehr – auch im Hinblick auf die Frage anteiliger Freistellungen – zu beseitigen und Bundeseinheitlichkeit zu schaffen. Deshalb ist das ein gutes Gesetz, und wir sollten es auch zügig verabschieden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja auch das Thema angesprochen worden, wie wir diejenigen, die diese Bereitschaft haben, wenn der Fall eintritt, besser unterstützen können. Das Thema Angehörigenbetreuung ist angesprochen worden, und da sollten wir jetzt auch nicht den Eindruck erwecken, so wie es ebenfalls von der AfD-Seite suggeriert worden ist, als ginge es darum, dass die Angehörigen über den Tisch gezogen würden. Das ist überhaupt nicht der Fall. Herr Gehrke hat suggeriert – ich hoffe, ich habe ihn da falsch verstanden –, als würde das Kriterium der Feststellung des Hirntodes auch in diesem Gesetz nicht einheitlich geregelt werden bzw. als würden in diesem Gesetz irgendwelche Unklarheiten sein. Das ist gerade nicht der Fall. Dieses Gesetz regelt die Frage: Wie können wir in Entnahmekrankenhäusern, insbesondere in kleinen Entnahmekrankenhäusern, wo gerade die fachärztliche Expertise in der Regel nicht rund um die Uhr vorliegt, über den neurochirurgischen und neurologischen konsiliarärztlichen Bereitschaftsdienst sicherstellen, dass die Organspender identifiziert werden, sodass letztendlich keine Organe verloren gehen? Insofern ist das Gesetz aufgrund dieser Regelung an diesem Punkt klar und eindeutig. Es ist deshalb sehr gut. Deshalb bin ich froh, dass wir das jetzt hoffentlich zügig verabschieden werden. Vielleicht noch ein Punkt zu einer Frage, die man im Rahmen der Diskussion über Organspenden auch häufig hört. Wir müssen hier differenzieren – ich habe es am Anfang schon gesagt –: Es geht auf der einen Seite um die Frage: Wie können wir die strukturellen Defizite in den Entnahmekrankenhäusern verbessern? Auf der anderen Seite geht es um die Frage: Welche konkrete Lösung finden wir für das Problem, ob jemand Organspender sein möchte? Insofern – mein Dank geht auch an den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn – war es gut, dass uns die Orientierungsdebatte, die wir letztes Jahr im November geführt haben, eine erhebliche Anzahl an weiteren Debatten in der Öffentlichkeit beschert hat, die gut sind, weil wir uns so mit diesem Thema auch kontrovers auseinandersetzen müssen. Wie letztendlich die Lösung aussieht, ob es eine Zustimmungs- oder eine Widerspruchslösung gibt, werden wir hier im Hohen Haus entscheiden. Insofern, denke ich, ist dieses Gesetz – Änderung des Transplantationsgesetzes, Verbesserungen der strukturellen Defizite – ein sehr guter erster Schritt. Wir sollten das Gesetz möglichst zügig verabschieden; das sind wir den Zehntausenden, die auf eine Organspende warten, schuldig. Zudem gilt es, Organspenden grundsätzlich zu regeln. Auch das werden wir dieses Jahr noch machen. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6915, 19/5673 und 19/7034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Dann bitte ich, möglichst zügig die offenbar notwendigen Platztauschaktionen durchzuführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es ein bisschen schneller geht, werden wir heute Nacht dafür dankbar sein.

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hakt in Deutschland bei der Zollabwicklung und bei den Formalitäten: Sie ist zu bürokratisch, und es werden gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen überproportional belastet. Wir haben in 2018 Unternehmen in ganz Deutschland von allen Größen gefragt, mit welchen Anforderungen sie im Tagesgeschäft beim Im- und Exportgeschäft konfrontiert werden. Ich sage Ihnen: Diese Anforderungen sind zu hoch. Teilweise werden ganze Abteilungen unterhalten, um der Zollbürokratie Herr zu werden. Das ist weder zeitgemäß, meine Damen und Herren, noch ist es angemessen. Wo liegen die Probleme? Erstens. Die Erreichbarkeit und die Betreuung durch die Zollämter sind ausbaufähig. Zweitens. Die Öffnungs- und Bearbeitungszeiten sind praxisfern. Drittens. Es fehlt an qualifiziertem Personal. Viel zu spät hat die Bundesregierung hier reagiert und Stellen für den Brexit geschaffen. Allerdings muss man fragen: Woher nehmen wir denn jetzt noch die Zeit, um die Menschen zu qualifizieren? ({0}) Viertens. Die vorhandenen Softwarelösungen sind zu kompliziert, und generell kommt die Digitalisierung des Zollwesens nur schleppend in Gang. Sie geht halbherzig vonstatten. Das heißt: Am Ende des Tages müssen Unternehmen doch noch viele Dokumente in Papierform vorlegen, und das im Jahr 2019, meine Damen und Herren. Das ist Wahnsinn. ({1}) Die Frustration der Menschen, die die Zollabwicklung in den Betrieben machen, können Sie sich bestimmt vorstellen. Fünftens. Es gibt zu Recht viele Rechtsänderungen im Zollwesen, dafür aber viel zu wenig praktikable Informationen direkt vom Zoll. Stattdessen gibt es teure Schulungen, wodurch gerade kleine Unternehmen besonders belastet werden – mit viel Geld und mit viel Zeit. Das sind nur fünf Punkte einer ganzen Reihe von Punkten, die sich in der Befragung herauskristallisiert haben. Das beschäftigt die Unternehmen, behindert sie aber auch. Wir müssen handeln und die Zollverfahren digitaler und damit einfacher, besser und effizienter machen. ({2}) Der Brexit wäre eigentlich schon schwer genug, aber der Druck wird bald noch zunehmen. Ich weiß nicht, wer heute Morgen „Moma“ geschaut hat. Dort wurden Menschen, die für die Zollabwicklungen in Unternehmen zuständig sind, interviewt. Ein möglicher harter Brexit wird die Abfertigung weiter ins Stocken bringen und die Wartezeiten weiter erhöhen – und Deutschland ist nicht vorbereitet. Wir Freien Demokraten fordern Sie auf, zu handeln. Wir brauchen einfachere Zollverfahren und damit eine spürbare Entlastung der deutschen Betriebe. ({3}) Mit unserem heute hier vorgelegten Antrag fordern wir Sie auf, den Sorgen von Unternehmerinnen und Unternehmern vor allem in kleinen und mittelständischen Unternehmen nachzugehen. Das heißt: Raus aus den Papierbergen, rein in die KI und rein in die Blockchain-Verfahren. ({4}) Hier könnte Deutschland Vorreiter werden. Schauen Sie einmal nach Südkorea, dort werden bereits Blockchain-Plattformen zur Abwicklung des internationalen Warenhandels genutzt. Warum machen wir das nicht? ({5}) Setzen Sie sich doch bitte dafür ein, und treiben Sie es voran, nicht nur lachen. Was tut die Bundesregierung, um die Nutzung von fachlicher Software auch für kleine und mittelständische Unternehmen attraktiv zu machen? ({6}) Gerade für diese Betriebe sind die Arbeitsbelastung und die Kosten der Zollbürokratie zu hoch. Der Aufwand muss hier reduziert werden. Wenn der Aufwand sinkt, dann sinkt logischerweise auch der Beratungs- und der Bearbeitungsbedarf in den Zollbüros. Lassen Sie doch diejenigen, die bereits über eine Zuverlässigkeitslizenz verfügen, auch zu ihrem Recht kommen, statt diese weiter zu gängeln, indem Sie diese Lizenz im Jahresabschlussbericht bei den Zollämtern in schriftlicher Form vorlegen lassen. Die Auskünfte der Zollämter müssen einheitlich und rechtssicher erteilt werden. Das spart Zeit und Geld bei den Unternehmen und schafft – was wir wollen – Raum für Investitionen und auch für Innovationen. Handeln Sie endlich, und vereinfachen Sie das Steuerrecht für Importe. ({7}) Spätestens jetzt müssen wir die Zollbürokratie vereinfachen. Ich hoffe noch immer, dass der Brexit nicht zum Chaos an allen See- und Flughäfen hier im Lande führt. Trotzdem sollten wir schleunigst für Verbesserungen sorgen. Meine sehr geehrten Kollegen, die Resonanz der Wirtschaft auf diese Thematik war sehr groß, und sie ist nach wie vor groß. Damit unser Antrag hier noch mehr Gehör findet und auch weiter debattiert wird, haben wir diese Debatte im Netz unter dem Hashtag #dutyfree eingestellt. Schauen Sie doch mal rein! ({8}) Ich appelliere noch einmal an Sie: Lassen Sie uns die Unternehmen von den Lasten des Zolldschungels befreien! Stimmen Sie diesem Antrag zu, und sorgen Sie dafür, dass die Zollverfahren in Deutschland einfacher werden! Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. Thomas de Maizière für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Thomas Maizière (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004105, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich meine Rede mit einem Dank beginnen, auch mit einem Dank an die FDP: ({0}) Herzlichen Dank, dass Sie dazu beitragen, dass an so prominenter Stelle einmal über den Zoll gesprochen wird; das ist gut. ({1}) Ich will gerne mit einem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zolls beginnen, die trotz großer Anforderungen Tag und Nacht bei der Vorbereitung auf den Brexit und trotz vielerlei Anfeindungen jeden Tag gute Arbeit leisten. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten sich in Ihrer Rede auch einmal bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zolls bedankt, wie ich das hier tue. ({2}) Das ist es aber auch schon mit dem Lob; denn wenn man Ihren Antrag im Detail einmal liest, bekommt man sehr schnell den Eindruck, als sei nach Auffassung der FDP die gute Arbeit der Zollbeamten eher eine Belastung und eine Zumutung für die Wirtschaft. Duty Free zum Beispiel hört sich gut an, ist aber nicht Gegenstand unserer Rechtslage. Wir von der Union sagen deutlich: Es mag Fehler geben, es mag in dem einen oder anderen Vorgehen des Zolls auch eine Übertreibung geben, aber nach unserer Meinung behindert der Zoll nicht das unternehmerische Schaffen in unserem Land, sondern schützt und gewährleistet es gerade, damit alles mit rechten Dingen zugeht. ({3}) Auch wir wollen, wie sicher auch Sie, dass sich der Zoll eher um die schwarzen Schafe kümmert und die Ehrlichen in Ruhe lässt. Leider ist es so, dass nicht an jedem Firmenschild steht, wer der Ehrliche und wer das schwarze Schaf ist. Der Antrag der FDP ist im Übrigen in der Sache sinnvoll, aber zu spät und zu allgemein. Das meiste von dem, was Sie fordern, ist längst auf dem Weg. Sie fordern mehr Personal und mehr Informationstechnik. Deutschland – Sie haben eben ein Klagelied angestimmt – ist übrigens laut einem Index der Weltbank, dem Logistikindex, gerade zum Logistikweltmeister erklärt worden, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass auch die Zollbearbeitung ziemlich effizient ist, jedenfalls im Vergleich zu anderen Staaten. Wenn ich mit Unternehmen rede, höre ich natürlich manchmal Klagen über den Zoll, aber meistens über Zollverfahren anderswo in der Welt und nicht bei uns. Jedenfalls wundert mich, dass Sie viele Sachverhalte ansprechen, die längst angegangen werden. Der Zoll wurde unter Wolfgang Schäuble und wird, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, gestärkt. Es sind im Haushalt 2019 für dieses Jahr 775 zusätzliche Stellen geschaffen worden. Bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit wollen wir die Zahl der Beschäftigten von 7 500 auf 10 000 in den nächsten Jahren erhöhen. Das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und das Zollfahndungsdienstgesetz sind auf dem Weg. Wir wollen damit bewirken, dass der Zoll noch effektiver wird. Hier drängen wir, Frau Kollegin Hagedorn, auf eine zügige Einbringung dieser Gesetzentwürfe. Mehrere Ihrer Forderungen betreffen IT, auch das Programm „Zoll 2020“, den sogenannten Zollkodex. Dazu gibt es einen sehr kritischen Bericht des Europäischen Rechnungshofes; wir unterstützen das. Da gibt es Zeitverzögerungen; da gibt es keine klaren Entscheidungsstrukturen. Ich habe das gestern schnörkellos und klar angesprochen. Ein Wortbeitrag der FDP war dazu gar nicht vorgesehen; Sie haben sich gar nicht geäußert. Daher ist das offenbar bei uns in guten Händen. ({4}) Es gibt eher andere Baustellen, die Sie nicht angesprochen haben: Wie bekommen wir genügend gutes Personal? Wie und wo kann es effektiv ausgebildet werden? Wir begrüßen die kurzfristigen Erweiterungen der Ausbildungskapazitäten in Münster und Leipzig. Wir hören, dass es ein zukunftsfähiges Standortkonzept geben soll. Wir drängen darauf, dass es schnell kommt, und zwar so, dass die Standorte überwiegend im ländlichen Raum und im Osten Deutschlands angesiedelt werden und nicht die großen Städte verstärken, wo es schon ausreichend Personal gibt. ({5}) Ich halte fest: Die Kompetenzen der Zollbeamten wurden und werden verstärkt. Wir erwarten zügig die Einbringung der beiden Gesetzentwürfe. Ich bin gespannt, ob die FDP diesen Gesetzentwürfen dann zustimmt. Ein Standortkonzept zur Gewährleistung der hochwertigen Fachausbildung ist in Planung. Die notwendigen zusätzlichen Planstellen sind im Haushalt beschlossen. Darüber hinaus wurde übrigens auch die Besoldung des mittleren Dienstes erhöht, um dessen Attraktivität zu steigern. Es muss auf europäischer Ebene besser an der Herstellung der gemeinsamen IT-Verfahren gearbeitet werden. Auf diese Punkte kommt es an, gerade auch mit Blick auf die deutsche Wirtschaft, damit die Ehrlichen im Wettbewerb Vorteile haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der FDP enthält also alles in allem wenig Falsches; aber nötig ist er nicht. Sie rennen Türen ein, die längst offen sind. Willkommen im Klub der Freunde des Zolls! ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank für die zwei Minuten, die Sie uns eingespart haben, Herr Kollege de Maizière. Man kann es auch in der Kürze pointiert sagen. ({0}) Nächster Redner ist Kay Gottschalk für die Fraktion der AfD. ({1})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den heutigen Antrag der FDP nehmen wir als AfD zum Anlass, den Zoll zum Prüffall zu erklären. Aus Sicht der AfD existieren nämlich hinreichende verdichtete Beweise und Verdachtsfälle, dass der Zoll seinen Aufgaben, dort, wo es nötig wäre, nicht mehr nachkommen kann, weil die EU-Bürokratie dem im Wege steht. Die Debatte ist etwas verkürzt dargestellt. Zoll ist nämlich mehr: Zoll ist FIU und Geldwäsche, Zoll ist Protektionismus an den europäischen Außengrenzen, ({0}) Zoll ist Schwarzarbeit und, ja, die originäre Aufgabe des Zolls. Auch von meiner Seite ein Dankeschön an alle Beamten, die in diesem EU-Bürokratiewahnsinn ihren Dienst noch so vorbildlich leisten. ({1}) Der Geldwäscheskandal der Danske Bank sei hier nur exemplarisch genannt. Wo waren dort die Geldwäschebeauftragten? Fehlanzeige aufgrund der EU-Bürokratie. Dort, wo man dem handwerklich zugegebenermaßen sehr schlecht gemachten Antrag der FDP folgen könnte, wo es um eine Vereinfachung, eine Harmonisierung und Entbürokratisierung geht – das sind schöne Worte; Stichwort „Schlanker Staat“, eine Unterrichtung durch die Bundesregierung aus dem Jahr 1998; Herr de Maizière wird sich daran erinnern –, produziert der Zoll aufgrund der Handlungsunfähigkeit der EU exakt das Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes 26/2018: Zahlreiche Verzögerungen bei den IT-Systemen. Diese Systeme sollten die Zusammenarbeit verbessern und sollten 2020 fertig sein. Wissen Sie, wann sie jetzt fertig sind? 2025 – wir sind also in der EU beim sozialistischen Fünfjahresplan angekommen. ({2}) Während es also bei den Banken heißt „too big to fail“ und diese dann – so ist es üblich – mit deutschem Steuergeld gerettet werden, ist es bei der EU anders. So heißt es zum Beispiel sinngemäß im Prüfbericht: Der ursprünglich von der EU-Kommission festgelegte Zeitplan für die Implementierung der IT-Systeme ließ sich wegen der Änderungen des Umfanges einiger Projekte nicht mehr einhalten. – Im Klartext: Diese EU ist „too big to work“ und gehört auf den Scheiterhaufen der Geschichte, meine Damen und Herren. ({3}) Wir brauchen eine EU, die den Menschen da draußen und der Wirtschaft tatsächlich hilft. Ich zitiere weiter sinngemäß: Die tatsächlichen Entwicklungskosten für Kommissionskomponenten waren erheblich höher als die ursprünglich geschätzten Ressourcen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Unzureichende von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellte Mittel waren einer der vier Hauptgründe für die Verzögerung. – Was ist an dieser EU überhaupt noch positiv, wenn für ein sinnvolles und wesentliches Projekt keine ausreichenden Gelder zur Verfügung gestellt werden? Oder hat Deutschland wieder einmal zu wenig gezahlt, verehrte Kollegen von der Koalition? ({4}) Oder aber fehlt es wie so häufig am Willen, weil einige Mitgliedstaaten ihre Privilegien nicht aufgeben wollen? Diese EU, meine Damen und Herren, ist offensichtlich zu einer reinen Transfer- und Schuldenunion verkommen. In allen anderen Bereichen und auch hier steht das EU-Monster, das im Wesentlichen durch den weinselig torkelnden Herrn Juncker repräsentiert wird, dafür Pate. Dieses EU-Monster steht sich selbst im Wege. ({5}) Mister Entbürokratisierung – das kann man wohl sagen – schafft das offensichtlich nur in Luxemburg, bei seinen Steuerbehörden, wenn es um die Erteilung von Steuerprivilegien für Großkonzerne zulasten der lieben deutschen Steuerzahler geht, eine Entbürokratisierung vorzunehmen. Oder anders gesagt: Die EU ist eine Geschichte voller Missverständnisse, in der nun endlich Reformen anstehen. Diese jedenfalls hat ihre ursprünglichen Ziele komplett aus den Augen verloren und ist eine reine Selbstzweckveranstaltung geworden. ({6}) Gemeinsam, liebe Freunde von der AfD, werden wir das Unfehlbarkeitsdogma dieser EU-Autokraten überwinden. Zusammen sprengen wir die Ketten im Kopf und die Fesseln der Seele und schaffen ein neues Europa, ({7}) ein Europa der Vaterländer, wie es schon de Gaulle forderte. Meine Damen und Herren, wir eröffnen hier jetzt auch den EU-Wahlkampf; denn es wird Zeit, dass wir diese EU reformieren. Das, meine Damen und Herren, wird nur mit der AfD gehen. Danke schön. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt nicht in den EU-Wahlkampf einsteigen. ({0}) Ich möchte zurück zur Tagesordnung, zurück zum Antrag mit dem Titel „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie abbauen“. Ursprünglich wollten Sie über den Münchener Flughafen reden – das wäre vielleicht besser gewesen; vielleicht war in diesem Antrag mehr Substanz, ich kenne ihn nicht –; aber ich beschäftige mich jetzt mit dem vorliegenden Antrag. Sie haben 14 Forderungen an die Bundesregierung, also auch an die Große Koalition gestellt. Sie fordern, dass die Große Koalition ihre Hausaufgaben macht und die Dinge richtig angeht. Bürokratieabbau, unbürokratische Hilfe beim Brexit und Verbesserungen der Stellensituation beim Zoll – das sind die ganz großen Themen, mit denen Sie sich beschäftigen. Ich lege übrigens keinen Wert darauf, in Ihrem Hashtag zu erscheinen; den können Sie also gerne ohne mich laufen lassen. Ich möchte mich mit den Forderungen konkreter auseinandersetzen. Sie erwarten von der Bundesregierung – erster Punkt –, dass sie sich aktiv an der Reform der WTO beteiligt. Das tut sie bereits. Die Bundesregierung ist auf einem sehr guten Weg. Das ist ein Prozess, und den kann man verfolgen. Ihre zweite große Forderung ist – mein Vorredner Dr. de Maizière hat schon darauf hingewiesen –, die Personallücke beim Zoll abzubauen bzw. zu verkleinern. Das wird massiv angegangen. Mein Vorredner Dr. de Maizière hat bereits gesagt: Es werden sehr viele Planstellen zusätzlich geschaffen. 2018 und 2019 sind mehr als 6 100 zusätzliche Planstellen und andere Stellen bewilligt worden; diese werden zunehmend besetzt. ({1}) Das ist natürlich aufwendig und erfordert Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Ich denke, da sind wir auf einem sehr guten Weg; das wird sehr gut angegangen. Ihr dritter Punkt: Sie möchten eine europaweit einheitliche IT-basierte Zollabwicklung. Wir haben in der letzten Sitzung des Finanzausschusses gehört, dass es mit der IT schwierig ist, auch europaweit. Es wird, glaube ich, auch nicht einfacher, wenn jetzt auch noch Blockchain und künstliche Intelligenz aufgebaut und eingesetzt werden sollen, so wie Sie das fordern. Südkorea ist vielleicht ein schlechtes Beispiel. Es ist sehr weit weg, und man kann es sich nicht mal eben so anschauen. Ich glaube, wir sind mit unserer IT normalerweise ganz gut ausgestattet. Eine zusätzliche Zusammenarbeit streben wir ja an; da wird noch mehr zu machen sein. Wir sind auf dem Weg; aber Blockchain halte ich jetzt nicht für den Ausweg aus irgendwelchen Missständen, die Sie vielleicht meinen erkannt zu haben. Punkt vier ist: Hilfestellung bei der Bewältigung von Zollformalitäten. – Grundsätzlich sind die steuerberatenden Berufe da Hilfesteller. Ich sehe auch nicht, dass es da bisher irgendwelche Probleme gegeben hätte. Es gibt von den Zollbehörden sowohl unverbindliche als auch verbindliche Auskünfte. Die gibt es permanent. Kein Unternehmen, das ich besichtigt habe, hat sich bei mir beschwert, dass der Zoll dabei zu wenig Hilfestellung leisten würde. Zu Punkt fünf, der vorsieht, die Arbeitsbelastung und die Kosten der Zollbürokratie für kleine und mittlere Unternehmen zu vereinfachen, habe ich, glaube ich, schon etwas gesagt. Bei Punkt sechs geht es um die Nutzung der fachlichen Software ATLAS. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen soll diese bedienbar und kostengünstig sein. Die Pflicht, Schulungsbedarfe zu decken, liegt allerdings bei den Unternehmen selbst. Sie müssen ihre Mitarbeiter natürlich ausbilden. Darüber hinaus ist aber die kostenfreie Nutzung von Internetzollanmeldungen beim Zoll jederzeit möglich und jedem freigestellt. Mit Punkt sieben geht es Ihnen ebenfalls um die IT. Dazu habe ich, denke ich, schon alles gesagt. Der fachliche Austausch zwischen den Mitgliedstaaten findet bereits statt und wird von den jeweiligen Rechnungshöfen streng überwacht. In Punkt acht möchten Sie, dass „nicht-präferenzielle Ursprungsregeln beibehalten werden“. Sie werden beibehalten. Außerdem kümmern wir uns bereits darum, dass die Lizenzen, die die Unternehmen jetzt schon haben, weiterhin unbürokratisch genutzt werden können. Ihr Punkt elf ist etwas wichtiger. Darin beschäftigen Sie sich intensiv mit dem Brexit. Das ist überhaupt ein großes Anliegen von Ihnen. Sie haben dazu gerade die Kleine Anfrage „Arbeitsanfall und Personalplanung beim Zoll unter anderem durch den Brexit“ gestellt. Die Bundesregierung hat umfassend dargestellt, wie man sich auf den Brexit vorbereitet – egal in welcher Form er stattfindet. Da ist keiner überrascht vom Brexit. Ich denke, es wird eine Menge getan. Der Zoll ist, denke ich, in einer besonderen Verantwortung, wenn der Brexit kommt. Das wollen wir gar nicht infrage stellen; aber ich denke, es sind bestimmte Maßnahmen vorgesehen, die dann eingeleitet werden. Das ist in der Antwort der Bundesregierung auch klar ausgeführt worden. Ihr Punkt zwölf, bei dem es um die bürokratischen Hürden bei der Zollabwicklung geht, ist, denke ich, schon ausreichend behandelt worden. Außerdem möchten Sie das deutsche Steuerrecht für Importe gerne erheblich vereinfachen. Ich denke, das ist ein Anliegen, das Ihnen mit Ihrem ursprünglichen Ansinnen als freiheitliche Partei naheliegt. Sie wollen möglichst viele Menschen von möglichst vielen Verpflichtungen befreien. Das können Sie gerne fordern. Ich aber denke, dass wir das deutsche Steuerrecht brauchen; es ist wichtig – auch bei der Verzollung. Wettbewerbsnachteile für Deutschland sehen wir nicht. Deshalb, denke ich, läuft diese Forderung ins Leere. Auch ich möchte mich dem Dank an die Zollbehörden, den mein Vorredner von der CDU/CSU ausgesprochen hat, anschließen. Ich möchte dem Zoll auch zur Auszeichnung der Weltbank als effizienteste Zollbehörde gratulieren. ({2}) Ich denke, dass man angesichts dieser Auszeichnung hier nicht ernsthaft sagen kann: Wir möchten jetzt endlich, dass der Zoll besser arbeitet. – Das zeigt die ganze Lächerlichkeit Ihres Antrages. Sie haben für diese Debatte eine gute Tageszeit gewählt. Deswegen werden wir – das gilt, denke ich, auch für die nachfolgenden Redner – die Gelegenheit nutzen, um zu zeigen, wie gut unser Zoll arbeitet. Ich bin sicher: Er wird es auch weiterhin tun. Ich wünsche ihm dafür alles Gute. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zoll erhebt neben seinen anderen Aufgaben im internationalen Warenverkehr nach Deutschland die Einfuhrabgaben. Er überwacht, ob Verbote und Beschränkungen einer Einfuhr entgegenstehen. 2017 wurden mehr als 220 Millionen Sendungen im Warenverkehr mit Staaten außerhalb der Europäischen Union abgewickelt. Mit 130 Milliarden Euro nimmt der Zoll den größten Teil der Steuereinnahmen des Bundes ein. Ich finde es sonst ein bisschen seltsam, wenn wir hier vorne stehen und uns bei Beschäftigten des Bundes bedanken; aber angesichts dieser stillen, ruhigen und soliden Tätigkeit der Zollbeamtinnen und Zollbeamten schließe ich mich dem Dank meiner Vorrednerinnen und Vorredner an. ({0}) Für Schlagzeilen hat die Zollverwaltung in den letzten Monaten aber gesorgt, weil die neu aufgebaute Einheit zur Bekämpfung von Geldwäsche und illegalen Geldgeschäften mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Geldwäscheverdachtsmeldungen von Banken einschließlich Verdachtsmeldungen bezüglich Terrorfinanzierung sind wochenlang und in sehr großer Zahl unbearbeitet liegen geblieben. Das verweist auf das größte Problem beim deutschen Zoll: Im vergangenen Jahr waren von 39 000 Planstellen 6 000 gar nicht besetzt. Es ist gut, dass der Bundesfinanzminister jetzt zielgerichtet vor allen Dingen Stellen bei der Geldwäscheeinheit, der Mindestlohnkontrolle und der Schwarzarbeitsbekämpfung besetzen will. Aber mit diesen neuen Stellen verbleiben wir immer noch beim Stopfen der durch falsche politische Entscheidungen in den vergangenen Jahren gerissenen Lücken. Es freut mich, dass die FDP die Personalnot in der öffentlichen Verwaltung sieht und anspricht. Aber das ist auch ein Hinweis darauf, dass eine schwarze Null um jeden Preis, ein schlanker Staat im Zweifelsfalle mehr Geld kostet, als man kurzfristig einsparen kann. ({1}) Dabei führt der wachsende internationale Warenaustausch auch zu einer stetig wachsenden Zahl von Abfertigungsbewegungen beim Zoll. Am stärksten treten die Personalprobleme – das erfährt man, wenn man mit Praktikern spricht – offensichtlich bei der Freigabe von Waren an den großen Einfuhrzentren, also den Seehäfen in Hamburg und Bremerhaven und an den internationalen Flughäfen, allen voran natürlich dem Frankfurter Flughafen, auf. Die Dauer der Freigabe wird auch von den Beschäftigten selbst als zu lang angesehen. Meine Damen und Herren, der Abfertigungsprozess darf für die Beteiligten nicht zu einem Handelshemmnis werden; das ist völlig klar. Die IT-Ausstattung des Zolls spielt dabei offensichtlich eine zentrale Rolle. Die Vereinheitlichung der Zollverfahren in der Europäischen Union ist erfolgt, aber sie ist eben nur insoweit erfolgt, als dass die Abfertigungsregeln vereinheitlicht worden sind. Was noch nicht gelungen ist – auch das haben meine Vorredner zum Teil schon angesprochen –, ist die Vereinheitlichung der Informationstechnik, über die das laufen kann. Der EU-Zollkodex wurde 2016 eingeführt. Die Umsetzung einer einheitlichen IT-Lösung ist für 2020 angestrebt. Wir haben jetzt die Hoffnung – der Bericht des Rechnungshofs der Europäischen Union ist schon angesprochen worden –, dass das bis 2025 gelingt. Das ist kein Ruhmesblatt. Es liegt aber – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen – nicht in erster Linie am deutschen Zoll. Trotzdem sind Mängel in der IT-Ausstattung und Vernetzung nicht nur auf der europäischen Ebene ein Problem. Fragt man Praktiker aus der Zollverwaltung, erfährt man, dass es auch bei den deutschen Behörden zahlreiche Unzulänglichkeiten gibt. So ist offensichtlich die Kommunikation zwischen den Zollpraktikern und dem Informationstechnikzentrum Bund stark verbesserungsbedürftig. Häufig kommt es zu Verzögerungen bei Projekten. Bereits verabredete Roll-out-Pläne müssen nicht selten verschoben werden. Allein die Antragsverfahren für neue IT-Projekte benötigen nach Auskunft derer, die es wissen müssen, meist bis zu zwei Jahre Zeit. Und das ist die Zeit, in der der Antrag erarbeitet wird. Insbesondere bei einer der beiden IT-Abteilungen, die der Zoll unterhält, beim Zollkriminalamt in Köln, ist es offensichtlich nicht möglich, Stellen zu besetzen, weil die Tarifbedingungen des Zolls mit dem allgemeinen Gehalts- und Vergütungsniveau in Köln kaum mithalten können. Häufig werden dann hohe Summen für externe Dienstleister ausgegeben, deren Know-how aber mit Abschluss des Projekts verschwindet und dem Zoll verloren geht. Meine Damen und Herren, die FDP hat uns – jetzt werde ich ein bisschen polemisch – eine Liste einzelner Aspekte der Zollabfertigung zusammengestellt und vermerkt: Es muss alles einfacher werden. – Das kann man machen. Das ist eine verständliche Absichtserklärung, aber natürlich kein überzeugendes Konzept. ({2}) Vielleicht fällt den Kolleginnen und Kollegen von der FDP aber bis zum Beginn der Ausschussberatungen noch der eine oder andere konkrete und praktikable Vorschlag ein, über den sich dann zu reden lohnt. Ich danke Ihnen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Abgeordnete Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Weeser, ich hätte nicht gedacht, dass ich das zu Beginn in einer Debatte einmal sagen würde: Ich kann verstehen, warum Sie diesen Tagesordnungspunkt heute setzen. Auch wenn das einige andere Redner in der Debatte leider nicht so richtig verstanden haben: Wir diskutieren hier nicht nur irgendwie allgemein über den Zoll, sondern wir diskutieren heute – heute – hier über Zollverfahren, ({0}) weil am Dienstag in Großbritannien über die Brexit-Entscheidung abgestimmt wurde. ({1}) Dadurch steht die Frage im Raum: Was können wir als Deutscher Bundestag eigentlich tun, wenn wir immer näher auf einen chaotischen Brexit zusteuern, wenn wir immer mehr auf einen harten Brexit zusteuern? ({2}) Ich glaube, fast alle Fraktionen hier im Haus hätten sich gewünscht, dass Großbritannien anders abgestimmt hätte, ({3}) dass man gemeinsam einen Weg findet, wie man noch zu einem geordneten Verfahren kommt, am besten natürlich zu gar keinem Austritt aus dem Binnenmarkt – aber wenn schon, dann in einem geordneten Verfahren und nicht in dem Chaos, auf das wir momentan zusteuern. ({4}) Ich kann verstehen, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sagen: Dann lasst uns jetzt wenigstens das bisschen tun, was wir tun können, ({5}) dann lasst uns an das Thema Zölle herangehen, dann lasst uns damit beschäftigen, dass, wenn der harte Brexit kommt, wir wahrscheinlich kilometerlange Staus an den Grenzen bei Dover und Calais haben. Wenn wir diese Zollabfertigung machen müssen, dann müssen wir uns mit den Produktionsprozessen der Unternehmen beschäftigen, und dann ist es auch richtig – deswegen werden wir Grünen Ihrem Antrag auch zustimmen –, zu sagen: Lasst uns das machen, was man machen kann; lasst uns mehr Personal einstellen bei der Zollverwaltung; lasst uns gucken, wie man Bürokratie vereinfachen kann; lasst uns gucken, wie man gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen die Bedingungen verbessern kann. ({6}) – Natürlich habe ich diesen Antrag gelesen. Sie haben ihn ja Punkt für Punkt abgearbeitet; das fand ich auch etwas erstaunlich. Ich frage Sie: Wie kann man in einer Zeit wie heute so eine Rede halten? ({7}) Sie sagen die ganze Zeit: Ja, wir machen das, wir sind irgendwie auf dem Weg; irgendwann wird das alles kommen. – Aber: Der mögliche harte Brexit Ende März ist bald und nur zu sagen: „Wir sind auf dem Weg, wir werden irgendwann dazu kommen“, reicht nicht. Das Tempo, mit dem die Große Koalition in der Vergangenheit unterwegs war, wird hier nicht reichen. Wir müssen uns jetzt auf den Brexit vorbereiten. ({8}) Frankreich hat heute begonnen, seinen Notfallplan für einen harten Brexit zu aktivieren, und deswegen steht die Frage im Raum: Was tut die Bundesregierung? Wie bereiten wir die Unternehmen ausreichend darauf vor, wenn der harte Brexit kommt? ({9}) Und das, Frau Weeser, ist dann wiederum auch meine Kritik an dem Antrag: Es ist richtig, über Zollerleichterungen zu sprechen; aber wir müssen ebenso ehrlich sein, zu sagen: Sie werden bei weitem nicht ausreichen, um den Schock, den ein Brexit dem europäischen Binnenmarkt zuführen wird, wenn er als harter Brexit kommt, abzufedern. Deswegen müssen wir darüber hinaus diskutieren, müssen wir endlich hier im Deutschen Bundestag nach vorne gerichtet diskutieren. Wenn es um den europäischen Binnenmarkt geht, dann müssen wir über eine gemeinsame Investitionsstrategie in der Europäischen Union sprechen. Dann müssen wir über eine gemeinsame industriepolitische Strategie in der Europäischen Union sprechen, und dann müssen wir miteinander darüber diskutieren, wie wir endlich den Binnenmarkt weiterentwickeln können. ({10}) Wenn es um Investitionen geht, dann hat insbesondere Deutschland eine besondere Verantwortung. Deutschland ist die Lokomotive Europas. Deutschland ist auf der anderen Seite – ganz im Gegensatz zu den falschen Aussagen, die die AfD hier immer verbreitet – das Land, das auch am meisten wirtschaftlich von diesem Binnenmarkt profitiert hat. ({11}) Deswegen sind wir, wenn es zu einer schwierigen Situation in der Europäischen Union kommen sollte, auch in der Lage, diesen Zug weiterzuziehen. Aber dafür braucht es mehr Entschlossenheit; dafür braucht es mehr gemeinsame europäische Investitionen. Dafür braucht es eine ehrliche Debatte, auch über den Investitionsfonds der Europäischen Union, ob er so gewirkt hat, wie wir uns das in der Vergangenheit gewünscht hätten oder ob nicht zu wenig Investitionsprojekte im Süden Europas angekommen sind, wo sie am Ende aber einen wirtschaftlichen Impuls hätten entfachen sollen, ob die Investitionen ausreichend zielgerichtet auf innovative Projekte, auf ökologische Projekte, auf Digitalisierung ausgerichtet waren oder ob wir am Ende zu sehr mit der Gießkanne investiert haben. Diese Debatte müssen wir jetzt führen, um die Investitionsdynamik in Europa anzustoßen. Wir müssen auf der anderen Seite natürlich auch über die deutschen Investitionen sprechen. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben immer noch einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss. Wir haben angefangen, ihn ein bisschen abzubauen; aber da ist immer noch ein riesiger Weg zu gehen. Es wäre doch gerade jetzt ein gutes europäisches Zeichen, wenn Deutschland sagen würde: Angesichts dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation, in die uns ein harter Brexit bringen könnte, gehen wir noch einmal entschlossen voran und machen auch hier in Deutschland einen Investitionsaufbruch. ({12}) Das zweite Thema, das wir miteinander diskutieren müssten, ist, endlich den Binnenmarkt weiter zu vertiefen, endlich neben eine Währungsunion auch eine Wirtschaftsunion zu stellen, die ihren Namen verdient hat, endlich das Europäische Semester so weiterzuentwickeln, dass wir eine gemeinsame wirtschaftspolitische Koordination haben. Wir müssen endlich auch etwas im Bereich eines sozialen Europas tun, um am Ende das Versprechen, das wir den Bürgerinnen und Bürgern in Europa gegeben haben, auch zu halten, nämlich dass es ein Europa ist, das bei jedem einzelnen Bürger ankommt. Das ist die Werbung, die wir auch in Großbritannien machen können. Das ist am Ende die beste Einladung, die wir an die Menschen in Großbritannien aussprechen können, falls sie sich wirklich entscheiden sollten, aus der Europäischen Union auszutreten. Lassen Sie uns einfach damit, dass dieser Binnenmarkt super funktioniert, dass die europäische Integration weitergeht, so gute Werbung machen, dass Großbritannien am Ende gar nicht anders kann, als zurück in die Europäische Union zu kommen; das wäre das Zeichen, das wir hier heute ausstrahlen sollten. ({13}) Und ganz zum Schluss der Debatte möchte ich noch sagen: Ich glaube, auch dieses Haus muss aus dem Chaos, muss aus dem Versagen der politischen Parteien in Großbritannien lernen. Lassen Sie uns gemeinsam als demokratische Parteien dafür sorgen, dass das, was in Großbritannien passiert ist, hier nicht passiert, ({14}) dass falsche Behauptungen, dass Populisten einen Diskurs bestimmt haben, der dazu geführt hat, dass ein gesamtes Land im Chaos und in der Handlungsunfähigkeit geendet ist. Das darf hier nicht passieren. Deswegen dürfen Ideen wie die, die Sie formulieren, mit einem Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union hier niemals die Debatte prägen. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Uwe Feiler für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Uwe Feiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004271, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von uns stehen sicherlich noch voll und ganz unter dem Eindruck der Entscheidung des britischen Unterhauses vom vergangenen Dienstag. Seitdem stellen sich einige Fragen: Wie geht es weiter im Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union? Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger? Was bedeutet das für unsere Wirtschaft? Frau Dröge, glauben Sie mir: Die Bundesregierung und auch die Große Koalition arbeiten vehement an all den Dingen, die wir für einen harten Brexit brauchen, die wir für ein Übergangsabkommen brauchen oder die wir benötigen, wenn der Brexit verschoben wird. Auch der Zoll rückt bei dieser Diskussion immer mehr ins Licht der Öffentlichkeit. Es arbeiten über 40 000 Zollbeamtinnen und -beamte im Dienste unseres Landes jeden Tag an einer Vielzahl von Aufgaben. Diese Beamtinnen und Beamte sind nicht nur gut ausgebildet, sie machen auch tagtäglich einen guten Job. ({0}) Vom Vollzug der besonderen Verbrauchsteuern, von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit bis hin zur Zollfahndung reicht das Spektrum. Meine Damen und Herren, seien wir mal ganz ehrlich: Auch wir als Gesetzgeber haben dem Zoll in den vergangenen Jahren immer neue Aufgaben zugewiesen. Die Verwaltung hat dabei natürlich große personelle und auch organisatorische Herausforderungen zu bewältigen gehabt. Glauben Sie mir: Bei meinen Besuchen in der Zollverwaltung konnte ich mich darüber informieren bzw. konnte ich sehen, dass diese Verwaltung nicht nur gut aufgestellt ist, sondern dass sie diese Herausforderungen auch bewältigt hat. An dieser Stelle von meiner Seite natürlich auch noch einmal ein großes Dankeschön an unsere Beamtinnen und Beamte. ({1}) Die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion werben in ihrem Antrag mit der verheißungsvollen Überschrift „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie abbauen“. Wer in diesem Hause wird diesem hehren Ziel denn widersprechen wollen? Ich glaube, niemand. Das Problem liegt in der Politik jedoch in den seltensten Fällen bei der Formulierung griffiger Überschriften, sondern vielmehr in der seriösen Umsetzung ambitionierter Vorhaben durch sorgfältige gesetzgeberische Arbeit. ({2}) Da kommen wir zu den Details Ihres Antrags, der im Wesentlichen auf Dinge reflektiert, die bereits angegangen wurden oder vor ihrer Umsetzung stehen. Der Kollege de Maizière hat das in seiner Rede bereits ausgeführt; deswegen möchte ich auch noch weiter auf den Brexit eingehen, anstatt mich jetzt mit diesen Dingen zu beschäftigen. Ich hatte das Vergnügen, am Montag an der Anhörung des Europaausschusses teilzunehmen und dort auch mehrere Fragen zum Thema Zoll im Zusammenhang mit dem Brexit zu stellen. Dabei sei uns in Erinnerung gerufen, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Nicht der Zoll hat den Brexit zu verantworten, vielmehr muss er mit seinen Auswirkungen umgehen. Da stellen sich natürlich einige Fragen. Eine Frage wäre beispielsweise, wie die Verwaltung mit den durch den Brexit zu erwartenden 4,6 Millionen zusätzlichen Einfuhranmeldungen britischer Unternehmen und den 10 Millionen zusätzlichen Ausfuhranmeldungen deutscher Unternehmen umzugehen gedenkt. Das sind 14,6 Millionen zusätzliche Vorgänge. Schon allein diese Größenordnung, meine Damen und Herren, macht deutlich, dass die Europäische Union und das gemeinsame Zollgebiet insbesondere für die deutsche Wirtschaft enorme bürokratische Erleichterungen mit sich bringen. Das sei jetzt insbesondere der AfD ins Stammbuch geschrieben: Stellen Sie sich einmal vor, mit welchem bürokratischen Aufwand deutsche Unternehmen zu rechnen hätten, wenn es die EU gar nicht geben würde, von den Lastwagenschlangen an den Grenzen ganz zu schweigen, die insbesondere Deutschland als Exportnation natürlich zu verzeichnen hätte. Da würde uns auch eine Simulation nach britischem Vorbild auf einem verlassenen Flughafen, zum Beispiel in Schönefeld, nicht weiterhelfen. Nicht nur deshalb, sondern auch generell ist es notwendig, dass wir alles dafür tun, dass Unternehmen zum Beispiel durch den Ausbau der ATLAS-Fachanwendung ihren Aufwand so gering wie möglich halten und die Fälle, in denen Unternehmer persönlich bei der Behörde vorstellig werden müssen, auf ein Minimum reduziert werden – das jedoch zulasten der Sicherheit, zum Beispiel durch Abstriche bei der notwendigen Kodierung, wie es die FDP fordert, ist für mich kein Weg. Unsere Unternehmen müssen sich auch sicher sein können, dass ihre unternehmerischen Daten bei der Zollbehörde gut aufgehoben sind. ({3}) Auch der Aufforderung, die Personallücke in der Zollverwaltung zu schließen, bedarf es nicht, zumal das schon zu meinen Kernanliegen in der vergangenen Wahlperiode gehörte. Alleine die Übernahme des Einzugs der Kfz-Steuer durch den Zoll oder der Ausbau der Kontrolle der Schwarzarbeit hat zu Tausenden neuen Stellen geführt. Das ist auch nicht das Problem. Stellen sind keine Menschen. Vielmehr müssen die Stellen auch mit geeigneten Personen besetzt werden, und da konkurriert der Zoll mittlerweile mit zahlreichen anderen Arbeitgebern aus der freien Wirtschaft. Wir müssen also darüber sprechen, die Attraktivität des Berufsbildes Zoll zu verbessern, und zwar nicht nur mit warmen Worten, sondern auch mit Taten, sei es bei der Besoldung oder den weiteren Rahmenbedingungen bis hin zu Dienstwohnungen. Ich glaube, die Mehrheit dieses Hauses weiß sehr wohl, was wir am Zoll haben, und unterstützt das BMF in seinen Bemühungen, die vielfältigen Aufgaben des Zolls effektiv und effizient wahrzunehmen. Einen Antrag der FDP braucht es dazu eigentlich nicht. Ich halte es mit Hase und Igel: Wir sind schon da. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Zuschauer! Liebes – leider noch unvollständiges – Präsidium! Ich darf daran erinnern: Die Kandidatin zur Bundestagsvizepräsidentin der AfD wurde bisher leider von diesem Hohen Haus immer noch nicht gewählt. ({0}) „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie abbauen“ ist ein schöner Titel für einen Antrag, dem wir sehr gerne zustimmen würden. ({1}) Aber dieser Antrag der FDP ist handwerklich schlecht gemacht. ({2}) Es fehlen mir klare Strukturen. Sie möchten Dinge festgestellt haben, die mit subjektiven Tatsachenbeschreibungen vermixt sind, und dies ist alles viel zu allgemein. Wo „Lindner“ druntersteht, ist offensichtlich auch Lindner drin. Um eines vorwegzunehmen: Wir stimmen der Überweisung in den Ausschuss zu, um uns da mit diesem Antrag noch einmal gründlich auseinanderzusetzen. ({3}) Ich habe mich neulich mit einem mittelständischen Landmaschinenhersteller aus Deutschland unterhalten, der sehr stark vom Export lebt. Dieser hat sich über die Handelshemmnisse, insbesondere über die Zollabfertigungen, beklagt. Auch bei immer wiederkehrenden Lieferungen in bestimmte Länder sind jedes Mal die neuen präzisen Produktbeschreibungen und technische Datenblätter vorzulegen und zahllose Formulare auszufüllen. Dies führt häufig dazu, dass Waren den Lkw nicht erreichen, teure Standkosten entstehen oder Container nicht rechtzeitig verschifft werden können. Gerade bei immer wiederkehrenden Lieferungen wäre es schon hilfreich, wenn die vom Zoll eingesetzte Software ATLAS lernfähig wäre. Die Zollverwaltung muss im Allgemeinen kundenfreundlicher werden. Deutschland ist – wir wissen es alle – eine Exportnation. Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich unsere Unternehmer bei uns wohlfühlen, Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen. ({4}) Grundvoraussetzung dafür sind Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Wenn ich auf die Brexit-Verhandlungen schaue und sehe, wie man hier mit Großbritannien umgeht und versucht, Großbritannien zu gängeln und Schreckensszenarien aufzuzeigen, ({5}) dann wird mir schlecht. Ich wünsche Großbritannien nach dem EU-Austritt alles Gute für die Zukunft, die das britische Volk in freier Selbstbestimmung außerhalb des Brüssel-Diktates selbst gestalten wird. ({6}) Die Insel wird nicht untergehen. Wir werden weiterhin Handel treiben; schließlich gehen circa 7 Prozent unserer Exporte nach Großbritannien. Wir werden auch weiterhin, liebe Briten, zu euch gute Handelsbeziehungen pflegen. Die verschiedentlich aufgezeichneten Katastrophenszenarien halten wir für absolut absurd. Die Heterogenität der bilateralen Handelsabkommen macht die Sache kompliziert. Ob sich eine Vereinheitlichung auf WTO-Ebene durchsetzen lässt, muss sich zeigen. Ich persönlich halte das – kurzfristig jedenfalls – nicht für realistisch. Wie wir immer wieder von Unternehmen hören, sind es die sich ständig verändernden Bedingungen im Außenwirtschaftsverkehr und die Zollvorschriften, die ihnen das Leben schwer machen. Es wäre schon viel geholfen, wenn die Bundesregierung nicht immer wieder Außenhandelspolitik nach Großwetterlage machen würde. Wenn in den Medien irgendwo Menschenrechtsverletzungen thematisiert werden, ist man schnell dabei, über neue Handelsbeschränkungen und Sanktionen nachzudenken, ({7}) und das noch nicht einmal konsequent. Denken wir einmal an die drohende Enteignung weißer Farmer in Südafrika ohne Kompensationen. Dies bleibt von Deutschland aus nahezu unkommentiert, während einzelne Verhaftungen von Journalisten türkischer Herkunft in der Türkei zum großen Drama hochstilisiert werden. ({8}) Es kann nicht Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein, Wirtschaftssanktionen mit irgendwelchen Demokratisierungsprozessen in Drittstaaten zu verknüpfen. In den meisten Fällen funktioniert das nicht, und das, meine Damen und Herren, ist moderner Kolonialismus. Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zu Russland verlieren: Die Russland-Sanktionen gehören ganz klar auf den Prüfstand. Sie schaden der deutschen Wirtschaft. Die Krim kommt dadurch nicht zurück zur Ukraine, und die Ukraine wird dadurch kein EU-Mitglied. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster spricht Dr. Jens Zimmermann für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede zunächst einmal den Kolleginnen und Kollegen beim Zoll, den Zöllnerinnen und Zöllnern, danken. Denn was viele nicht so auf dem Schirm haben – das könnte man auch aus dieser Debatte schließen –, ist, dass der Zoll heute viel, viel mehr macht als nur das, was man klassischerweise von der Grenze kennt, also Warenlieferungen zu überprüfen. Der Zoll hat in den letzten Jahrzehnten einen sehr, sehr großen Wandel durchlaufen, und das ist auch für viele Kolleginnen und Kollegen nicht immer einfach gewesen. Deswegen an dieser Stellen einen herzlichen Dank für die wichtige Arbeit, die sie jeden Tag für uns alle leisten. ({0}) Die FDP hat einen Antrag gestellt, der zum Teil wichtige Punkte anspricht, auch viele Punkte, die die Bundesregierung und die Koalition ebenfalls bearbeiten. Ganz oben steht die Frage, wie es mit der Weiterentwicklung der WTO aussieht. Ich glaube, wir sind alle daran interessiert, dass der Multilateralismus wieder gestärkt wird. Aber der Antrag atmet eben doch den typischen FDP-Slang im Sinne von: Da muss Bürokratie abgebaut werden. ({1}) – Bürokratieabbau ist da gut, wo er sinnvoll ist. Wir unterstützen Bürokratieabbau auch da, wo er sinnvoll ist. Seien Sie mir nicht böse, aber das Problem ist: Wenn Sie von Bürokratieabbau reden, dann haben wir einfach immer Angst, dass am Ende Deregulierung, das Öffnen von Lücken sowie Verluste für den Staat herauskommen. Erlauben Sie uns deswegen, ein bisschen kritisch zu sein, wenn die FDP mit dem Thema Bürokratieabbau um die Ecke kommt. ({2}) – Danke schön. Frau Kollegin Dröge hat aufgezeigt, wie heute ein guter Antrag vor dem Hintergrund der Brexit-Debatte aussehen könnte. Ich muss allerdings sagen: Frau Kollegin, so, wie Sie den Antrag der FDP umgestaltet haben, sieht er nicht aus. Dort steht etwas anderes, aber das sei nur am Rande erwähnt. Lassen Sie mich auf das Thema Brexit zurückkommen. Das ist natürlich ein absolut berechtigter Punkt, der es wert ist, hier im Bundestag debattiert zu werden. Es ist bezeichnend, was soeben vom Kollegen der AfD gesagt wurde: Na ja, es wird nicht so schlimm kommen, auch wenn dort am Ende Lkw-Schlangen stehen. – Ich will eines sagen: In Großbritannien, in Dover, stehen diese Lkw-Schlangen zurzeit, weil man dort testet. Es wurden 90 Lkw hintereinander aufgestellt, um den Ablauf zu prüfen. Das geschieht nicht, weil Europa den Briten Angst machen will, sondern weil Großbritannien selbst gemerkt hat: Wenn der Brexit so kommt, wie es momentan aussieht, nämlich ohne ein vernünftiges Abkommen, dann wird Chaos ausbrechen. Das muss man an dieser Stelle noch einmal unterstreichen. ({3}) Spannend ist auch: Wer hätte gedacht, dass das Thema Zoll möglicherweise sogar das Kernproblem ist, weshalb es in Großbritannien im Parlament aktuell zu keiner Lösung kommt? Wer hätte gedacht, dass es am Ende der Zoll ist? Einer der zentralen Punkte, bei denen sich die Kolleginnen und Kollegen nicht einigen können, ist die Grenze zwischen Irland und Nordirland. Wir haben hier im Deutschen Bundestag immer wieder gesagt: Wir stehen an der Seite unserer Freunde in Irland. Wenn Großbritannien austritt, dann wird es an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland eine Zollgrenze geben. – Die Frage zu beantworten, wie man eine Zollgrenze am Ende ohne Zöllnerinnen und Zöllner, ohne Kontrollen durchsetzt, ist schwierig. Dieses Problem ist quasi nicht zu lösen. Wir haben mit der sogenannten Backstop-Lösung sehr komplexe Ideen entwickelt. Aber lassen Sie mich noch einmal sagen: Dass am Ende die Lösung zwischen Irland und Nordirland nicht zustande kommt, liegt zum großen Teil an einem Zollproblem. Das zeigt, wie wichtig das Thema im Kontext des Brexits ist, meine Damen und Herren. ({4}) Lassen Sie mich aber auch noch darauf eingehen, was die Bundesregierung zur Vorbereitung auf den Brexit im Bereich des Zolls schon getan hat. Es sind dort zusätzliche Geschäftsaushilfen eingestellt worden. Es werden Verlagerungen von Tätigkeiten aus den Bereichen vorgenommen, die von einem harten Brexit besonders betroffen wären. Es gab bereits im letzten Jahr vonseiten des Zolls Informationen an die Unternehmen über die möglichen Auswirkungen, und es gab sieben Großveranstaltungen gemeinsam mit dem DIHK, bei denen Vorbereitungen getroffen wurden. Es wurden Informationen an die Unternehmen weitergegeben, was bei einem harten Brexit möglicherweise drohen kann. Insofern ist die Behauptung, die Bundesregierung hätte keine Vorkehrungen für diesen Fall getroffen, einfach falsch. Sie sind getroffen worden, aber man muss auch ganz klar sagen: Es ist ein Fall, der möglicherweise ohne Vorbild eintreten wird. Sich darauf vorbereiten zu können, ist nur bis zu einem gewissen Maße möglich, meine Damen und Herren. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir als SPD haben uns in den zurückliegen Haushaltsverhandlungen immer wieder für die Stärkung des Zolls eingesetzt. Deshalb haben wir sowohl im 2018er- als auch im 2019er-Haushalt einen Stellenaufbau durchgesetzt, der seinesgleichen sucht. Wir haben für 2018 ungefähr 1 400 Planstellen und für 2019  4 500 Planstellen beschlossen. Diese müssen noch mit neuen Kolleginnen und Kollegen besetzt werden. Sie müssen ausgebildet werden. Das sind große Aufgaben. Aber ich glaube, an dieser Stelle zeigt es sich, dass wir die Aufgaben des Zolls sehr ernst nehmen, dass wir als SPD an der Seite der Zöllnerinnen und Zöllner stehen. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Reinhard Houben. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank, Herr Feiler und Herr Zimmermann, wir hätten uns als FDP gefreut, wenn wir in dieser Woche Gelegenheit gehabt hätten, über den Brexit vernünftig zu diskutieren. ({0}) – Herr Zimmermann, Sie wissen genau, dass der Außenminister sieben Minuten zum sperrigen Begriff Brexit-Übergangsgesetz reden wird. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass das eine ehrliche und ausführliche Debatte bezüglich dieser wichtigen Frage ist. ({1}) Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Herr Zimmermann. Das glaubt doch kein Mensch in diesem Land. ({2}) Herr de Maizière, wir haben Unternehmen angefragt. Meinen Sie, wir haben einen schlechten Traum, um einen solchen Antrag zu schreiben? Wir haben massive Rückmeldungen von Unternehmen bekommen in der Zeit vor dem Brexit. Den Antrag, den wir geschrieben haben, haben wir natürlich in dem Gedanken geschrieben, dass wir zumindest einen irgendwie geregelten Brexit bekommen. Wenn er aber nicht kommt, Herr de Maizière, ({3}) rechnet der DIHK mit ungefähr 10 Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen pro Jahr. Das sind an einem Arbeitstag ungefähr 20 000 Zollanmeldungen. Dann erklären Sie mir, wie Sie das mit 750 noch nicht eingearbeiteten Leuten regeln wollen. Das ist für mich wirklich eine ganz spannende Frage. ({4}) Vielen Dank, liebe Frau Dröge, Sie haben scheinbar als Einzige den Antrag so gelesen, ({5}) wie er gemeint ist. Es geht hier nicht um Mitarbeiterbashing beim Zoll, sondern es geht darum, Verfahren zu vereinfachen. Kollege Zimmermann, Ihr Grummeln bei der Bemerkung Blockchain zeigt, dass die SPD im Moment bei technologischen Entwicklungen nicht auf der Höhe der aktuellen Entwicklung ist. ({6}) Ich wünsche ganz besonders Ihnen einen schönen Tag und freue mich auf die Ausführungen unseres Außenministers. Ob er hier wirklich in sieben Minuten die komplexen Probleme des Brexits, vor allem eines harten Brexits, darstellen kann? Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Sebastian Brehm für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich sind die aktuellen Ereignisse rund um den Brexit – Kollege Feiler und viele andere haben darüber gesprochen –, aber auch die Handelspolitik von Präsident Trump und der Handelsstreit mit China und Europa für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die Zollorganisation eine Herausforderung. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute zu dieser Zeit im Deutschen Bundestag über den Zoll und die Strukturreformen sprechen, die übrigens zum großen Teil schon eingeleitet worden sind. Wir hätten keinen Antrag der FDP gebraucht, weil letztlich alles, was sie in ihrem Antrag fordert, bereits umgesetzt ist. Wenn Sie einen Hashtag verwenden wollen, dann nehmen Sie den Hashtag: Die Regierungskoalition hat bereits alles umgesetzt. ({0}) Ich sage Ihnen auch, wie. Im Jahr 2016 ist auf nationaler Ebene die Generalzolldirektion eingeführt worden. Man hat dort seit Jahren eine tiefgreifende Reform für eine leistungsfähige Zollverwaltung geschaffen. Hinzu kamen neue Aufgaben, zum Beispiel im Jahr 2017 die Financial Intelligence Unit mit großen Aufgaben bei der Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. Das alles ist beim Zoll gebündelt. ({1}) Wenn man den Zoll anschaut, dann stellt man fest, dass er eine hervorragende Arbeit und einen wesentlichen Beitrag für unseren Rechtsstaat und die Erhebung von Zöllen und Steuern leistet. Allein im letzten Jahr wurden über 130 Milliarden Euro durch die Zollverwaltung eingenommen. Dies ist ein großer und wichtiger Anteil des deutschen Bundeshaushaltes. Auch auf europäischer Ebene hat der länderübergreifende Zollkodex, also die Neuregelungen und die Überarbeitung des Zollkodexes, zur Vereinfachung im Wirtschaftsraum geführt. In diesem neuen Zollkodex sind übrigens auch die Grundlagen für die europäische IT-Steuerung, die Sie fordern, gelegt. Er ist auch in diesem Punkt umgesetzt. Die moderne IT-Struktur ist derzeit leider – Kollege de Maizière hat darauf hingewiesen – noch nicht in dem Zeitrahmen umgesetzt, wie wir uns das vorgestellt haben. Deswegen müssen wir auch Vollgas und Unterstützung geben, dass eine schnelle Umsetzung dieser europäischen IT-Strukturen kommt. Auf deutscher Ebene haben wir das ATLAS-System, das weiter ausgebaut wird. Also auch da handeln wir. Ich glaube, man muss auch feststellen – Sie hatten es gerade in Ihrem Beitrag gesagt –, dass allein mit IT-Strukturen, Blockchain und künstlicher Intelligenz beim Zoll nicht alles gemeistert werden kann. Wenn man auf der einen Seite eine IT hat, braucht man auf der anderen Seite auch leistungsfähiges Personal. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir in den letzten Wochen und Jahren auch die Personalsituation beim deutschen Zoll deutlich verbessert haben. Es ist ja darauf hingewiesen worden, was im Haushalt bereits an neuen Stellen ausgewiesen worden ist, die jetzt besetzt werden. Ich selbst – und ich empfehle das jedem Abgeordneten – war in meinem Wahlkreis am Zollstandort, in Nürnberg. Ich habe mir das angeschaut und bin wirklich beeindruckt von der hervorragenden Arbeit und der Effektivität des Zolls. Insofern ist es schlecht, wenn Sie heute den Zoll schlechtreden. ({2}) Vielmehr sollte man bei einer solchen Debatte im Deutschen Bundestag, zu dieser Zeit, einmal ein großes Dankeschön an den Zoll richten, weil er effektiv arbeitet. ({3}) Es sind rund 40 000 Mitarbeiter in der Generalzolldirektion, 43 Hauptzollämtern, 253 Zollämtern und 8 Zollfahndungsämtern. Sie leisten eine gute Arbeit. Herzlichen Dank dafür, dass die Zollstruktur in Deutschland von Ihnen so gut geschützt wird! Aber Dank allein, liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht nicht. Wir müssen daran arbeiten, dass wir die Stellen, die wir geschaffen haben, besetzen, und weiterhin zusätzliche Stellen schaffen. Wir haben im vergangenen Jahr über 1 400 Stellen geschaffen und besetzt. In diesem Jahr schaffen wir 775 Stellen, die jetzt zu besetzen sind. Wir brauchen, um die zukünftigen Aufgaben abarbeiten zu können, natürlich auch im Zusammenhang mit dem Brexit, mehr Personal. Es geht immer um eine Kombination von IT und Zöllnern. Deswegen wird auch in diesem Jahr die Ausbildung beim Zoll weiter vorangetrieben, mit 3 000 neuen Stellen für Auszubildende, die nach der Ausbildung in den Ausbildungszentren auch übernommen werden können. Damit kommen weitere 3 000 Personen beim Zoll hinzu. Natürlich gibt es in Ihrem Antrag ein, zwei Fachthemen, über die wir im Finanzausschuss eine Fachdebatte führen können, zum Beispiel zur Ausschöpfung des Präferenzrechts oder auch zur Einführung der Fiskalversteuerung in Deutschland, um Liquiditätsvorteile für unsere deutschen Unternehmen zu schaffen. Darüber werden wir im Finanzausschuss sprechen. Ich glaube, da ist der eine oder andere gute Gedanke dabei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier über Chancen und Risiken. Es ist viel dazu gesagt worden, was die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft sind. Das ist auf der einen Seite natürlich der Brexit, auf der anderen Seite aber auch der Nationalismus und Protektionismus. Wie da international gehandelt wird, ist natürlich Gift für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft und für ein friedliches Miteinander. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam unsere Hausaufgaben machen. In der nächsten Woche beginnt ja das Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch da wird auf diese Themen Bezug genommen, auch da wird diskutiert, was die zukünftigen Herausforderungen unserer Wirtschaft sind. Wir müssen zum Beispiel darüber diskutieren, wie wir neue Freihandelsabkommen schaffen; wir müssen neuen Freihandelsabkommen positiv gegenüberstehen. Sie brächten wieder Zollerleichterungen in Deutschland und für die deutsche Wirtschaft. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend will ich noch eines sagen, weil die Europawahl bevorsteht und es Parteien gibt, die gegen den Euro und die europäischen Strukturen sind: Wer solche Dinge in ein Wahlprogramm schreibt, wer die Strukturen ablehnt, die ein Vorteil für Deutschland sind und unseren deutschen Wirtschaftsraum stärken, der schädigt unsere deutsche Wirtschaft nachhaltig. Deswegen muss man vor seiner Entscheidung bei der Europawahl schauen: Wer ist für den Europäischen Wirtschaftsraum, wer ist für den Euro? Wer dafür ist, der ist auch für die deutsche Wirtschaft. Alle anderen Maßnahmen sind abzulehnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließe ich diese Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6549 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 15. Januar war kein guter Tag für die Europäische Union. Die Entscheidung des britischen Unterhauses war ein ernster Rückschlag; denn damit ist die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Brexits deutlich gestiegen. Dennoch: Der Weg dahin ist keinesfalls vorgezeichnet. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen alles daransetzen, dass ein Austritt Großbritanniens nicht ohne Abkommen, sondern nur mit einem Abkommen erfolgt. Wir wissen seit Dienstag aber lediglich, was die britischen Abgeordneten nicht wollen. Was wir immer noch nicht wissen, ist, was Großbritannien stattdessen will. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir nicht weiterkommen. Das sagen wir auch in aller Deutlichkeit unseren britischen Kollegen. Letztlich können wir nicht mit uns selber verhandeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass es viele gibt, die nunmehr auf einen Exit vom Brexit hoffen, auf ein neues Referendum, auf eine Verschiebung des Austrittstermins nach Artikel 50 des EU-Vertrages. Und ja, ganz persönlich würde ich mir auch wünschen, die Briten hätten sich nie für den Brexit entschieden. ({0}) Aber im Moment sind alle Überlegungen zu solchen Optionen reine Spekulation; denn die britische Regierung hat bislang jede – wirklich jede – dieser Möglichkeiten ausgeschlossen. Ohne britischen Antrag gibt es keine Verlängerung der Austrittsfrist, und ohne Mehrheit im britischen Parlament gibt es auch kein zweites Referendum. Das ist die Realität in dieser Frage. ({1}) Deshalb muss man auch in aller Deutlichkeit in Richtung London sagen: Die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei. ({2}) Der Ball liegt im Feld Großbritanniens. Alle, die in London politische Verantwortung tragen, sind jetzt in der Pflicht, sich zu verständigen und klar zu sagen, für welchen Weg es in London eine Mehrheit gibt. Vielleicht sollte der eine oder andere in Großbritannien sich dabei an Shakespeare erinnern: Was du nicht hast, dem jagst du ewig nach, vergessend, was du hast. Am Montag wollen Regierung und Parlament in London einen Vorschlag diskutieren, und die Europäische Union ist auch bereit, sich diesen Vorschlag sehr genau anzuschauen. Kaum vorstellbar ist allerdings, dass das Austrittsabkommen wieder aufgeschnürt wird. Das haben wir im Vorfeld der Abstimmung immer sehr deutlich gemacht, und daran hat sich auch durch die Entscheidung in London in der Sache nichts geändert – so wie sich nichts an unseren Prinzipien geändert hat, insbesondere, was die Integrität des Binnenmarktes mit seinen vier Grundfreiheiten betrifft. Wir haben jetzt zwei Jahre lang intensiv mit Großbritannien verhandelt. Ich finde, wir – und damit meine ich alle innerhalb der Europäischen Union – waren kreativ, waren flexibel, haben die roten Linien der britischen Regierung berücksichtigt und sind Kompromisse eingegangen. ({3}) Dabei wurden die Ziele beider Seiten berücksichtigt. Dieses Abkommen ist ein Kompromiss für beide Seiten. Das, was wichtig war, ist in diesem Abkommen enthalten: Rechtssicherheit für die Wirtschaft, eine Übergangsphase, um über das künftige Verhältnis ausreichend und vernünftig verhandeln zu können, die Vermeidung einer harten Grenze zwischen Nordirland und Irland und insbesondere die Wahrung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Auch für eine mögliche Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 müsste Großbritannien zunächst einmal klar sagen, wohin die Reise gehen soll. Es müsste also eine klare Perspektive geben, um die Frage des Ob und des „Wie lange“ beantworten zu können. Sie alle wissen, dass wir dabei die anstehenden Europawahlen im Blick behalten müssen. Sollen die Briten etwa an der Europawahl nicht teilnehmen, aber danach ein Referendum durchführen und in der Folge doch in der Europäischen Union bleiben? ({4}) Oder sollen sie an der Europawahl teilnehmen, um anschließend zu entscheiden, dass sie doch austreten? ({5}) Das ist ein bisschen schwierig. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es in diesem Prozess ein positives Element gab, dann war es die Einigkeit und die Geschlossenheit der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Einigkeit müssen wir über den Brexit hinaus und auch jetzt, in dieser Phase, beibehalten. ({6}) Wir werden diese Einigkeit darüber hinaus für ein starkes und souveränes Europa brauchen, ein Europa, das weiterhin so eng wie möglich mit Großbritannien als Partner und als Freund in einer immer unübersichtlicheren Welt zusammenarbeitet. Dafür brauchen wir die Briten eigentlich mehr als zuvor. Unabhängig davon, wie die Diskussion in Großbritannien in den kommenden Wochen verlaufen wird, sind wir auf alle Szenarien vorbereitet. Wir setzen unsere Planungen für den Fall eines ungeregelten Brexits fort und werden sie noch weiter intensivieren. Es geht darum, negative Folgen für die Bürgerinnen und Bürger und auch für unsere Unternehmen so weit wie möglich abzuwenden. Die Maßnahmen, die wir dazu ergriffen haben, kennen Sie. Im Mittelpunkt stehen drei Gesetzespakete. Das Gesetz, das den britischen Limited-Gesellschaften die Umwandlung in deutsche Gesellschaftsformen ermöglicht, ist bereits in Kraft. Eines der beiden Gesetze, die wir derzeit beraten, soll negative Auswirkungen bei den Renten, der Krankenversicherung und der Ausbildungsförderung abfedern. Das andere dient dazu, die Risiken für die Stabilität der Finanzmärkte zu berücksichtigen und zu vermindern. Darüber hinaus haben wir – darüber haben Sie gerade diskutiert – mit der Einstellung von zusätzlichen Zollbeamten begonnen. Wir stocken aber auch das Personal in unseren Zulassungsbehörden auf, etwa um wichtige Medizinprodukte weiterhin schnell und zuverlässig zulassen zu können. Letztlich arbeiten wir an einer Verordnung, die britischen Bürgerinnen und Bürgern eine Übergangsfrist einräumt, um ihren künftigen Aufenthaltsstatus in Deutschland auch bei einem ungeregelten Brexit zu regeln. Darüber hinaus tauschen wir uns natürlich eng mit den Ländern, der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft über all die Dinge aus, die zu regeln sein werden. Das tun wir auch mit den europäischen Partnern, dem Rat und der Europäischen Kommission, damit die nationalen und die europäischen Maßnahmen eng und gut ineinandergreifen. Kurzum: Wir sind vorbereitet, aber wissen auch, dass ein ungeregelter Brexit uns allen schaden wird, möglicherweise bzw. sehr wahrscheinlich den Bürgerinnen und Bürgern in Großbritannien mehr als uns. Man kann daher eigentlich nur an die britischen Kollegen appellieren: Euren Sinn für schwarzen Humor habt ihr in den letzten Tagen eindrücklich unter Beweis gestellt. Jetzt setzen wir auf euren legendären Pragmatismus und Realitätssinn. Herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Hebner für die Fraktion der AfD. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Verträge dürfen Sie kündigen, einschließlich der Ehe. Für alles gibt es Regelungen, die Ihnen bereits vor Vertrags­abschluss bekannt sind. Nicht so bei der EU-Mitgliedschaft! Für die EU war eine Scheidung undenkbar, ein Sakrileg wie früher die Ehescheidung. Und jetzt erleben wir eine sehr unangenehme, geradezu schmutzige Scheidung. Herr Minister Maas, die Briten wissen, was sie wollen. Sie wollen nicht fremdbestimmt sein. ({0}) In Brüssel arbeiten über 60 000 Bürokraten, von denen allein 30 000 für EU-Kommissare tätig sind. Sie wollen ihre Macht und ihre Position natürlich um keinen Preis verlieren. Die Bürokraten in Brüssel wollen ihre Institutionen und Behörden nicht infrage stellen lassen und infrage gestellt sehen. Aber die EU-Bürokratie ist nicht alternativlos – genauso wenig wie, Frau Merkel, die Euro-Rettungspolitik. ({1}) Deshalb wollen wir den Briten helfen. Die EU-Kommissare in Brüssel steuern uns mit ihren Tausenden von Mitarbeitern und herrschen über Bürger, die noch nicht einmal die Namen der EU-Kommissare kennen – eventuell bis auf die Herren Juncker und Oettinger. Herr Minister Maas, Sie sind verantwortlich, und Sie kennt man; man sieht Sie zumindest gelegentlich. ({2}) Wenn hier Minister, salopp gesagt, Mist bauen, dann werden sie entlassen, ({3}) angesichts des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes leider nicht ausreichend. Aber EU-Kommissare können tun, was immer sie wollen, oder nichts tun. Sie sind unfehlbar, wie der Papst, und das ist Religion. ({4}) „Take back control“ ist das Ziel vieler Briten in dieser Situation. Die Briten wollen die Steuerung über ihr eigenes Land zurückbekommen. Die 28 EU-Kommissare haben weiterhin gar kein Interesse daran, dass sie oder gar die Bürger über ihre Existenzberechtigung nachdenken. Auch in diesem Haus wird über dieses Thema viel zu wenig gesprochen. Es wird geradezu ausgeklammert, als ob es eine Gotteslästerung wäre. Aber mit dem Brexit hat die Götterdämmerung begonnen. ({5}) Und diese Götterdämmerung will man in Brüssel mit der Schlammschlacht bei der Scheidung, beim Brexit, verhindern. Das Mittel ist Hinauszögern. Es geht hier definitiv nicht nur um die Briten, Herr Maas, sondern auch um die Verhandlungsführung der EU. ({6}) Deshalb auch die Dauer der Verhandlungen von zwei Jahren und die Unnachgiebigkeit, zu der jetzt die zeitliche Zuspitzung kommt! Damit soll eigentlich nur eines erreicht werden, meine Damen und Herren: andere Staaten von einem solchen Schritt abzuschrecken. ({7}) Alle Ansätze einer Reform der EU, die Herr Cameron angestoßen hat, sind im Sande verlaufen. Von der Bundesregierung wurde er leider nicht wirklich unterstützt. Übrigens hat sich auch Herr Stoiber einmal den Bürokratieabbau in der EU auf die Fahnen geschrieben. ({8}) Nachdem er in die EU-Kommissariate gegangen ist, hat man ihn nicht mehr gesehen. Die EU war und ist zurzeit unreformierbar. Auch das ist etwas, was viele Briten stört: Die EU-Kommissare herrschen mit immer weiterer Ausdehnung ihrer Zuständigkeit. „Take back control“ ist das Motto der Briten. Was Sie nicht verstanden haben – das haben wir gerade auch von Herrn Brehm gehört – und nicht verstehen wollen: Viele auch in unserem Land, wie wir, sind keinesfalls Gegner von Europa. ({9}) Wir sind gegen diese EU-Bürokratie ({10}) und gegen diese überbordende Zentralsteuerung. Wir sind überzeugte Europäer, ({11}) aber keine Zentralisten. ({12}) Und die EU-Bürokratie ist keinesfalls alternativlos. Vielen Dank. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Katja Leikert. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Drama ohne absehbares Ende, ein echtes Trauerspiel mit diesem Brexit, das wir jetzt seit Monaten beobachten. Wir haben gesehen, wie eine stabile, gut funktionierende europäische Demokratie in Chaos und Lähmung abrutscht. Die Folgen für das Vereinigte Königreich, für seine Bürgerinnen und Bürger, sind unabsehbar. Welche Meinung man auch immer zu Europa und zur Europäischen Union hat: Das ist tragisch, das ist erschreckend, und das muss uns alle alarmieren. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde ich mich freuen, wenn in diesem Hause Einigkeit darüber herrschte, dass so etwas in Deutschland nie passieren darf, dass so etwas uns als Politikerinnen und Politikern nie passieren darf und dass wir so etwas unserem Land und unseren Bürgerinnen und Bürgern nie antun dürfen. ({0}) Herr Maas hat es schon angesprochen: Die Briten wären natürlich nicht Briten, wenn sie nicht über eine gute Mischung aus Humor, Sarkasmus und Zynismus verfügen würden. Ich bin bestimmt keine große Freundin von Twitter, habe dort aber kürzlich etwas Interessantes gelesen. Ein Kolumnist der „Times“ hat den Brexit so erklärt: Eine knappe Mehrheit der Bürger habe, schlecht und falsch informiert, beschlossen, die Regierung möge ein U-Boot aus Käse bauen. Theresa May habe dies immer für eine schlechte Idee gehalten, für Käse sozusagen. Aber sie sei in die Lage gekommen, dieses U-Boot bauen zu müssen. Darum habe sie zweieinhalb Jahre nichts anderes getan, als alles daranzusetzen, dieses U-Boot zu bauen. Jetzt wird Theresa May vorgeworfen: „Dieses U-Boot ist nicht besonders gut; man hätte ein besseres bauen können“, ({1}) ausgerechnet von denjenigen, die Theresa May durch ihre Schmutzkampagnen, ihre Hetzkampagnen und ihre Lügen erst in diese Lage gebracht haben. Viele andere meinen nach wie vor, dieses U-Boot aus Käse sei von Anfang an Irrsinn gewesen und werde niemals schwimmen und niemals tauchen. – Das ist momentan die Situation in Großbritannien. Deshalb gibt es jetzt keine parlamentarische Mehrheit, weder für diesen Prototypen eines Käse-U-Boots noch für die Verschrottung des ganzen Projekts und auch nicht dafür, das britische Volk noch einmal abstimmen zu lassen. Ich sage es noch einmal: So etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf bei uns nicht passieren. Mir ist nach der Rede von Herrn Hebner schon klar, dass ihm diese Rückkehr des Nationalstaats, die von ihm immer wieder gefeiert wird, gerade recht wäre. Grotesk ist das. Aber für uns gilt: So etwas wollen wir nicht. ({2}) Mögliche Nachverhandlungen wurden bereits angesprochen. Die britische Regierung wird möglicherweise bei den Europäern nachfragen, inwiefern Entgegenkommen möglich sein wird. ({3}) Das Austrittsabkommen ist aber schon ein sehr gutes Abkommen. Wir sind nicht zu substanziellen Veränderungen bereit. Auch das hat der Außenminister eben noch einmal deutlich gemacht. Und warum ist das so? Es ist ein gutes und faires Abkommen, erstens, weil die Briten genau das bekommen, was sie wollen – sie verbleiben so lange in der Zollunion, bis die Nordirlandfrage geklärt ist, und danach bekommen sie ihre Freihandelszone –, zweitens, weil der Frieden auf der irischen Insel nur durch das Karfreitagsabkommen und nur durch die Europäische Union gewahrt werden kann und, drittens, weil wir unsere Freundschaft zu Irland nicht opfern, nur weil in Großbritannien innenpolitisches Chaos herrscht. ({4}) Ich fand sehr schön, dass Außenminister Maas bei seinem Besuch in Dublin letzte Woche betont hat: Die Europäische Union ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist das größte Friedensprojekt. – Recht hat er. Mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen. Das Vereinigte Königreich ist heute in dieser Lage, weil das Gift des Populismus dort schon vor Jahren die europapolitische Debatte befallen hat. Das Thema wurde vergiftet, sodass ein sachlicher und politischer Diskurs kaum noch möglich ist. Wir erkennen unsere britischen Freunde kaum wieder, wie hysterisch und wie irrational sie an vielen Stellen sind. Die CDU/CSU-Fraktion will die europapolitische Debatte aber nicht verzagt führen, sondern sachlich, mutig und klar. Wir schüren keine Zukunftsangst, keine Angst vor Globalisierung oder irgendwelchen Mächten. Wir wollen kein Europa der Abschottung, kein Europa des Protektionismus, kein Europa der Bevormundung. ({5}) Wir wollen ein Europa der Offenheit, ein mutiges Europa, das stark seine Rolle in der Welt wahrnimmt. ({6}) Wir wollen ein Europa der Chancen für jeden einzelnen Bürger auf gute Bildung, auf beruflichen Erfolg und auf Wohlstand. ({7}) Dafür werden wir als CDU/CSU-Fraktion mit unserem Spitzenkandidaten Manfred Weber kämpfen. Die anderen proeuropäischen Parteien werden das mit ihren Spitzenkandidatinnen und -kandidaten tun. Wir werden für unser Europa und für eine gute Zukunft streiten. Mit Blick auf unsere britischen Freunde hoffen wir auf ein gutes Ende in diesem Drama. Herzlichen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Alexander Graf Lambsdorff. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt: Als Liberale bedauern wir den Brexit außerordentlich. Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus. Uns wäre es am liebsten, man käme auf der Insel wieder zur Vernunft, würde den Antrag auf Austritt zurücknehmen und die Briten würden gemeinsam mit uns Europäern die Zukunft gestalten. ({0}) Nur leider sieht es nicht danach aus. Der Außenminister hat es gesagt: Dienstag war ein schlechter Tag. Er sagte auch, man wolle einen Brexit, wenn es irgend möglich ist, nur mit Abkommen. Gleichzeitig sagte er richtigerweise: Das Abkommen, über das im Unterhaus abgestimmt worden ist, ist ein gutes Abkommen, es werde nicht wieder aufgeschnürt. Wenn aber das Abkommen nicht wieder aufgeschnürt wird, dann frage ich die Bundesregierung: Wie wollen wir denn bitte schön noch zu einem Abkommen kommen? Haben Sie das Ergebnis der Abstimmung im Unterhaus mitbekommen? 432 zu 202! Wo soll die Mehrheit denn bitte schön herkommen? Meine Damen und Herren, jetzt ist ein anderer Modus Operandi notwendig. Wir müssen gemeinsam mit den anderen Europäern unser Land und die EU‑27 auf einen harten Brexit vorbereiten. Der vorliegende Gesetzentwurf, über den wir heute reden, macht aber die Probleme der Bundesregierung in dieser Lage deutlich. Lassen Sie mich – mit Erlaubnis des Präsidenten – aus dem Gesetzentwurf zitieren: Das geplante Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs … aus der Europäischen Union … sieht einen anschließenden Übergangszeitraum bis zum 31. Dezember 2020 vor …  Hauptziel des Gesetzentwurfs ist es, für den Übergangszeitraum Rechtsklarheit … herzustellen … Dann zitiere ich aus § 4 des Gesetzentwurfs: Dieses Gesetz tritt an dem Tag in Kraft, an dem das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union … in Kraft tritt. Das heißt, im Gesetzentwurf wird so getan, als ob das Unterhaus am Dienstag zugestimmt hätte. Damit ist er völlig obsolet. Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, der nie in Kraft treten wird. ({1}) Genau das ist der Modus Operandi der Bundesregierung, und er wird der Lage einfach nicht gerecht. Dann hören wir, es gebe andere Vorbereitungen. Richtig, eine Limited kann jetzt zu einer GmbH werden. Super! Das löst alle Probleme. ({2}) Meine Damen und Herren, wir haben in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit nichts geregelt. Wir wissen, dass bei uns in Deutschland schon lange viele Menschen aus Großbritannien und Nordirland wohnen. Nun soll es, so informiert uns das Auswärtige Amt, eine Ministerverordnung geben, wonach die Britinnen und Briten, die in Deutschland wohnen, binnen drei Monaten zur Ausländerbehörde und zur Meldebehörde gehen sollen, um einen Aufenthaltstitel zu beantragen. Haben Sie in Berlin mal versucht, einen Termin bei einer Meldebehörde innerhalb von drei Monaten zu bekommen? Das ist völlig unrealistisch. ({3}) Das, was die Bundesregierung hier vorschlägt, geht an der Wirklichkeit vorbei. Zu der Situation der Unternehmen. Laut Prognose des Deutschen Industrie- und Handelskammertages wird es ab dem harten Brexit pro Jahr vermutlich 10 Millionen neue Zollanmeldungen geben. Die Bundesregierung informiert uns, man werde 2018 und 2019  900 neue Beschäftigte beim Zoll einstellen. Das finden wir im Prinzip auch richtig. Nur: Glauben Sie, dass die 900 neu eingestellten Beschäftigten schon ab dem 30. März in der Lage sind, die Arbeit zu verrichten, auf die unsere Unternehmen angewiesen sind? Wir glauben das nicht. Dazu wird es nicht kommen. Die Bundesregierung muss ihre Vogel-Strauß-Politik beenden. ({4}) Wir müssen uns leider auf den harten Brexit einstellen. Dazu muss jetzt eine völlig andere Arbeitsweise gewählt werden: Es muss schneller gehen, es muss präziser gehen, und das Vorgehen muss an der Lebenswirklichkeit der Menschen und Unternehmen in unserem Land und auch in anderen Ländern Europas orientiert sein. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Abgeordnete Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Tony Blair den Sozialstaat der Londoner Börse unterwarf, als die Tories Hunderttausende von Industriearbeitsplätzen in Billiglohnländer verschoben, trieben sie der UKIP die Hasen in die Küche. Als Cameron die Null-Stunden-Arbeitsverträge ohne jede Einkommenssicherheit einführte, zimmerte er damit die Mehrheit für den Brexit. Zwischen 2010 und 2013 waren die Löhne der Briten um 5,5 Prozent gesunken, so stark wie nach Portugal und Griechenland nirgends sonst in der EU. Wo immer in der Welt an Sozialem und an Gesundheit gekürzt wird, sinkt die Lebenserwartung. Die Todesrate in Großbritannien stieg um 5 Prozent, in absoluter Zahl um 120 000 Menschen, laut Oxford-Studie mit einem erheblichen Anstieg der Zahl der Selbstmorde. Im Winter 2018 stauten sich vor den Notaufnahmen die Krankenwagen. In den Kliniken selbst starben Patienten auf den Gängen. 55 000 Operationen wurden abgesagt. Die Hölle, und das, obwohl in London, einem Paradies für Finanzhaie, Tag für Tag Milliarden gehandelt werden! Aber die Großspekulanten bleiben unversteuert. Das stinkt zum Himmel. ({0}) Grassierende EU-Feindlichkeit wird auch durch Angstrenten geschürt. So liegt trotz der steigenden Altersarmut bei uns in Großbritannien die maximale staatliche Rente noch um 65 Prozent unter der deutschen. Gleichzeitig wurde London zum Mekka für Börsenschmarotzer und Immobilienspekulanten, etwa für griechische Steuerflüchtlinge, deren Steuermilliarden jetzt in ihrer Heimat fehlen. ({1}) Von der Million polnischer Arbeitskräfte wurden die meisten angeworben, um Schuftereien zu Dreckslöhnen zu leisten, die viele Briten zu Recht für unzumutbar hielten. Auf dem Rücken dieser Polen haben sich nicht nur britische Finanzhaie bereichert. Deren Supergewinne und die Stimmengewinne rechter Demagogieparteien, wie UKIP, sind zwei Seiten einer Medaille. Die strammen deutschen Kameraden von UKIP sitzen hier rechts vom Pult. ({2}) Herr Hebner, Sie sprachen eben gegen Fremdbestimmung. Ich will Ihnen einmal sagen, was Fremdbestimmung ist: Als enthüllt wurde, wie britische Superreiche, inklusive Staatschef Cameron, mit Briefkastenfirmen in Panama die Briten um Steuermilliarden beraubt hatten, stand am 13. Dezember 2017 Ihr Abgeordneter Holm hier am Mikrofon mit einem Loblied der AfD auf die Panama Papers als Modell für superreiche Steuerhinterzieher. – Eine schöne Alternative für Deutschland sind Sie, eine, die gegen deutschen Unterrichtsausfall und gegen das Vordringen von deutschen multiresistenten Keimen in deutschen Krankenhäusern mit jährlich 40 000 deutschen Toten den Steuerbetrug via Panama Papers empfiehlt. ({3}) Gehen Sie nach Panama zu Ihren Steuerhinterziehern, gehen Sie zu Ihrem rechten Kumpanen Bolsonaro nach Brasilien! Eine Alternative für Deutschland sind Sie nicht! ({4}) Wenn jetzt auf dem AfD-Parteitag für einen deutschen Brexit geworben wurde, kann man Ihren Wählern nur raten: Schaut nach England; nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber. ({5}) Das Geschäftsmodell von UKIP, Lega Nord, AfD und den Großaktionären hinter diesen Rechtsparteien – Herrn Finck zum Beispiel – ({6}) heißt: Erst die Menschen durch Verarmung zornig machen, und dann den Zorn auf die Allerärmsten umlenken. Und „Bild“ und die britischen Hetzer von der Zeitung „The Sun“ hetzen dabei kräftig an ihrer Seite mit. ({7}) Wer aber Migration sozial und human neu regeln möchte, darf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu einem transnationalen Ausplünderungsmodell machen, sondern muss die Angstursachen durch höhere Löhne und Renten bekämpfen. ({8}) Entgegen Frau Baerbock und deren Original, Herrn Lambsdorff, und dem Antrag der FDP warnen wir, wie übrigens auch Peter Gauweiler von der CSU, jetzt vor einer Strafexpedition mit knallhartem Brexit, um andere Völker abzuschrecken und auf EU-Linie zu zwingen. Deutsche Konzernherrenmanier fährt diese undemokratische, kapitalliberale EU noch restlos gegen die Wand. Neu verhandeln heißt die Devise, auch die EU-Verträge, damit Sozialstaatlichkeit dort endlich so festgeschrieben wird wie in den antifaschistischen Nationalverfassungen in Europa. ({9}) – Ja, diese Verfassungen sind einmal erkämpft worden. Da steht eine Sozialstaatsbindung des Eigentums drin, im Unterschied zum Lissabon-Vertrag. Nicht die Briten, sondern die Eliten haben die EU in die Krise gestürzt. Die Rechten können weder europäische Integration noch Großbritannien regieren – oder anderswo. ({10}) Die May mag weitermerkeln, sie hat es versiebt, und May sollte gehen. Labour liegt endlich in den Umfragen deutlich vor den Tories. Jeremy Corbyn könnte es besser. Herr Außenminister, bei Ihrem Faible für schwarzen britischen Humor: Wir können es auch einmal mit einer roten Regierung versuchen. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, das ist ein tragischer Moment, den wir da erleben, und es schmerzt, zu sehen, wie dieses Land Großbritannien gespalten ist – quer durch Politik, durch Freundschaften, durch Familien. Herr Hebner, Sie sprachen von „take back control“. ({0}) Man sieht ja gerade, wie viel Kontrolle in Großbritannien herrscht. Ganz ehrlich: Wo ist denn da die Kontrolle? ({1}) Wenn Sie von Kontrolle sprechen, möchte ich noch einmal daran erinnern, wer der größte Geldgeber der Brexit-Kampagne war. Das war ein Unternehmer, der sein Geld in Russland gemacht hat und der seinen letzten großen Auftrag vermittelt durch die russische Botschaft in London bekommen hat. ({2}) Wenn Sie mir sagen: „Das ist die Rücknahme nationaler Kontrolle“, dann kann ich nur sagen: Diese Kontrolle möchten wir nicht. ({3}) Herr Hebner, wenn Sie hier behaupten, Sie seien ein überzeugter Europäer, dann kann ich nur sagen: Ein überzeugter Europäer spricht nicht so schlecht von Europa und dem politischen Europa. Das, was Sie hier liefern, ist einfach unglaubwürdig. ({4}) Man sieht bei dem Brexit wie unter einem Brennglas, wohin uns Chauvinismus, Populismus und Nationalismus führen. Ich kann nur sagen: Wer sein Land liebt, der zerstört es nicht so. ({5}) Wir brauchen jetzt verantwortliches Handeln. Deswegen erwarte ich von Premierministerin May, einer konservativen Regierungschefin, dass sie den hard Brexit vom Tisch nimmt. Es ist jetzt keine Zeit mehr für Spielchen, für Zockereien. Dafür ist das alles viel zu ernst. ({6}) Sie kann den Antrag nach Artikel 50 zurücknehmen oder zumindest Zeit gewinnen, indem sie einen Plan vorlegt. Dieses Damoklesschwert muss heruntergeholt werden. Ich möchte gerne sagen: Auch Herr Corbyn muss jetzt endlich verantwortlich handeln. Er hat in den letzten Monaten und Jahren in diesem Brexit-Drama überhaupt keine verantwortliche Rolle gespielt. Da ist er keinen Deut besser als die anderen. ({7}) Frau Wagenknecht hat wie Sie hier reagiert, Herr Dehm. Sie hat gesagt: Jetzt muss es zu Neuwahlen kommen, und wir müssen den Brexit-Deal neu verhandeln, damit er den Interessen der Bevölkerung Rechnung trägt. Wie stellen Sie sich das denn vor? Was soll denn das für ein toller Brexit werden, von dem Sie da fabulieren? ({8}) Das ist doch Augenwischerei à la Corbyn. Das hat mit der Realität doch überhaupt nichts zu tun. ({9}) – Sie haben das auch gerade gesagt. ({10}) – Nein, Sie haben gesagt, man soll das neu verhandeln und neue Verträge machen. ({11}) Wissen Sie, das ist doch so etwas von unrealistisch. Was Sahra Wagenknecht da macht, ist nichts anderes als Querfront in Reinform, meine Damen und Herren. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Brantner, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung des Kollegen Stefan Liebich?

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Brantner, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie setzen sich ja jetzt gerade mit unserer Position und mit dem Beitrag von Diether Dehm auseinander. Ich will noch einmal darstellen, warum ich diese Variante tatsächlich für sinnvoller halte als das, was die Regierung jetzt versucht. Man kann natürlich die Position von Labour kritisieren. Ja, klar, die ist nicht konsistent, weil die Wählerschaft von Labour in sehr unterschiedliche Richtungen gehen möchte. Was Sie bei Labour aber nicht finden, sind diese Hardcore-Fundies, die auf jeden Fall, um jeden Preis rauswollen. Jeremy Corbyn hat eines ganz klar gesagt: Er möchte keinen No-Deal-Brexit. Labour sagt noch etwas anderes. Labour sagt, sie können sich eine Variante, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt, sehr gut vorstellen. Natürlich wäre es mir lieber, es gebe gar keinen Brexit, und man kann aus anderen politischen Perspektiven sicher auch viele Punkte an der Labour-Meinung kritisieren; aber in der Frage, wie Großbritannien künftig mit der Europäischen Union umgeht, ist Labour tausendmal besser als die Chaostruppe von Theresa May. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das muss ja keine Frage sein; das ist alles okay. – Ich habe explizit von Herrn Corbyn gesprochen. ({0}) – Nein, das ist ein Unterschied. – Es gibt in der Labour-Partei – das stimmt – auch einige, die seit Wochen und Monaten für ein zweites Referendum arbeiten. Aber Herr Corbyn hat bis jetzt noch keine Vorlage für die Zollunion gemacht. ({1}) Wir haben jetzt nicht mehr so viel Zeit. Am Montag kommen die nächsten Sachen. Ich möchte darauf hinweisen, dass keiner gesagt hat, dass wir, wenn die Briten mit einem neuen Vorschlag kommen – sei es Zollunion oder ein Norwegen-Modell –, nicht bereit sind, das zu nehmen. ({2}) Aber was nicht möglich ist, ist, dieses Austrittsabkommen, das wir jetzt haben, weiter aufzuschnüren, um mehr Rechte für Briten, weniger Pflichten für Briten und weniger Rechte für europäische Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen als heute zu bekommen. Das geht nicht. ({3}) Wir haben alle klar gesagt: In diese Richtung kann nicht nachverhandelt werden. – Aber natürlich, wenn im Britischen Unterhaus am Montag eine Mehrheit für eine Zollunion oder für Norwegen Plus steht, dann wären wir doch die Letzten, die das ablehnen würden. ({4}) Das ist aber etwas ganz anderes als das, was Frau Wagenknecht gesagt hat. ({5}) – Es geht hier nicht um eine Nachverhandlung. Das ist ein wirklicher Unterschied. Ich habe gerade noch einmal darauf hingewiesen, dass es auch in den Reihen der Labour-Abgeordneten, der Konservativen und der Liberalen im Britischen Unterhaus Initiativen gibt für ein Referendum über den Ausstiegsvertrag, über den Verbleib in der Europäischen Union. Wir glauben, dass es ein richtiger Weg ist, dass jetzt die britische Bevölkerung die Chance hat, über einen konkreten Brexit abzustimmen. Bei dem letzten Referendum wurde das Blaue vom Himmel erzählt: 300 Millionen Pfund oder mehr könne man sparen – jede Woche. Jetzt etwas Konkretes vorliegen zu haben, das könnte zur Heilung der Debatte beitragen. ({6}) Es ist eine schwierige Situation, auch für die Europäische Union. Wir können nur dafür sorgen, dass wir als EU zusammenbleiben und uns nicht auseinanderdividieren lassen. Ich glaube, das ist die große Herausforderung, die wir haben. Ich hoffe sehr, dass der Druck auf Irland – er ist dort am größten, weil es vom Brexit am meisten betroffen ist – nicht noch größer wird. Wir dürfen die Iren da auf keinen Fall alleine lassen, dürfen nicht nachgeben und sie im Stich lassen. Wenn wir ein Land im Stich lassen, werden am Ende alle im Stich gelassen. Das trifft uns, die Bürgerinnen und Bürger der EU, am Ende alle gemeinsam. ({7}) Ich habe ein Jahr meines Lebens auch in Großbritannien verbracht. Ich hatte dort eine super Zeit, es sind tolle Menschen. Wenn jetzt Zeit zum Nachdenken ist und vielleicht die Chance, die Realität zurückzunehmen, möchte ich von hier aus klar sagen: Ihr seid immer herzlich willkommen. We want you to stay. Ich danke Ihnen. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Markus Töns. ({0})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Unterhaus hat das Austrittsabkommen leider abgelehnt. Wir hoffen zwar immer noch, dass sie es in den nächsten Wochen schaffen, das Abkommen anzunehmen. Aber ich muss ganz offen sagen: Mir fehlt im Moment ein bisschen die Fantasie, wie man eine Zweidrittelgegnerschaft in ein positives Votum wenden kann. Aber wir müssen auch sagen: Wir müssen vorbereitet sein. Wir haben mit dem Brexit-Übergangsgesetz ein Gesetz für den Fall geschaffen, dass dieses Abkommen doch noch angenommen wird. Wir bereiten uns im Gegensatz zu Ihnen, Herr Lambsdorff, auf einen No-Deal vor, auch mit Gesetzen. Sie werden es in der nächsten Sitzungswoche erleben, dass wir uns damit intensiv werden beschäftigen müssen, wenn es denn nicht doch noch zu diesem Deal kommt. ({0}) Die Anhörung im Europaausschuss zum Brexit-Übergangsgesetz am Montag – darauf will ich zurückkommen – hat deutlich gemacht: Das Gesetz hat zwar einen deklaratorischen Charakter, schafft aber Rechtssicherheit, und zwar in Großbritannien. Großbritannien wird damit in der Übergangszeit den EU-Mitgliedstaaten gleichgestellt. Das ist fair. Die Menschen hatten vor dem Brexit eine andere Lebensplanung. Das bedeutet aus unserer Sicht auch Rechtssicherheit; das müssen wir zunächst einmal garantieren. Dieses Gesetz garantiert auch den Deutschen in Großbritannien, dass sie ihren Pass nicht verlieren, dass sie auch britische Staatsbürger werden können. ({1}) Ich will an dieser Stelle einmal auf den Antrag der AfD zu sprechen kommen. Er ist erstens kaltherzig, zweitens inkompetent und drittens rückwärtsgewandt. Er ist kaltherzig, weil er diejenigen, die ihr Leben in einem gemeinsamen Europa geplant haben, jetzt im Regen stehen lässt, indem er ihnen Hilfe verweigert. Er ist inkompetent unter anderem deshalb, weil er die Deutschen in Großbritannien, die zu Briten werden wollen, im Regen stehen lässt. Drittens ist er rückwärtsgewandt, weil die im Hinblick auf eine doppelte Staatsbürgerschaft vorgebrachten Loyalitätskonflikte schlichtweg falsch sind. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Töns, gestatten Sie eine Zwischenfrage der AfD?

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Vielen Dank, Herr Vorsitzender. ({0}) Sehr geehrter Herr Töns, das Brexit-Übergangsgesetz, über das wir heute beraten – Herr Lambsdorff hat es angesprochen –, bezieht sich erstens auf den Übergangszeitraum im Austrittsabkommen. Zweitens hat das Gesetz genau vier Paragrafen. In dem dritten Paragrafen dreht es sich ausschließlich um die doppelte Staatsbürgerschaft, die Sie ohne Verlust der jeweils anderen Staatsbürgerschaft auch noch im Übergangszeitraum nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ermöglichen wollen. Es ist so, dass das Brexit-Referendum bereits 2016 stattfand. Glauben Sie nicht, dass die Briten, die wirklich ein Interesse hatten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, oder die Deutschen daran, die britische Staatsbürgerschaft zu erhalten, nicht schon genügend Zeit hatten, diese zu beantragen? Glauben Sie, dass gewisse Konflikte bezüglich des Wohnsitzes oder des Aufenthaltsrechts über das Verschenken einer Staatsbürgerschaft gelöst werden können? Finden Sie das kompetent? ({1})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also, um das noch mal klarzustellen: Ich glaube, dass das richtig ist. ({0}) Ich bin auch tief davon überzeugt, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft nicht falsch ist, nicht einmal angesichts der ideologisch verbrämten Äußerungen, die Sie immer vorbringen. ({1}) Sie leben nicht im 21. Jahrhundert, sondern höchstens im 19. Jahrhundert. Auch im 20. Jahrhundert sind Sie nicht angekommen. Ich will Ihnen etwas sagen: Die Hetze gegen diese doppelte Staatsbürgerschaft entspricht überhaupt nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Jahrhundert. Was Sie tun, ist: Sie streuen den Menschen mit diesen Äußerungen Sand in die Augen. ({2}) Es ist durch die Abstimmung im britischen Unterhaus ungewiss geworden, ob wir das Gesetz wirklich benötigen; das ist heute schon bemerkt worden. Dennoch sollte man auf alles vorbereitet sein. Es geht jetzt darum, mit unseren Freunden in Großbritannien zu klären, wie es weitergeht. Der Ball liegt in ihrem Spielfeld. Die Briten müssen uns jetzt endlich mal sagen, was sie wollen. Wir stehen weiterhin zu diesem europäischen Vertrag. Wir stehen weiterhin dazu, dass nicht nachverhandelt wird. Dafür gibt es keinen Spielraum. Es gibt keine Rosinenpickerei. ({3}) Die Situation in Großbritannien sollte uns eine Lehre sein. Aber was lernen wir daraus? Eine Volksabstimmung basierte auf falschen Argumenten. ({4}) Erstens. Das Versprochene kann niemals eingehalten werden. Zweitens. Der Wert der europäischen Mitgliedschaft wurde komplett ignoriert. Das führte dann dazu, dass die Menschen eine Abstimmung durchführten und einem Brexit zustimmten, ohne wirklich zu wissen, worüber sie abgestimmt haben. Großbritannien ist tief gespalten und befindet sich in seiner schwersten Regierungskrise. Das kommt davon, wenn Rechtspopulisten und Nationalisten Lügen verbreiten. Meine Damen und Herren, es scheint ja so zu sein, dass die AfD für Deutschland Gleiches plant. Sie wollen erstens den Euro abschaffen ({5}) und zweitens das Europaparlament abschaffen. Aber den Bürgern erzählen Sie, es ginge ihnen hinterher besser. ({6}) Das ist schlichtweg gelogen. ({7}) Sie bezeichnen sich als Demokraten und wollen ein Parlament abschaffen? Sie sind es mitnichten, meine Damen und Herren. Der Vertrag von Lissabon – ich habe ihn hier in der Hand – ist unsere Verfassung für Europa. Er umfasst viele, viele Regelungen. Aber er umfasst unter anderem auch – das ist wichtig – die Charta der Menschenrechte, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Ich will mit Erlaubnis daraus einen Satz zitieren. In der Präambel dieser Charta steht: Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. Genau das ist der Punkt, meine Damen und Herren, um den es geht. Auch wenn die Briten uns verlassen: Wir werden weiter dafür stehen, dieses Europa demokratischer, sozialer und gerechter zu machen. Das ist unsere Aufgabe für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Herzlichen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der AfD ist der Abgeordnete Dr. Harald Weyel. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Bei unbedarften Zeitgenossen muss der Eindruck entstehen, dass ohne EU und Übergangsgesetz ein unmittelbares Chaos ausbricht, wo doch alles so schön geregelt ist, und das Ganze einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommt. Bereits der jetzige Stand der Dinge um Staatsbürgerschaft etc. bedeutet eben nicht, dass alles geregelt ist. Deswegen möchte ich auf eine Implikation aufmerksam machen, zum Beispiel Familienstand, Eherecht und auch das Immobilienrecht. Das ist schon innerhalb der EU mit Schwierigkeiten verbunden. Wenn beide Ehegatten aus EU-Ländern stammen und es zu einer Scheidung kommt, dann ist es eben so, egal ob Kinder da sind oder nicht, dass man sich ganz schnell bei ein, zwei, drei oder noch mehr Anwälten wiederfindet, weil dann entweder das Recht des Landes, in dem die Ehe geschlossen wurde, gilt oder das Recht des Landes, in dem beide gemeinsam wohnen, oder dann, wenn sie getrennt wohnen, das Recht des Landes, in dem derjenige, der zuerst den Scheidungsantrag einreicht, verweilt. Da macht es auch keinen großen Unterschied, ob man sich in der EU befindet oder in irgendeinem Drittland. Komplizierter wird es allerdings, wenn noch islamisches Recht dazukommt, dann ist es nämlich einigermaßen egal, was sich die Europäer bei ihren Verträgen gedacht haben. – So weit, so schlecht. So wie Sie das Rosinenpicken im Zusammenhang mit den Austrittsverhandlungen mit den Briten abgelehnt haben, so lehnen wir die Rosinenpickerei mit Blick auf die Doppelstaatsbürgerschaft ab. Mit Loyalitätskonflikten und vor allen Dingen mit Discountpassportmentalität ist wirklich kein Staat zu machen. Damit ist keine kulturelle Prägung verbunden, auf die Staatsbürgerschaft eigentlich abhebt. Es ist keine Lösung, wenn wir uns in einer Multistaatsbürgerschaft auflösen, die unter EU zusammengefasst wird. Das aber ist offenbar das Endziel der SPD und allen anderen – das sind eigentlich alle außer uns –, die die Totalverschmelzung in der EU – alles mit allem – eingehen wollen, dies anstreben und endlich die nationale Frage geklärt haben wollen, indem die Nation abgeschafft wird. Das ist offenbar die Strategie. Es kommt hinzu – das ist das eigentliche Problem –: Wenn die Briten weg sind, dann ist auch die qualifizierte Mehrheit im Rat weg, also die Mehrheit der Hartwährungsländer, die mit 38 Prozent Bevölkerungsanteil in der EU ein gewisses Vetorecht haben. Der Club Med kann dann erst recht machen, was er will und was er ohnehin schon weitgehend tut. ({0}) Die Bundesregierung hat dann eigentlich noch eine Ausrede mehr, warum sie deutsches Geld und deutsches Gut im Rahmen der EU nicht schützt. Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: Es wurde noch nicht einmal versucht, auf Cameron oder auf May einzugehen und mit den Briten zusammen eine Reform zu erwirken, die die Briten in der EU gehalten und auch für alle verbleibenden Länder eine bessere Perspektive dargestellt hätte. Im Gegenteil, es werden den Briten im Nachhinein – jetzt kommt eine andere Verwendung des Wortes – noch weitere Fluchtgründe geliefert, und zwar dadurch, dass man die EU umbaut, die ohnehin dem Großteil ihrer Kinderkrankheiten nie so wirklich entwachsen ist, indem man noch ein Macron’sches Euro-Zonenbudget, eine Bankenunion, eine EU-Arbeitslosenversicherung usw. hinzufügt, und das alles bei permanentem Vertragsbruch von Schengen, Dublin und mehr. ({1}) Das sind alles in allem nur unlegitimierte Wettbewerbsverzerrungen. Weder Keynes noch Adam Smith sind da die Paten. Die Frage wird sein, wann auch Isaac Newton in den EU-Schulbüchern als Schwerkrafthetzer verleumdet werden wird. Wir wollen eine Neugründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wir wollen eine Rückbesinnung auf die Teile des Anfangs, die kein Missbrauch waren, die kein Übergriff waren, die keine Umverteilungsstrategie waren. Ein Parlament, das keines ist, das sozusagen kontrademokratisch agiert und repräsentiert – es repräsentiert eben nicht gleichermaßen –, ist zu reformieren oder abzuschaffen. Das Gleiche gilt für alle Umverteilungsmechanismen, die über Jahrzehnte nicht abgeschafft wurden, die neu hinzugefügt wurden. Wir bitten also, zu berücksichtigen: Weder ein Brexit noch ein Dexit sind ein Selbstzweck. Wir wollen eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit den kulturellen Implikationen, die dazugehören. Dazu laden wir alle Mitstreiter ein, und zwar die in Deutschland und die im Ausland. Bitte denken Sie in Alternativen! Denken Sie nicht nur, sondern handeln Sie auch so: für eine neue Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, für eine neue Union der gemeinsamen Werte und der Realitäten, die dem nicht widersprechen. Danke schön. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster redet der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Austrittsabkommen hat am Dienstag im britischen Unterhaus bekanntlich nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Damit rückt der ungeregelte Brexit in greifbare Nähe. Aber es bleibt noch bis zum 29. März Zeit, das Ruder herumzureißen. ({0}) Darauf hoffen wir. Klar ist: Der ungeregelte Brexit ist die schlechteste aller denkbaren Varianten; denn damit würde all das, was wir in einer Übergangsphase bis 2020, eventuell auch bis 2022 regeln wollen, was wir verschieben wollen, um für beide Seiten positive Regelungen zu finden, unmittelbar und sofort Ende März 2019 unkonditioniert eintreten – zum Schaden der Menschen, der Menschen in Irland, in Großbritannien und in der ganzen EU, zum Schaden unserer Wirtschaften. Wir brauchen jetzt endlich Klarheit. Die britische Seite muss zunächst klarmachen, unter welchen Voraussetzungen das Unterhaus bereit wäre, dem Austrittsabkommen doch noch zuzustimmen. Es wäre mehr als erfreulich, wenn London doch noch einen Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse finden würde. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Allerdings warne ich vor der Illusion, dass es möglich ist, den Austrittsdeal substanziell nachzuverhandeln. Dabei geht es nicht nur um den Zusammenhalt der EU‑27, sondern auch darum, kein attraktives Austrittsmodell zu schaffen, das seine Nachahmer finden kann. Bliebe noch die Frage einer Verschiebung des Austrittsdatums. Ich bin da skeptisch. Ohne einen Plan B aus London macht eine Verschiebung aus meiner Sicht keinen Sinn. Eine Verschiebung um mehr als drei Monate wäre mit Blick auf die konstituierende Sitzung des dann neu gewählten Europäischen Parlamentes auch problematisch. Wenn ich mir die aktuelle Entwicklung in London anschaue, befällt mich ein Gedanke: Ein solches Chaos darf es bei uns niemals geben. ({1}) Aber wer glaubt, wir seien dagegen immun, dem sei gesagt: Auch in Großbritannien hätte dieses Chaos vor drei Jahren niemand für möglich gehalten. Wenn sich Populismus und Verantwortungslosigkeit Bahn brechen, wird vieles bis dato Undenkbare leider Realität. Und Deutschland hat eine Brexit-Partei, die AfD. Was die AfD auf ihrem sogenannten Europaparteitag – sie hätte ihn lieber Antieuropaparteitag nennen sollen – ({2}) als europapolitische Marschrichtung vorgegeben hat, ist an Verantwortungslosigkeit kaum noch zu überbieten: Erstens. Um Demokratie in der EU zu stärken, will die AfD ausgerechnet das Europäische Parlament abschaffen. ({3}) Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Warum treten Sie denn überhaupt bei der Europawahl an? ({4}) Wollen Sie sich selbst abschaffen, oder wollen Sie Herrn Jörg Meuthen sozusagen auf diesem Weg entsorgen? Das muss man sich einmal fragen. ({5}) Zweitens. Sie fordern allen Ernstes den EU-Austritt Deutschlands, und zwar nicht mit einem fixen Datum. Das konnten Sie aus taktischen Gründen gerade noch verhindern; ich verstehe das schon. Aber schon 2016 hat Ihr heimlicher Parteichef Björn Höcke gesagt, auch das deutsche Volk wolle sich von der EU-Sklaverei befreien. Was ist das für eine Sprache? Was ist das für eine geschichtsvergessene Verdrehung der Realität? ({6}) Sie wollen den Dexit, wenn die EU nicht auf Ihre Reformvorschläge eingeht. Das ist eine anmaßende und rücksichtslose Vorgehensweise; denn damit wollen Sie Ihre kruden Vorstellungen von Europa anderen Mitgliedstaaten einseitig aufdrücken. Die fatale Sprengkraft, die ein deutscher Austritt auf uns und den gesamten Kontinent hätte, nehmen Sie billigend in Kauf. AfD steht für mich nicht für „Alternative für Deutschland“, sondern für „Aus für Deutschland“, Aus für Europa, Aus für Frieden, Freiheit, Wohlstand auf unserem Kontinent. Sie sind keine Alternative, Sie sind vielmehr eine Gefahr für Deutschland und Europa. ({7}) Meine Damen und Herren, das Brexit-Übergangsgesetz, über das wir heute in der zweiten und dritten Lesung entscheiden, ({8}) gilt nur für den geregelten Brexit. Es tritt deshalb nur dann in Kraft, wenn auch das Austrittsabkommen in Kraft tritt. Auch wenn aus heutiger Sicht das Inkrafttreten unwahrscheinlicher geworden ist, sollten wir an dem Gesetzesvorhaben festhalten; denn wir wollen uns weiterhin auf alle Eventualitäten vorbereiten. Es ist im Übrigen auch ein Signal dafür, dass unser Weg über dieses Abkommen der Weg ist, den wir weiter beschreiten wollen. ({9}) Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Hahn. Einen schönen Tag, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von mir. – Der nächste Redner: Thomas Hacker für die FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Dienstag hat sich das britische Unterhaus entschieden. Mit Pauken und Trompeten fiel das seit langer Zeit zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelte Abkommen durch. Wenn kaum 24 Stunden später das britische Unterhaus Theresa May das Vertrauen ausspricht, klingt das fast wie Hohn. Mit der Entscheidung vom Dienstag droht – und das muss uns doch allen klar sein – der harte Brexit, der ungeregelte Austritt Großbritanniens aus der EU. Die Bremsspuren in der Wirtschaft im Vereinigten Königreich, aber auch bei uns in Deutschland können wir doch schon spüren. Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger wächst, die Emotionen kochen hoch. Viel steht auf dem Spiel. ({0}) Die Europäische Union, die enge Zusammenarbeit in Europa, ist seit Jahrzehnten das große Friedensprojekt unserer Zeit, Garant für Wohlstand, Zusammenhalt und vor allem Chance gerade für die Jugend Europas. Wer diese Errungenschaften nach 45 Jahren Mitgliedschaft aufgibt, sollte zumindest einen eigenen Plan für die Zukunft haben. ({1}) Einen solchen Plan – das spüren wir deutlich – gibt es in Großbritannien offensichtlich nicht. Seit dem schicksalhaften Referendum können wir live verfolgen, wie ein Land wie das Vereinigte Königreich mit sich ringt, wie die Spaltung in der Gesellschaft zunimmt. Das monatelange Ringen um ein Abkommen, um für beide Seiten einen tragbaren Kompromiss zu finden, die gemeinsam gefundene Aussicht auf die zukünftige Zusammenarbeit – ist das alles obsolet? Beim Abkommen gab es doch tatsächlich Zugeständnisse von beiden Seiten, vom Vereinigten Königreich und von der EU. Die Politische Erklärung wäre eine erste, aber tragfähige Grundlage für eine enge Kooperation in Zukunft im Bereich der Wirtschaft, der Sicherheit und der Wissenschaft. Meine Damen und Herren, der ungeregelte Ausstieg droht, und wir müssen darauf vorbereitet sein. Wir müssen schnell pragmatische Lösungen für die Menschen in unserem Land finden. Hier, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, sind Sie gefordert: Sie haben zehn Wochen Zeit. Die Uhr tickt. ({2}) Auch wenn wir uns mit ganzer Kraft auf dieses Szenario nun vorbereiten müssen – das Übergangsgesetz regelt, Herr Töns, genau den Fall, dass wir zu dem Abkommen kommen; den Weg dorthin sehe ich momentan leider noch nicht –, wenn wir uns also für den Fall des ungeregelten Austritts vorbereiten, ({3}) sollte Großbritannien klar sein: Jeder konstruktive Lösungsvorschlag, jedes Verlassen gesetzter roter Linien aus London ist uns willkommen und wird offen diskutiert. Eine kurzfristige Verlängerung der Frist nach Artikel 50 sollte genau dann kein Problem sein, wenn wir Zeit für eine stabile Mehrheit oder ein zweites Referendum brauchen. Aber bei allem Ärger Großbritanniens sollte klar sein: Wir Freie Demokraten wollen es, eine gemeinsame Zukunft, eine gute Zusammenarbeit. Europas Tür ist offen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Hacker. – Nächster Redner ist Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine gute Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch mit schier ausweglosen Situationen, Krisen umgehen kann und das Ganze auch noch in eine positive Richtung steuert. Ich meine, wir haben auch jetzt noch Grund für Optimismus. Die Abstimmung von vorgestern verdeckt nämlich den Blick auf folgende Tatsache: Weder in der Europäischen Union noch in Großbritannien gibt es eine Mehrheit für einen hard Brexit. Das ist eine Situation, mit der wir professionell umgehen müssen, und da muss es doch auch möglich sein, einen hard Brexit by Accident, also einen harten Brexit aus Versehen, zu verhindern. ({0}) Die Nachrichtenlage ist sehr diffus; an Dokumenten liegt sehr viel auf dem Tisch. Dabei entsteht der Eindruck, dass wir weit auseinander sind; das kam auch in einigen Beiträgen heute. Tatsächlich liegen die EU‑27 und Großbritannien eng beieinander. Wir haben nämlich einen Entwurf für ein Austrittsabkommen, der in folgenden Punkten konsentiert ist: Die Übergangsfrist beträgt bis zu vier Jahre. Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. Großbritannien soll während dieser Frist wie ein EU-Mitgliedstaat behandelt werden; darin besteht Einigkeit. Es soll zwar nicht mehr den Institutionen zugehören, aber unterhalb dieses Levels mitwirken. Wir sind uns auch bezüglich der finanziellen und sonstigen Verpflichtungen einig, und auch Großbritannien übt keine Kritik mehr an diesem Punkt. Letztlich streben wir eine sehr freundschaftliche Zusammenarbeit an. Die gestrige Berichterstattung über CETA+ und Norwegen und was weiß ich, was sonst noch auf den Tisch gebracht wurde, verdeckt doch den Blick darauf, was die Politische Erklärung im Blick hat: ein Freihandelsabkommen, maßgeschneidert, großzügig, freundschaftlich, Zusammenarbeit in allen Bereichen. Das hat es mit einem Drittstaat in dieser Form in der Europäischen Union noch nicht gegeben. Wo ist das Problem? Der gordische Knoten, den wir lösen müssen, ist natürlich die Frage Nordirland. Aber auch hier besteht völlige Einigkeit: Wir müssen eine harte Grenze vermeiden. Wir müssen vermeiden, dass hier ein Spiel mit dem Feuer entsteht und ein Konflikt wieder erweckt wird. Denn eigentlich ist es ein frozen Conflict. Der ist nicht gelöst. Meine Damen und Herren, schauen wir uns Nordirland an: Die einstigen Konfliktparteien sind eigentlich immer noch völlig unterschiedlich in ihrer Lebensperspektive, in dem, was sie zu erwarten haben. Das hat man vor Ort versäumt. Das ist Konfliktpotenzial, das man nicht unterschätzen darf. Wir können doch froh sein, dass es Frieden in Nordirland gibt. Der letzte große Anschlag – sogar nach Abschluss des Karfreitagsabkommens – forderte 29 tote Zivilisten und 300 verletzte Menschen, und das ist noch gar nicht so lange her. Ich war erschrocken, als ich vor drei Jahren in Belfast war. Nachts schließt man Übergangswege, weil immer noch Konfliktpotenzial da ist. Polizeifahrzeuge, die ich aus der Berichterstattung der 80er- und 90er-Jahre kenne, fahren dort immer noch in dieser Form herum: gepanzert, vergittert. Ich dachte, das gehöre der Vergangenheit an. Die Polizei vor Ort macht sich auch schon große Sorgen über die weitere Entwicklung. Das gilt es zu vermeiden, und deshalb ist auch die Notfalllösung, die Bestandteil der beabsichtigten Vereinbarung ist, so wichtig. Man sollte aber auch kein Bashing der Briten betreiben. Natürlich haben die Befürchtungen. Wenn die Notfalllösung verbindlich dauerhaft ist, wozu führt das? Zollunion. Irland bleibt in Teilen im Binnenmarkt. Das heißt, alles, was Freihandel und Abschluss von Freihandelsabkommen mit Drittstaaten angeht, wäre vom Tisch. Allerdings war gerade das mit ein Grund, warum die Briten aus der Europäischen Union austreten wollen, und das müssen wir berücksichtigen. Wir müssen überlegen: Wie können wir das? Es liegt ein Abkommen auf dem Tisch. Eine Notfalllösung muss sein, aber die ist nicht in Stein gemeißelt. Vielleicht gibt es eine andere Notfalllösung, die in genau derselben Form geeignet ist. Die EU hat geliefert. Jetzt müssen die Briten mitteilen, was sie denn überhaupt wollen. Ich persönlich bin der Meinung: Bei der Fristverlängerung nach Artikel 50 EU-Vertrag, wenn sie erforderlich ist, sollten wir großzügig sein. Aber eines ist klar – das wurde auch angesprochen –: Weder in Großbritannien noch in der Europäischen Union hat jemand Appetit darauf, dass Großbritannien Kandidaten für die Europawahl aufstellt oder entsendet. Ich bin aber sehr zuversichtlich, wenn ich die Flexibilität auf europäischer Ebene in anderen Punkten sehe, dass man diesbezüglich eine Regelung finden kann. Meine Damen und Herren, die Gesprächskanäle sind offen. Die Briten sind und bleiben Freunde. Aber eines ist klar: Großbritannien muss jetzt liefern und sagen, wofür es denn überhaupt eine parlamentarische Mehrheit geben kann. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Detlef Seif. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU- Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir reden jetzt – das möchte ich zum Abschluss der Debatte in Erinnerung bringen – über das Brexit-Übergangsgesetz, über einen Gesetzentwurf. Dieser Gesetzentwurf soll nur wirksam werden, soll nur in Kraft treten – Graf Lambsdorff hat eben darauf hingewiesen –, wenn auch das Austrittsabkommen als solches in Kraft tritt. Sie haben die Frage gestellt, ob das Gesetz, das wir jetzt hier beraten und hoffentlich beschließen werden, nicht vielleicht überflüssig sein könnte. Ich sage ganz deutlich: Nein! Denn es geht darum, Vorsorge zu treffen für alle Eventualitäten. ({0}) Ich möchte außerdem sagen, gerade als Jurist: Das ist etwas, was wir an vielen anderen Stellen auch tun, rechtstechnisch gedacht: Wir schaffen Regelungen für Fälle, von denen wir hoffen, dass sie nie eintreten. Genau das machen wir für die Bürger, für die Unternehmen und für diejenigen, die auf beiden Seiten des Kanals eigentlich darauf gehofft haben, dass es niemals zu einem Brexit kommen werde. Sachlich geht es dabei um zwei Punkte – in der Tat, es sind nur wenige Paragrafen –: Es wird einmal klargestellt, dass Bezugnahmen in unserem eigenen Recht auf britisches Recht auch für den Übergangszeitraum gelten sollen. Wir haben zu diesen ganzen technischen Fragen am Montag eine lange Anhörung im Europaausschuss gehabt, und in der Tat wurde die Frage gestellt, ob das nicht nur sozusagen deklaratorisch ist. Nein, selbst wenn es nur deklaratorisch wäre: Es ist nicht nur deklaratorisch. Denn wir haben – auch das ist technisch gesagt – Bestimmungen im Bundesrecht, die nicht direkt auf europäisches Recht zurückgehen, wo das Abkommen als solches die entsprechenden Fragen nicht regeln würde. Also, wir brauchen das Gesetz. Es geht zweitens um Einbürgerungserleichterungen auf beiden Seiten des Kanals, also für die Deutschen, die nach England wollen oder dort schon seit einiger Zeit leben, und umgekehrt für die Briten. Ich muss wirklich sagen – dem Kollegen Markus Töns stimme ich da ausdrücklich zu –: Das, was Sie von der AfD im Ausschuss als Änderungsantrag in den Raum gestellt haben, ist in der Tat inkompetent, und es ist eine Ohrfeige für die deutschen Staatsbürger, die in England leben und darauf vertrauen, dass wir ihnen in diesem Hause helfen. ({1}) Viel wichtiger als die Einzelheiten dieses Gesetzes ist – der Außenminister hat das zu Recht gesagt –: Es fügt sich in einen großen Rahmen ein, in ein ganzes Gesetzes- und Verordnungspaket, das die Bundesregierung in den letzten Wochen geschaffen hat, als sich abzeichnete, dass die Entwicklung in die Richtung geht, in die sie jetzt leider geht. Es ist Teil eines Gesamtplans, und dieser Gesamtplan bringt etwas zum Ausdruck – auch wenn das Gesetz nicht sofort in Kraft tritt; das ist ganz wichtig –, was auch im Falle des No-Deal-Szenarios von Bedeutung ist. Es geht um den Bestandsschutz für Akte, für Verträge, für alle die wohlerhobenen Rechte, auf die die Bürger auf beiden Seiten des Kanals vertraut haben. Das ist die Aussage, die wir hier als Parlament treffen: Wir wollen denen helfen, die durch den Brexit geschädigt sind. ({2}) Deshalb wirkt das Gesetz auch durch seinen Wortlaut über den Austritt hinaus. Die Dinge, die hier festgeschrieben sind, sind Ausdruck eines nationalen Verfassungsgrundsatzes. Ich bin zuversichtlich, dass die Engländer auf der Grundlage des Common Law ähnliche Regelungen auch für die Resteuropäer anwenden würden, die wir hier sind. Jedenfalls ist das mein eigenes Rechercheergebnis. Damit kommt hier das gemeinsame Recht, die europäische Rechtsfamilie zum Ausdruck. Im einzigen Punkt, wo etwas zweifelhaft war – Sie haben das, Herr Minister, eben schon angesprochen –, nämlich bei der Behandlung der englischen Gesellschaften in Deutschland, haben wir hier im Bundestag mit einem Entschließungsantrag noch mal klargestellt: Auch da gilt der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Er gilt eben auch für den Fall des No-Deal-Szenarios, für den Fall des hard Brexit, und das ist gut und richtig so. Aber am Ende vielleicht noch ein Wort zu den aktuellen Entwicklungen. Eines ist klar – es wurde schon mehrfach gesagt –: Das Vereinigte Königreich ist jetzt am Zuge. Es ist Ende mit Spielchen. Ebenso klar ist: Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht signifikant ändern, können und sollten wir am Austrittsabkommen nichts mehr tun. Die Verantwortung für Nordirland und die Verantwortung für Ruhe und Frieden in der Republik Irland liegen in London, und ich hoffe, dass man diese Verantwortung dort auch sieht. Zum Schluss. Rita Süssmuth hat heute Morgen in der Feierstunde zu 100 Jahren Frauenwahlrecht zwei wichtige Zitate gebracht. Sie hat gesagt – das lässt sich auf die Situation hier sehr schön übertragen –: Wir schaffen es gemeinsam, wenn auch im letzten Augenblick. Sie hat andererseits gesagt: Aus dem Scheitern lernt man. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es, erstens, noch zu einer vernünftigen Regelung kommt und dass es, wenn es am letzten Tag wirklich nicht dazu kommt, dann, zweitens, binnen weniger Stunden zu einer vernünftigen Regelung kommt. Wir kennen aus Europa, dass die Uhr dann noch für einige Minuten angehalten wird und dass man dann zu einer vernünftigen Regelung kommt. Die Kapitalmärkte gehen genau in diese Richtung: Keine Aufregung. – Deshalb erhoffe ich von Ihnen Zustimmung zu unserem Gesetz. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Hirte. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königsreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7087, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/5313 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit breiter Mehrheit angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP. Dagegengestimmt hat die Fraktion der AfD. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung der AfD – – ({0}) – Habe ich „AfD“ gesagt? Ich meinte „FDP“. Oh, das war das Prinzip Hoffnung. Es tut mir leid; entschuldigen Sie. Ich habe mich gewundert, weil jemand da hinten sitzt, der überhaupt nicht abgestimmt hat; aber er hätte sich ja gemeldet. Also, noch einmal: Der Gesetzentwurf ist angenommen mit Zustimmung der Fraktionen der FDP, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD und der Linken bei Ablehnung der Fraktion der AfD. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7090. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der Linken, und enthalten hat sich die Fraktion der AfD. – Vielen herzlichen Dank.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es mal gleich am Anfang zu sagen: Unser Ernährungssystem ist gescheitert. ({0}) Es macht gar keinen Sinn, an der Stelle nur in Klein-Klein rumzureden. Dieses System ist gescheitert. Es ist so, dass die sogenannte industrielle Revolution im Ernährungsbereich unsere Ernährung radikal verändert hat, und zwar definitiv nicht zum Besseren. Das Essen in den Regalen ist der beste Beweis dafür. Eigentlich müsste die CDU jetzt klatschen, also die, die immer sagen: Wir vertreten die Bauern. ({1}) Denn: Sie haben eigentlich auch kein Interesse daran, dass die Regale überfüllt sind mit süßen, salzigen, fettigen Fertigprodukten, Schokoriegeln, sogenannten Frühstückszerealien, wo immer Sie hingehen können. ({2}) Das klare landwirtschaftliche Produkt sehen Sie an der Stelle gar nicht mehr, meine Damen und Herren. Die Hälfte aller in Deutschland verkauften Lebensmittel sind Fertigprodukte. Und weil die meisten so viel Zucker, Salz und Fett enthalten, schaden sie bei regelmäßigem, umfassenden Verzehr der Gesundheit. Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen sind, während wir über Hunger auf der Welt reden, durch Fehlernährung übergewichtig und krank. In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene und sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig. Das ist nicht irgendein triviales Thema, meine Damen und Herren, sondern diese veränderte Lebensmittelproduktion und die hochverarbeiteten Lebensmittel, die uns überall entgegenkommen, haben die Art, wie wir uns ernähren, komplett verändert. Sie haben nicht nur dies und unsere Gesundheit verändert, sondern sie haben auch die Rolle der Landwirtschaft verändert, die nur noch als Rohstofflieferant für Billigbilligprodukte da ist. Der massenhafte Einsatz von Pestiziden, von Glyphosat führt dazu, dass Böden degradiert werden, dass bestäubende Insekten und Bienen aussterben. Genau deshalb sage ich: Unser jetziges Ernährungssystem ist gescheitert, ({3}) weil es nicht Bestandteil einer regenerativen Produktion ist, meine Damen und Herren. ({4}) Wir wissen: Alle leiden darunter. Während sich die großen Agrarchemiekonzerne und Lebensmittelkonzerne eine goldene Nase verdienen, sind die Bauern, die am Anfang der Produktion stehen, diejenigen, die am dümmsten dran sind, meine Damen und Herren. Wir erleben einen Raubbau. Wir erleben, dass am Ende der Einzelne, also der, der wegen der hochverarbeiteten Lebensmittel übergewichtig ist, schlechtere Chancen im Leben hat, meine Damen und Herren. Es geht nicht nur um die einzelne Person mit einer Vielzahl von Erkrankungen, angefangen bei Diabetes, über Gelenkprobleme, Herz-Kreislauf-Pro­bleme bis hin zur Demenz – das sind Probleme, die der Einzelne hat –; die Gemeinschaft hat 30 Milliarden Euro jedes Jahr zu zahlen, 30 Milliarden Euro jedes Jahr für die Sozial- und Gesundheitskosten aufgrund dieser, ich nenne es mal, Überernährung. Deshalb sage ich noch mal: Unser Ernährungssystem ist gescheitert! Wenn das das Ergebnis ist, kann man es nicht anders sagen. ({5}) Es ist also allerhöchste Zeit, endlich zu handeln, meine Damen und Herren. Wir wissen, dass die Ernährungsfrage im 21. Jahrhundert eine der zentralen sozialen, gesundheitlichen und Umweltfragen ist, die auch mit den Lebensgrundlagen zu tun hat – von jedem Individuum, aber auch von der Gesellschaft insgesamt. Wir können doch nicht einfach sagen: Die einen zahlen die Kosten, die anderen machen die großen Profite, auch an den Börsen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen von der FDP?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin Künast, dass ich diese Zwischenfrage stellen kann. – Nachdem Sie eben erklärt haben, dass Ihrer Meinung nach das Ernährungskonzept für Deutschland gescheitert ist, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir zur Kenntnis zu nehmen, dass die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die in Deutschland hergestellt werden, zu den qualitativ hochwertigsten zählen und zu den strengsten Umweltauflagen produziert werden. Oder möchten Sie tatsächlich bei Ihrem Urteil bleiben? Vielen Dank. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege, es ist schön, dass Sie das ansprechen, weil mir das die Gelegenheit gibt, noch mal aufzuzeigen, dass Ernährung und Landwirtschaft eigentlich zusammengehören. Ich habe hier von hochverarbeiteten Lebensmitteln geredet. Sie reden jetzt von den Rohstoffen, die die Landwirte liefern. ({0}) Das ist, meine Damen und Herren, auf der einen Seite zu trennen; auf der anderen Seite gehört es zusammen. ({1}) Wenn ich mir die Rohstoffe angucke, stelle ich fest: Wir haben natürlich jede Menge guter und brillanter Rohstoffe, die die Landwirtschaft herstellt. Wir haben allerdings auch – dafür kann die Landwirtschaft alleine nichts – Pestizidrückstände im Essen, die am Ende ernährungsbedingte Erkrankungen hervorrufen. Aber wenn Sie mir eine Sekunde zugehört hätten, hätten Sie gemerkt, dass ich über etwas anderes geredet habe, nämlich nicht über die landwirtschaftlichen Rohstoffe, sondern über das Fertigprodukt im Regal. Da steht zwar „Frühstücksriegel“ oder „Frühstückszerealien“, wenn Sie aber auf das Produkt gucken, sehen Sie, dass es bei diesen Frühstückszerealien im Kern nicht um die Haferflocken geht, die die Bauernfamilie hergestellt hat, sondern es geht um Zucker, um Palmfett und um jede Menge künstlicher Aromen. Darüber rede ich. ({2}) Vielleicht haben wir an dieser Stelle gar nicht so einen großen Dissens. – Deshalb sage ich: ist gescheitert. Die Ernährungs- und Agrarministerin nennt ihr Ministerium so schön „Lebensministerium“. Das kenne ich von vor 15 Jahren; so nannte sich das entsprechende österreichische Ministerium, aber das war der offizielle Titel. Ich kann nur sagen: Was Sie draufschreiben, muss auch drin sein. Dann müssen es auch Mittel zum Leben sein, die dabei rauskommen, dann müssen Sie sich auch um das Leben der Menschen und ihre Gesundheit und die Gesundheit der Kinder kümmern, meine Damen und Herren. ({3}) Wir brauchen eine ehrgeizige Reduktionsstrategie, nicht eine, die quasi ein Geschenk an die Lebensmittelindustrie ist, bei der sie selbst die Ziele festlegen soll. Am Ende kommt bei den Zielen vielleicht nicht mehr oder weniger heraus als das, was Ernährungsräte, Ernährungsbewegung und Hunderte von Kinderärzten in dieser Gesellschaft doch längst gefordert haben und die Konzerne längst zwingt, etwas zu tun, meine Damen und Herren. Ich habe hier zwei gleiche Limonadenflaschen. Eine habe ich mir aus Paris mitbringen lassen, die andere habe ich in Deutschland gekauft. Wenn ich die Inhaltsstoffe dieser Flaschen vergleiche, stelle ich was fest? In Frankreich sind 6,5 Gramm Zucker enthalten, in Deutschland 9,1 Gramm Zucker, meine Damen und Herren. ({4}) Sie sehen also: Man muss Maßnahmen treffen und konkrete Reduktionsziele vorgeben, dann passiert etwas. So etwas fordere ich auch von Ihnen. ({5}) Stichwort „Ampelkennzeichnung“: Der Nutri-Score wird, wenn auch abgeschwächt, längst von einigen Unternehmen – Tchibo, Danone und anderen – verwendet. Lassen Sie uns das jetzt auch rechtlich vorgeben, meine Damen und Herren. ({6}) Ich meine: Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Selbst Chile hat es geschafft. Man hat eine strenge Kennzeichnung für Lebensmittel, die auf den ersten Blick Aufschluss gibt. Werbung bei Kindern für bestimmte Süßigkeiten ist nicht erlaubt. Süßigkeiten und Limos werden an Schulen nicht mehr verkauft, sondern Wasser. Und das Schulessen ist grundsätzlich umgestellt worden. Genau das brauchen wir auch, meine Damen und Herren. ({7}) Das versuchen wir mit unserem Antrag zu erreichen. Es geht nicht darum, nur individuelle Verhaltensänderungen zu verlangen, während einem im ganzen Umfeld Süßigkeiten, hochkalorische Lebensmittel, hochverarbeitete Lebensmittel entgegenkommen. Stattdessen müssen wir eine Ernährungswende zusammen mit einer Agrarwende – das noch mal in Richtung der FDP – organisieren, bei der es nicht darum geht, Frau Klöckner, die Wahl und Auswahl leichter zu machen. Nein, wir müssen die Verhältnisse so gestalten, dass der Alltag einfach ist. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich an die Redezeit erinnern?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das heißt: Ernährung muss Teil der Stadtentwicklung sein. Die Gemeinschaftsverpflegung von Kindergärten über Krankenhäuser bis zu Seniorenheimen muss komplett umgestellt werden. Wir brauchen eine nationale Strategie, die Reduktionsziele vorgibt. Wir brauchen eine Nährwertkennzeichnung, und wir müssen die Kinder schützen, was das Thema Lebensmittelwerbung angeht. Die Prämisse, meine Damen und Herren, muss sein: Wir schützen die Gesundheit der Menschen, wir schützen die Kinder und nicht die Profitinteressen der Konzerne. So geht Ernährungswende! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Renate Künast. – Nächste Rednerin: Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, niemand muss Fertigprodukte essen, jeder kann. ({0}) Wie Sie es fertigbringen, unsere Bauern und Bäuerinnen im Land zu bedauern und gleichzeitig massiv in die Pfanne zu hauen, das bleibt Ihr Geheimnis. ({1}) Die Menschen in unserem Land werden immer älter und bleiben immer länger gesund; auch das gehört zur Wahrheit dazu. Ob Mangel-, Fehl-, Unter- oder Überernährung – meine Damen, meine Herren, das Thema Welternährung wird neben der Digitalisierung ein zentrales Zukunftsthema sein. Insofern sind wir uns mit der Vorrednerin einig. Es gibt aus meiner Sicht aber keine gesunden oder ungesunden Lebensmittel, sondern es gibt gesunde oder ungesunde Ernährungsweisen. Und, ehrlich gesagt: Ich möchte jetzt und in Zukunft nicht auf meinen geliebten „Bavaria blu“, auf mein Schäufele mit Kloß und auf einen mehrfach panierten und in Fett gebackenen fränkischen Karpfen verzichten. Das hat etwas mit Genuss, mit Lebensqualität und mit Regionalität zu tun. ({2}) Natürlich muss uns allen klar sein, dass genießen heißt, nicht jeden Tag davon zu essen, sondern ab und zu. Auf der anderen Seite kann es nicht die Aufgabe des Staates alleine sein, uns jeden Tag unser Essen mundgerecht und bedarfsgerecht zu servieren. Es ist aber – ohne Wenn und Aber – Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen und zu kontrollieren, dass unsere Lebensmittel sicher sind. Meine Damen, meine Herren, mir ist klar: Wir leben in einer Zeit, in der gute Nachrichten schlechte Nachrichten sind und in der schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind. Aber wir kommen nicht um die Fakten herum. Die gute Nachricht ist für mich – das ist mein erster Punkt –, dass staatliche, neutrale Proben 2017 ergeben haben, dass nur 1,1 Prozent unserer Lebensmittel Rückstände über dem zulässigen Höchststand enthalten haben – diese Rückstände waren aber bei weitem nicht gesundheitsgefährdend –, dass gleichzeitig 1,9 Prozent der Lebensmittel aus anderen EU-Mitgliedstaaten belastet waren und dass 6,3 Prozent der Lebensmittelproben aus Drittstaaten entsprechend belastet waren. Das freut uns erst mal, weil die Zahlen aus deutscher Sicht nahezu um 1 Prozentpunkt zurückgegangen sind. Zweitens: Das Nahrungsmittelangebot in unserem Land war noch nie so vielfältig wie heute; die Internationale Grüne Woche lässt grüßen. Auch hier erleben wir eine weltweite Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Darüber freue ich mich. Das heißt, die Basis für eine ausgewogene Ernährung wird uns Verbrauchern täglich auf dem Silbertablett serviert. ({3}) Unabhängig davon gilt für mich nach wie vor: Die beste Medizin ist und bleibt eine abwechslungsreiche, eine bedarfsgerechte Ernährung, am liebsten auch noch saisonal und regional. Gerade die neuen Ernährungsstile – ob pegan, vegan, Paleo und wie auch immer sie heißen – entbinden uns als Verbraucher nicht davon, unser eigenes Ernährungsverhalten immer wieder zu hinterfragen. Essen findet eben nicht nur in der Gemeinschaftsverpflegung, sondern auch zu Hause statt. Essen ist für mich nicht nur bloße Nahrungsaufnahme. Essen hat für mich mit Ritualen zu tun, mit Werten, mit Wertschätzung. Wie emotional das Thema „Ernährung und Essen“ sein kann, haben wir gerade bei der Vorrednerin erlebt. Und dass Ernährung in hohem Maße politisch ist, wissen wir seit längerem.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung der Kollegin Christmann von den Grünen?

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das machen wir am Schluss, Frau Präsidentin. – Und wenn Foodwatch vor kurzem in einer Pressemitteilung Folgendes sagte – ich zitiere –: „Jetzt ist es also amtlich: Diese Ministerin“ – gemeint ist Julia Klöckner, unsere Ministerin – „ist gesundheitsgefährdend“, dann finde ich das in hohem Maße unanständig. ({0}) Wir sind uns einig: Wir brauchen keine an Kinder gerichtete Werbung. Und wir brauchen somit auch keine Kinderlebensmittel; denn wir wissen, dass diese in der Regel teurer sind und oft auch gehaltvoller – alles Dinge, die Kinder nicht brauchen. Wir brauchen aber Initiativen und Lösungen wie zum Beispiel die von Frau Professor Ensenauer vom Haunerschen Kinderspital in München. Sie hat eine Studie durchgeführt mit adipösen Schwangeren und es mithilfe gezielter Aufklärung geschafft – da gehört bewusst das Stillen dazu –, dass deren Kinder und Babies in späteren Jahren seltener an Übergewicht leiden bzw. erkranken. Das ist aus meiner Sicht wirklich eine effektive Maßnahme. Meine Damen, meine Herren, eine Ampelkennzeichnung kann und wird dem Verbraucher nicht abnehmen, Lebensmittel kritisch zu prüfen. Wer sich zum Beispiel ein Auto kauft, fällt ja seine Entscheidung auch nicht allein nach dem Aussehen oder irgendeinem Prüfsiegel, sondern informiert sich zumindest über Leistung, Verbrauch oder Ausstattung. Und deshalb finde ich es wichtig und richtig, dass unsere Ministerin Julia Klöckner mit ihrer Reduktionsstrategie – reduzieren heißt, Zucker, Fett und Salze im Blick zu haben – einen guten Einstieg geschafft hat, weil diese Strategie einerseits auf Innovationen bei der Ernährungsindustrie und beim Handwerk setzt, aber andererseits auch auf Bewusstseinsbildung beim Verbraucher. Das heißt: Unser gemeinsames Ziel muss es sein, das Bewusstsein bei unseren Bürgerinnen und Bürgern für eine gesunde Lebensweise und für einen wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln zu stärken. Leider hat die Einführung von Nährwertangaben zuletzt noch nicht zu einem veränderten Konsumverhalten geführt; auch das gehört zur Wahrheit. Abschließend sage ich – das ist eine ganz persönliche Meinung, von der ich aber fest überzeugt bin –: Wenn wir wirklich mehr in Sachen Aufklärung und Verbraucherverhalten verändern wollen, dann müssen wir jetzt und in Zukunft ernsthaft über eine staatliche und vor allem neutrale Ernährungsberatung nachdenken. In diesem Sinne: Wir lehnen die Anträge der Opposition ab. Damit herzlichen Dank fürs Zuhören. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herzlichen Dank, Marlene Mortler. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Dr. Anna Christmann.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Kurzintervention. – Sie haben gesagt, jeder in diesem Land könne sich völlig frei entscheiden, wie er sich ernähren möchte. Ich freue mich auch darüber, dass Sie Lieblingsgerichte haben, die Sie gerne essen – die haben wir alle –; da möchte Ihnen, glaube ich, niemand reinreden. Die Realität ist doch, dass es auch in unserem Land ganz viele Menschen gibt, die vor allem nicht die finanziellen Mittel haben, sich so ausgewogen und saisonal zu ernähren, wie wir alle hier das vielleicht für am gesündesten halten, sondern gerade armutsbedingt oft eine Ernährungsweise vorherrscht, die nicht so ausgewogen ist, weil Fertigprodukte eben oft viel günstiger sind als das, was ich mir selber koche. Ich frage Sie vor allen Dingen danach, worin Sie denn den Genussverlust sehen, wenn wir zum Beispiel damit anfangen, den Zuckergehalt in der Fanta – das war das Beispiel der Kollegin Künast – zu reduzieren, und ob Sie nicht durchaus ein Problem darin erkennen, dass gerade Kinder in ärmeren Familien eine sehr schlechte Ernährungsweise haben, und ob das nicht ein konkreter Beitrag wäre, diese Ernährungsweise zu verbessern?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Mortler.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, da sind Sie bei mir genau an der richtigen Adresse. Erstens. Als gelernte Hauswirtschafterin bzw. Hauswirtschaftsmeisterin weiß ich sehr wohl, dass man sich mit wenig Geld sehr gut und auch sehr ausgewogen ernähren kann. ({0}) Ich weiß, dass viele das nicht hören wollen. Ich könnte jetzt rauf und runter aufzählen, was alles möglich ist, was Sie vielleicht für unmöglich halten. Zweitens: zum Thema Zuckerreduktion. Ich halte es schlichtweg für nicht ausreichend, alleine den Zucker zu reduzieren und dann mit dieser Reduzierung zu werben. Das hat vielleicht zur Folge, dass angenommen wird: Oh, dann kann ich ja mehr davon essen oder trinken. ({1}) Das heißt, auch hier fängt das Ganze wieder mit einem Bewusstseinswandel an. Ich kann es dem Verbraucher und ich kann es mir selber nicht ersparen, Eigenverantwortung zu übernehmen und einen persönlichen Beitrag dazu zu leisten. Ich komme deshalb auf das zurück, was ich am Anfang gesagt habe: Es gibt keine gesunden und ungesunden Lebensmittel per se, ({2}) aber es gibt eine ungesunde Ernährungsweise, einen ungesunden Lebensstil. Hier kann der Staat sicherlich – das ist mein abschließender Appell – mit einer neutralen, mit einer guten Ernährungsberatung, die sich an alle Zielgruppen in unserem Land richtet, helfen und unterstützen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Verena Hartmann für die AfD-Fraktion. ({0})

Verena Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004737, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Hier und heute geht es um gesunde Ernährung. Pünktlich zur Jahreswende hat sich sicherlich jeder wieder vorgenommen, weniger von allem zu essen: weniger Zucker, weniger Salz, weniger Fette und natürlich mehr Obst und Gemüse, wie sich das gehört. Auch die Regierung hat den Standpunkt: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Man solle Sport treiben, mehr Sport treiben, besser darauf achten, was man isst. Aber was essen wir denn eigentlich? 50 Prozent, wie schon Frau Künast gesagt hat, aller gekauften Lebensmittel sind bereits verarbeitet. Und in diesen Lebensmitteln sind massig versteckte Salze, Fette und Zucker enthalten. Die Verantwortung dafür trägt die Lebensmittelindustrie. 2016 wurde zwar die Nährwerttabelle als Pflichtangabe auf den Produkten eingeführt. Ist es aber dadurch besser geworden? Nein. Das Robert-Koch-Institut stellte 2017 fest: Über 50 Prozent der Bevölkerung leiden an Übergewicht. 25 Prozent sind sogar adipös. Und bereits 15 Prozent unserer Kinder sind übergewichtig. – Doch warum funktioniert das mit den Nährwerttabellen nicht wirklich? Ganz einfach: Es gibt viel zu viele verschiedene Salze, Fette und Zuckerarten. Allein für Zucker gibt es 70 verschiedene Namen. Um Nährwerttabellen richtig lesen und Schädliches richtig erkennen zu können, bräuchte man ein Diplom in Chemie. Und für die kleine Schrift müsste man Adleraugen haben. Die Tricks der Lebensmittelindustrie sind unerschöpflich. So werden verschiedene Salze, Fette und Zucker in einem Produkt verwendet, damit die Menge des einzelnen Inhaltsstoffs nicht zu groß erscheint und er eben nicht auf Platz eins, zwei oder drei der Rangliste in der Nährwerttabelle landet. Zusammengefasst bekommt man nicht nur einen Zuckerschock. Allein in einem 150‑Gramm-Becher Erdbeerjoghurt für Kinder sind im Durchschnitt sieben Stück Zucker enthalten. Stellen Sie sich diese Menge einmal in Ihrem Kaffee vor! Da würde der Löffel stehen bleiben. Und so etwas bieten wir nichts ahnend unseren Kindern an. Die Süßwarenregale im Discounter sind im Grunde die ehrlichste Geschäftsbeziehung, die man mit der Lebensmittelindustrie haben kann. Wenn ich mich da für Fett, Zucker und Salz entscheide, weiß ich es: Es liegt in meiner Verantwortung. Ich entscheide mich bewusst und weiß, es geht auf die Hüften und ist auch sonst nicht gesund. Auf unsere Kinder haben es besonders Coca-Cola, Ferrero, McDonald’s und Co abgesehen. Die Ernährungsgewohnheiten werden ja in der Kindheit und Jugend geprägt. Genau da setzen sie an. Ihr oberstes Ziel ist es, Kinder und Jugendliche so zeitig wie möglich an ihre Produkte zu binden. 90 Prozent der sogenannten Kinderlebensmittel sind noch zuckerhaltiger, noch salziger und noch fettiger, sind also noch ungesünder als das, was wir normalerweise zu uns nehmen. Kinder werden mit Werbung und Marketingkampagnen bombardiert. Trickfilmfiguren auf Joghurtdeckeln und Plastikspielzeug bei McDonald’s führen zum gewünschten Ziel. Von den Süßigkeiten im Kassenbereich und in den Apotheken will ich gar nicht erst anfangen. All das muss unterbunden werden. ({0}) Unsere Regierung verlässt sich auf eine freiwillige Selbstverpflichtung. Die Lebensmittelindustrie nutzt dies schamlos aus. Verbraucherschützer, die WHO, der Ärzteverband, Gesundheitsverbände kämpfen für eine bessere Kennzeichnung. Wir, die AfD, haben eine Lösung. Wir favorisieren eine Positivkennzeichnung nach schwedischem Vorbild durch das Keyhole-Modell für mehr Transparenz. Lebensmittel werden farbig gekennzeichnet, die fett-, zucker- und salzarm, aber ballaststoffreich sind und vom Verbraucherschutzministerium als gesund bewertet werden. Dadurch herrscht Klarheit über die Lebensmittel beim Verbraucher. Durch die Sensibilisierung der Verbraucher durch diese Kennzeichnung werden die Hersteller die Zucker-, Salz- und Fettschraube in ihren Produkten zurückdrehen müssen, um langfristig Verluste zu vermeiden. ({1}) Die Gemeinschaftsverpflegung, vor allem in Kitas und Schulen, muss besser werden. Ein Mittagessen muss es für alle Kinder geben! Egal wie die Versorgung zu Hause ist, mit dem Schulessen wäre für eine warme Mahlzeit am Tag für jedes Kind gesorgt. Es wäre gut investiertes Geld. Die AfD fordert, die EU-weite Ausschreibung des Schulessens abzuschaffen. Sie ist nicht zielführend. Wir brauchen eine regionale Ausschreibung. Wir brauchen verbindliche Qualitätsstandards für hochwertiges Schul­essen – bundesweit. Die Versorgung mit regionalen und saisonalen Produkten muss an erster Stelle stehen. Wir fordern die Einführung eines praktischen Unterrichtsfachs für Ernährung. Schüler sollen gesunde Lebensmittel kennenlernen, sie zubereiten und selber kochen. Anders als es die Grünen vorschlagen, wollen wir kein weiteres Theoriefach. Die Kinder haben genug Stress in der Schule. Die Aufgabe der Bundesregierung ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen. Ich appelliere an Frau Klöckner: Haben Sie den Mut! Trauen Sie sich – für die Gesundheit der Menschen in unserem Land! Wir brauchen eine gute Ernährung als den zentralen Baustein der Gesundheitsvorsorge. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Verena Hartmann. – Nächste Rednerin: Ursula Schulte für die SPD-Fraktion. ({0})

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Manchmal ist es ja tröstlich, wenn man mit seinen Problemen nicht alleine ist. Geteiltes Leid ist halt halbes Leid. Aber hilfreich und zielführend ist es nicht, wenn in allen europäischen Ländern die Gesundheit von Menschen durch ungesunde Ernährung beeinträchtigt wird. Vor allen Dingen darf uns diese Tatsache nicht dazu bringen, dass wir die Hände in den Schoß legen. Das tut die Koalition auch nicht. Nach Jahren des freundlichen Stillstands unter Minister Schmidt – so will ich es einmal nennen – nimmt das Thema „gesunde Ernährung“ Fahrt auf. Und das ist gut so. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders besorgniserregend ist vor allem der Anstieg von Adipositas mit den entsprechenden Folgeerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Erschwerend kommt hinzu, dass das in der Kindheit erlernte Ernährungsverhalten oft ein Leben lang beibehalten wird. Genau hier müssen wir ansetzen; denn Kinder und Jugendliche sind eine besonders verletzliche Personengruppe. Wenn man sie schützen will, dann muss man konsequent handeln. Das geplante Verbot von Zucker in Säuglings- und Kindertees ist zwar lobenswert, greift aber viel zu kurz. Die SPD will hier eindeutig mehr; das weiß die Ministerin auch. Uns ist vor allen Dingen die Zuckerreduzierung in gesüßten Getränken wichtig. 5 Gramm pro 100 Milliliter Flüssigkeit reichen vollkommen aus. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelwerbung und ungesunder Ernährung gibt, kann niemand mehr leugnen. ({2}) Deshalb wäre ein Verbot der Werbung für Kinderlebensmittel, die dem Nährstoffprofil der WHO nicht entsprechen, folgerichtig. Auch hier hätte ich mir ein stärkeres Signal im Zuge der Reduktionsstrategie gewünscht. ({3}) Übergewichtige Kinder leiden körperlich und seelisch; denn sie werden von ihren Altersgenossen oft gehänselt. Genauso mitleidig werden im Übrigen übergewichtige Erwachsene betrachtet. Sorgen bereiten mir aber auch die jungen Menschen, die aufgrund von falschen Schönheitsidealen Angst haben, zu dick zu werden, und deshalb zu wenig oder gar nichts mehr essen. ({4}) Magersucht trifft vor allen Dingen die Mädchen. Hier hat die Modebranche eine große Verantwortung, der sie leider kaum gerecht wird, die wir aber immer wieder anmahnen müssen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Beschäftigung mit den Anträgen der Opposition habe ich festgestellt, dass es darin durchaus Gemeinsamkeiten mit unseren Forderungen gibt. Alle wollen das Ernährungswissen verbessern. Alle wollen die Reduktionsstrategie. Alle nehmen Kinder und Jugendliche in den Blick. Alle wollen gesunde und schmackhafte Mahlzeiten in den Kitas und Schulen. Der Unterschied zur Opposition ist, dass wir als Regierung handeln können und das auch tun. Und – ehrlich – das gefällt mir nach 30 Jahren Oppositionspolitik in kommunalen Parlamenten total gut. Auch wenn wir viele Kompromisse eingehen müssen: Kleine Schritte in die richtige Richtung sind eben auch Bewegung. Ob wir gleich eine Ernährungswende brauchen, wie sie Bündnis 90/Die Grünen fordern, bezweifle ich allerdings ein bisschen. Mir wäre eine Agrarwende lieber: Klasse statt Masse. ({6}) Das gilt gerade bei der Fleischproduktion. Wir produzieren nicht nur zu viel Fleisch, sondern wir essen auch zu viel davon. Fleisch – das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen – war vorher einmal ein Lebewesen. Fleisch ist zur Ramschware verkommen. Das spüren auch die Landwirte. Sie müssen immer mehr produzieren, um über die Runden zu kommen. Am Ende landen dann Rinder, Schweine und Hühner auf dem Müll. ({7}) Dazu darf man nicht länger schweigen. So können und dürfen wir auch nicht weitermachen. Wenn wir Veränderung wollen, sollten wir jetzt die GAP-Verhandlungen dazu nutzen. Die SPD hat sich eindeutig positioniert, nämlich: Wir wollen öffentliches Geld für öffentliche Leistungen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir finden in Deutschland – da bin ich ganz anderer Meinung als Frau Künast – alle Voraussetzungen für eine gesunde und regionale Ernährung vor. Wenn man dem Ernährungsreport 2019 Glauben schenken darf, dann ernähren sich die Deutschen sogar ziemlich gesund. Immerhin essen 71 Prozent der Bevölkerung täglich Obst und Gemüse, und 64 Prozent nehmen täglich Milchprodukte zu sich. Ich bin mir aber fast sicher, dass die Ernährungsgewohnheiten in Wirklichkeit ganz anders aussehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Angebot an Nahrungsmitteln ist schier unerschöpflich. Wir können entscheiden, ob wir uns mit Bioprodukten ernähren wollen oder zu vegetarischen oder veganen Lebensmitteln greifen möchten. Fakt ist aber auch, dass die wenigsten Menschen überhaupt noch Zeit und Lust haben, sich mit den neuesten Ernährungstipps und Kaufempfehlungen auseinanderzusetzen; sie haben auch keine Zeit mehr, täglich frisch zu kochen. Das zeigt noch einmal, wie wichtig es ist, gute Fertigprodukte mit einer verständlichen Kennzeichnung auf den Weg zu bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema liegt mir besonders am Herzen: der Zusammenhang zwischen einer ungesunden Ernährung auf der einen Seite und sozialer Ungleichheit auf der anderen Seite. Dieser Zusammenhang ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen. ({9}) Leider wird die soziale Ungleichheit auch noch mal beim Thema Ernährungswissen deutlich. Da sind die gutgebildeten, gutsituierten Familien, die ganz genau wissen, wie gesunde Ernährung auszusehen hat, die dieses Wissen auch im Alltag anwenden und an ihre Kinder weitergeben. Und dann gibt es halt die überforderten Familien. „Überfordert“ heißt hier, dass man den Kopf voller Sorgen hat und das Thema Ernährung ganz unten auf der Skala der Probleme steht. Beim Thema Ernährung müssen wir auch über Geld reden. Wer wenig Geld hat, ernährt sich ungesund, auch weil Weißmehlprodukte immer noch günstiger sind als Obst und Gemüse. Deswegen ist es so wichtig – das muss man an dieser Stelle auch sagen –, dass der Mindestlohn angehoben wird, dass prekäre Beschäftigung abgeschafft und gute Arbeit mit fairen Löhnen bezahlt wird. ({10}) Wenn die Menschen ein ausreichendes Familieneinkommen haben, geben sie das Geld nicht etwa für Flachbildschirme aus, sondern sie investieren es in ihre Kinder und eben auch in gesunde und bessere Ernährung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass es die Tafeln gibt. Sie versuchen mit ihrer Arbeit, soziale Ungleichheit ein bisschen abzumildern. Die Tafeln helfen bereits jetzt mit verschiedenen Projekten. Diese Arbeit müssen wir unterstützen. Ein entsprechender Beschluss liegt auch vor, Haushaltsmittel sind vorhanden. Niedrigschwelliger können wir Ernährungswissen überhaupt nicht vermitteln. Ich warte jetzt darauf, dass das Ministerium konkret wird. Ich muss jetzt ein bisschen weiterblättern, weil mir die Zeit wegläuft. Ich will aber noch sagen, dass ich bei meinen Besuchen in den Schulen die Kinder immer auch frage: Wie schmeckt euch denn eigentlich das Essen? – Und dann sagt die überwiegende Mehrheit: „Geht so“ oder „Überhaupt nicht“. Die älteren Schüler gehen dann auch gleich zum Kiosk oder in den nächsten Supermarkt. Deshalb, finde ich, ist es ganz wichtig, dass wir die Kommunalpolitiker für das Thema „gesunde Ernährung“ gewinnen; denn sie müssen bei Ausschreibungen dafür Sorge tragen, dass Kinder ausgewogene und schmackhafte Mahlzeiten in angenehmer Atmosphäre zu sich nehmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz vor Weihnachten konnte ich lesen, dass Frau Ministerin Klöckner nun die farbliche Kennzeichnung in Angriff nehmen will. Das wird aber auch höchste Zeit; denn im Moment erleben wir, dass die Unternehmen kennzeichnen, wie sie wollen. Das ist überhaupt nicht zielführend; das führt nicht zu mehr Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern zu Verwirrung und Irritation. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir brauchen eine staatliche Kennzeichnung, eine Kennzeichnung, auf die sich die Menschen verlassen können. Gesunde Produkte müssen leicht und auf den ersten Blick erkennbar sein. ({11}) Die Ampel oder, wie ich mittlerweile finde, auch ein Nutri-Score machen das möglich. Die SPD möchte, dass die farbliche Kennzeichnung schnell kommt. Deswegen, Frau Klöckner, war ich heute Morgen umso enttäuschter von Ihren Aussagen im „Morgenmagazin“; das hörte sich doch alles wenig konkret und mehr als verhalten an. Schade, schade, kann ich da nur sagen. Aber die SPD lässt nicht locker; denn die Mehrheit der Verbraucher wünscht sich eine farbliche Kennzeichnung, und der Nutri-Score bietet alle Voraussetzungen dafür. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gute Politik für die Menschen machen. Das heißt für mich, dass wir die Menschen in die Lage versetzen müssen, schnell und zielgerichtet auf gesunde Produkte zurückgreifen zu können. Wir müssen aber auch sagen, dass neben guter und ausgewogener Ernährung Bewegung wichtig ist. Und ganz wichtig: Wir müssen unser Augenmerk auf die Kinder und Jugendlichen richten. Sie müssen gesund aufwachsen können, und zwar unabhängig vom Status der Familie. Ausgewogene Ernährung ist eine Kernfrage sozialer Gerechtigkeit. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ursula Schulte. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Frank Sitta. ({0})

Frank Sitta (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Energiewende, Agrarwende, Wärmewende, Verkehrswende nun also die Ernährungswende. Bei so vielen Drehungen kann einem richtig schwindlig werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Falls Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, dabei die Orientierung verloren haben sollten, ({1}) kurz der Hinweis: Die Richtung, in der Sie mal wieder unterwegs sind, führt jedenfalls nicht zu einem freiheitlichen Staat. Sicherlich: Zugegebenermaßen ist es häufig schwierig, außer Haus auf die Schnelle ein Angebot an Mahlzeiten zu finden, das zur selbstgewählten Diät oder zum selbstgewählten Ernährungstrend passt. Aber diese Angebote wird es geben, wenn die Nachfrage danach steigt. Und nun sollen es staatliche Preiskontrollen für die Miete von Gewerbeimmobilien richten, mutmaßlich damit dann ideologisch genehme und moralisch korrekte Gaststätten einziehen können. Dieser Ansatz ist doch mehr als fragwürdig. ({2}) Tatsächlich kümmern sich immer mehr Menschen um die Verbesserung ihrer Ernährung; darüber freue ich mich auch. Die soziale Marktwirtschaft ermöglicht das, und der Sozialstaat hat daran durchaus Interesse. Ihr Ansatz hat aber, wie so häufig, einen autoritären und elitären Charakter. Ihnen geht es um die Umerziehung von Menschen, die Sie von ihren Ernährungsgewohnheiten derzeit nicht abbringen können, und das ärgert Sie. Übergewicht entsteht im Übrigen nicht durch bestimmte Lebensmittel per se und auch nicht durch verarbeitete Lebensmittel, wie Sie das in Ihrem Antrag unterstellen, sondern durch den ungesunden Umgang damit. ({3}) Auch körperliche Bewegung und Aktivität spielen hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Liberaler liegt es mir fern, anderen Menschen vorzuschreiben, ihren Lebenswandel zu ändern, auch wenn ich persönlich ihn für völlig falsch halte. Der Schlüssel liegt in einer möglichst umfassenden und unvoreingenommenen Information der Verbraucher. Aber: Es lohnt sich eben auch, in einer freien Gesellschaft Freiräume für selbstbestimmten Genuss zu verteidigen und regelmäßig zu fragen, wie diese Freiräume auch mal wieder erweitert werden können. ({4}) Kommen wir zu Ihrem Vorschlag einer Lebensmittelampel. Diese dient eben nicht einer transparenten Information der Verbraucher, sondern genau dem Gegenteil. Sie reduziert den Informationsgehalt auf ein Minimum, ({5}) und das zwangsläufig willkürlich. Aber Ihnen geht es ja nicht um die Information der Verbraucher, sondern um deren Steuerung. Insofern ist das Bild einer Ampel da durchaus ganz passend gewählt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, man darf gespannt sein, mit welcher Wende Sie demnächst um die Ecke kommen. Ich bin mir aber recht sicher, dass sich die Mühle des grünen Paternalismus auch in Zukunft fröhlich weiterdrehen wird. ({6}) Ich kann Ihnen aber auch versprechen, dass Sie hier von diesem Pult aus stets eine Stimme der Freiheit daran erinnern wird ({7}) – ja, lachen Sie ruhig –, dass die freiheitliche Demokratie eben von der Auffassung lebt, dass erwachsene Menschen selbst am besten wissen, was für sie gut ist, ({8}) und dass der Staat ihren Meinungen, Interessen und Neigungen gegenüber Respekt zu zeigen hat. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Sitta. – Nächste Rednerin: ­Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir diskutieren heute wieder über gesunde Ernährung. Dabei sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass alle Menschen sich gesund ernähren können. Stattdessen leiden immer mehr Menschen unter ernährungsbedingten Krankheiten. Kinder bekommen Diabetes Typ 2, sogenannten Altersdiabetes; das ist doch Wahnsinn. ({0}) Und was macht die Bundesregierung? Sie hält uns hin, und das seit Jahren. Sie betreibt Lobbypolitik für die Lebensmittel- und die Agrarindustrie. Aber da machen wir nicht mit. ({1}) Die Linke hat erneut einen Antrag zum Thema „gesunde Ernährung“ gestellt. Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen. Erstens. Verarbeitete Lebensmittel müssen endlich gesünder werden. Fett, Salz und vor allem Zucker müssen reduziert werden, und die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen klar und eindeutig durch eine verständliche Lebensmittelkennzeichnung über Inhaltsstoffe der Produkte informiert werden, ({2}) damit man eben weiß, was man kauft, und das, ohne mit Lupe und Lexikon die Zutatenliste studieren zu müssen. Zweitens. Jede und jeder muss sich gesundes Essen leisten können. ({3}) Verarbeitete Lebensmittel enthalten vielfach zu viel Fett, Salz und vor allem Zucker. In vielen Produkten steckt viel mehr Zucker, als man vernünftigerweise erwarten würde. Außerdem ist vielen Produkten Zucker zugesetzt, bei denen man es überhaupt nicht vermutet. Wer rechnet schon damit, dass zum Beispiel Vollkornbrot Zuckerrübensirup enthält? Das macht das Brot schön dunkel, und es wirkt dadurch vollwertiger. Verbrauchertäuschung ist das. Man muss lange suchen, um ein ungezuckertes Brot zu finden, und das ist dann in der Regel ein teureres Biobrot. Die Industrie liebt Zucker, weil er eine billige Art ist, das Volumen der Produkte zu erhöhen und den Geschmack zu intensivieren oder minderwertige Zutaten zu verschleiern. Bei unreifen Tomaten in der Tomatensoße wird einfach nachgezuckert, um fehlendes natürliches Aroma auszugleichen. Aber das geht so nicht! Die Linke fordert eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite der Packung, damit man Produkte mühelos miteinander vergleichen kann. ({4}) Von der Lobby wird gern behauptet, dass es der Verbraucher sei, der mit seiner Kaufentscheidung diktiere, was im Supermarktregal steht. Wenn die Lebensmittelkonzerne aber – mit Genehmigung der Bundesregierung – die Inhaltsstoffe kleingedruckt auf der Rückseite der Verpackung verstecken und sogar mit irrealen Portionsgrößen den echten Kaloriengehalt verschleiern dürfen, dann wird die Kaufentscheidung durch schöne Fotos und Marketingsprüche manipuliert. ({5}) Die Branche hat den Wunsch der Verbraucher nach Transparenz inzwischen erkannt. Einige Firmen – Danone zum Beispiel – führen jetzt selbst eine farbliche Kennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite ein. Da könnte man sagen: Na, das ist ja prima! – Aber Vorsicht: Ohne gesetzliche Regelung ist nicht sichergestellt, dass zum Beispiel Zucker nicht einfach durch ungesunde Süßstoffe ersetzt wird oder eine Flut brancheneigener Label für noch mehr Verwirrung sorgt. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. ({6}) Frau Ministerin Klöckner, Sie setzen auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie. Das finden wir falsch. Erwarten Sie ernsthaft, dass Unternehmen wie Nestlé und Co freiwillig etwas tun, was ihre Gewinne schmälert? Ich bitte Sie! Ihre Rücksicht den Konzernen gegenüber begründen Sie unter anderem mit dem Ergebnis einer Studie, die das Ministerium in Auftrag gegeben hat. Nach dieser Studie ist es 99 Prozent der Menschen beim Kauf von Lebensmitteln wichtig, dass sie gut schmecken. Das finde ich verblüffend; denn ich hätte gedacht, das wären 100 Prozent der Menschen. ({7}) Daraus schlussfolgern Sie, dass es nicht gut wäre, die Rezepturen der Lebensmittel jetzt zu schnell zu stark zu verändern; denn dann würden die Produkte nicht mehr gut schmecken. Was Sie in Wirklichkeit meinen, ist, dass die Produkte dann nicht mehr den Süßegrad, auf den uns die Lebensmittelindustrie konditioniert hat, besitzen. ({8}) Mit gutem Geschmack hat das nichts zu tun; denn der resultiert vor allem aus guten, hochwertigen Zutaten. Die zu verwenden, schmälert aber die Gewinnspanne der Industrie. Wieder einmal knicken Sie vor der Lobby ein. Das ist inakzeptabel. ({9}) Wir sprechen heute auch über einen Antrag der Grünen zur gesunden Ernährung. Auch die Grünen fordern unter anderem, dass Fertigprodukte gesünder werden, dass es gutes Essen an Kitas gibt, dass eine klare Nährwertkennzeichnung erfolgt. Das ist alles richtig. Aber in Ihrem Antrag vergessen Sie völlig, dass sich nicht alle Menschen alles leisten können. In Ihrer Zwischenbemerkung, Frau Kollegin, haben Sie es gerade gesagt; in Ihrem Antrag findet man davon allerdings nichts. Ernährungsarmut ist bittere Realität in unserem Land, und sie hängt mit finanzieller Armut zusammen. Im westeuropäischen Vergleich ist die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland am niedrigsten. Das liegt daran, dass Menschen mit niedrigem Einkommen den Schnitt dramatisch nach unten reißen. Männer mit geringem Einkommen sterben im Schnitt elf Jahre früher, Frauen acht Jahre früher. Das hat natürlich mehrere Gründe: Stress aufgrund der unsicheren Lebenssituation zum Beispiel, aber eben auch die ungesündere Ernährung. Wer von Hartz IV betroffen ist oder ein Einkommen auf diesem Niveau hat, hat nur wenige Euro am Tag für Essen und Trinken zur Verfügung. Schon vor mehr als zehn Jahren stellte das Forschungsinstitut für Kinderernährung klar, dass die Hartz‑IV-Regelsätze für eine gesunde Ernährung vor allem für Kinder und Jugendliche einfach nicht reichen. ({10}) Auch darum fordert Die Linke unter anderem endlich Sozialleistungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. ({11}) Wir brauchen einen guten Mindestlohn. Der Niedriglohnsektor muss zurückgedrängt werden. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung. ({12}) Es muss für alle Menschen leicht sein, sich gesund zu ernähren. Dazu gehört auch, dass gesunde, von Pestiziden und Co unbelastete Bioprodukte günstiger werden. Das erreicht man, indem man die Agrarsubventionen konsequent den ökologisch nachhaltig wirtschaftenden Betrieben zugutekommen lässt und nicht – wie jetzt – vor allem der Agrarindustrie. Gegen diese Agrarindustrie werden an diesem Samstag wieder viele Tausend Menschen auf die Straße gehen. Hier in Berlin um 12 Uhr am Brandenburger Tor heißt es wieder: Wir haben es satt! – Meine Fraktion und ich werden dabei sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Mohamed Ali. – Nächste Rednerin: Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme noch einmal auf die guten Vorsätze zurück; Kollegin Hartmann hatte das auch erwähnt. Jetzt, nach den Feiertagen, haben wir ja alle gute Vorsätze: Wir wollen gesünder leben, uns mehr bewegen usw., und stellen dann fest – auch heute haben wir das immer wieder gehört –: Das Übergewicht nimmt zu, die Menschen bewegen sich zu wenig und essen wahrscheinlich zu viel. Das sind zum großen Teil auch die Ursachen vieler Krankheiten, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deshalb müssen wir die gesundheitliche Aufklärung unbedingt stärker mit den Themen „gesunde Ernährung“ und „Bewegung“ verbinden. Marlene Mortler sagte schon, es wäre darum gut, wenn wir eine solide und dem Alter entsprechende Ernährungsberatung regional und auch vor Ort organisieren könnten. Da müssen wir noch einmal mit den Ländern verhandeln. Auf jeden Fall beginnt das in den Kindergärten, geht mit dem gesunden Schulessen weiter und begleitet uns das ganze Leben. Ich persönlich setze mich für eine Mehrwertsteuersenkung für gesundes und zertifiziertes Schulessen ein. Ob ich das noch erreiche, weiß ich nicht, aber ich sage es ganz offen: Das wäre was! ({0}) Und ich will mehr für Ernährungsbildung tun; das ist nämlich entscheidend für die Entwicklung und Festigung der Ernährungskompetenz eines jeden Menschen. Das sollte stärker als bisher auch von den Gesundheitspolitikern betrachtet werden und dauerhaft in alle Präventionsmaßnahmen einfließen. ({1}) Denn Ernährungsbildung ist ein zentraler Punkt im lebenslangen Lernen für jedermann, der wirklich weit über die Kindergarten- und Schulzeit hinausgeht – auch für uns. ({2}) Wir wollen Menschen für einen gesunden Lebensstil begeistern und sie auf dem Weg dorthin unterstützen. Meiner Ansicht nach sollten wir den seit zehn Jahren laufenden Nationalen Aktionsplan IN FORM, also Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung, stärker auf Ernährungsbildung ausrichten. Durch die Präsenz dieser „IN FORM“-Aktivitäten in sämtlichen Medien, und zwar auch in solchen, die die Leute sehen – ich meine da zum Beispiel das Regionalfernsehen –, und damit durch die Weitergabe der entsprechenden Informationen erhoffe ich mir auch etwas mehr Einsicht, was Kochen und Ernährung angeht. Nachhaltig lässt sich das Ernährungsverhalten nur durch verständliche Informationen verbessern – das haben schon viele Redner vor mir gesagt –; denn unsere Bürger – das ist meine Meinung – sollen selbstbestimmt und selbstverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen. Hilfreich sind Angebote, die besonders im hektischen Alltag die gesunde Wahl erleichtern. Der moderne Mensch – das wissen wir – nimmt sich meist wenig Zeit für das Essen und greift immer häufiger zu Fertigprodukten. Deshalb, denke ich, ist die Nationale Reduktionsstrategie unserer Ministerin genau das Richtige; denn hier haben die teilnehmenden Wirtschaftsverbände im letzten Jahr eine Grundsatzvereinbarung unterschrieben und eine klare Zusage gegeben. Konkret bedeutet das, dass sich die Ernährungswirtschaft freiwillig verpflichtet, in einem mehrjährigen Prozess ab diesem Jahr den Gehalt an Zucker, Fett und Salz in Nahrungsmitteln zu reduzieren. Außerdem ist geplant, den Zusatz von Zucker und anderen süßenden Zutaten in Säuglings- und Kleinkindtees rechtlich zu verbieten. Das ist wirklich sehr gut – und noch besser wäre es, wenn die Mütter den Tee selbst kochten, finde ich. ({3}) – Die Väter auch, Entschuldigung, ja, gerade heute muss man das sagen. Bis Ende des Jahres sollen die entsprechenden rechtlichen Regelungen getroffen werden. Bis zum Jahr 2025 werden die Zielmarken erreicht sein, hoffe ich. Ein weiterer Schritt: Die gesunde Wahl ist durch eine einfache und deutliche Kennzeichnung der Lebensmittel zu erleichtern; das finden auch wir richtig. Ich denke, Kollege Kees de Vries wird das noch erklären. Meine Damen und Herren, Erwachsene verbringen den größten Teil ihrer Lebenszeit am Arbeitsplatz. Das beeinflusst auch ihre Gesundheit. Daher sind eine gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung vor, während und nach der Arbeit zur Verbesserung des Wohlbefindens wichtiger denn je. Im Alter wird es immer wichtiger, die eigene Fitness durch ein gesundheitsbewusstes Verhalten zu erhalten. Der Körper, aber auch die täglichen Gewohnheiten und Fähigkeiten ändern sich. Hinzu kommt, dass mit den Jahren das natürliche Hunger- und Durstgefühl abnimmt und das Essen weniger intensiv schmeckt. Ich komme noch einmal auf die Gruppe der Älteren zurück. Wir müssen diese Menschen unterstützen, dass sie sich ausgewogen und ihren Lebensumständen entsprechend angemessen ernähren können. Mangel- und Fehlernährung in dieser Gruppe wurden schon festgestellt, auch bei uns im reichen Deutschland, weil sie eine andere Form der Ernährung brauchen. Deutschland insgesamt soll ein Land der gesunden Ernährung und Wertschätzung von Lebensmitteln sein. Das ist meine Botschaft. Sie klingt doch viel positiver als das, was meine Vorrednerin sagte. Ich denke, das schaffen wir auch. Das wollen wir nicht durch Vorschriften zu Ernährungsweisen oder durch Verbote erreichen; denn wir können den Menschen nicht vorschreiben, was sie essen oder trinken sollen. Essen und Trinken sind eine höchst persönliche Angelegenheit, weil jeder Mensch und dessen Organismus auf Nahrungsmittel unterschiedlich reagieren. ({4}) Allerdings sollte ein jeder spüren, welche Menge für ihn ideal ist. Dabei muss man nicht immer an Kalorien denken, oft hilft auch ein kleinerer Teller. ({5}) Wir dürfen nicht so verkrampft an das Thema herangehen. Letztens hörte ich den schönen Satz: Früher haben wir gegessen, heute ernähren wir uns. – Meine Damen und Herren, bei aller Wichtigkeit der Ernährungsbildung müssen wir aufpassen, dass der Genuss und das gute Gefühl nicht auf der Strecke bleiben. Vielleicht sollten wir wieder lernen, mehr auf unseren Körper zu hören, und essen, was uns gut tut. Dann klappt es auch mit der gesunden Ernährung und mit den guten Vorsätzen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Landgraf. – Nächster Redner: Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Die Bedeutung gesunder Ernährung für unsere Gesundheit wird eigentlich von niemandem bestritten. Sie ist ein wesentliches Mittel zur medizinischen Prävention von Erkrankungen. Daher sollte sie auch einen hohen Stellenwert in der Gesundheitspolitik haben, damit Krankheiten gar nicht erst entstehen. Um das Wissen über gesunde Ernährung in der Bevölkerung zu verankern, ist und bleibt Ernährung natürlich eine Bildungsfrage, aber nicht nur. Ernährung als medizinische Präventivmaßnahme muss auch in den praktischen Alltag der Bevölkerung integrierbar sein. Selbst zu kochen, ist bei weitem nicht nur ein Genuss. Auch das Einkaufen gestaltet sich häufig schwierig. Die erforderliche Zeit und Kraft fehlen im Alltag vieler Menschen. Die Anforderungen im Beruf wachsen, und man schlägt sich mit Fastfood durch. Dabei kann man die schnelle Mahlzeit auch gesundheitsfördernd zu sich nehmen, zum Beispiel mit grünen Smoothies, die ich persönlich sehr empfehlen kann. Essen Sie grün, trinken Sie grün, aber bitte nicht unsere geschätzten Kollegen von der grünen Partei. Chlorophyll ist nämlich grünes Sonnenlicht und eines der wirksamsten lebensspendenden Substanzen auf unserem Planeten. Je mehr Chlorophyll ein Lebensmittel enthält, umso höher ist sein gesundheitlicher Nutzen. Gesunde Ernährung ist ein sehr wichtiges Thema. Viele Kinder, aber auch Erwachsene wissen nicht genau, was es bedeutet, und schaffen es auch nicht, sich im Alltag gesund zu ernähren. Darin liegt aber das Fundament unserer Gesundheit. Wir hungern mit Übergewicht, weil unsere Lebensmittel nicht mehr die Nährstoffe, die wir brauchen, enthalten. Viele Lebensmittel sind industriell so verarbeitet und mit Zusatzstoffen versetzt, dass sie den Namen „Lebensmittel“ nur bedingt verdienen. Ich schließe mit dem Zitat des Urvaters der Medizin, Hippokrates: Eure Nahrung soll eure Medizin sein, und eure Medizin soll eure Nahrung sein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Podolay. – Nächste Rednerin: Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst die Energiewende, dann die Verkehrswende und nun also, liebe Grüne, die Ernährungswende. ({0}) Die Frage bleibt nur: Wohin wollen Sie uns diesmal wenden? Mal ist es Fett, dann Zucker, dann Kohlenhydrate, die von Wissenschaftlern als Übeltäter gebrandmarkt werden. Die Wellen der medialen Aufregung, der Markt der vermeintlichen Wellnessprodukte kommen und gehen, aber eines bleibt konstant: Vieles, was vor allem Kindern schmeckt – Süßes und Fettes –, ist lecker, aber nicht gesund. Gesund und lecker zu kochen, muss gelernt werden. Ihre Ampel soll die Probleme lösen, ist aber, wie ich denke, eine Kopfgeburt; denn im Ernstfall schmecken ein bis zwei Tiefkühlpizzen nach der Schule nun einmal besser als eine Gemüsepfanne mit Reis. Das höre ich zumindest ständig von meinem 14-jährigen und stets hungrigen Sohn. ({1}) Anstatt den Bürgern nun auch noch vorzuschreiben, wie sie sich zu ernähren haben, brauchen wir Vorschläge, wie den Bürgern mehr Geld im Portemonnaie für gutes Essen und mehr Zeit für die eigene Zubereitung zu Hause bleibt. Ein Großteil der Menschen hat verlernt, für sich selbst zu sorgen und zu kochen. Um diese Unmündigkeit zu beheben, schlagen Sie vor, das Produkt auszuwechseln: Quinoasalat statt Currywurst. ({2}) Statt Hilfe zur Selbsthilfe nehmen Sie den Bürger wieder einmal an die Leine und verstärken so seine Unmündigkeit. Dass es viel wichtiger wäre, wieder zu lernen, den Wert des Kochens und des gemeinsamen Familienessens kennenzulernen, dass der Gegensatz zu Fast Food nicht Green Food, sondern Slow Food lautet, habe ich dem Papier leider nicht entnehmen können. Kantinenessen kann natürlich besser werden. Auch gegen eine lebendige Restaurantszene ist nichts einzuwenden. Aber anstatt komplizierter Papiertiger zur weiteren staatlichen Mietpreis- und Mietrechtsregelung geht es auch viel einfacher: Helfen Sie uns, zum Beispiel den Mehrwertsteuersatz auf Kantinen- und Restaurantessen auf 7 Prozent zu senken. Das müssen Sie den Bürgern auch gar nicht kompliziert erklären. Esskultur erhält sich über gelebte Tradition, über das gemeinsame Kochen und über die Freude am gemeinsamen Essen. Wie man aus selbst gepflückten Kirschen Marmelade macht, ein ganzes Huhn kocht, anstatt nur Hühnerbrust zu grillen, Fisch entgrätet oder Blumenkohl zubereitet, lernt man am besten von Großeltern und Eltern – mit den schokoladenverschmierten Fingern in der Teigschüssel oder beim Kosten aus dem Soßentopf. Die Kantinenkultur ist nicht das Allheilmittel für besseres Essen, sie hat leider auch einen Anteil an dem Verlust von Wissen und Tradition in der familiären Kochkultur, auch wenn ich über jede gute Schulkantine froh bin. Ihr pessimistischer grüner Blickwinkel prophezeit uns, dass wir unser Essen am liebsten nur im Laufen oder höchstens in ökologischen Cafés und Food Start-ups einnehmen, die Sie am liebsten mit diesem Programm fördern wollen. Eine Politik, die eine Gemeinschaftsverpflegung – was für ein Wortmonster – von Kindern zur Hauptmahlzeit erhebt, hat resigniert und zeichnet eine düstere gesellschaftliche Prognose. Solche Politik traut Eltern nicht zu, dass sie ihre Kinder richtig ernähren, bekochen und erziehen. Wer von Gemeinschaftsverpflegung spricht, erniedrigt das gemeinsame Essen zudem zur funktionellen Nahrungsaufnahme. Wir brauchen keine Ernährungswende, liebe Grüne, und keine vom Steuerzahler finanzierten Verbote, Reglementierungen oder Förderprogramme für vermeintlich gesunde Nahrungsanbieter. Wir brauchen eine vernünftige Familien-, Steuer- und Bildungspolitik und ausreichend Zeit zum gemeinsamen Kochen und Essen. Guten Appetit! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Petry. – Nächster Kollege: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grüne Woche eröffnet heute, eine Leistungsschau für die Landwirtschaft, eine Verbrauchermesse auch für Essen und Trinken. Das wissen die Menschen in Berlin und der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Essen ist mehr als die Aufnahme von Nahrungsmitteln. Essen kann und muss auch Genuss sein. Essen kann und sollte Erlebnis sein. Und Essen kann und muss man auch lernen. Deswegen würde ich uns raten, noch einmal einen besonderen Blick auf die Mensen in den Kindertagesstätten und Schulen zu werfen. Dazu gehört auch, dass Kinder in den Mensen der Schulen nicht abgewiesen werden, wenn die Eltern zum Beispiel das Geld nicht überwiesen haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({0}) Aus meiner Sicht darf gute Ernährung generell, aber besonders bei Schülerinnen und Schülern nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Deswegen sollten wir alle miteinander nicht nur darüber nachdenken, ob Verpflegung in Schulen und Kitas mehrwertsteuerfrei oder weitestgehend mehrwertsteuerbefreit sein sollte, sondern darüber, ob sie kostenlos sein sollte, meine Damen und Herren. ({1}) Generell ist es nicht einfach, sich gesund zu ernähren. Selbst wenn einem bewusst ist, dass zu viel Zucker, Salz oder Fett ungesund sind, kann man sich noch lange nicht einfach gesund ernähren, weil es keine transparente Kennzeichnung der Lebensmittel gibt. Deshalb, glaube ich, kommen wir um die Lebensmittelampel nicht herum. Schauen Sie sich in der Welt um: Ganz viele Länder haben eine transparente Ampelkennzeichnung, und der Untergang des Abendlandes ist dadurch nicht eingeläutet. Mir will einfach nicht einleuchten, welches Argument dagegen spricht, die Menschen auf einen Blick darüber zu informieren, ob ein Lebensmittel zu viel oder zu wenig Zucker enthält. ({2}) Zucker, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat übrigens viele Namen: Saccharose, Dextrose, Dicksaft, Glukose, Maltose, Fruktose, Laktose – das sind nur ein paar ausgewählte Namen. Man muss sich das mal vorstellen: Man kann Zucker nicht nur in Lebensmitteln verstecken, sondern man kann auch den Begriff verstecken. Man ahnt einfach nicht, was man mit einem vermeintlich gesunden Frühstück mit Müsli, Frühstücksflocken, Smoothie und Joghurt zu sich nimmt. Damit hat man letzten Endes schon das empfohlene Tagesvolumen an Zucker aufgenommen. Das Problem ist nicht, dass man sich ungesund ernähren möchte, sondern dass man nicht erkennen kann, dass man es tut. ({3}) Es kann auch nicht im Interesse der Landwirtschaft sein, dass die hochwertigen Produkte, die die Bäuerinnen und Bauern jeden Tag anbauen und erzeugen, mit Zucker zugekleistert werden. In Deutschland verbrauchen die Menschen – das ist Fakt – nun mal doppelt so viel Zucker, wie die Weltgesundheitsorganisation uns empfiehlt, und von Fett und Salz will ich da gar nicht erst reden. Die Undurchsichtigkeit bei den Lebensmitteln muss jetzt endlich ein Ende haben. Fehlernährung macht nämlich nicht nur keinen Spaß, sie reduziert auch die Lebenserwartung. Fehlernährung ist für die Gesellschaft sehr, sehr teuer. Mehr als das Doppelte der EEG-Umlage kostet Fehlernährung im Jahr – das muss man an dieser Stelle auch mal sagen. ({4}) Meine Mutter sagte früher, als ich noch Kind war, zu mir: An Zucker sparen, grundverkehrt, weil Zucker doch den Körper nährt. ({5}) Heute müsste es eigentlich anders heißen: Zucker essen, grundverkehrt, weil zu viel Zucker fehlernährt. ({6}) Heute, in dieser Debatte, wollen wir auch eine Diskussion über den Wert der Lebensmittel miteinander führen, also über den Wert der Mittel, die zum Leben notwendig und wertzuschätzen sind. Die Lebensmittelverschwendung in Deutschland ist aus meiner Sicht unverantwortlich. ({7}) Ein Drittel der Lebensmittel, die produziert werden, werden nicht verbraucht, sondern vernichtet. Ich glaube, dass das kein angemessener Umgang mit den Produkten der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland ist, ({8}) ganz zu schweigen vom Wasserverbrauch und vom CO 2 -Ausstoß, der damit verbunden ist. Wir haben im Koalitionsvertrag dazu was geschrieben, Frau Ministerin, nämlich: „Wir wollen dazu beitragen, … die Lebensmittelverschwendung einzudämmen.“ Ich glaube, dass wir das noch engagierter angehen können. Vielleicht sollten wir auch den Mut haben, alle miteinander mal darüber nachzudenken, ob der Lebensmitteleinzelhandel nicht auch verpflichtet werden sollte, überjährige Lebensmittel für karitative Zwecke abzugeben. Ich halte das für eine gute Idee. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einem Antrag, der uns vorliegt, macht man sich Sorgen, dass nur die Deutschen zu dick werden. Die anderen vorliegenden Anträge sind in großen Teilen deckungsgleich. Vielleicht ist das auch eine gute Grundlage, politische Scharmützel zur Seite zu legen und mal zu gucken, ob wir nicht alle miteinander das Gleiche wollen. Mit gutem Willen bekommen die demokratischen Parteien im Hause einen interfraktionellen Kompromiss hin. Oder, wie man in Ostfriesland sagt: De Brügg för’t Tosamenkomen heet Tomöötkomen. – Mit anderen Worten: Die Brücke der Begegnung heißt Entgegenkommen. – In dieser Sache ist es unsere Mühe allemal wert. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Saathoff. Ich habe schon auf Ihren plattdeutschen Satz gewartet, aber er ist ja gekommen. Ich habe gedacht, Sie sagen das, was Ihre Mama gesagt hat, in Ihrer eigenen Sprache. – Nächste Rednerin: Nicole Bauer für die FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend beginnt die Grüne Woche, die ihresgleichen sucht. In den verschiedenen Hallen gibt es Leckereien aus unterschiedlichen Regionen der Welt, und wir können die neuesten Food-Trends ausprobieren. Aber im Gegensatz zu Craft Beer, Superfood und Fake-Fleisch gar nicht en vogue sind die alarmierenden Zahlen zu Fehlernährung, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die allesamt auf eine ungesunde Lebensweise zurückzuführen sind. Liebe Fraktion der Grünen, Sie haben es richtig erkannt und haben auch einige Probleme aufgeführt. Nur: Was Sie vorschlagen, ist mal wieder regulatorisch und lenkend. Wir kennen das von Ihnen. Ich sage dazu nur: Veggieday. Gestalten statt Verbieten – das sollte die Devise sein; denn wir sind die Vertreter unseres Volkes und nicht dessen Erzieher. ({0}) Wir müssen anfangen, Wissen über eine gesündere Lebensweise in unserer Gesellschaft zu verankern; aber das schaffen wir nur über Kitas und Schulen. Gemeinsam mit den Bundesländern sollten wir eine Strategie erarbeiten, wie wir das Thema „Gesundheit und Ernährung“ besser bespielen können; denn Kinder übernehmen nun mal die meisten Verhaltensweisen ihrer Eltern – ob sie Wasser oder Spezi trinken, ob sie Fertigprodukte oder doch Frischgekochtes auf den Tisch bekommen. Genau deshalb sollten wir bei den Erwachsenen ansetzen und dafür Bewusstsein schaffen. Wir sehen doch alle, dass Handlungsbedarf herrscht, entweder im näheren Umfeld oder in der gesamten Gesellschaft. Der Verbraucher möchte beim Einkaufen gerne eine Kennzeichnung von Lebensmitteln haben. Aber aus unserer Sicht ist die Ampel der falsche Weg. Was wir uns stattdessen vorstellen können, sind Nährwerttabellen, die optisch ansprechend, intuitiv verständlich und alltagstauglich in Diagramme übergeführt werden. Sinnvolle Initiativen der Wirtschaft sollten wir auch nicht kleinreden, sondern eigentlich unterstützen. ({1}) Wichtig ist mir dabei die Wertschätzung unserer Lebensmittel im Allgemeinen, vor allem aber die Regionalität. Denn nein, unser Obst wächst nun mal nicht im Regal des Supermarktes. Daher sollten wir auch nicht immer unsere Landwirte an den Pranger stellen, die uns tagtäglich hochwertige Lebensmittel zur Verfügung stellen. Es wird – da muss ich Ihnen recht geben – noch viel zu viel weggeworfen. Deshalb ist es auch wichtig, dazu sinnvollere Initiativen auf Bundesebene zu finden. Die Nationale Reduktionstrategie der Bundesregierung für Zucker, Fett und Salz ist gut und recht, aber sie ist kein ganzheitlicher Ansatz. Es wird auch immer mehr Müll dadurch erzeugt, dass weniger Inhalt in den Verpackungen ist, und es fehlt nun mal ein dezidierter Zeitplan. Denn wenn wir tatsächlich Zucker und Fette reduzieren wollen, brauchen wir Zeit für den Umstellungsprozess. ({2}) Stattdessen ist es ein guter Weg, unsere Lebensweise umzustellen. Dazu gehören eine ausgewogene Ernährung, mehr Bewegung, mehr Schlaf und weniger Stress. So kann der Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten gewonnen werden. Deshalb: Lassen Sie uns bei uns anfangen. Lassen Sie uns gemeinsam unseren eigenen Schweinehund überwinden. Packen wir es also an: Gestalten statt Regulieren. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicole Bauer. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Kees de Vries für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kees Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004435, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Milchbauer und damit als Erzeuger auch Ihrer Nahrungsmittel freue ich mich sehr, dass ich gerade heute, am Eröffnungstag der weltweit größten Leistungsschau der Land- und Ernährungswirtschaft, zu diesem Thema hier im Deutschen Bundestag sprechen darf. Ich will mit einem großen Dankeschön an alle Bäuerinnen und Bauern anfangen, die es uns überhaupt möglich machen, dass wir uns heute so kritisch mit unserer Ernährung auseinandersetzen. Das kann sich nämlich nur eine Gesellschaft leisten, die sich sicher ist, sich jeden Tag mit allem, was man begehren kann – und dies bei einer überschaubaren finanziellen Belastung –, versorgen zu können. ({0}) Dass das noch nicht so lange selbstverständlich ist, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung bestätigen. In meiner Jugend hatten meine Eltern mit ihrem kleinen Bauernhof und zwölf Kindern nicht die Möglichkeit, uns das vorzusetzen, was wir gerne hätten. Wir haben das gegessen, was vorhanden war – manchmal auch das, was Gemüsebauern uns wegen Überproduktion als Kuhfutter zur Verfügung gestellt haben. Zum Glück ist das heute dank moderner Landwirtschaft alles anders. Wir haben in Deutschland eine enorme Vielfalt an hochwertigen Lebensmitteln. Und das führt zu unserem Problem. Dieser Wohlstand verführt zu einer zu guten Ernährung – der aufmerksame Zuhörer kann es gerade am Redner feststellen –, was in Kombination mit zu wenig Bewegung und dem Essen verkehrter Produkte gesundheitliche Störungen hervorrufen kann. Da gleichzeitig viele Menschen kaum noch selber Basisprodukte verarbeiten, ist auch viel Wissen über ausgewogene Ernährung verloren gegangen. Wir sind schon so weit gekommen, dass für viele das Mindesthaltbarkeitsdatum das Kriterium ist, ob ein Produkt noch konsumiert werden kann. ({1}) Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir Methoden finden wollen, um dem Verbraucher zu helfen, sich gesund zu ernähren, ({2}) wobei ich schon der Meinung bin, dass der Mensch auch eine eigene Verantwortung hat. Das heißt: Wir wollen keine Ge- oder Verbotsregelungen, nur eine Hilfestellung. Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben: Transparenz und Information für Verbraucherinnen und Verbraucher soll durch eine verständliche und vergleichbare Lebensmittelkennzeichnung gewährleistet werden, um eine ausgewogene Ernährung zu erleichtern. ({3}) – Mehrere wahrscheinlich, aber unter anderem das steht darin. ({4}) Dafür brauchen wir ein Nährwertkennzeichnungssystem, dessen Informationen der Verbraucher leicht verstehen kann. Nachbarländer wie Belgien oder Frankreich machen es uns vor. Da kann auch der nicht gebildete Verbraucher auf einen Blick, unterstützt durch eine einfach zu lesende fünfstufige Farbskala, erkennen, wie die Nährwertelemente je 100 Gramm zu bewerten sind. ({5}) Dass die Kennzeichnung von Lebensmitteln wichtig ist, ist wohl unumstritten. Noch wichtiger ist es meines Erachtens aber, unseren Kindern bei der Zubereitung und der Einnahme von gemeinsamen Mahlzeiten Wissen über Herkunft und Bedeutung von Lebensmitteln zu vermitteln. Natürlich ist das in erster Linie eine familiäre Angelegenheit. Aber ich habe bei der Kindertafel in meinem Heimatort Zerbst erlebt, dass die Leitung dort versucht, über das Vermitteln von Know-how an Kinder diese dazu zu bringen, ihre Eltern zu motivieren, mal wieder selber eine Mahlzeit zuzubereiten. Die Hoffnung ist, dass die Kinder dann sozusagen ihre Eltern dabei anleiten. Das Beispiel wird nicht pauschal auf bestimmte Gruppen in unserer Gesellschaft zutreffen. Aber gerade diese Menschen gehören doch zu unserer Zielgruppe, über die wir heute diskutieren. Ich habe mich dann auch sehr über erste Kitas gefreut, in denen kindgerechte Küchen eingebaut wurden, um den Kleinen so den Umgang mit Lebensmitteln bewusster zu machen. Hier ist aber noch viel Luft nach oben. Trotzdem: Nur ein solches Wissen kann langfristig flächendeckend dazu beitragen, bewusst mit Lebensmitteln umzugehen. Mit „bewusst“ meine ich an dieser Stelle nicht nur bewusst mit Blick auf die eigene Gesundheit, sondern auch bewusst mit Blick auf die Ressource Nahrungsmittel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen unserer Debatte wurde heute viel über gesunde Produkte und eine sinnvolle Kennzeichnung von Lebensmitteln gesprochen. Man könnte aber fast den Eindruck bekommen, dass die Probleme so groß sind, dass die meisten Nahrungsmittel uns schneller ins Grab bringen, als uns lieb ist. Deshalb ist es mir schon ein Bedürfnis, am heutigen Tag der Eröffnung der Grünen Woche einen Wurstfabrikanten zu zitieren, der folgenden Spruch geprägt hat: In den 50er-Jahren brauchte man 50 Jahre, um sich zu vergiften, heute mindestens 80. ({6}) Liebe Renate Künast, ich frage mich, ob man dann behaupten kann, dass unser Ernährungssystem gescheitert ist. Was ich damit aber eigentlich sagen wollte, ist Folgendes: Die heute angebotenen Lebensmittel, egal ob aus konventioneller Landwirtschaft, aus Biolandwirtschaft oder nicht GVO-frei, sind alle unbedenklich und meistens auch gesund, wenn man sich vernünftig ernährt und alles in Maßen genießt. Ich hoffe, dass diese Debatte dazu beitragen wird, dass der Verbraucher sich dessen bewusst wird, und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kees de Vries. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6441, 19/7033 und 19/7025 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind sicher damit einverstanden. – Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 22. Januar will die Bundeskanzlerin mit Frankreichs Staatschef Macron in Aachen – gewissermaßen unter den Augen Karls des Großen – einen neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag schließen. Eigentlich handelt es sich um zwei Verträge. Ein deutsch-französisches Parlamentsabkommen wurde bereits im November unterzeichnet. Der zweite und eigentliche Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Französischen Republik ist vertraulich. Sein Inhalt wurde der Öffentlichkeit bis jetzt vorenthalten. Erst gestern bekamen ihn die Bundestagsabgeordneten mit einem Vertraulichkeitsvermerk zugeschickt. Über den Grund kann ich nur Vermutungen anstellen: Entweder die Sache ist so belanglos, dass man die Bürger nicht damit traktieren will, oder es gehört inzwischen einfach zum Stil der Regierung, dem Volk gegenüber Diskretion zu wahren. ({0}) Schauen wir nach Frankreich, meine Damen und Herren. Die Proteste der Gelbwesten gegen die Regierung hören nicht auf. Seit Wochen toben Straßenschlachten – und dieses Wort ist wörtlich zu nehmen – zwischen den Demonstranten und der Polizei. Die Protestler sind durchschnittliche Franzosen, keine Feinde der Republik. Die auf zahlreichen Videos bezeugte polizeiliche Gewalt gegen sie ist maßlos. Es gibt inzwischen mindestens zehn Tote, die Zahl der Verletzten liegt im vierstelligen Bereich, ebenso die Zahl der Inhaftierten. Im Nachbarland herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Liebe Kollegen, wollen wir uns doch einmal ausmalen, was hier los wäre, politisch und in unseren Medien, wenn Präsident Orban auf diese Weise gegen Demonstranten vorginge, ({1}) wenn er mit Hartgummigeschossen auf sie schießen ließe und Demonstrationsverbote verhängte. Frau Merkel hat sich auf bemerkenswerte Weise zu den Straßenschlachten geäußert: Die Möglichkeit, zu protestieren, sei Teil der Demokratie, aber das Gewaltmonopol liege beim Staat. ({2}) Die Solidarisierung der Linkspartei mit den Gelbwesten nannte die Kanzlerin skandalös, weil Die Linke sich nicht klar und deutlich von der Gewalt der Demonstranten distanziere. Da sie zu den Übergriffen der Staatsgewalt nichts gesagt hat, dürfen wir sie so verstehen, dass die Bundeskanzlerin diese Gewalt billigt, weil es Macron ist? Ich hoffe, nicht. Es war immer die Linie unserer Partei, dass wir uns nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen wollen, ({3}) aber wir haben es hier mit einem Partner zu tun, mit dem die Regierung die Zusammenarbeit nicht bloß vertiefen, sondern mit dem sie praktisch eins werden will. Deutschland und Frankreich sollen mit dem Vertrag eine EU der zwei Geschwindigkeiten eröffnen, eine Art Super-EU innerhalb der EU bilden. ({4}) Eine deutsch-französische Sonderbeziehung wird uns allerdings von den anderen Europäern entfremden und genau jenen europäischen Gedanken torpedieren, den Frau Merkel und Herr Macron und auch die Union immer so innig beschwören. ({5}) Wenn es nach den Enthusiasten dieser deutsch-französischen Verbrüderung geht, wird bald nichts mehr unsere Länder trennen. Aber wie vertieft man die Verbindungen zu einem Land, das selber dermaßen uneins und gespalten ist, zu einem Land, das die Regeln der Demokratie außer Kraft setzen muss, um die Opposition zu bekämpfen? Mehr als die Hälfte der Franzosen unterstützt laut Umfragen die Gelbwesten. Mit welchem Teil Frankreichs verhandeln wir eigentlich? ({6}) Herr Macron erinnert mich ein wenig an Michail Gorbatschow Anfang 1991: im Ausland umschwärmt, und daheim bricht ihm seine Macht unter den Füßen weg. ({7}) Seine hochherzigen europapolitischen Visionen scheitern bereits vor den Türen des Élysée-Palastes. Ich sagte, dass wir uns nicht in die inneren Angelegenheiten anderer einmischen werden, aber das gilt natürlich auch für den umgekehrten Fall. Wir wollen uns nicht von Herrn Macron, der sein eigenes Land offensichtlich nicht in Ordnung bringen kann, Visionen über die Zukunft unseres Landes aufdrängen lassen, ({8}) die aus seiner Sicht bloß auf finanzielle Unterstützung hinauslaufen. ({9}) Als Populisten bestehen wir darauf, dass sich jeder zuerst um seinen eigenen Laden kümmert, aber wir wollen nicht, dass Macron ihn mit deutschem Geld renoviert. ({10}) Meine Damen und Herren, in Aachen verhandeln zwei Staatschefs, die ahnen, dass diese EU in dieser Form zerfallen wird. Es kann sein, dass auf französischer Seite jemand unterzeichnet, dessen politische Karriere bald Vergangenheit ist. ({11}) Die Franzosen waren schon immer schneller als wir. Ich bedanke mich. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Jürgen Hardt. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gauweiler – – ({0}) – Ich glaube, es weiß jeder, wer gemeint ist. – Herr Gauland, wenn diese erste Rede in der Aktuellen Stunde eine Begründung dafür liefern sollte, dass wir diese Aktuelle Stunde brauchen, so hat mich das absolut nicht überzeugt. ({1}) Ich glaube, Sie haben nach den breit gesäten Irrungen und Wirrungen des Parteitags der AfD zu Europa das Bedürfnis, das alte Ressentiment gegen Europa auch hier im Bundestag zu bedienen. Das ist Ihnen mit Ihrer Rede allerdings nicht gelungen. Ich möchte mich gerne der deutsch-französischen Freundschaft widmen und meiner Freude Ausdruck verleihen, dass wir am 22. Januar in Aachen die Unterzeichnung des Anschlussvertrages an den Élysée-Vertrag erleben und damit ein neues Kapitel in der deutsch-französischen Freundschaft aufschlagen. ({2}) Der Aachener Vertrag atmet ebenso wie sein Vorgängervertrag, der Élysée-Vertrag, die Einheit Europas und die Verpflichtung Frankreichs und Deutschlands zu dieser Einheit. Es wird in diesem Vertrag zum Beispiel ausdrücklich betont, ({3}) dass die Einheit, die Leistungsfähigkeit und der Zusammenhalt Europas durch Deutschland und Frankreich gefördert werden sollen und dass diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich zugleich allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union offensteht. ({4}) – Ich habe daraus zitiert. – Damit ist klargemacht, dass dieser Vertrag eben keinen deutsch-französischen Sonderweg in Europa markiert, sondern im Gegenteil durch ihn der deutsch-französische Motor der Europäischen Union weiter am Laufen gehalten werden soll, als wichtiger Impulsgeber für die Weiterentwicklung der Europäischen Union, ({5}) genauso wie es beim Élysée-Vertrag war. Und auch in den Sitzungen des Rates der Europäischen Union erleben wir stets, dass, wenn ein Problem auf dem Tisch liegt, der Blick vieler Staats- und Regierungschefs zuallererst zum französischen Staatspräsidenten und zur deutschen Bundeskanzlerin geht, so nach dem Motto: Habt ihr eine Idee, wie wir das Problem in den Griff kriegen? Ich finde, es ist wichtig, dass Deutschland und Frankreich in der europäischen Frage die gleiche Sprache sprechen und gemeinsam vorangehen. Es ist genauso wichtig, dass die Regierungen von Frankreich und Deutschland den engen und vertrauensvollen Zusammenhalt mit anderen, insbesondere den kleineren EU-Mitgliedstaaten pflegen. Es ist ein Markenzeichen der deutschen Europapolitik, dass die deutsche Bundeskanzlerin und die deutschen Minister insbesondere in außen- und europapolitischen Fragen den engen Schulterschluss mit den anderen europäischen Nationen suchen. Was im Europäischen Rat verhandelt wird, wird eben nicht nur zwischen den großen, sondern auch mit vielen kleinen Staaten vorbesprochen. Ich bin Mitte Dezember in Litauen gewesen. Die Staatspräsidentin von Litauen, Frau Grybauskaite, hat sich ausdrücklich sehr lobend geäußert, nicht nur über das deutsche Engagement in Litauen mit Blick auf die Verteidigung des Landes – die Bundeswehr hat ja die Führung des Bataillons im Rahmen von Enhanced Forward Presence in Litauen übernommen –, sondern eben auch mit Blick auf die europapolitische Zusammenarbeit. Der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Aachener Vertrag, wie wir ihn wohl nennen werden, beinhaltet zum Beispiel eine ganze Reihe von Projekten im deutsch-französischen Grenzgebiet, etwa zur Zusammenarbeit im Bereich der Bildungseinrichtungen, zur Zusammenarbeit bei der Kinderbetreuung und der Kinderbildung, zur Zusammenarbeit bei der Notfallversorgung von Menschen, die im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Frankreich in Schwierigkeiten geraten. Hierzu soll es Modellprojekte geben, die von den beiden Regierungen massiv gefördert werden. Es ist ausdrücklich vorgesehen, dass diese Modellprojekte, in denen die grenzübergreifende deutsch-französische Zusammenarbeit für die Menschen im Alltag erlebbar wird, als Vorbild für die Zusammenarbeit zwischen anderen EU-Staaten innerhalb der Europäischen Union dienen sollen. Wenn Sie so wollen, ist die deutsch-französische Freundschaft – so verstehe ich den Vertrag von Aachen – sozusagen das Labor, in dem weitere Formen der europäischen Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erprobt und weiterentwickelt werden können. Ein Stück weit bringen wir auf diese Art und Weise die europäische Idee voran, im Kleinen, wenn es um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit geht, wie im Großen, wenn es um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geht. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ein weites Feld, über das wir hier im Deutschen Bundestag noch viel mehr reden sollten; denn wir werden die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Inneren und nach außen nur sicherstellen können, wenn wir der Europäischen Union in den nächsten Jahren den Baustein hinzufügen, der zu einer Union wie der Europäischen Union eigentlich von Anfang an dazugehört, nämlich die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich danke Ihnen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Michael Link. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sieht man mal vom polemischen Titel dieser Aktuellen Stunde ab, sprechen wir heute über ein positives Thema, über ein Zukunftsthema: Deutschlands und Frankreichs Beitrag zur Europäischen Union. Das ist eine ganz aktuelle Frage; denn gerade erst haben der Bundestag und die Assemblée nationale ein Abkommen verhandelt. Unsere Häuser werden bald so eng zusammenarbeiten wie nie zuvor, eine Zusammenarbeit, die europaweit und darüber hinaus neue Maßstäbe setzen wird. Austausch und Zusammenarbeit und vor allem das Sich-gegenseitig-Zuhören, das brauchen wir gerade jetzt, wo die politischen Ränder simple Feindbilder, rhetorische Enthemmungen und aggressiven Nationalismus vorantreiben. ({0}) Just in dieser Zeit wird in Aachen ein weiterer Vertrag unterzeichnet, der Aachener Vertrag, die Ergänzung des Élysée-Vertrages, ein Vertrag, in dem Deutschland und Frankreich sich verpflichten, ihre enge Freundschaft zum Wohle, zur Weiterentwicklung der EU einzusetzen, nicht autistisch, nein, zur Weiterentwicklung der EU. Und das tun sie immer ausdrücklich verbunden mit der Einladung an alle anderen Mitgliedstaaten der EU. Dabei geht es um große Themen wie die Außen- und Sicherheitspolitik. Aber man sagt nicht umsonst, dass Großes im Kleinen entsteht. Deshalb stärkt auch jedes neue Glasfaserkabel, das über die deutsch-französische Grenze gelegt wird, das digitale, das fortschrittliche, das vernetzte Europa. ({1}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das ein Sonderweg ist, dass zwei Staaten andere zur engen Kooperation einladen und sich für eine starke, eine geeinte EU einsetzen, dann wünsche ich mir mehr von diesen Sonderwegen. ({2}) Oder ist es für die extreme Rechte hier im Haus ein Sonderweg, wenn zwei Staaten Meinungsverschiedenheiten friedlich austragen, Energien bündeln, gemeinsam handeln? Ist der Alleingang für Sie etwa der neue Normalfall? ({3}) Offensichtlich ja. Damit fällt auch die letzte bildungsbürgerliche Maske. Sichtbar wird der ebenso aggressive wie letztlich hilflose Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. ({4}) Zurück zu Aachen. Man muss deutlich kritisieren, wie die Planungen der Regierung zu diesem besonderen Tag verlaufen sind. Der Staatsminister im Kanzleramt und der Außenminister haben sich gestern in der Regierungsbefragung nicht mit Ruhm bekleckert. Dass sie nun den Parlamentariern und der engagierten Arbeitsebene in den Ministerien den Schwarzen Peter dafür zuschieben wollen, dass es wegen der gleichzeitigen Terminierung nicht möglich war, das Parlamentsabkommen gleichzeitig hier im Parlament zu unterzeichnen, macht den Zwischenfall nicht besser. Kolleginnen und Kollegen, 1963, als Deutschland und Frankreich mit dem Élysée-Vertrag ein neues Kapitel der europäischen Einigung aufgeschlagen haben, wurde, wenn man den Mitgliedern der äußersten Rechten glauben möchte, ein Sonderweg beschritten. Ja, es stimmt. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle waren die Architekten eines Sonderweges, den es so über Jahrhunderte nicht gegeben hat. Der Weg hin zu einer deutsch-französischen Aussöhnung war ein Sonderweg des Friedens und der Chancen für Europa. Der große Staatsmann de Gaulle wird ja leider viel zu oft von rechts außen vereinnahmt. Deshalb muss man das einmal klarstellen und sagen, was er wirklich gesagt hat. 1964 zum Beispiel sagte de Gaulle in einer großen Rede ausdrücklich, dass es nicht verboten sei, sich vorzustellen und zu hoffen, dass eines Tages – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – die Völker unseres alten Kontinents ein Einziges bilden werden und es dann vielleicht eine Regierung Europas geben kann. ({5}) Meine Damen und Herren, das ist Charles de Gaulle: ein Vordenker für die deutsch-französische Zusammenarbeit, für ein Europa in Frieden. Natürlich bedauern wir – das kann man in diesen Tagen nicht auslassen –, dass Großbritannien aus der Europäischen Union aussteigen will. Das ist ein Sonderweg. Der Brexit ist ein Sonderweg, der übrigens beiden schadet. Er erinnert uns daran, dass wir im Haus Europa noch viel zu tun haben. Konstruktionsfehler eines Hauses löst man aber nicht, indem man auszieht, sondern indem man zum Werkzeugkasten greift. Genau das tun Frankreich und Deutschland mit diesen beiden neuen Verträgen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Link. – Nächste Rednerin: Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme aus dem Pfälzer Wald. Mein Wahlkreis liegt direkt an der französischen Grenze. Ich kann mich sehr gut erinnern an viele Geschichten, die mir meine Großmutter erzählt hat, die von dem Umstand erzählen, als sie für die Soldaten tagtäglich Kartoffeln schälen musste, jeden Tag von morgens bis abends. Sie können sich sicher alle vorstellen, wie schwierig damals, direkt nach dem Krieg, das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Franzosen war. Das Misstrauen war groß. Aber heute ist das anders. Aus Kriegsgegnern wurden befreundete Nachbarn. Man trifft sich regelmäßig beim Dorffest, bei Kulturveranstaltungen, im Theater oder im deutsch-französischen Kindergarten, um die Kinder abzuholen. Dass diese Menschen wieder zueinanderfanden, das ist natürlich ihrer Offenheit, ihrer Zugewandtheit zu verdanken, aber auch einer Politik, die mit den richtigen Weichenstellungen das Fundament dafür schuf. So ist und war der Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 ein ganz entscheidender Schritt. Was folgte, war eine vertiefte Zusammenarbeit der Regierungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Kultur- und Jugendpolitik. Dieses Abkommen war nie eine Konkurrenz gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten der EU. Ganz im Gegenteil: Es festigte die deutsch-französische Achse und machte sie zum Antriebsmotor für die gesamte Europäische Union. Nächsten Dienstag, erneut am 22. Januar, werden wir ein weiteres Kapitel aufschlagen. Die Spitzen beider Regierungen werden durch den Aachener Vertrag ihre Arbeit erneut manifestieren und vertiefen. Ich sage auch: Im März werden wir noch einen weiteren Schritt gehen. Erstmals werden wir auch mit dem Parlamentsabkommen dafür sorgen, dass Parlamente in Deutschland und Frankreich künftig enger zusammenarbeiten können. Was bedeutet das genau für uns? Mindestens zweimal im Jahr werden deutsche und französische Parlamentarier über wichtige politische Themenfelder sprechen, mit dem Ziel, gleichlautende Beschlüsse an ihre Parlamente zu geben. Unser Ziel ist es, voneinander zu lernen und gemeinsam besser voranzukommen. Das bedeutet aber auch, dass wir künftig in der Grenzregion noch enger und wirksamer zusammenarbeiten können, und zwar mit Vertretern aller politischen Ebenen: Bund, Land, Kommunen – auf der französischen und der deutschen Seite. Als Abgeordnete der Südwestpfalz direkt an der französischen Grenze bin ich sehr froh über diesen Umstand, weil ich spüre und weiß, was das für die Menschen vor Ort bedeuten wird. ({0}) Kolleginnen und Kollegen von der AfD, wenn Sie diesem Abkommen nicht zustimmen mit der Behauptung oder dem Vorwand, damit würden die Rechte des Bundestages beschnitten, dann will ich Ihnen sagen: Wir reden hier über Empfehlungen, die Parlamentarier für ihre Parlamente erarbeiten und die sie zu Hause einbringen wollen. Selbstverständlich wird das letzte Entscheidungsrecht beim Deutschen Bundestag bleiben. Man muss kein Jurist sein, um das zu verstehen. Sie wollen nicht, wie Sie sagen, die Verfassung schützen. Ihnen geht es um Abschottung. Da kann ich nur sagen: Gut, dass es die SPD gibt! ({1}) Wir stehen zu unseren französischen Freunden, und wir stehen zu Europa. Uns ist im Gegensatz zu Ihnen klar, dass wir die drängendsten Fragen unserer Zeit nicht alleine lösen können. Das Klima zu schützen, uns global wettbewerbsfähig zu halten, Sicherheit, ({2}) den digitalen Wandel nach unseren Werten zu gestalten: All das geht nur Seit’ an Seit’ mit unseren französischen Freunden, eingebettet in eine starke Europäische Union. ({3}) Mit diesem Abkommen gehen wir keinen Sonderweg, wie Sie ganz rechts außen sagen und uns vorwerfen. Es ist ein besonderer Weg, ein verantwortungsvoller und unverzichtbarer Weg. Wer dieses Abkommen ablehnt, spielt mit dem Wohl heutiger und künftiger Generationen. ({4}) Wir von der SPD-Fraktion sagen Ja. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Es ist ein bisschen unklar, was die AfD mit der heutigen Aktuellen Stunde eigentlich will; denn unter dem Titel kann man sich ja vieles vorstellen. Herr Gauland, Sie hatten am Wochenende Ihren Europaparteitag. Wenn man über den Zustand der Europäischen Union diskutiert, dann sollte man klar zum Ausdruck bringen – Sie haben heute hier die Antwort leider nicht gegeben –: Warum kandidiert denn eigentlich die AfD bei der Wahl des Europäischen Parlaments, wenn man gleichzeitig beschließt, das Europäische Parlament abschaffen zu wollen? ({0}) Sie gehen doch auch nicht in ein Restaurant, in dem Ihnen das Essen nicht schmeckt. ({1}) Wollen Sie nur das Geld mitnehmen? Wollen Sie nur die Diäten mitnehmen? Wer das Europäische Parlament abschaffen will, sollte aufhören, hier Aktuelle Stunden über Europa zu beantragen. ({2}) Ja, die Europäische Union ist in einer tiefen Krise. Der Brexit hat das, glaube ich, noch einmal zum Ausdruck gebracht. Deshalb muss man sich schon Gedanken machen, wie es mit dieser Europäischen Union weitergehen soll. Ich sage aber auch in Richtung der CDU/CSU: Wer einen EU-Kommissionspräsidenten – er kann auch aus Deutschland sein – will, der mit Viktor Orban zusammenarbeitet: So einen brauchen wir an der Spitze der EU-Kommission nicht. ({3}) Was ist denn nun eigentlich der nächste Schritt? Wer mit Viktor Orban auf europäischer Ebene zusammenarbeitet, der ist nicht mehr weit davon entfernt, auch in Deutschland Koalitionen mit der AfD zu bilden. ({4}) Es besteht kein Unterschied zwischen dem, was Viktor Orban in Ungarn macht, und den Positionen, die wir hier aus dem Hause immer wieder hören. ({5}) Deshalb wäre es eigentlich notwendig, dass Sie vor der Europawahl deutlich machen, dass dieser Viktor Orban mit seiner Partei aus Ihrer europäischen Parteifamilie austritt. Wer das nicht tut, wird den Rechten leider den Weg bereiten. ({6}) Wir Linke im Bundestag begrüßen es, dass die Parlamente von Deutschland und Frankreich ihre Partnerschaft vertiefen. Ja, ich glaube, das könnte Impulse geben, wenn es darum geht, wie man die europäischen Standards verbessern kann, etwa bei Mindestlöhnen oder auch bei der Mindestbesteuerung von Konzernen, bei der digitalen Infrastruktur, dem ökologischen Umbau der Wirtschaft, der Abrüstung oder Entspannungspolitik mit anderen Ländern. Das wären alles schöne Themen, die man zwischen unseren Parlamenten diskutieren kann. Wir werden uns auch in den parlamentarischen Versammlungen über die Kontakte in den Ausschüssen mit unseren französischen Kollegen auf genau solche Themen verständigen. Das Problem ist aber – das sage ich auch ganz deutlich –: Den Aachener Vertrag, den Nachfolgevertrag des Élysée-Vertrags, werden wir Linke ablehnen; ({7}) denn man hat überhaupt nicht verstanden, warum Europa in einer tiefen Krise ist. ({8}) Da steht zum Beispiel in der Präambel etwas vom Bestreben in Richtung auf eine soziale und wirtschaftliche Aufwärtskonvergenz. Aber wenn man sich dann den Vertrag anschaut, dann sieht man: Da steht über soziale Politik überhaupt nichts. Man hat überhaupt nicht verstanden, was notwendig wäre, um in Europa den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Ein großes Kapitel aber ist das Thema „Aufrüstung, gemeinsame Verteidigung, Auslandseinsätze“ usw. Wer das Friedensprojekt Europa immer wieder in Sonntagsreden betont, sollte aufhören, das Gegenteil in einen Vertrag hineinzuschreiben. ({9}) Alleine aus diesem Grund können wir diesen Vertrag nicht mittragen. Wir sagen auch ganz deutlich: All diejenigen, die zwischen den Zeilen immer wieder von einer deutsch-französischen Sicherheitspartnerschaft tönen, auch für gemeinsame Einsätze zur Verteidigung, stellen damit den Parlamentsvorbehalt infrage. Wir Linke werden alles dafür tun, dass der Parlamentsvorbehalt in Deutschland erhalten bleibt. Wir haben eine Parlamentsarmee. Wir werden alles tun, damit sie nicht infrage gestellt wird. ({10}) Die von Bundeskanzlerin Merkel und Macron im Aachener Vertrag beanspruchte Führungsrolle für die weitere Entwicklung der EU zielt jedoch in die falsche Richtung und wird auch zu Spaltungen in anderen Ländern führen. Ich glaube, das, was wir brauchen, ist, dass die Länder, die nach dem Austritt Großbritanniens noch Mitglied der Europäischen Union sind, zusammenarbeiten. Ich weiß nicht, ob sich Deutschland und Frankreich Gedanken darüber gemacht haben, mit Ländern wie Malta oder Luxemburg oder Portugal oder Spanien zu reden und zu fragen, was diese Länder darüber denken, dass man hier wieder einen Sonderweg gehen will, dass Frankreich und Deutschland vorschreiben wollen, wohin sich die Europäische Union entwickeln sollte. Bei aller Partnerschaft mit Frankreich wird die Linke dafür sorgen, dass wir keinen Deut weniger mit anderen Partnerländern der Europäischen Union zusammenarbeiten; denn die EU wird nur gelingen, wenn jeder seine Rechte und seine Möglichkeiten hat, nicht nur Deutschland und Frankreich. ({11}) Ich komme zum Schluss. Leider ist auch der Aachener Vertrag keine Antwort auf die soziale Krise. Wie gesagt – ich habe es erwähnt –, wir werden Europa nur retten können, wenn wir einen Neustart organisieren. Wir brauchen ein solidarisches Europa. Wir brauchen Impulse für den sozialen Zusammenhalt. Es ist ja nicht von ungefähr so, dass in Frankreich so viele Menschen auf die Straße gehen. Weil es auch Herr Gauland angesprochen hat: Ja, wir solidarisieren uns mit dem sozialen Protest in Frankreich. ({12}) Wer gegen Lohnabbau und Sozialabbau ist, weil Hartz IV und die Agenda 2010 auch in Frankreich eingeführt werden sollen, der hat dann, wenn er auf die Straße geht, unsere Solidarität. ({13}) Aber natürlich distanzieren wir uns, wenn derjenige dafür Gewalt instrumentalisiert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Achten Sie bitte auf die Redezeit.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber grundsätzlich ist das, was die Gelbwesten an sozialem Protest auf die Straße bringen, vollkommen richtig. ({0}) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dass sich die AfD mit dieser Aktuellen Stunde plötzlich um den Zustand der EU sorgt, ist schon wirklich zynisch: Seit Jahren macht die AfD nichts anderes, als an der Zerstörung Europas zu arbeiten. ({0}) Gerade haben Sie das ja wieder auf Ihrem Parteitag beschlossen: Sie wollen das Europaparlament abschaffen, raus aus der EU, aus dem Euro – so oder so. Heute Morgen haben Sie wieder falsche Infos über angeblich 60 000 europäische Beamte verbreitet, haben behauptet, einen Kommissar könnte man nicht abwählen, ({1}) und wollen gleichzeitig das einzige Gremium, das den Kommissar abwählen kann, nämlich das Europäische Parlament, abschaffen. Da kann ich nur sagen: Mehr Absurdität und Zerstörungswut findet man in diesem Hause nirgends. ({2}) Und jetzt kommen Sie wieder mit Ihrem Unterschied, den Sie immer machen, zwischen Europa und der Europäischen Union. ({3}) Europa ist ein Kontinent, eine geografische Einheit – da kann man nicht dafür oder dagegen sein, das ist eine geografische Gegebenheit. Aber es gibt ein politisches europäisches Projekt der Integration. ({4}) Gegen das kann man sein – oder dafür sein. Sie haben sich eindeutig dagegen entschieden, und das ist es, worauf es ankommt. ({5}) In diesen Tagen sehen wir an Großbritannien, in welches Chaos ein EU-Austritt ein Land führen kann. ({6}) In Großbritannien herrscht Angst, Chaos vor dem No-­Deal. ({7}) Und das schauen Sie, liebe AfD, sich an und sagen: Klasse, das wollen wir auch. – Anders kann man Ihre Forderungen nach einem Austritt aus der EU ja nicht verstehen. ({8}) Übrigens: Ich wollte mir Ihr Europawahlprogramm mal im Detail anschauen. Leider ist es nicht online verfügbar. Schade, dass Sie der Bevölkerung überhaupt nicht zur Verfügung stellen, wofür Sie in Europa eigentlich konkret sind. Wenn wir jetzt über Deutschland und Frankreich reden – Sie bezeichnen das als deutsch-französischen Sonderweg –, ({9}) dann kann ich nur sagen: Wer nicht versteht, dass die deutsch-französischen Beziehungen das Rückgrat des Friedens in Europa sind, ({10}) der will eben Europa zerstören – wie Sie. ({11}) Die deutsch-französische Aussöhnung ist die Grundlage der europäischen Integration und unseres Friedens auf diesem Kontinent. Wenn wir das nicht weiter stärken und voranbringen, dann wird eben auch Europa geschwächt. Seien wir mal ganz ehrlich, Herr Ulrich: Wenn der deutsch-französische Motor nicht funktioniert, wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam blockieren, dann gibt es die Beschwerden der anderen europäischen Länder zu Recht. Aber die gleichen beschweren sich häufig auch dann, wenn Deutschland und Frankreich sich einigen und vorausgehen und sagen: Kommt mit! – Bis zu einem gewissen Grad können Deutschland und Frankreich machen, was sie wollen – es wird immer kritisiert. ({12}) Von daher ist es notwendig, dass Deutschland und Frankreich sich einigen. Ich würde eher sagen, das Absurde an diesem Aachener Vertrag ist, dass er die Erwartung eines deutsch-französischen Motors schürt, diese aber gar nicht erfüllt. Das, was wir bis jetzt von dem Aachener Vertrag kennen, ist nämlich sehr enttäuschend. Herr Gauland, Sie haben gesagt, Sie hätten es gestern bekommen. Ich habe nachgeschaut: Herr Kleinwächter aus Ihrer Fraktion hat es am 9. Januar wie alle anderen erhalten. Also hören Sie auf, hier irgendwelche Lügen zu verbreiten, dass Sie das noch nicht rechtzeitig erhalten hätten! ({13}) Der Aachener Vertrag, wie gesagt, macht leider nichts aus den Mehrheiten, die wir hier im Januar letzten Jahres geschaffen hatten. Wir hatten eine Resolution: zusammen – Bundestag, Assemblée nationale – ambitioniert für Europa. Ich sage nur: Harmonisierung der Unternehmensteuer, gemeinsamer Vorschlag für eine CO 2 -Bepreisung, soziale Standards. Nichts davon findet sich wieder in diesem Aachener Vertrag. Es ist schade, dass die Regierung aus den Mehrheiten, die es ja gab, nichts gemacht hat. ({14}) Das ist wirklich ein Versagen – und das in Zeiten des Brexits und von allem, was wir haben, und der AfD. Das ist einfach unverantwortlich. Wir müssen handlungsfähig werden. Wir müssen es sozialer machen, nachhaltiger machen, demokratischer. Diese Chance haben Sie verpasst. Das ist wirklich unverzeihlich. Schade, dass Sie nichts daraus gemacht haben. ({15}) Zum Schluss. Wissen Sie, Herr Link hat es schon gesagt: Wir hatten den 22. Januar für die Parlamente vorgesehen, das Parlamentsabkommen zu machen, Paris‒Berlin. Und dann kommt kurzfristig die Regierung und sagt: Macht mal Platz, da kommen jetzt wir. – Ich fand das sehr schade. Ich hoffe und zähle darauf, dass wir die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, die wir schaffen, so verankern, dass die Regierung in Zukunft bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht mehr an uns vorbeikommt. Ich danke Ihnen. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ursula Groden-Kranich das Wort. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer heute von einem Sonderweg redet, der hat selbst einen Sonderweg im Kopf; das hat die AfD mit ihrer Debatte um den Dexit gezeigt, das ist der Sonderweg, mit dem sie droht: eine deutsche Variante des Brexit, eine deutsche Variante ins Chaos, ein Ad‑absurdum-Führen der Demokratie. ({0}) Wir konnten uns diese Woche mit dem Blick nach Großbritannien von diesem auf Fake News gegründeten Chaos überzeugen. Alle wissen, wogegen sie sind; aber alle haben vergessen, wofür sie eigentlich stehen. Und dass Sie, Herr Gauland, das Gewaltmonopol des Staates in Ihrer Rede eben besorgniserregend infrage gestellt haben, eint Sie auf sonderbare Weise mit den Linken, die plötzlich auch von einem Sonderweg gesprochen haben. Mit dem neuen Élysée-Vertrag oder Aachener Vertrag gehen wir in die entgegengesetzte Richtung. ({1}) Wir betonen das, was uns in den kommenden Jahren wichtig ist, und entwickeln die guten Beziehungen zu Frankreich weiter. Das ist keine nette Geste zum Jahrestag des Élysée-Vertrags, nein, damit reagieren wir auf die vielen Veränderungen in Politik und Gesellschaft der letzten 56 Jahre. Das machen wir, weil wir die Probleme von heute nicht mit Instrumenten von gestern oder vorgestern lösen wollen. Es ist nicht so, wie die AfD uns weismachen will, dass früher alles besser, einfacher und harmonischer gewesen wäre. Das sage ich auch an dem Tag, an dem wir hier im Deutschen Bundestag 100 Jahre Frauenwahlrecht begehen. Nur wenige Parlamente auf der ganzen Welt arbeiten so eng miteinander wie der Deutsche Bundestag und die Assemblée nationale. Das ist vor dem Hintergrund der sogenannten deutsch-französischen Erbfeindschaft etwas Besonderes, das es zu bewahren und weiterzuentwickeln gilt. Mit dem vorliegenden Parlamentsabkommen und dem Aachener Vertrag nähern sich Deutschland und Frankreich auf wichtigen Politikfeldern weiter an – ein gutes Signal in Zeiten der Spaltung und von Nationalismen; ({2}) denn die Themenbereiche „Umwelt und Energie“ machen vor Grenzen nicht halt und müssen genauso weiterentwickelt werden wie die Herausforderungen, vor denen wir in Fragen unserer Sicherheit im In- und Ausland stehen, und das große Feld der Bildung und Forschung. Unser besonderes Augenmerk gilt dem Herzensthema unserer deutsch-französischen Arbeitsgruppe: der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Uns ist es wichtig, die deutsch-französischen Beziehungen auf der Grundlage von Parlamentsabkommen und Vertrag in den nächsten Jahren mit Leben zu erfüllen. Es geht darum, voneinander zu lernen und nicht nur Höflichkeiten auszutauschen. Wir haben aufeinander gehört, miteinander gerungen, länder- und parteiübergreifend, um unsere deutsch-französische Zusammenarbeit zu verbessern und beispielgebend auch für die Zusammenarbeit mit anderen Ländern zu sein. Das vorliegende Vertragswerk hält die Zusammenarbeit in alle Richtungen offen: zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Parlament – weil alle gefordert sind, sich zu beteiligen. Mehr noch, der Aachener Vertrag ist ausdrücklich darauf ausgerichtet, die Zusammenarbeit mit allen anderen Staaten zu stärken. ({3}) Wenn sich ein Projekt in einer deutsch-französischen Grenzregion bewährt hat, warum sollte es nicht auf andere Grenzregionen übertragen werden können? Das ist beispielgebend. Wer mit Vertretern anderer europäischer Staaten spricht, wie zum Beispiel Vertretern der nordischen Staaten, der weiß um das Interesse an genau dieser Zusammenarbeit, an der trotz Brexit auch die Briten interessiert sind. Und wer käme bei den nordischen Ländern, die in Berlin mit den Nordischen Botschaften – alle Länder in einem Haus – vertreten sind, auf die Idee, von einem Sonderweg zu sprechen! Ganz im Gegenteil, wir freuen uns über die enge Zusammenarbeit dieser Länder. Gestern im EU-Ausschuss wollte die AfD den Eindruck erwecken, dass die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung gegen die Verfassung verstößt, weil sie angeblich durch Beschlussfassung das Parlament umgeht. Mein Eindruck ist, dass Sie gar nicht verstehen wollen, wie dieses parlamentarische Verfahren funktioniert. ({4}) Wenn man sich die Schlagzeilen ansieht, die Sie in den letzten Tagen produziert haben, bekommt man zusätzlich den Eindruck, dass das weder Zufall noch Interesse ist. Wir brauchen eine starke Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, einen starken Multilateralismus, ein Regelwerk, das wir gemeinsam ausarbeiten und an dem wir gemeinsam weiterarbeiten. Wir bauen die europäische Zukunft und leben die deutsch-französische Freundschaft. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben Sie mir zu Beginn bitte einen persönlichen Einschub. Meine Mutter feiert heute ihren 70. Geburtstag. Alles, alles Gute zum Geburtstag, liebe Mama! ({0}) Eine Art von Geburtstag erwartet uns am 22. Januar. Der Élysée-Vertrag, ein großes Werk des Friedens, der Freundschaft und der Nichteinmischung, wurde 1963, vor 56 Jahren, unterzeichnet. Doch das Geburtstagsgeschenk, das Merkel und Macron hier abliefern, ist vergiftet. Es soll ein Parlamentsabkommen geben und einen Regierungsvertrag. Beide sollten ursprünglich am 22. Januar in Berlin und Paris unterschrieben bzw. ratifiziert werden. Doch Merkel und Macron beschlossen in völliger Missachtung der Parlamente, den Regierungsvertrag mal eben so im Krönungssaal in Aachen zu unterzeichnen. ({1}) Die Ortswahl? Macrons Idee. Der Vertrag? Macrons Idee. Die Zielsetzung? Macrons Idee. Seine Idee einer vertieften Europäischen Union –Deutschland zahlt, Frankreich schafft an – soll mit aller Vehemenz durchgesetzt werden. ({2}) Merkel macht natürlich mit. Da gibt es mal wieder einen falschen Zug, und jeder falsche Zug, der kommt, wird von der schwarz-roten Koalition genutzt, um aufzuspringen und in die falsche Richtung zu fahren. ({3}) Denn wahrlich: Diese Vorstellung einer Europäischen Union, die Macron hat, ist eine, von der sich mittlerweile alle abwenden und die die EU noch weiter spalten wird. ({4}) Die Franzosen wenden sich ab. Die anderen europäischen Länder wenden sich ab. Deswegen ist dieser Regierungsvertrag auch keine ehrliche Einladung. Die Osteuropäer wollen Merkels Migranten nicht und dulden keine Einmischung in ihre nationalen Belange. Dänemark kontrolliert die Grenze. Die Südeuropäer kämpfen mit ihren vom Euro verursachten wirtschaftlichen Problemen. In Griechenland ist ein Drittel des Landes dank Euro und Euro-Gruppeninterventionen arm. Zwischen 2008 und 2011 stieg dort die Selbstmordrate um 27 Prozent. Herzlichen Glückwunsch, EU! ({5}) Die Briten haben sich das eine Weile lang angeguckt und gesagt: That’s it. So wenig wie möglich wollen wir noch mit der EU zu tun haben. Wir wollen nicht mehr von diesem Brüssel kontrolliert werden. – Wir können sie verstehen. ({6}) Doch seit die Briten aus dieser sogenannten Gemeinschaft austreten wollen, werden sie wie ein ehemaliges Sektenmitglied behandelt, ({7}) das man wahlweise schmäht, bekämpft oder zu unterdrücken versucht. Den demokratischen Wünschen der Länder setzt man nun diesen deutsch-französischen Regierungsvertrag entgegen, der am 22. Januar unterzeichnet werden soll und am 17. Januar, heute, noch Verschlusssache ist. Ja, Frau Dr. Brantner, wir haben den bekommen, aber als Verschlusssache, über die wir nicht reden dürfen. Ist das – das frage ich die Bundesregierung – Demokratie? Ist das eine vertiefte Argumentation? Steffen Seibert, der Regierungssprecher, eierte in der Pressekonferenz der Bundesregierung herum, ({8}) weil er keine Argumente hat, weil er das Warum nicht beantworten kann. Den Topgrund plauderte Staatsminister Roth gestern aus. Der Vertrag diene dazu, sagte er, Nationalisten und Populisten ein für alle Mal die Stirn zu bieten. ({9}) Genau, man entmachtet die nationale Willensbildung, damit der Wille des ach so bösen Volkes nichts mehr zählt. Ganz toll! ({10}) Der Populist ist ohnehin das Modefeindbild der politischen Elite. Was Sie aber endlich mal verstehen sollten, ist: Der Populist ist der hart arbeitende Mensch, die Mittelschicht, die sich nicht mehr vertreten fühlt. „Wir haben wirklich gute Jobs, aber wir wissen nicht mehr, wie wir davon mit unseren zwei Kindern leben sollen.“ Das sagte eine Gelbwestenvertreterin der Zeitung „Le Monde“. Daher erheben sich die Menschen in ganz Europa. Ob es sich jetzt um Hartz-IV-Montagsdemos, Occupy, Pegida, Brexit-Befürworter, Gelbwesten oder „Zukunft Heimat“ – Grüße an Christoph Berndt in diesem Zusammenhang – handelt: Ihr Feindbild ist die tragende Säule der Gesellschaft, die entkernt wird und merkt, dass es nicht mehr geht. Die EU hat durch ihre Umverteilungspolitik, der Euro hat durch seine Nullzinsen- und Abwertungspolitik Wohnen unbezahlbar, Arbeit billig, Löhne wertlos, das Volk machtlos und die Mittelschicht mittellos gemacht. In dieser Situation diese EU vertiefen zu wollen, ist genau das Falsche. ({11}) Merkel und Macron schaden Deutschland, Frankreich und der EU, wenn sie den Vertrag unterzeichnen. Kanzlerin Merkel, Président Macron, Sie sind nicht die Könige von Europa. Sie beide haben keine Zukunft. Der Regierungsvertrag hat keine Zukunft. Sie würden uns allen einen großen Dienst erweisen, wenn Sie im Krönungssaal zu Aachen gemeinsam den Hut nehmen würden. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Nils Schmid für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war jetzt eher ein Auftritt für die „heute-show“. ({0}) Ich möchte erst einmal mit der neuesten Verschwörungstheorie der AfD aufräumen. Dass dieser Vertragsentwurf mit „Vertraulich“ gekennzeichnet ist, hat einen ganz einfachen Grund: Es ist die Rücksichtnahme auf Formalien der französischen Seite. ({1}) Solange ein Kabinettsbeschluss nicht vorliegt und solange der französische Präsident diesen nicht unterzeichnet hat, ist es vertraulich. Ich glaube, das sollten auch wir als Deutscher Bundestag respektieren. ({2}) Sobald das geschehen ist, ist das nicht mehr vertraulich. So einfach ist die Welt. Da brauchen wir keine Verschwörungstheorien. Vielmehr müssen wir uns an die Verfahren in Deutschland und Frankreich halten, und gerade diejenigen, die die Verfassung und den Rechtsstaat hochhalten, sollten auch das respektieren. ({3}) Das Zweite ist: Der Vertrag beschreibt keinen deutsch-französischen Sonderweg. ({4}) In dem Vertrag – Kollege Hardt hat darauf hingewiesen – ist ausdrücklich festgehalten, dass das Ziel einer deutsch-französischen Zusammenarbeit eine starke Europäische Union ist und dass dieser Vertrag für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen ist. Ich sage noch ein Weiteres dazu: Auch die Wahl der Stadt Aachen als Ort der Unterzeichnung dieses Vertrags unterstreicht die europäische Dimension. Denn Aachen ist nicht nur die Stadt der Krönung von Karl dem Großen. Vielmehr ist Aachen auch die Stadt, die seit 1950 den Karlspreis verleiht, und zwar ausdrücklich für Verdienste um Europa und die europäische Einigung. Damit ist die Wahl dieses Ortes zugleich ein Bekenntnis dafür, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit die europäische Einigung stützt und stärkt, meine Damen und Herren. ({5}) Wenn wir nach Deutschland und nach Frankreich schauen, dann sehen wir auch, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit inzwischen tief verankert ist, dass der europäische Geist in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist und dass sie nicht als Widerspruch zur europäischen Einigung gesehen wird. In diesem Zusammenhang erwähne ich eine aktuelle Umfrage des französischen Instituts IFOP, im Rahmen derer die französische Bevölkerung im Dezember des letzten Jahres zu den deutsch-französischen Beziehungen repräsentativ befragt worden ist. Wesentliche Aussagen dieser Umfrage waren: 84 Prozent der Franzosen haben ein gutes Bild von Deutschland, sie attestieren Deutschland ein positives Image. Dieses ausgesprochen gute Bild von Deutschland ist ein Ergebnis der europäischen Einigung und der deutsch-französischen Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten. Eine Frage war – und jetzt wird es spannend –: Welches Land engagiert sich am meisten, um die europäische Einigung voranzubringen: Frankreich, Deutschland oder Frankreich und Deutschland zusammen? – Frankreich und Deutschland zusammen, haben 42 Prozent geantwortet. Das heißt, die Mehrheit der Befragten sieht gerade diese deutsch-französische Freundschaft als Schlüssel für die Stärkung der europäischen Einigung. Was wollen wir denn mehr? Das zeigt doch: Das, was wir, Deutsche und Franzosen, die letzten Jahrzehnte aufgebaut haben, ist ein Beitrag zur europäischen Einigung, und der Aachener Vertrag wird das Ganze weiter stärken. Eines will ich sagen, wenn wir über Sonderwege und Sonderbeziehungen reden: Wir sind ausdrücklich offen dafür, dass wir ähnlich enge Formen der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit auch mit den östlichen Nachbarn Deutschlands schaffen – mit Polen, mit der Tschechischen Republik. Auch das ist im Vertrag angelegt. Nichts wünsche ich mir mehr, als dass wir auch mit Polen und Tschechen ähnlich enge Formen der Zusammenarbeit unter dem Dach der Europäischen Union entwickeln. Ich sage Ihnen Folgendes: Es geht hier nicht um die Frage, ob es deutsch-französische Sonderwege gibt, vielmehr geht es darum, ob nicht politische Kräfte von ganz rechts oder ganz links wieder ganz andere deutsche Sonderwege beschreiten wollen, die in der Vergangenheit ins Unglück geführt haben. Genau davor wird uns der Aachener Vertrag bewahren. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Ullrich das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, in dieser Debatte sollte betont werden, dass die deutsch-französische Freundschaft und die deutsch-französische Aussöhnung ein großes historisches Glück sind. Es gehört zu den großen Errungenschaften unserer Geschichte, dass diese Aussöhnung gelingen konnte. ({0}) Ich erinnere daran, dass sich bereits nach der großen Katastrophe des Ersten Weltkriegs mutige und weitsichtige Männer und Frauen an diesem Aussöhnungswerk versucht haben. In den 1920er-Jahren sind dafür auch Friedensnobelpreise verliehen worden: an Buisson und Quidde, an Briand und Stresemann. Doch konnte diese Aussöhnungsarbeit nicht durchdringen, und es kam zu einer noch bittereren Stunde für Europa und für unser Volk. Heute wissen wir, was wir an der deutsch-französischen Aussöhnung haben und welchen Wert sie auch für ein einiges und ein zukunftsträchtiges Europa darstellt. Deswegen sagen wir: Die Fortschreibung des Élysée-Vertrags, der Vertrag von Aachen, ist eine gute Stunde nicht nur für Deutschland und für Frankreich, sondern auch für Europa, weil wir enger zusammenrücken und das Signal aussenden, dass weitere Themen in Europa nur gemeinsam bewältigt werden können. ({1}) Wenn man sich die Reden vergegenwärtigt, die von dieser Seite des Hauses gehalten worden sind, dann bleibt hängen, dass Sie, Herr Kollege Kleinwächter, sagen: Deutschland zahlt, Frankreich schafft an. Dieser Vertrag entmachtet die nationale Willensbildung. – Das sind schlichtweg falsche Behauptungen. ({2}) Das Interessante ist, dass es übrigens auch auf der anderen Seite des Rheins, in Frankreich, von den dortigen Populisten ähnliche Behauptungen gibt. Ein Europaabgeordneter namens Bernard Monot hat in einem mittlerweile gelöschten YouTube-Video behauptet – es ist ein Abgeordneter, der früher beim Front National war und jetzt bei der rechtsextremen Splittergruppe Debout La France ist –, dieser Vertrag sei ein Verrat an der französischen Nation. Er nennt Macron einen Judas, und er behauptet, dass durch den Aachener Vertrag Deutsch im Elsass und in Lothringen Amtssprache wird – völlig falsche Behauptungen. ({3}) Aber daran sieht man einfach, wie Populisten arbeiten, und das sollten wir einmal herausarbeiten: Sie stellen gegen besseres Wissen falsche Behauptungen auf. Sie arbeiten mit der Lüge und machen den Menschen Angst. Ich sage Ihnen ehrlich: Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir entlarven Ihre Lügen und Ihren Populismus. ({4}) Es geht darum, dass Europa enger zusammenrücken kann. Die Eurodistrikte, grenzüberschreitende Räume der Zusammenarbeit, stehen für ein wichtiges Anliegen, wenn es darum geht, Politik im Kleinen zu gestalten. Wenn mittlerweile eine Straßenbahn von Straßburg nach Kehl fährt, dorthin, wo es vor 30 oder 40 Jahren noch lange Grenzkontrollen gab, dann muss sich das doch auch in der gemeinsamen Verwaltung widerspiegeln, in Regelungen, die ermöglichen, dass in diesen Grenzregionen Menschen stärker zusammenrücken ({5}) und dass durch dieses Zusammenrücken auch ein Gefühl der Gemeinsamkeit entsteht. Das ist übrigens auch die Blaupause für andere Regionen in Europa. Es gibt viele Grenzregionen, und wir wollen, dass diese Grenzregionen in den Köpfen verschwinden und dass sich die Menschen als geeint verstehen und ihre Nachbarn, auch wenn es vielleicht Sprachdifferenzen gibt, als gemeinsam zugehörig zu diesem Europa verstehen. Deswegen ist es wichtig, dass auch in dem neuen Vertrag, dem Aachener Vertrag, beispielsweise geregelt wird, dass wir sehr viel mehr Wert darauf legen, die Sprache des Nachbarn zu lernen. Nur wer die Sprache des Nachbarn kann und sich verständigen kann, der kann sich auch noch tiefer in ihn hineinversetzen. Ich sage Ihnen ehrlich: Wir setzen Ihrer Missachtung von demokratischen Strukturen und Ihrer Missachtung von Europa die Dynamik für Europa entgegen. ({6}) Wir wissen, dass in einem geeinten Europa die deutsch-französische Zusammenarbeit der Motor und das Rückgrat sein können. Die AfD ist die Partei, die das Europaparlament, die einzig direkt gewählte demokratische Organisation der Europäischen Union, ({7}) abschaffen wollen. Sie diskutieren über den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union. Sie wollen unser Land in ein Chaos führen, und Sie wollen weniger Wohlstand, weniger Frieden und weniger Sicherheit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir werden deutlich machen, dass Ihr Weg ein Irrweg ist, der Deutschland und Europa in die Krise führen wird. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Christian Petry für die SPD-Fraktion. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutsch-Französischer Vertrag, Weiterentwicklung des Élysée-Vertrages, Élysée 2.0, Vertrag von Aachen – so heißt er jetzt –: Dieser Vertrag könnte genauso gut einen anderen Namen tragen, wie zum Beispiel Vertrag von Bergedorf. Damit wären die Hamburger in den Titel aufgenommen. Es ist also ein Vertrag für alle Deutschen und für alle Franzosen, und ich glaube, es ist gut so, dass wir heute und hier – obwohl die AfD diese Aktuelle Stunde beantragt hat – das Positive darstellen können. Es ist doch ein Tag der Freude, ein Glück. Ich komme aus der Grenzregion Deutschland/Frankreich, aus dem Saarland. Ich bin unwahrscheinlich froh, dass Menschen in meinem Lebensalter ein Europa in Frieden und Sicherheit erlebt haben. Mein Vater und mein Großvater, meine Mutter und meine Großmutter hatten dieses Glück nicht. Dieses Glück macht mich stolz, und es macht mich stolz, in diesem Parlament daran mitarbeiten zu dürfen, dass wir diese Beziehung weiterentwickeln, dass wir sie stabilisieren, dass wir sie festigen. Das ist doch ein Tag der Freude. ({0}) Den Rednern der AfD möchte ich nur sagen: Wir sind hier im Jahr 2019. Das hier ist Deutschland, und wir sind in Berlin. Der eine oder andere von Ihnen hat das irgendwie verwechselt. Die Verträge, die wir hier haben, bringen uns natürlich weiter. ({1}) Franziska Brantner, ich muss sagen: Natürlich ist die Ökologie mit drin im Vertrag – vorne. Man muss nur nachlesen. Die Klimaschutzziele sind mit drin. Es sind der faire Handel, die faire Steuerpolitik mit drin. Man sollte nicht den Eindruck erwecken, all das sei nicht Bestandteil des Vertrages. Man kann alles noch genauer erklären; das ist ganz klar. Ich finde, dass es sich lohnt, um soziale Aufwärtstrends beider Länder zu ringen, die Infrastruktur zusammenzubringen, auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die Wirtschaftsräume stärker aneinander zu bringen, die Zusammenarbeit der Polizei zu stärken und in den Bereichen Medien und Kultur stärker zusammenzuarbeiten. Dies wird mit einer Projektliste belegt, die sehr konkret ist. Darin können die Bürgerinnen und Bürger beider Länder unmittelbar sehen, dass das nicht nur schöne Sätze sind, sondern dass sie mit Projekten, Maßnahmen und tatsächlich mit einem deutlichen Mehrwert für alle, die in einem der beiden Länder wohnen, versehen sind. Darauf können wir stolz sein. Das ist eine große Leistung, und das ist etwas, was für andere durchaus Vorbild sein kann. Das wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich glaube, dass wir über die Lebensdauer des Vertrags von Aachen – der Vorgängervertrag ist jetzt 56 Jahre alt; es ist also ein wegweisender, sehr lang laufender Vertrag – es schaffen werden, mit vielen positiven Impulsen die Zusammenarbeit und das Zusammenwachsen unserer Länder voranzubringen. Das Mitwirken am Parlamentsabkommen – ich möchte hier ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen danken, die das positiv betreut haben, auch dem Präsidenten, Wolfgang Schäuble, der uns beim Vorankommen dieses Abkommens sehr unterstützt hat – ist für mich persönlich die interessante Arbeit in meinem bisherigen Parlamentsleben gewesen. Wir haben sehr vertrauensvoll mit den Kollegen aus Frankreich unter dem Vorsitz von Herrn Jung – das war sehr gut gemacht –, Frau Thillaye und Herrn Arend aus Frankreich zusammengearbeitet. Wir haben zusammen etwas geschaffen, an dem wir auch in den nächsten Jahren weiterarbeiten können. Wir können etwas Neues, und zwar etwas Wegweisendes, in einem Konzil gemeinsam erarbeiten und Vorschläge für unsere Länder erarbeiten. Das wünsche ich mir geradezu auch mit anderen Staaten: Wir können miteinander arbeiten, bis wir zusammen das Große und Ganze haben. Das ist doch etwas sehr Positives; so sollten wir dies auch benennen. Das bringt uns weiter, das bringt die Menschen in unserem Land weiter. Darauf können wir alle sehr stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wenn man jetzt – wie auf der rechten Seite unseres Hauses – das alles schlechtreden will, dann kann man das machen. Das ist Wahltaktik. Auch die heutige Aktuelle Stunde dient ja offensichtlich nur dazu, irgendwelche Bilder von Angriffen der demokratischen Parteien zu bekommen. Das ist langweilig. Aber man sollte klarstellen: Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes können in der Europawahl mit darüber entscheiden – ein großes Gut –, ({4}) dass nicht die Lautsprecher und die Vereinfacher, vielfach die Lügner, Europa künftig gestalten, sondern die Demokraten, ({5}) die Europa stabil und friedlich halten und es weiterbringen; das wünsche ich mir. Dafür treten wir alle gemeinsam als Demokraten ein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde auf Verlangen der AfD zum Zustand der Europäischen Union – da muss ich Ihnen sagen: Wir waren alle relativ erwartungsfroh und uns über die Fraktionen hinweg eigentlich gar nicht so klar darüber, was uns heute erwartet. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben wir bekommen? Wir haben eine große Melange bekommen aus einer Solidarisierung mit dem Protest der Gelbwesten in Frankreich, aus einer Kritik am deutsch-französischen Parlamentsabkommen und am Regierungsabkommen und schließlich eine große Allgemeinkritik an der Europäischen Union. ({1}) Ich will Ihnen deutlich sagen: In allen drei Punkten haben Sie heute mächtig danebengegriffen. ({2}) Das fing schon mit den Ausführungen zum Thema Gelbwesten an. Herr Gauland, ich habe gedacht, Sie sind die tolle Partei des Rechtsstaates und des Gewaltmonopols. Und dann kritisieren Sie die Bundeskanzlerin hier dafür, dass sie mit Blick auf die Ausschreitungen in Frankreich gesagt hat, dass es natürlich darum geht, das Gewaltmonopol des Staates zu sichern. Ich sage Ihnen eines: Wenn es um Demonstranten geht, die sich gegen geltendes Recht hinwegsetzen, dann sind die Gelbwestenproteste in Frankreich, wenn sie gewaltbereit sind, nicht besser als die Proteste von G‑20-Demonstranten in Hamburg. Und das hätten Sie als Rechtsstaatspartei hier so auch benennen können. ({3}) Es geht weiter mit der Kritik, die Sie an dem deutsch-französischen Parlamentsabkommen üben. Wir müssen hier vielleicht differenzieren und sehen: Es geht um zwei Abkommen. Zum einen geht es um das deutsch-französische Parlamentsabkommen, das hier ausgehandelt wurde, auch mit Vertretern der AfD. Herr Kleinwächter, Sie waren bei den Verhandlungen dabei. Ich habe gehört, Sie hätten sich heute mehr ereifert als Sie sich in den Sitzungen eingebracht hätten. In jedem Fall muss man sehen: Das Parlamentsabkommen wäre genau das Thema gewesen, mit dem Sie sich wirkungsvoll hätten auseinandersetzen können. Stattdessen kritisieren Sie hier das Abkommen, das die Regierungen aushandeln, um das es zum anderen geht. Konzentrieren Sie sich doch lieber auf die Aufgaben, die Sie als Parlamentarier auch wahrnehmen können. ({4}) Hier ist Öffentlichkeit da. Hier haben Sie sich nicht eingebracht. Das wäre die Chance gewesen. Ein Aspekt kommt noch dazu: Sie kritisieren, dass das deutsch-französische Regierungsabkommen noch Verschlusssache, nur für den Dienstgebrauch ist. Woran liegt das? Ich kann Ihnen eines sagen: Das sind übliche völkerrechtliche Usancen. Herr Gauland, Sie waren einmal Chef der Staatskanzlei in Hessen. Sie wissen: Die deutschen Länder sind auch an der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge beteiligt. Ich glaube, Sie werden sich nicht an einen Moment in Ihrer Amtszeit erinnern, an dem es vorkam, dass ein völkerrechtlicher Vertrag vor dem Prozess der Ratifikation in den Parlamenten öffentlich war. Das ist gute völkerrechtliche parlamentarische Übung. Deswegen kann man nur sagen: Messen Sie hier nicht mit zweierlei Maß! ({5}) Wir werden uns hier im Parlament noch mit dem Ratifikationsprozess des deutsch-französischen Regierungsabkommens beschäftigen. Wir werden es hier im Parlament diskutieren, so wie es üblich ist. Dann können Sie die Kritik auch anbringen. Das, was Sie hier machen, ist nur Teil einer allgemeinen Strategie, Stimmung gegen die Europäische Union zu verbreiten. Das lassen wir nicht zu. ({6}) Ich will Ihnen noch eines sagen: Wir haben dieser Tage von vielen AfD-Vertretern in allen Debatten, auch in den Debatten zum Brexit, den besonders schlauen Satz gehört, den die AfD immer wieder wiederholt: „Die Europäische Union – das ist nicht Europa; Europa ist mehr als die Europäische Union.“ ({7}) – Ja, es ist gut, dass Sie klatschen, aber Sie müssen uns nicht belehren; das wissen wir auch selbst. ({8}) Das Verhältnis, das Sie zur Europäischen Union haben, ist ein mächtig schiefes. Das ist dem Grunde nach auf einem Stand des Grundgesetzes, der 30 Jahre alt ist. Denn völlig klar ist: Für den deutschen Verfassungsstaat sind Europa und die Europäische Union eben nicht unverbunden, sondern die Europäische Union ist für uns auch im Hinblick auf das Staatsziel, wie es in der Verfassung steht, zentrale Triebfeder für den europäischen Integrationsprozess. Ich kann hier nur sagen: Ein Blick in die Verfassung schadet nie. Artikel 23 des Grundgesetzes sollten Sie sich mal anschauen: Zur Verwirklichung eines vereinten Europas – da kommt Ihr Europa vor – wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit ... Das ist für uns der entscheidende Punkt. ({9}) Die Europäische Union dient der Verwirklichung des vereinten Europas. Dabei geht es nicht darum, Hoheitsrechte abzutreten. Das, was Sie behaupten, stimmt schlicht nicht. ({10}) Jetzt wird dieser Tage viel darüber diskutiert, ob und inwieweit der Verfassungsschutz die AfD beobachtet. Das ist nicht Gegenstand. Ich sage Ihnen: Was Ihnen helfen würde, ist, ab und an die Entwicklung der Verfassung zu beobachten. ({11}) Dann würden Sie sehen: Da spielt die Europäische Union heutzutage eine ganz andere Rolle – wir bekennen uns zu dieser. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum dritten Mal hat die Bundesregierung den Rat für Nachhaltige Entwicklung beauftragt, einen Peer Review umzusetzen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sich von außen betrachten, begutachten zu lassen. Was wollen wir damit erreichen? Wir wollen damit Transparenz und Ambitionen erhöhen. Gleichzeitig können wir auch Vorbild für andere Länder sein, die im Prozess sind, die UN-Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Die Expertinnen und Experten des Peer Reviews kommen 2018 zu folgendem Fazit: Wir sind mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie schon sehr gut, aber – natürlich – können wir noch ehrgeiziger werden. Wir sind international Vorreiter, wir haben eine Verankerung in vielen Sektoren, Institutionen und Prozessen; wir haben intellektuelles, technisches und wirtschaftliches Potenzial für den wirklich nachhaltigen Umbau unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung hat mit ihrem Beschluss zur Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie im Dezember 2018 auch noch einmal bekräftigt: Die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung muss zu einem Kompass für alle Politikfelder werden – neben der Entwicklungs- und Umweltpolitik natürlich auch für die Innen- und Migrationspolitik und die Wirtschafts- und Innovationspolitik. Wir sind schon weit gekommen, in ganz unterschiedlichen Bereichen: Wir haben noch bessere Prozesse der Abstimmung, Kooperation und Beteiligung möglichst vieler gesellschaftlicher Akteure implementiert; wir haben die Managementregeln ausgebaut, nach denen alle Ressorts Nachhaltigkeit voranbringen. Bei der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung beginnen wir, in zwei Bereichen aktiv zu werden: beim Anteil der beschafften Papiere mit dem Blauer-Engel-Label und bei der Fahrzeugflotte. Jetzt denken Sie nicht, dass wir bisher nur in diesen Bereichen nachhaltig tätig sind, aber man muss es in den Zusammenhang mit Indikatoren und dem setzen, was man messen kann. Das wollte ich nur einbetten. Das sind nicht die einzigen Felder, auf denen die Bundesregierung nachhaltig tätig ist. Im Zeitraum von 1990 bis 2017 hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien wesentlich erhöht, von 3,4 auf 36 Prozent – die neuesten Zahlen liegen bei 40 Prozent. Damit haben wir das Ziel, den Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2020 auf 35 Prozent zu erhöhen, schon jetzt erreicht. Mit der Entwicklung des IT-Tools zur elektronischen Nachhaltigkeitsprüfung durch das BMI gemeinsam mit den Ressorts wurde die Qualität der Gesetzesprüfungen auf Nachhaltigkeit verbessert. Und bei der Verbesserung unserer Gesamtrohstoffproduktion sind wir auch auf einem guten Weg, sodass wir nach allen statistischen Trendberechnungen das Ziel bis 2030 auch erreichen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße ausdrücklich, dass der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung erneut zum Peer Review Stellung nimmt. Ich habe mich auch gefreut, dass einige Kolleginnen und Kollegen im vergangenen Jahr mit nach New York gereist und beim HLPF, dem Hochrangigen Politforum, dabei waren; sie kamen nicht nur aus dem Umweltbereich oder der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch aus anderen Ausschüssen. Das macht noch einmal deutlich: Wir brauchen den Rückenwind der Parlamentarier. Das wird auch insgesamt gut angenommen, auch von der UN. Wie gesagt: Wir brauchen aus allen Politikfeldern die Rückendeckung des Parlaments. Trotz aller internationaler Anerkennung der Nachhaltigkeitspolitik Deutschlands ist ein Fazit des Beirats natürlich auch: Die Wertschätzung erfährt die nationale Nachhaltigkeitspolitik vor allem in der einschlägigen Szene. Wir haben nur noch knapp zwölf Jahre. Wir müssen unser Tempo etwas beschleunigen, um diese Ziele umzusetzen. Wir haben im Koalitionsvertrag auch einiges verankert. Wir haben zum Beispiel das Insektenschutzprogramm auf den Weg gebracht. Wir haben gerade die UN-Klimakonferenz in Katowice hinter uns, und der Gesetzentwurf für ein Klimaschutzgesetz ist auch in den Startlöchern. Wir haben die Strukturwandelkommission, mit der wir auch zeigen können, wie wir eine Transformation nachhaltig voranbringen können. Deshalb ist mir wichtig, zu sagen: Nachhaltigkeit braucht das Zusammenspiel aller – auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Damit können wir tatsächlich Frieden und Gerechtigkeit schaffen. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit, einmal dem Rat für Nachhaltige Entwicklung und einmal dem Parlamentarischen Beirat. Ich setze auf Sie, dass wir die nächsten Jahre Geschwindigkeit aufnehmen, um die SDGs zu implementieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Staatssekretärin, Sie können gerne weiter reden, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie es auf Kosten Ihrer Fraktion tun.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Das war mein letzter Satz. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Werte Gäste! Diese Rede hätte ja schon vor einem Monat gehalten werden sollen, 150 Jahre nach der Geburt von Fritz Haber. Nun ist der Termin für die Rede verschoben worden, ich werde aber zu einem späteren Zeitpunkt auf den Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Breslau zu sprechen kommen, der am 9. Dezember 1868 das Licht der Welt erblickte. Zum Peer Review: Wer sind denn diese sogenannten Peers, die ihre Empfehlungen über die Nachhaltigkeitsstrategie Deutschlands abgegeben haben? „Peer“ bedeutet im englischen Sprachgebrauch so viel wie ein Gleichgestellter, ein Ebenbürtiger. Fragen wir uns: Wem sind diese elf Peers denn eigentlich ebenbürtig? Wem sind sie gleichgestellt? Sind sie es mit den arbeitenden, steuerzahlenden Bürgern Deutschlands? Ein Blick in die Biografien dieser Peers verrät es: Nur wenige haben jemals in der freien Wirtschaft gearbeitet; alle anderen haben in der Politik, in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen eine klassische Bürokratenkarriere hingelegt. Nur eine Minderheit dieser Personen hat jemals die Erfahrung der Bevölkerung dieser Welt geteilt und durch produktive Tätigkeit den Wohlstand oder das Wissen der Welt gemehrt oder deren Leiden gelindert. ({0}) Ebenbürtig sind sie damit selbstverständlich einer anderen Gruppe, die ebenfalls mehrheitlich nicht über diese Erfahrungen verfügt: unserer Bundesregierung. So kommt am Ende doch ein Peer Review zustande, jedoch nicht von denjenigen, die durch ihre Steuerlast den Staat und seine Errungenschaften stützen, sondern von denjenigen, die von der Arbeit anderer leben. Wer, wenn nicht Deutschland? Damit wird die Erwartungshaltung an Deutschland ausgedrückt, in Sachen Nachhaltigkeit vorwegzugehen und den anderen Nationen ein Beispiel zu geben. Der Peer Review stellt dabei die steile These auf: Staaten, deren Regierungen die Chance der sogenannten Nachhaltigkeit nicht ergreifen, würden bezüglich ihrer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, ihres internationalen Ansehens und des Wohlbefindens ihrer Bürger zurückfallen. Dann müssten sich andere Staaten doch geradezu darum reißen, den deutschen Weg zum nachhaltigen Weltenwohl zu übernehmen, um ihren Völkern Zukunft, Wohlstand und Glückseligkeit zu bringen. ({1}) Stattdessen stellen sie sich in ausgesuchter Höflichkeit hintenan und überlassen es Deutschland, diesen Pfad zu beschreiten. Oder geht es doch nur darum – so drückt es der Review aus –, dass es Deutschlands Rolle ist, die nötigen Gelder zur Verfügung zu stellen, um die globale Nachhaltigkeitstransformation zu unterstützen? Des Weiteren bewertet der Review ausschließlich die Vorgaben der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Er berücksichtigt in keiner Weise, ob die inhaltlichen Entscheidungen der Regierung diesen sich selbstgestellten Kriterien gerecht werden. Nehmen wir als Beispiel das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG. Das Sustainable Development Goal Nummer sieben verlangt nach einer verlässlichen und bezahlbaren Stromversorgung für die Gesellschaft. Das EEG führt aber in seiner Ausführung weder zu mehr Verlässlichkeit noch zu preiswertem Strom – ganz im Gegenteil: Durch dieses Gesetz sinken die Verlässlichkeit und die Bezahlbarkeit. Es konterkariert also das Nachhaltigkeitsziel Nummer sieben und – weil wir gerade dabei sind – die Ziele eins, zwei und drei. ({2}) Wir sehen also: Es reicht nicht, nur nach der Existenz von Nachhaltigkeitszielen zu fragen. Man muss auch deren Umsetzung im Blick behalten, sonst kommt man nicht vom theoretischen Elfenbeinturm ins reale Leben. ({3}) Zurück zu Fritz Haber: eine herausragende Figur der Geschichte und dennoch tragisch und kontrovers. Mit dem Problem von Hungersnöten in seiner Heimat konfrontiert, erfand er in der Kaiserzeit das nach ihm und Carl Bosch benannte Verfahren zur Herstellung von Ammoniak unter Verwendung von Luftstickstoff. Für diese Leistung wurde ihm, dem Mann, der Brot aus der Luft erzeugte, 1919 der Chemie-Nobelpreis verliehen. Dieser Entdeckung verdanken heute bis zu 6 Milliarden Menschen ihre Existenz, und sie wird als eine der größten Erfindungen der Menschheit angesehen. ({4}) Mehr Nachhaltigkeit geht wohl nicht. Zu Fritz Habers Zeit gab es noch keine Nachhaltigkeitsziele, sein Handeln war nicht durch theoretische Vorgaben supranationaler Behörden motiviert, sondern durch direkte Notwendigkeit. Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Probleme zu bewältigen, die unsere Bürger ganz real bedrohen, anstatt sich an der Erfüllung von bürokratischen Zielvorstellungen zu beteiligen, wie wohlmeinend sie auch formuliert sein mögen. „Leaving no one behind“, niemanden zurücklassen – dies ist eine Kernaussage der Nachhaltigkeitsziele. Dies gilt aber insbesondere und zuallererst für die deutschen Bürger; denn darauf haben Sie, die Bundesregierung, einen Eid abgelegt. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Der Mensch will immer, daß alles anders wird, und gleichzeitig will er, daß alles beim Alten bleibt. Dieser Satz von Paulo Coelho beschreibt den Zielkonflikt der Nachhaltigkeit ziemlich genau. Auf der einen Seite wissen wir, dass wir anders produzieren müssen und dass wir unseren Lebensstil verändern müssen, wenn wir saubere, bezahlbare und erneuerbare Energie wollen. Auf der anderen Seite merken wir aber auch, wie schwer es ist, auf Wohlstand, zumindest aber auf die Annehmlichkeiten des Alltags zu verzichten. Eigentlich sollte doch alles so bleiben, wie es ist, aber irgendwie auch anders werden. „Nachhaltigkeit“ ist ein Begriff, der manchmal hip und modern ist, manchmal auch etwas sperrig, der aber auch kontrovers und widersprüchlich sein kann. Das wird klar, wenn man zum Beispiel die Diskussion um die E-Autos betrachtet. Ja, wir wollen weg von der klassischen CO 2 -Verbrennungsmaschine. Wenn wir uns aber anschauen, wie zum Beispiel Batterien für E-Autos hergestellt werden, stellen wir fest, dass man nicht sagen kann, dass das heute ein ökologisch sauberer Standard ist. ({0}) Das zeigt den Widerspruch in dieser Debatte. Trotzdem ist es ein großes politisches Versprechen – und wir wollen es einhalten –, Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenzubringen. Anders ausgedrückt: Es stellt sich die Frage, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, in der es fair zugeht und die lebenswert und auch lebensfähig ist. Um diese drei Ziele muss es uns gehen. Die elf Experten, die sogenannten Peers, haben sich Deutschland daraufhin angeschaut und ihr Urteil in eine Frage gefasst. Sie lautet: Wenn es Deutschland nicht schafft, wer dann? Man ist gerade als Christdemokrat geneigt, zu sagen: Wir in Deutschland schaffen das, diese drei Ziele zusammenzubringen. ({1}) Zugegeben: Bei einigen Zielen habe ich mir wenig Sorgen gemacht, ob wir sie erreichen, zum Beispiel, was den Zugang zu sauberem Wasser und zu Wassertoiletten angeht. Das war sicherlich nicht die große Herausforderung für unser Land. Aber natürlich gibt es auch Bereiche, in denen wir noch besser werden müssen. Das gilt etwa beim Thema „CO 2 “ und beim Thema „erneuerbare Energien“, auch wenn wir da mit knapp 40 Prozent einen neuen Rekordstand erreicht haben. Die Frau Staatssekretärin hat das gerade ausgeführt. In vielen anderen Bereichen aber sind wir auf einem sehr guten Weg. Ich nenne als Beispiel das zehnte Ziel der UN, „weniger Ungleichheit“. Deutschland belegt Platz eins beim durchschnittlich verfügbaren Einkommen. Auch beim elften Ziel, „nachhaltige Kommunen“, stellen wir fest: Wir belegen Platz eins bei der Recyclingquote; 63,8 Prozent des kommunalen Mülls werden recycelt. Stichwort „Umwelttechnologie“. Dazu hat das BMU vor kurzem eine Studie herausgegeben, die zeigt, dass der Weltmarktanteil Deutschlands an der Umwelttechnologie bei 14 Prozent liegt, obwohl der Marktanteil der Bundesrepublik Deutschland insgesamt nur bei knapp unter 5 Prozent liegt. 1,5 Millionen Menschen stehen jeden Morgen auf, um für diese Umwelttechnologie, für einen sauberen Planeten, für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Wir verdienen in Deutschland inzwischen jeden fünften Euro mit dieser Technologie. Das zeigt – das ist insbesondere an Sie gerichtet, Herr Dr. Kraft –, dass es hier nicht um eine Utopie geht, sondern um ganz reale Punkte, die unsere Menschen umtreiben und die sie nicht belasten, sondern von denen sie profitieren. ({2}) Die Peers haben uns einige Ratschläge auf den Weg gegeben. Einer davon ist – das freut vielleicht den einen oder anderen in unserem Ausschuss –, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung bräuchte mehr Kompetenz. Er müsste eventuell zu einem Super-Ausschuss werden, in dem wir jedes Gesetz daraufhin prüfen, ob es den Nachhaltigkeitszielen der UN entspricht. Wir wären dann so etwas wie ein Super-Veto-Ausschuss. Ich glaube nicht, dass das richtige Ziel ist; denn die wenigen Wochen, die wir zwischen der ersten und der zweiten und dritten Lesung haben, um ein Gesetz zu prüfen, sind nicht die richtige Zeit, um einen Gesetzentwurf strukturell komplett umzuschmeißen, wenn er den Nachhaltigkeitszielen nicht entspricht. Es kann auch nicht Aufgabe von einigen wenigen Parlamentariern in diesem weiten Rund sein, diese Aufgabe zu übernehmen. Wenn wir wirklich wollen, dass diese Ziele erreicht werden, dann muss jeder Kollege diese Ziele mitdenken, und dann muss die Feder schon entsprechend geführt werden, wenn der Gesetzentwurf geschrieben wird. Das kann nicht erst geschehen, wenn wir schon mitten in der Beratung sind. Wir als Union haben deshalb zwei konkrete Forderungen: Erstens. Lasst es uns doch als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen. Zweitens. Lasst uns doch den Nationalen Kontrollrat dafür nutzen, dieser Aufgabe mit gerecht zu werden. Wir lassen schon die Bürokratiekosten von ihm überprüfen. Warum lassen wir Gesetze nicht auch bezüglich der Nachhaltigkeitsziele durch ihn prüfen? Ich freue mich darauf, dass wir das in den nächsten Wochen und Monaten gemeinsam debattieren werden. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Lukas Köhler das Wort. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist gut für alle. So ähnlich denkt jeder über diesen Begriff, der ihn hört oder liest. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ganz kleinen Moment bitte. Ich halte die Uhr an. – Ich bitte, die Ordnung auf der Besuchertribüne herzustellen. Herr Dr. Köhler, Sie haben das Wort. Die Uhr läuft weiter.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nachhaltigkeit ist gut für alle, und Demokratie sollte gelebt werden; das haben wir gerade gelernt. Ich finde es gut, dass wir uns gemeinsam mit der Bevölkerung auch mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen. Ich glaube, das muss das Leitprinzip unserer Debatte hier im Bundestag sein. Das Ziel, das wir mit dem PBnE, dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, verfolgen, muss sein, das Thema Nachhaltigkeit, die Sustainable Development Goals und die Agenda 2030 mit einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit zu verknüpfen; denn – ich hatte es anfangs erwähnt – Nachhaltigkeit ist gut für alle, Zukunft aber auch. Wir müssen von den Plattitüden wegkommen. Wir müssen darüber diskutieren, was die Zukunft der Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet. Wir müssen darüber diskutieren, welche Punkte wir in Angriff nehmen müssen, was wir aufnehmen müssen. Es ist eine zentrale Aufgabe des Gesetzgebers, die Widersprüche und vor allen Dingen die Zielkonflikte, die in den SDGs und in der Nachhaltigkeitsagenda stecken, aufzugreifen und aufzulösen. Meine Damen und Herren, der Begriff „Nachhaltigkeit“ kommt aus der Forstwirtschaft. Er geht auf Carl von Carlowitz aus Chemnitz zurück. Er hat ihn in einer Situation aufgegriffen, in der der Wald dazu genutzt wurde, wirtschaftliche Erträge zu bringen, aber natürlich weiterhin eine prosperierende Landschaft bleiben sollte. Es stellt sich die Frage, wie viele Bäume heute in Sachsen ohne Carl von Carlowitz noch stehen würden. Unsere zentrale Aufgabe, mit der wir uns als Gesetzgeber beschäftigen müssen, ist es, Widersprüche und Zielkonflikte aufzulösen. Es ist zum Beispiel ein Widerspruch, den globalen Hunger bekämpfen zu wollen und gleichzeitig gegen Grüne Gentechnik zu sein. ({0}) Es ist ein Widerspruch, unsere öffentlichen Haushalte zukunftsfest und enkelfit gestalten zu wollen und in der Rentenpolitik weiter Sozialgeschenke zu verteilen. ({1}) Es ist ein Widerspruch, die Energiepolitik ausstoßfrei denken zu wollen, aber gleichzeitig bei der Kernfusion nicht voranzukommen oder sie ganz abzulehnen. ({2}) Meine Damen und Herren, diese Konflikte sind lösbar. Wir können sie in diesem Haus gemeinsam angehen, und zwar durch kluge Regelsetzung. Gerade als Politik sollten wir der Zivilgesellschaft mehr zutrauen. Wir sollten auch unseren Tüftlern, unseren Ingenieuren und den Erfindern in diesem Land Innovationen ermöglichen, die dazu führen, dass eine nachhaltige und zukunftsgewandte Welt geschaffen wird. ({3}) Um Nachhaltigkeit in ihrem alten Sinn neu zu interpretieren, müssen wir auf moderne Technologien setzen. Dann gewinnen wir Effizienz. ({4}) Die Zukunft der Nachhaltigkeit liegt in der Verbindung von Natur und Technologie. Sie liegt in der Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom CO 2 -Ausstoß. Sie liegt im Geoengineering und im Precision Farming. Sie liegt in der Landwirtschaft, zum Beispiel, indem wir Drohnen und Satellitenbilder nutzen, um den Einsatz von Pestiziden zu verringern. Sie liegt aber nicht nur im Naturschutz. Nachhaltigkeit wirklich zu leben, bedeutet, dass wir das Säulendenken beenden müssen. Das zeigt auch der Peer Review. Das Pariser Klimaabkommen, die SDGs und die Biodiversitätsagenda, die in den anderen Bereichen nicht gelebt wird, müssen zusammengedacht werden. Wir müssen Nachhaltigkeit auch in der Sozialpolitik berücksichtigen. Die 60 Indikatoren, die im Peer Review aufgegriffen werden, helfen uns dabei, zu evaluieren, welche Maßnahmen funktionieren und wohin es mittel- und langfristig gehen kann. Sie sind aber nur der erste Schritt, um eine gemeinsame Nachhaltigkeitsagenda als Leitbegriff zu entwickeln. Wenn wir in unseren Begrifflichkeiten und bei den Zielen und Indikatoren klar sind und diese klug weiterentwickeln, wenn wir Widersprüchlichkeiten beseitigen und technologieoffen und technologiefreundlich sind, dann kommen wir ein gutes Stück bei unserem wichtigsten Nachhaltigkeitsziel, das den SDGs noch vorangeschaltet ist, weiter, nämlich den kommenden Generationen Chancen auf eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Vielen lieben Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Thomas Lutze das Wort. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist sicherlich ein vielsagender Begriff. Die meisten Menschen denken hierbei an etwas Gutes, etwas für die Zukunft oder etwas Notwendiges. Es gibt sicherlich mehrere Definitionen für diesen Begriff, und für jede Definition gibt es noch verschiedene Interpretationen, was man unter Nachhaltigkeit verstehen kann. Genau vor diesem Hintergrund fand ich es gut, dass es im Bundestag einen Beirat für nachhaltige Entwicklungen gibt; denn die Überprüfung von Nachhaltigkeit ist für unser Gesetzgebungsverfahren eine sehr wichtige Aufgabe. ({0}) Heute beraten wir die Stellungnahme des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung zum sogenannten Peer-Bericht. Dieser bewertet die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Ich nutze die Gelegenheit, um auch über die Rolle des Beirats im Parlament zu sprechen. Dazu finden wir richtige Überlegungen in der Stellungnahme des Beirates; denn bisher kann der Beirat über Forderungen und Wünsche aufgrund seiner Stellung im Parlament nicht hinauskommen. So ist der Beirat nur ein beratendes Organ im Gesetzgebungsverfahren. Neue Gesetze werden auf Richtigkeit und Glaubwürdigkeit hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit geprüft. Darüber hinaus kann der Beirat im besten Fall mithelfen, die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung in die richtige Richtung zu lenken. Ob die Bundesregierung sich dann tatsächlich an ihre eigene Nachhaltigkeitsstrategie hält oder sie effektiv umsetzt, ist eine vollkommen andere Frage. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist in 66 Nachhaltigkeitsindikatoren aufgegliedert. 29 davon weisen momentan einen Trend auf, bei dem davon auszugehen ist, dass das Ziel nicht erreicht wird. Besonders in den Feldern Klimaschutz, Erhaltung der Artenvielfalt und Luft- und Wasserverschmutzung zeigt die Politik der Bundesregierung deutliche Defizite. Die Bundesrepublik – das ist schon gesagt worden – bekennt sich zu dem Grundsatz „leaving no one behind“ aus der UN-Agenda 2030. Wir wollen also niemanden zurücklassen. Länder, die zum Beispiel Probleme bei der Finanzierung und Umsetzung des Klimaschutzes haben, sollen unterstützt werden. Allerdings findet dieser Grundsatz keine konkrete Umsetzung in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Das muss sich ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Des Weiteren kritisiert der Peer-Bericht die Ineffektivität des Staatssekretärsausschusses. Dieser ist offenbar kein ausreichendes Gremium, um die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung effektiv umzusetzen. Der Peer-Bericht empfiehlt, dass die Bundesregierung ihre Nachhaltigkeitsstrategie durch ein Maßnahmenprogramm konkretisiert. So sollen ressortspezifische Maßnahmenpläne für jedes Ministerium entwickelt werden. Seit 2009 bin ich Mitglied dieses Parlaments. Ich war acht Jahre im Verkehrsausschuss und im Tourismusausschuss. Seit 2013 habe ich meinen Arbeitsschwerpunkt im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Soweit ich mich erinnern kann, sind die Stichworte „Parlamentarischer Beirat für Nachhaltigkeit“ und „Nachhaltigkeitsprüfung“ noch nie, also in keiner Sitzung dieser Ausschüsse, auch nur ein einziges Mal gefallen. Im Peer-Bericht wird deshalb zu Recht gefordert, den Beirat mit mehr Einflussmöglichkeiten auszustatten. In seiner Stellungnahme macht der Beirat das konkret und fordert zum Beispiel für Beiratsmitglieder ein gesondertes Rederecht in den Ausschüssen. Des Weiteren wäre es sinnvoll, wenn der Beirat in die Geschäftsordnung des Bundestages aufgenommen wird. Das ist bislang nämlich nicht der Fall. Bislang hat der Beirat für nachhaltige Entwicklung keine direkte Einflussmöglichkeit auf das Gesetzgebungsverfahren. Es fehlen Sanktionsmöglichkeiten oder ein Vetorecht. Das wären zumindest Möglichkeiten, auch Öffentlichkeit herzustellen, wenn Fehlentwicklungen der Politik der Bundesregierung zu kritisieren sind. Ohne diese Instrumente hat der Beirat keine Handhabe, innerhalb oder außerhalb des Parlamentes auch nur den geringsten Druck zu erzeugen. Um das zu ändern, gibt es zwei Möglichkeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die erste, vielleicht ungünstigere, ist: Wir lösen den Beirat auf, weil er keinen Einfluss hat. Die zweite Möglichkeit ist: Der Beirat bekommt endlich Kompetenzen wie ein Fachausschuss. Das muss sich ändern, damit diese parlamentarische Arbeit, die notwendig und sinnvoll ist, auch einen parlamentarischen Sinn bekommt. Herzlichen Dank und Glück auf! ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Bettina Hoffmann das Wort. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Wort. Wenn es darum ginge, möglichst häufig diesen Begriff in den Mund zu nehmen, dann wäre unsere Bundesregierung Nachhaltigkeitsweltmeisterin; denn das Wort kommt allein im Koalitionsvertrag 72-mal vor. ({0}) Doch es geht nicht um Worte, es geht um Taten. ({1}) Und dabei steht Deutschland eben nicht so gut da. So, wie die Regierung handelt, wird Deutschland 29 von 66 selbstgesteckten Nachhaltigkeitsindikatoren deutlich verfehlen. Das stellen die Peers in ihrem Bericht fest, und sie betonen, dass weitere grundlegende Veränderungen nötig sind. Lässt man mal die Höflichkeit weg, dann heißt das auf gut Deutsch: Die Bundesregierung schafft es nicht, ihre eigenen Ziele in Taten umzuwandeln. Das bedeutet dann leider für uns: Wir hinterlassen unseren Kindern eine Welt, die weniger friedlich ist, in der das Klima verrücktspielt und in der der Wohlstand viel zu ungerecht verteilt ist. Zugegeben, das sind wirklich sehr große Herausforderungen, an denen alle mitarbeiten müssen. Was mich jetzt ein bisschen hoffnungsvoll stimmt, ist die Tatsache, dass wir uns zumindest im Beirat für nachhaltige Entwicklung fraktionsübergreifend einig sind, dass es so nicht weitergehen kann. ({2}) So haben wir das aufgeschrieben. Deshalb hier mal einige unserer gemeinsamen Positionen: Wir stellen fest, dass die Regierung beim Kampf gegen die Klimakrise, gegen den Verlust der Artenvielfalt sowie gegen die Luftverschmutzung ihre Ziele nicht erreicht. Wir unterstützen gemeinsam die Empfehlung der Peers, dass Deutschland dafür aus der fossilen und der nuklearen Energieerzeugung aussteigen muss. Und wir schließen uns alle der Meinung der Peers an, dass für eine wirklich nachhaltige Politik grundlegende Veränderungen in der Fleisch- und Milchindustrie nötig sind. ({3}) Der gesamte Parlamentarische Beirat stellt fest, dass der Schlüssel für eine Trendumkehr beim Verlust der Artenvielfalt in der Neuverteilung der EU-Agrarmittel liegt, und zwar hin zu einem besseren Schutz von Umwelt und Landschaften. Das sage ich auch mit Blick auf die Grüne Woche. Dies alles betone ich, weil diese Positionen in diesem Hause in dieser Deutlichkeit viel zu selten im Konsens an die Regierung gerichtet werden. Ich hoffe, dass dieses deutliche Signal von der Bundesregierung wahrgenommen wird ({4}) und dass sie dafür sorgt, dass die Ziele ehrgeiziger werden, dass die Anstrengungen steigen und dass die Maßnahmen zeitnah greifen. Auch dazu haben wir gemeinsam konkrete Empfehlungen beschlossen: Stärken Sie die Zusammenarbeit Ihrer Häuser, um eine kohärentere Politik zu machen! Machen Sie den Staatssekretärsausschuss zu einem Gremium, das für die großen Problemfelder konkrete und zwischen den Ressorts abgestimmte Maßnahmenpläne entwickelt und diese auch umsetzt! Dann kommen Sie auch vom Reden ins Handeln. Sie haben es nämlich in der Hand, aus der Kohle auszusteigen und das Klima zu retten, die Luft von Abgasen zu befreien für unsere Gesundheit, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren, um das Artensterben zu stoppen, faire Lieferketten in der Welt durchzusetzen und Menschen bessere Teilhabe zu gewähren und niemanden zurückzulassen. ({5}) Nur solche wirklich konkreten Handlungen machen unsere Welt ökologisch, friedlich, gerecht – eben nachhaltig. Ich möchte mit einer weiteren Feststellung aus unserem Bericht schließen: Derzeit droht in Sachen Nachhaltigkeit ein bedrohlicher Stillstand im Gesamtsystem. Diesen Stillstand müssen wir beenden. Wir müssen überall darüber reden, was Nachhaltigkeit ist: hier im Bundestag, in den Schulen, zu Hause und in den Kommunalparlamenten. Das sollten wir alle mitnehmen; ich baue dabei auf eine gute Zusammenarbeit. Der Grundstein dafür ist im Beirat gelegt. Vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die da mitgearbeitet haben. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Andreas Lenz hat für die CDU/CSU das Wort. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema „nachhaltige Entwicklung“ muss uns in der Tat allen am Herzen liegen, und das tut es auch. Wenn man sich die Wortbeiträge genau anhört, stellt man fest, dass es darin natürlich immer um die Definition, die Konnotation geht, dass es aber ein Thema ist, das alle berührt. Wie kann man das Thema beschreiben? Ich glaube, man kann es beispielsweise mit „enkeltaugliche Politik“ umschreiben. Es geht nämlich darum, dass auch die nachfolgenden Generationen noch Lebensbedingungen vorfinden, die lebenswert sind, die eine gute Zukunft ermöglichen. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ beschreibt also eine zukunftsfähige Politik insgesamt. Wir im Beirat für nachhaltige Entwicklung widmen uns der Nachhaltigkeit in all ihren Facetten. Aber die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist Verpflichtung für uns alle, für das Parlament und darüber hinaus für die gesamte Gesellschaft, für jeden Einzelnen. Nur dann können wir letztlich erfolgreich sein. Mit der Agenda 2030, dem Weltzukunftsvertrag, wird auf internationaler Ebene die Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele verfolgt. Diese 17 Ziele sind mittlerweile auch in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie verankert und werden also in, mit und von Deutschland umgesetzt. Das eine geht eben nicht ohne das andere. In Zeiten eines zunehmenden Isolationismus, eines wiederaufkeimenden egoistischen Nationalismus ist es wichtig, zu erwähnen, dass die SDGs ein Musterbeispiel für Multilateralismus im besten Sinne sind. Dazu stehen wir und bekennen wir uns, sehr geehrte Damen und Herren. Viele Nachhaltigkeitsziele beinhalten übrigens auch Menschenrechte, etwa das Recht auf Nahrung, SDG 2, das Recht auf Gesundheit, SDG 3, oder der Gleichheitsgrundsatz in SDG 5. Auch das ist mit Blick auf den jüngst begangenen Jahrestag „70 Jahre Charta der Menschenrechte“ und die heutige Feierstunde wichtig, zu erwähnen: Die SDGs bedeuten auch Werte, letzten Endes wertefundierte Politik. Mit dem Peer Review wurde die nationale Nachhaltigkeitsstrategie von elf anerkannten internationalen Experten bewertet, deren Leiterin, Helen Clark, über Deutschland sagte: Wir sprechen Deutschland unsere Anerkennung für seine Bereitschaft aus, eine unabhängige internationale Überprüfung dieser zentralen Regierungsstrategie zuzulassen. Deutschland bekommt die Gesamtnote Gut. – Keine Frage: Gut ist uns nicht gut genug. Die Politik muss besser werden, wenn sie tatsächlich enkeltaugliche Politik betreiben will. Wir müssen schauen, dass die eigenen Ziele noch ehrgeiziger verfolgt werden, und die Ziele hin und wieder überprüfen, auch infrage stellen und Zielkonflikte innerhalb der einzelnen Ziele klären sowie die Umsetzbarkeit, die Realisierbarkeit insgesamt diskutieren. Der Nachhaltigkeitsbeirat wird im Bericht ausdrücklich gelobt – zu Recht, wie ich meine. Es wird aber auch eine noch stärkere parlamentarische Beteiligung gefordert. Dem schließen wir uns insgesamt an; über die Ausgestaltung müssen wir noch sprechen. Die Präsenz des Themas in sämtlichen Ausschüssen oder im Plenum, beispielsweise bei der Haushaltsdebatte, könnte ein Ansatzpunkt sein. Auch hinsichtlich der Kommunikation des Begriffs „Nachhaltigkeit“ gibt es Verbesserungspotenzial. Der Begriff muss raus aus der Community. Um ein breites Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schaffen, müssen wir die Menschen erreichen, ja sie bewegen. Ein Beispiel ist die Kampagne der Bundesregierung „ dieglorreichen17.de “; sie ist im Netz zu finden. Da wird jedes Ziel auf die nationalen Ziele und Maßnahmen heruntergebrochen, und da werden sowohl die eigene Betroffenheit als auch die Möglichkeit, sich einzubringen, klar betont. Der Regierungssprecher meinte gestern im Beirat, dass nur circa 20 Prozent die SDGs, die globalen Nachhaltigkeitsziele, kennen, aber 85 Prozent deren Umsetzung auch durch Deutschland unterstützen würden. Das sind doch hervorragende Voraussetzungen, um hier noch einmal Akzente zu setzen. Es geht schließlich darum, dass unser ökologischer Fußabdruck kleiner wird, dass Nachhaltigkeit mit Innovationen verbunden wird und wir dabei niemanden in unserer Gesellschaft zurücklassen. Das gilt natürlich auch im globalen Kontext. In diesem Sinne herzlichen Dank und auf gute Zusammenarbeit! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Michael Thews für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Wir behandeln heute hier im Plenum die Stellungnahme des Parlamentarischen Beirates zum Peer Review, einem Test bzw. Audit internationaler Experten, welche die deutsche Nachhaltigkeitspolitik beurteilt und auch viele kritische Anmerkungen angebracht sowie Verbesserungsvorschläge unterbreitet haben, wie wir Nachhaltigkeit noch stärker in die Bevölkerung tragen und Prozesse schneller gestalten können. Aber der Peer Review stellt unserem Bemühen insgesamt eine gute Note aus, indem er sagt: Die Instrumente, die wir installiert haben, sind geeignet, um die Nachhaltigkeitsstrategie der Agenda 2030, um die Nachhaltigkeitsziele, die SDGs, voranzubringen. Das sollte man an dieser Stelle erwähnen. Aber werden wir in unserem Bemühen überhaupt gehört? Wie sieht es da international aus? Viele Kollegen waren mit mir auf internationalen Konferenzen. Wir haben auch Gespräche mit Parlamentariern geführt und dabei gemerkt: Deutschland wird durchaus gehört. Das, was wir tun, wird in bestimmten Bereichen wahrgenommen. Bei der Kreislaufwirtschaft, würde ich sagen, haben wir eine Vorbildfunktion. Wenn nicht Deutschland, wer dann? Das ist auch ein Credo aus dem Bericht, aus dem Peer Review. Ich meine, wir als Parlamentarier sollten uns genau dieser Verantwortung auch stellen. ({0}) Was ich aber in diesem Hohen Haus und auch in den sozialen Medien erlebe, ist häufig etwas anderes. Da werden Grenzwerte leichtfertig infrage gestellt, da wird der Einfluss der Menschheit auf das Weltklima bezweifelt. Ich kann nur sagen: Diese Vorgehensweise hilft in keiner Weise, die Probleme, die wir global haben, zu lösen, sondern ist, würde ich sogar sagen, ein Vergehen an der Menschheit. ({1}) Dabei zeigt die Vergangenheit, dass eine mutige Vorgehensweise durchaus funktionieren kann. In meinem Wahlkreis im Ruhrgebiet hat Willy Brandt 1961 gesagt, dass er möchte, dass der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau wird. Viele Menschen haben das damals belächelt und konnten sich das nicht vorstellen. Jedoch wurde das eine unglaubliche Erfolgsgeschichte in der Umweltpolitik: Die Installation von Filtern in Anlagen hat 4 Millionen Tonnen Schwefeldioxid aus der Luft genommen und die Situation der Menschen deutlich verbessert. Es gibt auch weltweite Beispiele. Was wäre passiert, wenn wir das Ozonloch ignoriert hätten? Wir hätten heute und in Zukunft Millionen von Hautkrebstoten. Auch hier hat mutiges Handeln funktioniert. Ich kann nur immer wieder sagen: Wir müssen die richtigen Konsequenzen aus dem Peer Review ziehen. Wir müssen, wie wir im Ruhrgebiet sagen, die Ärmel hochkrempeln und handeln. Wir brauchen ein verbindliches Klimaschutzgesetz. Wir müssen auch das Parlament und den Parlamentarischen Beirat in ihren Unternehmungen zur Nachhaltigkeit stärken, müssen die Nachhaltigkeit mit mehr Mut und Tatkraft genau dahin bringen, wohin sie gehört: in die Mitte der Gesellschaft. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die Zeit nutzen, um noch auf eine Botschaft hinzuweisen. Manchmal ist es ganz gut, einen Schritt zurückzutreten und das Ganze von außen zu betrachten, wie es der Astronaut Alexander Gerst am 25. November 2018 von der ISS aus getan hat. Ich kann nur empfehlen, sich einmal sein Statement anzuhören. Er hat sich bei seinen ungeborenen Enkeln für den Zustand der Erde entschuldigt und die Probleme, die wir haben, benannt. Aber er hat nicht nur ein negatives Bild gezeichnet, sondern uns auch zum Handeln aufgefordert. Er hat gesagt: Wir können etwas tun, um das befürchtete Szenario nicht eintreten zu lassen. – Schauen Sie sich seinen Appell an! Ich möchte mit ihm schließen und sagen: Lasst uns gemeinsam die Welt für unsere Enkel, für die nachfolgenden Generationen verbessern und die Ärmel hochkrempeln. In diesem Sinne ein herzliches Glückauf! Danke. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nun hat der Abgeordnete Mario Mieruch das Wort.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat: Das gemeinsame Ziel aller Fraktionen im Deutschen Bundestag muss dabei sein, die Akteure und letztlich die Menschen in ihrer konkreten Lebenswelt zu erreichen und sie für die Umsetzung der Agenda 2030 und eine nachhaltige Transformation zu gewinnen. Was für ein Satz, anmaßend und entlarvend zugleich! Denn könnte man noch deutlicher darstellen, wie sehr sich dieses Parteiensystem in den Parlamenten entkoppelt hat, entkoppelt von einem offenbar großen Mysterium, nämlich der echten Lebenswelt jener Menschen, die das hier alles bezahlen? Es klingt einfach zu gut, mit hochgesteckten Zielen und moralischem Führungsanspruch eine rundum perfekte Welt anzustreben. Nur der Steuerzahler will oft nicht begreifen, warum er sich dafür begeistern soll, ist seine eigene Lebensrealität doch weit von jedem Perfektionismus entfernt, und erlebt er gerade Politik und Moral meist meilenweit voneinander getrennt. Dass man sich im Bericht ausgerechnet für den beispielhaften Einsatz für ehrgeizige Klimaziele auf die Schulter klopft, zeigt, wie sehr diese Aktivitäten – Megaschlagwort „Nachhaltigkeit“ – mittlerweile von Ideologien gekapert wurden. Den Beleg liefert man sogleich mit; denn man fährt mittels EEG und dem ganzen Dieseltheater gerade Schlüsseltechnologien gegen die Wand, verschläft die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz. Sind Begriffe wie Algorithmus für die Bildung zu schwer, weiß man auf jeden Fall sicher, dass Deutschlands Beitrag zum Klimawandel zu gering ist und es ehrgeizigere Ziele bräuchte. Ob das die Menschen im Land auch so sehen? Wir sollten sie einmal fragen. So verwundert es auch kein Stück, dass empfohlen wird, ausgerechnet den Staatssekretärsausschuss zu stärken; denn damit kann man prima den Bock zum Gärtner machen, sind das doch oft die Big Player der zweiten Reihe, deren Wirken weitgehend von der öffentlichen Wahrnehmung befreit bleibt. Da fällt auch nicht auf, wenn Fördergelder an selbstgegründete NGOs fleißig ansteigen. Es ist halt supernachhaltig, an der richtigen Stelle zu sitzen. Herrlich nachhaltig ist es auch, eine Euro-Politik zu unterstützen, die sehr nachhaltig Sparguthaben, Zukunftsperspektiven vernichtet und Altersarmut fördert. Mein lieber Herr Thews, Dinge infrage zu stellen, ist in der Regel die Grundlage, um sachliche Diskussionen zu führen, und das erachte ich alles andere als menschenverachtend. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Kruse für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rüdiger Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004083, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Peer Review beantwortet im Wesentlichen zwei Fragen: Erstens. Kann Deutschland seine Ziele erreichen? Ja. Zweitens. Wird Deutschland sein Nachhaltigkeitsziel erreichen? Nein. Das ist kein Widerspruch, sondern es ist die Bewertung von Leistungsfähigkeit und der Leistung, die wir erbringen. Das ist besser, als wenn die Situation anders wäre; das heißt, wenn man es zwar wollte, aber es einfach nicht könnte. Das wäre tragisch. ({0}) – Es ist immer wichtig, einen Handlungsspielraum in der Politik zu haben. Man muss ihn sich auch selber zumessen. Wir können in dieser Debatte sehen: Es reden hier die falschen Leute, inklusive meiner Person, weil wir alle für dieses Thema sind. Wir haben alle den Willen, dass wir das umsetzen. Wir haben sicher verschiedene Vorstellungen, wie wir es erreichen. Das heißt aber, dass verstärkt Leute reden müssten, die in den Bereichen, die zentral für die Nachhaltigkeit sind, auch die Verantwortung haben, zum Beispiel die wirtschaftspolitischen Sprecher, ({1}) aber auch die sozialpolitischen Sprecher. Wie wollen wir das umsetzen? Das fängt an der Spitze der Debatte an – nichts gegen die charmante Kollegin; es ist alles richtig, was sie gesagt hat –, aber das führt dazu, dass Nachhaltigkeit als Appendix der Umweltpolitik gesehen wird. Das ist vollkommen falsch. Auch da müssen wir umdenken. Glücklicherweise ist es so, dass die 17 SDGs konsensual sind, also zu 99 Prozent. Es gibt immer einige, die das nicht so sehen, das macht auch nichts. Es muss immer eine Kraft geben, die verneint, die Böses will und die uns dabei hilft, Gutes zu schaffen. Da hat jeder seine Aufgabe. Aber aus diesem Konsens heraus muss man es schaffen, dass die Umsetzung nicht zur Friktion führt. Hier sind wir an einem Beispiel, das Europa liefert: die klimapolitischen Ziele. Als Emmanuel Macron fossiles CO 2 verteuern wollte und dementsprechend die Spritpreise angehoben hat, war das nicht nachhaltig. Es war umweltpolitisch eine mögliche Variante, aber zur Nachhaltigkeit würde gehören, dass er zum Beispiel die sozialen Aspekte mitbewertet. Wenn man das nicht tut, dann hat man am Ende die Gelbwesten auf der Straße, und zwar zu Recht. Es kann nicht sein, dass die globalen Klimaziele, die erreicht werden müssen, zulasten der Leute erledigt werden – zumindest gefühlt –, die am wenigsten Verantwortung für den ganzen Mist haben. ({2}) Darum ist es erforderlich, dass wir umweltpolitische Ziele immer mit den wirtschaftspolitischen und den sozialpolitischen Zielen verbinden. Das funktioniert nur darüber, dass wir die 17 SDGs, die wir mitentwickelt und mitunterschrieben haben und die Konsens sind, zur Leitlinie unserer Politik machen und uns jedes Mal dort abfragen. Da muss man sagen: Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist gar nicht so kraftlos, vor allen Dingen ist er eine informelle Macht. Er ist das zweite Gremium im Deutschen Bundestag, bei dem man nicht sofort erkennt, wer zu welcher Fraktion gehört. Das andere ist der Kulturausschuss. ({3}) Ich sage immer: Die werfen da nur mit Wattebäuschchen, aber die sind vergiftet. Kultur hat ja auch den Nachteil, dass sie immer als Luxus gesehen wird. Hier ist es so: Nachhaltigkeit ist kein Luxus. Aber dadurch, dass wir eine weite Übereinstimmung haben, haben wir zum Beispiel erreicht, dass alle Gesetze, die hier beschlossen werden, vorher durch einen Nachhaltigkeitscheck müssen. Das ist schon mal was. Wir müssen jetzt die Umsetzung schaffen und die Gesetzentwürfe, aber auch unser haushaltspolitisches Handeln müssen vorangeschrieben werden. Dabei geht es zum Beispiel um die Fragestellungen: Wo bunkern wir das Geld, das wir an Rücklagen haben? Wie investieren wir das? Gibt es bei Subventionen, die eine Sache befördern, vielleicht zwei, drei andere Ziele, die sie nicht befördern, sondern wo es kontrovers zu sehen ist? Das ist die Aufgabe. Wir hatten heute Morgen eine Gedenkstunde, weil vor 100 Jahren etwas Bahnbrechendes erreicht worden ist: Frauenwahlrecht. Jetzt müssen wir uns fragen: Was wollen wir dieses Jahr tun, damit in 100 Jahren zumindest das Gedenken an uns positiv ist? Das ist unsere Aufgabe nicht nur gegenüber den anderen Generationen, sondern auch für uns selber. Ich glaube, es muss am Ende mehr sein, als zu sagen: Ich war dabei, aber ich habe nichts getan. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6475 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wie Sie vielleicht mitbekommen haben – ich führe das aus –, hat die AfD am vergangenen Wochenende neben weiteren Kandidatenaufstellungen zur Europawahl auch ein Programm für die Europawahl verabschiedet. Ich beginne sehr wohl mit diesem Hinweis, weil diese Debatte über die Indexierung des Kindergelds für im Ausland lebende Kinder und Ihre Kritik ein wirkliches Paradebeispiel dafür sind, ({0}) warum die Existenz und unser Wirken als AfD in den Parlamenten so wichtig ist. ({1}) – Ja. Lassen Sie mich vorab eine wichtige Sache klarstellen, bevor wir in diese Debatte eintauchen. Wir als AfD – ich sagte es vorhin schon – setzen uns für ein Europa der Vaterländer mit starken, souveränen Nationalstaaten ein, und wir sehen dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich des aktuellen, zentralistischen und undemokratischen Aufbaus der Europäischen Union. ({2}) Wir sind also nicht, wie Sie es uns immer gerne andichten wollen, europafeindlich, nein, wir sind EU-kritisch, meine Damen und Herren. ({3}) Das ist ein Unterschied, wenn Sie Europa und die EU gleichsetzen. ({4}) Genau das ist Ihr mieser Taschenspielertrick, den Sie immer wieder anwenden, ({5}) um die Oberhoheit in der Diskussion zu haben. Aber der Reihe nach. Diese Kritik ist absolut notwendig – ich sagte es bereits –; denn dieses Gesetz, das die Indexierung des Kindergeldes betrifft, möchte ich im Folgenden hier darstellen. Ich zitiere aus unserem Gesetzentwurf: Nach Art. 67 VO (EG) 883/2004 gilt: Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, „als ob“ – hören Sie genau zu: „als ob“! – die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Kinder müssen daher so gestellt werden, „als ob“ sie in Deutschland leben. Genau diese „als ob“-Formulierung ist nun Anstoß für berechtigte Kritik und eine berechtigte Diskussion in der Angelegenheit. So ist zum Beispiel – ich darf ihn nennen – Ihr sogenannter EU-Haushaltskommissar Oettinger von der CDU, auch gegen viele Stimmen aus Ihren eigenen Reihen, liebe Kollegen von der Union – man höre und staune –, vor allem aber auch entgegen der bayerischen Landesregierung, die bereits am 8. Juni eine fast gleichlautende Gesetzesinitiative, die unserem Gesetzentwurf stark ähnelt, ({6}) in den Bundesrat eingebracht hat, der Meinung, dass diese „als ob“-Regelung keine Indexierung zulässt. Nochmals: Herr Oettinger setzt sich damit in einen krassen Widerspruch zur bayerischen Landesregierung. Meine Damen und Herren, im Klartext heißt das: Sie von der CDU/CSU – bei Ihnen wundert es mich nicht, verehrte Kollegen von der SPD – wollen, dass ein Nationalstaat nicht mehr frei über seine Transferleistungen und Sozialleistungen entscheiden kann. ({7}) Hier wird wieder ein Stück der sozialen Transferunion Ihres Super-Europas aufgebaut, und dagegen wehren wir uns, meine Damen und Herren. ({8}) Laut „Focus“-Bericht vom 15. Januar 2019 – hören Sie gut zu! – werden bereits über 400 Millionen Euro Kindergeld auf ausländische Konten überwiesen – wohlgemerkt: auf ausländische Konten. Die Behörden geben leider keine Auskunft darüber, wie viel Kindergeld von deutschen Konten ins Ausland abfließt. Das heißt, der Betrag, der insgesamt ins Ausland abfließt, dürfte weitaus höher liegen als 400 Millionen Euro. Meine Damen und Herren, das ist familienpolitisch eine Farce. Wir als AfD werden das nicht hinnehmen, meine Damen und Herren. ({9}) Folgen Sie doch dem Beispiel Österreichs, uns und dem Beispiel der bayerischen Landesregierung; denn auch Österreich möchte – genau wie wir als AfD – die Kindergeldzahlungen für im Ausland lebende Kinder indexieren. So sagt die österreichische Familienministerin, Frau Bogner-Strauß von der ÖVP – Ihre Schwesterpartei, wenn ich mich nicht täusche, meine Herren von der CDU/CSU –, ({10}) dass eine solche Indexierung sehr wohl im Einklang mit dem Europarecht steht. Sie bezieht sich hier auf die Position der EU-Kommission, welche besagt, dass Mitgliedstaaten über die Zuerkennung und die Berechnungsmethode von Familienleistungen selbst entscheiden dürften. Sie können sich den Gesetzentwurf nochmals anschauen und werden feststellen: Er ähnelt in den meisten Teilen dem, der bereits am 8. Juni von der CSU eingebracht wurde. ({11}) Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin: Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld … gebunden sind – könnte – „könnte“, das ist Konjunktiv – der Wohnort berücksichtigt werden. Es liegt also schlichtweg an Ihnen, meine Damen und Herren von der Union, sich nicht pausenlos hinter dem EU-Recht zu verstecken, weil Sie keinen Mumm oder – auf gut Deutsch – keinen Hintern in der Hose haben. Bekennen Sie sich zum Selbstbestimmungsrecht eines Staates über seine Sozialleistungen und damit auch dazu, über das Geschick der Menschen, die hier Werte schaffen, zu entscheiden! Bei der Debatte zum Soli haben Sie eine ähnliche Position eingenommen wie bei diesem Thema. Das hat schon kein gutes Licht auf die Kollegen der Union geworfen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Gottschalk, achten Sie bitte auf die Zeit.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr gerne. – Folgen Sie daher dem sehr gut durchdachten Gesetzentwurf der AfD – Sie würden nämlich sonst auch der bayerischen Landesregierung attestieren, sie hätte etwas handwerklich Falsches geliefert –, und stimmen Sie für eine Indexierung des Kindergeldes! Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Johannes Steiniger. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Und täglich grüßt das Murmeltier“, könnte man meinen. Wir diskutieren jetzt innerhalb von einem halben Jahr zum dritten Mal das Thema Kindergeld-Indexierung. Auch wenn Sie gerade eben ein bisschen den Hobbyjuristen haben heraushängen lassen, Herr Gottschalk, ({0}) möchte ich schon gleich zu Beginn darauf hinweisen: Wir können dieses Problem nicht im nationalen Alleingang lösen, ({1}) wie Sie hier als AfD es vorschlagen. Sie, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, führen die Bevölkerung hinters Licht, wenn Sie immer wieder so tun, als sei das einfach so möglich. ({2}) Aber es heißt ja: Wiederholung ist die Mutter aller Pädagogik. – Also werden wir es heute entsprechend wieder diskutieren, und wir werden Ihnen heute auch wieder sagen, warum das eben nicht so geht. Es ist vielleicht mal ein ganz guter Anlass, um sich zu fragen: Warum nehmen Sie eigentlich gerade dieses Thema und bringen es hier immer wieder so prominent an? Das ist eigentlich ganz interessant; denn man kann daran wie an einem Lehrstück erklären, wie Sie als AfD-Fraktion hier Politik machen. Also: Sie suchen sich – erstens – ein Thema, bei dem irgendwie Ausländer vorkommen, hier also die Frage: Wie ist das eigentlich mit dem Kindergeld für EU-Ausländer? Zweitens sollte es bei dem Thema dann als Zutat eine vermeintlich einfache Lösung geben. Sie haben es ja eben auch so dargestellt, dass einem der sogenannte gesunde Menschenverstand doch ganz klar sagt: Wieso soll der Bulgare oder Rumäne, der hier arbeitet, aber dessen Kinder noch in der Heimat wohnen, eigentlich das gleiche Kindergeld bekommen wie der Deutsche, der hier arbeitet, für seine Kinder? – Sie erwecken den Eindruck, dass da auf der einen Seite diejenigen sind, die mit gesundem Menschenverstand Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen, und auf der anderen Seite die Politiker, die sich diesen einfach umzusetzenden Lösungen widersetzen. – So weit, so gut. ({3}) Das kennen wir ja von einigen Themen. Aber jetzt kommt ein Weiteres dazu, und jetzt wird es lustig. Denn jeder, der das Thema seriös diskutiert, weiß, dass wir das nur über das europäische Sekundärrecht ändern können. Sie haben auf die „als ob“-Fiktion hingewiesen. Die meisten Europarechtler interpretieren es genau andersrum, als Sie es machen. Also: Nicht der Deutsche Bundestag, sondern das Europäische Parlament ist hier am Zug. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, genau dort wurde darüber diskutiert, ob die Verordnung 883/2004 geändert werden soll. Darin ist nämlich unter anderem der Bezug von Kindergeld geregelt. Jetzt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die große Preisfrage: Wie viele Änderungsanträge hat die AfD im Europäischen Parlament gestellt? ({5}) – Richtig: keinen einzigen. – Die „Wirtschaftswoche“ hat in der Überschrift zu ihrem zugehörigen Artikel absolut zu Recht darauf hingewiesen: „Absolut untätig“. Liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, man macht seriöse Politik nicht mit Schaufensteranträgen wie im vergangenen Jahr, auch nicht mit Schaufenstergesetzen wie jetzt hier, sondern mit Änderungsanträgen dort, wo es dann auch entschieden wird, und das ist das Europäische Parlament. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Steiniger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Herrn Gottschalk?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe mir eigentlich vorgenommen, dass ich Zwischenfragen von Leuten, die sowieso schon geredet haben, nicht mehr zulasse. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie entscheiden.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihnen geht es nämlich – das ist sozusagen der Abschluss des Lehrstückes dazu, wie Sie Politik machen – gar nicht um die Sache, sondern nur darum, die nächste Sau durchs Dorf zu treiben. Natürlich ist es richtig, dass die Lebenshaltungskosten in der EU stark auseinandergehen. Es ist aber falsch, dass man hier nur mit einem nationalen Alleingang Abhilfe schaffen kann. Und ja – Sie haben es erwähnt –, Österreich ist diesen Schritt gegangen und hat vor zwei Wochen die sogenannte Familienbeihilfe indexiert. Rechtlich ist sie übrigens – Herr Gottschalk, hören Sie zu, Sie sind doch hier der Oberjurist – ({0}) nicht mit dem deutschen Kindergeld zu vergleichen. Unser Kollege Alois Rainer hat in der letzten Debatte genau auf diesen Punkt hingewiesen. ({1}) Wozu hat jetzt diese Indexierung geführt? Die Europäische Kommission prüft derzeit ein Vertragsverletzungsverfahren, und Rumänien erwägt eine Klage gegen Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof. ({2}) Wenn man sich anschaut, was die meisten Verfassungs- und Europarechtler dazu sagen, dann werden sie damit auch Erfolg haben. Sie schlagen hier nun das Gleiche vor. Sie wollen einen nationalen Alleingang und nehmen in Kauf, dass es dann gerichtlich kassiert wird. So erweisen Sie Ihrem Anliegen, dem politischen Ziel, einen Bärendienst, meine sehr geehrten Damen und Herren, ({3}) zumal Sie ja – das ist jetzt ganz interessant – in Ihrem Entwurf noch ein Stück weiter gehen: Sie wollen nicht nur, dass das Kindergeld für EU-Ausländer, deren Kinder im Ausland leben, indexiert wird, sondern auch, dass deutsche Eltern von Kindern, die im Ausland sind, davon ausgenommen werden. Das passt eigentlich logisch gar nicht zusammen; es ist ein klarer Widerspruch zu Ihrem Vorschlag. Sie argumentieren ja gerade, dass die Lebenshaltungskosten und nicht die Nationalität der Grund für die Indexierung sein sollen. Aber wenn Sie so argumentieren, dann dürfen logischerweise die Eltern von Kindern, die ein Erasmus-Studium im Ausland machen, auch nur ein an die Lebenshaltungskosten angepasstes Kindergeld erhalten. Aber in der Konsequenz diese Fälle per nationaler Ausnahme aus der Indexierung herauszunehmen, ist Rosinenpickerei und setzt auf die europarechtlichen Zweifel noch eins drauf. Seien Sie dann wenigstens so ehrlich und beziehen Sie alle ein! So ist das, was Sie hier heute vorschlagen, weder konsequent noch erfolgversprechend. ({4}) Ich möchte aber zum Schluss zu einem anderen Thema kommen, das mir und uns von der Unionsfraktion in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist und das von Ihnen leider oft in einen Topf mit der Indexierung geworfen wird. Das ist das Thema „Missbrauch von Kindergeldleistungen“. Wir haben im vergangenen Jahr oft Hilferufe aus den Kommunen gehört, weil es dort vorkommt, dass Schrottimmobilien angemietet werden, ({5}) EU-Ausländer dann mit Scheinverträgen ausgestattet werden und Geburtsurkunden gefälscht werden, um so unrechtmäßig Kindergeld zu beziehen. Um es ganz klar zu sagen: Das ist kriminell. Wir müssen das mit aller Härte bekämpfen. ({6}) Ich habe in meiner letzten Rede zu diesem Thema bereits darauf aufmerksam gemacht, was wir schon alles auf den Weg gebracht haben: besserer Datenaustausch, geringere rückwirkende Auszahlung von Kindergeld, die Einführung der Steuer-ID. Das brauche ich nicht noch einmal auszuführen. Ich will aber klarmachen, dass uns das nicht reicht. Wir wollen noch weiter gehen. Wir wollen noch genauer hinschauen. Wir wollen noch stärker durchgreifen. Deswegen bringen wir gerade ein neues Gesetz auf den Weg, das genau an diesen kritischen Punkten ansetzt. Der Zoll und die Familienkassen bekommen mehr Kompetenzen und können in Zukunft härter durchgreifen. Das Kindergeld soll zukünftig nur nach einer Übergangsphase ausgezahlt werden und bei Verdacht ganz eingestellt werden. Ein Beispiel: Wenn der Zoll oder die Ausländerbehörde bei einem Vorortbesuch Verdacht schöpft, kann er oder sie das direkt an die Familienkasse melden. Diese kann dann noch einmal genauer nachschauen und die Zahlungen gegebenenfalls einstellen. Kümmern Sie sich also um die eigentlichen Probleme! Das ist das Thema Kindergeldmissbrauch. Der Gesetzentwurf, den Sie hier ins Parlament eingebracht haben, bringt uns nicht weiter. Deswegen lehnen wir ihn auch ab. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Herbrand für die FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat immer die gleiche Leier. Schon wieder steckt ein Vorschlag der AfD voll verdrehter und auch verkürzter Fakten. Die AfD verpackt in der öffentlichen Darstellung das Thema „Indexierung von Kindergeld für EU-Ausländer“ in Behauptungen über vermeintlichen Sozialtourismus. Aber auch durch permanente und gebetsmühlenartige Wiederholungen wird ihr eintöniger Antrag weder korrekter noch seriöser und erst recht nicht zielführender. ({0}) Es ist bedauerlich und zugleich in meinen Augen auch sehr aussagekräftig, dass die AfD abermals die geltende Rechtslage ganz bewusst ausblendet. Denn solange das geltende EU-Recht nicht geändert wird, ist eine Indexierung des Kindergeldes aus juristischer Sicht eine Diskriminierung von EU-Bürgern und damit schlicht rechtswidrig – ganz einfach. So schwer ist das eigentlich nicht zu verstehen. ({1}) Sie werden es nicht schaffen, meine Damen und Herren von der AfD, die FDP-Fraktion zu einem Abstimmungsverhalten zu bringen, das sehenden Auges die bestehende Rechtslage ignoriert. Das werden wir nicht mitmachen. Wir pflegen uns an die Rechtsordnung zu halten. Das mag bei Ihnen anders sein. Weil Sie das Beispiel Österreich in diesem Zusammenhang so häufig anführen, möchte ich dazu auch zwei Punkte erläutern. Erstens hätten Sie wissen müssen, dass Österreich, weil es die Indexierung der Familienbeihilfe – so nennt sie sich dort – beschlossen hat, gerade ein Vertragsverletzungsverfahren droht. Sie spielen also auch da wieder wissentlich mit der Absicht, zur Durchsetzung Ihrer populistischen Forderungen gegen geltendes Recht zu verstoßen. Zweitens vergleichen Sie, wenn Sie die Systeme in Deutschland und Österreich – der Kollege hat auch schon darauf hingewiesen – miteinander vergleichen, Äpfel mit Birnen. In Deutschland haben wir das Kindergeld, das zweigeteilt ist. Zum Teil ist es die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung von Einkommensteilen der Eltern; der Betrag darüber hinaus ist eine Sozialleistung. In Österreich gibt es eine vom Einkommen der Eltern völlig unabhängige Familienleistung. Das sind also Dinge, die nicht miteinander zu vergleichen sind. In Deutschland steht auch zumindest die verfassungsmäßige Freistellung für eine Indexierung überhaupt nicht zur Verfügung; das geht ja gar nicht. Es ist schade, dass Sie verpassen, zu erwähnen, was man wirklich machen kann und auch muss, ohne Recht zu brechen, indem man einfach nur bestehendes Recht konsequent durchsetzt und möglicherweise auch anpasst. Der Kollege Steininger hat darauf hingewiesen: Wir müssen gegen Betrüger vorgehen, die beispielsweise mit Urkundenfälschung Kinder erfinden, um Kindergeld zu kassieren. ({2}) Es muss dafür gesorgt werden, dass hier in Deutschland geeignete und auch bestehende Kontrollmechanismen umgesetzt und bei Bedarf angepasst werden. Von diesen Betrugsfällen findet sich bei Ihnen kein Wort – und auch kein Wort über die Kinder deutscher Staatsbürger im Ausland, die von Ihrem Gesetzentwurf ebenfalls betroffen wären, oder von Fällen, bei denen die Indexierung zu Mehrkosten führt, weil es sich um Länder mit höheren Lebenshaltungskosten handelt. Kein Wort! Das ist alles sehr scheinheilig und dient aus meiner Sicht vor allen Dingen der Stimmungsmache gegen Ausländer. ({3}) Meine Damen und Herren der AfD, mit diesem Antrag wollen Sie das EU-Recht brechen. Schon deshalb lehnen wir den Antrag natürlich ab. An anderer Stelle, wenn es um die Migration und die Dublin-Verordnung geht, fordern Sie die Einhaltung europäischen Rechts. Sie biegen sich das Recht, wie es Ihnen passt. ({4}) Damit legen Sie die Axt an die Rechtsstaatlichkeit in Europa. ({5}) – Das scheint Sie sehr zu treffen. ({6}) Seit Ihrem Europaparteitag letzte Woche wissen wir zudem, dass Sie demokratische Institutionen wie das EU-Parlament abschaffen wollen. Meine Damen und Herren, als Rechtsstaatspartei, die demokratische Werte hochhält, lehnt die FDP eine solche Politik natürlich ab – wie den Antrag auch. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erwähnt worden: Wir haben jetzt mehrere Debatten zu dem Thema geführt. Die Anträge der AfD waren schon damals Quatsch. Aber um es mit Herbert Wehner zu sagen: Sie sind einige Wochen später nur noch „quätscher“. ({0}) Es gibt einige Dinge dazu zu sagen, warum sie nur noch „quätscher“ sind. Zum Ersten. Die Zunahme der Kindergeldanträge und der Kindergeldzahlungen in den letzten Jahren bringen Sie immer in Zusammenhang mit Missbrauch; das ist hier auch schon erwähnt worden. Richtig ist: Sie ist eine Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Wirtschaft brummt. Es gibt hohe Beschäftigungszahlen. Darauf sind wir stolz. Wir brauchen aber auch weiter Menschen, die hier arbeiten. So wirbt zum Beispiel auch der Gesundheitsminister um europäische Pflegekräfte. Die Menschen kommen also hierher, arbeiten hier, zahlen hier Steuern und zahlen hier Versicherungsbeiträge. Sie haben deswegen – das steht so in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das Sie hier zitieren – ein Recht auf Kindergeld. Wir werden nicht zulassen, dass es Lohndumping auf Kosten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt, indem man ihnen dieses Recht abspricht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Zum Zweiten. Sie reden von Einsparungen. Um das einmal einzuordnen: 2018 gingen 1,64 Prozent der Kindergeldzahlungen an Kinder im europäischen Ausland – davon übrigens 30 000 deutsche Staatsbürger; die wollen Sie jetzt irgendwie herausrechnen –, und der Anteil der Kindergeldzahlungen an EU-Staaten am Gesamtvolumen betrug 1,08 Prozent. Wenn man über Einsparungen spricht, muss man aber auch erwähnen, dass es enormen bürokratischen Aufwands bedarf, diese Kindergeldindexierung einzuführen. Die EU-Kommission rechnet vor, dass dadurch bis zu 300 Prozent an mehr bürokratischem Aufwand und an Mehrkosten entstehen würden. – So viel zum Thema der Einsparungen. Zum dritten und letzten Punkt, Ihre Behauptung, die Indexierung sei mit dem EU-Recht konform. Dabei handelt es sich, wie Sie bereits erwähnt haben, um eine „als ob“-Fiktion. Sie von der AfD tun ja auch so, als ob Sie Ahnung von diesem Thema hätten. Das ist auch eine gewisse Art von Fiktion. ({2}) Aber – es wurde auch schon erwähnt – mehrere Gutachten auch der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages gerade zu Österreich haben gezeigt, dass sie eben nicht mit europäischem Recht vereinbar ist. Ich wünsche Österreich viel Spaß vor dem Europäischen Gerichtshof. Weil Sie aber das Kindergeld immer wieder in Zusammenhang mit Sozialmissbrauch bringen, lassen wir doch einmal einen Experten zu Wort kommen. Ich darf aus einem Interview mit dem Leiter der Familienkasse bei der Bundesagentur für Arbeit, Karsten Bunk, vom 31. Dezember 2018 zitieren. Dort sagt er zum Thema „Kindergeldzahlungen ins Ausland“: Die Fälle, bei denen Kindergeld ins Ausland überwiesen wird, sind in der Regel diejenigen, wo Menschen – ohne ihre Familien – nur zum Arbeiten nach Deutschland kommen. … In solchen Fällen findet Missbrauch so gut wie nicht statt. Zur Indexierung sagt er: Die Debatte um die Indexierung ist nicht geeignet, um Missbrauch zu bekämpfen. Insofern geht Ihr Antrag vollkommen ins Leere, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Bei Missbrauch geht es eher darum, dass Schleuserbanden die Menschen in Schrottimmobilien unterbringen und dann Sozialleistungen beantragen lassen. Dort muss man ansetzen. Wir haben schon einiges getan – es ist erwähnt worden, zum Beispiel die Einführung einer steuerlichen Identifikationsnummer für Eltern und Kinder, um eine doppelte Beantragung auszuschließen –, und wir werden weitere Maßnahmen auf den Weg bringen. Es wird eine Taskforce für besseren Datenaustausch zwischen Familienkasse, Behörden und den betroffenen Kommunen geben. Außerdem hat Olaf Scholz angekündigt, dass es eine Anpassung der Voraussetzung für Kindergeldanspruch geben soll, unter anderem einen Leistungsausschluss für neu zugezogene, nicht erwerbstätige Unionsbürger in den ersten drei Monaten. Wir wollen dort ansetzen, wo Missbrauch möglich ist, aber nicht bei der Kindergeld-Indexierung. Um Ihnen von der AfD das etwas lebensnäher zu erklären: Wenn die im europäischen Ausland lebende Frau Weidel und die AfD bei den Parteispenden tricksen, dann stellen wir nicht die bewährte Parteienfinanzierung infrage, sondern dann bekämpfen wir Missbrauch, dann ermittelt die Staatsanwaltschaft. So machen wir das auch beim Kindergeld: Wir bekämpfen Missbrauch, wir stellen aber nicht den bewährten Anspruch auf Kindergeld für die große, ehrliche, hier arbeitende und hier Steuern zahlende Mehrheit infrage, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Dass es der AfD dabei nicht um eine Besserstellung der Familien in Deutschland geht, hat die Debatte über das Kindergeld in Deutschland gezeigt. Die AfD hat das Kindergeld infrage gestellt. Wir haben es erhöht, und wir werden es weiter erhöhen. Sie von der AfD wollen auch in anderen Bereichen sparen, bei Familienleistungen, Rentnern und Langzeitarbeitslosen. Die AfD ist die Partei des sozialen Kahlschlags für alle Menschen in diesem Land. Das zeigt nicht nur, aber auch der vorliegende Gesetzentwurf. Deshalb ist er abzulehnen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke: der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt schon ein bisschen schwer, aber zum dritten Mal die gleichen Argumente und die entscheidenden Fakten: Wer in Deutschland lebt und arbeitet, Steuern und Sozialabgaben zahlt, hat Anspruch auf Kindergeld. ({0}) Das gilt auch für Beschäftigte mit ausländischen Pässen, egal ob sie aus Belgien oder Bulgarien kommen. Mit Sozialtourismus hat das überhaupt nichts zu tun. ({1}) Es gilt – und diesen Einschub will ich mir jetzt doch erlauben – im Übrigen nicht für Menschen, die Hartz IV beziehen, egal welche Staatsangehörigkeit sie haben. Wenn es beim Kindergeld überhaupt ein Thema gäbe, über das in diesem Hause dringend geredet und bei dem auch endlich mal gehandelt werden müsste, dann das, dass die Ärmsten und Bedürftigsten, die bisher von dieser Leistung ausgeschlossen sind, endlich in den Genuss der Leistung kommen. So könnte Kinderarmut wenigstens ein bisschen stärker bekämpft werden. Das wäre doch mal was. Darum könnte sich die AfD verdient machen. ({2}) Kindergeld erhalten in Deutschland lebende erwerbstätige Eltern für ihre Kinder, unabhängig davon, wo diese wohnen. Deshalb fließt ein sehr geringer Teil – die Zahl ist schon genannt worden: etwas mehr als 1 Prozent – ins Ausland; das heißt, es fließt auf ausländische Konten. Ob die Kinder tatsächlich im Ausland leben, ({3}) ist übrigens völlig unerheblich. Also stimmt auch die Rechnung, die Sie hier vortragen, gar nicht. Es kann genauso gut sein, dass die Kinder hier in Deutschland leben und die Eltern einfach nur das alte Konto benutzen. Die Zahl der Berechtigten hat in den letzten Jahren zugenommen. Das liegt nicht daran, dass so viel betrogen wird, sondern das liegt daran, dass die Zahl ausländischer Beschäftigter in Deutschland zugenommen hat, und zwar in vergleichbarem Umfang wie die Kindergeldzahlungen ins Ausland. Umgekehrt gilt der Kindergeldanspruch genauso. Menschen mit deutschem Pass, die im Ausland leben und arbeiten, erhalten dort Kindergeld oder vergleichbare Leistungen nach den jeweiligen nationalen Regeln. Auch das ist kein Problem. ({4}) Auch deutsche Staatsangehörige erhalten für ihre im Ausland lebenden Kinder Kindergeld. Die deutschen Kinder, die davon profitieren – das ist auch schon angesprochen worden –, sind nach den in Polen lebenden Kindern im Übrigen die größte Gruppe. Dass Sie für Menschen mit deutschem Pass ein anderes Recht anwenden wollen als für diejenigen mit anderen Pässen, das widerspricht nun wirklich jedem Rechtsempfinden und jeder Gleichheit vor dem Gesetz. Das ist völlig hirnrissig. ({5}) Auch das Argument der EU-Kommission, dass derjenige, der in ein nationales Sozialversicherungssystem einzahlt, auch die gleichen Leistungen wie alle übrigen Einzahlerinnen und Einzahler erhalten soll, ist völlig überzeugend. Auf das europäische Recht ist schon hingewiesen worden. Meine Damen und Herren, womit es wirklich Probleme gibt – darüber lohnt es sich kurz zu reden –, sind Fälle von organisiertem Betrug. Dies berichten Bürgermeister einiger Städte, vor allem im Ruhrgebiet. Das konzentriert sich offensichtlich auf 10 bis 15 Städte, in denen das gehäuft vorkommt. Bei Betrug – so ist das in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung – schreitet nicht der Gesetzgeber ein, da rückt nicht der Deutsche Bundestag aus und ändert die Gesetze, sondern bei Betrug ist die Polizei zuständig. Die ermittelt, verfolgt die Betrüger und führt sie der Justiz zu. Statt mit einer Gesetzesänderung wäre den betroffenen Städten daher vor allen Dingen geholfen, wenn mehr und qualifizierte Ermittler zum Einsatz kommen. ({6}) Eine Gesetzesänderung ist also eine völlig unsinnige Reaktion auf eine begrenzte Zahl von Betrugsfällen. Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetzentwürfe haben den Vorteil, dass am Anfang steht, welches Problem angegangen werden soll. Stellen Sie sich mal einen Gesetzentwurf vor, in dem folgendes Problem steht: Lebt ein Kind in einem Bundesland mit niedrigerer Kaufkraft, kommt es zu einem Fördereffekt, der Familien mit in Ländern mit höherer Kaufkraft lebenden Kindern verwehrt bleibt. – Würde das hier irgendjemand als Problem bezeichnen? Ist das ein Problem? Das ist aber genau der Satz, ein ganz kleines bisschen verändert, der im vorliegenden Gesetzentwurf das Problem beschreiben soll. Das Einzige, was geändert wurde, ist: Statt „Staat“ steht „Bundesland“. Aber das, was in der Bundesrepublik Deutschland gilt, gilt auch in der Europäischen Union. Wenn jemand mit seinem Kind kurz hinter der Grenze lebt, aber in Deutschland arbeitet, dann bekommt er Kindergeld, und zwar in gleicher Höhe wie für Kinder, die in Deutschland leben. Was ist eigentlich Ihre Lösung? Ihre Lösung sind Steuermehreinnahmen. Das steht unter „Haushaltausgaben“ in Ihrem Gesetzentwurf. Dort steht: Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen führen zu Steuermehreinnahmen von 160 Millionen Euro. – Was heißt das konkret? Sie wollen, dass Menschen, die zu uns kommen und alte Menschen pflegen, auf Baustellen arbeiten, aber ihre Kinder teilweise längere Zeit alleine zu Hause lassen müssen, um hier bei uns zu arbeiten und produktiv zu sein, höhere Steuern zahlen. Genau das wollen Sie. Geht’s noch? Was ist denn das für ein Menschenbild? ({0}) Wie denken Sie über die Menschen? Sie müssten eher noch besser bezahlt werden, weil sie ihre Kinder alleine lassen müssen. ({1}) – Das ist das, was in Ihrem Gesetzentwurf steht. Es ist schon gesagt worden: Das Kindergeld ist keine Sozialleistung, sondern es ist eigentlich ein Steuerfreibetrag. Denjenigen, die hier arbeiten, wird es sozusagen von der Steuer abgezogen. Es sind haushaltsmäßig Mehreinnahmen – so steht es in Ihrem Gesetzentwurf –, weil die Menschen weniger Steuern zahlen müssen, wenn man das Kindergeld verrechnet. – Das ist Ihre Lösung. ({2}) Eine solche Diskriminierung ist rechtswidrig. Das ist schon mehrfach gesagt worden. ({3}) Das verstößt gegen Europarecht. Das ist übrigens der zentrale Unterschied zwischen dem Gesetzentwurf von Ihnen und einem ähnlichen Gesetzentwurf, den die Bundesregierung 2017 verfasst hat. Da steht nämlich drin, dass ein solches Vorgehen rechtswidrig ist. Die Bundesregierung nimmt darauf Rücksicht und hat ihn deswegen bisher noch nicht eingebracht. Die Bundesregierung setzt sich auf europäischer Ebene im Rahmen der Verhandlungen über die schon genannte Verordnung Nr. 883 zurzeit immer noch dafür ein, dass eine Kindergeld-Indexierung möglich ist. Dafür gibt es aber keine Mehrheit. ({4}) Da setzt sich die Bundesregierung nicht durch. Man nennt so etwas übrigens Demokratie. ({5}) Es geht um Mehrheitsverhältnisse. Aber wie Sie zur Demokratie auf europäischer Ebene stehen, haben Sie ja in der letzten Woche auf dem Parteitag gezeigt. Sie wollen das demokratische Gremium, das Europäische Parlament, abschaffen. Die Volksvertretung! ({6}) Sie machen Politik gegen das Volk. Das ist Ihre Politik. ({7}) Sie wollen die Volksvertretung abschaffen, und Sie wollen dann auch noch Kompetenzen auf den Europarat übertragen, das heißt auf die Regierung und nicht auf die Volksvertretung, die die Regierung eigentlich kontrollieren soll. ({8}) Das ist Ihr Demokratieverständnis. Das ist Ihr Verständnis von Rechtsstaat. Für Sie gilt: legal, illegal, sehr egal. Demokratie kümmert Sie überhaupt nicht, insbesondere nicht auf europäischer Ebene. ({9}) Das, was Sie hier beschreiben, ist überhaupt kein Problem; ich habe das geschildert. Das, was Sie vorschlagen, ist rechtswidrig, doch das kümmert Sie überhaupt nicht. Wir sollten uns in der Tat um die wirklichen Probleme kümmern. Im Zusammenhang mit dem Kindergeld gibt es das Problem der Kinderarmut. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung in Deutschland. ({10}) Wir müssen auf europäischer Ebene mehr machen gegen Kinderarmut. Da muss auch die EU mehr Verantwortung übernehmen. Darum geht es. Wir müssen etwas gegen Kinderarmut machen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen mehr machen für eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit, für ein soziales Europa. Das ist die Alternative. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner, der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein gutes Dreivierteljahr her, da hat uns die AfD schon einmal mit diesem Thema beglückt. War es damals ein Antrag, so kommt das Thema nun als Gesetzentwurf daher. Geändert hat sich an der Sachlage nichts, nichts an der zutiefst ausländerfeindlichen Ideologie der AfD und nichts an den EU-rechtlichen Rahmenbedingungen, die Sie von der AfD nicht beachten, ja bewusst ignorieren. ({0}) Sie, meine Damen und Herren von der AfD, treibt ja auch nicht die Sorge um die Staatskasse um. Sie suchen nur ein neues Vehikel für Ihre widerliche Hetze gegen Ausländer und Ihre üble Polemik gegen die Europäische Union. ({1}) Das ist die Grundlage. Ihnen geht es nicht um die Sache und schon gar nicht um die Bedeutung unseres demokratischen Parlaments. Ihnen geht es wie allen Radikalen um die Spaltung der Gesellschaft, um daraus Früchte zu ernten. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Springer von der AfD-Fraktion?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Erst die Menschen gegeneinander aufhetzen und dann das Ergebnis lauthals beklagen, das ist Ihre üble Methode. Da können Sie schreien wie Sie wollen, das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht, meine Damen und Herren. Was die Kindergeldregelung betrifft, haben wir bereits vieles getan. Wir haben beim Leistungsmissbrauch gehandelt: mit der Einführung der Pflicht zur Angabe der Steueridentifikationsnummer bei der Beantragung von Kindergeld zur besseren Identifizierung von Antragsteller und Kind, mit einem besseren Datenabgleich zwischen Ausländerzentralregister und Familienkassen, mit der Beschleunigung des Informationsaustausches zwischen Meldebehörden und Familienkassen. Diese Maßnahmen, meine Damen und Herren, wirken. Wir wollen die Instrumente weiter verbessern. Daran arbeiten wir laufend. Beim Kinderfreibetrag haben wir bereits eine am Auslandswohnort des Kindes ansetzende Indexierung eingeführt. Eine Indexierung des Kindergeldes scheitert aber, wie hier heute mehrfach betont wurde, am EU-Recht. Ein Referentenentwurf der Bundesregierung zur Indexierung wurde in der vergangenen Legislaturperiode mit Blick auf das EU-Recht nicht weiterverfolgt. Die Bundesregierung hat die EU-Kommission in der Vergangenheit mehrfach aufgefordert, eine Rechtsänderung auf die Tagesordnung zu setzen – bislang ohne Erfolg. Meine Damen und Herren, nun verweist die AfD auf den Alleingang Österreichs bei der Kindergeldindexierung. ({1}) Tatsache ist aber auch: Das Nachbarland liegt darüber mit der EU-Kommission im Streit. Ich bin sehr dafür, dass wir den österreichischen Weg nicht gehen, ({2}) sondern den mühsamen Weg der Überzeugungsarbeit, meine Damen und Herren. Als Gründungsmitglied der EU und als größtes und wirtschaftsstärkstes EU-Mitglied hat Deutschland eine besondere Verantwortung für Europa und für den Zusammenhalt dieser Gemeinschaft. Damit verträgt es sich natürlich nicht, wenn wir aus dem EU-Rechtsrahmen einfach ausbrechen, so wie Sie das wollen. ({3}) Es ist mir klar, dass das für Sie von der AfD natürlich kein Argument darstellt. Sie wollen ja auch aus der EU raus. Sie wollen die EU zerstören und damit die Hand an die Friedensordnung in Europa legen. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Es besteht natürlich Handlungsbedarf. Und ich halte die bisherige Verweigerungshaltung der EU-Kommission auf Dauer für durchaus angreifbar; denn die Kommission selbst nutzt die Indexierung bei der Berechnung der Pensionen ihrer Beamten. Auch das gehört zur Wahrheit. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung hierzu einen Entwurf vorlegt bzw. hierzu verhandelt hat. Einen Alleingang gegen EU-Recht darf und kann es von unserer Seite aber nicht geben. Wir haben eine Vorbildfunktion als größte Volkswirtschaft in Europa. Was Alleingänge von Ländern bedeuten, sieht man in schlimmster Ausprägung in dieser Woche am Brexit-Desaster. Dieses Beispiel allein sollte Warnung für uns alle in Europa sein. Einer Partei wie der AfD, die die Europäische Union lieber heute als morgen zerlegen möchte, ist das freilich völlig egal, und so handeln Sie von der AfD leider auch. Wir ignorieren Sie nicht, wir stellen Sie in diesen europäischen Fragen, weil das Grundsatzfragen für das Wohlergehen der Menschen in unserem Land sind. ({5}) Nationalismus und Populismus bringen keine Lösungen. Deswegen lehnen wir Ihren Nationalismus, Ihren Populismus in aller Schärfe ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen René Springer von der AfD-Fraktion.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Kollege Dr. Michelbach, ich bin etwas irritiert. Zunächst bin ich irritiert, weil Sie unseren Gesetzentwurf, von dem wir alle hoffen, dass man sich damit ernsthaft auseinandersetzt, zu einer Grundsatzfrage machen. Das halte ich nicht für angemessen. Wenn Sie uns inhaltlich stellen wollen, dann sollten Sie sich auch inhaltlich mit unserem Entwurf auseinandersetzen. – Das als erste Bemerkung vorab. ({0}) Dann stelle ich fest: Unser Entwurf ist Ausdruck von Nationalismus, er ist Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit, ({1}) er ist Ausdruck von Hetze gegen Ausländer, ({2}) und zu guter Letzt wollen wir mit unserem Antrag auch noch Hand an die Ordnung der Europäischen Union legen, ja die Europäische Union zerstören. ({3}) Das alles werfen Sie uns vor. Das alles soll Gegenstand unseres Entwurfs sein. ({4}) Herr Michelbach, ich frage mich: Sie als CSU-Mitglied haben meinem Kollegen Gottschalk hoffentlich gut zugehört und verstanden, dass er in seiner Rede gesagt hat, dass dieser Gesetzentwurf bereits im vergangenen Jahr von der CSU-geführten Bayerischen Staatsregierung in den Bundesrat eingebracht wurde. Da frage ich mich nun: Sind Sie ein Hetzer, der gegen Ausländer hetzt? Ist die Bayerische Staatsregierung eine Landesregierung, die die Hand an die Ordnung der Europäischen Union legt? Sind Sie ausländerfeindlich? Das ist meine Frage. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Michelbach.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, es ist natürlich schon eine Grundsatzfrage, wenn Sie einen Entwurf gegen das EU-Recht einbringen. Natürlich ist nichts dagegen zu sagen, einen Entwurf einzubringen wie den, den die Bundesregierung erarbeitet bzw. in die Verhandlungen mit der EU-Kommission eingebracht hat, für den sie im Rat aber keine Mehrheit bekommen hat. Es geht aber nicht an, dass Sie sagen: Europa interessiert uns nicht; am deutschen Wesen soll Europa genesen. – In Europa herrscht Demokratie, meine Damen und Herren. ({0}) Wenn es dafür keine Mehrheit gibt, dann ist das so. Dann ist die Mehrheit eben gegen diese Indexierung. Dann muss man sich damit auseinandersetzen. Man muss aber die Mehrheiten akzeptieren. (Jürgen Braun [AfD]: In der CSU sind alle Ausländerfeinde, oder was? Das ist das, was wir letzten Endes bei Ihnen bemängeln: dass Sie nicht bereit sind, demokratische Entscheidungen anzuerkennen und sich daran zu halten. Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich. ({1}) ({2}) Natürlich ist es, wenn die Höhe der Beamtenpensionen in Europa indexiert wird, schwer vermittelbar, dass in diesem Bereich keine Indexierung stattfindet. Aber es braucht Mehrheiten. Es kann nicht sein, dass wir EU-Recht beugen und damit Hand an Europa legen. ({3}) Wenn ich Ihre Parteitagsbeschlüsse richtig vernommen habe, legen Sie Hand an Europa. Das ist schändlich, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der SPD-Fraktion. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier über Mitbürger, die in Deutschland hauptsächlich in Mangelberufen arbeiten, aus dem EU-Ausland kommen und ihre Kinder und Familien nicht mitgebracht haben. Sie haben dafür gute Gründe. Manchmal können sie sie nicht mitbringen, weil sie sie gar nicht betreuen können, weil sie hier 24 Stunden in der Pflege unserer Angehörigen arbeiten. Das finden wir alle gut und richtig. ({0}) – Nein, wir finden nicht gut und richtig, dass sie hier 24 Stunden arbeiten, sondern dass sie bei uns in Mangelberufen tätig sind. Das finden wir gut und richtig. Das möchten wir auch beibehalten. Wir möchten, dass sie hier gut Geld verdienen, dass sie hier gut Steuern zahlen. Dann sollen sie auch das Kindergeld bekommen, das deutsche Arbeitnehmer bekommen. ({1}) Wir wollen den Missbrauch bekämpfen; das ist ganz klar. Da schließt sich der Kreis zu der Debatte von heute Morgen. Heute Morgen meinten einige Kollegen, dass wir die Bürokratie beim Zoll abbauen und den Zoll so richtig schlank machen sollen. In Wirklichkeit brauchen wir aber einen funktionierenden Zoll, eine funktionierende Finanzkontrolle Schwarzarbeit, eine Institution des Zolls. Diese wird sich demnächst noch verstärkter mit dem Problem des Missbrauchs beim Bezug des Kindergelds beschäftigen. ({2}) Wir haben einen Referentenentwurf vom Bundesministerium der Finanzen vorliegen. Ich darf daraus mal zitieren. Da steht als Ziel: Erweiterung des Prüfauftrages der FKS – der Finanzkontrolle Schwarzarbeit – im Hinblick auf Anhaltspunkte für unberechtigten Kindergeldbezug und Schaffung einer Sofortmitteilungspflicht gegenüber den zuständigen Familienkassen, um die Rechtmäßigkeit des Kindergeldbezuges sicherzustellen ... ({3}) Ich finde, das ist ein gutes Ziel. Wir werden dahinkommen, nicht indem wir beim Zoll Bürokratie abbauen, sondern indem wir den Zoll besser aufstellen. Das haben wir vor. Das haben wir schon angefangen. Das werden wir noch weiter verfolgen. Wir haben letztes Wochenende in NRW eine Razzia gehabt. Sie hat dazu geführt, dass Missstände aufgedeckt wurden. Da haben Behörden zusammengearbeitet, gute Ergebnisse im Sinne unserer Vorhaben erzielt, dass wir gerecht besteuern, aber auch im Sinne der Menschen, die hier für uns arbeiten, die wir mit vernünftigen Löhnen gerecht bezahlen, damit sie hier vernünftig Steuern zahlen und vernünftige Kindergeldleistungen bekommen. Das werden wir weiterhin so praktizieren. Ich denke, Sie haben den Eindruck erwecken wollen, dass hier Unsummen ins Ausland abfließen – unberechtigterweise. Das ist nicht der Fall. Wir können froh sein, dass es Menschen aus dem europäischen Ausland gibt, die bereit sind, hier bei uns zu arbeiten, die für ihre Familien gut sorgen, ob sie hier bei ihnen wohnen oder ob sie im Ausland geblieben sind. Das werden wir weiterhin unterstützen. Deshalb müssen wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Ich denke, das tun wir fast einvernehmlich. ({4}) Ich glaube, Sie können sich den nächsten Vorstoß in diese Richtung in dieser Legislatur echt sparen. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/6984 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Jetzt also vom Kindergeld zu Äthiopien. Warum diskutieren wir heute Abend Äthiopien und Eritrea? Weshalb gibt es diesen Antrag? Es gibt ihn, weil sich ein gewaltiger Umbruch in der Region am Horn von Afrika vollzieht. Der im letzten Frühjahr in Äthiopien neu ins Amt gekommene Premierminister Abiy Ahmed hat eine unglaubliche politische Dynamik in der Region ausgelöst. Er hat politische Gefangene freigelassen, hat die Opposition eingeladen, sich an der politischen Debatte zu beteiligen und hat auch die Exilopposition wieder ins Land zurückgeholt. Er hat einen Friedensprozess mit Eritrea in Rekordgeschwindigkeit, muss man schon sagen, auf den Weg gebracht und damit einen Konflikt beendet, der schon über 20 Jahre die Politik am Horn von Afrika mitbestimmt und in weiten Teilen auch gelähmt hat. Nach Jahrzehnten einer autoritären Herrschaft hat sich Äthiopien auf den Weg in eine offene Gesellschaft, in einen demokratischen Umbruch gewagt. Es hat einen Frieden gewagt, an den vor kurzem noch niemand zu denken wagte. Dieser Frieden hat übrigens nicht nur auf die Beziehungen von Äthiopien und Eritrea Auswirkungen, sondern strahlt auch auf die Konfliktregion Somalia ab, auf die Situation im Südsudan und im Sudan. Wir sehen hier also ein Stück Afrika im Aufbruch. Ich finde es wichtig, das deutlich zu machen; denn Afrika spielt in unserer Berichterstattung vor allem als Muster für Katastrophen, für Flüchtlingsbewegungen und vielleicht, wenn es mal schön ist, als Hintergrund für die Safari eine Rolle. Aber Afrika ist ein Kontinent im politischen Aufbruch, und zwar an vielen Stellen und mit einer ganz interessanten Entwicklung auch für uns. Wir müssen lernen, Afrika als Partner ernster zu nehmen. Aber – das will ich auch gleich zu Beginn sagen – diese Entwicklung, die der äthiopische Premierminister angestoßen hat, ist kein Selbstläufer. Sie steht vor gewaltigen Herausforderungen. Man muss sich vor Augen führen, dass sich hier ein Vielvölkerstaat, in dem es rund 80 verschiedene Ethnien gibt, aus einer autoritären Herrschaft in eine offene Gesellschaft entwickeln soll. Das hat nicht nur positive Effekte ausgelöst, sondern auch erhebliche ethnische Konflikte wach werden lassen, aufbrechen lassen. Seit Anfang des letzten Jahres hat es in Äthiopien rund 1,4 Millionen Binnenvertriebene aufgrund solcher ethnischer Konflikte gegeben. Eine große Zeitung hat vor einiger Zeit deshalb getitelt: Äthiopien zwischen Demokratie und Chaos. – Äthiopien ist auf dem Weg zur Öffnung, auf dem Weg zur Demokratie. Aber es gibt auch andere starke Kräfte im Land. Es gibt neben diesen ethnischen Konflikten natürlich auch enorme wirtschaftliche Probleme, insbesondere eine stark ausgeprägte Bürokratie, aber auch einen über Jahre hinweg immer wieder hemmenden Devisenmangel. Trotzdem hat es Äthiopien in den letzten Jahren geschafft, ein enormes Wirtschaftswachstum zwischen 8 und 10 Prozent pro Jahr hinzulegen. Und es braucht auf diesem Weg weitere Unterstützung. Diese braucht es auch, wenn man auf die Nachbarschaft des Landes schaut, die ebenfalls nicht stabil ist, sondern von großen Turbulenzen geprägt ist: Somalia, Südsudan. Aktuell gibt es auch wieder im Sudan Unruhen. Trotz allem hat es der äthiopische Premierminister geschafft, eine unglaubliche Hoffnung in seinem Land zu erzeugen, eine Aufbruchstimmung. Ich bin mit einigen Kollegen Ende August letzten Jahres dort gewesen. Die Begeisterung in vielen Teilen der Bevölkerung ist mit Händen zu greifen. Wir müssen das Momentum, was da ist, die Bewegung, die entstanden ist, jetzt nutzen. Diese neue Regierung braucht politische und wirtschaftliche Unterstützung. Mit diesem Antrag wollen wir ein klares Signal an die äthiopische Regierung senden, aber auch an Eritrea: Wir unterstützen die politische Öffnung. Wir unterstützen den Friedensprozess. Wir wollen auch die wirtschaftliche Entwicklung unterstützen. ({0}) Der Friedensprozess und die Öffnung, die sich jetzt in Äthiopien zeigen, die Gesellschaft, die in Bewegung gekommen ist, erhöhen natürlich auch den Druck auf die eritreische Regierung, zu Veränderungen zu kommen. Wenn man nach Eritrea schaut, stellt man fest: Dort hat sich innenpolitisch bisher kaum etwas bewegt. Nach wie vor gibt es in Eritrea nicht einmal eine in Kraft gesetzte Verfassung; der Entwurf von 1997 ist nie tatsächlich Verfassung geworden. Es gibt kein Parlament, das tagt. Es gibt keine Pressefreiheit. Es gibt keine Opposition. – Es gibt eine harte Unterdrückung. Die klare Botschaft an die eritreische Regierung muss sein: Auch in Eritrea erwarten wir Reformprozesse, politische Öffnung. Wir brauchen auch hier Freiheit für eine neue Entwicklung. Das Land hat hier einen schwierigen Weg vor sich. ({1}) Was in Äthiopien passiert ist, ist wirklich beeindruckend. Ich will nur einige Beispiele nennen, die auch durch die Medien gegangen sind: Eine Oppositionspolitikerin, die im Exil lebte, die zu, ich glaube, sogar mehrfacher lebenslanger Haft verurteilt war, Birtukan ­Mideksa, ist nicht nur zurückgekommen ins Land, sondern der neue Premierminister hat sie mit Blick auf die 2020 geplanten Wahlen zur Leiterin der Wahlbehörde gemacht. Es sind umfangreiche Gesetzesänderungen angekündigt und einige auf den Weg gebracht worden. Wir hatten vor einigen Monaten die Gelegenheit, mit der Kommission zu diskutieren, in der Wissenschaftler, Juristen, Vertreter der Zivilgesellschaft und der Regierungspartei zusammensitzen und überlegen, wie man diese Reformprozesse jetzt institutionalisieren kann, welche Gesetze man ändern muss – das Wahlgesetz, das Gesetz über die Arbeit zum Beispiel von NGOs –, wie man Pressefreiheit verankern kann usw. usf. Äthiopien sieht sich aber auch – das nehmen die meisten vielleicht gar nicht wahr – als Vorreiter einer grünen Wachstumsstrategie in Afrika. Äthiopien ist ein Land, das heute schon über 80 Prozent seines Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien deckt und diesen Weg auch konsequent weitergehen will. Auch das sind Entwicklungen, die spannend sind, die wir unterstützen können und bei denen es auch genügend Anknüpfungspunkte für wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt. Die Rolle der Frauen ist durch die neue Entwicklung deutlich gestärkt worden. Ich will zum Schluss eines sagen: Wir dürfen bei dieser Entwicklung nicht in der Zuschauerreihe stehen bleiben. Die Bundesregierung hat erste Schritte eingeleitet, es gibt klare Signale. Der Bundespräsident wird noch Ende dieses Monats auch Äthiopien besuchen. Das ist, wie ich finde, ein wichtiges Signal. Wir wollen als Koalitionsfraktionen noch mal ein deutliches Signal an die Bundesregierung schicken: Lassen Sie uns gemeinsam alles unternehmen, um die Entwicklung in Äthiopien zu unterstützen und den Friedensprozess zu unterstützen; denn es werden dringend Erfolge gebraucht – und die so rasch wie möglich. Ich bitte also um Zustimmung zu unserem Antrag. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Paul Podolay. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Der langjährige Kriegszustand zwischen Äthiopien und Eritrea ist durch die neue äthiopische Regierung nun beendet worden, noch dazu ohne jegliche Einmischung äußerer Mächte. Ein Problem bleibt jedoch bestehen: die aus der früheren Unabhängigkeitsbewegung stammenden alten und noch herrschenden Eliten. Sie sind daran interessiert, den autoritären Einparteienstaat in Eritrea beizubehalten. Dies verhindert gestalterische Chancen für das Land und kann letztendlich die gewünschte Stabilisierung in der Region gefährden. Was sind demgegenüber unsere deutschen Interessen in der Region? Es ist völlig klar: Das Ergebnis des laufenden Friedensprozesses muss dort der Aufbau eigener nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen sein. Es bedarf neben den finanziellen auch menschlicher Ressourcen. Seit Jahrzehnten fliehen Tausende Menschen aus Eritrea nach Europa. In den vergangenen Jahren kamen die meisten eritreischen Asylsuchenden nach Deutschland, und zwar signifikant mehr als in jedes andere EU-Land. Es liegt also im deutschen Interesse, an Rahmenbedingungen in diesem Land mitzuwirken, die es den Flüchtlingen ermöglichen, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. ({0}) Auch andere Nationen, vor allem in Europa, sollten dieses Interesse haben und daher bereit sein, mit uns zusammenzuarbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich mal im Sinne einer interessengeleiteten deutschen Außenpolitik handeln. Nur mit diesem Ansatz können wir die Wirtschaftsstärke Eritreas und möglicherweise anderer Nachbarstaaten positiv beeinflussen. Wir dürfen auf keinen Fall die Fehler der bisherigen Entwicklungspolitik des Westens in Afrika wiederholen. Eritrea ist bekanntermaßen reich an Bodenschätzen, die es weltweit exportiert. Ebenso sind die Böden dort fruchtbar. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind daher in der Landwirtschaft beschäftigt. Die wirtschaftspolitische Kompetenz der Regierung bleibt jedoch äußerst kritisch zu betrachten. Es ist nicht klar, ob sie die notwendigen Schritte in Richtung Prosperität unternimmt. Diese Mängel haben mehrfach zu Hungersnöten und gesundheitsgefährdenden Entwicklungen in der Gesamtbevölkerung geführt. Die Maßnahmen, die wir treffen müssen, sind also evident, nämlich eine Art Entwicklungspakt mit Eritrea. ({1}) Erstens. Unsere deutschen Unternehmen erschließen die Bodenschätze und verschaffen dem Staat somit Steuereinnahmen. ({2}) Zweitens. Wir schützen dabei die Wirtschaft Eritreas durch Fairtrade-Abkommen. Drittens. Durch die Modernisierung der Landwirtschaft erhöhen wir die Wirtschaftskraft und stellen die Ernährung der wachsenden Bevölkerung sicher. Viertens. Durch Aufbau von Handwerk und Gewerbe schaffen wir Mittelstand sowie Infrastruktur. ({3}) Fünftens. Zur Verstärkung dieser Maßnahmen helfen wir mit unserer Expertise beim Auf- und Ausbau einer effizienten öffentlichen Verwaltung. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei muss uns klar sein: So ein Entwicklungsvorhaben muss ausschließlich und konsequent zentral geplant und geführt werden. Lernen wir aus den Misserfolgen wie zum Beispiel in Haiti der jahrelangen massiven Veruntreuung von Hilfsgütern und Intransparenz: Nichtstaatliche Organisationen sind entwicklungspolitisch nicht effizient. Es muss einen festen Masterplan geben, und die in Haiti gescheiterten NGOs haben in Eritrea nichts zu suchen. ({5}) Sonst scheitern sie erneut. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner, der Kollege Markus Koob, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir auf Ostafrika blicken, dann blicken wir auf eine Region der Welt, aus der gute Nachrichten nicht zur alltäglichen Selbstverständlichkeit gehören, erst recht nicht, wenn wir auf die beiden Länder schauen, über die wir hier heute reden: Äthiopien und Eritrea, zwei Länder, die in den letzten Jahren überwiegend mit Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und bitterer Armut in Verbindung gebracht worden sind. Auch nach der Gemeinsamen Erklärung von Frieden und Freundschaft zwischen Äthiopien und Eritrea vom 8. und 9. Juli letzten Jahres bleiben weiterhin sehr große Herausforderungen für die beiden Länder, auch in ihrem bilateralen Verhältnis, bestehen. Aber ich finde, in einer Zeit, in der internationale Erfolge nicht alltäglich sind, kann man an dieser Stelle auch einfach mal sagen: Gut gemacht, beide Länder! Äthiopien hat, indem es dem Abkommen von Algier und auch der Empfehlung der Grenzkommission aus dem Jahr 2013 dann doch noch nachgekommen ist, den Mut bewiesen, den ich mir manchmal bei Grenzkonflikten auf der Erde wünschen würde, nämlich zu sagen: Wir verzichten auf Territorium. – Das klingt erst mal leichter, als es in der Realität dann meistens ist. Wir von der CDU/CSU hoffen eindringlich, dass Äthiopien seiner Bereitschaft zum Frieden eine tatsächliche Bereitschaft zu innerstaatlichen Reformen folgen lässt. Es bleiben in Äthiopien, in diesem 100-Millionen-Einwohner-Land, trotz des in der Tat hohen Wirtschaftswachstums der letzten Jahre wirtschaftliche Reformen notwendig, wenn das Ziel erreicht werden soll, im Jahr 2025 ein Schwellenland zu werden. Ungleich größer hingegen sind die Herausforderungen, vor denen Eritrea steht: ein Land mit bitterer Armut, in dem Rechtsstaatlichkeit nach wie vor nicht besteht. Der Friedensinitiative müssen deshalb erst recht durchgreifende nationale Reformen folgen. Der für viele Flüchtlinge auf der Welt verantwortliche Nationale Dienst in diesem Land sollte vergütet und vor allem zeitlich begrenzt, die Verfassung geändert, politische Opposition zugelassen, freie Wahlen abgehalten, Menschenrechte gewährt und rechtsstaatliche Prinzipien gewahrt werden. Die To-do-Liste – Sie haben es gehört – ist ausgesprochen lang in diesem Land. Auch die Herausforderungen der Nachbarländer – Somalia, Dschibuti, Sudan, Südsudan, Kenia – auf dem Weg zur Prosperität sind groß. Wir hoffen, dass die Befriedung dieses einen Konfliktes zwischen Eritrea und Äthiopien auch zu einer Stärkung der gesamten Region führen wird. Die Anträge, über die wir heute diskutieren, zeigen: In der positiven Bewertung der Chance auf Frieden sind wir uns in diesem Hause weitgehend einig, ebenso in der Einschätzung, dass weitere Reformen notwendig sind. Die Unterschiede in den Anträgen zeigen sich eher in der Einschätzung der Afrika-Politik der Bundesregierung. Die Kritik der FDP und der Grünen an der Afrika-Politik der Bundesregierung halte ich dabei für überzogen. Nur weil im Einzelnen mehrere Bundesministerien für die Hilfen in den afrikanischen Ländern zuständig sind, heißt das nicht gleich, dass ein Durcheinander existiert, und heißt auch nicht, dass keine Strategie vorhanden ist. Auch kann ich nicht nachvollziehen, warum im Antrag der Grünen das Eintreten der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Fluchtursachen gerade im Fall von Eritrea als etwas Negatives angesehen wird. Eine der wesentlichen Ursachen für die Flucht von Menschen aus Eritrea ist neben der Armut der erwähnte Nationale Dienst. Das Land dazu zu bewegen, hier endlich Änderungen vorzunehmen und damit einer Fluchtursache den Boden zu entziehen, ist vor allem im Interesse der betroffenen Menschen in Eritrea. Der in allen Anträgen richtigerweise erwähnte Wettbewerb mit Ländern wie China, den USA oder den Golfstaaten um das Engagement in der Region ist eine zusätzliche Herausforderung. Dieser Wettbewerb darf in der Tat nicht zu einem Unterbietungswettbewerb führen. Die Befürchtung der Grünen, es könne daher zu einer bedingungslosen Wiederaufnahme staatlicher Entwicklungszusammenarbeit durch die Bundesregierung kommen, teile ich aber nicht. Ich habe Vertrauen in die deutsche Entwicklungshilfe und die Arbeit des Ministeriums, dass es hier den richtigen Ansatz findet. Ich möchte an dieser Stelle aber auch ganz klar und ausdrücklich sagen, dass der eben beschriebene Wettbewerb um Einflussnahme nicht nur in Afrika, sondern auch in anderen Regionen dieser Erde ein Wettbewerb ist, mit dem wir uns als Parlament insgesamt, also Koalition wie Opposition, deutlich intensiver beschäftigen müssen, als wir das bisher tun. Gemeinsamkeiten dabei gibt es ja durchaus. Der Antrag der Regierungsfraktionen – hier am konkreten Beispiel von Äthiopien und Eritrea –, aber auch die Anträge der Grünen und der FDP zeigen: Im Grunde wollen wir alle in diesem Haus eine enge Partnerschaft mit Afrika, wir wollen den wirtschaftlichen Erfolg Afrikas, und wir wollen, dass die Menschen in Afrika mit Perspektiven in Frieden – inklusive der Wahrung der Menschenrechte – und Wohlstand leben können. Wir sollten alles dafür tun, um diese Länder dabei zu unterstützen. Deshalb bitte ich um Unterstützung für den Antrag der Regierungskoalition. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Olaf in der Beek. ({0})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der im letzten Sommer zwischen Äthiopien und Eritrea geschlossene Friedensvertrag ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Er ist ein Zeichen von Aufbruch, Veränderungswillen und der Sehnsucht nach Frieden. Er ist ein Zeichen in einer Zeit, in der andere Mauern bauen wollen, in der die Anzahl bewaffneter Konflikte leider zunimmt und in der eher das Trennende als das Verbindende betont wird. Welche Wirkung ein solcher Friedensvertrag entfalten kann, wissen wir in Deutschland nur zu gut. In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich zum 55. Mal. Aus den früheren Erbfeinden Deutschland und Frankreich sind enge und vertrauensvolle Partner geworden, die nun in Europa und der EU eine gemeinsame Führungsrolle einnehmen. Angesichts dieser Entwicklung muss es unser gemeinsames Ziel sein, den Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea zum afrikanischen Élysée-Vertrag werden zu lassen. ({0}) Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Die Reformentwicklungen in Äthiopien sind schon beeindruckend. Binnen Monaten hat es Ministerpräsident Abiy geschafft, sein Land zu öffnen, und zwar nach innen und nach außen. Diese Reformbemühungen müssen und wollen wir mit aller Kraft unterstützen. Dennoch liegt vor beiden Ländern wie auch vor der gesamten Region am Horn von Afrika noch ein weiter und langer Weg. Während in Äthiopien Oppositionelle aus den Gefängnissen entlassen werden und Ansätze demokratischer Reformen verfolgt werden, ist Eritrea von dieser Entwicklung leider völlig abgeschnitten. Das dürfen wir – trotz unserer Freude über den Friedensvertrag – nicht verschweigen. Im Gegenteil: Wir müssen dies gerade jetzt noch deutlicher benennen, um den Menschen in Eritrea eine echte Chance zu geben. Für uns Freie Demokraten gibt es eine eindeutige rote Linie: Nur wer die Menschenrechte achtet, wahrt und schützt und sich an den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit hält, hat die Möglichkeit, von uns unterstützt zu werden. ({1}) Davon dürfen wir keinen Millimeter abweichen, gerade in Zeiten, in denen liberale Wertegemeinschaften unter Dauerbeschuss stehen. Das gilt gerade jetzt, da sich kurzfristige Maßnahmen der Migrationssteuerung größerer Beliebtheit erfreuen als langfristige, also echte Entwicklungszusammenarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dringend aufpassen, dass wir dabei nicht unseren Wertekompass verlieren. Deshalb müssen wir ganz besonders nach der Aufhebung der Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen Eritrea genau hinschauen. Und an Herrn Staatsminister Annen, der hier anwesend ist: Nutzen Sie bitte auch unseren Sitz im Sicherheitsrat dazu, genau diesen Prozess kontinuierlich zu überprüfen. ({2}) Dazu gehört für uns ganz klar, dass den UN-Institutionen und unabhängigen Beobachtern Zugang zum Land gewährt werden muss. Die Weltgemeinschaft muss dazu in der Lage sein, Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen auch tatsächlich überprüfen zu können. Um die Lage der Menschen im Land zu verbessern, wollen wir, dass die Bundesregierung neben allen diplomatischen Bemühungen auch ganz praktisch zur Entwicklung in Äthiopien und Eritrea beiträgt. ({3}) Das Zusammenwachsen beider Staaten kann insbesondere durch die Förderung von grenzüberschreitenden wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Projekten sowie den Auf- und Ausbau der dringend benötigten Infrastruktur gefördert werden. Der Friedensschluss zwischen beiden Ländern kann zum Élysée-Vertrag von Afrika werden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Deshalb würden wir uns über die Unterstützung unseres Antrages sehr freuen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Kathrin Vogler spricht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Dass Äthiopien und Eritrea im Juli letzten Jahres einen Friedensvertrag unterzeichnet haben, ist eine große Hoffnung für die Region; das hatten wir alle nicht erwartet. Beide Länder verkündeten eine neue Ära des Friedens und der Freundschaft und nahmen diplomatische Beziehungen auf. Und wir haben jetzt die große Chance, aber auch die Verantwortung, diese zwei Länder dabei zu unterstützen, dass sie sich aus einem blutigen, jahrzehntelangen Krieg mit über 80 000 Toten auf den Weg zu einem stabilen Frieden und guter Nachbarschaft machen. ({0}) Diese historische Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht vermasseln. Dafür müssen wir genau schauen – dafür möchte ich werben –, was sinnvoll ist und was nicht, welche Hilfe Frieden fördert und welche die Saat für neue Gewalt legen könnte. Wir wissen, dass ein dauerhafter und tragfähiger Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Friedenskonsolidierung, das sogenannte Peacebuilding, ist langfristig und anspruchsvoll. Aus meiner Erfahrung als Friedensaktivistin ist es dabei zentral, Abrüstung statt Aufrüstung zu fördern. Aber die Tinte unter dem Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Eritrea war noch nicht trocken, da bestätigte der stellvertretende Stabschef der äthiopischen Armee, dass man nun eine Marine aufbauen und dafür einen entsprechenden Militärstützpunkt – ich zitiere – „in einem anderen Land“ aufbauen wolle. Das kann eigentlich nur in Eritrea sein. Das bedeutet, dass dieser Vertrag, der ein Friedensvertrag sein soll, die Option zu neuer Aufrüstung in der Region schafft – und Aufrüstung war noch niemals gut für den Frieden. ({1}) Etwa zur gleichen Zeit hob der UN-Sicherheitsrat das Waffenembargo gegen Eritrea auf. Damit wollte man den eritreischen Militärdiktator Isayas Afewerki ködern, sein Unrechtsregime zu beenden. Meine Damen und Herren, das ist doch so, als ob man mit einem Benzinkanister ein Feuer löschen wollte. In Eritrea – das haben wir schon von mehreren gehört – werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Tausende Bürgerinnen und Bürger sind ohne Gerichtsverfahren eingesperrt. Hunderttausende Frauen, Männer und Jugendliche werden auf unbestimmte Zeit vom Militär zwangsrekrutiert, wo Missbrauch und Folter an der Tagesordnung sind. Mehr als 5 300 Menschen aus Eritrea haben im letzten Jahr in Deutschland um Schutz gebeten, und 7 von 10 erhalten diesen Schutz auch. Damit ist Eritrea nach Syrien das Land mit der zweithöchsten Anerkennungsquote. ({2}) Aber im Dezember hat nun auch die EU ihre Sanktionen gegen Eritrea aufgehoben. Meine Damen und Herren, Sanktionen aufzuheben und damit der Zivilbevölkerung das Leben zu erleichtern, dagegen sagen wir überhaupt nichts; da sind wir auch sofort dabei. ({3}) Aber Waffenlieferungen an eine Militärdiktatur, das ist etwas ganz anderes, und dagegen haben wir als Linke tatsächlich entschieden etwas. ({4}) Auch gegen die Zusammenarbeit mit dieser eritreischen Diktatur zur Flüchtlingsabwehr und Migrationskontrolle, wie sie die EU zynischerweise im sogenannten Khartum-Prozess betreibt, haben wir entschieden etwas. Diese Zusammenarbeit lehnen wir ab. ({5}) Was die Menschen in Äthiopien und Eritrea jetzt brauchen, ist Friedensförderung, ist Freiheit und ist nachhaltige Entwicklung, keine neue Aufrüstung und vor allem auch keine Normalisierung ohne Verbesserung der Menschenrechtslage. Deshalb bitte ich Sie und fordere die Bundesregierung auf: Warten Sie nicht, dass sich ein dauerhafter und tragfähiger Frieden in den beiden Ländern von selbst einstellt, sondern tragen Sie aktiv dazu bei. ({6}) Hoffen Sie nicht darauf, dass Isayas Afewerki sich durch militärische Kooperation zu innenpolitischen Reformen verlocken lässt. Schützen und bestärken Sie vielmehr das zivilgesellschaftliche Engagement und die zivilgesellschaftlichen demokratischen Kräfte in Eritrea. Arrangements mit einem Despoten, der die Menschenrechte mit Füßen tritt, sind inakzeptabel. ({7}) Und: Setzen Sie sich ein für ein politisches Peacebuilding, das diesen Namen verdient. Die Aufhebung der Embargos darf nicht dazu führen, dass diese beiden Länder jetzt massiv aufgerüstet werden. Last, not least: Gestalten Sie eine Entwicklungszusammenarbeit, die Armut, Unterentwicklung, Ausbeutung und Umweltzerstörung und damit die wesentlichen Gewaltursachen wirksam bekämpft! Vermasseln Sie es nicht! ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Welt, die in den letzten Jahren eher neue Grenzen und neue Konflikte, mehr Spannungen und Spaltungen zwischen Staaten und Gesellschaften gesehen hat, ist es mehr als eine gute Nachricht für Ostafrika, dass es nach Jahrzehnten zu einem historischen Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea gekommen ist. Wo früher Schweigen und Schüsse geherrscht haben, kann jetzt der diplomatische Dialog beginnen. Wo Familien auseinandergerissen worden sind, finden jetzt Telefonate und Besuche statt. Allerdings darf aus der berechtigten Freude nicht der naive Glaube werden, dass nun alles gut ist. Ein Friedensprozess ist leider nun mal kein Selbstläufer, sondern das ist eine sehr schwierige, eine sehr fragile Entwicklung über Jahre hinweg. Deshalb ist es bei allen Unterschieden richtig, dass sich durch alle Anträge die Forderung zieht, dass die deutsche und auch die europäische Seite diesen wichtigen Prozess tatkräftig unterstützen müssen. Zum anderen dürfen aber eben außenpolitische Erfolge auch nicht von der innenpolitischen Situation ablenken. Meine Damen und Herren, Eritrea zählt zu den autoritärsten Staaten dieser Welt. Die Liste der VN-Sonderberichterstatterin über die Menschenrechtsverletzungen ist ebenso lang wie schrecklich. Folter, willkürliche Festnahmen: Das ist übler Alltag in Eritrea. Die Menschen werden dort zum sogenannten Nationalen Dienst gezwungen. Das ist eigentlich nur eine freundlich klingende Umschreibung für Sklavenarbeit. Schülerinnen und Schüler müssen einen militärischen Zwangsdienst leisten. Frauen und Mädchen werden sexuell versklavt und gequält. Die Bundesregierung sollte nicht, wie es die AfD gefordert hat, dieses brutale Regime mit Entwicklungszusammenarbeit unterstützen, sondern sie sollte die Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu nutzen, eine Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof in Angriff zu nehmen. ({0}) Meine Damen und Herren, zumindest im Nachbarland Äthiopien gibt es innenpolitische Hoffnungsschimmer mit Blick auf etwas mehr Demokratie. So wurden politische Gefangene endlich freigelassen, und die Exilopposition wurde eingeladen, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Es muss sich aber noch zeigen, ob die Rechte von Zivilgesellschaft, von Opposition und von Minderheiten wirklich respektiert werden und ob es zu einem fairen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft kommt. Die Bundesregierung sollte demokratische Reformen einfordern und unterstützen. Dazu gehört aber zum Beispiel auch, sich dafür einzusetzen, dass das Anti-Nichtregierungsorganisationen-Gesetz endlich abgeschafft wird. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins muss bei der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den afrikanischen Staaten aber auch ganz klar sein – das ist der entscheidende Unterschied zwischen unserem Antrag und denen der Koalition und der FDP –: Wer Demokratie, wer Menschenrechte und Stabilität befördern will, der muss Frieden und Zukunftsperspektiven unterstützen und der darf nicht auf fragwürdige Deals und vermeintliche Sicherheitskooperationen mit autokratischen Regimen setzen. ({2}) Wir Grüne beobachten wirklich mit großer Sorge, wie aktuell Mittel unter dem Stichwort „Migrationsmanagement“ umgeschichtet werden und dass es immer weniger um echte Entwicklungszusammenarbeit, immer weniger um notleidende Menschen und ihre Perspektive geht, sondern immer mehr um die Abwehr von Geflüchteten. Es ist einfach schwierig, Menschenrechte und Demokratie einzufordern, wenn man sich derart erpressbar macht. Eine solche Politik ist nicht nur falsch und zynisch, sondern sie ist zugleich auch höchst naiv; denn sie droht am Ende die Fluchtgründe nicht zu beseitigen, sondern sogar noch zu befördern. ({3}) Denn wer von Fluchtursachenbekämpfung redet, damit aber vor allem Fluchtabwehr meint, der macht sich eben sehr angreifbar und sehr unglaubwürdig. Daher fordern wir die Bundesregierung an dieser Stelle und in unserem Antrag dazu auf, sich von einem solchen Kurswechsel zu verabschieden und ihm eine deutliche Absage auch auf europäischer Ebene zu erteilen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ja, es war ein historisches Ereignis: die Gemeinsame Erklärung von Frieden und Freundschaft zwischen Äthiopien und Eritrea. Seit dieser für die gesamte Region historischen Entscheidung können wir bereits sehr positive Entwicklungen erkennen. Ein politischer Wandel in Äthiopien, der vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen wäre, ist klar erkennbar. Regierungschef Ahmed hat sein Land innerhalb weniger Monate durch seine Rhetorik, den eingeschlagenen Reformkurs und diplomatische Erfolge in der Region zum Positiven verändert. So wurde etwa die Opposition entkriminalisiert, und Tausende politische Gefangene wurden freigelassen. Als weitere beabsichtigte Schritte wurden die Einführung einer Mehrparteiendemokratie sowie freie und faire Wahlen 2020 angekündigt. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht gibt es inzwischen beachtliche Fortschritte. So hat sich in Eritrea seit der Grenzöffnung die Versorgung der Bevölkerung deutlich verbessert, auch wenn sie noch lange nicht gut ist, und es findet auch eine verstärkte Handelstätigkeit statt. Gleichzeitig hat Äthiopien den Logistiksektor für ausländischen Investoren – wenn auch nur wenig, aber dennoch – geöffnet. Nichtsdestotrotz befinden sich Äthiopien und Eritrea zweifellos am Beginn eines sehr langen Reformprozesses, der neben der Aussöhnung der Staaten zuvorderst das Ziel haben muss, die Lebenssituation der Bevölkerung zu verbessern und vor allen Dingen Zukunftsperspektiven in ihren Heimatländern für sie zu etablieren. Angesichts extrem hoher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig rasantem Bevölkerungswachstum gilt es, auch mithilfe europäischer Investitionen die Wirtschaft vor Ort zu stärken. Die Schaffung beruflicher Perspektiven besonders für junge Menschen leistet zugleich einen großen Beitrag zur Bekämpfung der Fluchtursachen in Ostafrika. Gut ausgebildete junge Leute können ihr Land besser stabilisieren, wenn sie es nicht verlassen müssen. Neben einer wirtschaftlichen Förderung des Entwicklungsprozesses durch die internationale Gemeinschaft bedarf es auch einer politischen Unterstützung. Voraussetzung hierfür ist jedoch zunächst, dass die Staatschefs beider Länder eingegangene Verpflichtungen auch einhalten und den eingeschlagenen Reformkurs beibehalten. Hier ist beispielsweise die bereits 2013 ratifizierte Agenda 2063 der Afrikanischen Union zu nennen, in der gute Regierungsführung, freie Wahlen und eine gerechte Wirtschaftspolitik festgeschrieben sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich müssen im Rahmen des Friedensdialogs zwischen Äthiopien und Eritrea auch die individuellen Herausforderungen beider Länder berücksichtigt werden. In Äthiopien – mit 200 Ethnien und 80 Sprachen – muss die Regierung unterstützt werden, einen demokratischen Föderalismus zu etablieren. Die Versöhnung und die Vereinigung aller Ethnien ist das Ziel des Landes und des Staatschefs; und dieses muss gelingen. Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen über den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag gesprochen. Jahrhundertelang haben sich Deutsche und Franzosen bis aufs Blut bekämpft. Seit 70 Jahren haben wir Frieden zwischen unseren Ländern. Warum sollte es nicht auch in Ostafrika möglich sein, Frieden zu schaffen? Wir sollten alles dafür tun, dass dieses möglich ist. Dazu nutzt auch der Antrag, den wir heute gestellt haben. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Besucher auf den Tribünen! Zuschauer im TV und Internet! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute eine weitere Debatte zu Afrika haben. Wir sollten öfter über Afrika debattieren – und zwar über Afrika als Kontinent der Chancen, über Afrika als Kontinent der Zukunft und über die Frage, ob Europa, ob Deutschland diese Chancen in ausreichendem Maße ergreift. Wir als Unionsfraktion unterstützen den von der Kanzlerin skizzierten Afrika-Fonds; das ist die richtige Richtung. Aber aktuelle Zahlen zeigen, dass zum Beispiel China für einen Anteil von über 25 Prozent aller Neuinvestitionen in Afrika steht, Frankreich und Großbritannien unter 5 Prozent und Deutschland unter 2 Prozent. Dabei werden die Investitionssummen in Afrika in den nächsten Jahren gigantisch sein. Das ist nicht nur wirtschaftlich von Bedeutung, sondern zum Beispiel auch beim Klimaschutz, bei dem wir eine große Hebelwirkung sehen, wenn neu zu erstellende Infrastruktur gleich klimaschonend auf das richtige Gleis gesetzt wird. Blickt man auf den Handel, ist Europa nach China und Japan nur noch der drittgrößte Partner, trotz der direkten Lage vor unserer Haustür. Hier müssen wir dringend wieder aufholen. Das Cotonou-Folgeabkommen bietet dazu eine Chance. Innerhalb Afrikas bilden nur wenige Länder den Großteil des Handels mit Europa ab. Stabilität und gute Regierungsführung sind wesentliche Kriterien für eine Teilhabe an diesem wirtschaftlichen Austausch. Dabei gibt es Licht und viel Schatten. Über einen besonderen Lichtblick haben wir hier heute debattiert. Das Friedensabkommen zwischen Äthiopien und Eritrea hätte es eigentlich als Wunder von Afrika des Jahres 2018 in sämtliche Jahresrückblicke schaffen müssen, zum Beispiel mit den emotionalen Bildern bei den Grenzöffnungen, wo sich Familien und Geschwister nach Jahren und Jahrzehnten der Trennung wieder in den Armen lagen, oder mit dem sensationellen Reformtempo von Ministerpräsident Abiy. Er hat im Übrigen ein Kabinett mit 50 Prozent Frauenanteil ({0}) und einer klugen Auswahl an Persönlichkeiten aufgestellt. Und: Äthiopien hat seit kurzem ein weibliches Staatsoberhaupt. Das sei an diesem Tage auch erwähnt. ({1}) Die Hoffnung, die in Ministerpräsident Abiy gesetzt wird, konnte man auch an den 20 000 Äthiopiern, die in Europa leben, ablesen, die seinen Auftritt in der Frankfurter Commerzbank-Arena feierten, als er letztes Jahr für den Afrika-Gipfel nach Deutschland kam. Bei aller Euphorie müssen wir aber auch sehen, dass die Verhältnisse durchaus fragil sind. Einige Herausforderungen haben meine Vorredner an dieser Stelle bereits angesprochen. Es gibt nach wie vor Unruheherde, verursacht durch Rebellen. Eritrea ist ausführlich besprochen worden; dort ist bisher keine Öffnung sichtbar, keine Abschaffung des lebenslangen Militärdienstes. Viele Menschen aus Eritrea suchen deshalb den Weg nach Äthiopien, was neue Herausforderungen bringt. Offene Grenzen Richtung Eritrea und die Nutzung der Häfen sind Realität, formale Regeln sind aber auch an dieser Stelle noch nicht aufgesetzt – möglicherweise eine weitere Herausforderung für die Zukunft, genauso wie das Staudammprojekt am Blauen Nil, bei dem sich die Beziehung zu Ägypten bewähren muss. Es liegt noch ein weiter Weg vor den Menschen dort. Unser Antrag fordert die Bundesregierung auf, die Region verstärkt mit allem zu unterstützen, was unser Werkzeugkasten hergibt – ob es das Finanzministerium, Wirtschaftsministerium oder unser hervorragend arbeitender Minister für Entwicklungszusammenarbeit Gerd Müller ist. Dies ist richtig – selbstverständlich in einer Partnerschaft auf Augenhöhe, interessen-, aber auch wertegeleitet und natürlich mit Fokus auf Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für eine nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft. Afrika als Kontinent der Chancen – für Europa, für uns, aber auch für die Menschen in Afrika. Das ist unser Interesse, und das sollte regelmäßig an dieser Stelle besprochen werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Erndl. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Friedensprozess zwischen Äthiopien und Eritrea unterstützen – Zusammenarbeit ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5644, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/4847 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das ist die Koalition. – Gegenprobe! – Grüne und AfD. Enthaltungen? – Linke und FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zusammenarbeit nutzen, um dauerhaften Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea zu sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7082, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4837 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalition, die AfD, die Grünen und die Linken. – Gegenprobe! – Nur die FDP. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Friedensprozess zwischen Äthiopien und Eritrea fördern, schwere Menschenrechtsverletzungen in Eritrea beim Namen nennen und ahnden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7088, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6109 abzulehnen. ({0}) Wer stimmt für diese Ablehnung? – Das sind die Koalition und die AfD. Gegenprobe! – Die Grünen. Enthaltungen? – FDP und Linke. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Engagement für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist uns wichtig. Engagement für den Schutz von Biodiversität ist uns wichtig. Und am Ende ist uns wichtig: Engagement für den Schutz der Schöpfung. Das ist uns als CDU/CSU wichtig; das ist uns auch als Koalition wichtig. Und eigentlich ist es genau das, was im deutschen Interesse liegt: das Engagement unseres Landes. ({0}) – Ja, da wäre Beifall eigentlich angemessen. ({1}) – Bei allen Fraktionen, richtig, vielen Dank. Dieses Engagement verbindet uns eben auch mit Tansania. Dazu gehört auch die gemeinsame Erkenntnis, dass Umweltprobleme keine Grenzen kennen, dass man sie gemeinsam anpacken soll und dass wir sie deswegen auch gemeinsam anpacken; denn die Zusammenarbeit in diesem Bereich zwischen Deutschland und Tansania hat eine lange Tradition. Das ist nicht nur eine politische Deklaration, sondern wird auf vielen Ebenen gelebt, zum Beispiel durch die Kooperation von vielen Fachleuten an offiziellen Stellen, in NGOs. Das ist aber auch spätestens seit der Zeit von Bernhard Grzimek ganz tief verwurzelt im emotionalen Leben der Deutschen. Das ist auch gut so. Auch emotional steht Deutschland hinter Tansania, und gerne wollen wir diese Zusammenarbeit auch in Zukunft fortsetzen. Gerne wollen wir gemeinsam auf Projekte und Probleme schauen, auch im Selous. Das ist ein riesiges Wildschutzgebiet, das einerseits ökologisch ausgesprochen wertvoll, andererseits aber auch wirtschaftlich sehr wertvoll ist für Tansania und erhebliche Einnahmen im Bereich der in Tansania so wichtigen Tourismuswirtschaft – beispielsweise durch Jagdtourismus, Fototouristen und andere Touristen – generiert. Nun plant Tansania berechtigterweise, in Zukunft sehr viel mehr Strom zu produzieren; denn es wird mehr Strom gebraucht, wenn die Menschen in Tansania mehr Jobs und Chancen und Perspektiven haben sollen. Und das muss auch erreicht werden. Deswegen ist der Plan, mehr Energie zu produzieren, sicherlich erst mal sehr zu begrüßen. Die Frage ist nur, ob dafür ein uralter Plan, nämlich dieses Staudammprojekt „Stieglers Gorge“, der richtige Weg ist. Daran gibt es erhebliche Zweifel. ({2}) Und diese Zweifel gibt es offensichtlich auch in Tansania. Anders kann ich mir nicht erklären – ich war in der vorigen Woche in Tansania und habe mich vor Ort vertraut gemacht mit dem erheblichen Potenzial an guter Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern –, dass mir als deutschem Abgeordneten der Zutritt zu diesem Schutzgebiet verwehrt wurde. ({3}) Offenbar ist man sich in Tansania selber nicht ganz klar über die eigene Argumentation. Zweifel an diesem Projekt sind in der Tat durchaus berechtigt. Da gibt es Zweifel, was die wirtschaftliche Qualität angeht. Denn viele sagen: Die Stromproduktion wird sehr viel geringer sein, als Pläne aus den 70er-Jahren mit anderen Rahmendaten – beispielsweise mit sehr viel mehr Wasser – prognostiziert haben. Zweifel kann man auch haben, wenn man einfach nur beobachtet, dass sich noch keiner – auch nicht die Chinesen – gefunden hat, der das Ganze finanziert. Also, was die Effizienz der künftig erhöhten Stromproduktion angeht, kann man sehr große Zweifel haben – von Natur- und Biodiversitätsfragen ganz zu schweigen. Unser Antrag ist keine Verurteilung der Pläne Tansanias, sondern ein doppeltes Angebot. Erstens. Lasst uns miteinander reden. Lasst uns darüber reden, welche besseren und effizienteren Möglichkeiten es gibt, euren berechtigterweise erhöhten Energiebedarf der Zukunft zu decken. Zweitens. Lasst uns auch in Zukunft sehr, sehr eng unter Freunden zusammenarbeiten. Das ist das, was wir als doppeltes Angebot in unserem Antrag festgeschrieben haben. Ich würde mich freuen, wenn wir dazu eine breite Zustimmung über alle Fraktionen hinweg finden könnten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort für die AfD-Fraktion hat der Kollege Dietmar Friedhoff. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Jugend auf der Tribüne! Unsere Welt ist im Wandel, und die Lage ist ernst. Heute ging es bereits um Nachhaltigkeit. Auch deswegen ist es gut, richtig und sinnvoll, über das Staudammprojekt in Tansania zu sprechen. Zeigt es doch beispielhaft auf, welche Veränderungen der Mensch mit nur einer Entscheidung auf ein gesamtes Ökosystem haben kann, auf ein System, das die Erde im wahrsten Sinne des Wortes lebenswert macht. Ich möchte beide Anträge nutzen, um den Blick etwas zu erweitern; denn auch unser eigenes Tun hat massive Auswirkungen. Die Zerstörung der Natur, der Umwelt, hat bereits schon jetzt gravierende Folgen für uns Menschen. Und da spielt – das wird Sie jetzt vermutlich wundern – CO 2 eine untergeordnete Rolle, auch wenn wir Deutsche das anders sehen mögen. Zur Sache: Die Welt wird geplündert. Ressourcen werden in nie dagewesenem Umfang im Zusammenspiel mit der Bevölkerungsexplosion verbraucht. Jedes Jahr verschwinden weltweit mehr als 5 Millionen Hektar Wald von der Landkarte, eine Fläche so groß wie Niedersachsen – Jahr für Jahr einfach weg. Die Tropenhölzer des Amazonas oder des Feuchtgebietes in Madagaskar werden von korrupten Politikern an Chinesen verkauft. Wir bauen immer mehr. Dafür brauchen wir Sand für Beton; deswegen wird Sand zu einer begehrten, notwendigen und endlichen Ressource. Sand wird in unseren Meeren, Flüssen und an Stränden abgebaut, mit negativem Einfluss auf die Biodiversität. Unsere Meere verkommen im Kunststoff, und Überfischung verändert auch hier den natürlichen Kreislauf. Das Artensterben schreitet immer weiter voran. Durch unseren unbegrenzten Konsumzwang, aber eben auch durch die Bevölkerungsexplosion und die Herausforderungen einer Welt ohne Hunger entstehen große Weideflächen für Rinder und Ackerflächen für Monokulturen wie Soja und Mais. So verändert eben auch die Nutzung von Biogasanlagen die Landwirtschaft. Angebaut wird das, was Geld bringt: Soja, Mais, Palmöl. All das hat Einfluss auf Flora und Fauna. Liebe Grüne, die E‑Mobilität, eine der großen ideologischen Lügen der letzten Zeit, wird den Ressourcenabbau weiter beschleunigen; denn Kupfer, Lithium und Kobalt werden benötigt. E‑Mobilität trägt folgenschwere Ressourcenrucksäcke mit sich; informieren Sie die Menschen auch einmal darüber. Die Gewinnung von Lithium lässt mittlerweile große landwirtschaftliche Flächen von Kleinbauern erodieren. In Deutschland sauber durch die Innenstädte fahren, aber die Erde zerstören: Das ist grüne Politik – ich kann Ihnen sagen: überhaupt nicht unser Humor. ({0}) Welche Alternative hätte Tansania zu dem geplanten Staudamm? Eine sinnvolle Lösung wäre ein Gasturbinenkraftwerk, wie es unlängst in Ägypten gebaut wurde. Liefert es vor allen Dingen eins, nämlich konstanten Strom, im Gegensatz zu Wind- und Solarenergie. Werte antragstellende Fraktionen, Sie reden immer gerne von einer Welt ohne Hunger, Zugang für jeden Menschen zu Gesundheit und Energie. Aber wie viel Mensch verträgt die Welt? Und wie wollen Sie das bei 10 Milliarden Menschen hinbekommen? Denn die Welt steht doch bereits jetzt schon am Rande des Machbaren. Wenn Sie von Zugang zu Energie sprechen – genau das ist es –: Was bitte bedeutet das? Wie viel Energie wird im Jahr 2050 von jedem der bis dahin lebenden 2,5 Milliarden Afrikaner verbraucht? ({1}) – Genau das ist es; deswegen erklären Sie uns mal, wie das dargestellt wird. Derzeit beträgt der Verbrauch an elektrischer Energie pro Jahr und Kopf in Deutschland 6 700 Kilowattstunden. Ein Afrikaner verbraucht derzeit im Schnitt 100 Kilowattstunden. Das reicht nicht einmal, um einen Kühlschrank zu betreiben. ({2}) 75 Prozent der Afrikaner, Herr Röspel, haben noch nicht einmal Zugang zu Strom. Ich möchte Ihnen das nur mal erklären. Sie wollen den Menschen den Zugang gewähren, aber der Strom muss auch irgendwo herkommen. Das muss auch für Herrn Röspel aus Hagen klar sein. Tansania hat circa 60 Millionen Einwohner und ist fast dreimal so groß wie Deutschland. Wie kommt der Strom in die Dörfer? Ich kann Ihnen sagen: Mit WLAN funktioniert es nicht. Dazu braucht es nämlich sehr viele Kupferleitungen. Am Rande: Deutschland fehlen selber Tausende von Kilometern Erdkabel für die von Ihnen geplante Energiewende. Bei all Ihren Ideen wäre eine ressourcenschonende Machbarkeitsanalyse dringend geboten. Der Kapitalismus sieht in den neuen Erdenbürgern eigentlich nur eines: Humankapital. Der Verlust der Natur kommt in keiner Kostenrechnung vor. Das Ziel muss es sein, die Menschen, die Regierung und die Großunternehmen in die Selbstverantwortung zu nehmen; denn nur gemeinsam lässt sich diese Welt retten. Zu Tansania. Als Politiker eines außenstehenden Landes können wir den Menschen eigentlich nur etwas empfehlen und sie beraten. Deswegen möge dieser Staudamm nur als Beispiel dienen. Der Regenwald in Südamerika und Madagaskar und viele andere Gebiete haben die gleiche Aufmerksamkeit verdient. Verstehen wir endlich eines: Die ganze Welt ist ein UNESCO-Weltnaturerbe. Und ich kann Ihnen sagen: Das liegt der AfD besonders am Herzen; denn vom Mond aus gesehen, liebe Grüne, ist die Erde nicht grün, sondern blau. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Gabi Weber. ({0})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der tansanische Präsident John Magufuli plant – wir haben es eben schon gehört –, im UNESCO-Weltnatur­erbe Selous einen gewaltigen Staudamm zu bauen. Er soll eine 126 Meter hohe und 700 Meter breite Mauer haben. Zum Vergleich der Größenordnung: Der Berliner Funkturm hat eine Höhe von etwa 147 Metern. Wer die Kapruner Staumauern kennt, weiß, dass sie eine Höhe von etwa 112 Metern haben. Wenn wir uns diese Planung im UNESCO-Weltnaturerbe anschauen, stellen wir fest, dass es dabei einen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung eines Landes und dem Schutz von Umwelt und auch Klima gibt. Tansania hat wie die Bundesrepublik Deutschland die Agenda  2030 mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung unterschrieben. Jetzt stellt sich die Frage: Ist denn bei den Staudammplanungen insbesondere Ziel 15, die Bewahrung der Natur und der biologischen Vielfalt, in irgendeiner Form beachtet worden? Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Selous-Park ist ein wichtiges Ziel für Menschen, die sich in Tansania mit Wildtieren beschäftigen wollen, und bringt erhebliche Einnahmen ins Land. Deutschland unterstützt seit über 30 Jahren den Erhalt und die Nutzung der biologischen Vielfalt in diesem Schutzgebiet. 2014 wurde mit deutscher Unterstützung die tansanische Wildtierschutzbehörde ins Leben gerufen, deren Obhut der Selous-Park inzwischen unterliegt. Seither erholen sich die Bestände gefährdeter Tierarten dort. Zudem starteten die tansanische und die deutsche Regierung 2017 ein neues Projekt im Selous-Park, das wir mit 18 Millionen Euro aus dem Etat des BMZ fördern. Ganz nebenbei: Im November hat die Deutsche Afrika Stiftung Herrn Gerald Bigurube ausgezeichnet. Was macht er? Er kommt aus Tansania, bekämpft seit 44 Jahren Wilderei und hat Projekte entwickelt, die Naturschutz, Wildtierschutz und vor allen Dingen die Belange der Bevölkerung in Einklang bringen. Daran kann man also sehen, dass es diese Möglichkeiten gibt und wie man sie anders nutzen kann. ({0}) Mit unserem heutigen Antrag wollen wir dazu anregen, dass die tansanische Regierung die Gewinnung alternativer, erneuerbarer Energien in Erwägung zieht, um den Staudamm überflüssig zu machen und dadurch die Einzigartigkeit des Selous-Gebietes zu erhalten. Der Antrag hat auch zum Ziel, die angespannte diplomatische Lage in der Beziehung zu Tansania etwas zu entspannen; denn von tansanischer Seite – der Kollege Klein hat das eben noch mal unterstrichen – gibt es durchaus Vorwürfe der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, uns geht es mitnichten darum, der tansanischen Regierung die Entwicklung der tansanischen Gesellschaft zu verwehren. Es hat sich aber gezeigt – da komme ich zu einem Kernpunkt –, dass dezentrale Energieerzeugung aus Wind und Sonne schneller und effektiver zu verwirklichen ist als ein Staudamm, aber auch als ein Gasturbinenkraftwerk, bei dem sich die Frage stellt, wo die Energie, das Gas, herkommen soll. Tansania ist ein Land, das Wind in den Bergen und Sonne im Überfluss zur Verfügung hat. Mit intelligenten Speichertechnologien wäre dort eine ganze Menge zu machen. Deutschland hat damit durchaus Erfahrungen und würde die tansanische Regierung mit dem Wissen, das bei uns vorhanden ist, gerne unterstützen. Wenn es um den Klimaschutz geht, müssen wir uns in Deutschland aber auch an die eigene Nase fassen. Auch wir müssen unsere Hausaufgaben machen und ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen. So können wir international und auch Tansania gegenüber mit mehr Gewicht in Klimaschutzfragen auftreten. ({1}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem mit der CDU/CSU gemeinsam eingebrachten Antrag. Ich denke, er ist richtig gut. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selous darf nicht sterben. ({0}) Das sage ich in Anlehnung an Grzimeks Film „Serengeti darf nicht sterben“. Selous ist noch ein Stück größer als die Serengeti, beherbergt aber auch genau diese Tiere: die Großsäuger, Elefanten, Nashörner, Giraffen usw. Dieses Gebiet ist von unglaublicher Bedeutung nicht nur für Tansania, sondern für die gesamte Menschheit und ist deshalb auch zu Recht ein UNESCO-Weltnaturerbe. Bisher hat Deutschland die Bemühungen zum Erhalt dieses Reservats mit 25 Millionen Euro unterstützt. Ich glaube, wir tun gut daran, diese 25 Millionen Euro nicht kampflos aufzugeben. ({1}) Die andere Seite ist: Tansania hat ein Stromproblem. Nur 30 Prozent der Haushalte sind an das Stromnetz angeschlossen. Zusammen haben die Kraftwerke nur eine Leistung von 1,4 Gigawatt für etwa 60 Millionen Menschen. Das ist natürlich viel zu wenig. Tansania braucht dringend die Elektrifizierung für die wirtschaftliche Entwicklung, für den Wohlstand und für die leichte Industri­alisierung, die angedacht ist. Dafür muss es Lösungen geben, die ohne diesen Staudamm und ohne dieses Wasserkraftwerk auskommen. ({2}) Tansanias Präsident hat der Bevölkerung 2015 versprochen, dass die Stromversorgung, die Elektrifizierung, kommt. Dann hat er die alten Pläne zu diesem Staudamm aus der Schublade gezogen. Dabei geht es um eine Investition von etwa 3 Milliarden Dollar und fünf Jahre Bauzeit. Das Herz dieses Wildreservats wird dabei zerstört. Das sollten wir, glaube ich, nicht kommentarlos hinnehmen. Tansania hat deshalb auch keine Kredite von den internationalen Geldgebern bekommen. Selbst China, das bei der Finanzierung auch von obskuren Projekten eigentlich schmerzunempfindlich ist, hat sich geweigert, zu finanzieren. Jetzt sind bereits 3,5 Millionen Kubikmeter Holz zum Einschlag ausgeschrieben. Wir haben also nur noch ein superkurzes Zeitfenster, in dem wir überhaupt noch intervenieren können, in dem wir Tansania vielleicht überzeugen können, auf dieses Projekt zu verzichten. Dafür ist der Antrag der Koalition aber einfach zu wenig pragmatisch, zu wenig konkret, und er wird nicht schnell genug wirken können. ({3}) Tansania hat Gasvorkommen. Wir haben uns alle Studien zur Energieversorgung Tansanias genau angeschaut und festgestellt, dass wir dort Gaskraftwerke als Überbrückungstechnologie brauchen, bis der Rollout der regenerativen Energien tatsächlich erfolgen kann und erfolgt ist. Wir brauchen die Gaskraftwerke auch danach als Backup für die Flautentage und für die Dunkelheit in der Nacht. Der Vorteil einer Gasanlage ist: Sie ist schneller, nämlich in zwei Jahren, gebaut und 1 Milliarde Dollar günstiger als der Staudamm. Ich glaube, das ist ein Angebot, das man dem tansanischen Präsidenten unbedingt machen sollte. ({4}) Deshalb muss die Bundesregierung dem tansanischen Präsidenten jetzt ein glasklares Konzept, das operativ schnell umsetzbar ist, vorstellen. Machen Sie das, wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit der Rettung von Selous! ({5}) Es genügt nicht, dass man, wie Sie es, Herr Klein, gesagt haben, mal ein bisschen miteinander redet. Nein, es muss ein konkretes Projekt mit einer klaren Finanzierung auf den Tisch. Dann kann es noch eine Rettung für den Selous geben. Selous darf nicht sterben. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Eva-Maria Schreiber. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir reden heute über einen Megastaudamm, einen Staudamm, der im UNESCO-Weltnaturerbe Selous errichtet werden soll, um die Stromversorgung Tansanias zu verdoppeln. Die Linke und ich teilen viele der in den Anträgen der FDP und der Koalition angesprochenen Sorgen. Der Damm bedroht die Lebensgrundlagen vieler Menschen. Er stellt die Existenz des Selous-Wildtierreservats infrage, Heimat vieler gefährdeter Wildtiere. Ökonomisch ist das Projekt fragwürdig. So wird das Kraftwerk die erhofften Stromkapazitäten nie erreichen, da viel zu viel Wasser im Oberlauf der Staumauer für großflächige Agrarprojekte abgezweigt wird; das wurde schon erwähnt. Ich begrüße sehr den Einsatz für Natur- und Tierschutz. Bei Belo Monte in Brasilien fehlte dieser noch. Es ist sehr schön, dass es nun ein solches Engagement gibt; das unterstütze ich sehr gerne. Mir fällt aber noch ein Grund ein, warum wir darauf achten sollten, wie wir diese Unterstützung geben: die Entwicklungsgeschichte des Selous-Parks. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich schon sehr lange für die Tiere des Selous-Parks. Das hat einen bestimmten Grund, und dieser fehlt mir leider in den Begründungen Ihrer Anträge. Das ist die deutsche Kolonialgeschichte. Den ältesten Teil des Parks gründeten die Deutschen bereits 1896. Zwischen 1905 und 1907 war die Gegend Schauplatz eines der grausamsten Kriege der afrikanischen Kolonialgeschichte, des Maji-Maji-Kriegs. Die deutschen Schutztruppen verwüsteten Felder und Ernten, zerstörten Siedlungen und Brunnen und töteten ungefähr 250 000 bis 300 000 Menschen, kurz: Strategie der verbrannten Erde. Durch diese Strategie wurde erst jenes menschenleere Gebiet geschaffen, das es ermöglichte, das bestehende kleine Reservat zu vergrößern. Selous erwirtschaftet heute Geld durch Tourismus und durch Großwildjäger, die sich im Süden des Parks Jagdlizenzen kaufen können, um Elefanten, Löwen und Leoparden abzuknallen, zu erlegen. Die Integration der lokalen Bevölkerung ist jedoch nicht gelungen. Für sie ist der Park Sperrgebiet. Selous ist also Folge der deutschen Kolonialgeschichte, und daraus leitet sich für uns eine ganz besondere Verantwortung ab: ({0}) die Anliegen Tansanias zu unterstützen, trotz berechtigter Kritik am Staudamm, den ich auch nicht möchte. Die tansanische Regierung hält den Damm für einen Meilenstein auf dem Weg zu einer öffentlichen und bezahlbaren Energieversorgung. In den letzten Jahrzehnten hat das Land miserable Erfahrungen mit einem Energiemarkt gemacht, der von Privatunternehmen kontrolliert wird und wenig Energie für teures Geld liefert. Vor der Küste hat man zwar viel Gas gefunden; das stimmt. Aber das hat die Situation nicht verbessert; denn Unternehmen wie Shell sind eben nicht bereit, das Gas zu vernünftigen Preisen an Tansania zu verkaufen. ({1}) Deshalb zielen sowohl der FDP-Vorschlag ins Leere, die Energieversorgung mit Gaskraftwerken zu sichern, als auch der Vorschlag der Regierungsfraktionen, Weltbankkredite lockerzumachen. Die Weltbank setzt nämlich auf Privatisierung. ({2}) Tansania ernst zu nehmen, bedeutet, auch den Wunsch nach einer öffentlichen, flächendeckenden und bezahlbaren Energieversorgung ernst zu nehmen und Vorschläge zu unterstützen, damit dieses Ziel mittelfristig erreicht werden kann, beispielsweise durch Sonnen- oder Windkraft. Pläne dazu liegen bereits in den Schubladen der tansanischen Regierung. ({3}) Nur dann besteht die Hoffnung, dass unsere Kritik an dem Staudammprojekt nicht nur als Poltern einer alten Kolonialmacht abgetan wird, die dann auch noch mit Einstellung der Entwicklungshilfe droht, sondern als positiver Beitrag für einen zukunftsfähigen Selous und eine nachhaltige Energiepolitik Tansanias gesehen wird. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Einzigartigkeit des Selous-Wildreservats in Tansania ist hier schon einiges gesagt worden. Wir alle sind uns sehr schnell einig darin, zu sagen: Liebe Regierung in Tansania, lasst dieses UNESCO-Weltnaturerbe unberührt! Opfert es nicht einem gigantischen, zweifelhaften Infrastrukturprojekt! – Natürlich schließen wir Grüne uns diesem Aufruf an. Die beiden Anträge, über die wir heute abstimmen, sprechen in der Tat eine sich anbahnende Katastrophe an. Der Staudamm wäre nicht nur ein ökologisches und soziales, sondern auch ein ökonomisches Desaster. Aber ich finde, dass die Anträge auch in zweierlei Hinsicht sehr nachdenklich stimmen. Erstens werfen die Anträge Fragen auf, die immer wieder kontrovers diskutiert werden: Ist das Bevormundung? Wie halten wir es mit der Konditionalisierung von Entwicklungsgeldern? Wir sagen: Wir haben das Wild­reservat mit zweistelligen Millionenbeträgen gefördert. Dürfen wir dann jetzt auch einfordern, dass es so bleibt, wie es ist? Wer das Geld hat, hat das Sagen? Das sind keine einfachen Fragen. Tansania hat ein Stromproblem. Es muss dieses Problem lösen, um Wachstum und Beschäftigung zu ermöglichen. ({0}) „Wachstum“ und „Beschäftigung“, diese beiden Begriffe verwende ich in diesem Zusammenhang ganz bewusst; denn Wachstum und Beschäftigung sind auch immer Begründungen bei uns in Deutschland für Infrastrukturprojekte. Das bringt mich zu meinem zweiten nachdenklich stimmenden Punkt, zu unserer Glaubwürdigkeit. Wir sind von hier, vom globalen Norden aus, immer schnell dabei, zu urteilen, wenn es um Arterhaltung, Umwelt- und Naturschutz weit entfernt von uns geht. Aber wie sieht es denn bei uns zu Hause aus? Ich komme aus Niedersachsen. Da gibt es zwei Reizwörter: Autobahnen und Wolf. ({1}) In Afrika dürfen keine Elefanten, Löwen oder Leoparden erlegt werden, auch wenn sie täglich irgendwo in Afrika in irgendwelchen Dörfern Menschen bedrohen. Doch die Entnahme des Wolfes, wie man das hier so verschämt nennt, soll kein Problem sein? Dabei ist der Wolf in Europa genauso geschützt wie Elefanten, Löwen und Leoparden in Afrika. ({2}) Den Kollegen Ferlemann, der ebenfalls aus Niedersachsen kommt – er ist nicht anwesend –, hätte ich gerne gefragt, wie er das einschätzt, da er sich doch so eindringlich für Autobahnen quer durch die Lüneburger Heide und das Marschgebiet entlang der Küste einsetzt, deren Kosten-Nutzen-Analysen sehr zweifelhaft sind. ({3}) Glyphosat wäre ein anderes Reizwort. Hier auch völlig passend: Einen schönen Gruß an RWE und den Hambacher Wald! ({4}) Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Ihr Antrag ist gut. Von grüner Seite aus können wir ihm guten Gewissens zustimmen. Dass sich CDU und CSU so eindringlich für einen Mix aus erneuerbaren Energien und dezentraler, lokaler Stromerzeugung einsetzen, hätten wir kaum für möglich gehalten. Das unterstützen wir natürlich gerne. Gut finde ich auch, wie differenziert Ihr Angebot an die tansanische Regierung ist. Damit begegnen Sie dem Problem, das ich eingangs ansprach, nämlich der Gratwanderung zwischen Bevormundung und berechtigtem Einsatz für die Sache.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. – Jetzt müssen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, noch genauso viel Entschlossenheit beim Kohleausstieg und bei der Umsetzung der Energiewende hier bei uns zu Hause zeigen wie beim Selous-Wildpark. Das wünsche ich mir. Zum Antrag der FDP. Lieber Herr Kollege Dr. Hoffmann, ich schätze Ihren Einsatz für die Sache sehr. Aber ich habe schon im Ausschuss gesagt: Ein Gaskraftwerk zu fordern, das die nächsten 50 Jahre fossile Brennstoffe verheizt, werden wir leider ablehnen müssen. ({0}) Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Herr von Holtz, ich möchte Ihnen – genauso wie Ihren Vorrednern – folgende schlichte Frage stellen: Es gibt mehrere Vorschläge, dass man mit Sonnenkollektoren und Windkrafträdern das Problem in Tansania auch lösen könnte. Wie muss ich mir das praktisch vorstellen? Soll der bereits mehrfach angesprochene Regenwald, der geschützt werden soll, zugunsten von Windrädern, wie wir sie in unserem schönen Niedersachsen so mannigfaltig haben und die zum Naturbild so wunderbar beitragen, und Sonnenkollektoren abgeholzt werden? Was ist dann mit Elefanten, Giraffen, Löwen und den anderen Tieren? Das ist nur eine Lernfrage. Ich bin ja etwas schlicht im Geiste, wenn ich solche Vorschläge von Ihnen höre. ({0}) Wie soll das gehen? Das ist die entscheidende Frage. Darauf müssen Sie doch eine Antwort geben.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, wollen Sie antworten? – Der Kollege von Holtz verzichtet auf eine Antwort. – Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Selle. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Afrikas Entwicklung gehört zu den ganz großen Themen dieser Legislaturperiode. Es ist ganz in unserem Sinne, wenn sich auch afrikanische Präsidenten diesen Zielen zuwenden. In Tansania hat sich John Magufuli erfolgreich das Image des Anpackers zugelegt und wurde 2015 zum Präsidenten gewählt, und tatsächlich hat er seit seiner Amtsübernahme eine Reihe von Großprojekten angestoßen. Dazu gehört die Ankündigung im Jahr 2018, dass das Land zu industrialisieren sei, indem jede der 30 Regionen 100 neue Betriebe errichtet. Mit Blick auf die Versorgung der Bevölkerung mit Elektrizität – nur 2 Prozent der Landbewohner und 39 Prozent der Städter haben einen elektrischen Anschluss – erscheint die Idee, einen Megastaudamm zur Erzeugung von Elektroenergie zu bauen, plausibel. Uns kann dieses Vorhaben nicht freuen, obwohl es auf erneuerbare Energie setzt. Das Selous-Wildreservat würde dabei quasi zerstört, da der Staudamm im Kern des Gebietes läge. Neben der Errichtung des Staudamms würden Energietrassen sowie laufende Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten eine permanente Belastung darstellen. Zum Aufbau des Selous-Reservats hat Deutschland wesentlich beigetragen. Nachhaltigkeit bedeutet, dass man nicht mit nachfolgenden Projekten vorangegangene Investitionen zerstört. ({0}) Neben der dringend erforderlichen Erhaltung dieses mit einer Fläche von 54 000 Quadratkilometern sehr großen Teils ursprünglicher Natur erscheint uns auch die Schmälerung des Gewinns durch die Beeinträchtigung des Tourismus nicht ausreichend betrachtet zu sein. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung hat ohnehin nicht stattgefunden. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mit diesem Antrag, auf Tansania zuzugehen und die Hand auszustrecken, auch wenn die Regierungsverhandlungen im Herbst 2018 sehr entmutigend verliefen. Deutschland hat die Expertise, gemeinsam mit Tansania ein umweltschonendes Energiekonzept zu erarbeiten, damit die Bevölkerung mit alternativer Energie unter Einbeziehung der riesigen eigenen Erdgasvorräte stabil und dem notwendigen Wachstum entsprechend versorgt werden kann. Nach unseren Überlegungen würde das sogar wesentlich weniger finanzielle Mittel erfordern und den sehr belasteten Haushalt schonen. Wir bitten die Bundesregierung ebenfalls, Energie zu einem Schwerpunkt der Zusammenarbeit zu erheben, was jetzt noch nicht der Fall ist. Die Zeit drängt. Der Präsident Tansanias hat bereits die ersten Maßnahmen ergriffen. Im Dezember 2018 hat er einen Bauvertrag mit einem ägyptischen Konsortium unterzeichnet und mit der Waldrodung beginnen lassen. Zeit haben wir nur dadurch gewonnen, dass niemand ohne Umweltverträglichkeitsprüfung, verlässliche Kostenschätzungen und gesicherte Refinanzierung in die Finanzierung einsteigen will – noch nicht einmal die Chinesen. Vor zwei Tagen hat der Präsident in einer Pressemitteilung die Überprüfung und Neuordnung der Schutzgebiete angeordnet. Vorhandene Siedlungen sollen legalisiert werden. Das Projekt sei aus seiner Sicht notwendig, da die Bevölkerung seit der Unabhängigkeit von 9 Millionen auf 55 Millionen Menschen und die Zahl der Nutztiere von 9 Millionen auf 35 Millionen angewachsen sei. Eine wirtschaftlich und ökologisch vernünftige Entwicklung darf nicht daran scheitern, dass wir nicht unsere Hilfe angeboten hätten. Deshalb stellen wir diesen Antrag und bitten um Zustimmung. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph Matschie das Wort. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag befasst sich mit einem klassischen Entwicklungsdilemma: Industrielle Entwicklung braucht Ressourcen, braucht Energie, und oft gerät dieser Ressourcen- und Energiehunger in Konflikt mit anderen Zielen, zum Beispiel der Bewahrung der Umwelt. Das ist nicht nur eine Debatte in Entwicklungsländern. Wer sich bei den Debatten umschaut, die wir im eigenen Land über die Erreichung der Klimaziele, den Ausstieg aus der Kohle oder die Belastung des Grundwassers mit Nitraten führen, weiß, wovon hier die Rede ist. Das sind keine Konflikte, die sich einfach auflösen lassen, und es sind oft sehr eingefahrene Wege, die man aufgeben muss, um neue Wege zu suchen. Es ist hier schon mehrfach angesprochen worden: Bei diesem Antrag geht es um das größte und älteste kontrollierte Wildschutzgebiet in Afrika. Der Selous hat eine Fläche von etwa der Größe der Schweiz und eine enorme Bedeutung für die biologische Vielfalt, den Schutz der Artenvielfalt und damit auch eine Bedeutung für die Weltgemeinschaft. Deshalb ist er zu Recht UNESCO-Weltnaturerbe. Trotzdem muss man sagen: Wenn wir jetzt als Bundesrepublik Deutschland – als ein Land mit einem enorm hohen Energieverbrauch – auf die tansanische Regierung zugehen, die Regierung eines Landes, in dem nur ein Drittel der Bevölkerung Zugang zu Energie hat, ist das schon eine gewaltige Zumutung. Die ist nur gerechtfertigt, wenn wir wirklich gute Angebote machen können. Kein tansanischer Präsident kann sich allein auf schöne Reden verlassen, wenn er sein Land wirtschaftlich entwickeln muss, ({0}) wenn er seine Bevölkerung mit Energie versorgen muss. Wenn wir darum bitten, den Selous intakt zu lassen, dann sind wir in der Pflicht, hier in die Speichen zu greifen und zu helfen, eine andere Energieversorgung aufzubauen. ({1}) Um diese Zusammenarbeit dreht sich der Antrag. Das kann – wie im Antrag benannt – natürlich der Ausbau der Nutzung anderer erneuerbarer Energieressourcen sein. Aber es wird auch einen Dialog mit der tansanischen Regierung darüber geben müssen, welche anderen Wege sie selbst noch sieht, die wir vielleicht unterstützen können.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spaniel?

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Herr Kollege Hampel, Ihre Kurzintervention war wohl etwas flach. Es geht, wenn von der Nutzung der Windkraft die Rede ist, natürlich nicht darum, Windräder in den Selous zu stellen, sondern darum, sie dorthin zu stellen, wo man Windkraft – nämlich auf Bergen – sehr gut nutzen kann, um in Tansania eine dezentrale Energieversorgung aufzubauen. Da ist mit solch polemischen Interventionen nicht geholfen. ({0}) Es geht um die Bewahrung eines weltweit wichtigen Naturerbes, aber eben auch um wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen in Tansania. Hier wird es darauf ankommen, ein fairer Partner zu sein, ein Partner, der der tansanischen Regierung bei dieser gewaltigen Aufgabe wirklich unter die Arme greift. Da sage ich ganz deutlich: Da muss auch der Bundesregierung noch mehr einfallen, da brauchen wir noch mehr Drive in der Zusammenarbeit mit Tansania. Darauf freue ich mich und bitte um die Annahme des Antrags. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich glaube, es ist deutlich geworden, wie wichtig dieser Nationalpark, dieses Wildreservat für Afrika, für die gesamte Welt, aber gerade für Tansania ist. Wenn man jetzt auf Pläne aus den 70er-Jahren zurückgreift, um eine Energieversorgung für ein ganzes Land auf ein anderes Niveau zu heben, darf man dabei nicht übersehen, dass es in den 70er-Jahren noch keine SDGs, keine gemeinsam vereinbarten Nachhaltigkeitsziele gab. Es gab noch nicht einmal so etwas wie Umweltverträglichkeitsprüfungen – die es zu diesem Projekt ja bis heute nicht gibt. Von daher kann man nur sagen: Da all die Störungen, die Eingriffe in Natur und Landschaft, aber auch in den Tourismus sowie in die Lebensform der Tiere dort nicht analysiert und bewertet worden sind, kann man das nicht unterstützen; denn das ist nicht gut. Unser bisheriges Engagement im Selous-Nationalpark war auch anders gelagert und verfolgte andere Ziele als das, was sich möglicherweise nach der Umsetzung eines solchen Plans aus den 70er-Jahren ergeben würde. Von daher liegt es in unserem eigenen Interesse, ein Angebot zu unterbreiten. Kollege Selle hat es schon gesagt: Es geht nicht darum, die tansanische Regierung pauschal mit Kritik zu überziehen. Wir wollen nicht den Zeigefinger erheben, sondern wir wollen ein Angebot machen und sagen: Es ist nicht mehr up to date, ein solches Megaprojekt aus den 70er-Jahren aus der Schublade zu holen und ungeprüft in die Landschaft zu setzen. Ich glaube, es ist ein Prozess, bei dem wir sehr viel einbringen können. Sicherlich machen wir bei uns auch nicht immer alles richtig. Wir wissen ganz genau, dass es hier ein Angebot geben muss. Ich freue mich sehr, dass wir von CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Antrag formuliert haben, dem sogar die Grünen zustimmen können. Das ist nicht immer der Fall. Ich glaube, in Zukunft finden wir auch noch mehr Gemeinsamkeiten mit der FDP. So viele Unterschiede waren es ja nicht. Wir bieten also Hilfe an zum Aufbau einer modernen und nachhaltigen Energieversorgung. Wir bieten Technologie- und Wissenstransfer an. Es ist eine Stärke der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, eine Stärke der deutschen kleinen und mittelständischen Wirtschaft, unseres Forschungs- und Entwicklungsstandortes, Technologie gepaart mit Ausbildung und Schulung anbieten zu können, alles mitzubringen, was die Leute mit unserer Hilfe in die Lage versetzt, eine Technologie auf ein neues Level zu heben, die auch vor Ort betrieben werden kann. Das alles ist als Paket zu sehen. Wir gehen grundsätzlich von Technologieoffenheit aus. Das schließt also nicht aus, dass auch ein Gaskraftwerk eine Rolle spielen kann bei einem Energiemix in einem Land, das nach Energie dürstet. Aber sehen wir uns einmal die Zeitschiene an. Ein Gaskraftwerk ist recht schnell zu bauen. Wir haben aber auch die Möglichkeit, beispielsweise bestehende Wasserkraftanlagen zu ertüchtigen. Tansania ist ja nicht arm daran. Es funktioniert bloß nicht alles. Dort kann man ansetzen: dezentrale Energieversorgung gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern. Wir alle, die im EZ-Bereich unterwegs sind, wissen, es gibt gar keine Netze, um Strom von A nach B, von einem Gaskraftwerk an der Küste in das letzte entlegene Dorf, wo auch Strom gebraucht wird, zu bringen. Wenn der Präsident verspricht, wir bauen 100 Betriebe, dann muss der Strom auch dorthin kommen. Wir brauchen also dezentrale Energieversorgung. Das geht natürlich mit erneuerbaren Energien. Es geht mit Wasserkraft, aber es geht sicherlich auch mit sogenannten konventionellen Projekten. Das muss man sehr genau abwägen. Ich glaube, wir dürfen uns kein Denkverbot geben, wenn zwei Regierungen in Verhandlungen, in ein Angebotsverfahren gehen. Vielleicht findet man offene Türen und Ohren, wenn Parlamentarier auf einer Delegationsreise das Thema ansprechen. ({0}) Zum Schluss ein Blick auf die SDGs. Das ist, wie wir alle wissen, kein Selbstzweck. Das ist kein Dogma. Das ist unser Anspruch. Das ist der Anspruch aller Nationen, die diesen Vertrag, diese Vereinbarung unterschrieben haben. Tansania gehört dazu. Daran zu erinnern, ist, als letzter Satz heute, der richtige Moment. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 19/7089. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/6414 mit dem Titel „Schutz von Weltnaturerbe und Entwicklungsziele in Einklang bringen – Alternativen zum geplanten Bau des Megastaudamms ‚Stieglers Schlucht’ im tansanischen UNESCO-Weltnaturerbe Selous Wildreservat suchen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalition und die Grünen. Gegenprobe! – Keine. Enthaltungen? – Linke, FDP und AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 19/5461 mit dem Titel „Alternativen zur Zerstörung des UNESCO-Weltnaturerbes Selous in Tansania aufzeigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – CDU/CSU, SPD, Die Linke und die Grünen. Gegenprobe! – Die FDP. – Enthaltungen? – Die AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Michel Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004679, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über 200 000 Menschen sind in über 130 deutschen Städten in den vergangenen Monaten auf die Straße gegangen. Sie alle haben eines gemeinsam: Als Teil des Bündnisses Seebrücke fordern sie die Bundesregierung auf, legale und sichere Fluchtwege für Menschen auf der Flucht zu schaffen. ({0}) Sie fordern sichere Häfen, solidarische Städte und ein sofortiges Ende der Kriminalisierung ziviler Seenotretterinnen und -retter. Ihre Forderungen sind im Kern sehr einfach: Sorgen wir endlich dafür, dass das Sterben im Mittelmeer aufhört. ({1}) Bringen wir endlich eine staatlich organisierte zivile Seenotrettung auf den Weg. ({2}) Über den Jahreswechsel retteten die Hilfsorganisationen Sea-Watch und Sea-Eye wieder einmal 49 Menschen aus Seenot. ({3}) Wieder wurde den Retterinnen und Rettern die Einfahrt in einen sicheren europäischen Hafen verwehrt. Das ist ein klarer Verstoß gegen Seerecht und eine Missachtung der UN-Menschenrechtscharta. ({4}) Fast drei Wochen mussten die Geflüchteten auf dem Rettungsschiff ausharren. Die Situation der Menschen an Bord ist eine Katastrophe. Wie kann die Bundesregierung dabei tatenlos zusehen? Dies berichtete mein Fraktionskollege Tobias Pflüger direkt von Bord der „Sea-Watch 3“. Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte die Situation auf den Schiffen sofort beenden können. Über 30 Städte in Deutschland haben sich bereit erklärt, die Menschen aufzunehmen. Diese Hilfsbereitschaft schlug der Abschottungsminister Seehofer wochenlang aus. ({5}) Wollen Sie ernsthaft alle paar Wochen darüber debattieren, wo die nächsten 49 Geretteten untergebracht werden? Es ist doch einfach nur noch ein Trauerspiel und absurd, was sich die Bundesregierung hier leistet. ({6}) Seit 2014 sind 17 500 Menschen beim Versuch gestorben, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Das Mittelmeer darf nicht weiter zu einem Massengrab werden. Deshalb fordern wir Linke heute in unserem Antrag die Einsetzung einer staatlich organisierten zivilen Seenotrettung, die Beendigung der Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache und die Unterstützung und Entkriminalisierung ziviler Hilfsorganisationen. ({7}) Aber anstatt sich für eine staatlich organisierte Seenotrettung einzusetzen, entsendet die Bundesregierung weiter Militärschiffe, die interessanterweise nie dort sind, wo Menschen gerade ertrinken. Die Militäroperation der NATO Sea Guardian hat in drei Jahren keinen einzigen Menschen gerettet. Ich finde das absurd, meine Damen und Herren. ({8}) Die Bundesregierung und die EU behindern ganz gezielt zivile Seenotretterinnen und -retter bei ihrer Arbeit. Organisationen wie Sea-Watch, Jugend Rettet und Mission Lifeline werden wie Kriminelle behandelt und – ja – sogar von Geheimdiensten überwacht. ({9}) Deutlicher können Sie nicht zeigen, dass Sie nichts, aber auch gar nichts unternehmen wollen, um die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer endlich zu beenden. Es geht hier nämlich nicht um die Frage, ob die Rettung von Menschen auf dem Mittelmeer möglich oder umsetzbar ist. Selbstverständlich ist sie das. Es geht um die Frage des Wollens. Die Bundesregierung will nicht. ({10}) Statt Geflüchteten zu helfen, bildet die Bundesregierung die sogenannte libysche Küstenwache aus. Als Handlanger der EU bedrohen sie Menschen in Seenot und zwingen sie zurück in libysche Folterlager. Beenden Sie die Zusammenarbeit mit diesen Milizen. Sie benutzen Sie als Türsteher der Festung Europa. ({11}) Was in dieser Diskussion gerne vergessen wird: 2011 hat die NATO Libyen erst ins Chaos gebombt. Für Geflüchtete ist das Land eine Sackgasse. Die Grenzen zu den Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten sind zu. Der Weg Richtung Süden durch die Wüste des Niger ist noch tödlicher als der über das Mittelmeer. Die Menschen dort – das müssen Sie verstehen – haben keine andere Wahl, als über das Mittelmeer zu kommen. Umso mehr gilt unser Dank den Seenotretterinnen und -rettern und den Tausenden Unterstützerinnen und Unterstützern des Bündnisses Seebrücke, die in Deutschland, der EU und ganz Europa weiter auf die Straße gehen. Ihr könnt euch darauf verlassen: Die Linke steht an eurer Seite. ({12}) Um es noch einmal zu betonen: Wir stehen vor einer einfachen Wahl: Entweder schicken wir Schiffe und retten die Menschen, oder wir schicken keine Schiffe, und die Menschen werden weiter sterben. Das ist die Entscheidung, die wir hier treffen müssen. Die Linke weiß, wo sie dabei steht. Danke schön. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort dem Kollegen Nikolas Löbel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich grundsätzlich festhalten: Im Antrag der Linken geht es um Seenotrettung. Es geht also um den Einsatz für Menschen, die in Not geraten sind. Uns allen liegt die Rettung dieser Menschen am Herzen; denn es sind Menschen. Da zählt weder die Herkunft noch die Hautfarbe noch die Religion, sondern es geht darum, dass sie gerettet werden. Dennoch oder erst recht geht es auch um die Art und Weise der Rettung; denn die Rettung eines Menschenlebens kann nicht mit dem Anspruch auf einen dauerhaften Aufenthalt in Europa gleichgesetzt werden. ({0}) Der Antrag der Linken legt vordergründig den Fokus auf die Rettung von in Seenot geratenen Menschen. ({1}) Doch augenscheinlich geht es Ihnen um den Ausdruck Ihres Misstrauens gegenüber dem dafür notwendigen militärischen Einsatz. Im Kern fordern Sie nichts anderes als die Abschaffung der Operation Sophia. Die Operation Sophia ist eine Mission der Europäischen Union, und Deutschland beteiligt sich. Ziel ist es, gegen kriminelle Schleuserbanden vorzugehen, die Menschen im Mittelmeer zu Tausenden auf seeuntüchtigen Schlauch- und Holzbooten in Lebensgefahr bringen. Deshalb ist die Operation Sophia ein gutes Beispiel für gemeinsames Handeln der Europäischen Union. Hier funktioniert die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der europäischen Staaten vorbildlich. ({2}) Ich hoffe, dass wir in Europa die Kraft finden, die Mission Sophia über Ende März dieses Jahres hinaus zu verlängern. Daher appelliere ich auch an unsere italienischen Partner, weiterhin Teil dieser für den Schutz der europäischen Außengrenze so wichtigen Mission zu bleiben. ({3}) Italien fordert Entlastungen seines Landes, und das sicherlich auch zu Recht. Unabhängig davon zeigt die Mission Sophia bereits Wirkung. Die Zahl der über die zentrale Mittelmeerroute ankommenden Flüchtlinge ist im Jahr 2018 abermals deutlich zurückgegangen. ({4}) Während 2017 noch knapp 119 000 Menschen das Meer überquerten, waren es 2018 nur noch 21 600. Die Todesfälle auf der gesamten Mittelmeerroute sanken ebenfalls drastisch ab. ({5}) Und dennoch: Wir brauchen eine gemeinsame europäische Lösung, damit ankommende Flüchtlinge nicht in Italien, Griechenland oder eben nun über die westliche Route in Spanien ankommen und diese Länder einseitig belasten. Ich wiederhole mich: Die Rettung eines Menschenlebens kann keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf ein Bleiberecht in Europa bedeuten. ({6}) Das muss endlich auch Realität gemeinsamer europäischer Asylpolitik werden. Deutschland wird dabei in Europa und mit Europa seinen Beitrag leisten – das hat die Bundesregierung oftmals deutlich gemacht. Wenn wir uns einmal die Erfolge der bisherigen Mission anschauen, dann wird sehr deutlich: Circa 50 000 Menschen konnten wir aus der Seenot retten, über 22 500 davon durch deutsche Marinesoldaten auf deutschen Schiffen. Über 145 Schlepper konnten den Behörden übergeben werden. ({7}) Über 550 Schlepperboote konnten im Zuge dieser Mission zerstört werden. – Das zeigt: Diese Mission ist im Sinne der Menschen erfolgreich. Und genau diese Mission wollen Sie abschaffen. Sie legen damit die Axt an den einzigen Strohhalm, den viele Flüchtlinge auf ihrer Route durchs Mittelmeer überhaupt haben. Das zeigt aber eben auch die wahre Motivation, die hinter Ihrem Antrag steckt. In Ihrem Antrag schreiben Sie einerseits, dass Sie eine zivile Seenotrettung fordern. Gleichzeitig betonen Sie aber auch, dass die Seenotrettung „keine dauerhafte Lösung“ sei. ({8}) Die Operation Sophia zeigt meines Erachtens jedoch deutlich: Kriminelle Schlepperbanden verstehen nur das Gesetz der Stärke. Militärische Einsätze, um Menschen vor diesen Schlepperbanden zu schützen, sind daher unumgänglich. Ihr Antrag ist nichts anderes als ein Ausdruck Ihrer grundsätzlichen Ablehnung gegenüber militärischen Einsätzen und damit auch gegenüber unserer Bundeswehr. Sie haben in Ihrem Antrag kein einziges Wort des Dankes für den Einsatz unserer Soldaten übrig gehabt. ({9}) Das offenbart den Charakter Ihres Ansinnens, dem ich hier entschieden widersprechen will, und möchte unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz im Rahmen der Mission Sophia herzlich danken. ({10}) Neben dem Kernauftrag der Operation Sophia kommen der Mission weitere Aufgaben zu. Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die Ausbildung der libyschen Küstenwache, ({11}) was mich zu meinem nächsten Kritikpunkt führt. Ihre Forderung, die Ausbildung zu beenden, beruht auf der Argumentation, dass die libysche Küstenwache in der Vergangenheit nicht fehlerfrei gearbeitet hat. ({12}) Mag sein. Genau aus diesem Grund sollten wir keinesfalls unsere Hilfe einstellen. ({13}) Libyen braucht nicht weniger Unterstützung – Libyen braucht mehr Unterstützung. Die Sicherheitslage in Libyen bleibt überwiegend instabil und muss, ebenso wie der politische Einigungsprozess, weiterhin von der internationalen Gemeinschaft eng begleitet und gefördert werden. ({14}) Was Libyen benötigt, ist eine Lösung für sein fragiles staatliches Gewaltmonopol. Die anhaltende Instabilität ermöglicht die Ausbreitung von extremistischen Gruppen und Gruppierungen auch im Mittelmeerraum. Deswegen gilt es, die richtigen Akteure zu fördern, um die Stabilität des Landes voranzubringen. Wir müssen dem Land beim Aufbau seiner eigenen staatlichen Gewalt helfen. Diese Staatsgewalt – ja! – übt auch die Küstenwache an der über 1 700 Kilometer langen Küstenlinie aus. Und auf Beschluss des Rates der Europäischen Union im Juli 2016 tun wir dies: Wir helfen Libyen bei der Ausbildung seiner Küstenwache. Wir haben bisher über 320 Angehörige der libyschen Küstenwache ausgebildet. Die libysche Küstenwache ist dabei erfolgreich. ({15}) Sie hilft den Menschen; denn sie hat alleine im ersten Halbjahr 2018 mehr als 10 000 Menschen gerettet. Wenn Sie fordern, dass die Ausbildung beendet werden soll, dann gehe ich davon aus, dass Sie sich auch mit den Inhalten der Ausbildung auseinandergesetzt haben. Ich habe mir die Inhalte einmal näher angeschaut. Auf dem Lehrplan stehen fachliche Fähigkeiten ({16}) wie seemännische Grundlagen, Navigation, Such- und Rettungsdienste. Das verwundert jetzt nicht. Aber – das haben Sie vielleicht überlesen – es geht auch um andere Kenntnisse und Werte, die vermittelt werden sollen: Menschenrechte, internationales Recht ({17}) und sogar Genderfragen. ({18}) Es kann eigentlich gar nicht in Ihrem Sinne sein, die Vermittlung solcher Inhalte und erst recht die Behandlung genderpolitischer Fragen zu stoppen. Die Linke wäre dann kaum wiederzuerkennen. ({19}) Wir als CDU/CSU-Fraktion und diese Bundesregierung stehen für die Fortsetzung der erfolgreichen Mission Sophia und für eine weitere Kooperation mit der libyschen Küstenwache, und wir lehnen Ihren Antrag ab. ({20}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Nächster Redner: ­Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste des Deutschen Bundestages! Herr Löbel, man lernt doch in diesem Hause immer noch was dazu. Es ist schön, dass sich die libysche Küstenmiliz jetzt auch mit Genderfragen beschäftigt. ({0}) – Es ist interessant. Ich sage ja: Ich lerne immer noch was dazu. Bleiben Sie entspannt! Die Linke fordert in ihrem Antrag, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache einzustellen. Wir haben gerade von dem Kollegen Löbel von der Union – da stimme ich ihm vollkommen zu – vom erfolgreichen Einsatz der Operation Sophia erfahren. Wir haben da in der Tat gut gewirkt, und die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache ist ebenfalls auf einem guten Weg; die Genderfrage klammern wir jetzt mal aus. Der richtige Schluss wäre doch, die andere Richtung einzuschlagen und das Gegenteil von dem, was Sie sagen, konsequent zu verfolgen, nämlich zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst in Seenot geraten. ({1}) Meine Damen und Herren, ich finde es eindrucksvoll, wenn wir im vergangenen Jahr 20 000 Flüchtlinge gerettet haben. Wenn wir ansonsten hohe Opferzahlen zu beklagen haben, dann haben diese 20 000 schlichtweg Glück gehabt. Von den anderen Schicksalen erfahren Sie nichts. Jetzt ist doch das Allerwichtigste, zuerst dafür zu sorgen, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer sterben. ({2}) Und das heißt: Rückführung der Flüchtlinge von der Küste sofort wieder an den Strand. ({3}) Meine Damen und Herren, hier wird etwas betrieben – Sie unterstützen das ja –, was nicht nur rechtlich problematisch, sondern kriminell ist. Hier wird etwas betrieben, mit dem man einer Gruppe von übelsten Kriminellen in die Hand spielt. An der Küste haben wir Banden von Schleppern, die übrigens nicht nur Menschenschlepper sind, sondern in der Regel auch in den Drogenhandel, den Waffenhandel und andere üble Geschäfte verwickelt sind. Die Schlepperbanden mit diesem kriminellen Hintergrund fahren mit den Schiffen hinaus, und dort warten schon die anderen Schleuserbanden, nämlich genau die Organisationen, die Sie hier gerade erwähnt haben. ({4}) Es sind Schleuser – nichts anderes –, ({5}) mit einem Unterschied: Ihre Schleusergruppen werden von Spendern und vom Steuerzahler bezahlt. Die Schleusergruppen an Land kassieren zwischen 1 000 und 2  000 Dollar pro Flüchtling. Das ist aber auch der einzige Unterschied. ({6}) Damit unterstützen Sie etwas, dessen Auswirkungen in diesem Hohen Hause weder gesehen noch erwähnt werden. ({7}) Was meinen Sie denn – addieren Sie das nur einmal für ein einziges großes Boot zusammen –, wie viel Geld in die Taschen dieser Schlepper fließt? Wir wissen, dass das tagtäglich stattfindet. Dann reden wir nicht mehr über Hunderttausende oder über Millionen, sondern kommen in Einnahmen von Milliarden hinein. Und was passiert, wenn Sie in Libyen oder anderswo Menschen mit einem Milliardenvermögen haben? Diese Menschen haben Sie in wenigen Jahren an den Schalthebeln der Politik in diesen Ländern sitzen. Dann müssen Sie sich mit kriminellen Regierungen im Nahen Osten auseinandersetzen. Das fördern Sie mit Ihrem Antrag, in dem Sie das vollkommen negieren. ({8}) Meine Damen und Herren, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Verstärken Sie „Sophia“. Unterstützen Sie die libysche Küstenwache. Sorgen Sie – wie die Australier – dafür, dass jeder, der es versucht, die Botschaft bekommt: You will never make your way to Europe.  – Wenn diese Botschaft angekommen ist, wird der Strom nach Libyen und anderswo sehr schnell versiegen, weil sie wissen, dass sie keine Chance haben, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, und erst recht keine Chance, dort zu bleiben. Lassen Sie uns dann eine vernünftige Entwicklungspolitik in den Ländern machen, aus denen diese Menschen kommen, um sie vor Ort zu unterstützen – und nicht erst, wenn sie sich in Lebensgefahr gebracht haben und ihr Leben riskiert haben. Wer von Ihnen will denn das verantworten, was mit denen passiert, die kein Glück hatten? Da hatten wir leider keine Schiffe; das hat nicht funktioniert. Ich möchte das nicht verantworten. Viele in diesem Hause oder die meisten möchten das auch nicht, glaube ich. ({9}) Noch einmal: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nehmen Sie die Kontrolle über das Mittelmeer wahr. Schicken Sie die Menschen unmittelbar nach In-See-Stechen noch in der Zwölfmeilenzone zurück an Land. ({10}) Damit wird klar zum Ausdruck gebracht, dass der Weg übers Mittelmeer verschlossen ist. Sie werden erleben, dass der Flüchtlingsstrom innerhalb von wenigen Wochen versiegt. ({11}) Helfen Sie dann den Menschen vor Ort, und zwar mit einer wirklich vernünftigen Entwicklungshilfe. Das wäre die Alternative dazu. Ihr Antrag dient nur einem: Kriminelle reich zu machen und Ihre Schleuserfreunde von den Hilfsorganisationen ebenfalls zu beschäftigen. Das lehnen wir ab, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen schön. ({12}): Pfui!)

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner in der Debatte: Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hampel, danken Sie Ihrem Herrgott dreimal täglich dafür, dass Sie nicht in Afrika geboren sind und nicht in der Situation sind wie viele, die jetzt aus Seenot gerettet wurden. ({0}) Vier Minuten reichen nicht für eine Abhandlung zur Komplexität der Migrationsfrage an europäischen Grenzen. Sie reichen aber für die einfache Frage der Rettung menschlichen Lebens, denke ich. Es ist politisch immer klug, sich von der sperrigen und oft auch schmerzhaften Wirklichkeit irritieren zu lassen. Das haben einige Mitglieder dieses Hohen Hauses, mich eingeschlossen, unterstützt von anderen, auch weiterer Fraktionen, getan und die „Sea-Watch“ vor einigen Tagen besucht. ({1}) Wer das getan hat, kehrt als jemand anderes wieder und sieht neu. Wer erlebt hat – das sind gar nicht die großen Momente –, wie dieses Schwanken da ist, und das nur ein paar Stunden, wer erlebt hat, wie eine junge arabische Frau mit ihrem Rest von Privatheit sich und ihr Kind in dieser eigentlich unwürdigen Situation verteidigt, wer erlebt hat, wie junge afrikanische Männer ({2}) hoffnungslos, aber auch mit dem Mut der Verzweiflung nach Wegen ihrer Zukunft suchen und sich nicht scheuen, sogar ins Wasser zu springen und ihr Leben zu riskieren, wer gesehen hat, wie der erbärmliche Rest von Habseligkeiten mühsam zusammengekehrt und verpackt ist, oder wer sieht, wie einzelne Helfer versuchen, an diesem unwirklichen, aber doch wirklichen Ort die Menschenwürde zu verteidigen, der kann nicht mehr so reden, wie Sie, Herr Hampel, eben geredet haben. ({3}) Er kann auch nicht so schreiben, wie die unzähligen Hassbriefe formuliert sind, die mich erreicht haben. Ich empfehle all denjenigen, die so schreiben, einfach einmal die Komfortzone hinter ihren Rechnern zu verlassen und sich selber die Situation vor Ort anzuschauen. ({4}) Daher danke ich auch für die Fragestellungen, die dieser Antrag aufwirft, auch wenn ich denke, dass er von der Fülle der Aspekte her überkomplex und in der Antwort unterkomplex ist. Deshalb empfehle ich eine Reduktion auf die essenzielle Frage der Lebensrettung. Wir brauchen schnellstmöglich, sofort, die Rettung menschlichen Lebens. Deshalb danke ich auch ausdrücklich dem Auswärtigen Amt für die Hartnäckigkeit, mit der in diesem Fall wieder einmal für eine Lösung gekämpft wurde. Wir brauchen sichere und legale Fluchtwege. ({5}) Wir brauchen gewiss keine Kriminalisierung von privaten Seenotrettungsorganisationen. ({6}) Wir brauchen sehr wohl eine europäische, möglichst eine öffentlich koordinierte Seenotrettung. Wir brauchen Hinsehen und Offenheit. Wir brauchen Kommunen, Gemeinden hier und in Europa, die auch aufnehmen können, wenn sie aufnahmebereit sind. Wir brauchen außerdem – das gehört auch zur Wahrheit – einen schonungslosen Blick auf die Situation in Libyen. Die Detention Centers sind alles, aber nicht Orte der Menschenwürde. Es gibt reichlich Dokumentationen über Vergewaltigung als Waffe. Anders als Sie es dargestellt haben, ist die libysche Seenothilfe weiß Gott nicht, weder personell noch logistisch noch humanitär, eine Annäherung an das, was wir als Standards an Seenothilfe haben. Das gilt es auszusprechen. ({7}) Wir fordern zum jetzigen Zeitpunkt nicht, anders als in diesem Antrag gefordert, einen Abbruch der Kooperation, auch nicht in der Sicherheitsfrage. Aber wir müssen diese bittere Wahrheit deutlich aussprechen. Deshalb appelliere ich an alle in diesem Raum, dass wir, so groß auch unser Hunger ist, unsere Differenzen in der Migrationsfrage, die fundamental sind, auszutragen, diesen Hunger in dieser Frage nicht stillen und gerade die Seenotrettung nicht dem Fraß unserer Parteipolitik vorwerfen, sondern dass wir helfen, dass wir das nackte Leben, auf das die Menschen im Mittelmeer verworfen sind, verteidigen und dass wir die Würde, die bei diesen Menschen täglich angetastet wird, ihres gelebten und hoffentlich noch zukünftigen Lebens weiter verteidigen und sie nicht weiter antasten lassen. Das ist mein Appell an Sie. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächste Rednerin in der Debatte: Gyde Jensen für die FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken wurde mit heißem Herzen geschrieben. Das verdient Anerkennung. Doch er wurde auch mit heißem Kopf geschrieben und hat mit der politischen Realität daher nicht viel zu tun. ({0}) Die libysche Küstenwache verdient ihren Namen nicht. Das stimmt. Wir dürfen auch nicht so tun, als könnten wir all unsere Verantwortung an nordafrikanische Regime delegieren. Das wäre zynisch. Sie fordern zu Recht, dass die EU und die Bundesrepublik sich nicht gemein machen dürfen mit denjenigen, die für menschenunwürdige Zustände in den Flüchtlingscamps verantwortlich sind. Das stimmt auch. Aber indem Sie die Rechtswirklichkeit verdrehen, helfen Sie den Menschen nicht. Sie reden hier von einem Recht auf Asyl. Doch es geht eigentlich um die Seenotrettung, darum, die Menschen nicht mehr im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Die Seenotrettung ist eine humanitäre Pflicht, eine Verantwortung, der Europa gemeinsam gerecht werden muss. Das Asylrecht hingegen beruht auf einem individuellen Verfahren. Das hat nichts mit der Pflicht zu tun, jemanden aus dem Wasser zu holen. Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta gewährt kein automatisches Recht auf einen Asylstatus. Das finden Sie auch nicht in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch in Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention steht es nicht. Am meisten enttäuscht mich aber Folgendes: Wenn Sie schon von einem Asylrecht im Zusammenhang mit Seenotrettung sprechen ({1}) – ja, ich habe den Antrag gelesen –, ({2}) dann sprechen Sie doch wenigstens auch davon, wie Sie sich ein europäisches Asylverfahren tatsächlich genau vorstellen, damit alle Beteiligten wissen, welches Handeln welche Folgen hat. Das würde Probleme tatsächlich lösen. Dazu kommt: Sie wollen Instrumente europäischer Flüchtlingspolitik nicht verbessern, sondern sie einfach aufkündigen. Wenn Sie für die Betroffenen wirklich etwas erreichen wollen, müssen Sie doch mit Partnerländern zusammenarbeiten. Dann müssen Sie Kooperationen schmieden. Wir brauchen hier mehr Diplomatie, nicht weniger Diplomatie. ({3}) Anstatt auf Diplomatie zu setzen, fordern Sie einfach, auf EU-Ebene etwas durchzudrücken. So funktioniert Europa eben nicht. ({4}) Deutschland kann nicht einfach 27 freien Ländern etwas diktieren. So wird es nicht laufen. So verstehen wir Freie Demokraten Europa auch nicht. Wir wollen ein Europa auf Augenhöhe. ({5}) Ich komme zur Haltung der Bundesregierung. Liebe Bundesregierung, Sie beziehen beim Thema Seenotrettung nicht wirklich Position. Sie haben kein Konzept zur Gestaltung der Flüchtlingsfragen dieser Zeit, keines, das über die ängstliche Abschottung Europas hinausgeht. Mit Ihrer Abwehrhaltung verwirken Sie jegliche Gestaltungsansprüche in der Politik. Ich sagte es bereits in der Aktuellen Stunde im letzten Jahr zu Herrn Seehofer – leider war er damals auch nicht anwesend –, und ich wiederhole es heute: Entwickeln Sie bitte endlich eine konstruktive europäische Haltung in der Seenotrettung, und machen Sie einen konstruktiven Vorschlag für eine echte europäische Migrations- und Asylpolitik. Wir brauchen als ersten Schritt endlich einen Mechanismus zur Ad-hoc-Verteilung, an dem sich möglichst viele EU-Staaten beteiligen. Wir können doch nicht jedes Mal neu verhandeln, bevor Menschen in Not geholfen wird. Fehlende Regeln sind nicht Schuld der Ertrinkenden, sie sind ein Versagen von Politik. Wir müssen endlich von einer europäischen Grenze sprechen, wir müssen Frontex ausbauen und mit hoheitlichen Befugnissen ausstatten sowie Operationen gegen Schleuserkriminalität und -netzwerke wie die Operation Sophia stärken. Die wochenlange Unsicherheit, der die Flüchtenden auf dem Mittelmeer ausgesetzt sind, ist beschämend und ein Armutszeugnis für das humanitäre Erbe Europas. ({6}) Wenn wir in Europa etwas erreichen und unseren Werten gerecht werden wollen, müssen wir gemeinsam vorangehen. Die Mittelmeerroute darf nicht länger zur Lotterie zwischen Tod und Einwanderung nach Europa sein. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: Luise Amtsberg für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Müssen wir ernsthaft noch mal darüber reden, wie schlimm die Zustände in Libyen sind? ({0}) Oder stellt hier wirklich jemand infrage, dass es unzumutbar ist, in den dortigen Lagern interniert zu sein, fernab jeder Menschenwürde, misshandelt, vergewaltigt, gefoltert? Oder möchte jemand allen Ernstes infrage stellen, dass man einen Menschen retten muss, wenn er droht zu ertrinken? Dass man nicht einfach vorbeifahren, wegsehen und den Menschen sterben lassen kann, das ist doch vollkommen klar. Und genau um diese Frage geht es heute. ({1}) Meine Fraktion zeigt sich solidarisch mit der zivilen Seenotrettung, und zwar aus drei Gründen. Erstens. Wir teilen die zumeist von Konservativen gepflegte Lesart nicht, dass die Seenotrettung ein Pull-Faktor ist und mit der Arbeit der Seenotretter Menschen erst motiviert werden, über das Mittelmeer zu fliehen. Das ist wissenschaftlich und in der Realität widerlegt. Wir wissen das aus vielen Gesprächen mit den betroffenen Menschen selbst, ({2}) dass es die schiere Verzweiflung der Menschen ist, die nach Libyen geflohen oder dort zu Flüchtlingen geworden sind, die sie dazu bringt, über das Mittelmeer zu fliehen. ({3}) Zweitens. Wir wissen: Weniger Seenotrettung bedeutet nicht weniger Flüchtlinge. Weniger Seenotrettung heißt schlichtweg, dass mehr Menschen im Meer ertrinken. ({4}) Drittens. Wir zeigen uns solidarisch mit der zivilen Seenotrettung; denn es gibt sie nur deshalb, weil die Europäische Union sie selbst eben nicht organisiert. ({5}) Die stetigen Versuche, einzelne Personen oder ganze Organisationen zu kriminalisieren, sind genau deshalb ein schäbiger Akt. Menschen, die andere vor dem Ertrinken retten, sind keine Schlepper. Sie sind Heldinnen und Helden. Denn was könnte bitte wertvoller sein als ein Menschenleben? ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Italien hat damals vor vier Jahren mit der Rettungsoperation Mare Nostrum über 150 000 Menschen in einem Jahr gerettet. Niemand wäre vor vier Jahren auf die absurde Idee gekommen, die italienische Regierung des Schleppertums zu bezichtigen. Genau hierin zeigt sich die Schieflage der jetzigen Debatte. ({7}) Es grenzt wirklich schon an Arbeitsverweigerung und Fahrlässigkeit, wie sich die deutsche Bundesregierung derzeit verhält. ({8}) Statt nach einer verbindlichen und dauerhaften Lösung mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu suchen, provoziert sie auch noch. Als die „Sea-Watch 3“ vor wenigen Wochen nicht in den Hafen von Malta einlaufen durfte, war die Reaktion vom BMI folgende: Wir wollen, dass fair verteilt wird, und wir nehmen erst auf, wenn andere Staaten mitmachen. – Okay. Aber wissen Sie, was? Sie nehmen derzeit nicht einmal einen Bruchteil der von Italien oder Spanien aus Seenot geretteten Menschen auf, nicht einmal einen Bruchteil! Wissen Sie eigentlich, was für ein peinliches und für den Zusammenhalt schädliches Bild von der Europäischen Union Sie mit solchen Aussagen nach außen abgeben? ({9}) Abseits davon: Was hätten Sie denn gemacht, wenn Sie keine Verbündeten gefunden hätten? Hätten Sie tatsächlich nicht aufgenommen? Ich kann es mir nicht vorstellen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Mrosek von der AfD-Fraktion?

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe mich wirklich zusammengerissen, die Rede Ihres Kollegen zu ertragen, und belasse es dabei. Nein, danke. ({0}) Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nichts getan hätten. Und das ist, was diese ganze Situation so unerträglich macht: dass europäische Regierungen aufgehört haben, an Verhandlungstischen über den Umgang mit dieser Situation zu reden. Denn verhandelt wird nicht mehr am Tisch, sondern auf dem Mittelmeer und auf dem Rücken von echten Menschen, die ausharren und hoffen müssen, dass es nicht zu lang dauert, bis einer blinkt und nachgibt. Aber, meine Damen und Herren, das ist keine Politik, das ist Poker. Das geht so nicht. ({1}) Was wir nicht vergessen sollten – und das ist manchmal auch wohltuend –: Viktor Orban allein ist nicht Ungarn, Matteo Salvini allein ist nicht Italien. ({2}) Italien ist auch Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, oder der Bürgermeister von Neapel, der Neapel zu einem sicheren Hafen erklärt hat. ({3}) Und genauso wenig, wie Salvini für ganz Italien spricht, spricht Horst Seehofer im Übrigen für ganz Deutschland. ({4}) Und wer könnte das besser verdeutlichen als die 32 Städte und Gemeinden in Deutschland, die sich selbst zu sicheren Häfen erklärt haben, ({5}) von Regensburg nach Kiel, in Düsseldorf oder in Halle an der Saale, Kommunen, die sich nicht wie der Innenminister wegducken. Und deshalb, Herr Innenminister – Sie sind heute leider wieder nicht hier –: Blockieren und verhindern Sie nicht, sondern unterstützen Sie. Der Wille zur Aufnahme ist da, also machen Sie den Weg frei für die Kommunen. Das wäre das Mindeste, aber noch lange nicht alles, was Sie tun können. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Nächster Redner: Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten heute schon bei anderen Themen mit sich wiederholenden Anträgen zu tun. Das gilt auch für diesen Tagesordnungspunkt. Wir diskutieren über dieses Thema sehr gerne aus Sicht des Innenministers. Es gilt das Prinzip der Humanität und Ordnung bei der Zuwanderung und in der Flüchtlingspolitik. Das betrifft natürlich auch die Thematik, wie wir mit Seenotrettung und mit dem Elend auf dem Mittelmeer umgehen. Meine Vorrednerin hat gerade den Bundesinnenminister zitiert bzw. erwähnt. Lassen Sie mich, Frau Präsidentin, zwei Zitate vorlesen. Das erste Zitat lautet: Ich finde … dass wir uns vor allem um die kümmern müssen, denen es am schlechtesten geht, und das sind nicht die, die so eine Flucht finanzieren können, die auch die Schlepper bezahlen können, sondern das sind die, die vor Ort sind. Das ist kein Zitat des Bundesinnenministers, sondern das ist ein Zitat der Fraktionsvorsitzenden der Linken. Ein anderes Zitat: Tatsache ist: Es kommen gerade nicht diejenigen über das Meer, die unsere Hilfe dringend brauchen, sondern vor allem junge Männer, die Schlepper bezahlen können. Tatsache ist auch, dass die meisten in Europa bleiben, obwohl sie keinen Anspruch auf Asyl haben. Das kann kein gutes System sein. Für niemand. Die Seenotretter sind Teil des Kalküls der Schlepper. ({0}) Das ist kein Zitat des Bundesinnenministers, das ist ein Zitat von Herrn Palmer. Also tun Sie nicht so, als wenn unsere Sicht eine singuläre wäre. Vielmehr gibt es parteiübergreifend eine Analyse, die dem Sachverhalt gerecht wird. ({1}) – Wir sind gerade mittendrin. Regen Sie sich nicht auf. Sie müssen sich mit Ihrer Fraktionsvorsitzenden auseinandersetzen, nicht mit mir. Sie hat das gesagt. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Radwan, erlauben Sie eine – –

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Egal von wem?

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es geht um die Frage, wie wir Not und Elend im Mittelmeer verringern können. Ein Ansatz ist: Wir retten die Menschen, bringen sie am besten gleich hierher und führen die entsprechenden Verfahren durch. Aber ich teile nicht die Ansicht, dass ohne die Seenotrettung die Not noch größer wird. ({0}) Vielmehr führt die Seenotrettung zu einem Pull-Faktor für die Menschen, weil sie sehen, dass so die Möglichkeit besteht, nach Europa, am besten nach Deutschland zu kommen. Die Menschen werden noch mehr aufs Mittelmeer getrieben. Meine Damen und Herren, nach meiner Auffassung ist das zutiefst inhuman. ({1}) Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir den Menschen eine Perspektive geben, damit sie sich gar nicht erst in Gefahr begeben? Wir müssen vor Ort entsprechende Perspektiven eröffnen und für Unterstützung sorgen, damit sie sich gar nicht erst auf den Weg machen. Bundesminister Müller ist einer jener herausragenden Menschen in der Bundesregierung und in Europa, die eine solche Politik betreiben. ({2}) Natürlich müssen wir die Mittelmeeranrainer in die Pflicht nehmen, auch wenn es mit nordafrikanischen Ländern nicht einfach ist, ob mit Ägypten oder gar Libyen; aber jetzt so zu tun, als müssten wir das alles abbrechen, würde genau das Gegenteil hervorrufen. Darum ist es dringend notwendig, hier weiter dicke Bretter zu bohren und mit diesen Ländern in Kontakt zu bleiben. Meine Damen und Herren, wir müssen den Schleppern das Handwerk legen, und wir müssen das auf europäischer Ebene entsprechend vorantreiben. Die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer kann man nicht dadurch besiegen, dass man noch mehr Anreize gibt, überzusetzen und sich auf die Flucht zu begeben, sondern nur dadurch, dass man den Menschen klar sagt: Wir helfen euch vor Ort, wir stützen euch vor Ort. ({3}) Es ist zutiefst inhuman, den Menschen etwas vorzugaukeln, nach dem Motto: Sie können über die entsprechende Maßnahme nach Europa kommen und hier bleiben. – Doch dann müssen wir sie zurückschicken, oder sie kommen auf dem Weg um. Das ist inhuman. Das ist etwas, was wir zutiefst ablehnen. Darum lehnen wir Ihren Antrag ab. Besten Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Radwan. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Manuel Sarrazin.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Radwan, Sie haben den Herrn Palmer zitiert und das hier so dargestellt, als ob damit eine Parteimeinung der Grünen dargestellt würde. Deswegen möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie persönlich dieses Zitat von Herrn Palmer, das Sie vorgetragen haben, richtig finden oder ob Sie es ebenso wie ich und alle anderen Mitglieder meiner Fraktion für grundfalsch und unwürdig halten. Dieses von Ihnen vorgetragene Zitat von Herrn Palmer hat mit der Politik meiner Partei und meiner Fraktion überhaupt nichts zu tun und auch nichts mit der Realität in diesem Land und mit dem Sterben im Mittelmeer. Das ist die Frage an Sie. Finden Sie, dass Herr Palmer recht hat, ({0}) oder finden Sie wie ich, dass Herr Palmer in dieser Frage absolut und abgrundtief falsch liegt? Danke. ({1})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich könnte jetzt natürlich auch auf Herrn Kretschmann verweisen, aber das liegt mir jetzt nicht. Ich hoffe, dass meine Äußerungen nicht zu einem Parteiausschlussverfahren gegen den Kollegen Palmer führen. Er ist einfach Mitglied Ihrer Partei. Er gewinnt Wahlen und gewinnt auch Wähler für Sie. Ich habe letztendlich sowohl die Fraktionsvorsitzende Wagenknecht als auch Herrn Palmer zitiert, um das breite Meinungsspektrum in den Parteien, das auch in Ihren Parteien vorhanden ist, darzustellen. ({0}) Das zeigt letztendlich, dass dieses Problem nicht einfach und eindimensional zu lösen ist, sondern sehr viele Aspekte hat. Ich bin froh, dass diese Aspekte auch in Ihren Parteien gesehen werden. Besten Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Jetzt kommt der letzte Redner in dieser Debatte. Das ist Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Wenn wir aus der deutschen Geschichte etwas gelernt haben sollten, dann, dass die höchsten Mauern – und wahrscheinlich auch das breiteste Meer – vielleicht die Zahl der Menschen, die sie am Ende überwinden, verringern können, aber nie Menschen davon abhalten werden, es zu versuchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde den Gedanken schlimm genug, dass zurzeit jährlich Hunderte, Tausende Menschen im Mittelmeer jämmerlich ertrinken. Einige Kolleginnen und Kollegen – das ist schon erwähnt worden –, Herr Grundl, Herr Pflüger, Herr Lindh und meine Wenigkeit, waren stellvertretend für eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe, die wir zum Thema Seenotrettung haben, auf der Sea-Watch 3. Wir haben die Menschen getroffen, um die es geht. Wir haben die Menschen berührt, und die Menschen haben uns berührt mit ihren Geschichten. Wir haben gesehen, in welch absurder Situation sich die Menschen befunden haben und wie sie gelitten haben. Ich finde es schlimm genug, dramatisch genug, dass Menschen sterben müssen; aber ich finde den Gedanken gänzlich unerträglich, dass wir den Menschen auch noch die letzte Hoffnung nehmen sollen. Menschen, die anderen Menschen helfen, die andere Menschen retten, verdienen unseren tiefsten Respekt und unsere tiefste Anerkennung. Ich will das heute ausdrücklich hier im Deutschen Bundestag bekunden. ({0}) Nicht jeder, der vom afrikanischen Kontinent nach Europa kommen will, wird das können, und nicht jeder, der in Europa ankommt, wird hier bleiben können. Dazu braucht es schnelle und rechtsstaatliche Verfahren, im Sinne aller Beteiligten. Aber es ist doch trotzdem undenkbar, dass man auch nur auf die Idee kommen kann, deshalb Menschen im Mittelmeer zur Abschreckung – oder aus welchen Gründen auch immer – ertrinken zu lassen. Der Herr Kollege Lindh hat das schon deutlich gemacht. Wir haben hier nicht die Zeit, umfassend über ein Migrationskonzept zu diskutieren – das kann man an anderer Stelle machen –: Wir brauchen legale Zuwanderungswege, um Migration zu steuern. Wir brauchen die Rettung von Schiffbrüchigen. Wir brauchen dann schnelle Verfahren, an deren Ende es zwei Möglichkeiten gibt: entweder die schnelle Rückführung in Staaten, die aufnahmebereit sind – das ist doch das reale Problem –, oder die sofortige Integration. ({1}) Heute geht es aber um die Seenotrettung. Das Ziel muss – da teile ich das, was im Antrag der Linken steht – eine europäisch abgestimmte, staatlich organisierte Seenotrettung sein. ({2}) Aber solange es die eben nicht gibt, so lange brauchen wir eine private Seenotrettung. Sie ist nicht nur legitim, sondern sie ist auch notwendig. Im Übrigen brauchen wir auch die Rettung durch Handelsschiffe. Alles, was dort passiert, darf auf gar keinen Fall von uns kriminalisiert werden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Schwabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke. – Die ganze Sache mit den sicheren Häfen funktioniert natürlich nur, wenn wir Druck auf die Anrainerstaaten des Mittelmeeres ausüben, Menschen aufzunehmen. Aber sie werden das nur dann tun, wenn sie wissen, dass die Menschen weiterverteilt werden nach einem transparenten, temporären, aber belastbaren Verteilmechanismus. Es darf doch nicht sein, dass wir beim nächsten, schon absehbaren Fall erneut ein unwürdiges Geschachere auf dem Rücken leidender Menschen sehen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen. An dieser Stelle will ich im Gegensatz zu anderen, die es kritisiert haben, das Auswärtige Amt ausdrücklich loben. Wer weiß, wie das hinter den Kulissen gelaufen ist, weiß auch, welche Arbeit Tag und Nacht, auch am Wochenende, dort geleistet wurde, um eine Lösung herbeizuführen. ({0}) Wir müssen jetzt die Chance nutzen, gemeinsam mit der Europäischen Kommission eine dauerhafte Lösung zu finden. Ich finde, das verdient die Unterstützung dieses Hauses. Damit dieser Verteilmechanismus funktioniert – auch das will ich sagen –, brauchen die Länder, um die es geht, zum Beispiel Malta, einen Vertrauensbeweis, dass am Ende die Menschen nicht bei ihnen bleiben, sondern weiterverteilt werden. Da habe ich eine klare Erwartung an das Bundesinnenministerium, auch was den akuten Fall betrifft: Die Menschen, die jetzt gerettet wurden, dürfen nicht monatelang wegen Verfahrensproblemen auf Malta bleiben. Damit würde man die Bestrebungen, die es gibt, eine dauerhafte Lösung zu finden, unterminieren. Ich will zum Schluss sagen, dass auch ich solche Zuschriften, von denen Helge Lindh gesprochen hat, bekommen habe, unsägliche Zuschriften. Aber die Mehrheit der Zuschriften und sonstigen Rückmeldungen war ermunternd. Auch diejenigen, die bei Migrationsfragen ansonsten vielleicht skeptisch sind, haben mir gesagt: Aber bei einem sind wir uns sicher, wir wollen die Menschen dort nicht ertrinken lassen. – Ich glaube, das ist eine Verpflichtung für uns alle. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Ich schließe die Aussprache mit der mir erlaubten Bemerkung, dass ich bedauere, dass das Bundesinnenministerium heute, bei dieser Debatte, nicht anwesend war. ({0}) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4616 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat am 15. November letzten Jahres den Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes beschlossen. Er liefert bundesweit einheitliche Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeit von Verkehrsverboten. Er dient auch der Umsetzung des vom Koalitionsausschuss im Oktober letzten Jahres beschlossenen „Konzepts für saubere Luft und der Sicherung der individuellen Mobilität in unseren Städten“. Dieses Konzept dient dem Interessensausgleich von Fahrzeughaltern und Bewohnerinnen und Bewohnern der Innenstädte. Betroffen können die Interessen der Besitzer von mitunter gerade einmal dreieinhalb Jahre alten Euro-5-Dieselfahrzeugen sein. Diese gehören jetzt wahrlich nicht zum alten Eisen und sind auch kein Schrott. Aber genauso wenig dürfen wir das Recht auf saubere Luft für eine Familie aus den Augen verlieren, die das ganze Jahr über an einer hochbelasteten Straße wohnt. Sie steht eben nicht nur an der Ampel, sondern wohnt an einer solchen Straße wie etwa der Hügelstraße in Darmstadt. Daraus ergibt sich klar: Deutschland muss schnellstmöglich den Grenzwert für Stickstoffdioxid einhalten, und zwar möglichst ohne Fahrverbote. Wir müssen auch Haltern, die nicht die Möglichkeit haben, ein neues, sauberes Fahrzeug zu erwerben, einen Ausweg anbieten. Da halten wir die Hardwarenachrüstung für eine richtige und wichtige Maßnahme. Damit nachher tatsächlich auch die Autos, die diese Hardware­nachrüstung haben und deren Stickstoffdioxidemissionen unter 270 Milligramm pro Kilometer liegen, in die Städte einfahren dürfen, brauchen wir diese Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Klar ist aber natürlich auch, dass wie bei der Nachrüstung bei Bussen und Kommunalfahrzeugen auch für Pkw die Stickstoffoxidemissionen im realen Betrieb entscheidend sind. Auch für die gibt es die Ausnahmen, um dann in die Städte einfahren zu dürfen. Am Ende bleibt es Aufgabe der lokalen Behörden, unter Berücksichtigung der Gegebenheiten und Möglichkeiten vor Ort über die Notwendigkeit von Fahrverboten zu entscheiden und Fahrverbote so weit wie möglich zu vermeiden. Es ist hierbei entscheidend, dass natürlich die Stickstoffdioxidemissionen der Dieselfahrzeuge umgehend wirksam gesenkt werden. Ich glaube, wir werden am 30. Januar dieses Jahres voraussichtlich eine Anhörung dazu haben. Wir sind alle gut beraten, wenn so schnell wie möglich die Hardware­nachrüstung kommt, damit es eben keine Bürger gibt, die nachher nicht mit ihren Autos in die Städte einfahren können, aber eben auch die Bürger, die an stark befahrenen Straßen leben, saubere Luft haben. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. – Nächster Redner: Marc Bernhard für die AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Nach fast einem Jahr Diskussion um Fahrverbote endlich ein erster zaghafter Lichtblick für die Menschen, aber leider ein völlig unzureichender. Ihnen ist schon klar: Den Menschen in Stuttgart helfen Sie damit kein bisschen. Stuttgart ist die erste Stadt mit einem flächendeckenden Fahrverbot. Die Werte liegen dort mit 61 Mikrogramm Stickstoffdioxid knapp über Ihrer Ausnahmeregelung. Irgendwie bekommt man den Eindruck, Sie haben nicht wirklich verstanden, was Sie den Menschen da draußen antun, wenn Sie Ihnen das Auto und damit ihre Freiheit wegnehmen. ({0}) Allein in Stuttgart betrifft das Fahrverbot 72 000 Menschen mit ihren Familien. ({1}) Zu allem Überfluss sind Fahrverbote auch völlig nutzlos. Das Regierungspräsidium erwartet, dass das Fahrverbot in Stuttgart nur zu einer Absenkung um 4,6 Mikrogramm führt, also gerade einmal um lächerliche 7 Prozent. In der Praxis hat sich wie zum Beispiel in Hamburg gezeigt, dass die Stickstoffdioxidwerte nach Einführung der Fahrverbote nachweislich sogar noch gestiegen sind. Aber seien Sie froh, dass Sie Weihnachten überlebt haben. Adventskranz, vier Kerzen: über 140 Mikrogramm. ({2}) Weihnachtsbaum, 20 Kerzen: über 700 Mikrogramm. Einmal Spaghetti mit Tomatensoße auf dem Gasherd: über 1 300 Mikrogramm. Aber seien Sie unbesorgt: In Deutschland wird so gewissenhaft gemessen, dass es wie in Oldenburg auch ganz ohne Autos nur mit Marathonläufern ganz sicher zu einer Grenzwertüberschreitung kommt. ({3}) Ich weiß, dass Sie den Vergleich nicht mehr hören können oder nicht mehr hören wollen, weil er Ihnen so schön die ideologische Maske vom Kopf reißt und jedem da draußen ganz offensichtlich vor Augen führt, wie Sie die Menschen über den Tisch ziehen: Beim Rauchen einer einzigen Zigarette ({4}) atmen Sie 50 000 Mikrogramm Stickstoffdioxid ein. Eine Schachtel entspricht also 1 Million Mikrogramm Stickstoffdioxid. Wenn das also stimmen würde, was Sie hier insbesondere auf der linken Seite immer wieder behaupten, hätten Marlene Dietrich, Liz Taylor und Marlon Brando die Dreharbeiten für keinen einzigen Film überlebt. ({5}) Das alles zeigt, dass der 40-Mikrogramm-Grenzwert genau das ist, als was ihn führende Mediziner bezeichnen: grober Unfug und ideologische Panikmache. ({6}) Oder beweisen Sie uns doch ganz einfach das Gegenteil, indem Sie endlich der von uns seit einem Jahr beantragten erstmaligen wissenschaftlichen Überprüfung der Grenzwerte zustimmen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Karsten Möring. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Bernhard, im Grunde haben Sie keine Ahnung von dem, was Sie gesagt haben. ({0}) Ich komme auf die Punkte zurück, die Sie hier so ins Lächerliche ziehen wollen und die es nicht verdient haben, lächerlich gemacht zu werden. Aber zunächst einmal kurz zum Sachverhalt, um den es geht. Wir haben vor knapp einem Jahr ein Bundesverwaltungsgerichtsurteil bekommen, das in einem letztinstanzlichen Urteil einen Rahmen gesetzt hat, in dem festgelegt wird, dass es zur Einhaltung der Grenzwerte wohl Fahrverbote geben kann, dass aber bei deren Anordnung die Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden muss. Wir haben eine Reihe von Gerichtsverfahren und Urteilen erlebt, in denen Fahrverbote erlaubt wurden und in denen das Gericht in seiner Begründung eine Abwägung vorgenommen hat; eine Abwägung, die wir so für nicht zielführend halten. Wir sind der Auffassung, dass es aufgrund der Entwicklungen und aufgrund der Maßnahmen, die die Bundesregierung in dem „Programm Saubere Luft“ vorgesehen hat, möglich ist, die Grenzwerte in aller Regel einzuhalten, auch ohne auf Fahrverbote zurückzugreifen. Deswegen beraten wir heute in erster Lesung ein Gesetz, das diese Grenzwerte näher beschreibt. Es legt fest, dass wir, soweit Grenzwerte von 40 Mikrogramm um nicht mehr als 10 Mikrogramm überschritten werden, in der Regel keine Fahrverbote brauchen, um schnellstmöglich den Grenzwert von 40 Mikrogramm zu erreichen – aufgrund einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Softwareupdates haben wir schon durchgeführt. Auf der Grundlage des „Programms Saubere Luft“ fördern wir die Elektrifizierung des Verkehrs, die Nachrüstung von ÖPNV-Bussen mit Abgasreinigungssystemen, die Digitalisierung des Verkehrs mit verkehrslenkenden Maßnahmen, die Hardwarenachrüstung von schweren Kommunalfahrzeugen – Müllabfuhr, Straßenreinigung und Ähnlichem mehr – ({1}) und die Hardwarenachrüstung von Handwerker- und Lieferfahrzeugen. Wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden – das ist das Ziel dieses Gesetzes –, dann bleiben allerdings immer noch ein paar Gebiete in deutschen Städten übrig, in denen der Grenzwert von 50 Mikrogramm überschritten wird. Dafür gilt dieses Gesetz dann nicht. Aber auch für die Gebiete, in denen dann Fahrverbote möglich sind – sie sind nicht zwingend; die Behörden vor Ort entscheiden dann, mit welchen Maßnahmen sie den Grenzwert erreichen wollen –, haben wir Regelungen vorgesehen. Sie besagen: Euro‑6-Fahrzeuge sind dort von potenziellen Fahrverboten ausgenommen. Euro‑4- und Euro‑5-Fahrzeuge sind ausgenommen, wenn sie durch eine Nachrüstung den Wert von 200 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kilometer unterschreiten. Um das zu gewährleisten, braucht es eine Zulassung der Nachrüstung durch das Kraftfahrt-Bundesamt. Die technischen Voraussetzungen dafür, die Festlegung der Verfahren zur Prüfung und zur Zulassung, hat das Bundesverkehrsministerium im Dezember letzten Jahres auf den Markt gebracht. Diese sind bekannt. Außerdem nehmen wir in solchen Fällen kommunale Busse, Fahrzeuge, die dort fahren müssen, und Ähnliches mehr aus. Damit wollen wir erreichen, dass die Grenzwerte in absehbarer Zeit ohne Fahrverbote eingehalten werden. Um es ganz klar zu sagen: Wir ändern keine Grenzwerte, sondern wir bestimmen ein Verfahren zum Umgang mit diesen Grenzwerten in der Praxis. Dieser Gesetzentwurf entlässt uns nicht aus der Verpflichtung, alles zu tun, um diese Grenzwerte zu erreichen. Jetzt einmal ganz kurz zu der Diskussion über die Berechtigung solcher Grenzwerte: Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, in der sich die Lungenärzte in Deutschland zusammengefunden haben, hat Ende letzten Jahres eine umfangreiche Studie vorgelegt, ({2}) in der sie sagt, dass ein Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter medizinisch nicht zwingend zu begründen ist. Sie hat damit aber keinen Freibrief ausgestellt; denn sie sagt – und sie weist das mit zahlreichen Studien nach –, dass Luftschadstoffe grundsätzlich krankheitserregend und gesundheitsbelastend für die Bevölkerung sind, und zwar in unterschiedlichem Maße, je nachdem, ob gesunde oder vulnerable Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Daraus ergibt sich zwingend, dass wir alles dafür tun müssen, diese Luftschadstoffe – es geht nicht nur um Stickstoffdioxid, sondern auch um andere – zu reduzieren. Natürlich fällt kein Mensch tot um, wenn er die Kerzen an einem Adventskranz anzündet oder einen Gasherd bedient. Darum geht es auch gar nicht. Es geht schlicht und einfach darum, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung dazu führt, dass sich die Lebenszeit verkürzt bzw. das Krankheitsrisiko steigt. Luftschadstoffe sind nicht der Hauptrisikofaktor für die Gesundheit. Sie stehen in Deutschland an zehnter Stelle der Risikofaktoren – weltweit an fünfter. Das zeigt, dass es bei uns relativ gut aussieht. Es kann aber halt besser werden, und das ist unsere Verpflichtung. Das wollen wir durch gesundheitliche Vorsorge erreichen, und das gehen wir hiermit an. Dasselbe gilt für die Diskussion um die Standorte. Jeder, der ein bisschen von Physik versteht, weiß, dass sich die Emission – egal ob Schall oder Schadstoff – bei wachsender Entfernung zur Emissionsquelle verdünnt, und zwar deutlich. Deswegen ist auch klar, dass die Werte an den Hauptverkehrsstraßen am höchsten sind und in den Nebenstraßen deutlich sinken. Die durch den Verkehr verursachte punktuelle Belastung wird darüber hinaus durch eine Hintergrundbelastung ergänzt. Daraus ergibt sich aber nicht das Recht, zu sagen: Weil wir die Verkehrsteilnehmer am leichtesten greifen können, sollen die dafür sorgen, dass wir die Grenzwerte erreichen. ({3}) Wir müssen hier eine Abwägung vornehmen und uns fragen, was schwerer wiegt – ich sage es jetzt einmal fiktiv –, drei Jahre länger ein Nichterreichen des Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, den wir auch schon 40 Jahre vorher nicht erreicht haben, oder massive Eingriffe durch Fahrverbote und Werteverluste der Fahrzeuge, die wir bestimmten Verkehrsteilnehmern zumuten. Bei dieser Abwägung wird doch eigentlich klar, dass der Schaden, den wir durch die Fahrverbote verursachen, in keinem Verhältnis zu der zwar vorhandenen, aber geringen gesundheitlichen Beeinträchtigung steht. ({4}) Letzter Punkt. Seit Jahrzehnten verringern sich sämtliche Luftschadstoffe in Deutschland. Wir haben jetzt die vorläufigen Zahlen von 2018, und ich nenne einmal ein paar Beispiele aus Nordrhein-Westfalen: In meiner Heimatstadt Köln hat die durchschnittliche Belastung am Hotspot Clevischer Ring in der Zeit von 2013 bis 2015 zwar zugenommen – das war nämlich genau die Zeit, in der der Umgehungsverkehr nach der Sperrung der Leverkusener Brücke für den Lastwagenverkehr durch die Stadt fuhr –, sie ist aber in der Zeit von 2013 bis heute von 61 auf 59 Mikrogramm pro Kubikmeter zurückgegangen. In der Turiner Straße ist sie von 48 auf 42, in Köln-Chorweiler von 27 auf 24 und in Köln-Rodenkirchen von 31 auf 29 Mikrogramm pro Kubikmeter gesunken. ({5}) In der Corneliusstraße in Düsseldorf – ein weiterer Hotspot in Nordrhein-Westfalen; ich muss kurz nachschauen, wo das hier steht – ist der Rückgang noch deutlicher. Wenn Sie damit argumentieren, dass die Werte auch steigen, wenn diese Fahrzeuge einmal nicht fahren, dann verstehen Sie nicht, wie der Durchschnittswert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter zustande kommt. Wir haben Tagesschwankungen, wir haben jahreszeitliche Schwankungen. ({6}) Auch wenn wir 40 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel unterschreiten, gibt es Tage und Stunden, an denen wir Spitzenwerte von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter erreichen. Das liegt am Klima, am Wetter und daran, dass wir eben auch eine Hintergrundbelastung haben. Auch die Windrichtung und die Exposition spielen eine Rolle. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Grenzwerte Quatsch sind, ist völliger Unsinn. ({7}) Deswegen bleibt es dabei: Wir werden die Zielsetzung erreichen, und zwar weitestgehend ohne Fahrverbote, weil wir uns für die Gesundheit der Bevölkerung einsetzen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion: Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Große Koalition! Sie haben es gesagt: Erst seit Februar letzten Jahres ist klar, dass Fahrverbote kommen werden. Und schon knapp ein Jahr später liegt dieser Gesetzentwurf vor. Man kann das verstehen: Gesetzentwürfe dauern ihre Zeit. Sie haben in den letzten Monaten ja auch viel zu tun gehabt – das aber nicht im Bereich der Bildung und nicht im Bereich der Digitalisierung. Mir fehlt auch das Einwanderungsgesetz, das Sie angekündigt haben, und auch den Soli haben Sie nicht abgeschafft, wie versprochen. ({0}) Aber gut, Sie haben sich gestritten. Da kann man natürlich keine Regierungsarbeit machen. Nun ja, heute liegt der Gesetzentwurf zum Bundes-Immissionsschutzgesetz auf jeden Fall vor, und das ist ja schon einmal gar nicht so schlecht. Das Problem ist aber tatsächlich, dass die Grenzwerte nach wie vor nicht nachvollziehbar sind. Im Jahr 2008 wurde auf europäischer Ebene ein Grenzwert festgelegt – übrigens von der Mehrheit dieses Hauses auch getragen –, der bei näherer Betrachtung heute eigentlich nicht mehr genau nachvollziehbar ist. Was mir in Ihrem Gesetzentwurf fehlt, ist der Grund, warum Sie den Grenzwert jetzt um 10 Mikrogramm erhöhen. Warum sind es eigentlich 10 und nicht 20, 30 oder 40 Mikrogramm mehr? Es steht dort kein einziges Wort dazu, warum jetzt von der Politik ein neuer Grenzwert für die Luftschadstoffe festgesetzt worden ist. Die über 100 000 von Fahrverboten Betroffenen haben ein Recht darauf, zu wissen, warum Sie den Grenzwert um 10 und nicht um 30 Mikrogramm erhöhen. ({1}) Ein weiteres Manko dieses Gesetzentwurfs ist, dass Private und Kommunen eben nicht gleichbehandelt werden. In schwierigen Zeiten, dann, wenn Geld auf dem Spiel steht, haben die privaten Anbieter und die Menschen in Deutschland das Recht, auf Augenhöhe mit dem Staat zu agieren. „Auf Augenhöhe“ heißt, unter den gleichen Rahmenbedingungen. Schaut man in Ihren Gesetzentwurf, dann sieht man, was kommen wird, beispielsweise, dass im Bereich der Abfallentsorgung 80 Prozent der Nachrüstkosten übernommen werden, was aber anscheinend nicht für die privaten Anbieter gilt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Erlauben Sie eine Zwischenfrage? – Gut. Herr Möring.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Frau Skudelny. – Würden Sie mit mir übereinstimmen, dass auch sämtliche Privaten, die von der Belastung betroffen sind, davon profitieren, wenn es durch die öffentliche Förderung von Kommunalfahrzeugen und Ähnlichem mehr gelingt, die Werte, die wir anstreben, zu unterschreiten?

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Möring, das würde nur stimmen, wenn tatsächlich beide gleichbehandelt würden. Wenn aber die Städte und Kommunen, die für die Luftreinhaltepläne zuständig sind, quasi gleichgeschaltet sagen: „Die privaten und die kommunalen Fahrzeuge dürfen nur dann und dann einfahren“, dann kommt genau das, was Sie mit Ihrer Frage ansprechen, eben nicht vor. Wir wollen uns nicht auf die Kommunen verlassen, sondern wir wollen dass die Bundesgesetzgebung schon eine Gleichbehandlung vorsieht. Das wäre aus unserer Sicht ein verlässlicher Weg für die Privaten, um weiterhin auf Augenhöhe mit den kommunalen Anbietern konkurrieren zu können. ({0}) Genau das wollen wir im Gesetzgebungsprozess jetzt auch weiterverfolgen. Herr Möring, als Serviceopposition sage ich Ihnen: Wenn Sie diese Änderung hinkriegen, stehen wir da natürlich an Ihrer Seite. Das Letzte – und das finde ich das Entsetzlichste an der Sache – ist, dass das Kraftfahrt-Bundesamt im November 2018 eine Kaufempfehlung für Fahrzeuge einer bestimmten Euro-Klasse mit rausgegeben hat. Die Menschen sollen umrüsten und sich modernere Fahrzeuge kaufen, am besten – aktuell – einen Euro 6. In diesem Gesetzentwurf steht aber, dass Sie nicht einmal für den Euro‑6-Diesel eine Mobilitätsgarantie geben können. Sie können doch nicht im November Fahrzeuge anpreisen, wenn Sie in Ihren Gesetzentwurf reinschreiben, dass die künftig vielleicht auch nicht mehr fahren dürfen. ({1}) Das verstehen die Menschen draußen nicht, und deswegen muss das im Gesetzgebungsverfahren noch geändert werden. Dann ist es zwar immer noch kein toller Gesetzentwurf. Das ist aber immerhin besser als nichts. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Skudelny. – Nächste Rednerin: Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es sind noch einige da. Die Bundesregierung ist nicht vollzählig anwesend. Unter anderem fehlt Herr Minister Scheuer; ich muss trotzdem dort ansetzen. An Verkehrsminister Scheuer kann man sehen, wie Sie es schaffen, sich im Zeitraffer in selbst geschaffenen Problemen festzufahren. Der Verkehrsminister hat schon jetzt genug Material für eine ganze Comedy-Serie geliefert. Die „heute-show“ profitiert ja ganz erheblich von diesen unfreiwillig komischen Vorlagen. ({0}) Beste Grüße von hier aus an Herrn Welke und die Redaktion! ({1}) Leider findet der spezielle Humor des Verkehrsministers vor einem sehr ernsten Hintergrund statt. Auch wenn er mit dem Argument der Verhältnismäßigkeit ständig davon ablenken will: Es geht um die Gesundheit der Bevölkerung, und die ist nicht verhältnismäßig. Stickoxide führen zu einer Vielzahl vorzeitiger Todesfälle und schwerer Erkrankungen. Mit Stickoxiden ist nicht zu spaßen, und genau deshalb kassiert er vor Gericht eine Niederlage nach der anderen. Es ist gut, dass die Justiz nicht bereit ist, das bisherige Versagen der Bundesregierung einfach hinzunehmen. ({2}) Nicht hinzunehmen ist auch der Angriff der Bundesregierung auf die Zivilgesellschaft. Sie kehrt nämlich Ursache und Wirkung um. Verursacher der Dieselkrise ist die Autoindustrie, nicht die Deutsche Umwelthilfe. ({3}) Ich will das noch einmal ganz klar sagen: Die Linke dankt der Deutschen Umwelthilfe ausdrücklich für ihre Arbeit; denn sie deckt damit das Versagen der Bundesregierung auf und zwingt diese zum Handeln. Dies tut sie nicht etwa, weil sie Autofahrer bestrafen will, sondern weil die Regierung ihrer Verantwortung partout nicht gerecht werden will. ({4}) Stattdessen versucht man weiter, mit billigen Tricks über die Runden zu kommen, so auch heute mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf. Sie versuchen, den Grenzwert für Stickoxide von 40 auf 50 Mikrogramm hochzusetzen. Bei der Gelegenheit sollen auch gleich Euro-6-Fahrzeuge pauschal von Fahrverboten ausgenommen werden. Dabei überschreiten auch diese den Grenzwert im Durchschnitt um das Sechsfache. Wieso nimmt man also Euro-6-Diesel pauschal von Fahrverboten aus? ({5}) Das kann ich Ihnen sagen: weil sonst gar keine Fahrzeuge mehr übrig blieben für Ihre grandiose Tauschprämie. Wenn wir beispielsweise die Blaue Plakette bekämen, dann müssten Sie einen Grenzwert für die Vergabe festlegen. Das wäre der Moment der Wahrheit. Dann käme nämlich für alle sichtbar ans Licht, dass auch die meisten neuen Fahrzeuge diesen Wert nicht einhalten. So reiten Sie sich und die Autoindustrie mit jeder Pseudomaßnahme immer weiter in die Krise. Die Justiz hat übrigens postwendend auf Ihren Gesetzentwurf reagiert. Das Berliner Verwaltungsgericht hat in seinem aktuellen Urteil zu Fahrverboten schon vorweggenommen, dass dieser Gesetzentwurf rechtlich nicht haltbar sei und Sie sich bei Ihrer geplanten Erhöhung des Grenzwertes nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes stützen können. Sie wollen hier also einen Gesetzentwurf verabschieden lassen, der vor Gericht bereits gescheitert ist. Dagegen wehren sich auch die Bundesländer, Industrie- und Handelskammern und viele andere. Sie plädieren ebenfalls für eine Hardwarenachrüstung auf Kosten der Autoindustrie, wie es auch in unserem Antrag steht. Es ist kein Wunder, dass die Menschen das Vertrauen in die politischen Institutionen verlieren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. – Letzter Satz: Hören Sie auf mit diesen Taschenspielertricks. Dann müssten wir hier auch nicht diskutieren, ob ein Gesetz ein Gesetz ist oder vielleicht doch nicht unbedingt eingehalten werden muss. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Remmers. – Nächste Rednerin: Dr. Bettina Hoffmann für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sollten hier eigentlich besser darüber reden, wie wir saubere Luft in unsere Städte bekommen können. Wir müssen nicht darüber sprechen, ob Stickoxide und Feinstaub krank machen oder ob Grenzwerte, egal wie hoch sie sind, nötig sind. ({0}) Das ist alles vielfach bewiesen, selbst wenn der Letzte das noch nicht kapiert hat. Für mich ist jedenfalls klar: Jeder Mensch hat ein Recht auf saubere Luft, ({1}) und zwar vor allem empfindliche Menschen, Kinder und Kranke. Das zu regeln, ist die Aufgabe des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, und es regelt völlig klar, was zu tun ist. ({2}) Stattdessen will die Bundesregierung heute über eine angebliche Klarstellung in diesem Gesetz verhandeln. Danach sollen Fahrverbote in der Regel unverhältnismäßig sein in Städten, in denen der Grenzwert um satte 25 Prozent überschritten wird. Ich frage mich: Was ist daran unverhältnismäßig? Es ist völlig berechtigt. ({3}) Herr Möring, bei allem Respekt, aber Ihre Begründung eben – – Herr Möring, ich würde Sie gerne noch einmal ansprechen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Möring, Sie werden gerade angesprochen. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ihre Begründung eben ist aus meiner Sicht ein echt starkes Stück. Sie sagen nämlich, dass Ihnen die Abwägung der Gerichte nicht gefallen habe und Sie deshalb eingreifen. Das können Sie gerne noch einmal nachlesen. Also, das wäre echt ziemlich heftig, würde ich sagen. ({0}) Ihre angebliche Klarstellung sorgt nur für Verwirrung. Dieser Gesetzentwurf wird die Fahrverbote auf keinen Fall verhindern. Das Bundesverwaltungsgericht hat, wie Sie gesagt haben, glasklar geurteilt: Wenn einzig Fahrverbote helfen, um die Luft schnellstmöglich sauber zu bekommen, dann müssen diese Fahrverbote auch umgesetzt werden, und zwar weil das EU-Recht das zwingend vorschreibt. ({1}) Auch die zweite Regelung, die gerade angesprochen wurde und die Frau Skudelny meiner Ansicht nach falsch dargestellt hat, ist merkwürdig: Alle Euro-6-Pkw sollen pauschal in den Fahrverbotszonen fahren dürfen. ({2}) Das wäre sozusagen ein Freifahrtschein, obwohl unter anderem der ADAC gezeigt hat, dass viele ältere Euro-6-Diesel dafür zu dreckig sind. ({3}) Auch diese Ausnahme wird schlicht unwirksam sein, wenn ein Gericht ein Fahrverbot dieser Autos als nötig ansieht, um das Recht auf saubere Luft durchzusetzen. Dieser Gesetzentwurf ist eine Nebelkerze. Die Bundesregierung wiegt damit Tausende Bürgerinnen und Bürger in der falschen Sicherheit, dass für ihre Euro-6-Diesel nie Fahrverbote gelten werden oder dass ihre Stadt nie mit einem Fahrverbot belegt wird. Platzt dieser ungedeckte Scheck, wird dies zu Politikverdruss führen, ({4}) und das ist wahrscheinlich der schlimmste Aspekt an diesem Entwurf. ({5}) Umweltministerin und Verkehrsminister simulieren hier sozusagen Handlungsfähigkeit, obwohl sie gar nicht handlungsfähig sind. Dabei liegt die Lösung doch auf der Hand: ({6}) Führen Sie die Blaue Plakette ein! Sorgen Sie dafür, dass die Dieselfahrer entschädigt werden und dass die Autoindustrie diese Kosten übernimmt! Wenn Sie das endlich umsetzen würden, müssten wir hier nicht einmal im Ansatz über diesen Gesetzentwurf reden. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll nach dem Willen der Bundesregierung Fahrverbote verhindern. Es finden demnach weitere Regularien Eingang in Vorschriften und Gesetze, von denen wir traditionell ja eh schon kaum welche haben. So klopfen sich die einen auf die Schulter, während den anderen erneut apokalyptischer Untergangsschweiß übers Gesicht läuft. Betrachtet man das Ganze sachlich, stellt man fest, dass man eigentlich nur an Symptomen herumdoktert, deren Ursache man einst selbst schuf: Wir haben keine sachliche Debatte über die Sinnhaftigkeit von Fahrverboten geführt. Wir haben keine sachliche Debatte über die Festlegung der Grenzwerte geführt. Wir haben genauso keine sachliche Debatte über die tatsächlichen gesundheitlichen Auswirkungen der Stoffkonzentrationen geführt, und wir haben auch keine sachliche Debatte über die Standorte der Messstationen geführt. Das könnte ich noch eine ganze Weile so fortführen. Was wir dagegen haben, sind jede Menge Emotionen und auch viel Geschrei und diesen Gesetzentwurf, der ganz am Ende dann doch das Einzelfallschlupfloch für Verbote offenlässt und zudem weiter auf Softwareupdates setzt. Eigentlich haben wir auch – oder besser: das Umweltbundesamt und infolgedessen das Bundesumweltministerium – ein Gutachten von Herrn Wachtmeister, der ganz explizit von diesen Softwareupdates abrät. Aber weil man das bisher nicht veröffentlichte, muss man weiterhin kein Wort darüber verlieren. Wie das Gutachten in der Zwischenzeit in die Hände der Deutschen Umwelthilfe gelangte, juckt keinen. Aufklären will das seitens der Regierung auch keiner; das habe ich sogar schriftlich bekommen. Dann haben wir noch das ZDF, das unlängst in „Frontal 21“ einen perfide manipulativen Bericht ausstrahlte, der den Bürgern suggerieren sollte, dass das Nachrüsten so furchtbar einfach und total billig sei und dass diese bösen Automobilisten ja ganz vorsätzlich schmutzige Autos verkaufen würden. ({0}) Dass in diesem Beitrag die DUH mit im Wagen saß, ist geschenkt. Solange wir über solche Beiträge sprechen und solange wir so reale Beispiele wie in Hamburg, in Oldenburg oder jetzt auch jüngst in Berlin mit den Auswirkungen der Tempo-30-Zone dafür haben, dass das alles keinen Effekt zeige, führen wir eine Scheindebatte. Das kostet einen Haufen Steuergeld und Zeit. Schluss mit diesem Murks! ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist Ulli Nissen für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meinem Wahlkreis beschäftigt kaum ein Thema die Menschen so wie die drohenden Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. Sie werden diese Sorgen sicherlich auch kennen. Klar, erhöhte Stickoxidemissionen sind negativ für die Gesundheit der Menschen. Deshalb müssen diese reduziert werden. Technische Nachrüstungen führen zu einer deutlichen Absenkung, innerorts bis zu 70 Prozent, außerorts sogar bis zu 90 Prozent. Das Thema Nachrüstung wurde im CSU-Verkehrsministerium lange stiefmütterlich behandelt. Der Druck auf die Autohersteller war nicht besonders ausgeprägt. Für mich war es eher ein Werfen von Wattebällchen. Auch deshalb haben wir viel Zeit verloren. Im Herbst hat die Bundesregierung Nachrüstungsfördermaßnahmen für Kommunalfahrzeuge wie Busse und Müllfahrzeuge beschlossen. Deren Nachrüstung alleine reicht aber nicht aus. Natürlich müssen Nachrüstungen auch bei allen anderen Fahrzeugen erfolgen. ({0}) Ziel ist, die Luftreinhaltewerte durch diese Maßnahme einzuhalten und die Luftqualität zu verbessern – ein wichtiger Beitrag für den vorsorgenden Gesundheitsschutz. Wie geht es den Menschen, die von drohenden Fahrverboten betroffen sind und nachrüsten wollen? Viele sind zu Recht empört, dass bisher wohl nur VW und Daimler bereit sind, die Nachrüstung mit etwa 3 000 Euro zu unterstützen. Sie haben ihre Dieselfahrzeuge gekauft, weil ihnen – auch im Prospekt – die Umweltfreundlichkeit versprochen wurde. BMW verärgert die Menschen ganz besonders. Dank an Herrn Marinoff aus meinem Frankfurter Wahlkreis für seinen Hinweis auf eine Sendung des Fernsehmagazins „Frontal 21“. Dort wurde nachgewiesen, dass BMW in den USA – und eben nicht in Deutschland – die saubere Hardware schon seit 2008 serienmäßig einbaut. ({1}) Diese Teile stehen auch im offiziellen BMW-Ersatzteilkatalog, bestellbar frei Haus, aber nur in den USA. Dies ist aus meiner Sicht ein schäbiges Handeln und macht deutlich: BMW will neue Fahrzeuge verkaufen und lässt damit seine Bestandskunden im Stich. Das geht gar nicht. ({2}) Zum Glück gibt es deutsche Nachrüstfirmen, die für fast jedes Fahrzeug eine gute Lösung haben. Das Kraftfahrt-Bundesamt hat jetzt endlich die Nachrüstrichtlinie vorgelegt. Nun können die Nachrüster handeln. Das Interesse des KBA an Nachrüstung scheint nicht besonders groß zu sein; vielleicht kommt auch deshalb erst so spät die Richtlinie. Im November bekamen die betroffenen Fahrzeugbesitzer vom KBA ein Schreiben, in dem nur auf Umtauschaktionen hingewiesen wurde, pikanterweise mit den Hotlines von BMW, Daimler und VW. Aus meiner Sicht war dies ein Verkaufsförderprogramm dieser drei Hersteller. Höflich ausgedrückt, ist das sehr schräg, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir wollen mit der Änderung des BImSchG erreichen, dass nachgerüstete, nachweislich saubere Fahrzeuge von möglichen Fahrverboten ausgenommen werden. Nur dann werden die Menschen ihre Pkws nachrüsten. Wir von der SPD wollen, dass alle Autohersteller die Kosten dafür vollständig übernehmen. Gut 38 000 Kfz-Meisterbetriebe stehen bereit; sie sagen: Wir können nachrüsten. – Lassen wir diese Kfz-Meisterbetriebe an die Arbeit gehen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulli Nissen. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6335, 19/6927, 19/1359 und 19/6195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Bremer Lürssen-Gruppe hat mit Saudi Arabien 2013 Verträge über die Lieferung von Küstenwachbooten für 1 Milliarde Euro geschlossen. Diese Verträge wurden von der Bundesregierung genehmigt. Seit dem Jahr 2015 werden diese Boote auf der Peene-Werft in Wolgast in Vorpommern gebaut. Knapp die Hälfte der Boote wurde inzwischen ausgeliefert. Weiteren acht Booten wurde im März letzten Jahres die Ausfuhrgenehmigung erteilt. Diese Ausfuhrgenehmigung hat die Bundesregierung im November wegen des Khashoggi-Mords ausgesetzt, und sie hat diese Aussetzung ganz aktuell, im Januar, verlängert. Die Folge ist Kurzarbeit für die meisten Werftmitarbeiter und eine mehr als unsichere Zukunft für die Werft und die Region. Dafür trägt die Bundesregierung die politische Verantwortung; denn nicht erst seit dem Mord ist Saudi-Arabien ein unsicherer Kantonist. Der Mord ist nur ein Vorwand. Schon im Koalitionsvertrag haben Sie sich über den Exportstopp verständigt, offensichtlich ohne Rücksicht auf die Folgen; denn die Betroffenen stehen nun im Regen. Das ist, meine Damen und Herren, keine verantwortungsvolle Politik. ({0}) Handeln Sie verantwortungsvoll! Die Menschen in Vorpommern haben einen Anspruch darauf. Sie haben mit den fortgesetzten Genehmigungen einen echten Vertrauenstatbestand gesetzt. Die Werftarbeiter konnten darauf vertrauen, dass ihre Arbeit auch zu Ende geführt wird. Verträge sind einzuhalten, und bei Vertragsstörungen haftet der Störer. Dass das so ist, hat Ihnen unlängst das Bundesverfassungsgericht bei den Laufzeitverkürzungen der Kernkraftwerke ins Stammbuch geschrieben. Eine Kompensationspflicht besteht hier erst recht; denn für den Ausfuhrstopp kann das Unternehmen nichts. Nein, Sie tragen die Verantwortung, umso mehr, als es mal wieder die strukturschwachen ländlichen Räume sind, die in die Röhre gucken; denn Siemens, Rheinmetall und wie sie alle heißen sind von dem Ausfuhrstopp gar nicht betroffen. Sie reden doch immer von europäischer Einheit! Wo sind denn die Absprachen mit Frankreich, mit Großbritannien oder mit Italien? Nein, wenn es um das Auspacken der Moralkeule geht, werden Sie auf einmal ganz unilateral deutsch, zulasten unserer heimatlichen deutschen Wirtschaft. ({1}) Insgesamt stehen etwa 1 800 Arbeitsplätze auf dem Spiel, bei der Werft und ihren Zulieferern. Die Peene-­Werft hat überragende Bedeutung für die Wirtschaft in der Region, für die dortige Gesellschaft und auch für die dortigen Steuereinnahmen. Ein Viertel der Einnahmen der Stadt Wolgast hängen daran. Da können Sie sich Ihre Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ dann auch getrost sparen. ({2}) Gleich werden sie kommen, die Sprechblasen: ({3}) Die Bundesregierung tut etwas. Sie kümmert sich. Sie prüft die Übernahme der Boote usw. – Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, prüfen die Werft und die Region zu Tode. ({4}) Seit November – seit November! – besteht der Ausfuhrstopp, und nichts ist passiert. Handeln Sie, und zwar sofort, und bitte anders als bei unserer Automobilindustrie, die Sie ja gerade gegen die Wand fahren. ({5}) Mit Ausgleichszahlungen ist es nicht getan. Das hilft der Werft nicht. Die fachlich gut ausgebildeten Werftarbeiter werden abwandern, und dann kann Wolgast im wahrsten Sinne des Wortes die Schotten dichtmachen. Nein, übernehmen Sie die Küstenwachboote, und zwar alle. Dann können die Menschen in der Region wieder aufatmen, ihre Angst hinter sich lassen und wieder zur Tagesordnung übergehen. Die Lösung für die Boote liegt doch auf der Hand. Wir haben es vorhin gehört: Wir erleben im Mittelmeer eine fortgesetzte humanitäre Katastrophe, ausgelöst von Ihrer menschenfeindlichen sogenannten Willkommenspolitik. Sie haben Anreize für Menschen gesetzt, ihr Leben auf dem Mittelmeer aufs Spiel zu setzen. Die Schlepperindustrie boomt. Diese Boote im Dienste der Küstenwachen der afrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten ({6}) können dazu beitragen, mit Menschen überfüllte, kaum seetaugliche Kähne an der Überfahrt zu hindern. ({7}) Die Mittelmeerroute könnte geschlossen werden, Tausende von Menschenleben könnten gerettet werden. Die in Wolgast gebauten Schiffe sind dafür geeignet und ausgerüstet. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Auf diese Weise könnten wir tatsächlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Philipp Amthor für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die aktuelle Lage der Peene-Werft führt zu massiven Verunsicherungen und zu Sorgen, zu Sorgen bei Mitarbeitern, die vor Weihnachten in Kurzarbeit gegangen sind, zu Sorgen bei deren Familien, zu Sorgen bei der Stadt Wolgast in meinem Wahlkreis, die ohnehin von Struktureinschnitten gebeutelt ist, und zu Sorgen in meiner vorpommerschen Heimat um die Zukunft dieses traditionsreichen Unternehmens. Deswegen ist es mir als direkt gewähltem Abgeordneten ein wichtiges Anliegen, hier heute klar Stellung zu diesem Thema zu beziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will eigentlich nicht schon wieder Zeit aufwenden, um die Fehler in einem AfD-Antrag zu sezieren. ({0}) Aber ich werde es Ihnen nicht ersparen, weil ich nicht bereit bin, zu akzeptieren, dass Sie hier falsche Behauptungen verbreiten und dass Sie den Leuten in Vorpommern eine Hoffnung geben, die keine Hoffnung ist. Mit falschen Fakten werden Sie sich nicht zum Anwalt meiner Heimatregion machen lassen. ({1}) Wir lehnen Ihren Antrag aus insgesamt vier Gründen ab: Erstens erleben wir hier ein inszeniertes Schauspiel. Zweitens ist Ihr Antrag juristisch schief. Drittens ist er außenpolitisch unprägnant. Viertens ist er wirtschaftspolitisch fragwürdig. ({2}) Meine Damen und Herren, zur Inszenierung: Lieber Herr Kollege Komning, ich habe in meiner Heimatzeitung gelesen, dass Sie die Peene-Werft hier im Deutschen Bundestag retten. Dann, habe ich gedacht, schau ich mir den Antrag mal an. Ich kann Ihnen sagen: Bis zur Zeitung hat er es geschafft, ins Sekretariat des Deutschen Bundestages noch nicht. Das zeigt sehr deutlich, wo Sie den Schwerpunkt setzen. Sie wollen eine Inszenierung auf dem Rücken der Mitarbeiter der Peene-Werft, wir wollen Sacharbeit. ({3}) Ich sage Ihnen auch: Die juristischen Argumente, die Sie hier anbringen, sind wirklich unterirdisch. Ich habe keine Lust, Ihnen hier noch einmal eine juristische Nachhilfelektion zu erteilen. Sie wollen das gar nicht lernen, und den Menschen in Vorpommern bringt es nichts. ({4}) Aber das, was Sie hier zum Vertrauensschutz erzählen, ist Unsinn. Sie blenden das Vergaberecht in Deutschland und alle Regeln, die es für öffentliche Haushalte gibt, völlig aus. Das ist ärgerlich. Was ich Ihnen hier vortrage, ist keine Rechtsmeinung; das ist die Rechtslage. Sie sollten das zur Kenntnis nehmen, statt auf der Grundlage von falschen rechtlichen Fakten mit den Menschen zu diskutieren. ({5}) Außenpolitisch ist es genauso schief und oberflächlich. Sie schlagen vor, die Schiffe an die Küstenwache in Nordafrika zu geben. Das klingt ja durchaus schlau. ({6}) Aber vielleicht hätten Sie bei erster Recherche zur Kenntnis nehmen können, dass etwa Libyen von Italien fünf Küstenschutzboote geschenkt bekommen hat, Pa­trouillenboote, die jetzt ungenutzt in tunesischen Häfen liegen, weil es in Libyen gar kein Personal gibt, das diese Hochtechnik bedienen kann. Ihr Vorschlag geht fehl. Ich sage Ihnen eines: Sie wollen den Fleiß der Peene-Werft und das Geld der deutschen Steuerzahler im Mittelmeer versenken. Wir wollen das nicht. ({7}) Es geht weiter mit der Wirtschaftspolitik. Friedrich Lürssen, der Eigentümer der Peene-Werft, ist ein Familienunternehmer mit Format und Haltung. Der braucht nicht den Staat als treuhänderischen Verwalter. Das, was er braucht, sind solide politische Bedingungen. Dafür werden wir arbeiten. Er braucht eines sicherlich nicht: Sie als vorgeblichen Anwalt der Interessen der Peene-­Werft; dem werden Sie nicht gerecht. ({8}) Die Show, die Sie hier veranstaltet haben, löst keine Probleme. Deswegen will ich lieber den Blick darauf werfen, wie man jetzt mit der Peene-Werft umgehen sollte. ({9}) Meine Damen und Herren, es ist ganz klar: Der größte Widerstand gegen den Export der Küstenschutzboote kommt nicht aus meiner Fraktion, ({10}) sondern aus einer anderen Regierungsfraktion, und zwar zum Teil mehr aus Ideologie denn aufgrund von Fakten. Deswegen ist es mir wichtig, in der Diskussion heute drei Punkte klarzustellen: ({11}) Erstens. Die Patrouillenboote sind keine Panzer; es sind Polizeiboote. Sie sind weniger bewaffnet als die Schiffe unserer Bundespolizei und werden nicht für Seeblockaden genutzt. Herr Nouripour, auch wenn Sie anderes behaupten, dazu sind sie auch gar nicht geeignet. Zweitens. Anlass für die Exporteinschränkung war nicht der Fall Khashoggi. Anlass für die Exporteinschränkung war zuallererst der Jemen-Konflikt. Ich freue mich in diesem Zusammenhang, dass es jetzt erste zarte Schritte auf dem Weg zu einem Friedensprozess für den Jemen gibt. ({12}) Drittens ein ganz wichtiger Punkt. Die Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zu einer europäisch harmonisierten Rüstungsexportpolitik bekannt. ({13}) Das ist ein richtiges Ziel. Aber wenn wir europäisch harmonisieren wollen, dann geht das nicht durch einen deutschen Sonderweg, dann brauchen wir Bewegungsfreiheit. Auf der Grundlage dieser drei Fakten ist es durchaus richtig, darüber nachzudenken, ob und inwieweit dieser Auftrag durchgeführt werden kann. Aber ja, ein bloßes Hinterfragen des Exportmoratoriums wird nicht alle Probleme auf der Peene-Werft lösen. Dafür brauchen wir Greifbares, Greifbares für die maritime Wirtschaft in unserem Land. ({14}) Und wie das geht, kann man von dieser Regierungskoalition lernen. ({15}) Ich schaue meinen Kollegen Eckhardt Rehberg als Chefhaushälter meiner Fraktion an und denke auch an Johannes Kahrs von der SPD. ({16}) – Da können Sie stöhnen, aber das ist Sachpolitik. ({17}) Beide haben im Bundeshaushalt die Grundlage dafür gelegt, dass fünf Korvetten des Typs K130 beschafft werden können. Ich freue mich darüber, dass ein Teil dieser Korvetten in Wolgast gebaut werden wird und dies die Werft stabilisieren wird. ({18}) Hinzu kommt, dass wir natürlich prüfen – Herr Komning, das Prüfen gehört nun einmal zu einem Rechtsstaat; das sollten Sie zur Kenntnis nehmen –, wie wir die Boote verwenden können. Anders, als Sie es behaupten, legt die Bundesregierung die Hände kein Stück in den Schoß. Auch in Zukunft wird es Beschaffungsbedarf bei unseren Sicherheitsbehörden geben: bei der Bundespolizei, beim Zoll und bei der Marine. Ich kann Ihnen sagen: Ich rede nicht nur im Bundestag über die Peene-Werft, sondern befinde mich in ständigem Austausch mit ihr und habe sie oft besucht. Deswegen weiß ich: Für diese Vergabeverfahren ist die Peene-Werft gut aufgestellt. Wir werden daran arbeiten, dass die Peene-­Werft ihre Chancen nutzen kann. Mit Friedrich Lürssen, der als Firmenunternehmer zu seiner Verantwortung in dieser schwierigen Phase steht, bin ich in gutem Austausch, und als Wahlkreisabgeordneter bin ich froh, dass wir die zarte Hoffnung haben, dass die Kurzarbeit auf der Werft alsbald enden wird. Ich sage Ihnen, was die Bürger in Vorpommern von meiner Fraktion erwarten können: ({19}) korrekte und verlässliche Arbeit. Verunsicherung und einfache Lösungen, die keine Lösung darstellen, überlassen wir gerne anderen Fraktionen. Ich bin froh, dass meine Vorpommern wissen, was die richtige Alternative ist, nämlich eine Alternative mit Fakten. Die werden wir wählen. Vorpommern braucht Sie nicht! Herzlichen Dank. ({20})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächster Redner: ­Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion. ({0})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schön, dass mir Philipp Amthor doch noch ein paar Aspekte des Antrages überlassen hat, um sie genauer zu betrachten und festzustellen, was daran vielleicht nicht stimmt. Herr Komning, ich war schon ein bisschen enttäuscht, als ich den Antrag gelesen habe. Sie schreiben von 48 Booten, deren Auftrag vereinbart wurde. Das ist schon mal falsch. Soweit ich weiß und auch andere wissen, ist ein Auftrag über 33 Boote und 1 Trainingsboot erteilt; das ist Fakt. Es sind nicht 48 Boote. ({0}) Was Sie meinen, ist eine Voranfrage aus dem Jahre 2008. Da sieht man schon, wie Sie Ihre Anträge schreiben. Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Ausfuhrverbot. Wir sollen als Bundestag sogar feststellen, wie wir damit jetzt umgehen. Ein Ausfuhrverbot gibt es überhaupt nicht. Bis jetzt ist vereinbart worden – Sie müssen mal schauen, wie sensibel die deutsche Wirtschaft, die im Export tätig ist, mit dem Thema umgeht –, dass man überlegt, wie es mit den Aufträgen weitergeht. Aber die Ausfuhrgenehmigung ist noch nicht zurückgenommen worden. Eine Ausfuhr ist auch nicht verboten worden. Verantwortungsvolle Wirtschaftsunternehmen – übrigens nicht nur die Peene-Werft, nicht nur die Lürssen-Gruppe; das betrifft auch andere – sind so sensibel, dass sie sagen: Wir warten ab und schauen zusammen mit unserer Belegschaft, wie wir mit dem Thema umgehen. – Ich finde, das ist eine hervorragende Art und Weise, wie die Wirtschaft, die im Export tätig ist, in Deutschland mit dem Thema umgeht. Das sollte von uns allen eigentlich Anerkennung abverlangen und kein Draufprügeln, wie Sie es machen. ({1}) Herr Komning, Sie sind doch Anwalt. Wenn Sie so vor Gericht gehen und so vorbereitet Ihre Klienten bedienen, dann wird mir angst und bange angesichts derer, die Sie vertreten. Um Gottes willen! So einen Antrag kann man hier im Bundestag beim besten Willen nicht vorlegen, zustimmen kann man ihm auf jeden Fall nicht. ({2}) Wir haben – das ist gesagt worden – 100 Leute, die in Kurzarbeit sind; bald sind es 150, auf einer Werft mit 300 Leuten. Im Umfeld von Wolgast sind es sogar 1 500 Leute, die von der Werft leben. Man denkt, das betrifft nur den Wahlkreis von Herrn Amthor und mein Bundesland. Dabei wird ganz vergessen: Wir haben auch Komponenten aus Süddeutschland, aus Baden-Württemberg, aus Bayern, die in diesen Booten verbaut werden. Deshalb betrifft es noch deutlich mehr Menschen. ({3}) Was ich mir von Herrn Amthor gewünscht hätte, wäre eine klare Aussage dazu, wie diese Bundesregierung weiter mit dem Thema umgehen will. Es ist ja schön, dass man überlegt. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, konkret die Frage, wie man mit den Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien und den bestehenden Exportgenehmigungen umgehen will. Die Bundesregierung schreibt: Sie beobachtet und bewertet fortlaufend die Lage. Dabei wird die Bundesregierung sich mit ihren internationalen, vor allem ihren europäischen Partnern eng abstimmen und in Abhängigkeit davon agieren. Die Bundesregierung strebt dabei eine gemeinsame europäische Linie an. Spanien hat gerade einen großen Auftrag, mehrere Korvetten an Saudi-Arabien zu liefern, unterschrieben. Spanien ist, soweit ich weiß, ein europäischer Partner, da werden mir alle zustimmen. Da reden wir über Kriegsschiffe, hier reden wir über Polizeiboote für das Innenministerium, um das auseinanderzuhalten. Wenn ich mir das anschaue, dann brauche ich eine klare Aussage der Bundesregierung: Wie stehen wir mit unseren europäischen Partnern zu Rüstungsexporten? Ich glaube, das ist es, worauf es ankommt: Verlässlichkeit in der Bundesregierung und Verlässlichkeit für die Wirtschaft in Deutschland. Wir brauchen eine Bundesregierung, die klar und deutlich sagt, wie es weitergeht; was wir nicht brauchen, ist Unsicherheit. Wir reden hier über eine Werft, nicht über eine Bäckerei, wo man heute Brötchen und morgen Kuchen backen kann. Diese Werft kann sich mit Projektierung nicht so ohne Weiteres neuen Aufträgen zuwenden. Deshalb brauchen wir eine verlässliche Politik, und die schulden Sie als Bundesregierung. ({4}) Und natürlich schuldet die auch Ihr Koalitionspartner; da haben Sie völlig recht. Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern eine neue Ministerpräsidentin. Sie stellt sich hin und sagt, sie kümmert sich um die Wirtschaft. Frau Schwesig muss sich auch einmal entscheiden, ob sie die Wirtschaft in ihrem Bundesland fördern will oder ob sie sich als stellvertretende Bundesvorsitzende weiter hinter die Programmatik der SPD stellt und jeden Rüstungsexport vermeiden will. ({5}) Da braucht man eine Entscheidung; da reicht kein Rumgeeiere im Bundesland. Da brauche ich eine klare Aussage. ({6}) Verlässliche Wirtschaftspolitik ist das, was dieses Land braucht. Darauf kommt es an, und die schulden Sie als Bundesregierung. Dann gibt es auch eine Zukunft für die Peene-Werft. Ich bin mir relativ sicher, so sensibel wie jetzt mit dem Thema umgegangen wird, mit so viel Verantwortungsbewusstsein, dass es weitergehen wird. Ich traue es der Lürssen-Gruppe zu, dass sie eine Lösung findet, die die Arbeitsplätze dauerhaft sichert. Da ist sie in den Gesprächen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gut aufgehoben, sie ziehen auch mit an einem Strang; denn jeder weiß: Habe ich eine verlässliche Politik, dann kommt auch eine verlässliche Wirtschaft hinterher, und das nutzt uns allen. Schönen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Reinhold. – Nächster Redner: Frank Junge für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Guten Morgen, AfD-Fraktion! Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in dieser für die Wolgaster Peene-Werker und ihre Familien so wichtigen Angelegenheit heute endlich aufgewacht sind. Ihr Antrag vermittelt das zumindest. ({0}) – Moment! – Während ehrlich meinende Politiker seit vielen Monaten schon an einer wirklichen Lösung für die 300 Beschäftigten der Lürssen-Werft und die gesamte Region arbeiten, präsentieren Sie uns heute diesen Antrag. Er ist nicht nur fehlerhaft – das kam ja schon zur Sprache –, er ist zudem durchzogen von einem grundsätzlich falschen Verständnis von klar geregelter Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten zwischen Bundestag und Bundesregierung. Ich komme darauf noch zu sprechen. Vor allem aber – auch das will ich von Anfang an unterstreichen – dient dieser Antrag einem einzigen Zweck: Der Öffentlichkeit vorzugaukeln, Sie würden sich um die Frauen und Männer der Peene-Werft kümmern, die nach dem Ausfuhrstopp in der Tat ein Problem haben und sich um ihre Zukunft sorgen. Das tun Sie bei weitem nicht. ({1}) Sie nutzen deren Situation lediglich aus, um auf dem Rücken der Beschäftigten billigen Populismus zu betreiben. ({2}) Ich will gerne begründen, warum ich das so sehe: Erstens. Mit der Zuspitzung der Lage für die Peene-­Werker und nach den Vorfällen um den Journalisten Khashoggi und der dann getroffenen Entscheidung des Bundessicherheitsrates, die Frau Merkel am Ende mit federführend getroffen hat, ({3}) den Export weiterer fertiggestellter Schiffe zu stoppen, haben sich zuallererst Frau Ministerpräsident Manuela Schwesig und ihr Parlamentarischer Staatssekretär Patrick Dahlemann sofort eingeschaltet ({4}) und vor Ort vermittelt, dass sie nicht nur für Gespräche mit der Belegschaft, dem Betriebsrat und der IG‑Metall Küste zur Verfügung stehen. ({5}) Vielmehr haben sie gleichzeitig auch versucht, zusammen mit der rot-schwarzen Landesregierung, zusammen mit Bundestagsabgeordneten von SPD und CDU nach Lösungen zu suchen, ({6}) wie mit der Situation umgegangen wird und wie Lösungen gefunden werden. Dabei ging es vor allen Dingen auch darum, zusammen mit der Lürssen-Gruppe andere Abnehmer für die Schiffe zu finden, nicht nur für die, die fertig sind, sondern auch für die, die noch in den Auftragsbüchern stehen. ({7}) Vor dem Hintergrund will ich an dieser Stelle einfügen, dass ich ganz klar der Auffassung bin – dabei denke ich nicht nur an die Werft in Wolgast –, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen, ob wir den Überwasserschiffbau der Marine zur Schlüsseltechnologie erklären, ({8}) um damit sicherzustellen, dass wir hier zukünftig viel stärker als bisher unsere eigenen hervorragenden Kompetenzen und Kapazitäten nutzen können. Zurück zum konkreten Fall der Peene-Werft. Hier müssen mögliche Lösungen – das kam schon zum Ausdruck – ausschreibungssicher, vergabe- und haushaltsrechtlich korrekt und sauber sein. Vor diesem Hintergrund ist jedem klar, dass es in dieser Situation Zeit braucht, etwas Tragbares auf die Beine zu stellen. ({9}) Das, Herr Komning, ändert allerdings nichts daran, dass verantwortliche Politik längst auf den Beinen ist und nach Lösungen sucht. ({10}) Zudem – das will ich auch sagen – hat die Landesregierung mit der Bundesagentur für Arbeit dafür gesorgt, dass über ein Ausbildungs- und Weiterqualifizierungsinstrument ein 10‑prozentiger Zuschuss zum Kurzarbeitergeld dazugegeben wird, um den Lohnausfall aufzufangen. Ich finde, das ist etwas, das an dieser Stelle durchaus Erwähnung verdient. ({11}) Während also verantwortungsbewusste Politiker schon lange Weichen stellen, Herr Komning, und handeln, war von Ihnen und von der AfD vor Ort überhaupt nichts wahrzunehmen. Wenn Ihre Landespartei und die AfD-Landtagsfraktion sozusagen vorziehen, an dieser Stelle überhaupt nichts zu tun, dann deckt sich das nach meinem Kenntnisstand mit dem, was Sie als Abgeordneter für die Region und was Herr Leif-Erik Holm als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern für die Peene-Werft da vor Ort getan haben. In einer Zeit, in der 300 Beschäftigte Existenzangst haben, in der Wolgast vor der Situation steht, dass ein Viertel seiner Haushaltseinnahmen wegzubrechen droht, und die Region vor dem möglichen Verlust von circa 2 000 Arbeitsplätzen steht, haben Sie vorgezogen, die Hände in den Schoss zu legen und untätig zu sein. Deshalb frage ich Sie, wie Sie dazu kommen, mit diesem Antrag hier heute zu vermitteln, Sie wären der große Kümmerer und würden sich für die Beschäftigten der Peene-Werft einsetzen. ({12}) Ich sage Ihnen, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Zweitens. Sie sprechen im Antrag von Rechtssicherheit für Unternehmen und fordern als Lösung des Problems – ich lese es vor –, dass die Bundesregierung die fertigen und die noch nicht gebauten Patrouillenboote übernehmen und in die Rechte und Pflichten des ursprünglichen Käufers eintreten soll. Dann könne die Bundesregierung diese Boote vermarkten und an vier nordafrikanische Staaten vermitteln. Wie absurd ist das denn? Neben der Tatsache, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe der Bundesregierung ist, als Verkaufsagentur für Rüstungsgüter aufzutreten, offenbaren Sie nach meinem Dafürhalten damit totale Unkenntnis des öffentlichen Beschaffungswesens. Für eine solche Vorgehensweise gibt es weder vergaberechtliche noch haushalterische Möglichkeiten, Gesichtspunkte, Ansatzpunkte, an die man andocken könnte. Es fehlt faktisch jede Grundlage, so vorzugehen. Somit ist das, was Sie da propagieren, eine Mogelpackung und lässt sich einfach nicht umsetzen. ({13}) Ähnlich verhält es sich, wenn Sie in Ihrem Antrag davon ausgehen, dass der Bundestag der Bundesregierung sozusagen per Beschluss vorschreiben kann, welche Rüstungsgüter wohin geliefert werden sollen. Diese Herangehensweise ist weder durch die Geschäftsordnung noch durch das Grundgesetz gedeckt; auch das sollten Sie eigentlich wissen. Danach ist nämlich klar geregelt und im Übrigen auch bundesverfassungsgerichtlich gestärkt, dass die Bewertungs-, Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse bei Rüstungsexporten zum Kernbereich und zur Eigenverantwortung der Bundesregierung gehören. Auch das lässt sich nicht eben so mit einem Antrag Ihrer Art vom Tisch wischen und außer Kraft setzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Führt man sich all das vor Augen, dann wird nach meinem Dafürhalten klar, wie unehrlich dieser Antrag ist und was die AfD an dieser Stelle in Wirklichkeit möchte. Das, was Sie hier als vermeintliche Lösung für die Lürssen-Werft und ihre Beschäftigten in den Raum stellen, entpuppt sich bei näheren Hinsehen als Luftnummer. Das ist vor allem deshalb schäbig, weil Sie sozusagen mit den Sorgen der Peene-Werker spielen, um eigenes politisches Kapital daraus zu ziehen. Darum gehört dieser Antrag abgelehnt und in die Tonne. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Junge. – Nächster Redner: Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat einen sehr starken Schwerpunkt auf Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik. Das gehört natürlich dazu; aber wir sollten uns noch einmal klarmachen, was eigentlich der politische Hintergrund ist. Das ist eine zutiefst moralische Frage. Der Hintergrund ist, dass man die Waffenexporte nach Saudi-Arabien viel zu spät und erst durch den Fall Khashoggi eingestellt hat. Wir als Linke haben immer gesagt: Wir sind gegen Waffenexporte, insbesondere in Krisengebiete. Es wäre viel früher notwendig gewesen, Waffenexporte zu stoppen. Wir hatten schon, als die Auftragsvergabe ursprünglich stattfand, kritisiert, dass man die Aufträge überhaupt angenommen hat. Aber noch einmal: Es ist vollkommen richtig, dass man mit der Kopf-ab-Diktatur in Saudi-Arabien keine Geschäfte macht. ({0}) Es ist eigentlich ein Skandal – das sage ich auch in Richtung Bundesregierung, die mit dem Koalitionsvertrag von einer restriktiven Waffenexportrichtlinie ausgehen wollte –, dass auch noch im Jahr 2018 mit Saudi-Arabien 50 Milliarden Euro mehr Umsatz gemacht wurden als noch im Jahr zuvor. Deshalb sagen wir ganz deutlich: Wir wollen die Waffenexporte nach Saudi-Arabien nicht nur jetzt, wegen des Falls Khashoggi, stoppen, sondern wir wollen sie dauerhaft stoppen. Wir wollen mit Saudi-Arabien auf diesem Gebiet keine Geschäfte machen. ({1}) Eigentlich hatte ich die AfD auch immer so verstanden, dass sie es eigentlich begrüßt hat, keine solchen Geschäfte mehr zu machen. Aber in diesem Antrag ist davon nicht die Rede. Wenn Sie wirklich mit den Werftmitarbeitern im Kontakt sind – das kann ich nicht bewerten –, ({2}) sollten Sie ihnen vielleicht wirklich einmal sagen, dass auch die AfD diese Waffenexporte nach Saudi-Arabien eigentlich stoppen wollte. Davon ist aber jetzt nicht mehr die Rede. Vielmehr schieben Sie den Ball woandershin. Es ist doch wirklich ein Stück weit pervers, dass auch bei diesem Antrag wieder eine Verbindung zu Flüchtlingen hergestellt werden muss und Sie sagen: Wir sollten die Schiffe weiterbauen und sie im Mittelmeer zur Flüchtlingsbekämpfung einsetzen. ({3}) Ich finde, das ist moralisch zutiefst verwerflich. Schämen Sie sich, dass Sie auch dabei wieder diese Verbindung hergestellt haben. ({4}) Wenn Sie sagen, man sollte die Schiffe eventuell an die sogenannte libysche Küstenwache weiterverkaufen, ist Ihnen dann eigentlich bewusst, dass die libysche Küstenwache gegen die Flüchtlinge auch mit Waffengewalt vorgegangen ist? Wollen Sie tatsächlich diese Politik unterstützen? Schämen Sie sich, dass Sie auch dieses Thema so verwerflich verwenden. ({5}) Auch Sie, Herr Amthor, haben sich hierhingestellt und gesagt, das seien alles nur Polizeiboote. ({6}) Auch dazu sage ich noch einmal klipp und klar: Die deutschen Schiffe werden von Saudi-Arabien eingesetzt, um die Totalblockade vor der jemenitischen Küste umzusetzen. ({7}) Diese Totalblockade trifft die Zivilbevölkerung am härtesten. Deshalb sind das keine Polizeiboote. ({8}) Vielmehr werden die Boote dafür eingesetzt, um der Zivilbevölkerung zu schaden. ({9}) Deshalb ist es vollkommen richtig, dass diese Waffen nicht länger exportiert werden. ({10}) Es ist relativ klar, dass insbesondere CDU und CSU darauf setzen, dass, wenn der Fall Khashoggi aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, man den Ausfuhrstopp möglicherweise wieder aufhebt und die Boote wieder geliefert werden können. Ich appelliere hier an die SPD, da wirklich standhaft zu bleiben. Der Auslieferungsstopp ist ja jetzt noch einmal um zwei Monate verlängert worden. Ich appelliere an Sie, wirklich den Koalitionsvertrag umzusetzen und mit Ihren Aussagen in der Öffentlichkeit standhaft zu bleiben – auch wenn Ihre Ministerpräsidentin etwas anderes will. Wir wollen keine Geschäfte in diesem Bereich mit Saudi-Arabien machen. Und wir wollen nicht, dass Sie nach zwei Monaten sagen, wir beenden den Ausfuhrstopp, damit wieder weitergeliefert werden kann. Die CDU/CSU-Fraktion will das; aber wir setzen hier auf die SPD und darauf, dass sie einmal das macht, was sie den Menschen versprochen hat. ({11}) Insgesamt haben wir als Linke immer gesagt: Wir brauchen einen Konversionsfonds, mit dem man genau solche Geschäfte absichern kann. Das wäre sinnvoll; aber die Bundesregierung tut dafür nichts. Deshalb glauben wir, dass auch hier, bei der Werft, über Konversion geredet werden müsste, und zwar mit der IG Metall, mit den Beschäftigten, mit dem Betriebsrat. Da müssen wir endlich heran. Es gibt auch in der zivilen Schifffahrt Möglichkeiten, von denen die Peene-Werft profitieren könnte. Das wäre der richtige Weg – nicht die Hoffnung, dass man diese Kriegsgeräte irgendwann wieder verkaufen kann. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema Peene-Werft zeigt geradezu idealtypisch, wie die große Politik, also die Sicherheits- und Außenpolitik, und die Politik im Kleinen vor Ort, die Kommunalpolitik, doch zusammenhängen. Herr Komning, wenn Sie hier versuchen, uns Demokraten vorzuwerfen, wir würden das eine über dem anderen vergessen, dann sage ich: Das ist schlichtweg gelogen. ({0}) Uns allen hier im Haus und ganz besonders allen Kolleginnen und Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern ist die Bedeutung der Peene-Werft als einzigem großen Arbeitgeber im produzierenden Gewerbe in dieser Region, die immer noch von Bevölkerungsrückgang, überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel gekennzeichnet ist, bewusst. Ich sage Ihnen auch: Wir nehmen die Verantwortung für diese Region wahr, egal was Sie behaupten. Ich sage aber ganz klar: An diesem Schlamassel ist auch die Bundesregierung mit schuld; denn sie hat diese Unsicherheit verursacht. Aus grüner Sicht hätte schon die Herstellungsgenehmigung damals nicht erteilt werden dürfen. Das haben wir damals auch deutlich zum Ausdruck gebracht – auch immer wieder übrigens im direkten Gespräch mit Lürssen. Saudi-Arabien ist nicht erst seit November kein strategischer Partner für Frieden und Stabilität in der Region mehr. Wenn die Bundesregierung jetzt, fünf Jahre später, diese Fehleinschätzung mit sich wiederholenden befristeten Auslieferungsstopps korrigieren will, dann steht sie selbstverständlich Lürssen gegenüber in der Verantwortung. Die Bundesregierung darf sich hier auch nicht wegducken; denn aktuell schiebt sie mit diesem Moratorium die endgültige Entscheidung nur immer wieder auf. Genau das sorgt doch für Unsicherheit. ({1}) Wie soll man denn planen? Wie soll man über mögliche Kompensationen, über mögliche andere Abnehmer verhandeln, wenn man nicht wirklich weiß, wie es weitergeht? Liebe Bundesregierung, treffen Sie hier endlich eine klare Entscheidung! Entscheiden Sie endgültig über einen Widerruf der Genehmigung! ({2}) Und gehen Sie dann auch in die Verhandlungen mit ­Lürssen über die Kompensation für den tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Schaden! ({3}) Ich will aber auch Lürssen hier nicht aus der Verantwortung nehmen. Jedes Unternehmen sucht sich seinen Partner selber. Im Rüstungsbereich weiß man: Eine erteilte Herstellungsgenehmigung zieht nicht automatisch auch die Ausfuhrgenehmigung nach sich. Dessen ist man sich bewusst. Wir müssen ganz klar sagen: Die Verbesserung der sicherheits- und menschenrechtspolitischen Lage in Saudi-Arabien ist in nächster Zeit leider Gottes nicht zu erwarten. Die rechtlichen Einschätzungen – ich wusste ja, Herr Amthor spricht vor mir – lasse ich gleich weg. Ich will nur noch auf ein paar Punkte eingehen. ({4}) – Er macht die Rechtslage, wir machen Wirtschaft. ({5}) Herr Komning, Sie sind schon im letzten Jahr mit diesem Thema durch die Presse gezogen. Im letzten Jahr! Da frage ich mich aber: Warum kommt der Antrag so spät, wenn er scheinbar seit November oder Dezember fertig war? Warum lag er dem Parlament erst so spät vor? Sie haben bereits im letzten Jahr Interviews gegeben, in denen Sie gesagt haben, Sie wollen den Antrag noch 2018 einbringen. Das haben Sie nicht geschafft. Aber warum bekommen Sie es nicht hin, ihn dann hier zeitnah einzubringen? ({6}) Dieser Antrag und insbesondere die Interviews, die Sie drumherum geben, zeigen mal wieder auf perfide Art und Weise, wie Sie dieses schwierige sicherheits- und wirtschaftspolitische Thema nutzen, um Hetze zu verbreiten und gegen Flüchtlinge zu hetzen. ({7}) Das haben Sie in Interviews getan, das lässt sich nachlesen. Es lässt sich nachlesen, wie Sie dieses Thema mit der Hetze gegen Flüchtlinge verbinden. Dazu muss man ganz klar sagen: Hier entlarven Sie sich. Es geht Ihnen nämlich null um die Menschen in Wolgast. Es geht Ihnen darum, Hass zu verbreiten. Und das lehnen wir ganz klar ab. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Es gab hier gerade eine kleinere Diskussion, eine kleinere Kontroverse. Es geht darum, welche Kommentare geäußert werden, wenn Kolleg innen am Redepult sind, und zwar Kolleg innen unterschiedlichster Fraktionen. Da wir hier oben das akustisch nicht wahrnehmen konnten ({0}) – Sie kommen ja von Ihnen, ({1}) aus Ihrer Fraktion –, bitte ich, dass das im nächsten Ältestenrat thematisiert wird. Wir können es hier oben nicht nachvollziehen, aber es sollte im Ältestenrat thematisiert werden. ({2}) Letzter Redner in dieser Debatte: Bernhard Loos für die CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einmal von der Ideologie und von der Emotion die Stimmung ein bisschen senken und auf die reale Welt zurückkommen. Wir sind sicherlich nicht weitergekommen, wenn wir von den Linken und von der rechten Seite Unwahrheiten bekommen – auch Dinge, die man jetzt nicht unbedingt braucht, um es einmal ganz vorsichtig zu sagen. Wir alle sind uns doch hoffentlich über die Fraktionsgrenzen hinweg einig, dass das heimtückisch geplante Mordkomplott gegen Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Generalkonsulat in Istanbul nicht ohne Reaktion bleiben durfte, sowohl international wie auch national. Diese Tat war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die deutsche Bundesregierung war zu einer eindeutigen Reaktion aufgefordert, und die Bundesregierung hat politisch klar gehandelt. Es werden derzeit grundsätzlich keine Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien erteilt, und die Bundesregierung wirkt auch auf die Inhaber von gültigen Einzelgenehmigungen ein, mit dem Ergebnis, dass aktuell grundsätzlich keine Ausfuhren von Rüstungsgütern von Deutschland nach Saudi-Arabien stattfinden. Dazu ist noch anzumerken, dass die in Rede stehenden Patrouillenboote wirklich keine Angriffswaffen sind; schon rein technisch ist das nicht möglich. Deshalb ist die Behauptung meines Vorredners völlig falsch, dass die Boote gewissermaßen zu einer Seeblockade benutzt werden, sonst hätte es nämlich gleich von Anfang an gar keine Genehmigung für die Ausfuhr gegeben. Auch wir von der CDU/CSU stehen dazu, dass Menschenrechte immer – ohne Wenn und Aber – vor Wirtschaftsinteressen stehen, auch bei einem Exportweltmeister Deutschland. Zunächst dachte ich ja wirklich, dass es Ihnen von der AfD bei dem hastig auf die heutige Tagesordnung gesetzten Antrag wirklich um konkrete und sachliche Hilfen für betroffene Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die bedrohten Arbeitsplätze, die Peene-Werft der Lürssen-­Gruppe sowie den Wirtschaftsstandort Deutschland geht. Darüber hätten wir sachlich diskutieren können und müssen. Aber weit gefehlt! Wie ich bei der Lektüre des dann gestern übermittelten dünnen Anträgchens feststellen musste, geht es Ihnen nämlich nicht um die Frage, ob die Peene-Werft die Auslieferung der fertigen Boote möglicherweise gerichtlich erzwingen könnte. In einem ähnlichen Fall übrigens war Rheinmetall im Jahre 2014 mit einer Klage im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gerichtlich gescheitert. Es geht Ihnen auch nicht um die Frage, ob das Unternehmen einen Schadenersatz einklagen kann oder will; es geht Ihnen auch nicht um den Vertrauensschutz. Erstens. Jeder weiß, dass Rüstungsexporte anderen, auch politischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als der Export von einem Sack Reis. Zweitens. Die infragekommenden Patrouillenboote fallen unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. § 7 sieht dabei eine jederzeitige Widerrufsmöglichkeit erteilter Genehmigungen vor. § 9 sieht vor, dass zudem diesbezüglich Entschädigungsregelungen möglich sind. Natürlich gilt auch – das sehe ich als Unternehmer –, dass jedes Unternehmen, das insbesondere in diesem Bereich einen Auftrag annimmt, sich sehr wohl Gedanken darüber macht, wie es das absichert. Ich denke, dass es da durchaus die notwendigen Wege gibt. Aber um das geht es Ihnen gar nicht. Es geht Ihnen auch nicht um eine sinnvolle mögliche Alternativverwendung, und es geht Ihnen erst recht nicht um Hilfen für den Erhalt der Arbeitsplätze; denn davon habe ich in Ihrem Antrag nichts gelesen. Was Sie von der AfD aber jetzt in Ihrem Antrag machen, ist in meinen Augen einfach schäbig. Sie versuchen, die Angst der Mitarbeiter vor Arbeitsplatzverlust an der strukturschwachen Ostseeküste in parteipolitische Münze zu Ihren Gunsten umzuwandeln. Es geht Ihnen ganz offensichtlich allein darum, zwei Themen – da muss ich meiner Vorrednerin sogar zustimmen –, und zwar Rüstungsexportverbot und Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer, miteinander zu verknüpfen. ({0}) Das ist Populismus pur. Sie wollen nur Sand in die Augen der Menschen streuen. Sie schlagen hier allen Ernstes vor – ich zitiere –: Die Bundesregierung übernimmt die Verantwortung für den Einsatz und/oder die Vermarktung der so übernommenen Patrouillenboote, z.B. indem sie diese der tunesischen, marokkanischen, algerischen und/oder libyschen Küstenwache zur Verfügung stellt, um die weitere Migration … zu unterbinden … Die Bundesregierung soll also gewissermaßen als Waffenhändler agieren; Deutschland soll aus der EU-Außengrenzkontrolle ausscheren. Unfassbar! Nein, das ist nicht einmal Populismus, sondern das ist für mich reine Provokation, und das von der billigsten Sorte. ({1}) Selbst die Wirtschaft steht in dieser Frage hinter der Bundesregierung. Zum Beispiel: Der Vorsitzende des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Hubert Lienhard, und der Hauptgeschäftsführer des BDSV, Hans Christoph Atzpodien, haben in der „FAZ“ die deutsche Wirtschaft dazu aufgerufen, der Linie der Bundesregierung zu folgen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Herrn Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier völlig zu, wenn er in der „SZ“ sagt – ich zitiere –: Es hat keine Folgen positiver Art, wenn nur wir die Exporte nicht weiter durchführen, aber gleichzeitig andere Länder diese Lücke füllen. Auch ich würde daher einen dauerhaften Alleingang Deutschlands in dieser Frage für schwierig halten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine gemeinsame europäische Linie ist nötig. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Loos. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Keine Damen und Herren auf der Tribüne. Aber: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir hier jetzt verhandeln, hat sehr viel zu tun mit dem vorletzten Tagesordnungspunkt, als wir nämlich zum Bundes-Immissionsschutzgesetz geredet und debattiert haben; denn das Ganze leitet sich daraus ab. Anlass ist also die Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. In der Tat gibt es aus dem Urteil zu Stuttgart und auch zu Düsseldorf zwei Dinge, die uns das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht aufgetragen, aber schon sehr nahegelegt hat: Wir müssen die Verhältnismäßigkeit definieren. Das tun wir mit der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Aber wir müssen natürlich auch – weil Fahrverbote ja, wie es im Urteil heißt, rechtlich und faktisch nicht ausgeschlossen sind oder teilweise sogar notwendig werden – den Gebietskörperschaften, die über die Fahrverbote zu befinden haben, die Kontrollmechanismen einräumen, die es möglicherweise geben kann. Da gibt es ja mehrere Varianten. Man kann sich vorstellen, dass man Autos einfach händisch, sozusagen analog kontrolliert. Es gibt natürlich auch einen technisch-digitalen Abgleich der Nummernschilder. Wie immer man es macht: Es entstehen immer Datensätze, und das muss eben auch geregelt werden. Dann ist man in diesem Zielkonflikt: Auf der einen Seite will man die Kontrolle ausüben, um eventuell auch Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen, und auf der anderen Seite müssen natürlich auch der Datenschutz und die Datensicherheit gewährleistet sein. ({0}) Schauen wir in andere Länder. Wie machen die das? Amsterdam, Utrecht, Rotterdam – das sind jetzt nur drei Städte; es sind noch mehr, Maastricht und andere – machen einen Fotoabgleich. Das heißt, die Fahrzeuge werden fotografiert, und in dem Moment wird abgeglichen: Darf der in die Stadt einfahren oder nicht? Die Citymaut in London, Stockholm und Oslo wird genauso kontrolliert; genauso macht man das dort. Übrigens: Budapest, Lissabon und Madrid haben auch Kameras aufgestellt. Mit dieser Auflistung ist auch klar: Die haben das viel eher gemacht, als wir darauf gekommen sind. Also immer zu sagen: „Wir würden alles sperren“, stimmt nicht. Das älteste Fahrverbot, das es gibt, wurde in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts – verblüffenderweise in Athen – ausgesprochen. Wir sind da eher Nachzügler. ({1}) Jetzt kann man sich natürlich anschauen: Welche anderen Modelle gibt es? – „Section Control“ zum Beispiel, das in Niedersachsen gerade im Probebetrieb läuft. Auch dort wird bei der Einfahrt ein Foto der Rückseite des Fahrzeugs gemacht. Das Foto wird verschlüsselt, und erst, wenn zu schnell gefahren wurde, wird das System sozusagen scharf geschaltet. Die anderen Fotos sind alle weg, die Daten sind sofort verschwunden. Das heißt, man müsste, wenn man ein solches Gesetz erarbeitet, überprüfen, wie man zu einer Regelung findet, bei der möglichst wenig Daten gesammelt werden, aber die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten möglich ist. Jetzt habe ich mal überlegt: Könnte die Verschlüsselung, die bei „Section Control“ läuft, in irgendeiner Weise helfen, die Fotos zu verschlüsseln? Das muss man noch mal prüfen; wir haben ja ein Verfahren mit erster und zweiter Lesung und dazwischen Anhörungen. Da würde ich zum Beispiel einem Gutachter oder Berater die Frage stellen: Ist das eine Hilfe? – Sicherlich wäre es eine Hilfe, wenn der Abgleich zwischen dem fotografierten Nummernschild und dem Zentralregister beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg sozusagen in Echtzeit vonstattenginge und dann die Freigabe erfolgte oder nicht. Niederländer können das ganz offensichtlich; das ist in Amsterdam so; denn wenn Sie dort mit einem Fahrzeug in die Innenstadt fahren, mit dem Sie nicht hineinfahren dürfen, wird Ihnen auf der Anzeigetafel angezeigt: Stopp! Sie fahren unberechtigt ein. – Die Niederländer gleichen das also in dem Moment ab. Wenn jemand hi­neinfährt, der einfahren darf, entsteht überhaupt kein Vorgang und damit keine Datensammlung. Eine entscheidende Frage ist also: Ist es technisch möglich, das in Echtzeit zu machen, um möglichst wenig Daten zu haben, womit nur die, bei denen es tatsächlich notwendig ist, wegen einer Ordnungswidrigkeit verfolgt werden? Das heißt: Wie kann man sicherstellen, dass nur die Daten gespeichert werden, die einen Regelverstoß dokumentieren? Das muss man technisch prüfen; insofern gibt es viele Möglichkeiten, auf die man dort zurückgreifen kann. Noch ein Hinweis: Es war auch mal strittig, ob in Fahrzeugen installierte Dashcams zur Beweisführung herangezogen werden können. Auch dazu gibt es ein Urteil des BGH: Ja, das ist möglich. – Insofern hat man schon einen Fingerzeig, wie man eventuell mit diesen Kontrollmöglichkeiten umgehen kann. Für uns ist klar, dass wir die gerade von mir gestellten Fragen im jetzigen parlamentarischen Verfahren geklärt haben wollen. Wir wollen das Ganze so datenarm wie möglich und so effektiv wie notwendig. Danke. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat der Kollege Dr. Dirk Spaniel das Wort. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme ja aus Stuttgart, ({0}) und viele Bürger dort und anderswo glauben: Die Fahrverbote in unseren Städten kommen nicht, weil sie niemand kontrollieren kann. ({1}) Mit dieser Gesetzesänderung wollen Sie nun die Einhaltung flächendeckender Fahrverbote kontrollieren. Dieses Gesetz legitimiert Sie, Fotos zu machen, und zwar von jedem Auto und seinem Fahrer, das in die betroffenen Städte hineinfährt. Die Daten des Fahrzeugs werden mit dem Kraftfahrzeugzentralregister abgeglichen. Wenn das Fahrzeug registriert ist und die Einfahrt nicht erlaubt ist, gibt es einen Bußgeldbescheid. Was passiert eigentlich mit Fahrzeugen, die nicht in Deutschland registriert sind? ({2}) In einer undefinierten Übergangsphase können ausländische Fahrzeuge – also auch solche, die nicht der Euro-4-Norm entsprechen oder darunter liegen – in unsere Städte hineinfahren, ohne belangt zu werden. Aus Sicht der AfD ist allein das schon eine unverschämte Diskriminierung deutscher Autofahrer gegenüber Autofahrern aus dem Ausland. ({3}) Ganz ehrlich: Wissen Sie eigentlich noch, welche Interessen Sie vertreten? Mit diesem Gesetz streben Sie maximale Kontrolle der Bürger an, und es werden Zigtausende unserer Bürger mit ihren Autos aus unseren Städten effektiv ausgesperrt. Sie können sich das hier vielleicht nicht vorstellen: Viele in diesem Land wollen und können nicht 30 Kilometer bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, und die Menschen in diesem Land wollen sich das von Ihnen auch nicht diktieren lassen. ({4}) Wir brauchen weder Fahrverbote noch die hier vorgeschlagene Orwell-ähnliche Überwachung der Bürger, um die EU-Vorgabe zur Luftreinhaltung einzuhalten. Ich zeige Ihnen jetzt noch einmal in Stichpunkten auf, wie man das Problem der Fahrverbote einfach und vernünftig lösen kann. Wir fordern: Nutzen Sie endlich die Toleranzen für die Standorte der Messstationen aus! Dazu brauchen wir gar kein EU-Gesetz zu ändern. Jede Landesregierung kann das sofort umsetzen. Die Grenzwerte für Stickoxide müssen nach wissenschaftlichen Kriterien bewertet werden. Und weil das etwas dauern wird: Übernehmen Sie doch vorläufig die Stickoxidgrenzwerte aus den Vereinigten Staaten für die europäische Ebene! ({5}) Wenn Sie diese Vorschläge umsetzen, gibt es keine Fahrverbote in diesem Land. Und Sie sehen: Es geht ganz einfach. Wir brauchen diese Gesetzesänderung nicht. ({6}) Machen Sie endlich Politik für die Bürger in diesem Land und nicht nach Ihren Ideologien! Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Rede von Kollegen Steffen Bilger geht zu Protokoll.  – Jetzt kommt für die FDP der Kollege Oliver Luksic.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. ({0}) Was Montesquieu gesagt hat, sollte immer Richtschnur politischen Handelns sein. Wenn es irgendein Gesetz gibt, das davon betroffen ist, dann ist es dieses, weil es einen massiven bürokratischen Aufwand bedeutet, weil es ein massiver Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung und absolut unverhältnismäßig ist. Die Länder wollen es nicht. Die Kommunen wollen es nicht. Die Bürger wollen es nicht. Deswegen ist es gut und richtig, dass der Bundesrat hier ein Stoppzeichen gesetzt hat. ({1}) Zum einen müssen wir festhalten, dass es, anstatt jetzt alle Bürgerinnen und Bürger zu überwachen, sinnvoller wäre, endlich einmal etwas zu tun, um Fahrverbote zu verhindern, also zum einen für ein Moratorium bei den Grenzwerten zu sorgen und zum anderen die EU-Spielräume bei der Umsetzung der Bundes-Immissionsschutzverordnung so auszunutzen, dass wir nicht anders messen, als es im Rest von Europa geschieht, und für saubere Luft durch Digitalisierung des Verkehrs, mehr ÖPNV und natürlich auch durch eine Hardwarenachrüstung, die funktioniert, zu sorgen. Da passiert nichts. Stattdessen wollen Sie mit diesem Gesetzentwurf jetzt alle Bürgerinnen und Bürger überwachen – übrigens nicht nur in den Städten; Verkehrsminister Scheuer will jetzt auch noch alle Autofahrer auf Autobahnen überwachen. Das ist der falsche Weg, und den lehnen wir voll und ganz ab, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Es ist ein massiver Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung; der Bundesrat hat das klar festgehalten. Da haben übrigens auch die Vertreter der SPD anders gesprochen, als wir es heute gehört haben. Und Karlsruhe sagt ganz klar, dass eine anlasslose massenhafte und dauerhafte Überwachung dann nicht verhältnismäßig ist – und das ist hier der Fall –, wenn es um eine Ordnungswidrigkeit geht. Wegen einer 20-Euro-Ordnungswidrigkeit wollen Sie jetzt hier ein bürokratisches Monstrum aufbauen, das keine digitale Innovation ist, wie es die Bundeskanzlerin gesagt hat, sondern ein massiver unnötiger Apparat. Zur Not werden wir das in Karlsruhe prüfen lassen. Ich bin sicher, dass das so, wie es heute beschlossen werden soll, keinen Bestand haben wird. ({3}) Zum Zweiten geht es um Bürokratiekosten. Die Kommunen, die Bundesländer sagen doch ganz klar, sie wollen das nicht – und trotzdem wollen Sie diesen Quatsch hier einführen. Herr Klare verteidigt es ja wenigstens noch – im Gegensatz zur Bundesregierung. Wie soll das gehen? Die Fragen zu den Kosten sind nicht beantwortet. Man muss dieses System errichten; die Kommunen, die Länder sollen es dann überwachen. Unsere Behörden – unsere Sicherheitsbehörden – haben was anderes zu tun, als das nachher noch auszuwerten. Lassen wir sie sich doch lieber um die wichtigen Sachen kümmern: um die Kriminalitätsbekämpfung – und nicht um die Kriminalisierung von Autofahrern, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Deswegen ist es absolut notwendig, dass auch der Deutsche Bundestag wie der Bundesrat diesen Gesetzentwurf ablehnt. Tun wir endlich etwas zur Verhinderung von Fahrverboten, statt Autofahrer massenhaft in Städten und morgen auf den Autobahnen zu überwachen. Das ist der falsche Weg. Das ist eine unnötige Bürokratie, die kein Mensch braucht. Deswegen muss dieser Gesetzentwurf dringend abgelehnt werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke spricht die Kollegin Ingrid Remmers. ({0})

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! – Bürgerinnen und Bürger sind keine mehr da. – Der vorliegende Gesetzentwurf zur Kontrolle von Fahrverboten zeigt einmal mehr, wie sehr das Verkehrsministerium mit seinen Maßnahmen neben der Spur liegt. Statt eine einfache, mit den Umweltzonen bereits längst erprobte und eingespielte Lösung zu wählen, kommt Herr Scheuer mit der Schrotflinte des Kennzeichenscanners um die Ecke. Reden Sie eigentlich mal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen? Wenn ich mir die Kritik des Bundesrates an Ihren Gesetzentwürfen anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass Sie die klugen fachkundigen Menschen vor Ort gar nicht zurate ziehen. Die erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken der Landesregierungen teilen wir ausdrücklich. Sie bessern zwar jetzt vermeintlich nach mit kürzeren Löschfristen, aber dieser Gesetzentwurf ist und bleibt vor allem eins: für die Fahrverbotskontrollen völlig überflüssiger Quatsch, für den Datenschutz aber ein gefährlicher Eingriff. ({0}) Mein Eindruck ist, Sie versuchen, hier die Dieseldebatte zu nutzen, um technisch im Bereich innerer Sicherheit aufzurüsten. ({1}) Unter dem Deckmantel des Umweltschutzes wollen Sie eine neue Technologie zur Massenüberwachung in den Verkehr bringen. Eine einfache Lösung dagegen wäre die Einführung einer blauen Plakette – Sie kennen sie alle – für im Straßenbetrieb saubere Autos. ({2}) Diesen Weg wählen Sie aber nicht, weil dabei – ich habe es heute schon erwähnt – offenbar würde, dass selbst Euro-6-Diesel im Schnitt den Grenzwert noch immer um das 6-Fache überschreiten. ({3}) Erst mit Euro 6d-TEMP befinden wir uns auf halbwegs sicherem Grund. Und das wollen Sie verstecken. Um zu zeigen, wie überflüssig Ihre Datenkrake ist, will ich mal die drei Fälle von Fahrverboten unterscheiden. Erstens: Umweltzonen wie in Stuttgart. Wir haben lange ausführliche positive Erfahrungen mit der blauen Plakette. Zweitens: streckenbezogene Fahrverbote wie in Hamburg. Auch hier ist die blaue Plakette überhaupt kein Problem; sofort sichtbar, ohne irgendeine Datenabfrage. Drittens: Allein auf Autobahnen, wie demnächst auf der A 40 in Essen, ist dies etwas schwieriger. Ihr Versagen hat uns leider in die Situation gebracht, dass Gerichte selbst auf Autobahnen, die durch Stadtgebiete führen, Fahrverbote anordnen mussten. Hier wäre die Kontrolle eine Überforderung für die Polizei und eine starke Behinderung des Verkehrs. Das muss man zu Recht ablehnen. Aber für den Bereich der Autobahnen führen Sie gerade die E-Vignette ein. Da hätten Sie doch gleich die Kontrolle der Schadstoffklasse einbeziehen können. Möglich wäre auch, einen RFID-Chip mit der blauen Plakette zu verbinden. Dieser könnte verschlüsselt Kennzeichen und Abgasklasse enthalten. Dies zeigt: Es gibt einfache, wenig aufwendige Lösungen, die sparsam mit Daten umgehen. Sie stellen einen erheblich geringeren Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Bei der ganzen Diskussion sollten wir nicht vergessen, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung – anders als etwa die Autoindustrie und ihre Helfer – gesetzestreu verhält. Daher sollten wir bei der Kontrolle der Einhaltung von Fahrverboten wirklich den Ball flach halten und uns stattdessen auf die Quellen der Luftverschmutzung konzentrieren, und das sind die Dieselautos. Wir sagen es Ihnen schon seit langem – die Mehrheit der Bundesländer sieht es auch so –: Wir brauchen die technische Nachrüstung auf Kosten der Autoindustrie, und zwar jetzt. Alles andere ist Bockmist. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf kommt jetzt recht harmlos daher, aber die Bundesregierung will damit erneut systematisch bestehende Gesetze und rechtskräftige Urteile zum Schutz der Gesundheit torpedieren. In einem ersten Akt wurde von der Bundesregierung frei nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“ der europäisch festgelegte Grenzwert für Stickoxide infrage gestellt: Wenn man 25 Prozent drüberliegt, dürfe das doch keine Konsequenzen haben. – Dabei wurde dieser Grenzwert von der Bundesregierung selbst mit beschlossen – ziemlich irre. ({0}) In einem zweiten Akt hat sich das Bundesverkehrsministerium dazu entschieden, die Deutsche Umwelthilfe mundtot machen zu wollen. Dabei klagt diese lediglich geltendes Recht ein, und zwar erfolgreich. Ich frage mich, wann der nächste missliebige Verein derart unter Druck gesetzt wird. Mit Verlaub: Das ist Orban-Style. ({1}) Und nun zum heutigen dritten Akt. Schon beim Querlesen dieses Gesetzentwurfes waren die groben Datenschutz- und Grundrechtsverstöße nicht zu übersehen. Wir Bündnisgrüne haben deswegen ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages in Auftrag gegeben, und das hat diesen Verdacht bestätigt. Trotzdem hat das Bundesverkehrsministerium nicht gleich beigedreht. Erst der Bundesrat musste ebenfalls diese Bedenken anmelden. Ich sage es mal so: Der jetzt nachgebesserte Entwurf ist ein bisschen weniger schlecht als der erste Versuch. Viele praktische Fragen bleiben nämlich offen: Wie sollen Fahrzeuge mit ausländischen oder gefälschten Kennzeichen kontrolliert werden? Wer entwickelt eigentlich die notwendigen Überwachungssäulen? Wie lange dauert das eigentlich? Was kosten Aufbau und Instandhaltung? Es stellt sich die Folgefrage: Meint das Bundesverkehrsministerium dieses Gesetz überhaupt ernst? Ich sage Ihnen: Nein, meint es nicht. Ich möchte aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Kollegen Luksic zitieren: Bei den StVG-Regelungen im Gesetzentwurf handelt es sich um ein Angebot, die Kontrollmöglichkeiten vor Ort zu verbessern, nicht um die bundesweite Einführung eines bestimmten Verfahrens. ({2}) Sie schreiben dort „ein Angebot“. Meine Damen und Herren, das ist ziemlich lächerlich. ({3}) Es gibt die Technik nicht. Der Bund will das auch nicht bezahlen. Die Bundesregierung will hier nur Aktivität simulieren. Das ist eine Farce. Deswegen verstehe ich auch, dass Staatssekretär Bilger heute nicht zum Pult kommt und das erklärt oder gar verteidigt, sondern seine Rede zu Protokoll gibt und sich einen schlanken Fuß macht. Dabei gibt es eine einfache datenschutzkonforme und günstige Antwort: die blaue Plakette. Wie bei der grünen Plakette kann man allgemeine Verkehrskontrolle machen. Man kann den ruhenden Verkehr kontrollieren. Das ist eine sinnvolle Lösung. ({4}) Statt sich auf diese einfache Lösung einzulassen, schaffen Sie lieber überkomplexe und teure Regelungen mit Ausnahmen von Ausnahmen für Ausnahmen. Meine Damen und Herren, das ist eine Blockade der Bundesregierung gegenüber gesetzlichen und gerichtlichen Vorgaben, und das muss ein Ende haben. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Luksic, volle Zustimmung. Mit dem Gesetzentwurf werden Millionen von Bundesbürgern kriminalisiert wegen des Verdachts auf potenzielle Luftverschmutzung. Die Debatte über den Sinn der ganzen Maßnahmen und den Einfluss von Umweltlobbys, so sie denn überhaupt jemals geführt wurde, ist noch gar nicht zu Ende, da schafft die Regierung mit diesem Entwurf – zumindest versucht sie es – Fakten. Das Interessante daran ist: Während die CDU den Bürgern erzählt, sie wolle die Finanzierung der DUH auf den Prüfstand stellen und Fahrverbote vermeiden, handelt sie mit diesem vorliegenden Entwurf wieder einmal gegenteilig und bereitet den Boden für ideologische Kontrollfantasien. Ganz in EU-Manier – Zitat –: Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt. Ja, wenn Herr Juncker mal nicht unter Ischias leidet, sagt er spannende Sachen. Das Schlimmste an diesem Entwurf: Sie schaffen damit einen Präzedenzfall. Unter Missachtung der Grundrechte führen Sie ein System der Dauerbeobachtung ein, das morgen auch für andere Anlässe missbraucht werden kann. Sie schaffen einen Präzedenzfall für all jene Ideologen, die sich dann auf diese Entscheidung berufen können und, wie wir gelernt haben, ganz sicher auch werden. Sie schaffen einen Präzedenzfall für jene Umweltlobbys, deren Agenda Sie damit eigentlich bestätigen und unterstützen. Das heißt dann nicht mehr „Abhören unter Freunden“ – das war gestern –, das heißt dann künftig „Ausspähen für den Klimawandel“. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Rede der Kollegin Daniela Ludwig können Sie aufmerksam im Protokoll nachlesen. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den Drucksachen 19/6334 und 19/6926 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute in diesem Haus endlich über die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen sprechen können. Ich bin selbst Freifunker. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass für die Vereine die Anpassung der Abgabenordnung notwendig und hilfreich ist. ({0}) Deshalb kurz eine Zusammenfassung, um was es eigentlich geht. Erstens. Freifunk-Initiativen sind weit mehr als technische Serviceanbieter, Provider. Sie sind gesellschaftlich aktive Vereine, die darüber hinaus für ihre Nachbarschaft freies Internet zur Verfügung stellen, aber auch über Wissen diskutieren, es weitergeben. Die Breminale, der Hessentag in Rüsselsheim und das Musikfestival Open Ohr in Mainz sind Beispiele dafür, dass das Engagement dieser Gruppen und Initiativen wirkt und einen Nutzen bringt. Zweitens. Die Menschen in Freifunk-Initiativen beschäftigen sich auch mit politischen Vorhaben auf EU- und Bundesebene. Sie nehmen am gesellschaftlichen und politischen Diskurs teil, und sie fördern und gestalten diesen Wandel aktiv mit. Drittens. Die Freifunk-Initiativen leisten auch einen wertvollen Beitrag zur Aus- und Weiterbildung. Sie tragen zur Integration, vor allen Dingen auch zur Teilhabe am digitalen Leben und zur Bildung und Förderung des technischen Verständnisses in der Bevölkerung bei. Viele von Ihnen, von uns haben ja gerade erst erfahren müssen, wie es bei uns oder auch in der Breite um die IT-Sicherheit steht und dass man beim Datenschutz auf der Höhe der Zeit sein muss. Da hilft auch technisches Verständnis. ({1}) Viertens. Es handelt sich um Initiativen aus der Mitte der Bevölkerung. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft. Insbesondere ihr soziales Engagement bei der Ausstattung von Geflüchteten- und Obdachlosenunterkünften in ganz Deutschland mit Freifunk verdient Unterstützung. ({2}) Obwohl die Anerkennung der Gemeinnützigkeit einerseits hinreichend begründet wäre und andererseits kaum finanzielle Einbußen für den Staat mit sich brächte, gibt es keine einheitlichen Regeln durch die Finanzbehörden. Die fehlende klare Zuordnung zum Katalog des § 52 Abgabenordnung macht es für die Vereine schwierig, die Gemeinnützigkeit erfolgreich zu beantragen – manche bekommen sie, manche nicht. Deswegen war ich sehr erleichtert, dass im Bundesrat ein guter Gesetzentwurf eingebracht wurde. Er musste nach der Bundestagswahl aufgefrischt werden, damit er auch in dieser Legislatur vorgelegt werden kann. Das ist im November geschehen. Ich bin froh, dass der Kollege Jimmy Schulz hier mit uns einen entsprechenden Antrag einbringt. Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein – übrigens Länder, in denen wir an der Regierung beteiligt sind, aber mit Partnern verschiedenster Farben –, alle sind sich eigentlich einig. Es gibt sozusagen einen partei- und fraktionsübergreifenden Konsens. Im Prinzip ließe sich dieser Antrag hier eigentlich sofort abstimmen, weil wir uns offensichtlich einig sind. ({3}) Ich lese zum Beispiel eine Pressemitteilung der Kollegen Zimmermann und Binding, in der sie sagen, dass sie die Initiative von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zur Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk unterstützen. Das klingt erst mal gar nicht so schlimm – wenn nicht der Satz folgen würde: „Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine zeitnahe Umsetzung ein.“ Es hat mich sofort stutzig gemacht, dass man das reinschreibt. Heißt das jetzt – wie üblich bei der GroKo –, dass es dann erst mal länger nichts wird? Das ist meine Befürchtung. Deswegen bitte ich Sie einfach, diesem Antrag wohlgesonnen gegenüberzustehen. Wir könnten diesen Antrag nicht nur in den Ausschuss überweisen – übrigens am liebsten in den Digitalausschuss, denn es geht um ein digitales Thema –, ({4}) sondern ihn auch als Parlament beschließen und dem Finanzminister eine Hilfestellung geben, damit wir möglichst schnell das Gesetz bekommen, das er vorlegen möchte. Er kann übrigens einfach den Gesetzentwurf des Bundesrates übernehmen, weil da alles Notwendige drinsteht. ({5}) Nehmen wir den Antrag doch zum Anlass, unser Land ein bisschen digitaler zu machen, die Zivilgesellschaft zu stärken und das Engagement und Vorangehen im digitalen Leben zu unterstützen! Lassen Sie uns das doch einfach gemeinsam machen! Darauf freue ich mich im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Uwe Feiler ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Feiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004271, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land mit all seinen Tätigkeitsfeldern ist Ausdruck von Verantwortungsbereitschaft und von Solidarität mit der Gemeinschaft. Entscheidend für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft ist, ob die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich durch freiwilliges oder unbezahltes Engagement für das Gemeinwohl einzusetzen. In Anbetracht der Herausforderungen der aktuellen Zeit ist das selbstlose Engagement von Menschen aller Generationen von immer größer werdender Bedeutung, und man kann gar nicht oft genug Danke sagen. ({0}) Um ehrenamtliches Engagement auch steuerlich zu fördern, enthält § 52 Absatz 2 Satz 1 der Abgabenordnung einen umfangreichen Katalog von Zwecken, die als gemeinnützig anerkannt werden können. Der Aufbau und der Betrieb eines Freifunknetzes fallen zurzeit jedoch noch nicht unter diesen Katalog gemeinnütziger Zwecke. ({1}) Doch was ist Freifunk eigentlich? Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich von der Internetseite hamburg.freifunk.net : Die Vision von Freifunk ist die Verbreitung freier Netzwerke, die Demokratisierung der Kommunikationsmedien und die Förderung lokaler Sozialstrukturen. Durch die Vernetzung ganzer Stadtteile wollen wir der digitalen Spaltung entgegenwirken und freie unabhängige Netzwerkstrukturen aufbauen. Konkret hat sich also Freifunk zum Ziel gesetzt, offene, kostenlose WLAN-Netze einzurichten und diese miteinander zu verbinden. Dies ermöglicht einen freien Datenverkehr in ganzen Städten und Regionen, innerhalb des Freifunknetzes. Alle Freifunkgeräte bilden dabei ein sogenanntes Mesh-Netzwerk. Das bedeutet, dass alle Geräte innerhalb des Freifunknetzwerkes direkt miteinander kommunizieren können und somit ein eigenes Netzwerk bilden. Freifunknetze werden komplett von ihren Nutzern geschaffen. Jeder Anwender ist zum gleichen Teil an dem Projekt beteiligt, und die Beteiligten betreiben das Netzwerk auf eigene Kosten. Zuwendungen an Freifunk-Initiativen in Form von Spenden sollen zukünftig steuerlich geltend gemacht werden können. Meine Damen und Herren, schon in der letzten Legislaturperiode haben wir im Bereich Digitalisierung beim Thema der offenen WLAN-Hotspots einen großen Schritt nach vorn gemacht. ({2}) Natürlich war dies nur ein Punkt von vielen. So lag eine Ursache für den geringen Ausbau der öffentlichen WLAN-Hotspots bisher darin, dass potenzielle Anbieter von WLAN-Internetzugängen aufgrund von Haftungsrisiken durch eine unklare Rechtslage verunsichert waren. Dem konnten wir mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes entgegenwirken, indem wir die vielkritisierte Störerhaftung auf Unterlassung für Internetzugangsanbieter mit dem Gesetzestext rechtssicher abgeschafft haben. ({3}) Die Abmahnkosten im Zusammenhang mit der Störerhaftung können nun nicht mehr geltend gemacht werden. Doch wir können und wollen uns jetzt nicht auf den bisherigen Erfolgen ausruhen und sollten unter anderem durch die Unterstützung von Freifunk-Initiativen dazu beitragen, dass Deutschland flächendeckend mit WLAN versorgt wird. ({4}) Hierbei bedeuten die sogenannten lokalen Bürgernetze eine deutliche Verbesserung der Infrastruktur. Es gibt allerdings auch gewisse Grenzen. Ein sachlicher Grund für die Gewährung steuerlicher Vorteile fehlt zum Beispiel, wenn nichtbegünstigte Unternehmen vergleichbare Produkte anbieten. Aus Wettbewerbsgründen ist es daher erforderlich, den Förderzweck auf unentgeltliche Tätigkeiten zu beschränken. Unter bestimmten Voraussetzungen können bereits heute Körperschaften, die sich im Freifunk engagieren, steuerlich begünstigt werden. Als gemeinnützige Zwecke kommen hierbei die Förderung von Volks- und Berufsbildung oder die Förderung mildtätiger Zwecke in Betracht. Die Praxis, meine Damen und Herren, hat allerdings gezeigt, dass die gemeinnützigkeitsrechtliche Beurteilung die Wirklichkeit nicht vollumfänglich abdeckt. Daher ist nun eine Ergänzung der Katalogzwecke in § 52 Absatz 2 Satz 1 der Abgabenordnung um eine neue Nummer 26 – „Freifunk-Netze“ – geplant. Dadurch wird eine Steuerbegünstigung wegen Gemeinnützigkeit auch für Freifunk-Initiativen in der Rechtsform einer Körperschaft, also zum Beispiel Vereinen, ermöglicht. Neben der Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk, meine Damen und Herren, haben wir im Bereich der Gemeinnützigkeit einige weitere Punkte erkannt, die wir verbessern wollen und müssen. So sollen auch die Entbürokratisierung des Ehrenamtes sowie eine bessere Förderung von bürgerschaftlichem und ehrenamtlichem Engagement vorangetrieben werden. Wir dürfen uns bei einer gesetzlichen Änderung der Abgabenordnung nicht nur auf den Punkt „Gemeinnützigkeit“ beschränken. Daher wollen wir die steuergesetzlichen Änderungen, die diesbezüglich zur Umsetzung des Koalitionsvertrags erforderlich sind – natürlich einschließlich der Förderung des Freifunks –, in einem komplett neuen Gesetzentwurf bündeln. Dann sind wir einen weiteren großen Schritt vorangekommen, und das nicht nur für unsere wichtigen Freifunk-Initiativen, sondern für alle ehrenamtlich engagierten Menschen in Deutschland. Sie sehen, meine Damen und Herren: Die Große Koalition handelt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Uwe Schulz das Wort. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Digitalisierung ist zwar in aller Munde, aber sie ist lange noch nicht auf breiter Fläche in Deutschland angekommen – ganz einfach, weil die Grundvoraussetzung fehlt oder lückenhaft ist, nämlich die Netzversorgung. Man sagt ja: Wenn sich drei Deutsche treffen, dann suchen sie sich vier weitere und gründen einen Verein. – Und das scheint auch in Zeiten der Digitalisierung noch gut zu funktionieren; denn mittlerweile finden sich Menschen zusammen, die sich in Freifunk-Communities engagieren. Über 500 Initiativen, Vereine und Gruppen gibt es davon. Ziel ist jeweils, ortsbezogene WLAN-Netze zur kostenlosen Nutzung für alle zu schaffen. Hier bauen also Bürger auf lokaler Ebene Netze und schließen dabei so manche Lücke in der Infrastruktur. Aber leider verheddern sich diese Bürger, die sich um freies WLAN, also um Freifunk, kümmern, oft in der Bürokratie: Die Freiwilligenarbeit wird erschwert durch nicht angepasste bzw. unklare gesetzliche Regelungen. Es gibt unterschiedliche Handhabungen durch regionale Behörden. Es geht hier um die Einstufung der Gemeinnützigkeit für Freifunk-Initiativen. Die Abgabenordnung anzupassen, ist die Lösung; das haben die Vorredner auch schon gesagt. Wir sagen alle das Gleiche – so habe ich das Gefühl. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode sollten hier im Bundestag die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Dazu kam es aber nicht. Nun liegt ein Gesetzentwurf des Bundesrates vor, die Abgabenordnung entsprechend zu ändern. Der heute behandelte Antrag der FDP bezieht sich konkret darauf, die Einrichtung und Unterhaltung von Freifunknetzen in den Katalog der gemeinnützigen Zwecke im Sinne des § 52 Absatz 2 Satz 1 der Abgabenordnung aufzunehmen. So einfach ist das. Mit dieser einfachen Maßnahme und unserer hoffentlich baldigen gemeinsamen Entscheidung hier im Deutschen Bundestag wird es endlich Rechtsklarheit geben. Dann können sich immer mehr Bürger auch finanziell einbringen. Denn Spenden für Freifunkprojekte werden steuerabzugsfähig sein. Wobei sich der Finanzminister ruhig zurücklehnen kann: Hier geht es um Peanuts. Ganz wichtig ist, dass wir mit einem Ja zur Änderung der Abgabenordnung auch ein deutliches Zeichen in Richtung der Digitalisierung setzen. Denn was Einrichtungen zugestanden wird, die sich für Kunst und Kultur, Brauchtum, Sport und Jugendhilfe einsetzen, muss auch Initiativen zugestanden werden, die sich darum kümmern, Basisarbeit für die Digitalisierung zu leisten, somit der Daseinsvorsorge zu dienen. ({0}) Meine Damen und Herren, als Alternative für Deutschland sind wir glühende Verfechter des Ehrenamtes und des Engagements von Bürgern. Und vorliegend stimmt der Hauptzweck, nämlich die Ausweitung des Kommunikationsnetzes durch Freiwillige, also durch Mitbürger, die das mal einfach so nebenbei machen. Auch die Nebeneffekte sind stark. Bürger jeden Alters können sich engagieren, ihr technisches Wissen erweitern, Anwendungen erproben, diese weiterentwickeln. Es gibt eine tolle Chance für Tüftler und Denker. MINT ist das Stichwort. Was die Schulausbildung kaum leistet – der Bürger nimmt es hier praktisch in die Hand. Ganz nebenbei kommt es zu einem persönlichen Austausch und dem Zusammenwirken in einer Gruppe. Analoge Kommunikation, meine Damen und Herren, mitten in der Digitalisierung ist doch etwas Schönes. Die AfD stimmt für die Überweisung an den Ausschuss Digitale Agenda. Danke. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Jens Zimmermann das Wort. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was nützt eigentlich der Gemeinschaft, und welche Aktivitäten sollten wir deswegen steuerlich fördern? Diese einfache Frage – das stellt man fest – verändert sich ganz offenbar von Zeit zu Zeit. Denn wenn man einmal in die lange Liste von Dingen schaut, die wir steuerlich fördern, weil wir glauben, dass sie gemeinnützig sind, sieht man: Darin stehen zwar Dinge wie das Amateurfunken; aber so etwas wie Freifunken taucht dort nicht auf. – Das ist eigentlich überraschend. Deswegen ist es in meinen Augen absolut richtig, dass wir uns als Gesetzgeber dieses Themas annehmen und dass auch die Bundesregierung bereit ist, einen Gesetzentwurf einzubringen, um die Gemeinnützigkeit für die Freifunk-Initiativen einzuführen. ({0}) Der Kollege Höferlin hat schon gesagt, dass diese Geschichte wahrscheinlich eine Geschichte voller Missverständnisse ist; sonst hätten wir es schon viel länger geschafft. Wenn ich die Reden hier richtig interpretiere, sind wir an dem mittlerweile doch relativ selten gewordenen Punkt, dass das ganze Haus eigentlich dafür ist, dass die Gemeinnützigkeit für Freifunk-Initiativen gewährt wird. ({1}) Das ist sehr zu begrüßen; denn die Menschen, die sich in diesen Initiativen einbringen, leisten in meinen Augen wirklich ein gutes Werk für die Gesellschaft. Sie bauen die Netze auf. Davon haben wir gesprochen. Ich finde es super, dass auch die AfD eine ehrenamtliche Initiative unterstützt, die für Flüchtlingsheime Internet bereitstellt. ({2}) Am späten Abend kommt hier im Deutschen Bundestag also doch noch Erkenntnis. Es ist doch schön, das einmal mitzuerleben, meine Damen und Herren. ({3}) Wir haben aber nicht nur das Thema Freifunk, sondern das Thema Gemeinnützigkeitsrecht insgesamt. Ja, ich bin zwar digitalpolitischer Sprecher, aber ich bin auch Mitglied im Finanzausschuss und muss an dieser Stelle ausnahmsweise sagen: Es ist ein Gemeinnützigkeitsthema. Deswegen ist es auch im Finanzausschuss richtig angesiedelt. ({4}) Es ist nicht oft der Fall, dass ich dieser Meinung bin. Aber ausnahmsweise ist es in diesem Fall im Finanzausschuss richtig. Allerdings sind wir gut darin, im Ausschuss Digitale Agenda mitzuberaten. Das werden wir an dieser Stelle auch tun. Wichtig ist aber, dass wir in dieses Paket auch weitere Gemeinnützigkeitstatbestände mit aufnehmen, zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements. Deswegen ist es, glaube ich, gut, dass die Bundesregierung in der Gegenäußerung zur Bundesratsinitiative jetzt all das auch angekündigt hat. Wir werden da auch Druck machen, damit es nicht länger dauert als nötig. Ich bin sicher: Wir werden das hinbekommen und werden damit auch dafür sorgen, dass die Freifunk-Initiativen, die jetzt Bedenken haben, was die Gemeinnützigkeit zum 1. Januar 2019 angeht, am Ende auch über Planungssicherheit verfügen, meine Damen und Herren. ({5}) Insofern freue ich mich darüber, dass wir hier den großen Konsens im Deutschen Bundestag beim Thema Freifunk hinbekommen haben. Danke noch einmal allen Freifunkerinnen und Freifunkern für ihre Initiative! Denn sie ist wirklich für die Gemeinschaft nützlich. Danke schön. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich basiert das Internet auf dem Grundprinzip des Dezentralen. Digitale Monopole verletzen aber dieses Grundprinzip und brachten uns schon viele Nachteile: Sie drücken sich um Steuerzahlungen und machen auf Kosten vieler eine Handvoll Menschen unvorstellbar reich. Unser aller Daten sammeln und verscherbeln sie an Dritte, damit wir deren Waren kaufen oder um demokratische Prozesse wie Wahlen zu beeinflussen. Marktgetriebene Geschäftsmodelle sozialer Netze, die negative Inhalte bevorzugt verbreiten, vergiften das Klima in unserer Gesellschaft. Aus all diesen Gründen sind Zentralisierung und Monopolisierung ein strukturelles Problem mit unerwünschten sozialen Folgen. ({0}) Mehr Dezentralität in der digitalen Gesellschaft ist daher eine gute Sache – erst recht, wenn sie sich mit Gemeinwohlorientierung paart. Freifunk als Gemeinschaftsnetzwerk frei nutzbarer WLAN-Router ist ein Puzzleteil im Gesamtbild einer digitalen Gesellschaft, die genau das ist: dezentral und gemeinwohlorientiert. Je enger dieses Netz geknüpft ist, umso mehr Menschen können auf das Wissen der Welt zugreifen und sich miteinander vernetzen. Teilhabe an der digitalen Gesellschaft wird so auch denen ermöglicht, die sich vielleicht keinen eigenen Internetanschluss leisten können. Freifunkerinnen und Freifunker demokratisieren so das Netz und setzen das Grundrecht auf Internetzugang einfach mal um. ({1}) Gemeinsam errichten sie eine Gemeingutinfrastruktur des Internets, die völlig unabhängig ist, die allen gehört und bei vielen Knotenpunkten quasi ausfallsicher ist. Freifunker teilen ihr Wissen. Sie schulen interessierte Menschen, und von Router zu Router schicken sie Informationen, selbst dann, wenn das Internet mal nicht funktioniert. ({2}) Diese soziale und unkommerzielle Alternativwelt der Freifunker ist eigentlich viel zu wenig bekannt. Ich hoffe, dass sich das ändert und Freifunkerinnen und Freifunker keine Steine mehr in den Weg gelegt bekommen, sondern dass wir ihnen rote Teppiche ausrollen und ihnen das Knüpfen eines flächendeckenden Freifunknetzes in ganz Deutschland erleichtern. ({3}) Daran kann sich übrigens auch jeder beteiligen. Mitmachen ist nämlich ganz einfach. Auch in meinen Wahlkreisbüros in Oranienburg, Brandenburg an der Havel und Bad Belzig gibt es Internet per Freifunk. Gerade jetzt, wo Egoismus und Ausgrenzung Konjunktur haben, braucht es eine starke Gegenbewegung hin zu Öffnung und zum sozialen Teilen, selbst mit Menschen, die man gar nicht kennt. Es braucht mehr Einsatz für das Gemeinsame, das uns alle verbindet. ({4}) Deshalb sollten digitale Graswurzelinitiativen, die dem Gemeinwohl dienen, stets gefördert und niemals behindert werden. Viele Jahre lang aber behinderte die Störerhaftung alle Freifunker, da ihnen hohe Strafen drohten, wenn Nutzer ihrer Internetzugänge mal ein Lady-Gaga-Lied herunterzogen. Die Störerhaftung ist inzwischen abgeschafft. Die nun beantragte Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunkvereinen würde ihnen vieles erleichtern, zum Beispiel die Infrastruktur für den Ausbau ihres unkommerziellen Netzes durch Spenden oder Förderprogramme zu finanzieren. ({5}) Ich hoffe, die Bundesregierung nimmt den vorliegenden Antrag zum Anlass, endlich zu handeln und dabei die technologieneutrale Bereitstellung offener und freier Kommunikationsnetzwerke ohne Gegenleistung, zu denen auch der Freifunk gehört, aus dem aktuellen Bundesratsvorschlag zu übernehmen. Wir brauchen diese technologieneutrale Definition, damit die Gemeinnützigkeit auch auf zukünftige Zugangstechnologien anwendbar ist und man nicht jedes Mal neu dafür kämpfen muss. Im Namen der Linksfraktion möchte ich den Freifunkerinnen und Freifunkern Danke sagen: Danke für Akrobatik auf Dächern und Balkonen, für WLAN in Flüchtlings- und Obdachlosenheimen, auf Schulhöfen und auf Bahnsteigen – an über 45 000 Zugangsstationen in Deutschland. Ihr seid großartig. ({6}) Im Übrigen bin ich der Auffassung – leider immer noch –, dass Informationen zum Schwangerschaftsabbruch nichts im Strafgesetzbuch verloren haben. § 219a gehört abgeschafft. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin Tabea Rößner. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Kollege Feiler, lassen Sie uns eine Zeitreise in den Sommer 2017 machen. Da waren Sie schon, soweit ich weiß, Mitglied dieses Hauses. Da stand schon mal ein von uns mit angeschobener Vorschlag des Bundesrats zu Freifunk auf der Agenda. Union und SPD hatten den Gesetzentwurf aber immer wieder verschleppt, sodass er am Ende der Diskontinuität zum Opfer fiel. So viel zum großen Fortschritt. Egal, was Sie heute hier beteuern: Wenn Sie damals den Beschluss im Bundestag nicht blockiert hätten, dann hätten wir die Gemeinnützigkeit von Freifunk längst. ({0}) Und es ist ein Trauerspiel, dass seitdem wieder zwei Jahre ins Land gezogen sind, ohne dass etwas passiert ist. Deswegen verstehen Sie sicher meine Skepsis, wenn hier und heute wieder tolle Sonntagsreden gehalten werden und alle beteuern, wie toll Freifunk und die Ehrenamtlichen sind und dass man ja die Unterstützung von Freifunk auch in den Koalitionsvertrag geschrieben habe. Aber: Da steht ja so einiges Schöne drin, was auf Umsetzung wartet. Und Freifunk im Koalitionsvertrag hin oder her: Bisher haben Sie das Thema selbst noch nicht angepackt. Erst die von Grünen und auch FDP aus Schleswig-Holstein angeführte Initiative und der neuerliche Vorstoß im Bundesrat haben wieder Schwung in die Sache gebracht. Dort fand der Antrag übrigens eine breite Mehrheit. ({1}) Warum ist die Unterstützung von Freifunk so wichtig? Viele haben schon vieles gesagt. Freifunker sind Visionäre. Sie teilen ihr Wissen und ihre Ressourcen. Hinter ihrer Arbeit stecken Einsatz und Leidenschaft. Sie werden aktiv, kommen runter vom Sofa und klettern rauf auf Kirchtürme und Rathausdächer. Sie verbinden Dörfer und Stadtteile und schaffen gesellschaftliche Netzwerke. Ihr Engagement für freie Netze, freie Software, Nachbarschaftsinitiativen, für digital Abgehängte im Interesse des Gemeinwohls verdient Lob, Anerkennung und Unterstützung. ({2}) Stattdessen macht ihnen eine veraltete Abgabenordnung ihr digitales Ehrenamt unnötig schwer. All das hat sich inzwischen rumgesprochen, und deswegen kann ich heute nur sagen: Guten Morgen, FDP! Schön, dass Sie jetzt bei dem Thema auch mit an Bord sind. ({3}) Wir Grüne sind in den vergangenen Jahren, als Sie noch im Bildungsurlaub waren, Marathon gelaufen, haben immer und immer wieder Initiativen vorgelegt und auf die Bedeutung von Freifunk hingewiesen. Und jetzt springen Sie auf den letzten Metern mit Ihrem Antrag auf den fahrenden Zug. Late to the party, könnte man sagen. ({4}) Allerdings: Ich fürchte, der Zug wird ordentlich ins Stocken geraten. Zwar gibt es seit vergangener Woche die Zusage der Bundesregierung, sich des Themas endlich anzunehmen. Ich sehe aber schon Folgendes kommen: Die Koalition wird den Gesetzentwurf des Bundesrats nicht übernehmen, sondern lange brauchen, um einen eigenen Vorschlag zu erarbeiten. Da quetscht sie dann eine Reihe weiterer Punkte mit hinein, ({5}) die mit Freifunk nichts zu tun haben. Darüber entsteht dann eine große Kontroverse, die Befassung verschiebt sich immer wieder, und siehe da: Plötzlich sind Neuwahlen, und das Ganze fängt wieder von vorne an. ({6}) Am Ende haben alle das Nachsehen, vor allem die Freifunker, die Sie doch eigentlich unterstützen wollen. Das ist ein Szenario, das wir nicht wollen, und deswegen danke ich der FDP für ihren Vorstoß. ({7}) Die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk ist sinnvoll und überfällig. Der Gesetzentwurf ist einfach, klar und leicht umzusetzen. Deswegen fordere ich Sie auf: Kommen Sie aus dem Knick, und ermöglichen Sie endlich freie Netze! Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht schaut auch jemand im Livestream zu, falls WLAN da ist. Ich muss ehrlicherweise zugeben: Bei der Vorbereitung meiner Rede hätte ich gerne auf eine Freifunk-Initiative zurückgegriffen, weil mir das Bundestags-WLAN dreimal abgeschmiert ist. Man sieht also, wie wichtig die ganze Angelegenheit ist. Was gibt es Schöneres, als als Finanzpolitiker und Steuerberater jetzt um knapp 23 Uhr eine steuerpolitische Debatte über die Regelungen der Abgabenordnung führen zu dürfen. Das ist nämlich kein Thema der Digitalisierung, sondern ein Thema des steuerlichen Verfahrensrechts und der Abgabenordnung. ({0}) Noch dazu geht es um das schwierige Thema Vereinssteuerrecht, um den dritten Abschnitt des zweiten Teils der Abgabenordnung, um die §§ 51 ff. der Abgabenordnung. Das ist letztlich steuerpolitisches Hochreck zu später Stunde. Wenn man nämlich in die Vorschriften hineinschaut, stellt man fest, dass das alles gar nicht so einfach ist, wie Sie das hier so pauschal sagen. Es gibt unglaublich viele Vorschriften im Vereinssteuerrecht, sei es die Unterscheidung zwischen einem ideellen Bereich, Zweckbetriebe, Vermögensverwaltung und wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. All diese Fragen müssen natürlich bei einer solchen Diskussion zunächst einmal ordentlich durchdekliniert werden. ({1}) All das müssen übrigens die Vereinsvorstände und Schatzmeister bei der Einreichung der entsprechenden Steuererklärung wissen. Hinzu kommen ertragsteuerliche und umsatzsteuerrechtliche Fragestellungen. Eine pauschale, einfache Antwort nach dem Motto „Wir machen das ganz schnell“ gibt es im Steuerrecht leider nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beantragen ja, die Bundesratsinitiative zur Änderung der Abgabenordnung zwecks der Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen zu unterstützen. Diese Steuerbefreiung ist gemäß Abgabenordnung nur nach ganz bestimmten Voraussetzungen anzuerkennen, eben den in § 52 Absatz 2 Abgabenordnung genannten. Und da werden detailliert 25 Beispiele genannt, zum Beispiel Förderung von Wissenschaft und Forschung, von Kunst und Kultur, von Sport, von Naturschutz, von Tierschutz. Aber die Antwort auf die Digitalisierung ist in der Abgabenordnung – das ist richtig – bisher leider noch nicht enthalten. Deswegen beantragen Sie, die Freifunknetze als Nummer 26 aufzunehmen. Ähnlich wie bei der Diskussion zum Thema Zoll heute früh brauchen wir Ihren Antrag aber nicht, weil alles schon umgesetzt ist und alles von der Regierungskoalition und von der Bundesregierung schon auf den Weg gebracht worden ist. ({2}) Für uns besteht kein Zweifel daran – das steht auch so im Koalitionsvertrag –, ({3}) dass die Freifunk-Initiativen einen positiven Beitrag in Sachen WLAN in Deutschland leisten. Es besteht auch überhaupt kein Grund, daran zu zweifeln, dass wir die Gemeinnützigkeit anerkennen wollen. Wir wollen die Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen in Deutschland anerkennen, sowohl für den Betrieb als auch für die Unterhaltung der WLAN-Netze, natürlich nicht für die gewerblichen Anbieter, sondern nur für diejenigen, die das Netz ohne Gegenleistung anbieten; so ist es ja auch in der Abgabenordnung geregelt. ({4}) Aber warum hat das länger gedauert? Das wissen Sie: Weil zunächst das Telemediengesetz geändert werden musste. Das ist gemacht worden; es ging um die Abschaffung der Störerhaftung. Wir hatten in Deutschland ja ein Gesetz, nach dem diejenigen, die das Netz anbieten, letztlich in der Haftung waren für Urheberrechtsverstöße und anderes. Das haben wir abgeschafft. Jetzt ist der Weg frei für die Gemeinnützigkeit der Freifunk-­Initiativen. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, jetzt den Schritt zu gehen. Ich glaube aber, es reicht nicht aus, dass wir bloß eine Nummer 26 in der Abgabenordnung hinzufügen. ({5}) Wir wollen vielmehr einen größeren Wurf machen. ({6}) Ich glaube, wir brauchen ein Gesetz, das entbürokratisiert, das den Vereinen die Arbeit erleichtert. Ich habe ja gerade beschrieben, wie kompliziert dieser Teil der Abgabenordnung ist. ({7}) – Sie wissen ja auch nicht, wie kompliziert das ist. – Der Punkt ist: Wir müssen diese Kompliziertheit und die steuerlichen Konsequenzen daraus für die Vereinsvorsitzenden, für die Schatzmeister entsprechend entschärfen. Deswegen hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu der Bundesratsinitiative ganz deutlich in dem Sinne Stellung bezogen, dass ein solcher Gesetzentwurf mit etwas mehr als nur einer zusätzlichen Nummer 26 in den nächsten Wochen ergeht. ({8}) Dann werden wir im Finanzausschuss darüber diskutieren. Dort gehört das Thema auch hin, weil es sich um eine Diskussion über das steuerliche Verfahrensrecht in der Abgabenordnung handelt. Natürlich werden wir das in den Wochen nach der Diskussion dann auch umsetzen. Wir halten Wort. Wir werden das umsetzen, was im Koalitionsvertrag steht. Darin steht, dass die Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen von uns unterstützt wird. Deswegen werden wir das auch umsetzen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das offene und freie Web ist in Gefahr, es ist höchste Zeit für eine Rettungsmission. – Das haben nicht die Freifunker gesagt, auch wenn sie es hätten sagen können, sondern Tim Berners-­Lee, der Erfinder des World Wide Web, in Lissabon. Berners-Lee sieht seine Idee tatsächlich bedroht, und zwar von zwei Seiten: auf der einen Seite vom wachsenden Überwachungs- und Kontrollbedürfnis des Staates und auf der anderen Seite von der immer weiter um sich greifenden Kommerzialisierung des Netzes, das einst auf Freiheit, ­Offenheit und Dezentralität begründet wurde. ({0}) Hunderte von Freifunk-Initiativen in Deutschland – meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unterstützer dieser Freifunk-Initiativen hören uns wahrscheinlich gerade zu; es wäre schön, wenn auch Sie zuhören würden –, setzen genau da an. Sie organisieren freie, offene und lokale, dezentrale Netze, und zwar in Bürgerhand. Freifunk-Initiativen haben – wir haben es gehört – schon zahllose Jugendhäuser, Schulen, Unterkünfte für geflüchtete Menschen, aber auch Rathäuser mit einem lokalen Netz versorgt. Sie laden zum Mitmachen und Gestalten ein. Dabei lernt man eine Menge über die Technik des Netzes, aber auch über Themen wie Datenschutz und ‑sicherheit. Wir haben in den letzten Tagen erfahren, wie wichtig diese Kenntnisse sind. Damit leisten Freifunk-­Initiativen unbestreitbar einen wertvollen Beitrag zur digitalen Souveränität. Das alles machen Freifunker nicht beruflich; das machen sie in ihrer Freizeit – ehrenamtlich, wie man so schön sagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir ehrlich: Gemeinnütziger geht es kaum. ({1}) Es ist an der Zeit, dass wir das zivilgesellschaftliche Engagement dieser Initiativen nicht länger nur in Sonntagsreden wertschätzen. Es ist an der Zeit, dass wir Freifunker von bürokratischen Lasten befreien und für ihre Rechtssicherheit sorgen, vor allem in Steuerfragen. Deshalb ist es an der Zeit – die SPD setzt sich seit langem dafür ein –, dass wir die Gemeinnützigkeit von Freifunk-­Initiativen nicht nur politisch, sondern eben auch staatlich anerkennen. ({2}) In der vergangenen Legislatur – so viel muss zur geschichtlichen Wahrheit vielleicht noch beigetragen werden – ist unsere entsprechende Initiative am Widerstand des Koalitionspartners, an der Verschleppung durch den Koalitionspartner gescheitert. ({3}) Jetzt ist es uns aber gelungen, die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk und ähnlichen vergleichbaren Initiativen in den Koalitionsvertrag aufzunehmen; und wir werden das auch umsetzen. ({4}) Die FDP legt heute einen Antrag zu diesem guten und wichtigen Vorhaben vor. Sie hat sich zwar nicht die Arbeit gemacht, einen eigenen Antrag zu schreiben; aber man kann sich ja durchaus an guten Beispielen orientieren. ({5}) Sie bezieht sich auf den Gesetzentwurf des Bundesrats, den die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ja auch ausdrücklich begrüßt. Doch das allein reicht natürlich nicht. Liebe Freifunker, wir stehen zu unserem Wort. Wir verwandeln unsere politische Anerkennung eurer Gemeinnützigkeit endlich in staatliche Anerkennung. Die Gesetzesinitiative, die unser Finanzminister Olaf Scholz angekündigt hat, muss jetzt zügig ins Kabinett und dann zur Umsetzung kommen. Ich kann die Fraktion der FDP insofern nur einladen, uns die formale Ablehnung ihres Antrags nicht übel zu nehmen und sich unserem Vorhaben anzuschließen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die FDP wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Ich lasse zunächst abstimmen über den FDP-Vorschlag, Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt dafür? – Das sind AfD, FDP und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalition sowie die Fraktion der Grünen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt. Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Das sind die Koalition und die Grünen. Wer stimmt dagegen? – AfD, FDP und Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes Drucksache 19/5421 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) Drucksache 19/7084 Die Reden sollen alle zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Wir kommen zur Abstimmung; es wäre schön, wenn Sie dazu noch hierblieben. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7084, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/5421 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wiederum alle. Auch das ist einstimmig, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.