Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/29/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis c auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes - Drucksache 16/1889 - - Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes - Drucksache 16/2454 - aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/2785 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Dr. Eva Möllring Caren Marks Jörn Wunderlich Diana Golze bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/2788 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Dr. Frank Schmidt Otto Fricke Roland Claus Anna Lührmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Miriam Gruß, Cornelia Pieper, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP Flexible Konzepte für die Familie - Kinder- betreuung und frühkindliche Bildung zu- kunftsfähig machen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Karin Binder, Klaus Ernst, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Elterngeld sozial gestalten - Drucksachen 16/1168, 16/1877, 16/2785 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Dr. Eva Möllring Caren Marks Jörn Wunderlich Diana Golze c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Siebter Familienbericht Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 16/1360 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Redetext Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zur Einführung des Elterngeldes liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Frau von der Leyen.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Siebte Familienbericht hat ein zentrales Thema. Das ist die Dynamik von Familie. Familie verändert sich im Laufe der Zeit. Kinder wachsen heran, Väter und Mütter werden zu Großvätern und Großmüttern. Das heißt, dass sich Familienpolitik vor allem auch am Lebenslauf orientieren muss. Eine Familie mit einem Säugling hat andere Bedürfnisse als eine Familie mit Teenagern oder eine Familie, in der ältere Angehörige gepflegt werden. Familienpolitik ist damit eine Politik, die die ganze Zeit im Laufe des Lebens in einer Familie betrachtet. Die aktuelle Shell-Jugendstudie bringt das auf den Punkt. Mit einem wirklich glücklichen Leben verbinden Jugendliche in erster Linie Familie. Aber sie wissen auch ganz genau, dass es nicht einfach ist, Ausbildung, Beruf, Partnerschaft, Karriere und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Die Folgen dieser Skepsis sind hohe Kinderlosigkeit und das Verschwinden der Mehrkindfamilie. Das heißt, Familie ist nach wie vor zeitgemäß, aber die Rahmenbedingungen, die wir als Gesellschaft Familien im 21. Jahrhundert zumuten, sind nicht mehr zeitgemäß. Zwei von drei jungen Frauen wollen heute Kinder und Beruf, und zwar in ganz unterschiedlichen Ausprägungen, von Teilzeit bis Vollzeit. Sie möchten, dass Familienwerte und berufliches Fortkommen Hand in Hand gehen. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Zwei von drei jungen Männern wollen mehr Erzieher als nur Ernährer ihrer Kinder sein. Sie wünschen sich Zeit mit ihren Kindern. Auch hier sieht die Wirklichkeit oft anders aus. Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit haben die jungen Menschen mit Verzicht beantwortet: entweder Verzicht auf Kinder oder Verzicht auf Entfaltung des Erlernten im Beruf. Es geht auch anders. Es ist im 21. Jahrhundert möglich, die Verantwortung für Erziehung und für Einkommen als gemeinsame Verantwortung von Männern und Frauen zu sehen. ({0}) Das zeigen unsere west- und nordeuropäischen Nachbarn. Deshalb wird im Familienbericht das Elterngeld ganz klar unterstützt, weil die Entscheidung, sich für eine bestimmte Zeit verantwortlich um sein Kind zu kümmern, genauso wichtig ist wie der Beruf. Das Elterngeld macht auch deutlich, dass die persönliche Verantwortung für ein Kind nicht automatisch die Aufgabe der ökonomischen Selbstständigkeit oder ökonomische Abhängigkeit von Vater Staat bedeutet. Zeit ist Geld. Das Elterngeld schafft Zeit - Zeit für Kinder mit ihren Eltern und Zeit für Eltern mit ihren Kindern. Die Entwicklung in den nord- und westeuropäischen Staaten hat auch gezeigt, dass die Einführung des Elterngeldes ein wichtiger Baustein ist, um die Kinderarmut zu reduzieren. Denn vom Elterngeld profitieren insbesondere Alleinerziehende und Geringverdiener. Elterngeld ist immer besser als Sozialhilfe. Mit dem Elterngeld wird betont: Arbeit wird anerkannt. ({1}) Deshalb hat der im Elterngeld enthaltene Geringverdienerbonus einen so hohen Stellenwert. Ein auffallender Befund des Siebten Familienberichtes ist, dass Mütter mit Kindern unter sechs Jahren in den neuen Bundesländern ein geringeres Armutsrisiko als in den westlichen Bundesländern haben, weil der Kontakt zum Beruf für sie selbstverständlicher ist. Das Elterngeld beinhaltet auch die Partnermonate. Zum ersten Mal bekommen Väter die ehrliche Chance, sich für ihre unersetzliche Rolle Zeit zu nehmen. ({2}) Jetzt eröffnen wir ihnen die Möglichkeit, diese Grenzerfahrung für einen bestimmten Zeitraum zu machen, sich Tag und Nacht um ihr Kind zu kümmern und für das Kind da zu sein. ({3}) Mit dieser Grenzerfahrung geht eine schier unbeschreibliche Explosion von Gefühlen einher. Bislang war es für Väter keine Selbstverständlichkeit, am Anfang des Lebens ihres Kindes da zu sein, sich Zeit nehmen zu können, Zeit zu haben und diese Erfahrung machen zu können. ({4}) Auch wenn wir in der heutigen Debatte zu Recht über Zahlen, Daten und Fakten sprechen müssen, kann man gar nicht oft genug hervorheben: Kinder sind ein schier unbeschreibliches Glück. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle dem Parlament, vor allem dem Fachausschuss, ausdrücklich dafür danken, dass wir heute diesen historischen Moment erleben können. In nur zehn Monaten ist es gelungen, ein vollkommen neues Leistungsgesetz auf die Beine zu stellen und die Situation junger Eltern und ihrer Kinder in Deutschland grundlegend zu verbessern. ({6}) Im Siebten Familienbericht werden drei Forderungen aufgestellt: ein Neuzuschnitt der Geldleistungen - zum Beispiel das Elterngeld -, eine Verbesserung der Chancen im Arbeitsalltag und mehr Zeit. Nachbarschaftsnetze und Mehrgenerationenhäuser entlasten die Familien und schaffen dadurch Zeit. Aber die entscheidende Infrastruktur - auch das wird betont - ist eine flexible, vielfältige Kinderbetreuung. ({7}) Auch hierzu wurden im Siebten Familienbericht eindeutige Aussagen getroffen. Familienpolitik muss sich am Lebenslauf orientieren. Das heißt, das Elterngeld und die Kinderbetreuung werden nicht gegeneinander ausgespielt. Sie gehen Hand in Hand. ({8}) In den ersten Tagen, Wochen und Monaten wünschen sich die jungen Eltern nichts mehr als gemeinsame Zeit mit ihrem Neugeborenen. Erst allmählich erweitert sich ihr Horizont, übrigens auch der des Säuglings, im Hinblick auf andere Kinder und andere Erwachsene. Ebenso ist es selbstverständlich, dass die Kinderbetreuung nach der ersten engen Phase mit ihrem Kind zunehmend in den Fokus der Eltern rückt. ({9}) Im Sommer dieses Jahres wurde der Erste Bericht zum Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige vorgelegt. Endlich tut sich etwas. Allerdings haben wir noch eine lange Wegstrecke vor uns, die wir zügig zurücklegen müssen. Gegenwärtig kann für fast jedes siebte Kind unter drei Jahren ein Kinderbetreuungsangebot zur Verfügung gestellt werden; im Jahre 2002 war das nur für jedes zehnte Kind möglich. In großen Städten kann zurzeit fast jedem vierten Kind unter drei Jahren ein Betreuungsplatz angeboten werden. In Westdeutschland hat sich die Zahl der Betreuungsplätze fast verdoppelt, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau ausgehend. Immer noch bestehen große Ost-West-Unterschiede. Inzwischen sind aber in fast allen Kommunen konkrete Schritte zum Ausbau der Kinderbetreuung in Arbeit. Es liegen also entsprechende Beschlüsse des Gemeinderates, des Stadtrates oder der Kreisverwaltung vor. Zwei Drittel der Kommunen haben bereits mit dem Ausbau der Kinderbetreuung begonnen. Jede dritte Kommune will ihr Ziel vor 2010 erreichen. Kinderbetreuung schafft nicht nur Zeit für Eltern, sondern auch Zeit für Bildung und Zeit für die frühe Förderung von Kindern. Kinder brauchen vor allem andere Kinder, um sich zu entwickeln. Das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass inzwischen jedes dritte Kind keine Geschwister hat. Im Familienbericht ist nicht nur vom Risiko der Vernachlässigung von Kindern die Rede. Dort wird auch das Risiko einer überbehüteten, einer vereinzelten Kindheit beschrieben, einer Kindheit, die sich vor allem im Transport zwischen organisierten Terminen abspielt. Wörtlich ist von einer „Terminkindheit“ die Rede. Im Kindergarten oder in der Tagespflege treffen Kinder andere Kinder und haben Zeit, um zu toben, miteinander zu spielen und ihre eigenen Grenzen auszutesten. Und sie lernen ihre Altersgenossen in ihrer ganzen Vielfalt kennen. Das, meine Damen und Herren, ist ein unschätzbarer Integrationsfaktor. ({10}) Das sage ich vor allem vor dem Hintergrund, dass heute jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund hat. Integration und Toleranz kann eine Gesellschaft nicht wirkungsvoller und kostengünstiger schaffen als dadurch, dass sie kleine Kinder von Anfang an im Alltag selbstverständlich miteinander spielen und miteinander reden lässt. Wir verabschieden heute in zweiter und dritter Lesung das Elterngeld als einen ersten, wichtigen Baustein einer Familienpolitik, die sich am Lebenslauf orientiert, einer Familienpolitik, die die realen Probleme, aber auch die Wünsche der jungen Menschen ins Auge nimmt, einer Familienpolitik, die den jungen Männern und Frauen am Anfang des 21. Jahrhunderts - die in Zukunft eine enorme Verantwortung werden tragen müssen - die Chance gibt, für Erziehung wie Einkommen gleichermaßen in der Verantwortung zu stehen. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Elterngeld als Einkommensersatzleistung für berufstätige Väter und Mütter soll Einkommenseinbußen im ersten Lebensjahr des Kindes abmildern. Dieser grundsätzlichen politischen Aussage stimmt die FDP-Bundestagsfraktion voll zu, Frau von der Leyen. ({0}) Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, ist aber anders als das, was die Familienministerin vorhatte. Ich habe lange gewartet, dass Sie, Frau von der Leyen, in Ihrer Rede auf das Elterngeldgesetz zu sprechen kommen. Es kam mir in Ihrer Rede zu kurz. ({1}) Ein großer Teil ist Sozialleistung, nicht Einkommensersatzleistung. Deshalb enthält das Gesetz viele Konstruktionsfehler. Das sind nicht die einzigen Gründe, weshalb die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen wird. Wir sind der Überzeugung, dass das Elterngeld nur erfolgreich sein kann, wenn nach dem ersten Geburtstag des Kindes die Anschlussbetreuung gesichert ist. Die Aussage, die die Ministerin heute gemacht hat, steht für sich: Das wird auch ab dem 1. Januar 2008 nicht in ganz Deutschland der Fall sein. ({2}) Was nutzt Eltern oder Alleinerziehenden ein Jahr Elterngeld, wenn anschießend Krippenplätze oder Tagesmütter und -väter fehlen? ({3}) Das Familienministerium hat dazu nachweislich keine nennenswerten Anstrengungen unternommen. Es gibt kein schlüssiges Gesamtkonzept der Bundesregierung für die Betreuung von Kindern nach dem ersten Lebensjahr, wenn das Elterngeld ausläuft. Es hat auch keinen Kinderbetreuungsgipfel gegeben, auf dem sich die Bundesregierung mit den Ländern und Kommunen auf ein gemeinsames Konzept geeinigt hätte. Weder die damalige SPD/Grüne-Bundesregierung, die acht Jahre regiert hat, ({4}) noch die große Koalition von Union und SPD hat die Städte und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbetreuung finanziell unterstützt. ({5}) - Es ist so. Sie können ruhig protestieren. Acht Jahre lang waren die Grünen dabei und es ist nichts passiert. ({6}) - Dann waren es sieben Jahre. ({7}) Wenn Sie so nickelig sind, dann wollen Sie nur von Ihren Defiziten ablenken. ({8}) Meine Damen und Herren, den jungen berufstätigen Paaren fehlt eine verlässliche Grundlage für ein Leben mit Kindern. Bereits in der Expertenanhörung des Bundestages zum Elterngeld und auch jetzt durch die harsche Kritik des Bundesrechnungshofes wurde öffentlich, dass Teile des Elterngeldgesetzes unvereinbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung in unserer Verfassung sind. Dazu wird meine Kollegin Sibylle Laurischk anschließend Stellung beziehen. ({9}) Die FDP-Fraktion hat ihre Position zur notwendigen Kinderbetreuung und zu den Schwachpunkten des Elterngeldgesetzes in zwei Anträgen begründet. Unsere Kritikpunkte: Erstens. Nach Angaben des Familienministeriums werden 155 000 Familien mit einem Einkommen von unter 30 000 Euro pro Jahr schlechter gestellt. ({10}) - Ja, Sie haben Recht, Frau Schewe-Gerigk: Das ist ein Skandal. ({11}) Zweitens - das ist mein Lieblingsthema -: ({12}) Berufstätige Ehefrauen, die auf Steuerklasse V arbeiten, ({13}) sind die Verliererinnen. Ich werde den Bürgern das begründen. Sie wissen das, tun aber nichts richtig. ({14}) Noch einmal: Berufstätige Ehefrauen, die auf Steuerklasse V arbeiten, sind bei diesem Gesetz die Verliererinnen. ({15}) Bei einem Bruttolohn von beispielsweise 2 000 Euro pro Monat erhalten sie mit Lohnsteuerklasse V ein geringeres Elterngeld als mit Lohnsteuerklasse III. ({16}) Dadurch haben sie monatlich 390 Euro weniger im Portemonnaie. Deshalb schlägt die FDP das Bruttolohnprinzip vor. Das ist gerechter.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gerne.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass die Wahl der Steuerklassen von Ehepartnern jederzeit auch unterjährig - so heißt das - geändert werden kann? ({0}) Wenn eine Frau schwanger wird, dann kann sie also zum Finanzamt gehen und eine andere Steuerklasse wählen, sodass der Berechnung des Elterngeldes dann natürlich ein anderes Einkommen zugrunde liegt. ({1})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Hendricks, ich bitte Sie, sich die Regelungen zum Elterngeld ganz genau durchzulesen. Sie wissen, dass nicht das Durchschnittseinkommen der letzten drei Monate, sondern der letzten zwölf Monate genommen wird, und dass eine Schwangerschaft neun Monate dauert. ({0}) Das ist der erste Grund. Der zweite Grund ist, dass in Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie die Lohnsteuerklassen reformieren wollen und dass Sie einen Wechsel unterbinden, wenn es um die Berechnung des Mutterschaftsgeldes geht, das acht Wochen lang gezahlt wird. Diese Möglichkeit gibt es dort nicht. Frau Hendricks, ich will Ihnen nur sagen, dass Sie als Staatssekretärin und ich, die ich in diesem Beruf gearbeitet habe, diese steuerlichen Fachgesichtspunkte sehr wohl kennen. Sie glauben aber doch nicht, dass sich eine Verkäuferin, eine Facharbeiterin oder eine Ärztin mit diesen Dingen besonders gut auskennen. ({1}) Sie werden ein böses Erwachen haben, wenn sie das Elterngeld beantragen werden. Das ist Fakt. Ihre fachspezifische Aussage wird den Eltern nicht helfen. Um diese Wortmeldung jetzt abzuschließen, sage ich noch einmal: Frau Hendricks, die FDP schlägt das Bruttolohnprinzip vor. Es wäre auch kein Problem gewesen, dies in dieses Gesetz einzubauen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage Ihrer Kollegin Laurischk?

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Lenke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die unterjährige Änderung der Steuerklasse V in die Steuerklasse III nur dann möglich ist, wenn beide Ehepartner einverstanden sind, was in der Regel nicht der Fall ist, weil das eine Verkürzung des Einkommens des Mannes bedeutet? ({0}) Insofern wird die Steuerklasse V zumindest bis zum Jahresende aufrechterhalten, was bei Scheidungsfällen ein Problem ist.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Laurischk, da Sie als Rechtsanwältin auf diesem Gebiet Erfahrung haben, stimme ich Ihnen zu. Ich habe die Frage von Frau Hendricks so beantwortet, wie es die Realität vorgibt, wie es die Bürger und Bürgerinnen im Leben erfahren, und zwar nicht nur im Steuerberatungsbüro. ({0}) Von der Diskriminierung von Ehefrauen mit Steuerklasse V komme ich zu meinem dritten Punkt: ALG-II-Empfänger erhalten ein Mindestelterngeld von 300 Euro. Dazu habe ich von der Familienministerin noch keine Aussage gehört; denn das, Frau von der Leyen, hat mit der politischen Idee des Einkommensersatzes nichts mehr gemein. Dagegen erhält eine Alleinerziehende, die selbstständig ist, kein Elterngeld - man höre genau zu -, wenn sie über 30 Stunden arbeiten muss, um ihre Existenz zu sichern. Sie hat auch mit einem geringen Einkommen keinen Anspruch auf Elterngeld. Ist das sozial gerecht? Frau von der Leyen hat eben in ihrer Rede gesagt, Elterngeld ist immer besser als Sozialhilfe. Ja, der Meinung bin auch ich. Aber das gilt auch für Selbstständige. ({1}) Viertens: Teilzeitarbeit. Neu ist die Anrechnung der Teilzeitarbeit auf das Elterngeld. Zwei Drittel des Gehaltes bei Teilzeitarbeit wird angerechnet. Diese Regelung - so die Meinung der FDP - schränkt die Wahlfreiheit der Familien enorm ein. Beim Erziehungsgeld war das nicht der Fall. Da konnte man etwas hinzuverdienen. Fünftens: Geringverdienerregelung. Die Geringverdienerregelung ist wirklich zu kompliziert. Verdient man - das muss man einmal öffentlich sagen - weniger als 1 000 Euro netto, erhält man für jeweils 2 Euro weniger Gehalt als 1 000 Euro 0,1 Prozent mehr Elterngeld. Bei 996 Euro wären das 0,2 Prozent mehr Elterngeld, bei 994 Euro 0,3 Prozent, bei 992 Euro 0,4 Prozent usw. ({2}) Das ist ein bürokratisches Ungetüm. ({3}) Damit sind wir wieder beim Thema Bürgernähe. Wenn Sie einfachere Gesetze machten, dann könnten die Bürger sie verstehen. Wenn Sie sie aber so kompliziert machen, wie Sie das tun, werden die Bürger sie nicht verstehen und in die Falle laufen, die Sie aufgestellt haben. Sechstens: die Stichtagsregelung. Alle Paare, deren Kinder nach dem 31. Dezember 2006 geboren werden, erhalten das neue Elterngeld. Kommt das Baby aber schon Silvester zur Welt, gilt noch die alte Regelung. Dazu habe ich von Bürgern sehr viele Protestbriefe erhalten. Ich kann die Menschen verstehen: Wenn Sie das Elterngeld als Einkommensersatz als eine neue politische Weichenstellung verstehen, dann hätte die Bundesregierung sozialverträgliche Übergänge schaffen müssen. ({4}) Die FDP fordert die Bundesregierung auf, ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen. Wir wollen eine Einkommensersatzleistung für den Elternteil, der seine Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinder einschränkt. Die FDP fordert bei der Berechnung des Elterngeldes, das Bruttolohnprinzip gelten zu lassen, um die gravierenden finanziellen Nachteile bei der Steuerklasse V gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir fordern mehr Freiraum bei der zeitlichen Gestaltung des Elterngeldes; das ist uns wichtig. Wenn Unternehmen Teilzeitmodelle anbieten und sich Eltern bei der Betreuung des Säuglings wochen- oder tageweise abwechseln wollen, darf das beim Elterngeldanspruch nicht zu ihrem Nachteil führen. Dazu ein kurzes Beispiel: Die Mutter betreut das Kind montags und dienstags, der Vater mittwochs, donnerstags und freitags. Diese Möglichkeit kommt in Ihrem Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeldes nicht vor. ({5}) Ich will als familienpolitische Sprecherin der FDP ganz deutlich sagen: Die Unternehmen müssen sich endlich auf Familien mit Kindern einstellen; das ist äußerst wichtig. Hier muss ein Paradigmenwechsel erfolgen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. Eine zukunftsorientierte Familienpolitik muss alle Lebensgemeinschaften mit Kindern und auch alle Berufe gleichermaßen im Blick haben. Familien brauchen mehr Wahlfreiheit, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Mit diesem Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeldes ohne flankierende Maßnahmen wird das kein Schritt in eine familienfreundliche Zukunft sein. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks, SPDFraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin von der Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zuerst einmal möchte ich an meine Vorrednerin, Frau Lenke, gerichtet feststellen: Ihre diffuse Kritik am Elterngeld ist unbegründet. ({0}) Die Teilzeitmöglichkeiten während des Bezugs des Elterngelds sind sehr wohl flexibel handhabbar. Ihre Rede, Frau Lenke, ist von der Frustration der Opposition und der Tatsache geprägt, dass die Familienpolitik in Ihrer Fraktion nachrangig ist. ({1}) Es ist schade, dass gute Arbeit bzw. gute Gesetze keine Anerkennung finden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke? ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir in der vorherigen und in dieser Legislaturperiode zwei Entschließungsanträge zu diesem Thema eingebracht haben, die Sie offenbar nicht gelesen haben? Was die „diffuse Kritik“ angeht, überlassen wir die Bewertung besser den Bürgern. Ich finde, das ist ziemlich platt.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt auf Ihre diffuse Kritik eingehen und erläutern, warum sie unberechtigt ist. Welchen Rückhalt Sie bei Ihrem familienpolitischen Vorgehen haben, hat Ihre Fraktion schon mehrfach deutlich gemacht. Ich glaube, darauf muss ich jetzt nicht näher eingehen. ({0}) Warum wird aus dem Kinderwunsch oft keine Kinderwirklichkeit? Diese komplexe Frage durchdringt viele Aspekte. Es gibt keine einfache Erklärung; es gibt vielmehr mehrere Antworten. Eine Antwort lautet: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in Deutschland alles andere als einfach. Auf das Lebensmodell „Kinder oder Karriere“ hatten Männer noch nie wirklich Lust. Inzwischen ist auch immer mehr gut ausgebildeten Frauen die Lust auf dieses Entweder-oder vergangen. Frauen meiner Generation wissen, wovon ich rede. Viele sind nach einem guten Abitur - meistens sind sie besser als ihre Mitschüler und einem Studium mit gutem Abschluss - ebenfalls häufig besser als die männlichen Hochschulabsolventen - ein paar Jahre erwerbstätig und steigen die ersten Schritte auf der so genannten Karriereleiter empor. Unterdessen beginnt die biologische Uhr zu ticken und die Entscheidung für oder gegen ein Kind rückt näher. Der Entschluss für ein Kind bedeutete für die meisten Frauen in Westdeutschland, mindestens drei Jahre aus dem Beruf auszusteigen, weil es so gut wie keine Kinderbetreuung für unter Dreijährige gab. Längere berufliche Auszeiten sind mit einem Karriereknick verbunden. Für viele Frauen ist der berufliche Einstieg mehr als schwierig. Die Aufgabe der Erwerbstätigkeit von Müttern ist zudem mit großen finanziellen Einbußen verbunden. Das wird sich durch das Elterngeld ändern. Das traditionelle Mutterbild bzw. das Hausfrauenmodell entspricht seit Jahren nicht mehr den Lebenswünschen der meisten Frauen. Mütter begeben sich während der ersten Lebensjahre ihres Kindes ungern in die wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem Partner. Das Modell der Einverdiener- bzw. Versorgerehe ist überholt. Frauen sind gut ausgebildet, erwerbsorientiert und selbstbewusst. Abgesehen von Frauen à la Eva Herman wollen sie eine größere materielle Unabhängigkeit und wünschen sich mehr Betreuungs- und Erziehungsverantwortung der Männer bzw. Väter. Veränderte Lebenswirklichkeiten bzw. Lebenswünsche benötigen veränderte Rahmenbedingungen. Das hat die SPD erkannt und der Familienpolitik in den letzten beiden Legislaturperioden einen sehr hohen Stellenwert eingeräumt. Nicht zuletzt bestimmt eine moderne, nachhaltige und sozial gerechte Ausgestaltung der Familienpolitik die zukünftige Entwicklung unseres Landes. Kinder bedeuten eine Bereicherung, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Die Entscheidung für Kinder ist und bleibt eine sehr persönliche. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Es darf keine Trennung der Gesellschaft in Kinderlose und Kinderhabende geben. Als Familienpolitikerin möchte ich keine Bevölkerungspolitik betreiben. Vielmehr möchte ich durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen all denen Mut machen, die Kinderwünsche haben, aber bisher zögern, sich diese zu erfüllen. ({1}) Die Entscheidung für Kinder darf weder ein Armutsrisiko noch ein Hemmschuh für die berufliche Entwicklung sein. Darüber hinaus benötigen Eltern und Kinder heute und zukünftig eine Politik, die die Gesellschaft, das heißt die Lebens- und Arbeitswelt, nachhaltig kinder- und familienfreundlich gestaltet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gruß?

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte, Frau Gruß.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben mehrfach davon gesprochen, dass die Familienpolitik die Rahmenbedingungen verbessern müsse. Sind Sie geneigt, zur Kenntnis zu nehmen, dass familienfreundliche Rahmenbedingungen vor allen Dingen bedeutet hätten, nicht zum 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer zu erhöhen? ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Gruß, die FDP stellt mittlerweile in jeder Debatte im Bundestag die Frage nach der Mehrwertsteuererhöhung. Das scheint bei Ihnen ein pawlowscher Reflex zu sein. Ich habe daher mit Verlaub keine Lust, auf Ihre Zwischenfrage ernsthaft zu antworten. ({0}) Auch der aktuelle Siebte Familienbericht ist ein Plädoyer für eine nachhaltige Familienpolitik. Der Familienbericht untermauert den in den letzten Jahren von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eingeleiteten Politikwechsel. Eine moderne Familienpolitik ist ein Mix aus Infrastruktur, Zeit und Geld. Familien benötigen - das ist klar - eine verbesserte Infrastruktur für Bildung und Betreuung, mehr Zeit, zum Beispiel durch familienfreundliche Arbeitswelten, und nicht zuletzt Geld für eine gezielte finanzielle Unterstützung. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz für Kinder unter drei Jahren und mit dem Investitionsprogramm zur Förderung von Ganztagsschulen haben wir in der letzten Legislaturperiode eine wichtige Grundlage zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschaffen. ({1}) Ich freue mich, dass der von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eingeschlagene Kurs in der großen Koalition nun mit vereinten Kräften fortgesetzt wird. Gemeinsam ist es uns in der großen Koalition gelungen, das zentrale familienpolitische Projekt in der laufenden Legislaturperiode, das Elterngeld, umzusetzen. ({2}) Es freut mich, dass der von Renate Schmidt mit großen Engagement auf den Weg gebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes - herzlichen Dank dafür - bereits heute verabschiedet wird. ({3}) Ein guter Tag für Deutschland, ein guter Tag für die Familien! ({4}) Natürlich ist das Elterngeld nicht die Antwort bzw. die Lösung für alle Probleme, denen Familien heute begegnen. Das Elterngeld ist vielmehr ein wichtiger Baustein einer modernen Familienpolitik. Mit dem Elterngeld fördern wir Familien in den ersten zwölf bzw. 14 Monaten nach der Geburt. Gerade während dieser Zeit benötigen Kinder eine intensive Betreuung. Eltern wünschen sich in dieser Phase mehr Zeit für ihr Kind. ({5}) Mit dem Kernelement des Elterngeldes, der Einkommensersatzleistung, ermöglichen wir Eltern, sich diese Zeit ohne finanzielle Sorgen zu nehmen und danach so schnell wie möglich wieder in den Beruf zurückzukehren. Da hier unabhängig vom Partnereinkommen ein finanzieller Ausgleich für den betreuenden Elternteil vorgesehen ist, bedeutet dies insbesondere für Mütter wirtschaftliche Selbstständigkeit innerhalb der Partnerschaft. Durch die Partnermonate geben wir Vätern mehr Möglichkeiten, sich partnerschaftlich an der Kinderbetreuung zu beteiligen. Durch die Einkommensersatzleistung gewinnen Eltern mehr Wahlfreiheit hinsichtlich der Elternrolle. Es gibt nun eine echte Alternative zur traditionellen Rollenaufteilung. Das Elterngeld ist ein wichtiges gleichstellungspolitisches Instrument, das aber auch Kindern zugute kommen wird; denn Kinder brauchen Väter und Mütter. ({6}) Das Elterngeld bietet insbesondere Müttern den Anreiz, nach der Kinderphase schneller als bisher in den Beruf zurückzukehren. Die neue Regelung des Geschwisterbonus verstärkt diesen Anreiz. Auch Alleinerziehende profitieren von dem Elterngeld, weil es die wirtschaftliche Eigenständigkeit bei der Erwerbsunterbrechung sichert. Frau Lenke, Sie fordern in Ihrem Antrag, die Betreuungs- und Bildungssituation zu verbessern. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Wie Sie wissen, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, haben wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz einen Meilenstein in Richtung Ausbau der Kinderbetreuung und frühkindliche Förderung gesetzt. Die Richtung stimmt. Aber eines muss klar sein: Nur in einem verantwortungsvollen Bündnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird es gelingen, unser Land wirklich familienfreundlicher zu gestalten. ({7}) Der Siebte Familienbericht und der Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige bestätigen, dass der eingeschlagene Weg richtig ist. Erfolge sind bereits sichtbar. Frau Ministerin von der Leyen hat die Zahlen vorhin genannt. Familien benötigen Taten und die haben wir, die SPD-Bundestagsfraktion, vorzuweisen. ({8}) Da, Frau Lenke, wo die FDP mitregiert, in wenigen Ländern und manchen Kommunen, sind Sie herzlich eingeladen, aus Worten und Forderungen Taten werden zu lassen. ({9}) Aber als Sie, meine Damen und Herren von der FDP, in Rheinland-Pfalz noch mitregiert haben, musste Sie der Ministerpräsident Kurt Beck in Sachen Bildung und Betreuung noch zum Jagen tragen. ({10}) In Ihrem Entschließungsantrag kritisieren Sie recht diffus das neue Elterngeld. Sie kritisieren unterschiedliche Zielsetzungen und komplizierte Berechnungen. Aber, Frau Lenke, ein einfacher Dreisatz dürfte auch Sie nicht überfordern. Dass das Elterngeld vielschichtig wirkt, ist eine Stärke des Instruments. An die Damen und Herren von der PDS gerichtet: Wir können das reflexartige Einklagen von mehr sozialer Gerechtigkeit in diversen Anträgen vernehmen. Ihr Bild von sozialer Gerechtigkeit ist nicht nur sehr eingeschränkt, sondern größtenteils auch falsch. Das Elterngeld ist durch den Sockelbetrag, die Begrenzung für Spitzenverdiener und die Geringverdienerkomponente sozial gerecht und ausgewogen. Sowohl der Siebte Familienbericht als auch der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht zeigen auf, dass sich Armutsrisiken von Familien am wirkungsvollsten mindern lassen, wenn die Erwerbstätigkeit der Eltern unterstützt wird. Eine frühe Förderung der Kinder und Anreize zur Aufnahme und Ausweitung von Erwerbstätigkeit helfen, Armut zu durchbrechen und wirkliche Chancengleichheit für Kinder herzustellen. Am Beispiel unserer nordeuropäischen Nachbarstaaten sieht man eindrucksvoll, dass die Einführung des Elterngelds und die Steigerung der Frauenerwerbsquote die Armutsrate bei Kindern und Familien hat sinken lassen. Das Elterngeld ist ein wichtiger Baustein einer nachhaltigen Familienpolitik. Es ist ein Kind der SPD, auf das wir stolz sind. Vielleicht lautet in zehn oder 20 Jahren eine Zeitungsüberschrift: „Aus Kinderwunsch wird immer mehr Kinderwirklichkeit“. Der Grund dafür: Deutschland ist ein kinder- und familienfreundliches Land geworden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt. Frauen und Männer teilen sich partnerschaftlich Kindererziehung und Erwerbsarbeit. Gute Betreuungsangebote unterstützen Familien, frühe Bildung eröffnet Kindern echte Chancen. Familien sind nicht mehr überfordert. Die Wirtschaft ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Kinderlachen und Kindertoben, Urlaube und Restaurantbesuche mit Kindern werden gern gesehen, Kinder sind wirklich willkommen. - Eine schöne Aussicht. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke wird diesem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes nicht zustimmen können. ({0}) Nach fast zehn Monaten Diskussion ist der Wille der Koalition zur sozial besseren Ausgestaltung des Elterngelds nach wie vor nicht erkennbar. Im Gegenteil: Beschämend an der breiten Diskussion ist zum einen die Arroganz gegenüber außerparlamentarischem Sachverstand. ({1}) Zum anderen verstetigen Sie, Frau von der Leyen, charmant lächelnd, die sozialen Ungerechtigkeiten Ihrer Politik. Sie schaffen es sogar, im Einvernehmen mit den Koalitionspartnern in zehn Monaten Gesetze zur Schröpfung von Arbeitslosen, Geringverdienern und Alleinerziehenden durchzupeitschen sowie das größte Steuererhöhungsprogramm seit Bestehen der Bundesrepublik zu beschließen. ({2}) Schlimmer noch: Sie potenzieren die sozialen Ungerechtigkeiten in einem unerhörten Ausmaß. Ausgerechnet in Haushaltsdebatten um den Einzelplan 17, bei dem Sie, Frau von der Leyen, nennenswert Geld zur Ausweitung der Förderung von Familien in die Hand nehmen, produzieren Sie mit dem Elterngeld einen sozialpolitischen Skandal erster Ordnung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griese?

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir - auch die Kollegin Griese - hatten sowohl im Familienausschuss als auch im Rechtsausschuss ausreichend Gelegenheit, über dieses Thema zu diskutieren. Deswegen muss sie sich meinen Vortrag jetzt erst einmal anhören. Sie kann ja nach Beendigung meiner Rede eine Kurzintervention machen. ({0}) Das Elterngeld benachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem Erwerbseinkommen. Im Wissen darum, dass jedes siebte Kind in Deutschland auf einem Einkommensniveau lebt, das es von einer angemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt, verschärfen Sie weiter die Kinderarmut in Deutschland. Eine dreiviertel Milliarde Euro nehmen Sie, Frau von der Leyen, gemeinsam mit der Bundesregierung in die Hand, um Gut- und Besserverdienenden den Zugang zu steuerfinanzierten Sozialleistungen zu ermöglichen. Die wirklich Bedürftigen schließen Sie aus. Um den Skandal perfekt zu machen, nehmen Sie auf Drängen der Unionshardliner im letzten Moment noch viele der im Land lebenden Ausländerinnen und Ausländer von dem Elterngeldanspruch aus. ({1}) Sie haben eine Menge Geld in den Haushalt eingestellt, ohne zu wissen, ob Sie es überhaupt verfassungsgemäß ausgeben. Entgegen den Bedenken der Sachverständigen aus der Anhörung zum Elterngeld, entgegen den Bedenken von Juristinnen und Juristen, entgegen den Bedenken karitativer Wohlfahrtsverbände, entgegen den Bedenken von über 18 000 Petentinnen und Petenten und entgegen den Bedenken des Bundesrechnungshofs ({2}) nehmen Sie nur geringfügige redaktionelle Änderungen an diesem Gesetzentwurf vor. Sie, Frau von der Leyen, geben an - sie selbst sind keine Juristin -, dass Sie sich auf den Rat Ihrer Juristen verlassen. Seien Sie gewarnt; denn Ihre Juristen haben im Rechtsausschuss trotz Kenntnis der verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesrechnungshofs, ohne ein Wort und ohne mit der Wimper zu zucken, diesem Gesetzentwurf zugestimmt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Da muss die Koalition jetzt durch. ({0}) Noch vorgestern wurde hier seitens der Koalition betont, dass der Bundesrechnungshof schreiben könne, was er wolle. Ein derartiges Verhalten der Regierung kennen wir schon aus der Debatte zur Föderalismusreform. Mich wundert da inzwischen nichts mehr. Das Elterngeld ist eine prinzipiell positive Entwicklung in der Familienpolitik und findet unsere Unterstützung. ({1}) - Ja, wirklich. ({2}) Was mich und meine Fraktion daran aber besonders stört, ist - ich wiederhole es - die soziale Unausgewogenheit, das Festhalten an einer Umverteilung von Arm nach Reich. Das Gesetz soll Menschen ermutigen, sich für Kinder zu entscheiden. Wir brauchen primär nicht mehr Kinder, sondern weniger Kinder, die in Armut und Not aufwachsen. ({3}) Außerdem brauchen wir mehr Eltern, die ihre Vorstellung von Familienleben ohne finanzielle Zwänge oder Sorgen um den Arbeitsplatz leben können. Wir brauchen eine Kultur der Familien- und Kinderfreundlichkeit; dies wird aber nicht erreicht, indem eine Umverteilung der Leistungen an Familien von Arm nach Reich stattfindet. Wie heißt es so schön zur Problemschilderung zum Elterngeld - ich zitiere -: In Deutschland steht Familien dann am wenigsten Geld zur Verfügung, wenn die Kinder am kleinsten sind. In der in Ihrem Gesetzentwurf formulierten Lösung des Problems heißt es dann unter anderem - ich zitiere -: Es - damit ist das Elterngeld gemeint eröffnet einen Schonraum, damit Familien ohne finanzielle Nöte in ihr Familienleben hineinfinden … ({4}) Warum, frage ich dann, sollen diejenigen, die in unserer Gesellschaft ohnehin schon finanziell schlecht dastehen, noch schlechter gestellt werden, als sie es ohnehin schon sind? ({5}) Müssen nicht gerade sie gefördert werden? ({6}) - Diese Fragen müssen Sie sich schon gefallen lassen. Oder herrscht auch bei Ihnen der Geist wie bei einigen Ihrer Fraktionskollegen, welche sich beispielsweise vor Arbeitslose, die ihre Lebensmittel bei der Tafel holen müssen, stellen und diesen auf Fragen nach der Mehrwertsteuer entgegnen: Was regt ihr euch denn so über die Mehrwertsteuererhöhung auf? Sie betrifft in der Regel eh nur Sachen, die ihr euch nicht leisten könnt. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können jetzt entgegnen, dass Sie mit Ihren Änderungsanträgen im Ausschuss Neuregelungen getroffen haben. Das ist richtig. Es bedarf auch schon etwas Mühe, um die gut verpackten Unzulänglichkeiten im Elterngeldgesetz herauszufinden. Erfreulich ist, dass Sie einen Regelungsvorschlag der Verbände und Sachverständigen aufgegriffen haben ({8}) und die flexible Zuschlagsregelung anstelle einer starren Fristenregelung für den Geschwisterbonus vorgesehen haben. Auch erfreulich ist: Es soll klargestellt werden, dass berufliche Gründe nicht zur Übertragbarkeit der Partnermonate auf den anderen Elternteil führen können. Das sind aber auch schon die einzigen Verbesserungen. - So weit zu dem aus meiner Sicht positiven Ansatz zur Einführung des Elterngeldes. Es gibt, wie von mir schon mehrfach betont, Tendenzen in der Politik der Ministerin und der Koalition, die diesen durchaus positiven Ansatz konterkarieren. Wo liegen die spitzfindigen Feinheiten in Ihrer familien- und sozialpolitischen Mogelpackung, Frau von der Leyen? Die Einführung des Elterngeldes geht nach wie vor zulasten der Einkommensschwachen, der Alleinerziehenden, der ALG-II-Empfänger sowie der Migrantinnen und Migranten. ({9}) Erstens. Die Änderung der Anspruchsberechtigung von Migrantinnen und Migranten bedeutet eine rechtliche Verschlechterung für die Betroffenen. Grundsätzlich ist zu kritisieren, dass die Begründung zu diesem Änderungspunkt von Ihnen stillschweigend ausgespart wird, obwohl das Bundesverfassungsgericht - in anderem Zusammenhang - diese Ungleichbehandlung für verfassungswidrig erachtet hat, wenn von einem dauerhaften Aufenthalt ausgegangen werden kann bzw. muss, unabhängig vom Aufenthaltstitel. Der in der geänderten Fassung enthaltene pauschale Ausschluss von Menschen mit einem Aufenthaltstitel, der erkennen lässt, dass ein voraussichtlich dauerhafter Aufenthalt vorliegt, ist sicherlich verfassungswidrig und nicht nachzuvollziehen. Der in der geänderten Fassung enthaltene Ausschluss von Kettengeduldeten ist nicht sachgerecht und verfassungsrechtlich ebenfalls zweifelhaft. Die an eine bereits längerfristig bestehende dauerhafte Erwerbstätigkeit geknüpfte Auffangklausel des § 1 Abs. 7 Nr. 3 des Elterngeldgesetzes in der Ausschussfassung mit einer Dreijahresfrist reicht nicht aus, um die Verfassungswidrigkeit der Regelung zu entkräften. Zweitens. Die Nichtberücksichtigung der steuerfreien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit bei der Einkommensermittlung ist nach meiner Überzeugung falsch. Wenn das Elterngeld eine Lohnersatzleistung sein soll, wie Sie immer sagen, dann muss auch der gesamte Lohn berücksichtigt werden. Die jetzige Regelung benachteiligt Berufsgruppen in der Industrie und Frauen in typischen Frauenberufen, die etwa Schichtdienst leisten. ({10}) Drittens. Es ist unverständlich, warum nicht eine verbesserte Regelung des gleichzeitigen Teilzeitelterngeldbezuges in die Liste Ihrer Änderungen aufgenommen wurde. Schließlich haben viele Verbände darauf hingewiesen, dass hier im Gesetz eine klare Benachteiligung der Betroffenen enthalten ist. Eltern, die gleichzeitig ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung reduzieren, erhalten nur sieben statt 14 Monate Teilzeitelterngeld. ({11}) Auch diese Regelung ist verfassungsrechtlich fragwürdig. Ein Alternativvorschlag der Verbände, der vom Deutschen Juristinnenbund zur Anhörung vorgestellt wurde und ohne weiteres realisierbar wäre, wird von Ihnen, Frau von der Leyen, wie gehabt, charmant lächelnd in die Ablage getan. Wir wenden uns entschieden gegen eine Benachteiligung von Eltern, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz für ein partnerschaftliches Modell der Kinderbetreuung in der ersten Zeit nach der Geburt entscheiden. Ihr Vorschlag ist ein fatales Signal in Richtung Gleichstellungspolitik. ({12}) Viertens. Die ausgewiesene Stichtagsregelung führt zu einer Ungleichbehandlung von Familien mit Kindern fast gleichen Alters. Warum bekennen Sie sich nicht zu einer Übergangsregelung, die zeitlich und auch finanziell klar einzugrenzen und überschaubar ist? ({13}) Mit einem kühlen Lächeln in den Reihen der Koalition wird dieses Anliegen - von übrigens einigen Tausenden von Petenten - ad absurdum geführt. Weil die schwarz-rote Regierung mit dem Elterngeld nach eigenen Angaben 155 000 Familien - ich wiederhole: 155 000 Familien - schlechter stellt und nicht danach fragt, wie es nach einem Jahr Elterngeldbezug für diese Familien weitergeht, fordert die Fraktion Die Linke: Erstens. Für Einkommensschwache, Eltern in Ausbildung und Erwerbslose darf das Elterngeld keine finanziellen Einbußen nach sich ziehen. 300 Euro monatlich müssen Eltern über 24 Monate zur Verfügung stehen. ({14}) Zweitens. Das Elterngeld darf nicht auf den Bezug von Arbeitslosengeld II und den Kinderzuschlag angerechnet werden. Drittens. Alleinerziehende dürfen nicht benachteiligt werden. ({15}) Ihnen muss unabhängig von ihrem Erwerbsstatus wie Paaren bis zu 14 Monate lang Elterngeld gezahlt werden. Viertens. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die die Lebensverhältnisse von Eltern und Kindern verbessern. Wir stehen für einen Wechsel in der Familien- und Kinderpolitik und fordern eine stärkere Übernahme öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. Kinder und Familien benötigen soziale Sicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten, nicht nur schöne Worte, die an der Ernsthaftigkeit zweifeln lassen. ({16}) Die Unehrlichkeit der Bundesregierung im Umgang mit Kindern und Familien schreit zum Himmel. Sie feiern sich, weil Sie das Elterngeld auf einen guten Weg gebracht haben. ({17}) Im gleichen Atemzug kürzen Sie massiv Sozialleistungen und greifen den Familien heftig in die Taschen. Sie sind stolz darauf, dass Sie durchgesetzt haben, dass Ausländer mit vorübergehender Aufenthaltsgenehmigung vom Elterngeldbezug ausgeschlossen werden und diese Neuregelung keine Anreize zur Zuwanderung nach Deutschland setzt. So war es in einer Presseerklärung zu lesen. Ich bin der Meinung, dass wir in Bezug auf das Elterngeld nicht auf dem von der Regierung so viel beschworenen guten Weg sind. Wenn dies dann noch als großer Schritt für die Menschheit bezeichnet wird, kann ich für unser Land wirklich nur hoffen, dass diese Regierung bei der Politik der kleinen Schritte bleibt. ({18}) Ein Letztes noch an die Koalition. Schon Konfuzius konnte weit in die Zukunft blicken, denn er kannte wohl die große Koalition. So hat er gesagt: Wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu machen. Danke schön. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ablösung des Erziehungsgeldes und die Einführung eines zeitlich verdichteten, erwerbsbezogenen Elterngeldes kann ein sinnvoller Baustein einer modernen Familienpolitik sein. Ich sage aber bewusst: kann. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben mit diesem Elterngeld Versprechen verbunden. Sie haben gesagt, es solle dazu beitragen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Sie selber haben die Erwartung formuliert - junge Familien haben diese Erwartung auch -, dass hiermit eine Überbrückungshilfe für das erste Lebensjahr des Kindes gegeben wird, um danach wieder in den Beruf einzusteigen. Jetzt aber werden viele junge Familien schon nach einem Jahr feststellen können, dass genau dieses Versprechen nicht eingehalten werden kann, ({0}) weil es in vielen westdeutschen Flächenländern für diesen Wiedereinstieg keine Betreuungsinfrastruktur gibt. ({1}) Diese jungen Familien werden zu Recht den Eindruck haben, dass die Politik ihnen wieder einmal falsche Versprechungen gemacht hat und sie jetzt im Regen stehen lässt. So wird es aussehen. ({2}) Das Traurige ist, dass Sie heute den Eindruck hinterlassen haben, dass Sie auf dieser Baustelle nichts, aber auch gar nichts tun wollen, dass Sie daran nichts ändern wollen. ({3}) Rot-Grün hat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz und dem Ganztagsprogramm die richtigen Weichen gestellt. ({4}) Jetzt muss der nächste Schritt kommen. Dieser besteht in der Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr. ({5}) Man fragt sich in der Tat: Warum gehen Sie diesen Schritt nicht? Sie wissen doch selber, dass ohne diesen Schritt Ihr stolzes Werk zu großen Enttäuschungen führt und ein riesiger Flop wird. ({6}) Mein Eindruck ist, dass Sie sich in der Auseinandersetzung um eine moderne Familienpolitik in Ihren eigenen Reihen so aufgerieben haben, dass Sie sich jetzt sozusagen zur Erholung lieber in das Reich der hehren Worte zurückziehen möchten ({7}) und bloß nicht die Auseinandersetzung um die Familienpolitik weiterführen wollen, weil Ihnen das offensichtlich zu mühselig geworden ist. ({8}) Die Ausgestaltung des Elterngeldes zeigt doch, dass Sie immer noch keine Einigung in der Frage erreicht haben, wohin Sie eigentlich wollen. Worum soll es denn gehen? Soll das Elterngeld eine Überbrückungshilfe für erwerbstätige Frauen darstellen, damit sie dann wieder in die Erwerbstätigkeit einsteigen können, oder handelt es sich um eine Kinderprämie unabhängig von der vorhergehenden Erwerbstätigkeit? Bei der Auseinandersetzung um den Geschwisterbonus haben Sie sich erst in den allerletzten Tagen geeinigt, ob Sie Anreize für oder gegen Erwerbstätigkeit setzen wollen. ({9}) Bei gleichzeitiger Teilzeitarbeit von Eltern ist die jetzt gefundene Lösung immer noch ungerecht. ({10}) Sie haben es auf der einen Seite nicht für nötig gehalten, bei Alleinverdienerhaushalten eine Obergrenze für das Partnereinkommen festzusetzen, aber auf der anderen Seite bestrafen Sie Transferleistungsbezieher mit einer Verkürzung der Bezugsdauer. Das ist doch ungerecht und unstimmig. ({11}) Sie machen hier Politik nach dem Motto: Dit und dat, von jedem wat. - Das scheint ja geradezu ein Leitmotiv Ihrer Regierungspolitik insgesamt zu sein. ({12}) So kann man aber keine stringente und moderne Familienpolitik machen. Die einzelnen Familien müssen in ihrer Entscheidung nicht stringent sein. Eltern müssen selber entscheiden, was sie wollen. Aber die Politik darf doch nicht beliebig sein. Die Politik muss doch einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen, auch dann, wenn sie eigentlich nicht in ihr Weltbild passen. Tatsache ist doch, dass die jungen Familien heute eher ein partnerschaftliches Lebenskonzept verwirklichen wollen, dass aber der Wunsch junger Mütter nach Erwerbstätigkeit und die Möglichkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Deutschland ganz besonders schlecht zusammengehen. Tatsache ist, dass wir in Deutschland ein im internationalen Vergleich extrem hohes Armutsrisiko bei Alleinerziehenden haben, aber auch bei Eltern mit kleinem Einkommen. Tatsache ist auch, dass in Ländern mit besseren Erwerbsmöglichkeiten für Frauen und besseren Betreuungsstrukturen mehr Kinder geboren werden und ein besserer Schutz der Familien vor Armut besteht. Wir zahlen zwar besonders hohe Transferleistungen, ({13}) das führt aber keinesfalls dazu, dass die Familien besser vor Armut geschützt sind. ({14}) Das sind doch Tatsachen, die man zur Kenntnis nehmen muss. Man muss auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass die schlechte Betreuungsinfrastruktur dazu führt, dass geKrista Sager rade in Problemstadtteilen, das Recht der Kinder auf frühe individuelle Förderung, das Recht der Kinder auf Bildung von Anfang an, ignoriert und mit Füßen getreten wird. Dieser Gedanke gehört auch dazu. ({15}) Wir werden in wenigen Jahren einen Fachkräftemangel haben. Wir leisten uns aber immer noch ein Ehegattensplitting, das Anreize dafür bietet, dass die jungen, gut ausgebildeten Frauen möglichst zu Hause bleiben. Das sind doch alles Baustellen, bei denen wir erwarten können, dass sie von einer Familienministerin angegangen werden. ({16}) Ich will gern zugestehen, dass das in Ihren eigenen Reihen nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig ist und keine leichte Auseinandersetzung bedeutet. Aber Sie müssen diese Baustellen angehen. Sie haben sich auch nicht zu Wort gemeldet, als einige Ihrer Herren Vorschläge für ein Familiensplitting gemacht haben und darüber schwadronierten. Das Familiensplitting setzt im Prinzip das System des Ehegattensplittings, die alte Politik in neuem Gewand fort. Dazu haben Sie nichts gesagt, obwohl das als Familienministerin Ihre Aufgabe gewesen wäre. ({17}) Ein Letztes noch zur Stichtagsregelung; Frau Lenke hat es angesprochen. Ich frage mich wirklich, warum Sie sich das antun. Wir können uns doch alle vorstellen, wie es wenige Wochen vor dem Jahreswechsel sein wird. Alle Regionalzeitungen werden voll sein mit entzückenden Bildern von süßen Neugeborenen und wir werden lesen können, dass es für diesen bedauerlichen, armen, kleinen, süßen Fratz kein Elterngeld geben wird, weil er zwei Wochen zu früh auf die Welt gekommen ist. Wer wird dann wohl der Schuldige sein? Die Schuldigen werden doch die Regierung sein und vor allem die gemeine Familienministerin. Warum tun Sie sich das an? Ich begreife das wirklich nicht. Wenigstens an diesem Punkt sollten Sie den Rat der Opposition ernst nehmen. Er ist in diesem Fall nicht nur gut, sondern er ist ausnahmsweise auch gut gemeint. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei Frau Lenke und Herrn Wunderlich war es mir klar. Sie waren Opposition und sie sind Opposition. Sie müssen etwas finden, um gegen ein gutes Konzept zu sein. Aber auf Ihre Rede, Frau Sager, war ich gespannt. ({0}) Ich war gespannt darauf, weil ich schon etwas länger dabei bin und mich noch sehr gut an die Diskussionen im letzten Jahr erinnern kann, als Sie in der Regierungsverantwortung waren. Vielleicht hätten Sie einmal in der Rede Ihrer Kollegin Deligöz dazu nachlesen sollen, wie sie sich zu den vagen Vorstellungen des Elterngeldes geäußert hat, die damals bereits auf der Tagesordnung standen. Ihre Fraktion hat damals an dieser Stelle vehement deutlich gemacht, wie wichtig die Verabschiedung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes mit Blick auf das Elterngeld ist. Jetzt sind Sie in der Opposition und sagen: keine Politik der falschen Versprechungen. Meinten Sie damit Ihre Versprechungen vom letzten Jahr? ({1}) Ich mache keinen Hehl daraus, dass es die Frau Ministerin vor allem in den eigenen Reihen nicht leicht hatte. Die Koalitionspartner haben in Sachen Familienpolitik sehr unterschiedliche Vorstellungen. Wir wollen den Familien keine Vorgaben machen, in welcher Form sie zusammenzuleben haben und wie sie ihre Zukunft zu gestalten haben. Die Familien sind klug genug, selber darüber zu entscheiden. Trotz der hohen Zahl der Ehescheidungen wollen sich 89 Prozent der jungen Menschen für Familie und Kinder entscheiden. Es ist uns ein Anliegen, sie dabei zu unterstützen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, durch die es jungen Menschen ermöglicht wird, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Ich weiß noch genau, was ich vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt habe. Ich habe mich damals - die ehemalige Ministerin sitzt im Plenum; sie kann sich sicherlich noch daran erinnern - vehement gegen das ausgesprochen, was damals vorgelegt wurde, nämlich ein reines Lohnersatzprogramm für Eltern, die beide berufstätig sind. Das war nicht das, was wir wollten. Wir wollen den Familien nämlich nicht vorschreiben, dass Vater und Mutter arbeiten müssen. Wir wollen vielmehr ein Programm, in dem sich alle wiederfinden. Deswegen sind wir dankbar, Frau Ministerin, dass wir es mit dem Mindestelterngeld geschafft haben, dass jede Familie - unabhängig von der doppelten Erwerbstätigkeit - nun von dem Elterngeld profitieren kann. Jede Familie bekommt also mindestens 300 Euro, unabhängig davon, ob beide, also Vater und Mutter, berufstätig sind. Das ist ein Erfolg. Diese Regelung können wir heute gut mittragen. ({2}) Wir sehen die Notwendigkeit, Familien in der Phase ihrer Gründung stärker zu unterstützen. Herr Wunderlich, erlauben Sie mir folgende Bemerkung: Ihre Polemik mit den Zitaten fand ich nicht so prickelnd. Ich glaube, das haben Sie gar nicht nötig. Außerdem ist es für unser Vorhaben nicht hilfreich, wenn man so billig und polemisch argumentiert. Diese Polemik sollten Sie an dieser Stelle besser unterlassen. ({3}) Wir wollen den Familien in den Situationen, in denen der finanzielle Verlust am schmerzhaftesten ist, einen Ausgleich geben. Das Elterngeld beträgt 67 Prozent des Nettoeinkommens bis zu einer Maximalgrenze von 1 800 Euro monatlich und ist auf ein Jahr angelegt. Trotzdem gibt es Vorwürfe, das sei das „Wort zum Sonntag“ und es sei unklar, was nach Ablauf des Jahres komme. Frau Ministerin, Sie sind zwar noch nicht lange im Amt. Aber die Vehemenz, mit der Sie in der kurzen Zeit familienpolitische Leistungen durchgesetzt haben, haben wir in den vergangenen Jahren nicht erlebt. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Familien ganz herzlich. ({4}) - Ich denke dabei an die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten, um die es am Anfang des Jahres einen harten Kampf gab. Diesen Kampf hat die Familienministerin ausgefochten und sich für die Familien eingesetzt, obwohl sie dafür doch gar nicht federführend zuständig war. Frau Kressl, auch Sie dürfen einmal lobend erwähnen, dass das eine gute Sache für die Familien in unserem Lande ist. ({5}) Mit der Geringverdienerkomponente - Frau Lenke hat sie kompliziert vorgerechnet ({6}) gehen wir einen richtigen Weg. Es muss deutlich sein, dass sich Arbeit immer lohnen muss. Es kann nicht darum gehen, alle Menschen in allen Lebenssituationen finanziell gleich zu stellen. Ich halte die Geringverdienerkomponente, wie gesagt, für einen guten Weg. Denn: Auch wenn die Eltern weniger verdienen, lohnt es sich für sie, eine Arbeit aufzunehmen. ({7}) Ein Lieblingsthema der Union in den letzten Monaten waren sicherlich die Partnermonate. Man soll ja ehrlich miteinander umgehen. Wenn man sich die Auswertung von Umfragen einmal ansieht - auch innerhalb der CDU und ebenso der CSU; ich will die CSU nicht außer Acht lassen -, ({8}) dann stellt man fest, dass 67 Prozent aller befragten Männer diese Partnermonate begrüßen. Kollege Singhammer wird es gleich sicherlich noch einmal sagen: 53 Prozent der berufstätigen Männer zwischen 18 und 45 Jahren begrüßen diese Partnermonate, weil sie sich gerne um die Kinder kümmern wollen. Ein Drittel der befragten Männer hat allerdings gesagt - das hat uns Frauen nicht maßlos erstaunt -, auf Hausarbeit hätten sie keine Lust. Aber diese Arbeit gehört nun einmal zur Familienarbeit. 88 Prozent der berufstätigen Frauen haben gesagt - das war für uns für die Entwicklung des Elterngeldkonzeptes ausschlaggebend -, dass sie sich gerne um ihre Kinder kümmern und Kinder erziehen wollen, dass sie aber auch berufstätig bleiben wollen. Das zeigt uns, dass dieses Konzept richtig ist und dass wir auf dem richtigen Weg sind. Genauso richtig und wichtig ist für uns, dass wir den Bezugszeitraum von einem Jahr auf zwei Jahre erweitert haben, wenn es die finanziellen Verhältnisse möglich machen. Das heißt, man kann das Elterngeld auf zwei Jahre splitten und somit den Bezug verlängern. Das ist richtig und wichtig. ({9}) Ein letzter Punkt, den ich inhaltlich ansprechen möchte, ist der Geschwisterbonus. An dieser Stelle muss man deutlich machen, wie aufnahmefähig wir waren. Frau Lenke und Frau Sager sagten, die Regierung solle sich auch einmal die Vorschläge der Sachverständigen und der Opposition anhören. An dieser Stelle möchte ich ein ganz herzliches Dankeschön an den Juristinnenbund in Person von Frau Fuchsloch aussprechen, ({10}) die sich wirklich bemüht hat, die in einer Anhörung geäußerten Meinungen der Sachverständigen zusammenzuführen und zu einer einheitlichen Vorgehensweise zu kommen. Diese Regierung hört zu, das unterscheidet sie sicher von den Vorgängerregierungen. Wir nehmen gut gemeinte Vorschläge auf und arbeiten sie in unsere Vorlagen ein. ({11}) - Es waren mehr als zwei, Frau Lenke. Sie sind an anderer Stelle nicht in der Lage, überhaupt einen aufzunehmen. Insofern seien Sie froh, dass wir diese aufnehmen konnten. ({12}) Wir haben den Vorschlag des Juristinnenbundes aufgenommen. Das heißt, der Geschwisterbonus ist so formuliert worden, wie er vorgeschlagen wurde. Wird innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ein zweites Kind geboren, wird das Elterngeld um 10 Prozent, mindestens aber um 75 Euro erhöht. Das ist sicherlich nicht viel - diese Kritik wird geäußert -; aber es ist ein Zeichen, das uns allen und vor allen Dingen den Familien gut tut, die sich auch für ein zweites und drittes Kind entscheiden. Denn wir haben ja nicht nur das Problem der Kinderlosigkeit, sondern auch das Problem, dass uns die Mehrkinderfamilien fehlen. Dadurch haben wir keinen Ausgleich, der ansonsten vorhanden wäre. Wir haben also ein Zeichen gesetzt, sich für mehr Kinder auszusprechen. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke? ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer wieder gern.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Fischbach, Sie haben sicher genau wie ich viele Briefe von Studentinnen bekommen, die beklagen, dass die jetzigen Regelungen zum Elterngeld für sie sehr nachteilig sind. Sie bekommen nämlich nur ein Jahr und nicht zwei Jahre Elterngeld. Sie haben gerade gesagt, wir alle wollten, dass Frauen früher das erste Kind bekommen, damit dann auch ein zweites und ein drittes Kind komme. Ich bin der Meinung, dass es gerade Studentinnen durch finanzielle Hilfe ermöglicht werden sollte, ein Kind großziehen zu können. Wenn sie dann berufstätig sind, haben sie schon einen Ganztagskindergartenplatz für ihr Kind. Diese Möglichkeit haben Sie aber in dem vorliegenden Gesetzentwurf verschlechtert. Ich würde Sie gerne fragen: Warum haben Sie diese zum Beispiel für Studentinnen schlechtere Komponente gewählt? ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Lenke, natürlich kann man sagen: Ein Jahr ist viel zu wenig, damit verschlechtert sich die Situation. Gerne hätten wir zwei, drei, sechs oder auch zehn Jahre vorgesehen; da bin ich mit Ihnen vollkommen d’accord. ({0}) Verantwortungsvolle Politik heißt aber auch, die Rahmenbedingungen zu beachten. Da die Kassenlage ist, wie sie ist, muss man bestimmte Vorgaben berücksichtigen; das ist das eine. Das Zweite ist - da hoffe ich auf Ihre Unterstützung, darauf, dass Sie zum Beispiel der Fraktion der FDP in Nordrhein-Westfalen Hilfestellung geben; sie ist dort zusammen mit der Fraktion der CDU in der Regierungsverantwortung -, dass wir zum Beispiel auch Hochschulabsolventinnen und Studentinnen mehr Kinderbetreuungsangebote eröffnen müssen. Das ist etwas, das wir ganz schnell gemeinsam lösen könnten. Ich würde mich freuen, wenn wir beide gemeinsam einen solchen Vorstoß machen würden. Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen für junge Frauen, die sich im Studium befinden, verbessern. Das heißt ferner, Angebote für die qualitativ gute Betreuung der Kinder zu schaffen. Das machen wir zusammen als eine Initiative; darauf freue ich mich sehr. Das können wir ganz schnell umsetzen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Kressl?

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da die Uhr angehalten wird, jederzeit.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich konnte leider bei den Ausschussberatungen nicht dabei sein. Deshalb wollte ich nachfragen. Sie haben doch sicherlich im Ausschuss miteinander besprochen, dass es überhaupt nicht wahr ist, dass es eine besondere Benachteiligung von Studentinnen gibt, dass es im Gegenteil aufgrund der Geringverdienerregelung, wenn Studentinnen und Studenten - was sie ja sehr häufig tun - einen Job haben, sogar sein kann, dass sie im Vergleich zum bisherigen Erziehungsgeld besser gestellt werden? ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist sehr richtig; ich danke Ihnen für die Klarstellung. Wir müssen aber sagen, dass das für ein Jahr gilt. Insofern hat Frau Kollegin Lenke nicht ganz Unrecht. Aber es gibt hier eine deutliche Besserstellung im ersten Jahr und auch das darf man erwähnen. Ich danke Ihnen noch einmal für die Klarstellung. ({0}) Die Sachverständigen des Siebten Familienberichts haben sich natürlich auch zum Elterngeld geäußert. Sie haben festgestellt - ich möchte zitieren -: Ein einkommensabhängiges Elterngeld hat … die gleiche Bedeutung wie die … Fortbildung für den Beruf, denn es ist eine Freistellung von der Erwerbsarbeit zur Unterstützung der Entwicklung von Humankapital einer Wissensgesellschaft. Hier wird noch einmal ganz deutlich, welche besondere Verantwortung junge Paare übernehmen, wenn sie Kinder bekommen und sich der Erziehung ihrer Kinder widmen. Wir sollten gemeinsam alles tun, damit die Rahmenbedingungen für junge Eltern besser werden, als sie bisher gewesen sind. Das würde es ermöglichen, dass die Entscheidung für das Kind spontaner, schneller und normaler getroffen wird. Wir sind uns doch auch alle darüber im Klaren: Wenn wir, die wir jetzt Eltern sind, damals alle überlegt hätten, ob es der richtige Zeitpunkt ist, ein Kind zu bekommen, hätten wir viele Kinder nicht bekommen. Wir haben es damals als normal empfunden, Kinder zu bekommen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den wir in unseren Betrachtungen nicht außer Acht lassen dürfen. Wir brauchen eine kinder- und familienfreundlichere Gesellschaft. Sie können mir glauben: Wenn es dazu eine Gesetzesvorlage gäbe, hätten wir sie schon längst auf den Weg gebracht. Sie gibt es aber nicht. Beginnen muss das in unseren Köpfen. Ich kann nur dafür werben, dass wir unsere täglichen Handlungen daraufhin überprüfen, ob wir wirklich so kinderfreundlich sind, wie wir manchmal tun. Ich glaube, an der einen oder anderen Stelle täte uns ein wenig mehr Kinderfreundlichkeit gut. Das ist ein Zeichen, das die jungen Leute brauchen, das die Familien brauchen, um zu erkennen: Sie werden von uns, den Politikern, geachtet, respektiert und gefördert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich mit einem Zitat von Bischof Huber über die Bedeutung der Familie schließen: Heute geht es darum, die Bedeutung der Familie wie das Glück mit Kindern neu zu entdecken … Für beides ist neues Zutrauen nötig. Ein Zutrauen zur Leistungsfähigkeit unserer Familien. Und ein Zutrauen zu einem Leben mit Kindern. Wir von CDU/CSU haben dieses Zutrauen: Für unsere Familien, für unsere Kinder, für unsere Zukunft! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, an Ihrem Gesetzentwurf gefällt mir gut, dass Sie das Thema der Väter in den Blick genommen haben. Das Stichwort „Vätermonate“ hat mir die Hoffnung gegeben, dass die Bedeutung der Väter in der Diskussion stärker herausgestellt wird. Ich sage bewusst als alleinerziehende Mutter und Scheidungsanwältin: Väter finden in Deutschland zu wenig statt. ({0}) Dennoch bleiben - das muss ich insbesondere nach der Diskussion im Ausschuss feststellen - verfassungsrechtliche Bedenken. Deswegen wird die FDP-Fraktion diesen Gesetzentwurf ablehnen müssen. Die Vermischung von einkommensunabhängiger Sozialleistung, nämlich dem Mindestelterngeld in Höhe von 300 Euro, das allen Eltern in Anerkennung ihrer Erziehungsleistungen anrechnungsfrei gezahlt werden soll, und der gleichfalls aus Steuermitteln gewährten Einkommensersatzleistung, dem eigentlichen Elterngeld in Höhe von 67 Prozent des letzten über einen Zeitraum von zwölf Monaten erzielten Einkommens, fällt uns besonders ins Auge. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz ist die Grundlage für das Mindestelterngeld als einkommensunabhängige Sozialleistung nach Bedürftigkeit. Als Grundlage für die Gewährung als Einkommensersatzleistung reicht das nicht. Die verfassungsrechtlich saubere Lösung wäre eine beitragsfinanzierte Leistung, wie es sie in Schweden gibt. Einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot nach Art. 3 Grundgesetz hat der Bundesrechnungshof aufgezeigt. Wir nehmen das ernst. Die Bezieher von ALG I werden sehr wohl 300 Euro Mindestelterngeld erhalten, nicht jedoch die Berechtigten, die zuvor gearbeitet haben; sie erhalten lediglich 67 Prozent ihres bemessungserheblichen Einkommens als Entgeltersatzleistung. Insoweit sind diejenigen, die zuvor gearbeitet haben, unter Umständen schlechter gestellt als zuvor arbeitslose Bezieher von Elterngeld. Bezüglich des Leistungsbezuges werden also zuvor Arbeitslose völlig ungerechtfertigt besser gestellt als diejenigen, die bis zur Geburt des Kindes gearbeitet haben. ({1}) Selbstständige, die mehr als 30 Stunden arbeiten, werden nicht einmal das Mindestelterngeld erhalten. Das ist eine Entmutigung für erwerbstätige Frauen. ({2}) Nicht nachvollziehbar ist, warum Alleinerziehende, die vor der Geburt gearbeitet haben, zwei Partnermonate anerkannt bekommen sollen, erwerbslose Alleinerziehende dagegen nicht. Auch im Ausschuss erhielten wir auf diese Frage keine Antwort. Paare, die sich die Erwerbsarbeit und die Betreuungsarbeit parallel aufteilen, werden das Elterngeld nur für die verkürzte Bezugsdauer von sieben Monaten erhalten. Auch das ist für uns nicht nachvollziehbar. Hinweisen möchte ich auf die Benachteiligung von Ausländern. Dieses Thema wurde im Ausschuss noch schnell nachgeschoben. Frau Ministerin, Sie sind für Frauen zuständig. Ich glaube, dass diese Regelung gerade ausländische Frauen sehr einschränken wird. Es bleibt mir leider nicht mehr Redezeit. Deswegen komme ich zu meinem Resümee, zum Resümee der FDP-Fraktion: Frau Ministerin, Sie handeln nach dem Motto „Augen zu und durch!“. Dieses Gesetz wird Ihnen aber auf die Füße fallen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk, SPD-Fraktion. ({0})

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Lesung zum Elterngeld setzt die jetzige Koalition in der Familienpolitik den richtigen Weg, den die vorherige Regierung eingeschlagen hat, konsequent fort. Der Siebte Familienbericht macht deutlich: Das Elterngeld, das es beiden Elternteilen ermöglicht, eine berufliche Auszeit zu nehmen, ist der richtige Weg in eine Zukunft der verantwortlichen Gleichstellungs- und Familienpolitik. ({0}) Dabei ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf keineswegs nur ein Frauenthema. Junge Eltern haben heute den Anspruch, selbst zu entscheiden, wer von beiden wie lange zu Hause bleibt, um ohne finanzielle Engpässe für ein Kind zu sorgen. Dafür bietet das Elterngeld die notwendige Flexibilität. Im ersten Lebensjahr des Kindes erhält ein nicht voll erwerbstätiges Elternpaar die Option auf eine Lohnersatzleistung in Höhe von 67 Prozent des vormaligen Nettoeinkommens des betreuenden Elternteils. Mit mindestens 300 Euro - auch für zuvor nicht arbeitende Eltern - und maximal 1 800 Euro unterstützen wir junge Familien bei ihrer wichtigen Aufgabe der Kinderbetreuung in den ersten Monaten. Bei einer Mindestbeteiligung der Väter von zwei Monaten wird das Elterngeld 14 Monate lang gezahlt. Im Gegensatz zum Erziehungsgeld kombinieren wir nun eine höhere finanzielle Unterstützungsleistung mit einer kürzeren Laufzeit. Das entspricht den aktuellen Lebensumständen junger Eltern. Sie möchten ihren Lebensstandard nicht gefährden und haben beruflich kaum Aufstiegsmöglichkeiten, wenn sie für mehrere Jahre aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dem Anschein nach entscheiden sich heute viele junge Männer gegen die Gründung einer Familie. Ist diese Aufgabe wirklich eine Last? Ist es so viel weniger attraktiv, Kinder zu bekommen und zu erziehen, als dem Beruf absoluten Vorrang einzuräumen? Es muss einmal ganz deutlich gesagt werden: Kinder machen Spaß. Sie bereichern das Leben und sind eine schöne Herausforderung, für die es sich lohnt, zu kämpfen. ({1}) Als zweifacher Vater und zweifacher Großvater kann ich Ihnen das versichern. Eine Meinungsumfrage des Forschungsinstituts Ipsos unter Männern hat ergeben, dass sich 68 Prozent der befragten Männer durchaus vorstellen können, Elternzeit zu nehmen. Das zeigt deutlich: Väter wollen heute bewusst mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Die Realität zeigt leider, dass vielen, die heutzutage eine Auszeit vom Job für ihre Kinder nehmen, dies, insbesondere in Führungspositionen, als Nachteil in den Unternehmen ausgelegt wird. Dort setzen wir nun in einem ersten wichtigen Schritt mit dem Elterngeld an. Die Unternehmensvorstände würden gut daran tun, sich an unseren skandinavischen Nachbarländern zu orientieren. Am dortigen System wird deutlich, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktionieren kann. Laut einer DIW-Studie ist es für Männer außerordentlich wichtig, über ein stabiles Einkommen zu verfügen, ehe sie eine Familie gründen. Gerade für Väter ist die Höhe des Nettolohns entscheidend, um außerberufliches, familiäres Engagement attraktiv zu gestalten. Seit der Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes 2001, das bis zu 30 Wochenstunden Erwerbsarbeit während der Inanspruchnahme der Elternzeit zulässt, sind immerhin 5 Prozent der Personen in Elternzeit Männer. Diejenigen Elternpaare, die heute keine Elternzeit in Anspruch nehmen, begründen dies überwiegend mit finanziellen und beruflichen Nachteilen. Auch beim traditionellen Hausfrauenmodell, bei dem der Ehemann voll berufstätig ist und die Ehefrau keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, wäre eine Auszeit des Vaters untragbar. 60 Prozent der Personen in Elternzeit entscheiden sich heute noch für das traditionelle Modell: Der Vater ist in Vollzeit berufstätig, während die Mutter die Elternzeit in Anspruch nimmt und keiner Erwerbsarbeit nachgeht. Danach nimmt die Mutter ihre zuvor ausgeübte Tätigkeit - jedoch meist in Teilzeit - wieder auf. Die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen bewegen fast ausschließlich Frauen dazu, die Elternzeit zu beanspruchen. Nur wenn keine finanziellen Nachteile zu erwarten sind, werden auch Väter die Elternzeit vermehrt in Betracht ziehen. Insgesamt sind 50 Prozent der elternzeitberechtigten Haushalte der Meinung, dass das jetzige Erziehungsgeld nicht ausreicht, um den zu erwartenden Einkommensverlust auszugleichen. Wir sehen, weitere Wege in der Familienpolitik sind notwendig. Deshalb liegt es an uns, dafür zu sorgen, dass junge Männer ebenso wie ihre Altersgenossinnen dazu bereit sind, ein Stück Lebenszeit in ihre Familie zu investieren. ({2}) Dabei gilt es aber auch, mit unserem familienpolitisch eingeschlagenen Weg die Rahmenbedingungen für Familien in den Bereichen Infrastruktur, Betreuungsangebote und Hilfen für Eltern insgesamt fortzusetzen. Ein entscheidender Baustein, die beruflichen Unsicherheiten zu minimieren und so bei Vätern einen Anreiz für das Leben mit Kindern zu schaffen, wird das Elterngeld sein. Nach seiner Einführung haben Unternehmen keinen Grund mehr, automatisch davon auszugehen, dass die Frau mit Gründung einer Familie ihre vermeintlich vorbestimmte Rolle als Familienmanagerin einnimmt. Die Chancengleichheit im Beruf wäre damit ein weiteres Stück nach vorn gebracht. ({3}) Solange es allerdings Personalverantwortliche gibt, die junge Frauen bei der Arbeitsplatzvergabe benachteiligen, weil sie im gebärfähigen Alter sind, wird das Problem der Kinderlosigkeit in unserer Gesellschaft mit dem Elterngeld allein nicht gelöst. ({4}) Denn nur eine aufgeklärte und zukunftsorientierte Gesellschaft wird nicht mehr thematisieren, dass Frauen Rabenmütter sind, wenn sie arbeiten, sondern es als normal ansehen. ({5}) Fakt ist, dass bislang nur die Hälfte aller Mütter aus der Elternzeit in die Erwerbstätigkeit zurückkommen. Das sind zu wenig. Die Berufstätigkeit von Frauen gerade in Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels zu fördern, muss in unser aller Interesse sein. ({6}) Dazu gehört allerdings auch, wirtschaftspolitisch etwas zu unternehmen, um dem Trend von immer weniger festen Arbeitsplätzen hin zu immer mehr Patchworkbiografien Einhalt zu gebieten. Auch die deutsche Wirtschaft trägt Mitverantwortung für die künftigen Generationen in unserem Land. Praktika, befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeit oder - im schlimmsten Fall - Erwerbslosigkeit bieten zu wenig materielle Sicherheit, um Kinder großzuziehen. Arbeitsplatzsicherheit und die Perspektive, den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, werden dazu beitragen, dass sich Männer und Frauen eher für Kinder entscheiden. Eine nachhaltige Familienpolitik muss, wenn sie eine zukunftsorientierte Änderung der bestehenden Rollenverteilung anstrebt, umso mehr auch Geschlechterpolitik sein. Für unsere Gesellschaft ist es wertvoll und unerlässlich, dass auch berufstätige Karrierefrauen Kinder bekommen und ihnen ein Vorbild sein können. ({7}) Daher möchte ich betonen: Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um zu verdeutlichen, dass wir die Leistungen für Familien nicht auf das erste Jahr beschränken wollen, erinnere ich ausdrücklich an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, welches den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten vorsieht, und die steuerliche Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen. Selbstverständlich gibt es auch im Hinblick auf das Elterngeld noch Verbesserungsvorschläge. Für uns Sozialdemokraten sind nicht alle Entscheidungen zufriedenstellend, aber wir haben einen Kompromiss ausgehandelt, mit dem wir unsere erfolgreiche Familienpolitik der letzten Wahlperiode fortsetzen. Für die Bezieher des ALG II bzw. der Grundsicherung haben wir eine Regelung realisiert, die vorsieht, dass für die Dauer von zwölf Monaten ein Elterngeld in Höhe von 300 Euro gezahlt wird. Diese Ergänzung des Elterngeldes um ein Leistungselement für Eltern mit geringem Einkommen ist wichtig, um allen Erziehenden eine Mindestleistung zu garantieren. Mit dem Elterngeld treffen wir die richtige Entscheidung für die Zukunft. Mit der Förderung der Elternzeit für beide Erziehungsberechtigten legen wir den Grundstein für einen Wandel vom nicht mehr zeitgemäßen Hausfrauenmodell hin zu einer emanzipierten und geschlechtergerechten Gesellschaft. Mit dem Elterngeld sind wir auf dem richtigen Weg. Wir in der Koalition reden nicht nur über bessere Familienpolitik, sondern wir packen sie auch kreativ und konstruktiv an. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/ Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischbach, Sie haben der Ministerin gerade gratuliert, dass sie das Elterngeld durchgesetzt hat. Dazu sage ich von meiner Seite - hier haben Sie Recht -: Das tue auch ich. Aber die Frage ist doch nicht, warum sich die Ministerin durchgesetzt hat, sondern warum Sie ihr mit all dem, was Sie gesagt haben - die Stichworte lauten: Wickelvolontariat, Bevormundungen und Ähnliches -, so viele Steine in den Weg gelegt haben. Sie hätten ihr diese Steine erst gar nicht in den Weg legen sollen. Dann hätte sie es womöglich viel leichter gehabt und dann hätten Sie ihr auch nicht auf diese Weise gratulieren müssen. ({0}) Herr Kucharczyk, Sie haben Recht: Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit. Wir wissen nicht, wie sich das Elterngeld auswirken wird. An einem Punkt bin ich allerdings etwas optimistisch: Ich erhoffe mir sehr, dass sich zumindest bei den Vätern etwas tun wird. Denn junge Väter wollen mehr partnerschaftliches Miteinander. Die Rahmenbedingungen und der dazu nötige finanzielle Spielraum werden nun endlich geschaffen. Man kann die jungen Väter nur noch auffordern: Ergreift diese Chance! Allerdings haben sie jetzt auch eine Ausrede weniger, wenn es nach wie vor so sein sollte, dass ihre Frauen die Erziehungsarbeit allein bewältigen und das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allein lösen müssen. ({1}) Hier ist auch die Initiative der Väter gefragt. ({2}) Nun komme ich zu meinen Kritikpunkten: Noch gestern habe ich eine Pressemeldung der CDU gelesen, in der sie die ursprüngliche Fassung der Regelung der Partnermonate als staatliche Bevormundung betitelt hat. ({3}) Den qualitativen Unterschied zwischen der Formel „10 plus 2“ und der Formel „12 plus 2“ konnte mir bisher niemand erklären. ({4}) Das liegt daran, dass es keinen gibt. Daher werden auch Sie einen solchen Unterschied hier nicht darstellen können. Entweder sind beide Modelle eine staatliche Bevormundung oder keines der beiden Modelle ist eine staatliche Bevormundung. Werden Sie sich endlich einmal einig, was Sie eigentlich wollen! ({5}) Von Ihrer Seite wurde gesagt, Studierende würden nicht schlechter gestellt. Das ist aber die Unwahrheit. Das stimmt nicht. Für ein Paar, das sich für das Hausfrauenmodell entscheidet, gilt das Modell „12 plus 2“. Ein Paar, das sich entscheidet, während der Elternzeit zu studieren, erhält das Elterngeld aber nur zwölf Monate lang. ({6}) - Doch, genau das machen Sie. Wenn Studierende nur zwölf Monate Elterngeld bekommen und alle anderen 14, gibt es eine Ungleichheit. Das gilt erst recht für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger: Auch diesen werden nur zwölf Monate Elterngeld gewährt. Diese soziale Ungleichheit können Sie eigentlich nicht verteidigen. ({7}) Geschwisterbonus. Sie sagen, Sie hätten den Zeitraum, um in den Genuss des so genannten Geschwisterbonus zu kommen, auf 36 Monate verlängert. Schauen Sie einmal genau nach, was Sie eigentlich gemacht haben: Sie haben nicht die Geschwisterbonusregelung geändert, sondern Sie haben deutlich mehr Anreize für die Erwerbstätigkeit von Frauen nach der Geburt des ersten Kindes gesetzt, ({8}) indem Sie die Bemessungsgrundlage verändert haben. Ich finde es gut, dass Sie das gemacht haben; ({9}) denn damit fördern Sie nicht das Zuhausebleiben, sondern die Erwerbstätigkeit. ({10}) Aber stehen Sie endlich dazu! Ihre Ministerin tut das auch; das ist gut so. Warum verstecken Sie sich hinter Floskeln, warum sagen Sie nicht einfach, was Sie machen? Das wäre eine ehrliche Politik. Mein letztes Argument: Ich weiß, Sie möchten das R-Wort nicht hören. Gemeint ist der Rechtsanspruch. Kinderbetreuung ist für Sie ein unbeherrschbares Naturereignis. Sie verstecken sich hinter den Kommunen und den Ländern, wenn Sie darauf verweisen, dass der Bund nichts tun könne. ({11}) Ich kann nur eins sagen: Für einen Rechtsanspruch ist der Bund zuständig. Wir auf Bundesebene können den Rechtsanspruch einführen. ({12}) Wir müssen ihn einführen. Solange wir das nicht tun, wird sich auf dem Markt wenig tun. Das Tagesbetreuungsausbaugesetz war gut. Aber es muss mehr Betreuungseinrichtungen geben. Sonst wird Ihr Elterngeld ins Leere laufen und nur zu Mitnahmeeffekten führen - und zwar der Besserverdienenden. Das kann ja wohl nicht Ziel der Familienpolitik sein! ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einige tun hier so, als werde mit dem Elterngeld, das wir am heutigen Tag verabschieden wollen, ein Sorgenkind den politischen Lebensweg beginnen. Das Gegenteil ist der Fall: Für die meisten Eltern ist das Elterngeld ein Wunschkind, auf das sie sehnlich warten. ({0}) Die Kinderstube ist gut ausgestattet, für die Erziehung wird gesorgt - das Elterngeld wird eine gute Zukunft haben. Bis zu 1 800 Euro im Monat plus Kindergeld beträgt die höchstmögliche Transferleistung. 300 Euro als Mindestelterngeld, ohne großen bürokratischen Aufwand, plus - beim ersten Kind - 154 Euro Kindergeld macht 454 Euro für jedermann, für jederfrau, für jedes Elternpaar. Das ist doch kein Pappenstiel! Ich verstehe nicht, wie man hier krampfhaft versuchen kann, das Elterngeld kleinzureden, es madig zu machen. Freuen wir uns doch, dass wir gemeinsam einen Schritt nach vorne gemacht haben! ({1}) Für uns ist wichtig, dass die unterschiedlichen Lebensmodelle berücksichtigt werden, das heißt, auch die klassische Familie zu ihrem Recht kommt. Deshalb war für uns auch entscheidend, ein Mindestelterngeld vorzusehen. Selbstverständlich ist es ein Vorteil, wenn für die Vätermonate statt der Regel „12 minus 2“ - das heißt zehn Monate, wenn der Vater nicht aussetzt - „12 plus 2“ gilt, was bedeutet, dass zwei Bonusmonate hinzukommen, wenn der Vater aussetzt. Wer nicht erkennt, dass dies ein erheblicher Vorteil ist, sollte einmal die Grundrechenarten durchgehen! Wir sind froh, dass wir die Elternmonate bzw. Vätermonate durchgesetzt haben. Das ist eine Verbesserung. ({2}) Ebenso wichtig war uns die Einführung einer Geringverdienerkomponente, das heißt, dass Menschen mit wenig Einkommen nicht mit Arbeitslosengeld-II-Empfängern gleichgesetzt werden und dass für Familien, in denen der betreuende Elternteil vor der Geburt des Kindes weniger als 1 000 Euro netto verdient hat, das Elterngeld von 67 auf 100 Prozent des Nettoeinkommens angehoben werden kann. Das ist auch wichtig für die Gruppen, über die wir gerade gesprochen haben, weil das im Einzelfall eine Besserstellung bedeutet. ({3}) Auch an die Kolleginnen und Kollegen von der FDP gerichtet, sage ich: Dahinter verbirgt sich ein Grundsatz, den auch Sie, so denke ich, alle unterschreiben können: Arbeit muss sich immer lohnen - auch beim Elterngeld. ({4}) Kinderreichtum darf nicht materielle Armut bedeuten. Deshalb war es für uns wichtig, einen Geschwisterbonus einzuführen. Ursprünglich waren 24 Monate im Gesetzentwurf vorgesehen. Auch das war schon ein Fortschritt. Nun ist es uns mit der Ausdehnung auf 36 Monate gelungen, eine größere Wahlfreiheit zu garantieren. Das heißt, niemand wird bei der Familienplanung unter Druck gesetzt. Ich glaube, dass das ein wichtiger Schritt ist, um die Familien mit mehr Kindern, die in dieser Debatte immer wieder beschworen worden sind, ein Stück weit voranzubringen. Darüber bin ich froh. ({5}) Schließlich ist noch ein weiterer Punkt von Bedeutung: Das Elterngeld wird attraktiv sein. Die Menschen warten darauf. Wir wollen aber auch, dass dadurch nicht falsche Anreize für die Immigration ausgelöst werden. Deshalb war es uns wichtig, dass Nichtdeutsche, die sich nur vorübergehend in unserem Land aufhalten, eben kein Elterngeld erhalten können. Das ist auch gerechtfertigt; denn ein Spezialitätenkoch beispielsweise, der sich nur für einige Zeit hier in Deutschland aufhält, hat einen anderen Status als jemand, der dauerhaft in Deutschland lebt. Wir freuen uns, dass die Wirtschaft dieses Elterngeld gut angenommen hat. In einer kürzlich durchgeführten Befragung wurde festgestellt, dass sich eine große Mehrheit von 72 Prozent mitverantwortlich dafür sieht, den Beschäftigten die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Das ist ein erheblicher Fortschritt. Viele der befragten Arbeitgeber zeigen sich jetzt auch für konkrete Maßnahmen offen, durch die insbesondere der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben erleichtert wird. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass wir uns mit dem Elterngeld nicht begnügen wollen. Das ist ein erster wichtiger Schritt. In dem Siebten Familienbericht, um den es in dieser Debatte auch geht - die Ministerin hat das zu Recht angesprochen -, wird festgestellt, dass die Situation der Familien nach wie vor alles andere als befriedigend ist, was insbesondere der Blick auf die Geburtenzahlen zeigt, und dass der Maßnahmenkatalog, in dem die vielen Leistungen an die Familien stehen, alles andere als transparent und übersichtlich ist. ({6}) Deshalb begrüße ich es, dass die 145 Familienleistungen auf den Prüfstand gestellt werden, dass wir sie bewerten und dann versuchen - das werden wir nicht nur versuchen, sondern auch schaffen -, einige breite Schneisen für eine übersichtliche Familienförderung zu schlagen. ({7}) Die durch den reduzierten Bürokratieaufwand eingesparten Mittel wollen wir für die Familien reservieren und ausgeben. Ich denke, dass dem alle hier zustimmen können. ({8}) Das gilt auch für die so genannte demografische Rendite. Immer häufiger ist zu hören, man könne hier und dort etwas einsparen. Das betrifft alle Körperschaften. Durch den Geburtenrückgang ist in der Tat für viele - auch für die Kommunen - eine neue Situation entstanden. Es gibt immer weniger Kinder. Deshalb werden auch weniger Aufwendungen notwendig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber sehr gerne. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Grübel, Herr Singhammer und ich haben ein gutes kollegiales Verhältnis. Das mag zwischen Ihnen und mir ja anders sein. ({0}) Herr Singhammer, ich habe eine wirklich ernsthafte Frage. Wir alle wollen, dass die 145 Familienleistungen zusammengeführt und geprüft werden. Wir müssen uns fragen, welche notwendig sind und welche erhöht oder gestrichen werden müssen. Meine Frage lautet: Warum ist das nicht im ersten Schritt geschehen? Bezogen auf dieses Ergebnis hätte dann ein neuartiges Elterngeld entstehen können. Warum kommt der zweite Schritt vor dem ersten?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Lenke, das Vorhaben, die 145 Familienleistungen zu bewerten, zu prüfen und neu zu ordnen, ist eine geradezu titanenhafte Aufgabe. Damit werden nämlich 50 Jahre Familienpolitik in Deutschland neu bewertet und erarbeitet. Das kann nicht in ein paar Wochen geschehen. Uns war wichtig, dass das Elterngeld, das wir versprochen haben, rasch und unverzüglich auf den Weg gebracht wird. Schneller als bis zum 1. Januar kommenden Jahres war das nicht möglich. Wir sind froh, dass wir das geschafft haben. Ich versichere Ihnen: Wir werden die Neuordnung der Familienleistungen zügig angehen und erfolgreich sein. ({0}) Lassen Sie mich kurz meinen Gedanken zu Ende bringen. Der Geburtenrückgang wird in vielen Bereichen des Finanzwesens zu Einsparungen führen. Diese Einsparungen dürfen aber nicht zur Konsolidierung der Haushalte verwandt werden. Wir brauchen hier zumindest eine Aufrechterhaltung des Status quo in allen Bereichen der öffentlichen Haushalte, sodass Leistungen im Sinne von Kinder- und Familiengerechtigkeit auf dem bisherigen Niveau bleiben. Jeder durch Geburtenrückgang eingesparte Euro soll und sollte für Familien verwandt werden; das ist ganz wichtig. Die finanzielle Gerechtigkeit wird weiterhin eine große Rolle spielen. Das ist aber nicht der einzige Punkt. Wichtig ist auch ein Umdenken in den Köpfen in unserem Land. Familien und Kinder gehören in unsere Gesellschaft. Mit dem Elterngeld haben wir nicht nur die langjährige Forderung erfüllt, ein finanzielles Ausgleichssystem zu schaffen und so die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, sondern wir haben auch dazu beigetragen, dass Familien und Kinder bei uns einen ganz hohen Stellenwert haben. Diesen werden wir weiter ausbauen. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPDFraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Entgegen dem, was in der Medienlandschaft nachzulesen ist, hat sich Rot-Schwarz am heutigen Tag geeinigt. ({0}) Wir verabschieden heute das Gesetz zur Einführung des Elterngeldes. Wir haben es geschafft - das sage ich nicht ohne Stolz; darauf hat auch Frau Fischbach hingewiesen -, uns trotz verschiedener Familienbilder zu verständigen. Ab dem 1. Januar 2007 profitieren 365 000 Familien von der Einführung des Elterngeldes, und zwar stärker als von dem jetzigen Erziehungsgeld. Das ist ein wesentlicher Erfolg dieser Koalition. ({1}) Ich bedanke mich herzlich bei der Frau Ministerin dafür - das haben wir schon gehört -, dass das so schnell geklappt hat. Ich danke auch herzlich Renate Schmidt hier im Plenum, die die Voraussetzungen zur Einführung dieses Elterngeld geschaffen hat. ({2}) Wir haben eine gemeinsame Antwort auf die Frage von jungen Männern und Frauen gefunden, wie sie in Zukunft Familienarbeit und Beruf untereinander besser aufteilen können. Eine Umfrage in dieser Woche hat gezeigt, dass in der Tat 68 Prozent der Männer - Herr Kucharczyk hat das schon erwähnt - bereit sind, Elternzeit zu nehmen. Ich sage an dieser Stelle: Ich wäre froh, wenn nur die Hälfte der Männer dies tatsächlich machen würde; denn das wäre eine Steigerung von heute 5 Prozent auf 34 Prozent in der Zukunft. Das heißt, etwa 700 Prozent mehr Männer als heute würden Elternzeit nehmen. Das würde ich sehr begrüßen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in der Vergangenheit - das war auch in der Ausschussdebatte so - habe ich immer geglaubt, das Aufbrechen bestehender Rollenbilder sei auch Ihr Thema. ({4}) - Natürlich? Jetzt stellen Sie sich allerdings hier hin und lehnen unseren Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeldes mit dem alleinigen Argument ab, es sei verfassungswidrig. ({5}) Solche Argumente kommen eigentlich immer nur dann, wenn man selber kein Konzept hat. ({6}) Das lässt vermuten, dass Sie kein schlüssiges familienpolitisches Konzept vorlegen können. Sie geben den jungen Männern und Frauen keine Antwort auf ihre Fragen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Laurischk?

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Humme, wir haben ausgeführt, dass in dem Gesetzentwurf eine Vielzahl von Ungereimtheiten besteht und dass Ungleichbehandlungen vorgesehen sind, die sicherlich auch verfassungsrechtlich relevant sind. Nehmen Sie zur Kenntnis und wie stehen Sie dazu, dass die von mir angeführten Ungleichbehandlungen sicherlich auch zu einer Vielzahl sozialgerichtlicher Verfahren führen werden? Nach meiner Einschätzung wird eine Vielzahl von Betroffenen zur Klärung der Berechnungsgrundlage für das Elterngeld den Klageweg beschreiten müssen. Das wird die Verschärfung der Lage an den Sozialgerichten und eine stärkere finanzielle Belastung der Justizhaushalte zur Folge haben.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich Ihren Entschließungsantrag richtig verstanden habe, begründen Sie Ihre Forderungen unter anderem - ({0}) - Ich kann nicht alles zitieren; dann bräuchte ich drei Stunden. Ich will nur Ihr Argument der verfassungsrechtlichen Bedenken aufgreifen. Sie meinen, dass eine steuerfinanzierte einkommensabhängige Leistung eine verfassungsrechtlich unzulässige Ungleichbehandlung ist. Wir haben aber mit der Arbeitslosenhilfe jahrelang steuerfinanzierte und einkommensorientierte Leistungen gewährt. ({1}) Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand dagegen verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht hat. ({2}) - Doch, das war die Antwort auf Ihre Frage. Oberstes Ziel des Elterngeldes - das wurde heute schon mehrfach gesagt - ist die Geschlechtergerechtigkeit. Im Laufe der Debatte ist aber auch immer wieder die Frage der sozialen Gerechtigkeit angesprochen worden. Ich meine, beides hängt eng miteinander zusammen. Es lohnt sich vielleicht, das Elterngeld auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Dabei stellt sich zunächst die Frage, an wen sich das Elterngeld vor allem richtet. Ich glaube, es ist heute noch nicht richtig deutlich geworden, wen wir damit erreichen wollen. Es geht um Männer und Frauen um die 30 - über 95 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe sind berufstätig -, die sich für eine Familie entscheiden wollen. Diesen Menschen möchten wir mit unserem Elterngeld die Entscheidung für Familie und Beruf erleichtern. Wir wissen, dass die berufstätigen Frauen in dieser Altersgruppe keine Reichtümer verdienen. Sie verdienen im Durchschnitt 1 200 Euro. Wir fördern also nicht die Reichen und es geht uns auch nicht um eine Umschichtung. Im Gegenteil: Wir wissen schließlich, dass bei der Gründung einer Familie das größte Risiko von den Frauen getragen wird. Wenn Frauen zu Hause bleiben und ein Einkommen wegfällt, ist es deshalb richtig, 67 Prozent dieses Einkommens zu ersetzen, um den Lebensstandard der Familien zu sichern. Ein besonderes Risiko tragen Geringverdiener - auch das wurde bereits angesprochen -, darunter viele Alleinerziehende und Familien mit zwei und mehr Kindern. Auch darauf geben wir eine Antwort. Frauen mit kleinem Einkommen wird das Einkommen bis zu 100 Prozent ersetzt. Familien mit mehreren kleinen Kindern erhalten einen gesonderten Bonus. Ich denke, das ist sozial gerecht. ({3}) Ein weiteres Risiko ergibt sich aus der längeren Berufspause. Die Frauen haben oft Schwierigkeiten, anschließend wieder eine Beschäftigung aufzunehmen. Sie haben berufliche Nachteile und ihnen fehlt eine eigenständige Absicherung im Alter. Darum ist es sozial gerecht, das Elterngeld grundsätzlich nur für ein Jahr zu zahlen und anschließend die Aufnahme der Beschäftigung zu erleichtern. Ich bin der Meinung, dass teure - leider oft wirkungslose; das muss man kritisch feststellen - Wiedereinsteigerprogramme nach einer langen Familienphase der Vergangenheit angehören sollten. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Wir haben uns bewusst entschieden, auch den Arbeitslosengeldempfängern zwölf Monate lang 300 Euro Elterngeld zu zahlen, obwohl wir dafür sehr kritisiert wurden. Den Linken ist das zu wenig - sie haben offenbar viel Geld in der Haushaltskasse ({4}) - ja, das hat Herr Wunderlich gesagt; ich komme gleich auf den Bundesrechnungshof zu sprechen -, sie wollen zwei Jahre Elterngeld für Arbeitslose. Die FDP schließt sich dem Bundesrechnungshof an. Sie hätten lesen sollen, was der Bundesrechnungshof dazu festgestellt hat, Herr Wunderlich. Er empfiehlt nämlich, Arbeitslosen kein Elterngeld zu zahlen. So ist das hier im Parlament ganz links und rechts. ({5}) - Ganz rechts wäre falsch. Es geht um die Sitzordnung. Wir halten sowohl das eine als auch das andere für ungerecht. Wir wollen die Schwächsten in unserer Gesellschaft, die Arbeitslosen, mitnehmen und dafür sorgen, dass auch sie vom Elterngeld profitieren. Deshalb haben wir uns für diese Lösung entschieden. Sie ist sozial gerecht. ({6}) Herr Kucharczyk hat Recht: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darf zukünftig nicht allein Angelegenheit der Frauen sein. Wenn sich mehr Männer an der Familienarbeit beteiligen - ich hoffe, dass das Elterngeld dazu führen wird -, dann ergeben sich auch Veränderungen in den Betrieben. Frauen werden mehr Chancen haben, wenn es um Bewerbung und Beförderung geht. Männer trauen sich eher, in die Elternzeit zu gehen, weil auch sie einen Anspruch auf Elterngeld haben. Wir kommen dann der tatsächlichen Gleichstellung sehr viel näher. Wir ersetzen heute das Erziehungsgeld durch das Elterngeld und erreichen damit mehr Geschlechtergerechtigkeit und gleichzeitig - davon bin ich überzeugt - mehr soziale Gerechtigkeit. ({7}) Aber wir alle sind uns im Parlament einig - ich glaube, das muss ich nicht mehr betonen -, dass neben der Einführung eines Elterngelds unbedingt die Betreuungssituation verbessert werden muss. Frau Ministerin, der von Ihnen angesprochene Siebte Familienbericht enthält viele Vorschläge, die deutlich machen, was in Zukunft eine nachhaltige Familienpolitik ausmacht. Zwei Leitlinien stehen dabei im Vordergrund: zum einen gleiche Chancen für die Geschlechter und zum anderen gute Entwicklungschancen aller Kinder. Das alles erfordert eine wirksame finanzielle Förderung, mehr Zeit und eine bessere Infrastruktur. Frau Lenke, Sie haben gesagt, wir hätten nichts mehr gemacht. Aber Sie, die Sie genauso wie ich schon seit 1998 Mitglied dieses Parlaments sind, wissen ganz genau, dass wir den Perspektivwechsel, der im Siebten Familienbericht gefordert wird, mit dem Ganztagsschulprogramm von 2003 und dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2005 längst eingeleitet haben. Diesen Prozess setzen wir heute mit dem Elterngeld und in Zukunft - wenn das Angebot an Betreuungsplätzen in den Kommunen nicht ausgebaut wird - mit einem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige fort; darauf haben wir uns in der Koalition festgelegt. ({8}) Wir müssen zudem mehr für Bildung und Betreuung tun. Dafür stellen wir - wie im Familienbericht gefordert - alle steuerlichen Maßnahmen auf den Prüfstand, damit wir mehr in Betreuung und Erziehung investieren können. Ich bin gespannt, welche familienpolitischen Konsequenzen wir gemeinsam aus dem Siebten Familienbericht ziehen. Schönen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Frau Staatsministerin Müller - sie ist leider schon gegangen; aber gerade war sie noch da - für die Zukunft - sie geht für ein Jahr in den Erziehungsurlaub ({0}) - Entschuldigung, Elternurlaub ({1}) alles Gute wünschen. ({2}) Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes auf Drucksache 16/1889. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2785, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. ({3}) Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2809? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2810? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/ CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/2785 fort. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung des Elterngeldes auf Drucksache 16/2454 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1168 mit dem Titel „Flexible Konzepte für die Familie - Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung zukunftsfähig machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1877 mit dem Titel „Elterngeld sozial gestalten“. Wer stimmt für diese Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 29 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1360 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Riegert, Annette Widmann-Mauz, Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dagmar Freitag, Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sport und Bewegung in Deutschland umfassend fördern - Bewusstsein für gesunde Lebensweise stärken - Drucksache 16/1648 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. ({5})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Das Jahr 2006 hat meines Erachtens beispiellos gezeigt: Sport tut Deutschland gut und den Deutschen tut Sport gut. Ob bei der Fußballweltmeisterschaft im Juni/Juli, ob bei den Weltreiterspielen in Aachen oder während der Hockeyweltmeisterschaft in Mönchengladbach, überall waren die Faszination und die Euphorie in Deutschland gigantisch. ({0}) Das bisherige Jahr hat gezeigt: Sport trägt enorm zur Verstärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls bei. Sport hat eine enorme gesellschaftspolitische Bedeutung. Sport ist in Deutschland die größte Volksbewegung, die es gibt. Das Sprichwort, dass Sport die schönste Nebensache der Welt sei, hat sich in diesem Jahr in herausragender Weise bewahrheitet. ({1}) In Deutschland treiben insgesamt 27 Millionen Menschen in über 90 000 Vereinen aktiv Sport. 2,5 Millionen Freizeitsportler engagieren sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich, sei es als Betreuer, sei es als Trainer. 11 Prozent aller ehrenamtlich Tätigen in Deutschland sind allein im Sportbereich tätig. Somit gibt es keinen anderen Bereich, in dem sich so viele Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich engagieren wie im Bereich des Sports. Wer sich bewegt, bleibt fit, sowohl körperlich als auch geistig. Schon die Römer sagten: Mens sana in corpore sano. Ich glaube, diese Weisheit hat nach wie vor Gültigkeit. Deswegen ist es meines Erachtens eine gesellschaftspolitische Aufgabe, dazu beizutragen, dass man sich gesund und ausgewogen ernährt und eine gesunde Lebensweise an den Tag legt. ({2}) Wie verschiedene Studien in der jüngsten Zeit leider Gottes offenbart haben, gibt es durchaus auch Defizite, insbesondere im Schulbereich. Gerade die jüngste Sprint-Studie zum Sportunterricht, die die Länder in Auftrag gegeben haben, offenbart, dass bedauerlicherweise jedes sechste bis siebte Kind an den deutschen Schulen übergewichtig ist und dass die Schülerinnen und Schüler in Deutschland am Tag durchschnittlich sage und schreibe dreieinhalb Stunden vor dem Fernseher bzw. vor dem Computer verbringen. ({3}) Die Schäden und die Auswirkungen sind allgegenwärtig, seien es Haltungsschäden, Rückenleiden oder Essstörungen - jedes fünfte Kind in Deutschland leidet unter Essstörungen -, seien es mangelnde Konzentrationsfähigkeit, abnehmende Lernbereitschaft, Herz- und Kreislauferkrankungen oder die schon eben erwähnte Fettleibigkeit. Es muss uns alle erschrecken, dass 43 Prozent aller 4- bis 17-Jährigen bei einer einfachen Rumpfbeuge nicht bis zur Fußsohle kommen. Ich kann Sie nur dazu animieren, dies einmal zu versuchen. ({4}) Ich hoffe, dass die Prozentzahl in diesem Haus niedriger ist. 86 Prozent aller Kinder zwischen vier und 17 können nicht einmal eine Minute lang auf einem Bein stehen und 35 Prozent aller untersuchten Jugendlichen konnten nicht einmal mindestens zwei Schritte rückwärts balancieren. ({5}) Dies sind meiner Meinung nach Auswirkungen, die besorgniserregend sind. Sie sind ein ganz klares Signal dahin gehend, dass alle gesellschaftlichen Ebenen, nicht nur die Bundesebene und auch nicht nur alle politischen Ebenen, aufgefordert sind, hier entsprechend gegenzusteuern. ({6}) Stephan Mayer ({7}) Ich halte es für besorgniserregend, dass die Anzahl der Sportstunden immer mehr zurückgeht. Ich führe viele Gespräche mit mittelständischen Unternehmen. Dadurch habe ich viele Appelle vernommen, die Lehrpläne zu straffen, um für vermeintlich wichtigere Unterrichtsfächer mehr Schulstunden zur Verfügung zu stellen. Ich bitte aber, bei dieser Gelegenheit nicht außer Acht zu lassen, dass viele Jugendliche außerhalb der Schule keine Gelegenheit wahrnehmen, Sport zu treiben. Deswegen ist es meines Erachtens wichtig, dass Sportunterricht zumindest zwei oder drei Stunden in der Woche angeboten wird. Dieses Fach ist - das bitte ich mit zu bedenken - für Schüler mit schwächeren Schulleistungen durchaus eine Möglichkeit, sich zu profilieren und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. ({8}) Das kann positive Auswirkungen auf die Leistungen und auf die Erfolge in anderen Schulfächern haben. Wir müssen in Zukunft mit Sicherheit schon früher anfangen, Kinder und Jugendliche an den Sport heranzuführen. Man darf den gesamten Bereich der Kindergärten hier nicht ausklammern. Ein ganz wichtiger Punkt ist mit Sicherheit, dass die Infrastruktur im Sportbereich deutschlandweit verbessert wird. Früher gab es in der Nähe eines jeden einen Spielplatz. Dies ist heute leider Gottes nicht mehr so. Es ist ganz entscheidend, dass alle politischen Ebenen etwas dafür tun, dass wir in Deutschland eine ausgewogene und angemessene Sportstättenlandschaft haben. Bei dieser Gelegenheit bitte ich, immer zu bedenken, dass wir - natürlich auch aufgrund der veränderten Familienverhältnisse und der veränderten Schullandschaft verstärkt das Bedürfnis haben, nach 20 Uhr Sport zu treiben. Wir sollten uns an dieser Stelle vielleicht einmal Gedanken machen, ob es sinnvoll ist, die Bundes-Immissionsschutzverordnung so zu ändern, dass strengere Immissionsschutzwerte nicht schon ab 20 Uhr, sondern erst ab 22 Uhr gelten. ({9}) Ein sehr wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang, dass Sportvereine und Schulen in Zukunft stärker zusammenarbeiten. Es gibt in Bayern ganz positive Erfahrungen mit dem Programm „Sport nach 1“. Dieses Programm sieht vor, dass die Sportvereine nach Schulschluss in die Schulen kommen und Sportmöglichkeiten anbieten; die Teilnahme geschieht natürlich auf freiwilliger Basis. Im Angebot sind unter anderem Sportarten, die in der Schule in der Regel nicht betrieben werden. Ich glaube, dieser Ansatz sollte in Zukunft noch stärker verfolgt werden. Ein Bereich, der bei der Förderung der Bewegung und des Sports in Deutschland keinesfalls außer Acht gelassen werden darf, ist der Gesundheitssektor. Es ist erschreckend, dass die jüngste Studie des Robert-Koch-Instituts ergeben hat, dass insgesamt 50 Prozent aller Frauen und 67 Prozent aller Männer übergewichtig sind. Es ist allenthalben bekannt: Die Zivilisationskrankheiten, die Gesellschaftskrankheiten, etwa Herzinfarkt, Schlaganfall, stressbedingte oder chronische Krankheiten, nehmen zu. Die Krankenkassen schlagen überall Alarm. Es wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren durch die zunehmende Fettleibigkeit und die verstärkte Bewegungsarmut eine Kostenexplosion erwartet. Deshalb ist es meines Erachtens wichtig, dass die Bonusprogramme, die viele gesetzliche Krankenkassen schon anbieten, auch im Zuge der Gesundheitsreform überleben und weiterhin angeboten werden können. Prophylaxe und Prävention sind allemal wesentlich günstiger als spätere Behandlung oder Rehabilitation. Es gibt auch hierzu ganz positive Aspekte im Bereich der Sportvereine. Über 7 000 Sportvereine in Deutschland bieten insgesamt über 14 000 gesundheitsbezogene und gesundheitsfördernde Maßnahmen für 5 bis 6 Millionen Bürgerinnen und Bürger an. Ich bitte darum, auch darauf zu achten, dass diese wichtigen Programme, die die Sportvereine in Deutschland auf ehrenamtlicher Basis und finanziell günstig anbieten, ({10}) zukünftigen gesetzgeberischen Maßnahmen, etwa einem möglichen Präventionsgesetz, nicht zum Opfer fallen. ({11}) Abschließend möchte ich sagen: Es sollte unser aller Petitum sein, ob auf der Bundes-, auf der Landes- oder auf der kommunalen Ebene: Wir sollten nicht am Sport sparen, sondern mit dem Sport sparen. Ich möchte dies gerade nicht mit dem Appell verbinden, dabei immer neue Gesetze zu schaffen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen; sonst wird es zu anstrengend.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gerne zum Ende und zitiere nur noch ein oberstes Verfassungsorgan, nämlich den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Er hat vor kurzem gesagt: Der Gesetzgeber muss sich wieder mehr auf die Grundlagen der freiheitlichen Verfassungsordnung besinnen. Er sollte Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Bürger stärken, anstatt sich um alle gesellschaftlichen Felder bis zur letzten Facette selbst kümmern zu wollen. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Fraktion. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stephan Mayer hat zu Recht Hans-Jürgen Papier zitiert. Wir sind hier sehr nahe beieinander. Ich kann das nur unterstreichen. - Zum Präventionsgesetz werde ich nachher noch etwas sagen. Am 18. Januar hat die FDP-Fraktion den Antrag „Sprint-Studie des Deutschen Sportbundes darf nicht folgenlos bleiben - Jetzt bundesweite Wende im Schulsport einleiten“ vorgelegt, der am 16. Februar in diesem Haus debattiert wurde. ({0}) Sieben Monate später machen CDU/CSU und SPD ihre damalige Ankündigung wahr, einen Koalitionsantrag einzubringen, der - ich darf hierzu meinen geschätzten Kollegen Klaus Riegert aus jener Debatte zitieren „die gesellschaftspolitischen und die sportpolitischen Aspekte des Sports einschließlich des Schulsports und anderer Elemente umfasst“. Das ist eine ganz schön lange Zeit, um sich über die umfassende Förderung von Sport und Bewegung in Deutschland zu einigen. ({1}) Das ist ein weiteres Beispiel für langwierige Abstimmungsprobleme einer großen Koalition auf einem eigentlich streitfreien Feld. Wenn Sie schon dafür sieben Monate brauchen, wie soll es dann eigentlich bei der Gesundheitsreform weitergehen? ({2}) Wir freuen darüber, dass wir die Debatte jetzt endlich weiterführen können. Wenn man beide Anträge nebeneinander legt, findet man schon viele Gemeinsamkeiten. Ich möchte bereits hier unsere Bereitschaft signalisieren, Kollege Riegert, bei den Ausschussberatungen zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Wir werden sehen. Einig sind wir uns darüber, dass auch vor dem Hintergrund einer Neuorientierung unseres Gesundheitssystems ein möglichst früher Einfluss auf Lebensstil und Lebensgewohnheiten unserer Kinder und Jugendlichen durch Elternhaus und Schule dringend geboten ist. Einig sind wir uns auch darüber, dass viele Sportvereine hervorragende, die Gesundheit fördernde Programme anbieten, die Bestandteil von Bonusregelungen für die Versicherten sein und von den Krankenkassen auch anderweitig vertraglich unterstützt werden sollten. Konsens besteht mittlerweile auch darüber - vor sieben Monaten sah das noch ein bisschen anders aus -, die Schulsportstudie „Sprint“ mit ihren Ergebnissen ernst zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir müssen die Länder, die in diesem Bereich Nachholbedarf haben, dazu bewegen, den Unterrichtsausfall im Fach Sport einzudämmen und wenigstens die Mindeststundenzahl zu sichern. Das wäre eigentlich schon wenig genug. Wir brauchen mehr qualifizierte Lehrer. Sport, Bewegung und Ernährung müssen bei der pädagogischen Ausbildung zu Schwerpunkten werden. ({3}) Ausreichende und angemessene Sportstätten bereitzustellen, gehört auch zu unseren Forderungen, die wir im Januar bereits formuliert haben. Ich denke, wir müssten einmal darüber nachdenken, den Goldenen Plan Ost auf einen Goldenen Plan Gesamtdeutschland auszuweiten. Wir haben in ganz Deutschland große Probleme mit der Erhaltung und dem Ausbau von Sportstätten. Ich begrüße sehr, dass sich die Koalitionsfraktionen in diesem Zusammenhang unserer Forderung nach einer Verbesserung des Schwimmunterrichts angeschlossen haben. Die Zahl der Nichtschwimmer unter den Kindern und Jugendlichen ist dramatisch hoch. Wichtig sind auch Kampagnen wie „Sport tut Deutschland gut“, an der sich die Bundesregierung beteiligt. Da wäre es spannend, zu wissen, was eigentlich aus dem unter Federführung des Bundesverbraucherministeriums 2005 initiierten Wettbewerb zur Förderung gesunder Kinder in der Familie geworden ist, der immerhin mit 15 Millionen Euro dotiert ist und über vier Jahre laufen sollte. Darum sollte sich der Gesundheitsausschuss, Frau Dr. Bunge, auch einmal etwas mehr kümmern. ({4}) Intensiver beschäftigen müssen wir uns mit der Absicht der Bundesregierung, den Entwurf eines Präventionsgesetzes, obwohl er in der letzten Wahlperiode schon an der parlamentarischen Hürde gescheitert ist, erneut vorzulegen. Das Zitat von Hans-Jürgen Papier hat Stephan Mayer mir schon vorweggenommen, sonst hätte ich es hier eingebracht. Ich will jetzt nur noch auf die Antwort einer Kleinen Anfrage vom März 2006 eingehen, in der es bezüglich eines Präventionsgesetzes heißt: Die Bundesregierung hält das Gesetz für notwendig, um die Kooperation und Koordination der Prävention sowie die Qualität der Maßnahmen der Sozialversicherungsträger und -zweige übergreifend zu verbessern und die Aktionen an Präventionszielen auszurichten, denen sich diese und weitere Präventionsträger verpflichtet fühlen. Man könnte auch sagen: verpflichtet fühlen müssen. Dem muss ich energisch widersprechen. Im Hinblick auf die knappen finanziellen Ressourcen kommt es vielmehr darauf an, keine neuen bürokratischen Strukturen zu schaffen, sondern die vorhandenen koordiniert zu nutzen. Dabei spielt eine Optimierung der Zusammenarbeit staatlicher Organisationen mit der Selbsthilfe, die einen speziellen Zugang zu den Betroffenen hat, eine große Rolle. Wir gehen von einem freiheitlichen Menschenbild aus, das den eigenverantwortlichen Bürger in den MitDetlef Parr telpunkt stellt. Das bedeutet vor allem, dass niemand wegen seiner Lebensweise ausgegrenzt, benachteiligt oder diskriminiert werden darf. Stattdessen setzen wir auf Anreize zu gesundheitsbewusstem Verhalten. Es darf keine fürsorgliche staatliche Bevormundung geben, die allen Bürgern einen bestimmten Lebensstil aufzwingt. ({5}) Die Angebote zur Prävention sollen auf die Bedürfnisse der Zielgruppen zugeschnitten und geeignet sein, gesundheitsgerechtes Verhalten zu begünstigen. Sie müssen dem Bürger ermöglichen, auf guter Information basierende Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet für die Präventionsstrategie, dass nicht in erster Linie Verbote und Reglementierungen im Vordergrund stehen, sondern Anreize und Informationen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in seiner Berliner Rede „Bildung für alle“ ({7}) hat Bundespräsident Horst Köhler den Sport an verschiedenen Stellen erwähnt. Er hat dabei deutlich gemacht - ich zitiere -: Bei der Konkurrenz um die knappe Schul- und Lernzeit dürfen Fächer wie Musik, Kunst und Sport nicht ins Hintertreffen geraten. Denn Musik, Kunst und Sport bringen Vernunft und Gefühl zusammen, und das ist wichtig für die Persönlichkeit und gut für Intuition und Kreativität. ({8}) Ich füge hinzu: Sport und Bewegung müssen wie selbstverständlich wieder zu den Grundfertigkeiten wie Lesen, Rechnen und Schreiben gehören. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Martin Gerster, SPDFraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Noch vor einer Viertelstunde war ich guten Mutes und voller Hoffnung, dass wir heute den ereignisreichen Tag erleben, an dem die FDP auch einmal einen Antrag der Koalitionsfraktionen lobt. Ich habe allerdings in den ersten Minuten relativ viel Kritik gehört ({0}) und bin, ehrlich gesagt, geschätzter Detlef Parr, ein wenig enttäuscht über diesen Wortbeitrag. Erinnern wir uns noch einmal: Die FDP hatte sich in der Tat am 16. Februar dieses Jahres im Nachgang zur Sprint-Studie hier sozusagen zum Retter des Schulsports in Deutschland aufschwingen wollen. Wir konnten diesen Antrag damals nicht gutheißen, weil wir gesagt haben, dieses wichtige Thema allein auf den Schulsport zu beziehen, ist aus unserer Sicht ein Fehler. Wir haben weiter gesagt, wir können diesen Antrag auch inhaltlich nicht gutheißen, weil die Forderung, mehr leistungsorientierten Sportunterricht in Deutschland zu forcieren, unserer Ansicht nach der falsche Weg ist. Das sagen im Übrigen auch zahlreiche Untersuchungen. ({1}) - Lieber Detlef Parr, Sport und Bewegung sind der großen Koalition so wichtig, dass wir heute hier im Plenum über unseren eigenen Antrag debattieren. ({2}) Denn wir glauben, dass das Thema Sport und Bewegung nicht nur eine Frage im Zusammenhang mit dem Schulsport ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellt, der wir uns stellen müssen. ({3}) Ich habe den Eindruck, dass wir gerade erst am Dienstag dieser Woche in unserer Annahme bestätigt worden sind, denn da wurde die Studie KIGGS veröffentlicht. Vielleicht haben Sie von der Opposition das auch wahrgenommen. Dabei wurde deutlich, dass das Problem in Deutschland nicht ist, dass der Sportunterricht zu wenig leistungsorientiert gestaltet wird, sondern vielmehr ist, dass Kinder aus sozial schwachen Familien und aus Migrantenfamilien kaum bewegungsaktiv sind. Die Chance der regelmäßigen sportlichen Betätigung ist in diesen Gruppen zwei bis dreimal geringer, vor allem bei Mädchen. Das ist doch an dieser Stelle das Problem in Deutschland. Die Forscher der Studie KIGGS empfehlen uns, die geschlechtsspezifischen, schichtspezifischen und migrationsspezifischen Unterschiede im Bewegungsverhalten von Herauswachsenden als notwendige Ansatzpunkte für gezielte Interventionen von Politik und Gesellschaft zu nutzen. Insofern widerspreche ich auch dem, was Sie vorhin für die FDP-Fraktion in punkto Präventionsgesetz gesagt haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Parr?

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gerster, wenn Sie den Antrag der FDPFraktion lesen und die Leistungsorientierung herausstellen, haben Sie dann verstanden, dass wir mit Leistungsorientierung die individuelle Leistungsorientierung meinen, also dass der Einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten im Schulsport leistungsmäßig gefördert werden soll und damit individuell mehr Freude am Sport, mehr Freude an der Leistung haben soll, und dass nicht die Spitzenleistung gemeint ist?

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Detlef Parr, ich habe den Antrag gelesen. Man kann die Formulierung so verstehen, wie Sie das jetzt hier vorgetragen haben. Man kann sie auch anders verstehen. Ich habe deutlich gemacht, dass aus meiner Sicht das Problem beim Thema Sport und Bewegung in Deutschland nicht etwa die mangelnde Leistungsorientierung ist, sondern dass bestimmte Gruppen in Deutschland viel zu wenig bewegungsaktiv sind. Insbesondere fehlen die Möglichkeiten, sich entsprechend zu bewegen. Ich möchte das auch gern im Hinblick auf unseren Antrag deutlich machen. Ich kann in dieser kurzen Redezeit nicht auf jedes Detail eingehen. Aber ich fand es schon sehr interessant, dass in dem FDP-Antrag zum Beispiel leider nicht auf das Programm „Soziale Stadt“ der Bundesregierung Bezug genommen wird, das ich in diesem Zusammenhang als ein gutes Programm ansehe. Mit ihm sollen Stadtteile, die zu Problemquartieren, zu so genannten Bewegungswüsten geworden sind, umgestaltet und gestärkt werden. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz, den wir auf jeden Fall weiter verfolgen sollten. Vielleicht können wir uns darüber im Ausschuss auch noch einmal verständigen. ({0}) Ich möchte an der Stelle noch einmal betonen, wie wichtig es für die Einzelne oder den Einzelnen ist, schon im jugendlichen Alter tätig zu werden und sich genügend zu bewegen. Geschieht das nicht, können die Spätfolgen in der Tat für den Einzelnen oder die Einzelne verheerend sein. Ich glaube, auch gesamtgesellschaftlich müssen wir unbedingt daran arbeiten, dass junge Heranwachsende im Hinblick auf Motorik frühzeitig Sport treiben. Wir wissen aus den Studien von Professor Spitzer, dass dies auch elementare Auswirkungen auf die Entwicklung von Intelligenz und von sozialen Fähigkeiten und Kompetenzen hat. Deshalb sage ich: Gut, dass der Sport auch Thema beim Integrationsgipfel der Bundesregierung ist. ({1}) Das ist ein ganz wichtiges Thema in diesem Zusammenhang. Gut, dass wir in Deutschland auch in vielen Sportarten wieder ganz vorn mit dabei sind. Ich habe beispielsweise bei der Fußballweltmeisterschaft gemerkt, dass sie bei ganz vielen jungen Leuten wieder Enthusiasmus ausgelöst hat, Sport zu treiben. Aber auch in anderen Sportarten wie Hockey und Reiten - ich erinnere an die Weltreiterspiele - waren wir vorne mit dabei. Das ist ein gutes Zeichen. Ich möchte trotzdem eine kritische Bemerkung machen. Ich habe die Befürchtung, dass wir uns jetzt insbesondere aufgrund des von der Fußballweltmeisterschaft ausgelösten Schubs zu stark auf Fußball fixieren. Das gilt möglicherweise auch für die olympischen Sportarten. Bewegung und Sport sind aber viel mehr als Fußball, Hockey und die olympischen Sportarten. Es gibt nämlich noch ganz andere Möglichkeiten, sich zu bewegen. Diese sollten nicht außer Acht gelassen werden. Wir Parlamentarier sollten daher darauf achten, dass wir uns nicht zu stark auf bestimmte Sportarten oder auf Teilbereiche wie beispielsweise den Schulsport fokussieren. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Martina Bange ({0}) - Entschuldigung, Martina Bunge - von der Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bange machen gilt nicht! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Grundtenor Ihres Antrages, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, kann ich, kann meine Fraktion begrüßen. ({0}) Ja: Sport und Bewegung gehören zu einer gesunden Lebensweise und sie müssen gefördert werden. Als Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit sage ich: Mehr Sport und Bewegung ist die beste Gesundheitsreform. ({1}) Was mich aber umtreibt, ist, dass zwischen vielen und schönen richtigen Worten, wie im vorliegenden Antrag, und Ihrem Handeln in Regierung und im Parlament - ich meine nicht speziell die Anwesenden, sondern die Koalitionsfraktionen insgesamt - eine riesige Lücke klafft. ({2}) Die Fakten: Sie fordern die Bundesregierung auf, auf die Länder einzuwirken, um die in der Schulsportstudie „Sprint“ aufgeführten Defizite im Schulsport zu beheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, warum stimmen Sie dann bei der Föderalismusreform dafür, die Zuständigkeit für die Bildung und damit auch für den Sport einzig auf die Länder zu verlagern? ({3}) Ich denke, der Zug ist abgefahren. Da müssen Sie schon selber alle sozusagen in die Spur gehen und Ihren Landesregierungen auf die Füße treten. Dennoch wäre es sinnvoll, sich auf Ausstattungsstandards für die sportliche Infrastruktur zu verständigen - das gilt auch für die Standards für Menschen mit Behinderungen -, den Investitionsbedarf zu ermitteln und ein kommunales Investitionsprogramm zu starten, wie es meine Fraktion seit langem vorschlägt. ({4}) Sie fordern die Bundesregierung auf, im anstehenden Präventionsgesetz der Bedeutung von Sport und Bewegung angemessen Rechnung zu tragen. Sie zitieren eine kanadische Studie, wonach jedem Dollar, der in die Förderung körperlicher Bewegung investiert wird, eine Ersparnis zwischen 2 und 5 Dollar im Arbeits- bzw. Gesundheitsbereich folgt. Ich frage: Wäre es da nicht sinnvoll, die Prävention vor der Gesundheitsreform auszugestalten oder zumindest mit ihr? Das Präventionsgesetz soll aber nach Aussage der Ministerin erst nach der Gesundheitsreform und nach der Novellierung des Pflegegesetzes kommen. ({5}) Das wird angesichts des Dilemmas, mit dem wir bei der Gesundheitsreform konfrontiert sind - für die Pflege schwant mir Ähnliches -, erst im Herbst nächsten Jahres der Fall sein. Warum muss noch mehr Zeit verstreichen, um die unübersehbaren Synergien zu erschließen? Sie schreiben sehr richtig, dass die Bewegungserziehung umso nachhaltiger ist, je komplexer sie erfolgt, also von Kindesbeinen an: in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein und in einem bewegungsfreundlichen Umfeld. Das Präventionsgesetz aus der vorigen Legislaturperiode sah für diesen Fakt die Prävention in „Lebenswelten“ vor. Schaut man aber in die noch nicht autorisierten Gesetzentwürfe zur Gesundheitsreform, dann erkennt man, dass im ersten Entwurf über § 20 a noch die Überschrift „Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten“ stand. In den folgenden Entwürfen steht davon nichts mehr. Da kann einem angst und bange werden; um beim Wort des Präsidenten zu bleiben. ({6}) Meines Erachtens ist Folgendes unerträglich: Jahrelang haben sich viele Expertinnen und Experten in unzähligen Runden über Gesundheitsziele verständigt. Einige Länder haben solche Ziele für Kinder und Jugendliche formuliert. Neben Stressabbau und gesunder Ernährung wurde eindeutig die intensivere Bewegung genannt. Wie lange noch sollen sich Engagierte in Modellprojekten und Initiativen punktuell und temporär abstrampeln, bevor die gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen wird, hier flächendeckende und dauerhafte Lösungen zu schaffen? Kommen Sie endlich mit dem Präventionsgesetz aus den Hinterstuben heraus! ({7}) Der Gesundheitsausschuss nimmt sich dieser Aufgabe gerne an. Herr Parr, wir werden die dann zur Diskussion stehenden Modellprojekte gerne auswerten. Noch eines: Gesundheitsförderung ist für jedes Alter wichtig. Ich will jetzt nicht meine Beweglichkeit demonstrieren, ({8}) die ich durch Prävention wiedererlangt habe. Aber nicht erst die Studie des RKI hat gezeigt: Gesundheitsförderung ist besonders für Kinder und Jugendliche wichtig. Kinder können am wenigsten dafür, in welche Lebensumstände sie hineingeboren werden. Sie brauchen gleiche Chancen. Deshalb müssen Kinder in den Mittelpunkt der Gesundheitsförderung gestellt und ihr Bewusstsein für eine gesunde Lebensweise gestärkt werden, aber dies bitte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Ich danke. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr hat sich die große Koalition sportpolitisch zusammengerauft, im Koalitionsvertrag den ersten verbalen Flachpass produziert und jetzt ein Jahr lang geübt und trainiert, um einen großen verbalen Wurf zum Sport vorzustellen. In der Tat, es ist ein verbaler Wurf. Umfassend werden die Probleme und Herausforderungen beschrieben; die Benachteiligten und Behinderten haben Sie übrigens vergessen. Umfassend wird die Notwendigkeit beschrieben, dass umfassend gehandelt werden soll. Leider muss man sagen: Das, was Sie in dem vorliegenden Antrag produziert haben, ist umfassend allgemein. Auch Ihre Reden waren so allgemein. Sie vermeiden es, eigene, klare bundespolitische Konzepte vorzulegen, die Sie hier durchsetzen und verantworten können. ({0}) Sie reden über das, was andere Ebenen tun sollen. Insofern haben Sie sozusagen folgenden Beitrag geliefert: Wort statt Sport! ({1}) Sie haben viel gesprochen und nichts dazu gesagt, was Sie tun wollen. Was könnte der Bund tun? Der Bund kann einiges tun, auch wenn er verfassungsmäßig gar nicht für die Schule, den Schulsport usw. zuständig ist. Trotzdem kann er etwas tun. Beispiel eins: Sportstättenbau und Sportstättensanierung. Sie haben wortreich beschrieben, wie schwierig die Situation ist. Aber den Goldenen Plan Ost haben Sie schon jetzt beschnitten. So kann man zwar vorgehen; aber Sie haben überhaupt keine Alternativen vorgelegt. Zum Beispiel hätte man sagen können: Es gibt ein erfolgreiches Altbausanierungsprogramm, mit dem von der KfW und über den Bundeshaushalt der Klimaschutz gefördert wird. Man hätte sagen können: Wir legen ein Sportstättensanierungsprogramm auf, weil Sportstätten auch ökologisch saniert werden müssen ({2}) und es auch dort etwas zu fördern gibt. Sie könnten umweltfreundlich umgestaltet werden. Das wäre ein Anstoß, die Sportstättensituation auf diese Weise zu verbessern. ({3}) Man hätte das Förderprogramm „Spiel- und bewegungsfreundliche Stadt“ auflegen können. Ich will nicht sagen, dass man Milliarden hätte ausschütten können. Aber man hätte zumindest Anstöße geben und die Kommunen davon überzeugen können. Man hätte auch sagen können: Wir sehen die Notwendigkeit, das Bundesbaugesetzbuch zu ändern und hineinzuschreiben, dass wohnortnahe Spiel- und Sportgelegenheiten zu schaffen sind bzw. dass die bestehende Situation zu verbessern ist. ({4}) Nichts ist getan worden. Beispiel zwei. Sie sprechen davon, dass Bewegung im Alltag besonders wichtig ist. Wir haben vor einigen Jahren den Masterplan Fahrrad aufgelegt und noch zu rot-grünen Zeiten umgesetzt. Seitdem herrscht Stagnation. Hier könnte man sagen: Bewegung ist im Alltag wichtig; also fördern wir das sichere Radfahren von Kindern und Jugendlichen zur Schule oder von Erwachsenen zu ihren Arbeitsplätzen. Daran hätten Sie ansetzen und sagen können: Wir wollen, dass das endlich umgesetzt wird, und wir wollen nicht nur darüber reden. Dritter Punkt. Sie haben alle schon aus der KIGGSStudie, die in dieser Woche herauskam, zitiert; sie wurde übrigens von Rot-Grün angestoßen. Darin gibt es ein Modul „Motorik“ und man muss festhalten: Die Ergebnisse sind nicht so dramatisch schlecht, wie es vorher behauptet wurde. ({5}) Es ist allerdings klar geworden, dass das von der sozialen Schicht der Familie abhängt. Kinder aus Migrantenfamilien oder aus sozial benachteiligten Schichten schneiden besonders schlecht ab, ({6}) im Hinblick sowohl auf die Übergewichtigkeit als auch auf die Beweglichkeit. Dabei gibt es schon seit einigen Jahren ein Programm namens „Integration durch Sport“. Dies ist aber mit viel zu geringen Mitteln ausgestattet und hat deshalb das Integrationsangebot nicht wirklich bereichern können. Wir wollen die Mittel dafür aufstocken, weil wir da einen Schwerpunkt sehen. Wir wollen die Benachteiligung beim Sport durch verschiedene Modelle aufgreifen und wollen das flächendeckend im Land umsetzen, um Anstöße für die Kommunen und Länder zu geben, damit sie in diesem Bereich etwas tun. Die KIGGS-Studie mahnt ganz eindeutig an: Hier ist politische Intervention angesagt. Sie haben das ja sogar zitiert. Aber wo ist Ihre konkrete politische Intervention? Es passiert nichts. Der Antrag ist ein allgemeiner verbaler Rundumschlag über das Gute und das Schöne im Sport und darüber, wie notwendig und wichtig der Sport ist. In allen Punkten, wo man hätte konkret werden können, sind Sie nicht konkret geworden. Wer wirklich etwas dazu beitragen will, dass Bewegung und Sport in Deutschland gefördert werden, der sollte Sportpolitik nicht als besorgtes Plaudern über die Misere im Sport und die allgemeine Unbeweglichkeit der Jugend missverstehen, der sollte auch nicht viel darüber reden, was alle anderen tun sollten, der sollte vielmehr endlich einmal auf den Tisch legen, was er selber tun kann und will. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hermann-Josef Scharf, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hermann Josef Scharf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003876, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Laut Umfragen unter der Bevölkerung findet es fast jeder besser, Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu kurieren. Prävention ist also die bessere Wahl. Aber die Realität sieht erschreckend anders aus. Am Montag hat uns das Robert-Koch-Institut wissenschaftlich fundiert bestätigt, was wir eigentlich schon seit langem wussten: Fast jedes siebte Kind in DeutschHermann-Josef Scharf land ist zu schwer. Die meisten Kinder leiden unter Haltungsschäden und - wir haben es schon gehört - beinahe jedes zweite Kind bekommt keine ordentliche Rumpfbeuge hin. Die fortschreitende Bewegungsarmut bei Kindern ist für uns alle ein alarmierendes Signal. Vor diesem Hintergrund sehen wir uns als große Koalition in der Verantwortung, Sport und Bewegung in Deutschland umfassend zu fördern und uns alle zu einer gesünderen Lebensweise zu motivieren. ({0}) Seit Jahren können die Ausgaben der sozialen Versicherungssysteme nicht mehr durch die Einnahmen gedeckt werden. Natürlich erhält dennoch jeder Kranke eine ausreichende Behandlung ungeachtet der Ursache seiner Erkrankung. Das wollen wir so und das entspricht unserem Leitbild, dem christlichen Menschenbild. Nur müssen wir uns fragen lassen, wie lange ein solches System funktionieren kann, das ein solidarisches und verantwortliches Handeln eines jeden Einzelnen voraussetzt. Ich möchte hier keine Debatte über die Gesundheitsreform führen. Aber wenn wir es schaffen, unseren Antrag mit Leben zu erfüllen, ist das sicher eines der besten Versicherungssysteme für unsere Gesundheit. ({1}) Um das Bewusstsein für eine gesündere Lebensweise neu zu beleben, bedarf es einer großen Bewegung, wobei alle, Eltern, Erzieher, Lehrer, die Kommunen, die Länder und wir hier auf Bundesebene, gefordert sind. Die Prävention, das Praktizieren einer gesunden Lebensweise, muss von Kindesbeinen an erlernt werden. Wenn unser Nachwuchs gesünder aufwächst, treten viele Krankheiten erst gar nicht auf. Wir müssen deshalb bei der Frühbetreuung von Kindern, im Kindergarten und in der Schule ansetzen. Der Sportunterricht an unseren Schulen muss wieder den ihm gebührenden Stellenwert innerhalb des Ausbildungsplanes eines jeden Kindes erhalten. ({2}) Erste Erfolge können wir bereits verzeichnen; zufrieden stellend sind sie aber noch nicht. Durch Spiel und Wettkampf werden nicht nur Fitness, Ausdauer und Kraft trainiert; unsere Kinder erwerben auch wichtige soziale und psychische Fähigkeiten. Sport ist auch Bildung. Ich appelliere an die Verantwortlichen der Länder und Kommunen, uns hierbei zu unterstützen. ({3}) An dieser Stelle möchte ich auf die besondere Situation behinderter Kinder hinweisen. Sport ist eine wunderbare Möglichkeit, den Integrationsprozess auf spielerische Weise zu erleichtern. ({4}) Meines Erachtens gibt es hier noch viele ungenutzte Potenziale. Werdende Mütter wünschen sich an erster Stelle für ihr Neugeborenes: Hauptsache, gesund! Gott sei Dank werden die meisten Kinder auch gesund geboren. Aber spätestens hier setzt die Verantwortung der Mutter und des Vaters an, ihr Kind zu einer gesunden Lebensweise zu erziehen. Die Vorbildfunktion von Eltern gegenüber ihren Kindern bei der Ernährung und der Freizeitgestaltung wird oft unterschätzt. Wo, wenn nicht zu Hause, in der Familie, sollen Kinder lernen, was zu einer ausgewogenen Ernährung gehört?! ({5}) Wenn der Fernseher oder der Computer das Familienleben bestimmt, sind Bewegungsarmut und Konzentrationsstörungen vorprogrammiert. Ein sachgerechter Umgang mit diesen neuen Medien muss erlernt werden. ({6}) Unsere Sportvereine spielen für die Motivation zu körperlicher Betätigung eine unschätzbare Rolle. Sie stärken durch ihre Angebote den Bürger in seiner Verantwortung für seine physische Fitness und sein gesundheitliches Wohlbefinden. Unsere Vereinslandschaft weist eine so reiche Vielfalt auf, dass jede sportliche Neigung und Vorliebe abgedeckt wird. Derzeit erfreut sich das Nordicwalking immer größerer Beliebtheit. Besonders bei unserer älteren Generation vergrößert sich die Anhängerschaft. Durch das Engagement von vielen tausenden ehrenamtlich tätigen Bürgern können viele ihre Freizeit aktiv gestalten. Den Ehrenamtlichen gilt an dieser Stelle unser aller Dank. ({7}) Wie wir auch im Koalitionsvertrag betont haben, sind wir uns ihrer herausragenden Bedeutung für unser aller Gemeinwohl bewusst und möchten bürgerschaftliches Engagement weiter stärken. Der heutige Antrag möchte zu einer neuen Gesundheitskultur beitragen. Um diesen Prozess zu stärken, werden wir in Kürze erneut über das Präventionsgesetz diskutieren. ({8}) Wir möchten Prävention als eine eigenständige Säule im Gesundheitswesen verankern. ({9}) Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung: Nehmen wir einmal an, unsere Staatskassen wären gefüllt, unser Gesundheitssystem bräuchte sich über die Ausgabenseite keine Gedanken zu machen. Dennoch würde es nicht möglich sein, Gesundheit, die durch leichtsinniges Verhalten - vielleicht aus Unkenntnis heraus - aufs Spiel gesetzt wurde, hundertprozentig zurückzuerhalten, auch nicht durch die beste Therapie. Lernen wir also endlich wieder, unser wertvollstes Gut, unsere Gesundheit, zu achten und zu schützen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist schon lustig, wenn Sportskameraden wie Winfried Hermann, mit dem ich noch bis vor wenigen Monaten gemeinsam in einer Koalition gekämpft habe, jetzt, nach einigen Monaten großer Koalition, so tun, als ob in dieser Zeit hinsichtlich der Umsetzung nichts passiert sei. Denn es war doch so, dass wir Sportpolitiker in der letzten Legislaturperiode Initiativen auf den Weg gebracht haben, und zwar einvernehmlich, die dann in einen Entwurf für ein Präventionsgesetz eingemündet sind. Dass sich dann die politischen Verhältnisse geändert haben, sodass wir auf der Grundlage dessen, was in der letzten Legislaturperiode beschlossen wurde, quasi einen Neuanfang machen mussten - sei’s drum! Entscheidend ist doch, was in den letzten Jahren in der Gesellschaft passiert ist: Auf der Grundlage des Rahmenkonzeptes „Sport Pro Gesundheit“ des Deutschen Sportbundes wurden für viele Lebenswelten - „Settings“, um das Wort noch einmal aufzugreifen; so steht es im alten Präventionsgesetz und so wird es im neuen wieder stehen begeisternde Sportangebote geschaffen. Ich muss mir nur ansehen, was allein in meinem Umfeld im Zuge der Einrichtung der offenen Ganzheitsgrundschule geschehen ist. Trainer aus den Vereinen sind in die Schulen eingeladen worden. Es finden Arbeitsgemeinschaften statt. Neue Mitglieder für die Sportvereine werden gewonnen. Ein anderes Beispiel: Wir haben uns alle gewünscht, dass es zu einer Zertifizierung der Fitnesscenter kommt, die man früher Muckibuden genannt hat. Heute sind das vielfach Gesundheitszentren, die mit den Krankenkassen zusammenarbeiten und im Präventionsbereich hervorragende Programme auflegen. In meinem Wahlkreis hat sich eine Bürgerinitiative gebildet, die sich für einen Barfußpfad, vom Kneippbecken bis zur Sandspielwiese, engagiert. Es gibt dort eigene Tümpel für die Kinder, die dort - so haben wir es früher genannt - „rumräubern“ können, um einen Begriff aus dem Fitnesssport aufzunehmen. ({0}) - Der Präsident von Rot-Weiß Essen lacht schon. Er könnte uns sicher weitere solcher tollen Beispiele erzählen. Herr Staatssekretär aus dem Gesundheitsministerium, hören Sie gut zu! Sie sollten mit Ihrem Ministerium alle diese Initiativen begleitend fördern und nicht nur eigene Initiativen stärken, wie die lobenswerte 3 000-Schritt-Kampagne mit dem schönen Schrittzähler, der zu Tausenden verteilt wurde. Man muss sich doch nur die Rahmenkonzepte der Initiativen ansehen, die jetzt umgesetzt werden. Von daher verstehe ich in solchen Debatten nie, warum wir uns hier hinstellen und derart klagen. Es ist klar, dass wir die Fehlentwicklungen aufdecken müssen. Deshalb ist es hilfreich, wenn die Institute - teilweise werden sie von uns noch mitbezahlt - die Lücken aufdecken und die Schwächen aufzeigen. Die Wirklichkeit in Deutschland sieht aber anders aus. Wenn man Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, sieht man, dass man solche Möglichkeiten dort gar nicht hat. Das hat auch das UNO-Jahr „Sport and Physical Education“ aufgezeigt. In diesem Zusammenhang haben wir gesehen, wie es in anderen Ländern aussieht. Wir haben gesehen, wie sich die deutschen Sportverbände, Initiativen und andere daran beteiligt haben, Sport in Ländern wie in Afrika zu unterstützen. Herausgekommen ist, dass wir uns mit all dem, was wir haben, sehen lassen können. ({1}) - Ich sehe, dass ein guter Skiläufer unter uns bereits lacht. Bevor wir auf die Skier steigen, müssen wir trainieren, damit wir uns nicht die Knochen brechen oder die Muskeln zerreißen. ({2}) Das genau, lieber Norbert, liefert das Stichwort, das für unsere Diskussion wichtig ist: Bewusstsein für gesunde Lebensführung. Das ist der dritte Block in unserem Antrag. Was die gesunde Lebensführung angeht, so gibt es in der Tat einen Graben zwischen Möglichkeit und Realität. Wir wissen doch alle, auch wir Abgeordnete, dass wir ständig sagen: Ich habe keine Zeit. Da nehmen wir natürlich lieber die Fahrbereitschaft als das Fahrrad. Die Häuser des Bundestages sind auch so eingerichtet, dass es überall tolle Aufzüge gibt. Dabei könnte man wenigstens für eine Etage die Treppe nehmen. Aber unser Bewusstsein ist eben ein anderes: In dieser Republik gibt es alles. Wir können es uns leisten. Also fahren wir auch mit dem Auto. Während die Kinder im südlichen Afrika morgens bis zu zwei Stunden zur Schule laufen und mittags die gleiche Strecke zurück, diskutieren wir hier über die Frage, ob wir nicht noch einen Bus mehr einsetzen können, damit die Kinder auch noch für die letzten 200 Meter vor der Haustür abgeholt werden. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass wir Abgeordnete uns daran beteiligen können, dieses Bewusstsein für eine gesunde Lebensführung zu fördern. Wir in diesem Hause sind Vorbilder. Gott sei Dank haben wir ja die Sportgemeinschaft Bundestag, die nicht nur zu Skifreizeiten einlädt, sondern auch Laufgruppen hat, sich am Fußballsport beteiligt und jedes Jahr ganz in der Nähe vom Bundestag zeigt, wie wichtig es ist, zu walken, zu laufen und Skaterwettbewerbe durchzuführen. Warum sage ich das? Lieber Winfried Hermann, lieber Detlef Parr, natürlich werden wir, die sich an dieser Debatte beteiligenden Sportpolitiker, in dieser LegislaReinhold Hemker turperiode wieder tätig werden und einen neuen Anlauf für ein Präventionsgesetz nehmen. Aber angesichts dessen, was in der letzten Legislaturperiode geschehen ist, rege ich an: Wir sollten uns nicht wieder so sehr mit den Formalien beschäftigen - damit, ob der Bund 40 Prozent des eingesammelten Kapitals bekommen soll, ob das nicht zu wenig ist oder ob das Land 40 Prozent erhalten soll -, sondern lieber darüber reden, wie auf der Basis all der positiven Beispiele, die ich erwähnt habe, ein groß angelegter Kriterienkatalog ausgestaltet werden kann. Einige von Ihnen wissen, dass ich selbst den „Dreiklangsport“, wie ich ihn nenne, betreibe. Hierbei erschöpft sich die Bewegung nicht im Laufen, sondern zum Anfang wird das Urelement Wasser genutzt. Wenn sich Kleinkinder im Wasser bewegen, schafft dies die Grundlage für eine gute Motorik. Anschließend nutzt man bei diesem Sport eine der größten Errungenschaften, die es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat: das Rad bzw. das Fahrrad. Zum Schluss erst kommt das Laufen, was wiederum vielfältige Bewegungsmöglichkeiten in sich birgt. Es hat mich sehr gefreut, dass ein Kollege in seiner Rede darauf hingewiesen hat, dass das Nordicwalking mittlerweile zu einer richtigen Bewegung geworden ist. Wenn wir all das verfolgen, dann werden wir es schaffen, aus dem Homo Sedens - ich habe eben noch einen Kollegen gefragt, ob mein Latein nach 50 Jahren noch einigermaßen stimmt - wieder einen Homo Movens zu machen, also jemanden, der sich auf vielfältige Art und Weise bewegt. Ohne dass sich jeder von uns gleich bemühen sollte, dreifacher Olympiasieger zu werden, können wir dann vielleicht bald wieder mit Emil Zátopek sagen: „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.“ Schließen möchte ich mit dem schönen Wort: Bewegung ist Leben, erst der Stillstand bringt den Tod. ({3}) In diesem Sinne wünsche ich uns allen alles Gute für unsere weiteren Debatten. Herr Staatssekretär, richten Sie der Ministerin aus, dass wir in dieser Legislaturperiode ein gutes Präventionsgesetz auf den Weg bringen werden. Herzlichen Dank! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Das soll aber nicht heißen, dass Sie sich nun alle fortbewegen sollen. Es wäre gut, wenn noch ein paar Abgeordnete hier bleiben würden; denn die Debatte geht weiter. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1648 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Verzicht auf Mehrwertsteuererhöhung - Drucksache 16/2507 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Barbara Höll, Fraktion Die Linke, das Wort. ({1})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat Ihnen einen kurzen, prägnanten Antrag vorgelegt: Nehmen Sie die Mehrwertsteuererhöhung zurück! Ich möchte drei Argumente für diesen Antrag anführen: Erstens handelt es sich bei der Mehrwertsteuererhöhung um die größte Wahllüge des vergangenen Jahres. ({0}) Zweitens machen Sie damit ganz klar Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung. Drittens haben Sie damit eine absolut konjunkturfeindliche Maßnahme beschlossen. ({1}) Lassen Sie mich kurz zu allen drei Argumenten ausführen: Sicherlich ist Ihnen allen noch in Erinnerung, dass Frau Merkel im vergangenen Jahr durch die Lande zog und tönte, dass sie für eine ehrliche Politik sei und deshalb im Wahlkampf die Wahrheit sagen werde. Damals hat sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte angekündigt. Nicht in einer einzigen Wahlkampfveranstaltung war von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte die Rede. Das war eine Lüge der CDU/CSU. ({2}) Nun zur SPD. Sie sind durch die Lande gezogen und haben überall verkündet, dass es mit Ihnen keine Mehrwertsteuererhöhung geben werde. Ich denke, insbesondere Ihre Stammwählerinnen und Stammwähler, aber auch viele andere Bürgerinnen und Bürger haben Sie als Garanten dafür gesehen, dass sich die CDU/CSU mit ihrem Anliegen nicht durchsetzen wird. Aber was ist geschehen? Es wurde nicht eine 1-prozentige Mehrwertsteuererhöhung beschlossen - das hätte man sich als Ergebnis der Verhandlungen einer großen Koalition ja noch vorstellen können -, sondern Sie haben sich darauf verständigt, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu erhöhen. ({3}) Einen solch dreisten Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger gab es in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht. ({4}) Bis 1968 betrug die Mehrwertsteuer 10 Prozent. Sie wurde dann erhöht, ebenfalls 1978, 1979, 1983, 1993, 1998, jeweils um einen Prozentpunkt. Nun haben Sie in Ihrer großen Koalition beschlossen, die Mehrwertsteuer gleich um 3 Prozentpunkte auf 19 Prozent zu erhöhen. Sie erhoffen sich eine Sanierung Ihres Haushaltes durch Mehreinnahmen von anfangs 20 bis 23, später 24 Milliarden Euro pro Jahr. Wir lehnen das ab. Es ist Ergebnis einer feigen Politik, jeden Einzelnen zu belasten, um die, die Geld haben, zu verschonen. Das ist eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere gegen die Interessen derjenigen, die ihr Einkommen Monat für Monat vollständig in den Konsum stecken müssen, Menschen mit niedrigem oder keinem eigenen Einkommen. Selbst das Bundesfinanzministerium geht davon aus, dass, wenn der Handel die Mehrwertsteuererhöhung in voller Höhe weitergibt, jeder Bundesbürger, jede Bundesbürgerin ab dem nächsten Jahr pro Monat 29 Euro mehr ausgeben wird - ausgeben muss! Dies betrifft Menschen mit einem hohen Einkommen natürlich kaum. Nach Ihren eigenen Berechnungen käme es bei dieser kleinen Gruppe der Bevölkerung zu einem geringen Einkommensverlust, während die Masse der Bevölkerung einen großen Einkommensverlust hinzunehmen hätte. Wie ist das erst für Menschen, die Arbeitslosengeld II bzw. Hartz IV bekommen, das heißt 345 Euro monatlich! Wir können nicht genau sagen, wie viel von diesen 345 Euro tatsächlich für Produkte ausgegeben wird, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, und wie viel für Produkte, die dem vollem Mehrwertsteuersatz unterliegen. Doch selbst wenn wir davon ausgehen, dass nur die Hälfte des Geldes für Letztere ausgegeben wird, hieße das bei 345 Euro eine Mehrbelastung von 5 bis 10 Euro im Monat. Das ist unzumutbar, es ist eine Frechheit. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern, wenn Bürgerinnen und Bürger sagen: Wozu sollen wir wählen gehen? Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen: Sie machen das, was uns schadet. ({5}) Vor diesem Hintergrund finde ich es eine besondere Dreistigkeit, dass Sie auf eine Kleine Anfrage, die ich Ihnen gestellt habe - wie Sie die Mehrwertsteuererhöhung bei den Transferleistungen zu berücksichtigen gedenken -, geantwortet haben: Da es nicht sicher ist, ob die Mehrwertsteuererhöhung in voller Höhe weitergegeben wird, besteht für das nächste Jahr kein Handlungsbedarf. - Nein, es besteht auch für 2008 kein Handlungsbedarf. Sie haben vor, zu warten bis zur Erhebung der Verbrauchs- und Einkommensstatistik im Jahr 2008, und wollen dann überlegen, ob es ab 2009 zu einer Änderung kommen muss. Das ist mit uns nicht zu machen. Sie sind mit dieser Politik konjunkturfeindlich, obwohl Sie wissen, dass die Binnenkonjunktur in Deutschland der große Schwachpunkt ist. Mit dieser Mehrwertsteuererhöhung verteuern Sie ausgerechnet die Waren, Produkte und Dienstleistungen der kleinen und mittelständischen Betriebe, die von der angeblich tollen Entlastung durch die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nichts haben, weil diese nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was durch die Mehrwertsteuererhöhung an Kosten entsteht. Deshalb lehnen wir sie ab. Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zurück zu einer ehrlichen Politik, falls Sie dazu in der Lage sind! Machen Sie eine Kehrtwendung! Sagen Sie Nein zu dieser Mehrwertsteuererhöhung, machen Sie sie rückgängig! Unsere Unterstützung hätten Sie. Ich danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Otto Bernhardt, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte ab 1. Januar kommenden Jahres gehört mit Sicherheit zu den schwierigsten und unpopulärsten Entscheidungen der großen Koalition. Ich sage aber gleich zu Beginn meiner Ausführungen: Sie war nicht nur richtig, sondern auch notwendig. Ohne diese Erhöhung wird es nicht möglich sein, die Staatsfinanzen in Deutschland nachhaltig zu sichern. ({0}) Die große Koalition verfolgt damit zwei Ziele - das darf man nicht aus den Augen verlieren -, nämlich zum einen die schon genannte Sanierung der öffentlichen Finanzen - ich komme noch darauf - und zum anderen den Abbau bzw. die Verringerung der so genannten Lohnzusatzkosten. Sie wissen, dass einer der 3 Prozentpunkte - er macht etwa 7 Milliarden Euro aus - sozusagen ein durchlaufender Posten ist. Der daraus resultierende Betrag wird voll für die Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge verwendet; die Lohnzusatzkosten sinken. Diese 7 Milliarden Euro sind auch nachfragemäßig, also konjunkturpolitisch, zu neutralisieren. Sie werden von den 82 Millionen Menschen aufgebracht, die Mehrwertsteuer zahlen, und die 35 bis 36 Millionen, die eine sozialversicheOtto Bernhardt rungspflichtige Beschäftigung haben, erhalten sie. Hier wird es keinen Ausfall der Nachfrage geben. Von den verbleibenden 2 Prozentpunkten erhalten die Länder einen für die Sanierung ihrer Finanzen. Sprechen Sie einmal mit den Finanzministern der Länder. Herr Spiller und ich haben das gestern Morgen getan. Jeder hat diesen Teil in seinem Haushalt eingeplant. Es gibt keinen Landesfinanzminister, der sagt, dass er darauf verzichten könne. Dann bleibt noch 1 Prozentpunkt für uns, den Bund. Wer hier behauptet, dass wir diesen Betrag nicht brauchen, der kennt entweder die Zahlen nicht, versteht die Zusammenhänge nicht oder ist böswillig. Sie wissen, dass wir in diesem Jahr 38 Milliarden Euro an neuen Schulden machen werden. Wenn Sie das in Relation zum Bruttoinlandsprodukt setzen, dann sehen Sie, dass wir in diesem Jahr die Chance haben, unter dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent zu bleiben. Die Meldung von heute besagt, dass es 2,6 Prozent sein werden. Wenn Sie das aber in Relation zu den Anforderungen des Grundgesetzes stellen, ({1}) dann sehen Sie, dass wir noch viele Milliarden Euro von dem vorgegebenen Ziel entfernt liegen, da wir Investitionen von rund 23,5 Milliarden Euro planen. Der Gedanke, dass wir 2007 den Art. 115 des Grundgesetzes wieder nicht einhalten, ist für die große Koalition nicht hinnehmbar. ({2}) Wir sprechen nicht nur von einer soliden Finanzpolitik, wir machen sie auch. ({3}) Wir haben in erster Lesung über den Haushalt 2007 gesprochen; demnach verringern wir die Nettoneuverschuldung von jetzt 38 Milliarden Euro auf 22 Milliarden Euro. Diese 16 Milliarden Euro sind durch Einsparmaßnahmen nicht aufzubringen, auch wenn die FDP das immer wieder sagt und Sie von den Linken das offensichtlich auch meinen. Im Gegenteil: Wenn ich mir die Anträge der Linken anschaue, dann sehe ich, dass die Ausgaben bei Ihnen noch deutlich höher sein würden. ({4}) Ich sage an dieser Stelle: Ohne diese 7 Milliarden Euro werden wir den Anforderungen des Grundgesetzes im kommenden Jahr nicht gerecht. Nun kann es so sein, dass bei Ihnen stabile Finanzen keine entscheidende Rolle spielen. ({5}) Okay. Als Ökonom sage ich aber: Alle Länder, die dem Ziel der Haushaltssanierung langfristig nicht die notwendige Bedeutung beigemessen haben, haben letztlich keine solide Wirtschaftspolitik gemacht. ({6}) Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer soliden Haushaltspolitik und einer guten Wirtschaftspolitik. Das dürfen wir nicht vergessen. Nun zum sozialen Aspekt der Mehrwertsteuererhöhung. Die große Koalition hat ganz bewusst entschieden, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent nicht angehoben wird. Das ist gerade im Hinblick auf den sozialen Aspekt ein wichtiger Beitrag. Wenn Sie sich die Einkommenssituation der Empfänger so genannter unterer Einkommen anschauen, dann wissen Sie, dass die Miete eine entscheidende Größe - um nicht zu sagen: die entscheidende Größe - ist. Für sie wird bekanntlich keine Mehrwertsteuer gezahlt. Eine zweite wichtige Position sind die Grundnahrungsmittel. Dort ändert sich nichts, sodass Sie davon ausgehen können, dass gerade dieser Teil - er macht mindestens 50 Prozent der Ausgaben aus - durch diese Erhöhung nicht tangiert ist. Bezüglich des Einflusses auf die Konjunktur gibt es unterschiedliche Aussagen. Ich bleibe dabei: Natürlich ist das nicht positiv für die Konjunktur, aber die erwarteten großen Einbrüche wird es nach allen uns vorliegenden Informationen nicht geben. Ich komme auf ein Argument zu sprechen, das wahrscheinlich gleich von der FDP vorgetragen wird: Die Steuereinnahmen sprudeln. Nun wissen Sie natürlich, dass wir in dem verabschiedeten Haushalt 2006 schon höhere Steuereinnahmen eingeplant haben. Sie wissen ebenso - ich komme auf die Haushaltsberatungen zurück -, dass auch im Haushalt 2007 höhere Steuereinnahmen eingeplant sind. Sie wissen darüber hinaus, dass nicht nur der Haushalt 2006, der zurzeit unsere Grundlage ist, sondern auch der Haushalt 2007 nach wie vor erhebliche Risiken aufweist; das ist bei allen Haushalten so. Aber wir sind natürlich über jeden Euro froh, den wir mehr einnehmen und dann nutzen können, um das Ganze gegebenenfalls an anderer Stelle, wo es vielleicht zu höheren Ausgaben kommt, zu kompensieren. Deshalb sage ich abschließend sehr deutlich: Die große Koalition hat mutig entschieden. Wir sind bereit, auch unpopuläre Maßnahmen zu treffen, wenn es um die Sanierung der Finanzen des Staates geht. Damit sind wir auf dem richtigen Wege. In diesem Sinne werden wir weiter verfahren. Es bleibt bei der beschlossenen Erhöhung der Mehrwertsteuer. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Wissing, FDPFraktion.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP lehnt den Antrag der Fraktion Die Linke ab. ({0}) Ihr Antrag gleicht einem schlechten Buch mit einem Supertitel. Man sieht die Überschrift und hält auch den Inhalt für wunderbar. Aber dann schaut man sich den Inhalt an und ist enttäuscht. Langer Frust nach kurzer Lust! ({1}) So ging es uns, als wir Ihren Antrag gelesen haben. Bei der Überschrift Ihres Antrags „Verzicht auf Mehrwertsteuererhöhung“ freuen wir uns als FDP - das ist keine Frage - und wären an sich auch sofort dabei. Aber die Ernüchterung stellt sich sehr schnell ein, wenn man den Antrag bis zum Ende liest. ({2}) Dabei zeigt sich wieder einmal: Die neue Linke ist der alte Lafontaine. Was Sie von uns unterscheidet, ist, dass wir konsequent auf Steuersenkungen und Entlastungen setzen. Sie senken die Steuern an der einen Stelle, erhöhen sie aber ordentlich und kräftig an der anderen Stelle. Das ist kein Konzept. ({3}) So, Frau Kollegin Höll, schafft man keine Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum schon gar nicht. Im letzten Absatz Ihres Antrages zeigen Sie Ihr wahres Gesicht: Sie wollen die Steuern erhöhen, und zwar die Einkommensteuer, ({4}) die Unternehmensteuer und die Erbschaftsteuer. Ihr Klassiker: die Einführung der Vermögensteuer. Sie wollen also noch stärker abkassieren, als das die große Koalition schon macht. Das ist ein starkes Stück. ({5}) Falsche Thesen werden nicht dadurch richtig, dass man sie gebetsmühlenartig wiederholt. Das Problem der Linken ist, dass sie geistig in der Vergangenheit stehen geblieben sind. Für Sie sind Unternehmer immer noch Gegner. ({6}) Wenn man Gewinne erwirtschaftet, erscheint Ihnen das höchst verdächtig. Solange Sie aus diesem Stadium nicht herauskommen, sind Sie nicht in der Lage, die Zukunft dieses Landes mitzugestalten. ({7}) Sie müssen irgendwann einmal begreifen, dass man in der Marktwirtschaft nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erfolgreich sein kann. Ein Miteinander setzt jedoch gegenseitiges Vertrauen voraus. Der Paradigmenwechsel, der in der Politik zurzeit stattfindet, ist bedenklich. Während Steuererhöhungen bei der großen Koalition geradezu in Mode sind, ist Sparen eine Sekundärtugend geworden. Schwarz-Rot sucht sein Heil in Mehreinnahmen durch Steuererhöhungen. Wenn dem Staat die Kosten davonlaufen, dann müssen die Bürger mehr bei der Regierung abliefern. 140 Milliarden Euro zusätzlich kostet die große Koalition die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land: Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer, Kürzung der Pendlerpauschale und des Sparerfreibetrages usw. usf. Die schwarz-rote Koalition kostet die Menschen wirklich Milliardenbeträge und kommt sie damit teuer zu stehen. ({8}) Man fragt sich unwillkürlich: Bekommt diese große Koalition eigentlich nie genug? Die Menschen würden das staatliche Abkassieren vielleicht verstehen und darin noch einen gewissen Sinn sehen, wenn damit spürbare Sanierungserfolge verbunden wären. Stattdessen beobachtet man, dass alles in den staatlichen Kassen versickert und unser Land keinen entscheidenden Schritt vorankommt. Selbst wenn es wirklich zu den erwarteten Steuermehreinnahmen von 20 Milliarden Euro kommen sollte, wäre das wirklich Letzte, was sich die große Koalition vorstellen könnte, eine bereits beschlossene Steuererhöhung, die nun wirklich überflüssig ist, zurückzunehmen. Sie nutzen Ihre große Mehrheit nur zum Erhöhen von Steuern und eben nicht zur Entlastung der Menschen in unserem Land. Wenn die Bundeskanzlerin erklärt, dass wir mehr Steuern als erwartet eingenommen und somit einen Überschuss erreicht haben, der an die Menschen zurückgegeben werden soll, dann macht sie das dadurch, dass sie nicht noch etwas an anderer Stelle erhöhen will. Das ist doch durchsichtig. Die Menschen durchschauen das. Sie wollen keine Entlastungen, weil Sie die Uneinigkeit in der großen Koalition nur überstehen, indem Sie den Staat dick aufblähen, abkassieren und die finanziellen Probleme zulasten der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land lösen. ({9}) 140 Milliarden Euro sind ein hoher Preis für eine überschaubare Leistung, die Sie abliefern. Keine der versprochenen Lösungen der großen Probleme dieses Landes wurde umgesetzt. Vom angekündigten Durchregieren ist nicht ansatzweise etwas zu erkennen. Frau Merkel scheitert schon an den eigenen Ministerpräsidenten. Die Bürgerinnen und Bürger müssen 140 Milliarden Euro abliefern, aber Sie bieten ihnen keine Lösung der großen Probleme: keine Sanierung der sozialen Sicherungssysteme und keine vernünftige Haushaltskonsolidierung. Nichts von dem, was notwendig ist, passiert in unserem Land. Das ist die ernüchternde Bilanz einer Regierungskoalition, die einst mehr Freiheit wagen und durchregieren wollte und große Schritte angekündigt hat. Sie sollten wenigstens einmal Mut und Entschlossenheit zeigen und die nachweislich überflüssige Mehrwertsteuererhöhung - Sie hatten vor der Bundestagswahl durchaus Recht - aufgeben. Es wäre mutig, zu sagen: Wir erkennen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Wir haben abkassiert und eine Mehrwertsteuererhöhung beDr. Volker Wissing schlossen, die wir nicht brauchen. Wir haben 20 Milliarden Euro Mehreinnahmen erzielt. Wofür brauchen wir die zusätzlichen 19,5 Milliarden Euro aus der Mehrwertsteuererhöhung? Es wäre ein Zeichen von Mut, zuzugeben, dass Sie etwas falsch gemacht haben, und es zurückzunehmen. Dass Sie diesen Mut nicht haben, lässt weit blicken. Von dieser Koalition ist nichts Vernünftiges zu erwarten. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Lydia Westrich, SPDFraktion. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben erst vor kurzem mit dem Haushaltsbegleitgesetz die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007 beschlossen, wie wir es gemeinsam im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Ein Teil des zusätzlichen Aufkommens wird, wie Herr Bernhardt erklärt hat, zur Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verwendet und kommt damit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und auch den Unternehmen unmittelbar zugute. Der ermäßigte Steuersatz für die körperliche und geistige Nahrung sowie für den ÖPNV wird beibehalten. Es war keine leichte Entscheidung. Wir wissen, dass wir die Menschen damit spürbar belasten. Aber die Entscheidung ist Teil unseres gemeinsamen Fahrplans, in der Koalition eine wachstumsorientierte Haushaltspolitik fortzuführen. ({0}) Vornehmstes Ziel ist dabei, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte voranzubringen, und zwar so schnell und dauerhaft wie möglich. Dazu gehören gezielte Einsparungen bei Subventionen und sonstigen Fördertatbeständen, der Abbau von Steuervergünstigungen, Einsparungen bei der öffentlichen Verwaltung und einzelne Steuersatzanhebungen, darunter auch bei der Mehrwertsteuer. Es ist bekannt - auch Herr Wissing müsste das wissen -, dass der Abbau von Steuervergünstigungen und Subventionen erst mittelfristig haushaltswirksam wird, weil Übergangsregelungen und Vertrauensschutz zu berücksichtigen sind. Deswegen haben auch die Sachverständigen bestätigt, dass bei unserer Haushaltslage kurzfristig wirksame Maßnahmen wie Steuererhöhungen unerlässlich sind. Sie, meine Damen und Herren von der linken Fraktion, waren gegen jeden einzelnen Vorschlag. Sie sind nicht daran interessiert, dass unser Staat handlungsfähig bleibt. ({1}) Sie sind nicht daran interessiert, dass wir als Parlament über den Tag hinaus auch für unsere Kinder und Enkel Verantwortung zu tragen haben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Westrich, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir uns sicherlich in dem Punkt von Ihnen unterscheiden, dass wir Ihre Politik nicht für alternativlos halten, und dass wir selber in unserem Antrag - den Ihr Vorredner eben kritisiert hat - Alternativen aufzeigen: eine Reform der Einkommensbesteuerung mit einem niedrigen Eingangssteuersatz und einem ordentlichen Spitzensteuersatz. Warum nicht wieder - wie bei Herrn Kohl - 50 Prozent? Wir schlagen außerdem eine Vermögensbesteuerung - damit hätten wir die Bundesländer entlastet - und eine neue Erbschaftsbesteuerung vor.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen eine Frage stellen und dürfen nicht Ihr Programm darlegen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Herr Präsident. - Können Sie mir zustimmen, dass damit sehr wohl Alternativen auf dem Tisch liegen und wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen? ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Höll, wir haben uns hier schon einmal darüber auseinander gesetzt. Dadurch, dass Sie es nun wiederholen, wird es nicht besser. Wir, die Koalition, sind jedenfalls daran interessiert, eine wachstumsorientierte Politik zu machen. ({0}) Wir wollen Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze schaffen und nicht Maßnahmen ergreifen - zur Wiedereinführung der Vermögensteuer sage ich nachher noch etwas -, die günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft verhindern. ({1}) Das ist für die Menschen wichtiger als eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. ({2}) Meine Damen und Herren von der Linken, ich sehe, dass Sie sich ständig vor der Verantwortung für die Zukunft drücken, weil es einfacher ist, in den Tag hinein Politik zu machen. Herr Wissing, auch wenn sich die Einnahmeseite erfreulicher entwickelt als erwartet, bleibt - das müssen Sie zugeben - ein riesengroßer gesamtstaatlicher Schuldenberg in Höhe von weit über 1 Billion Euro bestehen. Gerade Ihre Fraktion hat sich ständig mahnend geäußert, wenn wir das Maastrichtkriterium nicht erfüllt haben. Fast 15 Prozent der Ausgaben müssen wir für Zinszahlungen aufwenden. Wie weit sollen wir Ihrer Meinung nach dieses Spiel noch treiben? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihr Antrag ist für mich ein deutliches Zeichen, dass Sie den von Ihnen so hochgeschätzten Wirtschaftsökonomen Keynes gründlich missverstanden haben, oder Sie beweisen damit, dass seine Theorien in der Praxis nicht funktionieren können. Gebetsmühlenartig hat Ihr Fraktionsvorsitzender seit Jahren gefordert: In wirtschaftlich schlechten Zeiten muss der Staat Förderprogramme auflegen und sich verschulden, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der von Ihnen bevorzugte Sachverständige Professor Jarass, der natürlich ebenfalls gegen die Mehrwertsteuererhöhung wettert, hat fast in jeder Anhörung vorgetragen, dass wir antizyklisch handeln müssen und staatliche Förderprogramme auflegen sollen. Aber zeigt sich wie momentan ein Silberstreif am Horizont, ist der zweite Teil der Theorie prompt vergessen. Sofort werden neue Begehrlichkeiten wach und der Schuldenberg bleibt bestehen bzw. wächst bei der nächsten Wirtschaftsdelle wieder. Das ist Politik nach dem Motto „Nach mir die Sintflut!“. ({3}) Sie hat mit Verantwortungsbewusstsein wenig zu tun, ist allerdings bequem und kommt bei Versammlungen immer gut an; denn Sie gaukeln damit vor, dass Sie die vorhandenen Probleme im Handumdrehen lösen können, ohne jemandem wehzutun. ({4}) Ich persönlich hätte mir vielleicht ebenfalls eine andere Lösung vorstellen können. Aber Koalitionen funktionieren nur, wie Sie aus eigenen Erfahrungen wissen, wenn es ein Geben und Nehmen gibt. Eines ist klar: Auch andere Lösungen hätten den Menschen wehgetan; denn sie hätten ebenfalls dem Erreichen des Ziels dienen müssen, den Haushalt dauerhaft und wirksam zu konsolidieren. Wie man es dreht und wendet, irgendwo hätte es schmerzhafte Einschnitte geben müssen. Auch das hätte Ihnen nicht gefallen. Wir hätten dann ähnliche Debatten über Maßnahmen geführt und Sie hätten sich ebenfalls verweigert. Sie machen keine Politik für die Zukunft. ({5}) Es ist ein Witz, dass Sie ständig wiederholen, dass die Einnahmen aus der Vermögensteuer es schon richten werden. Zuletzt betrugen die Einnahmen gerade einmal rund 500 Millionen Euro. ({6}) Sie müssten sich doch ein bisschen Realismus bewahrt haben. Was glauben Sie denn, wie schnell große und kleine Vermögen aus Deutschland weg sind oder in Stiftungen geparkt sind, wenn wir uns mit der Wiederbelebung dieser Steuerart beschäftigen? Dann können Sie die Finanzverwaltung Silberlöffel zählen schicken und die Vermögensteuer darauf berechnen lassen. Glauben Sie mir, der Aufwand wird sehr viel größer sein als der Ertrag! ({7}) Außerdem haben wir damals, als die Vermögensteuer weggefallen ist, die Erbschaftsteuer als Kompensation erhöht. Solche Wirtschaftstheorien wie die von Keynes, die von Ihnen ständig vorgetragen werden, wurden schon ausprobiert, zum Beispiel in solchen wichtigen und glücklichen Ausnahmefällen wie bei der deutschen Einheit. Aber es gibt nicht nur eine angenehme Seite der Medaille, sondern auch eine zwingende. Wir, die Koalition, wollen die Schulden, die wir machen mussten, sobald wie möglich zurückführen, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen. ({8}) Es wundert mich nicht, dass die FDP zumindest der Überschrift Ihres Antrages zustimmt. ({9}) - Ich hätte mir auch andere Lösungen vorstellen können. - Die neoliberalen Kolleginnen und Kollegen wollen sowieso alles privatisieren. Ihnen kann ein enges Korsett des Staates nur Recht sein. Aber Sie von der Linken sollten wissen, dass ein schwacher Staat nur den starken Schultern nützt. Die Schwachen, deren Anwalt Sie mit Ihrem Antrag angeblich sein wollen, brauchen den starken Staat. Sie brauchen einen Staat, der Schulen, Straßen und Pflegeheime bauen kann, ({10}) der Familien unterstützt, für hochwertige Bildung sorgt und günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schafft. Als Koalition verfolgen wir genau dieses Ziel. Wir brauchen Wachstum. Dafür haben wir ein 25-Milliarden-Euro-Programm in Gang gesetzt, das vom Straßenbau bis zur Familienförderung reicht - heute haben wir über das Elterngeld abgestimmt - und die Wirtschaft unterstützt und belebt. Die Wirtschaftsentwicklung ist robust. Viele Unternehmen werden das bestätigen. ({11}) Dass am nächsten 1. Januar der große Hammer kommt, glaubt in diesem Saal eigentlich niemand. Sie wissen selbst, dass klammheimlich viele Preise schon erhöht worden sind. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, dann hieße das, dass die Konsumenten die höheren Preise sowieso bezahlen würden, der Staat das Nachsehen hätte und die Unternehmen höhere Gewinne erzielen würden. Wenn sie die hier versteuern, hätten wir vielleicht noch einige zusätzliche Einnahmen. Einen seriösen Haushalt kann man mit diesen Vermutungen nicht aufstellen. So weh es tut: Die Mehrwertsteuererhöhung wird gebraucht. Ich will mich nicht damit abfinden, jährlich 40 Milliarden Euro mehr an Zinsen zahlen zu müssen. Ich will das Geld, das heute für Zinsen gezahlt werden muss, in Bildung, in Wissenschaft, in Weiterbildung, in Integration, in Umweltschutz, in erneuerbare Energien und in Familienförderung stecken. Ich will die Nettokreditaufnahme schnell auf null senken und endlich an die Tilgung der Schulden herangehen. Wir stehen in der Verantwortung für die zukünftigen Generationen. Das ist Zukunftsmusik; ich weiß das. Aber mit unserer Haushaltspolitik der maßvollen Erhöhung der Einnahmeseite und moderater Ausgabenkürzung können wir diese Töne jetzt schon hören. Wir werden unserer Verantwortung als Koalition für die Zukunft gerecht. Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, Armutsrisiken in unserem Land zu bekämpfen, dann verlangen Sie nicht den Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung, sondern helfen Sie mit, die Haushaltsungleichgewichte zu korrigieren und dadurch für die Ausgaben in Forschung, in Entwicklung, in Bildung und in Innovationen Raum zu schaffen. Nur indem wir den Menschen die Chancen einräumen, ein gutes Erwerbseinkommen zu erzielen, kommen wir gegen Armut an. Deshalb tun wir als Koalition alles, um günstige Rahmenbedingungen für die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen herzustellen. Nur durch den Ausbau von Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten haben die Menschen wirkliche Teilhabechancen. ({12}) - Herr Wissing, für die Zukunft ist die andere Politik richtig. ({13}) Auch Sie würden das einsehen, wenn Sie in der Regierung sitzen würden. Sie sagen das jetzt nur, weil Sie in der Opposition sind. Selbst Ihr großer Vorsitzender hat zugegeben, dass Sie das alles mitmachen würden, wenn Sie in eine Koalition eintreten könnten. ({14}) - Das kann man in Zeitungsartikeln nachlesen. - Wie viele Mehrwertsteuererhöhungen haben Sie denn schon mitgemacht? Das muss ich Ihnen auch noch einmal sagen. Mit den von den Linken vorgeschlagenen Ersatzfinanzierungsmaßnahmen erreichen wir eher das Gegenteil. Deswegen müssen wir diesen Antrag natürlich ablehnen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Grünen haben dem Haushaltsbegleitgesetz nicht zugestimmt, weil wir gegen die Mehrwertsteuererhöhung sind. Es hat sich nichts geändert an unserer Position. Wir sind nach wie vor gegen die Mehrwertsteuererhöhung. Aber Ihr Antrag, Frau Höll, bringt uns in der Debatte nicht weiter. Er reflektiert den Diskussionsstand, den wir vor der Sommerpause hatten, als es um dieses Gesetz ging. Dieser Antrag ist nicht nur kurz, sondern er ist leider auch dünn. Wir Grünen haben dagegen eine Reihe von neuen Ideen in die Diskussion eingebracht. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Mit diesen Ideen würden wir in der Debatte weiterkommen. Ich würde mir von der Linksfraktion innovative Vorschläge erwarten und nicht nur diesen Einzeiler, auf die Mehrwertsteuererhöhung zu verzichten. Das ist wirklich nicht nur kurz, sondern dünn. ({0}) Die große Koalition spricht von Prioritäten und begründet die Mehrwertsteuer mit nicht tragenden Argumenten. Frau Westrich, Sie sagen, Haushaltskonsolidierung sei das vornehmste Ziel. Auch Herr Bernhardt hat es angesprochen: Solide Haushaltspolitik und gute Wirtschaftspolitik gehören zusammen. Damit rennen Sie bei uns Grünen natürlich offene Türen ein; denn dieser Zusammenhang ist extrem wichtig. Wenn Haushaltskonsolidierung wirklich Ihr vornehmstes Ziel wäre, dann müsste Ihr Haushalt anders aussehen. Von den 20 Milliarden Euro Mehreinnahmen durch die Mehrwertsteuererhöhung bleiben für die Konsolidierung nur 16 Milliarden Euro: Sie reduzieren die Neuverschuldung von 38 Milliarden Euro auf 22 Milliarden Euro. Das heißt, im Endeffekt nutzen Sie die Potenziale nicht wirklich. Wir Grünen haben in den Haushaltsberatungen Vorschläge für Einsparungen in Milliardenhöhe vorgelegt, die Sie alle abgelehnt haben. Haushaltskonsolidierung als Ihr vornehmstes Ziel zu bezeichnen und damit die Mehrwertsteuererhöhung zu begründen, das funktioniert nicht; sonst müsste Ihre Haushaltspolitik anders aussehen. ({1}) Auch das Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken, wird gern zur Begründung der Mehrwertsteuererhöhung herangezogen. Wir machen bei einer Senkung der Lohnnebenkosten gern mit. Die Lohnnebenkosten steigen durch die Politik der großen Koalition aber; sie sinken eben nicht. Daher lässt sich Ihre Mehrwertsteuer5392 erhöhung auch nicht damit begründen, dass Sie die Lohnnebenkosten senken wollen. Wenn Sie an der Mehrwertsteuererhöhung schon festhalten wollen, dann nutzen Sie sie bitte komplett zur Senkung der Lohnnebenkosten, um eine neue Dynamik am Arbeitsmarkt auszulösen. Aber auch diesen Vorschlag von uns haben Sie abgelehnt. Sie haben eben von einer wachstumsorientierten Politik gesprochen. Dazu muss ich sagen: Wenn man solch ein Konjunkturrisiko eingeht, dann ist das natürlich eine heikle Sache. Wenn Sie an der Mehrwertsteuererhöhung schon festhalten wollen, dann gehen Sie doch bitte in drei Stufen vor, um es konjunkturunschädlich zu machen und die Wachstumspotenziale nicht zu gefährden. Dieser Vorschlag wurde vom Finanzminister hier ebenfalls in Bausch und Bogen abgelehnt, mit der wackeligen Begründung, er schätze keine Fortsetzungsromane. Sie haben sich mit diesem Gedanken also nicht einmal ernsthaft auseinander gesetzt. ({2}) Es stellt sich natürlich die Frage: Welche Funktion hat diese Mehrwertsteuererhöhung eigentlich? Es ist ziemlich klar: Sie brauchen die Mehrwertsteuererhöhung, um die Schwächen Ihrer Politik zu überdecken. Sie brauchen sie als Schmiermittel für die Koalition. Sonst würden beim Thema Haushalt nämlich dieselben Konflikte wie bei allen anderen Reformen, die Sie in Angriff genommen haben, massiv aufbrechen. Die Mehrwertsteuer hat nur die Funktion, hier die Wogen zu glätten, damit Sie wenigstens an einer Stelle Ruhe haben. Das kann doch nicht die Begründung sein, wenn Sie die Bürger in diesem Maße belasten. ({3}) Sie haben Glück: Die Konjunktur gibt Ihnen Rückenwind. Aber Sie sollten sich auf dieses Glück nicht verlassen. Sie kennen die Risiken für die Konjunktur: Ölpreiserhöhungen, Krise in Nahost. Das sind durchaus gefährliche Signale. Wir wünschen uns, dass Sie unsere sinnvollen Vorschläge ernst nehmen und Ihre Politik in diesem Punkt überdenken. Danke. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2507 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0}) - Kollege Beck, bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beantragen die sofortige Abstimmung über diesen Antrag.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Grund, bitte.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt 12.23 Uhr. Wir haben eine gute halbe Stunde über das Thema „Sinnhaftigkeit der Mehrwertsteuererhöhung“ debattiert. Es sind alle Argumente ausgetauscht worden. In den Vorrunden ist vereinbart worden, diesen Antrag in die Ausschüsse zur weiteren Beratung zu überweisen. Dabei geht es um einige Milliarden Euro, um eine Beoder auch eine Entlastung der Steuerzahler. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion widerspricht dem Antrag auf sofortige Abstimmung. Wir beantragen die Überweisung an die Ausschüsse, so wie es vorgesehen ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Küster, bitte.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Aufstellung der Tagesordnung für diese Woche haben wir uns sehr wohl überlegt, was man mit diesem Antrag, den die Linke hier debattieren wollte, macht. Natürlich haben wir im Ältestenrat gemeinsam entschieden, dass dieser Antrag an die Ausschüsse überwiesen und dort debattiert werden soll. Wenn man im Plenum einen solchen Antrag, nach dem in viele Gesetze eingegriffen werden soll, sofort entscheiden wollte, müsste man hier im Grunde genommen eine öffentliche Ausschusssitzung durchführen. Dem kann man natürlich folgen. Herrn Beck, der immer für einen Geschäftsordnungsantrag gut ist, sich hier aber entgegen seinem Fachwissen einem solch unsoliden Antrag der Fraktion DIE LINKE zuwendet, kann ich nur raten, zukünftig genauer zu überlegen, was das heißt. Wir dürfen nicht glauben, mit einer „Husch, husch!“Entscheidung könnte man eine hier mit einer übergroßen Mehrheit des Hauses getroffene Entscheidung einfach wegwischen. Schlicht und ergreifend muss ich sagen: Ich halte es für unsolide, mit einer möglichen Zufallsmehrheit hier irgendetwas erreichen zu wollen. ({0}) Was wollen Sie erreichen Herr Kollege Beck - außer Spektakel und Brimborium? Was haben Sie, Herr Beck, in der letzten Zeit hier eigentlich inhaltlich zustande gebracht? Das kann man natürlich machen. Was Sie hier tun, ist Kasperletheater. Wir sind aber hier im Bundestag. Wir wollen in Ruhe über solche Dinge beraten. Deswegen bleibt die SPD-Fraktion dabei - die CDU/CSUFraktion hat es schon beantragt -: Überweisung in die Ausschüsse. Wir wollen das in Ruhe beraten. Dort können wir die Sachargumente austauschen. Dann werden wir sehen, was daraus wird. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Küster, der Sinn Ihrer Übung ist erfüllt. Wenn ich das richtig sehe, hat die Koalition ihre Mehrheit. Sie haben Ihre disziplinarische Anstrengung also erfolgreich beendet. Bestehen Sie weiterhin auf Abstimmung? - Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag des Kollegen Beck. Wer dem Antrag des Kollegen Beck zustimmt, über den Antrag auf Drucksache 16/2507 sofort abzustimmen, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Das Letztere ist die Mehrheit. Damit ist der Antrag des Kollegen Beck abgelehnt und die Überweisung des Antrags auf Drucksache 16/2507 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse beschlossen. ({0}) Ich rufe die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf: ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz ({1}), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel - Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten - Drucksache 16/2748 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel - Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten - Drucksache 16/2752 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Sparkassen-Namensschutz sichern - EURecht wahren - Parlamentarische Einflussnahme sicherstellen - Drucksache 16/2745 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. ({2}) Bevor ich dem Kollegen Reinhard Schultz, SPDFraktion, das Wort erteile, bitte ich die Kollegen, die an der Debatte jetzt nicht teilnehmen wollen, ihre Gespräche draußen fortzusetzen. - Bitte, Herr Kollege. ({3})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Nachmittag wird die Bundesregierung endgültig Stellung nehmen zu den Forderungen der EUKommission im Zusammenhang mit dem Beihilfeverfahren, das sich auf die Sanierung der seinerzeitigen Berliner Bankgesellschaft und der daran hängenden Berliner Sparkasse mit öffentlichen Mitteln gründete. Aus diesem Grunde ist es umso sinnvoller, dass wir als Parlamentarier heute möglichst gemeinsam und fraktionsübergreifend deutlich machen, wie wir zu der traditionellen Eigentumsordnung im deutschen Bankensektor stehen, also zum dreigliedrigen Bankensystem mit Privatbanken, Volksbanken und Sparkassen. ({0}) Wir halten es für wenig hilfreich, dass die EU-Kommission versucht, eine Zangenbewegung auszuführen, indem sie das laufende Beihilfeverfahren benutzt, um damit gleichzeitig das schwebende Vertragsverletzungsverfahren wegen § 40 des Kreditwesengesetzes, das sozusagen die Grundlage der Eigentumsordnung für die Sparkassen darstellt, zu befördern. Wir, die SPD, die CDU/CSU, die Grünen - das entnehme ich jedenfalls dem wortgleichen Antrag der Grünen - und die Linke - ich bin gespannt, was von der FDP kommen wird -, stehen mit einer offensichtlich breiten Mehrheit hinter dieser Eigentumsordnung, die auch gemäß EU-Verträgen ausschließlich Angelegenheit der nationalen Parlamente ist. ({1}) Wenn darüber verhandelt wird, ob die Bundesregierung gegenüber der EU zusagen kann, § 40 KWG zu verändern, mag das auf den ersten Blick eine Regierungsangelegenheit sein, aber letztendlich ist das Parlament gefragt, nämlich wir. Wir bringen mit unserem Antrag zum Ausdruck: Wir wollen an dieser Eigentumsordnung nichts ändern. Das hat Gründe. Wir sind kein Verein zur Pflege ökonomischer Traditionen, sondern wir wissen, dass sich das dreigliedrige System seit vielen Jahren bewährt hat, dass die Sparkassen insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten einen hohen Stabilisierungsfaktor für den gesamten Finanzsektor darstellen, dass die Sparkassen nicht nur die Geldversorgung in der Fläche sicherstellen, sondern insbesondere auch für die kleinen Leute, die auf Transferleistungen angewiesen sind und woanders kein Girokonto - ich nenne nur das Stichwort „Girokonto für jedermann“ - bekommen, da sind. Wir wissen, dass die Sparkassen etwa 43 Prozent der gesamten Mittelstandsfinanzierung über Unternehmenskredite in Deutschland leisten. Wir wissen, dass zwei Drittel aller Kredite für das Handwerk inzwischen über die Sparkassen laufen. Wir wissen, dass jede zweite Existenzgründung in Deutschland mithilfe von Sparkassen zustande kommt. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte möchten wir ungern am System rütteln lassen. Reinhard Schultz ({2}) ({3}) Warum will überhaupt jemand daran rütteln? Regelmäßig hört man zum Beispiel vom IWF, wenn er sich über die Stabilität des deutschen Finanzplatzes und der deutschen Wirtschaft Gedanken macht, die Aussage, häufig sogar relativ unvermittelt: Im Übrigen wäre es schon längst an der Zeit, dass der öffentlich-rechtliche Sparkassensektor zur Privatisierung freigegeben wird. Ich frage mich immer, warum. Aus den Berichten, die wir vom IWF zu lesen bekommen, lässt sich das nicht herleiten. Vielmehr sprechen zum Beispiel die Berichte über Stresstests des IWF - den Bankensektor unterzieht er regelmäßig solchen Tests - eine ganz andere Sprache. Bei diesen Stresstests werden extreme wirtschaftliche Situationen simuliert und es wird geschaut, wer diese einigermaßen glücklich übersteht. Wenn man die Berichte liest, stellt man nämlich fest, dass von den drei Säulen - Banken, Volksbanken und Sparkassen - regelmäßig die Sparkassen am besten abschneiden. Trotzdem fordert der IWF ausdrücklich die Privatisierung. Das ist nicht nachvollziehbar. ({4}) Wer hätte etwas von der Privatisierung? Es gibt eine Reihe von Privatbanken, die diese regelmäßig fordern. Deren Dachverband flüstert dem zuständigen EU-Kommissar, auf dessen Schreibtisch er sozusagen übernachtet, regelmäßig ins Ohr: Sparkassen privatisieren, Sparkassen privatisieren, Sparkassen privatisieren! Warum wollen die Privatbanken dies? Weil sie in der Vergangenheit mit ihrer Geschäftspolitik komplett gescheitert sind. Einige Banken gibt es gar nicht mehr als eigenständige Banken, andere haben sich völlig aus der Fläche zurückgezogen, stehen damit für die Geldversorgung in diesem Bereich nicht mehr zur Verfügung und haben den Mittelstand bzw. die Existenzgründer als Kunden verloren. Nachdem sie eingesehen haben, dass ihre Geschäftspolitik falsch war, würden sie sich ganz gerne des Vertriebsnetzes der Sparkassen bedienen. Das ist ihre Absicht: Sie wollen sich fett fressen zulasten anderer. Ich denke, es ist nicht Aufgabe des Parlaments, ihnen hierzu die Hand zu reichen. ({5}) Die Sparkassen sind schon etwas Besonderes. Sie sind nicht nur öffentlich-rechtlich organisiert, sie sind auch in besonderer Weise dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Gewinne, die sie machen, müssen sie entweder thesaurieren oder für gemeinnützige Zwecke im weitesten Sinne in der Regel in ihrer Region zur Verfügung stellen. Auch das trägt natürlich zur Stabilität von regionalen bzw. kommunalen und politischen Strukturen vor Ort bei. Einen solchen Stabilitätsfaktor möchten wir sehr ungerne opfern. Nun zur Frage Berliner Bankgesellschaft und dazu gehöriger Sparkasse. Hierbei handelt es sich um einen unglücklichen historischen Sonderfall. Das sage ich in aller Offenheit; die Berliner mögen es mir verzeihen. ({6}) Eine Kumulation von Missmanagement, krimineller Energie und Totalversagen der Aufsichtsgremien hat hier dazu geführt, dass mit riesigem öffentlichen Aufwand dieses Bankenkonglomerat saniert werden musste. Es war natürlich das Recht der EU, sich in diesen Beihilfefall einzumischen. Dabei hat sie nun einmal entschieden, dass diese Bankengruppe, sobald sie erfolgreich saniert ist, komplett und diskriminierungsfrei verkauft werden muss. Sie gibt nicht vor, an wen, aber es darf keine künstlichen Hürden geben, die in die eine oder andere Richtung lenken. Das ist letztendlich zu akzeptieren, so bedauerlich das aus meiner Sicht auch ist. Wir halten uns an diese Entscheidung; aber wir wollen bewusst diesen Sonderfall von dem Schicksal des gesamten Sparkassensektors isolieren, mit dem er auch gar nichts zu tun hat. ({7}) Selbst die Berliner Bankgesellschaft war als eine Art Holding mehr eine privatrechtliche Konstruktion, in die dann eine ehemals öffentlich-rechtliche integriert worden ist. Da hätte man vielleicht vor zehn Jahren als Aufsicht „reingrätschen“ können; das hat man aus politischen Gründen jedoch nicht getan. Dieser Fehler ist aber kein Grund dafür, dass man den Fehler für alle anderen öffentlichen Kreditinstitute und Sparkassen sozusagen zur Regel macht. Auch die Fragen nach Name und Gattung sind nicht auseinander zu halten. Der Name „Sparkasse“ bezeichnet etwas ganz Besonderes, Spezielles, nämlich öffentlich-rechtlich organisiert und dem Gemeinwohl verpflichtet. Wer den Namen „Sparkasse“ führt, muss öffentlich-rechtlich organisiert und dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Wer eine Bank führt, die nicht dem Gemeinwohl verpflichtet ist oder nicht öffentlich-rechtlich ist, darf sie nicht Sparkasse nennen. Deshalb wollen wir den Namenschutz, wie es so schön heißt ({8}) - oder auch Bezeichnungsschutz -, der in § 40 Kreditwesengesetz zugrunde gelegt ist, gemäß unserem Entschließungsantrag ausdrücklich aufrechterhalten. Das ist im Interesse der gesamten Sparkassenfamilie und der daran hängenden Kommunen, denen die Sparkassen gehören, der 377 000 Mitarbeiter, der Kunden und des Mittelstandes, der darauf angewiesen ist. Sie alle können sich in dieser Frage auf die SPD-Fraktion und auf die Koalition verlassen. ({9}) - Bitte? ({10}) - Das musst du gleich selber sagen, Leo. Ich würde in vielen Fällen gern Generalprokura von Euch bekommen. Reinhard Schultz ({11}) Ich habe sie aber noch nicht, deshalb musst du bestimmte Dinge schon selbst aussprechen. Ich denke, wir müssen die Frage Beihilfeverfahren und Vertragsverletzungsverfahren als ein Paket sehen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung, das weiterhin als ein Paket zu behandeln. Wir dürfen nicht auf den Versuch der EU hereinfallen, das auseinander zu dröseln und erst die Beihilfefrage zu entscheiden und dann trotzdem zu versuchen, das generelle Sparkassenrecht und Sparkassenprivileg zu kippen. ({12}) Es muss letztendlich eine Lösung aus einem Guss geben. ({13}) Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung gut verhandelt, dass sie die heutige Stellungnahme des Parlamentes mit zur Grundlage ihrer Stellungnahme macht und dass das Parlament der Regierung gegen Übergriffe, die weder rechtlich noch sachlich geboten sind, den Rücken stärkt. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir Rücken an Rücken im Interesse der Sparkassen aus dieser Angelegenheit gut herauskommen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktionen, die auf unterschiedlichen Wegen zum Ausdruck bringen, dass auch sie unseren Antrag in Ordnung finden. Die Linken haben mir gesagt, dass sie ihren Antrag gleich zurückziehen und unserem zustimmen werden. Die Grünen haben wortgleich denselben Antrag vorgelegt, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht im Kopf unseres Antrages erscheinen konnten. ({14}) Ich sage: Bei den vielen Großkarierten gibt es schon Unterschiede in der Größe des Karos; das ist manchmal so. Letztendlich zählt das Ergebnis: Es wird eine breite Mehrheit geben. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Frank Schäffler von der FDP-Fraktion das Wort.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit um den Namen „Sparkasse“ geht mit Ihrem Antrag in eine neue Runde. Bisher sind die Verhandlungen der Bundesregierung mit der EU-Kommission ein Auf und Ab der Gefühle gewesen. Erst sicherte die Bundeskanzlerin im Mai bei der Einführung des neuen Sparkassenpräsidenten Haasis noch vollmundig zu, den öffentlichrechtlichen Status der Sparkassen zu schützen. Dann schlug die Bundesregierung eine Insellösung für die Berliner Sparkasse vor. Etwas später legte die Regierung dann einen neuen § 40 Kreditwesengesetz vor, der auch private Rechtsformen und private Eigentümer zuließ. Jetzt machen Sie mit Ihrem Antrag eine Rolle rückwärts. ({0}) Die Verhandlungsbilanz der Bundesregierung in Brüssel ist bislang katastrophal. Sie schaden mit diesem Rumgeeiere dem Finanzplatz Deutschland. Sie hätten eigentlich aus dem Verhandlungsdebakel um Anstaltslast und Gewährträgerhaftung im Jahr 2001 lernen müssen. Die Vorgehensweise der damaligen rotgrünen Bundesregierung erinnert an den Elefanten im Porzellanladen. Heute können wir feststellen: Anstaltslast und Gewährträgerhaftung führten zu Refinanzierungsvorteilen, die man heute an den schlechteren Ratings der Landesbanken ablesen kann. Fakt ist: Die damalige Bundesregierung konnte sich mit Drohungen in Brüssel nicht durchsetzen. Der Finanzmarkt in Deutschland ist durch den Wegfall von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung gestärkt worden. Wir müssen die Diskussion um den Finanzplatz Deutschland offensiv führen, nicht rückwärts gewandt. Nur das hilft dem Mittelstand und den Arbeitsplätzen in diesem Land. Fakt ist: Wir haben in Europa mit die höchsten Kreditzinsen. Wir haben mehr Bankstellen als Bäckereien und Tankstellen zusammen. ({1}) Es gibt in Deutschland keine Bank mehr, die in Europa unter den Top Ten ist. Dabei sind wir in Europa mit Abstand die größte Volkswirtschaft. Länder um uns herum haben ihre Finanzmärkte reformiert, haben ihr Bankensystem durchlässiger gemacht und den Staatsanteil reduziert. Deutschland hat dagegen in Europa nach wie vor den höchsten Staatsanteil im Bankensektor. In Spanien, Italien, Schweden, in den Niederlanden und in Frankreich wurden nach teilweise schweren Krisen Reformen aktiv eingeleitet. Der Wettbewerb wurde intensiver, Bankprodukte sind preiswert und die Institute stehen profitabel da. Das Dreisäulensystem in Deutschland ist längst in der Veränderung begriffen. Der Vertrieb über das Internet hebelt das Regionalprinzip aus, an das sich die Landesbanken ohnehin nicht halten. Der Einstieg von privaten Investoren bei einer Landesbank, der HSH Nordbank, ist bereits erfolgt. Das Land Nordrhein-Westfalen will seinen Anteil an der West-LB ebenfalls privatisieren. Landesbanken übernehmen längst Privatbanken. Gleichzeitig findet ein konstruktiver Wettbewerb in den Ländern um das beste Sparkassengesetz statt. Das begrüßen wir ausdrücklich. Thomas Fischer, der Vorstandssprecher der West-LB und Präsident des Bundesverbandes Öffentlicher Banken, hat am 25. November 2004 im „Handelsblatt“ erklärt: Wir sollten es den Eigentümern von Landesbanken und Sparkassen überlassen, wie sie mit ihren Eigentumstiteln verfahren. Das ist nicht Sache von Vorständen und Verbandspräsidenten. Das sehe ich genauso. In diesem Prozess schlagen Sie jetzt in Ihrem Antrag vor, Berlin wieder zu einer Insel zu machen. Wenige Tage vor dem Tag der Deutschen Einheit ist dies besonders pikant. Sie akzeptieren mit der Insellösung Berlin immerhin, dass Sie sich an die Entscheidung der EUKommission zu den Umstrukturierungsbeihilfen zugunsten der Landesbank Berlin Holding halten wollen. Da waren aus dem Regierungslager in den letzten Tagen und Wochen auch schon andere Töne zu hören. Eine diskriminierungsfreie Privatisierung der Landesbank Berlin Holding und damit auch der Sparkasse Berlin kann jedoch nur erfolgen, wenn Rechtssicherheit besteht und wenn alle Bieter den Geschäfts- und Vermögenswert zu gleichen Bedingungen erwerben können. Erst dann kann das Veräußerungsverfahren eingeleitet werden. Dazu ist das Zeitfenster für eine Verständigung mit der EU-Kommission sehr klein. Gelingt dies nicht, dann drohen Deutschland Schadensersatzforderungen in einer Größenordnung von bis zu 9,7 Milliarden Euro. Ich glaube nicht, dass Sie das Beihilfeverfahren vom Vertragsverletzungsverfahren trennen können. Dazu hat diese Bundesregierung zu viele Scherben in Brüssel verursacht. Sie werden mit Ihrem Antrag die Fronten weiter verhärten. Deshalb sind Ihre Anträge nicht hilfreich. Die Bundesregierung sollte sich um einen Erfolg bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission bemühen. Sie schlagen die Schlachten der Vergangenheit. Ein jahrelanger Rechtsstreit mit der EU-Kommission schwächt den Finanzplatz Deutschland. Wir werden uns daran nicht beteiligen und uns deshalb der Stimme enthalten. ({2}) Wir fordern Sie auf, sich endlich auf die Kommission zuzubewegen und sich mit ihr zu einigen, damit die anstehende deutsche Ratspräsidentschaft nicht weiter belastet wird. Wir Liberale wollen einen dynamischen Finanzmarkt zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger und insbesondere des Mittelstandes in diesem Lande. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vielstimmigkeit ist gerade in der Politik nicht immer ein Garant für eine gemeinsame Komposition. Manchmal endet der vielstimmige Einsatz, geschieht er auch in vermeintlich gemeinsamer Sache, in Kakofonie. Vor einer derartigen Kakofonie möchte ich in unserer heutigen Diskussion über die Zukunft des deutschen Dreisäulensystems in der Kreditwirtschaft einschließlich der Sparkassen nachdrücklich warnen. Kollege Schäffler, Sie haben angesprochen, an welcher Stelle sich die jeweiligen deutschen Banken im internationalen Ranking befinden. Die derzeitige Position der deutschen Banken hat etwas damit zu tun, dass in der Vergangenheit gerade in der Säule der privatwirtschaftlich organisierten Banken im Gegensatz zu international agierenden Banken nicht viel umstrukturiert wurde. Das ist der Grund dafür, warum gerade Banken dieses Bereiches bei der Marktkapitalisierung nur unter den ersten 20 zu finden sind. Das hat nichts damit zu tun, wie es um den öffentlich-rechtlichen Bereich bestellt ist. ({0}) Es erfreut mich, dass auch die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen von einer Kakofonie Abstand nimmt. Ich sehe es ihr daher nach, dass sie den Antrag der Koalitionsfraktionen einfach kopiert hat. Die CDU/CSU, die SPD und die Grünen sprechen also heute beim Thema Sparkassen mit einer Stimme. Es bleiben nur noch die Vielstimmigkeit in der FDP und die falsche Tonlage der Fraktion Die Linke. Ich denke, es ist unstrittig, dass wir im Deutschen Bundestag in der großen Mehrzahl den Bezeichnungsschutz im Hinblick auf die öffentlich-rechtlichen Sparkassen und damit § 40 des Kreditwesengesetzes in seinem Kern erhalten möchten. Aber dieses gemeinsame Ziel allein reicht nicht aus. Wir - damit meine ich die verhandlungsführende Bundesregierung im Schulterschluss mit dem Parlament - brauchen auch einen gemeinsamen Weg dorthin. Der Weg, den Sie, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, in Ihrem Antrag vorschlagen, ist dazu mit Sicherheit nicht geeignet. Sie nageln die Bundesregierung auf zwei Verhandlungslinien fest. Entweder soll die Bundesregierung auf ihrem Kompromissvorschlag vom Juni dieses Jahres beharren oder sie soll ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof in Kauf nehmen. Beides ist kein gangbarer Weg. Das Beharren auf einem Kompromissvorschlag widerspricht dem Wesen jeder Verhandlung, bei der sich immer wieder neue Positionen entwickeln können und sollen. Die wissentliche Inkaufnahme und das geradezu offensichtliche Ansteuern eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof sind, gesamtstaatlich betrachtet, unverantwortlich. Wenn wir den Bezeichnungsschutz im Hinblick auf Sparkassen in Deutschland bewahren möchten, kommt es auf Folgendes an: Zunächst einmal müssen wir die Bundesregierung in ihren aktuellen komplizierten Verhandlungen mit der EU-Kommission unterstützen. Die Bundesregierung hat wie wir den Bezeichnungsschutz im Hinblick auf Sparkassen zum Ziel. Wir kämpfen hier für eine gemeinsame Sache. Dafür sollten wir als Parlament den Verhandlungsführern den Weg für eine gute Verhandlungslösung bereiten und diesen Weg, meine Damen und Herren von der Linken, nicht verbauen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist dazu geeignet, einen solchen Weg zu bereiten. Wir legen die Bundesregierung einerseits nicht auf eine einzige Verhandlungslinie fest. Andererseits beziehen wir aber auch sehr deutlich Position zur Bedeutung des Dreisäulensystems einschließlich der Sparkassen. Dadurch zeichnen wir mögliche Lösungsansätze vor und machen deutlich: Wir sind nicht bereit, jedes Brüsseler Verhandlungsergebnis zu akzeptieren. Worin besteht nun die besondere Bedeutung des Dreisäulensystems einschließlich der Sparkassen als ihrem integralen Bestandteil? Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade der Wettbewerb zwischen und innerhalb der drei Säulen dafür gesorgt hat und weiterhin sorgt, dass wir in Deutschland eine flächendeckende Versorgung mit Bankdienstleistungen sowohl für Privathaushalte als auch für Unternehmen sicherstellen können. ({1}) Zu dieser Versorgung trägt jede Säule in unterschiedlicher Weise bei, die Privatbanken ebenso wie die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen. Die besonderen Leistungen der Sparkassen beruhen dabei vor allem auf ihrem besonderen Strukturmerkmal. Das sind erstens die kommunale Bindung und zweitens die gemeinwohlorientierte Ausrichtung in der Geschäftspolitik und Gewinnverwendung. Institutionell abgesichert werden diese Strukturmerkmale der Sparkassen durch das Regionalprinzip und die öffentliche Rechtsform. Ziel muss es sein, dass diese institutionelle Absicherung bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission im Sinne des § 40 KWG - das heißt im Kern - bewahrt wird. Diese institutionelle Absicherung ist das am besten geeignete Instrument, um die von uns gewollte Gemeinwohlorientierung der Sparkassen auch zukünftig sicherzustellen. Ich bin davon überzeugt, dass wir gute Chancen haben, mit der EU-Kommission eine Lösung im Sinne dieser Forderung zu erzielen. Denn wir haben gute Argumente, auch EU-rechtliche, auf unserer Seite. Ich möchte hier nur zwei nennen. Erstens lässt Art. 295 EG-Vertrag die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt. Das heißt, die Entscheidung über die Privatisierung eines öffentlich-rechtlichen Kreditinstituts fällt in die Zuständigkeit des jeweiligen Mitgliedstaates. Zweitens enthält der Bezeichnungsschutz für Sparkassen gemäß § 40 KWG keine Diskriminierung, da er sowohl für inländische als auch für ausländische Investoren gilt. Losgelöst von dieser grundsätzlichen Problematik des § 40 Kreditwesengesetz ist der Fall des Beihilfeverfahrens der Bankgesellschaft Berlin zu betrachten; darauf wurde ja schon von Kollegen Bezug genommen. Ich denke, wir sind uns darin einig, dass es hierbei um einen Sonderfall geht. Für diesen Sonderfall sucht die Bundesregierung derzeit richtigerweise einen gesonderten Lösungsansatz mit der Kommission. Diese doppelte Gefechtslage - § 40 Kreditwesengesetz auf der einen Seite und Beihilfeverfahren Bankgesellschaft Berlin auf der anderen Seite - macht die Verhandlungen für die Bundesregierung sehr kompliziert. Ich würde mir wünschen, dass gerade bei den hauptverantwortlich handelnden Berliner Akteuren etwas mehr Gespür für diese Problematik entwickelt würde. Wenn Herr Sarrazin, der Finanzsenator, sagt, dass es nicht sein Job sei - ich zitiere -, „über die Rolle der öffentlich-rechtlichen Banken im deutschen System zu philosophieren, sondern das Beste für Berlin zu tun“, dann mag das von seiner Warte aus durchaus legitim sein. Dann darf man aber ebenso erwarten, dass er die Verhandlungen über die grundsätzliche Problematik zu § 40 Kreditwesengesetz nicht zusätzlich mit seinen Äußerungen stört. ({2}) So wie ich uns Parlamentariern rate, beim Bezeichnungsschutz für Sparkassen Kakofonie zu vermeiden, so erwarte ich auch von den Verhandlungsführern - die Interessenvertretung der Sparkassen eingeschlossen; da ist ja auch nicht alles einheitlich -, dass sie mit einer Stimme in Brüssel sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen zwei Funktionen erfüllt. Zuerst und vor allem ist der Antrag ein eindeutiges Signal an die EUKommission. Er zeigt: Wir wollen einerseits das Dreisäulensystem in Deutschland weiterentwickeln und für die Zukunft fit machen. Andererseits wollen wir aber auch seine Stärken bewahren. Als einer dieser Stärken bekennen wir uns eindeutig zu dem Bezeichnungsschutz für die Sparkassen. Neben dem Signal an die EU-Kommission soll der Antrag aber auch eine praktische Hilfestellung für die Bundesregierung sein. Er soll die Verhandlungen positiv flankieren. Mit diesem Flankenschutz wollen wir dazu beitragen, dass die Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Lösung mit der EU-Kommission kommt. Dies gilt sowohl für den Sonderfall Berlin als auch für § 40 Kreditwesengesetz insgesamt. Ziel ist eindeutig die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland. Dies gebietet alleine unsere gesamtstaatliche Verantwortung. Dass wir dieses Ziel allerdings nicht um jeden Preis verfolgen, macht der Antrag ebenso deutlich. Ich würde mich freuen, wenn heute aus unserer vielstimmigen Fürsprache für das deutsche Dreisäulensystem und die Sparkassen eine einstimmige und damit noch viel deutlichere Unterstützung würde. Ich werbe damit um Ihre Unterstützung für unseren Antrag. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Axel Troost, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer ganz einfachen Frage anfangen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Sparkassen und der Deutschen Bank? Sparkassen leisten, bei aller Kritik im Einzelnen, eine Grundversorgung auch in strukturschwachen Gebieten. Sparkassen können ein wichtiges Instrument kommunaler Wirtschaftspolitik sein. Sparkassen haben keine Renditeziele in Höhe von 25 Prozent. Sparkassen sind öffentlich-rechtlich und müssen nicht Gewinne maximieren wie die Privatbanken. Weil das so ist - das sage ich ganz klar -, sollen Bürgerinnen und Bürger auch am Namen erkennen können, welches Institut eine Sparkasse und welches Institut eine Privatbank ist. ({0}) Das ist klar und transparent. Das sichert das erfolgreiche Dreisäulensystem der deutschen Kreditwirtschaft. Leider ist diese Klarheit in Gefahr. Die EU-Kommission und der Bundesverband deutscher Banken behaupten: Der Namensschutz für Sparkassen ist mit Europarecht nicht vereinbar. Was setzt das Finanzministerium dem entgegen? Nichts. In den Verhandlungen mit Brüssel fährt es seit Monaten einen völlig undurchsichtigen Zickzackkurs. Es hat keine Strategie, die man nachvollziehen könnte. Diesen Zickzackkurs sollte das Parlament nicht länger hinnehmen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, ich habe mich über Ihren Antrag wirklich sehr gefreut. Seien wir doch ehrlich: Ihr Antrag, der fünf Tage vor Ablauf der Frist für Verhandlungen mit Brüssel vorgelegt wurde, ist eine Ohrfeige für das Finanzministerium. In letzter Sekunde haben Sie wirklich ordentliche Arbeit geleistet. ({2}) Weil das so ist, kann ich für die Fraktion Die Linke sagen: Wir ziehen unseren Antrag zurück, weil wir erreicht haben, was wir erreichen wollten. Wir haben erreicht, dass wir heute über die Sparkassen debattieren. Vor allen Dingen haben wir erreicht, dass das Parlament zum Zickzackkurs von Herrn Steinbrück laut und deutlich Nein sagt. ({3}) Oppositionsarbeit ist insbesondere für die Linke ein hartes Geschäft. In der letzten Zeit haben wir immer und immer wieder gesagt: Es kann doch nicht sein, dass das Parlament dem tatenlos zuschaut. ({4}) In der letzten Woche haben wir im Finanzausschuss eine Selbstbefassung zu diesem Thema für diese Woche verabredet. Als deutlich wurde, dass Sie eher nicht handeln würden, haben wir unseren Antrag geschrieben. Wir haben ihn bewusst weich formuliert, damit die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD ihm gar nicht hätten widersprechen können. ({5}) Oppositionsarbeit ist zwar ein hartes Geschäft; heute sehen wir aber: Die Bewegung hat sich gelohnt. Wir sind in der Sache ein ganzes Stück weitergekommen. In letzter Sekunde kam die Debatte über den Namensstreit noch auf die Tagesordnung. In letzter Sekunde legen Sie einen Antrag vor, der dieselbe Stoßrichtung wie unserer hat. ({6}) - Das steht in unserem Antrag doch überhaupt nicht drin. - In letzter Sekunde zeigen Sie dem Finanzministerium - das hat Herr Schäffler durchaus richtig erkannt die rote Karte. Das ist kein Zufall, das hängt vielmehr mit unserer Hartnäckigkeit zusammen. Klar ist aber auch, dass das nicht allein unser Erfolg ist. In allen großen Parteien rumort es. Es gibt dort etliche Stimmen, die sagen: Das Finanzministerium muss diesbezüglich endlich an die kurze Leine genommen werden. ({7}) Der Erfolg von heute ist also ein Erfolg einer großen Koalition. Damit meine ich nicht Schwarz-Rot, sondern die unausgesprochene große Koalition, die aus Mitgliedern verschiedener Parteien besteht, die für Sparkassen streiten. In dieser großen Koalition hat jeder an seinem Platz im Sinne der Sache gekämpft. Jetzt sehen wir den Erfolg. Ich hoffe, es wird nicht der letzte sein. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Dreisäulensystem hat sich bewährt. Viele Redner haben bereits darauf hingewiesen, dass das Nebeneinander von Sparkassen, Genossenschaftsbanken und privaten Kreditinstituten für einen erfolgreichen Wettbewerb sorgt. Davon profitieren die deutsche Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen. Sparkassen leisten mit ihrer flächendeckenden Präsenz, mit ihrer kommunalen Bindung und mit ihrer gemeinwohlorientierten Ausrichtung einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Finanzmarkt. Ihre erfolgreiche Mittelstandsfinanzierung ist von großem Wert für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in ihrem Bemühen, den Bezeichnungsschutz für Sparkassen gemäß § 40 des Kreditwesengesetzes zu erhalten. Wo Sparkasse draufsteht, muss auch Sparkasse drin sein. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, im laufenden Vertragsverletzungsverfahren dafür Sorge zu traKerstin Andreae gen, dass der wesentliche Inhalt des § 40 erhalten bleibt. Das heißt, Finanzdienstleistungsinstitute, die den Namen und das Logo „Sparkasse“ führen, müssen die Pflicht zur Gemeinwohlorientierung und das Regionalprinzip erfüllen. So weit, so gut. ({0}) Wie stärkt man nun die Verhandlungsposition des Finanzministers in Brüssel? Sie haben es gesagt: indem man ihm den Rücken stärkt - das sagten Sie, Herr Schultz - und indem man mit einer Stimme spricht - das sagten Sie, Herr Dautzenberg. Deswegen gab es sehr früh die Überlegung und die gemeinsame Absprache: Lasst uns bei diesem wichtigen Thema das Parteiengezänk aus der Debatte heraushalten und einen gemeinsamen Antrag stellen, um die Verhandlungsposition in Brüssel zu stärken. Das wäre die richtige Strategie gewesen. ({1}) Nun haben wir gesagt: Ja, weil das die richtige Strategie ist und die Verhandlungsposition dadurch gestärkt wird, stellen wir mit Ihnen einen gemeinsamen Antrag. ({2}) Es hat sehr lange gedauert, bis ein Antrag aus den Reihen der großen Koalition kam, weil man überlegt hat, ob der Termin - bis jetzt 4. Oktober - vielleicht noch ein bisschen weiter nach hinten geschoben wird. ({3}) - Der Zeitpunkt war entscheidend. Es hat eine Weile gedauert. Insofern sage ich ganz klar: Die Initiative der Linkspartei war richtig, um Schwung in die Sache zu bringen. ({4}) Dann haben Sie Anfang der Woche Ihren Antrag eingereicht. Wir haben Ihnen signalisiert: Ja, wir machen mit, weil wir Sachpolitik machen. ({5}) Was passiert? Die Union signalisiert: Wenn die FDP nicht mitmacht, können die Grünen nicht mitmachen. Den Zusammenhang müssen Sie mir einmal erklären. Er ist mir nicht klar. Dass die Haltung der FDP seit jeher ist, die Position der Sparkassen zu schwächen und langfristig sogar § 40 anzugehen, ist bekannt. Daher können Sie doch nicht ernsthaft zu uns sagen: Das eine geht nur zusammen mit dem anderen. ({6}) Insofern muss ich sagen: Sie haben sich auf eine ganz kleinliche Parteienlösung eingelassen und sind nicht den gemeinsamen Weg eines fraktionsübergreifenden Antrags gegangen. ({7}) Heute haben Sie noch einmal eine Rolle rückwärts gemacht. Herr Dautzenberg hat gesagt - ich zitiere Sie jetzt nicht wörtlich, aber inhaltlich vermutlich richtig -, er würde sich freuen, wenn heute aus der Vielstimmigkeit eine Einstimmigkeit würde. Wir haben über den Weg, Ihren Antrag auch unter unserem Namen einzubringen, versucht, diese Einstimmigkeit im Vorfeld herbeizuführen. Wir freuen uns natürlich, dass Sie in diesem Fall auch unserem Antrag zustimmen werden. Wir bitten Sie eindringlich, bei derart wichtigen sachpolitischen Themen Ihre kleinliche Art aufzugeben, um mit einer gemeinsamen Stimme die Position in den Verhandlungen stärken zu können. Denn die Sache ist es wert. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Es ist vereinbart, dass über die gleich lautenden und inhaltsgleichen Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen gemeinsam abge- stimmt werden soll. - Dagegen höre ich keinen Wider- spruch. Dann verfahren wir so. Wir stimmen also ab über die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion des Bünd- nisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutscher Finanz- dienstleistungsmarkt im Wandel - Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten“. Wer stimmt für die Anträge auf den Drucksachen 16/2748 und 16/2752? - Wer ist dage- gen? - Enthaltungen? - Dann sind die Anträge ange- nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Frak- tion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion. Die Fraktion Die Linke hat beantragt, ihren Antrag auf Drucksache 16/2745 mit dem Titel „Sparkassen-Namens- schutz sichern - EU-Recht wahren - Parlamentarische Einflussnahme sicherstellen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag einstimmig für erledigt erklärt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Treibhausgasemissionen bei Dienstreisen ausgleichen - Vorbildfunktion der öffentlichen Hand erfüllen - Drucksache 16/1066 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Flugticketabgabe - Mit solider Finanzpolitik mehr Haushaltsmittel erwirtschaften - Drucksache 16/2660 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({4}) durch Flugticketsteuer unterstützen - Drucksachen 16/1203, 16/1404, 16/2783 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christian Ruck Hellmut Königshaus Ute Koczy Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Thilo Hoppe von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich können wir im Deutschen Bundestag über zwei Anträge beraten und abstimmen, die schon vor vielen Monaten eingebracht, aber leider von der Mehrheit des Hauses in eine lange Warteschleife geschickt worden sind. Es geht um die Einführung einer Flugticketabgabe zur Finanzierung von Entwicklungsvorhaben für die Ärmsten der Armen. Nahezu alle internationalen Entwicklungsexperten stimmen darin überein, dass die bisherigen Anstrengungen zur Erreichung der Millenniumsziele überhaupt nicht ausreichen. Die Zahl der Hungernden steigt. Sie liegt mittlerweile bei 850 Millionen Menschen. Wir haben schon viel darüber diskutiert: Tag für Tag sterben 30 000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten. Eine Expertenkommission der Vereinten Nationen, die Kofi Annan eingesetzt hat, ruft dazu auf, die weltweiten Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe mehr als zu verdoppeln. Dies sei nötig, um überhaupt noch eine Chance zu haben, der Erreichung der Millenniumsziele nahe zu kommen. Selbstverständlich geht es nicht allein um Geld. Genauso notwendig sind Reformen in den Entwicklungsländern, in unserer Entwicklungszusammenarbeit und natürlich auch in den internationalen Handelsbeziehungen. Nichtsdestotrotz brauchen wir schlicht und ergreifend auch deutlich mehr Geld. Die Koalition hat das erkannt. Sie gibt ehrlich zu, dass die enorme Erhöhung der Mittel, die zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist, nicht allein aus dem Haushalt zu bestreiten ist. Deshalb hat sie in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, neue Geldquellen aufzutun und sich für die Einführung innovativer Finanzierungsinstrumente einzusetzen. Jetzt müssen diesen Worten endlich Taten folgen. ({0}) Man kann natürlich ewig darüber diskutieren, welche Finanzierungsinstrumente am besten geeignet sind. Wenn es nach uns ginge, dann hätte Deutschland längst eine Initiative zur Einführung der Devisenumsatzsteuer, der Tobin Tax, oder der Kerosinsteuer mit ihrer ökologischen Lenkungswirkung ergriffen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es dagegen auf internationaler Ebene große Widerstände gibt. Was ist gegenwärtig machbar und umsetzbar? Frankreich, Brasilien, Chile, Norwegen, Südkorea und 13 weitere Staaten haben es uns vorgemacht. In diesen Ländern wird bereits eine Flugticketsolidarabgabe erhoben oder man steht unmittelbar vor ihrer Einführung. In Frankreich beträgt diese Abgabe für innereuropäische Flüge in der Touristenklasse 1 Euro und für Interkontinentalflüge in der Businessclass 40 Euro. Das hält niemanden vom Fliegen ab. Aber es bringt immerhin zusätzliche Einnahmen von 200 bis 300 Millionen Euro pro Jahr, die zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria verwendet werden können. Würde man das schwedische Modell, das kurz vor seiner Einführung steht, auf Deutschland übertragen, ginge es um ganz andere Summen. Dann kämen Einnahmen in Höhe von 1 Milliarde Euro zusammen. Es ist ein Trauerspiel, dass Deutschland abseits steht und sich nicht dazu durchringen kann, dem Aufruf von Kofi Annan zu folgen. Es ist beschämend, dass sich Deutschland nicht der Initiative von Jacques Chirac und Lula anschließt. ({1}) Vorgestern haben wir im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausführlich über Reformen der Entwicklungszusammenarbeit diskutiert. Es wurde immer wieder betont, dass wir international anschlussfähig werden, uns am Agenda-Setting beteiligen und auf der internationalen Bühne stärker auftreten müssen. Jetzt stehen wichtige Entscheidungen an. Die 18 Länder, die ich erwähnt habe, diskutieren darüber, wie die Mittel unter der Verantwortung von Unitaid verwendet werden sollen. Deutschland beteiligt sich an dieser internationalen Debatte nicht und steht abseits. Ich bin mir sicher, dass die Entwicklungsministerin und viele Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition heute am liebsten unserem Antrag zustimmen würden, wenn es nicht die Koalitionszwänge geben würde. Der Wirtschaftsminister stellt sich quer, weil er den fadenscheinigen Argumenten der Luftfahrtbranche folgt. ({2}) Finanzminister Steinbrück fürchtet Schlagzeilen in der „Bild“-Zeitung, in denen von einer neuen Steuerabzocke die Rede sein könnte. ({3}) Sein Vorgänger hingegen, der Kollege Hans Eichel - er ist heute leider nicht hier -, ({4}) verfährt ganz anders: Er hat einen Appell von ATTAC unterschrieben, eine Flugticketabgabe einzuführen. Jetzt würde ich gerne an den Kollegen Eichel appellieren; aber er ist nicht hier. ({5}) Ich bitte alle, die diese Initiative unterstützt haben, die sich im Ausschuss, in den Diskussionen, in der entwicklungspolitischen Community klar und deutlich für eine Flugticketabgabe ausgesprochen haben, uns jetzt nicht mit Vertröstungsfloskeln zu kommen, sie bräuchten noch Zeit - sie haben viele Monate gehabt -, oder auf andere Instrumente zu verweisen, die noch in der Diskussion sind. Jetzt ist der Zeitpunkt, Rückgrat zu zeigen und sich klar und deutlich für die Flugticketabgabe auszusprechen. Bitte stimmen Sie den Anträgen zu. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Anette Hübinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute reden wir darüber, auf welchem Weg wir das Ziel, das wir uns gesetzt haben, erreichen: unsere Mittel für entwicklungspolitische Zusammenarbeit bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes zu erhöhen. Es ist vorgesehen, dass der entwicklungspolitische Haushalt - der Einzelplan 23 - im Haushaltsjahr 2007 einen Aufwuchs von ungefähr 300 Millionen Euro erhält. Als Entwicklungspolitikerin begrüße ich das ausdrücklich. Ich halte es für einen wichtigen und richtigen Schritt, um unsere Ziele - die Bekämpfung der Ursachen von Armut, Konflikten und Kriegen - zu erreichen. ({0}) Die begrüßenswerten Aufwüchse spiegeln unser globales Politikverständnis wider und die Tatsache, dass sich die Bundesregierung unter Angela Merkel ihrer Verantwortung für die Ärmsten dieser Welt bewusst ist. Im Koalitionsvertrag haben wir festgehalten, dass wir die ODA-Quote auf 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes erhöhen werden. ({1}) Dazu wollen wir, wenn nötig, neben der Erhöhung der Haushaltsmittel und der Entschuldung der Entwicklungsländer innovative Finanzierungsinstrumente heranziehen, um den EU-Stufenplan umzusetzen. ({2}) Für dieses Jahr und das kommende Jahr ist schon jetzt abzusehen, dass wir die Zielmarken unseres Stufenplanes zur Erhöhung der ODA-Quote erreichen werden. ({3}) Wie Sie sehen, stellt sich die Frage nach zusätzlichen Mitteln zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Unser Nachbar Frankreich hat zum 1. Juli 2006 eine zusätzliche Abgabe auf innereuropäische und transkontinentale Flüge eingeführt, die zwischen 1 und 40 Euro liegt. Jetzt fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland solle sich kurzfristig dem französischen Modell anschließen, um mit den zusätzlichen Einnahmen zu gewährleisten, dass die ODA-Quote entsprechend erhöht wird. Frankreich rechnet damit, dass die Flugticketsteuer zu Mehreinnahmen von circa 200 Millionen Euro führt. ({4}) Für Deutschland werden, würde es das französische System übernehmen, Einnahmen von rund 270 Millionen Euro prognostiziert. Das heißt, mit einem solchen Instrument würden wir unseren Beitrag zwar erhöhen, doch ein Durchbruch wäre das nicht. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, führt Deutschland mit unseren EU-Partnern intensive Gespräche über die Entwicklung und Ausgestaltung innovativer Instrumente zur Finanzierung der Entwicklungspolitik. Auch über eine Flugticketabgabe wird dabei diskutiert. Wichtig wäre allerdings eine europaweite Akzeptanz, gleich für welches Instrument wir uns entscheiden. Bevor wir neue Finanzierungsinstrumente heranziehen, müssen wir deren Notwendigkeit und Wirksamkeit sorgsam prüfen. ({6}) Dass Mehreinnahmen erzielt werden, darf nicht das alleinige und ausschlaggebende Bewertungskriterium sein. Es entspricht nicht einer nachhaltigen Entwicklungspolitik, wie wir als CDU/CSU-Fraktion sie verfolgen. Übrigens hat die Ministerkonferenz der Afrikanischen Union ihre Besorgnis über die Einführung einer Flugticketsteuer geäußert. Sie befürchtet negative Folgen für den Tourismus in Entwicklungsländern. Wir sehen das französische Modell auch deshalb kritisch, weil die Mittel, die eingenommen werden, in einen noch einzurichtenden Fonds fließen sollen. Deutschland setzt sich seit längerem für eine straffere Organisationsstruktur der internationalen Entwicklungspolitik ein. Ein neuer Fonds bedeutet sowohl für die Geberländer als auch für die Entwicklungsländer einen zusätzlichen Koordinierungsaufwand und zusätzliche Verwaltungskosten. ({7}) Darüber hinaus werden schon heute viele Aufgaben, deren Erledigung man sich mit diesem Fonds zum Ziel gesetzt hat, von bereits existierenden Institutionen abgedeckt. Die Notwendigkeit dieser Neugründung ist für mich bisher nicht ersichtlich. Genauso wenig nachvollziehbar ist für mich der Antrag der Fraktion der Linken, die fordern, dass weder Einnahmen aus einer Flugticketsteuer noch Entschuldungsmaßnahmen in die ODA-Quote einfließen sollen. ({8}) Sie fordern eine Finanzierung aus reinen Haushaltsmitteln. Wer die Augen vor der Haushaltssituation Deutschlands so verschließt, wie Sie dies tun, der gefährdet letztendlich das gemeinsame Ziel, nämlich die Armut in der Welt zu reduzieren. ({9}) Neben neuen Finanzierungswegen müssen wir die Wirksamkeit der eingesetzten öffentlichen Mittel einer kritischen Überprüfung unterziehen und wir müssen unser Ziel noch klarer und deutlicher formulieren. Die CDU/CSU-Fraktion hat für sich drei klare Ziele herausgearbeitet: erstens die Solidarität mit den ärmsten Menschen aufgrund unseres christlich-humanitären Weltbildes, zweitens die Gefahrenabwehr und die Herstellung von Sicherheit für die Entwicklungsländer und damit letztendlich auch für unser eigenes Land und drittens die Stärkung von Wirtschaftswachstum, Wohlstand und solider Staatführung. Hier unterscheiden wir uns auch von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Ihrer Meinung nach soll sich die Entwicklungspolitik rein ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterwerfen. Solidarisches Handeln muss aber genau dann einsetzen, wenn durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten Ungerechtigkeiten verstärkt werden. ({10}) Zu deren Ausgleich kann auch eine zusätzliche Abgabe im richtigen Maß beitragen, die in ein Gesamtkonzept einfließen muss. Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU-Fraktion sehen zu diesem Zeitpunkt kein Erfordernis, eine zusätzliche Flugticketabgabe einzuführen, um den ODA-Stufenplan einzuhalten. ({11}) Wir sind auf einem guten Weg. Das wird durch die Zahlen für dieses und auch für das kommende Jahr belegt. Den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, mit dem sie eine Klimaschutzabgabe bei Dienstreisen fordert, sehen wir als nicht geeignet an, zur Lösung umweltpolitischer Probleme beizutragen. Die dadurch erzielten geringen Einnahmen stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu der damit verbundenen Belastung der Verwaltung und den zusätzlich anfallenden Bürokratiekosten. ({12}) Die Bekämpfung der weltweiten Armut ist unser Ziel. Sie erfordert weitere Anstrengungen auf internationaler und nationaler Ebene. Wir sind uns bewusst, dass die Erwartungshaltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Deutschland auch aufgrund seiner herausragenden Expertisen in vielen Feldern der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sehr hoch ist. Gerade deshalb lassen wir uns aber nicht zu voreiligen Handlungen drängen. Wir verfolgen eine Entwicklungspolitik mit klaren Zielen und erfassbaren Ergebnissen, die vor den kritischen Augen der Öffentlichkeit standhält. Wir sind auf einem guten Weg, den ODA-Stufenplan einzuhalten. Die Forderung zur Einführung einer Flugticketabgabe halten wir zum jetzigen Zeitpunkt für nicht erforderlich. Herzlichen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Hübinger, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. ({0}) Nun hat der Kollege Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion das Wort.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist schon eine merkwürdige Melange von Anträgen, die wir hier gemeinsam beraten sollen. ({0}) Die Grünen wollen einen ökologischen Ausgleich für Dienstreisen - natürlich auf Kosten der Steuerzahler und eine Flugticketabgabe - diese wollen im Übrigen auch die Linken -, die natürlich erst recht auf Kosten der Bürger - in diesem Fall der Reisenden - erhoben werden soll. Sie liegen damit im Übrigen auf einer Linie mit dem Bundesfinanzminister, der den Bürgern nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub - quasi noch auf der Gangway stehend - ihren Anspruch auf Urlaubsreisen streitig machen wollte. ({1}) Dabei tut die Koalition schon einiges dafür, den Bürgern das Reisen wirtschaftlich unmöglich zu machen - vor allem, aber nicht nur mit Steuer- und Abgabenerhöhungen. ({2}) Nun beantragen die Grünen, Herr Kuhn, und die Linke das, was sich die Koalitionäre nicht oder jedenfalls noch nicht trauen, nämlich noch mehr draufzupacken: eine Flugticketabgabe - wie es so schön heißt - als Einstieg in die Schaffung „innovativer Finanzierungsinstrumente“. Eine wahrhaft große Koalition der Abkassierer! Zum „Dienstreiseantrag“ der Grünen ist nur eines zu sagen: Es kommt darauf an, Dienstreisen auf das absolute Minimum zu reduzieren. Das wäre der beste Beitrag zum Klimaschutz und würde der Vorbildfunktion der öffentlichen Hand eher gerecht als solche Pseudoaktivitäten. Nun zur Flugticketabgabe. Koalition und Bundesregierung haben die Einführung einer Flugticketabgabe bereits mehrfach angekündigt. Wie so oft, haben sie auch bei dieser Ankündigung nur heiße Luft produziert. In diesem Fall muss man sagen: Gott sei Dank! Es ist nämlich zu bezweifeln, dass die Einnahmen unter dem Strich wirklich der Entwicklungshilfe zugute kommen würden. Es ist ein alter Trick von Rot-Grün, der jetzt von Schwarz-Rot wiederbelebt wird: Man erhöht eine Steuer oder Abgabe, verbindet das mit einem guten Zweck, der damit angeblich verfolgt wird, vergisst nach der Steuererhöhung diesen guten Zweck und stopft mit den Mehreinnahmen die selbst verschuldeten Haushaltslöcher. So haben Sie erst jüngst - natürlich für einen guten Zweck - die Eigenheimzulage gestrichen, und zwar für die Bildung, wie Sie behauptet haben. ({3}) Da wussten Sie im Übrigen schon - das sage ich, weil Sie „Bravo“ gerufen haben -, dass der Bund wegen der Föderalismusreform für die Bildung gar nicht mehr zuständig sein wird. Trotzdem haben Sie das öffentlich behauptet. Nun ist in der Tat die Bildung weg, die Eigenheimzulage aber auch. Das Geld behält natürlich der Finanzminister. So haben Sie die Menschen mit Ihrer Argumentation getäuscht. So wäre es auch mit der Flugticketabgabe. Die Grünen sind wenigstens ehrlich und bezeichnen sie als eine Steuer. Damit wäre sie nicht zweckgebunden. Aber sie würde die Belastungen der Bürger, über die wir gesprochen haben - 140 Milliarden Euro pro Jahr -, noch weiter erhöhen. Da hilft auch kein Hinweis - das wurde hier immer wieder angeführt - auf Schweden, Frankreich oder andere Länder. Wir müssen die Belastungen unserer Bürger betrachten. Ein Blick auf die Situation in Paris, Timbuktu oder sonst wo hilft da nicht weiter, sondern unsere Bürger müssen für uns die Richtgröße sein. Da hilft vielleicht für die einen oder anderen, die das nicht wissen, ein Blick in die Lohntüten der Durchschnittsverdiener. ({4}) - Auch Sie sollten da einmal hineinschauen. Durchschnittsverdiener - das darf ich einmal in Richtung auf die Großkoalitionäre sagen - arbeiten auch Freitagnachmittag, auch wenn das anders abgesprochen sein sollte. Wenn also mehr Geld benötigt wird, dann darf man nicht abkassieren, sondern das muss durch Sparen erwirtschaftet werden. Aber brauchen wir hier und jetzt überhaupt mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit? ({5}) Angesichts der Positionen im Einzelplan 23, dem Entwicklungshaushalt, kann dies zumindest derzeit nur verneint werden. Wir müssen die dort genannten Projekte erst einmal durchforsten; denn da könnten wir Milliarden freimachen. ({6}) Ich will hier einige Beispiele nennen: China wird noch immer mit Finanzhilfen bedacht, ein Land, das über 1 Billion US-Dollar als Devisenreserve verfügt. Hunderte Millionen Euro werden in fragwürdige Schuldenerlasse und Budgethilfen geschaufelt. Da gehen Millionen über Millionen in unkontrollierte und unkontrollierbare multilaterale Fonds. ({7}) Zusätzlich bedienen Sie noch den Moloch des Europäischen Entwicklungsfonds. Der EEF hatte gar keine Verwendung für die Mittel. Trotzdem wollen Sie dieses Jahr wieder 700 Millionen Euro hinschaufeln. Während noch gar nicht alle Mittel des 8. EEF abgerufen waren, haben Sie zugestimmt, einen 9. EEF aufzulegen und dafür noch einmal Mittel freizumachen. Nun wollen Sie 700 Millionen Euro jährlich in einen 10. EEF zusätzlich einzahlen, während noch 3,5 Milliarden Euro als deutsche Zahlungsverpflichtung offen sind. Ein Fass ohne Boden! ({8}) - 3,5 Milliarden Euro sind viel Geld, Herr Kuhn, auch wenn es die Grünen nicht wahrhaben wollen. ({9}) Dafür wollen Sie die Bürger mit einer zusätzlichen Flugticketsteuer noch weiter schröpfen? Das darf doch wohl nicht wahr sein! ({10}) Solange Sie keine überzeugenden Verwendungsmöglichkeiten aufzeigen und neue Projekte nicht begründen können, können wir einer Erhöhung des EZ-Haushalts und erst recht der Einführung einer neuen Steuer nicht zustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man eine Weile mit einem Kollegen im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammenarbeitet, der an Anhörungen teilnimmt und viele Länder bereist, dann fragt man sich, was er sich dort wohl angeschaut hat, wenn er hier so tut, als wären die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit nicht sinnvoll, weil sie irgendwo versenkt würden, wenn er den Aufwuchs des Entwicklungsetats infrage stellt, und meint, wir sollten stattdessen lieber in die Lohntüten der Deutschen schauen, Herr Königshaus. Wenn täglich 30 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut sterben, wenn fast die Hälfte der Weltbevölkerung von weniger als 2 US-Dollar pro Tag lebt und 800 Millionen weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, dann ist es schäbig, wenn Sie hier mit einem Glas Wasser in der Hand und wohlgesättigt dafür eintreten, den Ärmsten der Armen kein Geld mehr zur Verfügung zu stellen. Sie sollten sich fragen, ob Sie in dem Ausschuss richtig aufgehoben sind. ({0}) Alle anderen demokratischen Parteien in diesem Hause einschließlich der Linkspartei und der Grünen, die die Anträge eingebracht haben, sind sich mit uns darin einig, dass mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit notwendig ist, wie wir es auch auf der Millenniumskonferenz auf internationaler Ebene beschlossen haben, und dass wir die so genannte ODA-Quote - also den Anteil der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit am Bruttoinlandsprodukt - bis 2015 auf 0,7 Prozent steigern wollen. Das versprechen wir übrigens schon seit über 20 Jahren. Jetzt sind wir endlich auf einem guten Weg. Ich bin mir in der Zielsetzung mit der Opposition völlig einig, dass wir die im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen erfüllen wollen. Sie müssen aber auch berücksichtigen, dass dank des Engagements unserer Ministerin und der gesamten Bundesregierung im Haushalt 2006 ein Aufwuchs der Mittel um 300 Millionen Euro zu verzeichnen war. Im Haushalt 2007 sind 324 Millionen Euro mehr vorgesehen. Das allein ist schon mehr als die 200 Millionen Euro, die in Frankreich durch die Erhebung der Flugticketabgabe zusammenkommen. ({1}) Den hungernden Menschen in Afrika ist es egal, woher das Geld kommt. Davon, dass jemand mehr Geld für ein Flugticket ausgibt, wird noch keiner satt. Wichtig ist, dass genug Geld zusammenkommt, damit den Menschen geholfen werden kann. Die Abgabe selbst wäre nur ein mögliches Mittel zum Zweck; aber nicht der Zweck selber. ({2}) Deswegen haben wir uns im Sommer Zeit genommen, Herr Kollege Hoppe, um abzuwarten, wie sich der Haushalt 2007 entwickeln wird. Da wir mit diesem Haushalt mit einem Plus von fast 8 Prozent auf einem sehr guten Wachstumskurs sind, sind wir davon ausgegangen, dass wir zum Januar 2007 keine zusätzlichen Mittel durch ein innovatives Finanzierungsinstrument brauchen. Denn laut Koalitionsvertrag wollten wir im Jahr 2006 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent erzielen. Wir haben aber schon 2005 - also ein Jahr früher - mit einer ODA-Quote von 0,35 Prozent gezeigt, dass wir gut im Plan liegen. Wir werden uns aber auch damit befassen müssen, wie wir das Niveau gemäß unserer Zielsetzung im Haushalt 2008 halten bzw. steigern können. Bis dahin werden einige Entschuldungseffekte auslaufen. Es ist richtig, dass wir die ärmsten Länder entschuldet haben; es ist aber auch klar, dass dann wieder viel Geld gebraucht wird. ({3}) Die ODA-Quote würde nämlich wieder sinken, wenn man keine neuen Mittel generiert. Insofern glaube ich, dass wir uns dann gemeinsam mit möglichen innovativen Finanzierungsinstrumenten befassen müssen, um den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag entsprechend 2008 zusätzliche Mittel aufzubringen. Ich will nicht alle Argumente der Lobbyisten aufgreifen, die gegen die Flugticketabgabe vorgebracht wurden. Auch ich habe mich über einiges geärgert, das ich als unfair und unehrlich empfand. Zum Beispiel haben die Luftverkehrswirtschaft und der BDI alle Abgeordneten angeschrieben - auch Sie haben das aufgegriffen, Frau Hübinger -, wobei etwas falsch dargestellt wurde, nämlich dass sich die Afrikanische Union gegen eine Flugticketabgabe ausgesprochen hätte. Damit hat die Luftverkehrswirtschaft schlicht gelogen. Wir haben uns nach der Quelle erkundigt. Schließlich erhielten wir die kleinlaute Antwort, dass, wie aus einem Dokument hervorgehe, die Verkehrsminister in der Afrikanischen Union keine Ticketabgabe für innerafrikanische Flüge erheben wollten, um damit Start- und Landebahn und andere Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Die Afrikanische Union hat natürlich niemals beschlossen, dass sie kein Geld mehr für die Hungerbekämpfung haben will. Das ist völliger Blödsinn. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass manche Argumentationen, die große Wettbewerbsnachteile an die Wand malen, nicht ganz einleuchtend sind. Wenn die Ticketabgabe für alle Airlines gleichermaßen gilt und wenn Transitpassagiere davon ausgenommen werden, dann frage ich mich allen Ernstes, welchen Schaden es anrichtet, wenn ein Economypassagier 1 Euro bzw. 4 Euro mehr, wie es das französische Modell vorsieht, für einen Flug bezahlen soll. Man darf nicht vergessen, wie viel schon heute an Sicherheitsgebühren und Flughafensteuern auf die Flugtickets aufgeschlagen wird. Ich glaube daher, dass der Tourismus durch die Einführung einer Ticketabgabe nicht wegbricht. Dass sich sogar die US-amerikanische Botschaft in einem Brief an den Haushaltsausschuss an uns wendet und mehr oder weniger deutlich sagt, dass wir in der heutigen Debatte darauf achten sollen, dass die beantragte Flugticketabgabe abgelehnt wird, weil sonst alles zusammenbricht, halte ich für einen ungewöhnlichen Vorgang. Offenbar glaubt die US-amerikanische Regierung, uns frei gewählten und demokratisch legitimierten Abgeordneten solche Tipps erteilen zu müssen. Wer hätte gedacht, dass die Weltmacht USA von unserer Flugticketabgabe in die Knie gezwungen wird? Das halte ich für sehr überzogen. Wenn wir schon dabei sind, Kollegen in anderen Ländern Ratschläge zu geben: Die Kollegen im US-amerikanischen Kongress sollten die Mittel, die sie weltweit für das Militär und den Irakkrieg ausgeben, besser für die Entwicklungszusammenarbeit verwenden. ({4}) Dann gäbe es mehr Sicherheit auf der Welt und die Sicherheitsgebühren an den Flughäfen wären geringer. Weltweit wurden im letzten Jahr 1 000 Milliarden Euro für Militär, Rüstung und Krieg, davon ein Großteil für den Irakkrieg, ausgegeben, aber nur 70 Milliarden Euro für die Entwicklungszusammenarbeit. Ich glaube, es lohnt sich, dieses krasse Missverhältnis zu beseitigen. Es geht aber nicht nur ums Geld. Die Entwicklungszusammenarbeit muss auch kohärent sein. Ich ärgere mich, dass Frankreich ständig als leuchtendes Vorbild dargestellt und behauptet wird, dass es wegen der Flugticketabgabe so gut zu den ärmsten Menschen sei. Wer wie der Kollege Hoppe und ich an den letzten Welthandelsrunden teilgenommen hat, in denen es eigentlich darum ging, im Sinne einer Entwicklungsrunde faire und gerechte Handelsbedingungen für die Ärmsten der Welt zu erreichen, weiß, dass Frankreich mit seinen Agrarsubventionen und seinem Agrarprotektionismus die Entwicklungsländer ständig vor den Kopf gestoßen hat, um die französischen Landwirte zu schützen. Nach einer Weltbankstudie gehen den Entwicklungsländern dadurch mehrere Hundert Milliarden Euro jährlich verloren. Die Menschen verhungern buchstäblich wegen des Agrarprotektionismus der Franzosen. Trotzdem werden die Franzosen wegen eines geringen Effektes in Höhe von 200 Millionen Euro gelobt. Dazu kann ich nur sagen: Seht lieber zu, dass ihr gerechte Welthandelsbedingungen schafft! Damit würdet ihr mehr erreichen als mit einer Flugticketabgabe. ({5}) Um im Bild zu bleiben: Das französische Engagement für die Entwicklungszusammenarbeit ist Economyclass, während wir momentan Businessclass sind. Wir wollen aber bis 2015 in die Firstclass kommen. Wir treten für gerechte Welthandelsbedingungen ein und wollen die ODA-Quote auf 0,7 Prozent steigern und so unsere Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit fast verdoppeln. Wir sollten uns vor Augen führen, dass das 6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro mehr sind. Darüber muss man in unserer Gesellschaft eine ehrliche Debatte führen. Man darf nicht so tun, als würde das Geld an anderer Stelle verplempert und man könnte es einfach irgendwoher holen. Es reicht ebenfalls nicht, wie Sie, meine Damen und Herren von der Linkspartei, so zu tun, als könnte man alles aus dem deutschen Verteidigungshaushalt finanzieren. Sie gehen in allen Ihren Haushaltsanträgen - egal ob sie das Gesundheitswesen, die Rentenversicherung, den sozialen Bereich oder die Entwicklungshilfe betreffen - davon aus, dass man alles mit den für den Eurofighter eingestellten Mitteln finanzieren könnte. Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge übersteigen mittlerweile den Verteidigungshaushalt um das Fünffache. Es reicht nicht, zu sagen, dass das Geld vom Himmel fällt. Wir müssen in unserer Gesellschaft eine Debatte darüber führen, wie und wie viel Geld wir für die Armutsbekämpfung aufbringen wollen. Es ist in diesem Zusammenhang alles andere als hilfreich, wenn der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Huber, in der „Bild am Sonntag“ vor einigen Wochen schreibt, die Armen in Deutschland erinnerten ihn an die Hungernden im Sudan. Ich weiß nicht, was ihn da geritten hat. Ich kann Bischof Huber nur empfehlen, mit den guten kirchlichen Entwicklungsorganisationen nach Afrika zu gehen und sich dort anzuschauen, was Hunger wirklich bedeutet. Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland ist sicherlich ein wichtiges Thema, gerade für uns Sozialdemokraten, keine Frage. Wenn wir aber so tun, als wären die Menschen in Deutschland vom Hungertod bedroht, dann wird es natürlich schwierig, in der deutschen Bevölkerung Akzeptanz dafür zu finden, dass mehr Steuermittel oder andere Mittel aufgebracht werden sollen, um den Menschen auf der Welt zu helfen, die wirklich vom Hunger bedroht sind. Deswegen appelliere ich an uns alle, dass wir bei allem „Gejammer“, das wir manchmal gerne veranstalten, nicht vergessen, dass es uns hier noch sehr gut, ich möchte sagen: verdammt gut geht. Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass Milliarden Menschen auf der Welt unsere Hilfe brauchen. Denen wollen wir helfen. Wenn wir zusammenhalten, werden wir es gemeinsam schaffen, unsere Verpflichtung zu erfüllen. Ob das Geld aus einer Flugticketabgabe oder aus anderen Quellen kommt, die Hilfe muss kommen. Dazu wollen wir beitragen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich der Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab möchte ich ein Wort zu Ihnen sagen, Herr Raabe. Man kann nicht eine Armut gegen eine andere ausspielen. Armut ist immer subjektiv. Ich finde, Leute, die nicht arm sind, sollten sich zurückhalten, über die Armut und die Situation der Menschen zu urteilen. ({0}) - Ja, aber soziale Ausgrenzung kann auch hier zu schwer wiegenden Folgen führen. Man kann nicht die eine Armut gegen die andere ausspielen. Wir haben die Aufgabe, Armut generell, egal wo und in welcher Form sie auftritt, zu überwinden. ({1}) Wir haben wie die Grünen einen Antrag eingebracht, eine Flugticketabgabe zu erheben. Wir möchten diese Abgabe nicht, Herr Königshaus, um Haushaltslöcher zu stopfen. Uns ist es vielmehr ein Anliegen, einen Beitrag zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tbc zu leisten. Das sind große Herausforderungen. Da ist jeder Tropfen, der auf den heißen Stein fällt, sehr wichtig, für manche Menschen überlebenswichtig. Wir hatten den Antrag im Frühjahr gestellt. Mittlerweile haben wir Herbst und leider wird er erst jetzt besprochen. Es gab während dieser Zeit viele Initiativen außerhalb des Parlaments. ATTAC hat viele Unterschriften gesammelt, Abgeordnete haben unterschrieben. ATTAC wollte Peer Steinbrück über 1 000 Unterschriften übergeben. Er hat sich geweigert, diese Unterschriften überhaupt anzunehmen. Im Internet gibt es bereits 120 000 Unterschriften für die Ticketabgabe, die dem Fonds UNITAID zugute kommen soll. Die Regierung hat nicht reagiert. Ich kann nur feststellen: Die Bevölkerung ist hier weiter als die Bundesregierung. Sie ist bereit, Entwicklung zu unterstützen. ({2}) Wir sprechen von einer Abgabe in Höhe von 1 Euro im Inland, von 4 Euro bei internationalen Flügen und einem entsprechend höheren Betrag für Flüge mit der Businessclass. Das sind wahrlich keine großen Beträge. Heute haben wir über die Mehrwertsteuererhöhung diskutiert. Sie haben keine Skrupel, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu erhöhen, ({3}) aber bei solchen Abgaben verweigern Sie sich. Der Grund ist: Sie haben nicht den Mut, den Menschen noch eine weitere Abgabe zuzumuten. - Wir sind für die Streichung der Mehrwertsteuererhöhung und plädieren für die Unterstützung solch wichtiger Initiativen. ({4}) Es geht auch um die internationale Zusammenarbeit. Es wäre eine Probe, ob wir es schaffen, Steuern international zu vereinbaren und national zu erheben. Ziehen viele Länder mit? 18 Länder weltweit machen mit, 40 Länder haben ihr Interesse bekundet. Die Bundesrepublik, die gern international Verantwortung übernimmt, aber fast nur noch militärisch, ist nicht dabei. Es wäre wichtig, zu zeigen, dass wir bei solch einer zivilen Initiative und einer internationalen Vereinbarung mitmachen. ({5}) Das wäre ein wichtiges Zeichen. Es wäre auch wichtig, über die Verwendung der Gelder in diesem Fonds zu sprechen. So geht es zum Beispiel darum, billige Generika für die Bekämpfung von Aids einzukaufen und damit Einfluss auf das zu nehmen, was dieser Fonds machen kann. Wenn man aber nicht dabei ist, hat man keine Möglichkeit, Vorschläge zu machen. Insofern sind wir hier in meinen Augen international isoliert. Ganz kurz zum Antrag der Grünen: Unser Antrag unterscheidet sich von dem der Grünen. Wir wollen das Aufkommen aus der Flugticketabgabe nicht auf die ODA-Quote anrechnen. Wir brauchen Umschichtungen im Haushalt, die dazu führen, dass die ODA-Quote erhöht wird. Es ist nicht unser einziges Ziel, die ODAQuote zu erhöhen. Es muss vielmehr eine ganz andere Politik gemacht werden, die einen Beitrag zur Entwicklung leistet. Wir betrachten die Abgabe als ein zusätzliches Finanzierungsinstrument. Wir halten es für eine neue Herausforderung, in die internationale Besteuerung einzusteigen. Die Kerosinsteuer ist sehr wichtig, ebenso die Devisentransaktionssteuer. Da gibt es viele VorHeike Hänsel schläge und viele Ideen. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Für uns wäre die richtige Antwort auf die Fragen der Globalisierung, in diese Richtung zu gehen. Deswegen hoffen wir, dass sich die die Bundesregierung tragenden Koalitionsfraktionen doch noch einen Ruck geben - Herr Raabe und Herr Ruck, Sie haben sehr viele Vorteile einer Flugticketabgabe genannt - und diesem Antrag zustimmen. Das würde uns sehr freuen. Wir halten es für die richtige Initiative. Danke. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Bezüglich der Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/1066 und 16/2660 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dabei soll die Vorlage auf Drucksache 16/1066 zu Tagesordnungspunkt 32 a federführend beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 32 c: Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2783. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1203 mit dem Titel „Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1404 mit dem Titel „Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({0}) durch Flugticketsteuer unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtsstaatskonforme Behandlung von Verhafteten nach der Übergabe durch deutsche Stellen im Ausland sicherstellen - Drucksache 16/2096 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Burkhardt Müller-Sönksen von der FDP-Fraktion.

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tagesordnung standen Themen wie die Mehrwertsteuererhöhung, der Namensschutz der Sparkassen und - zuletzt - die Flugticketabgabe. Damit haben wir uns auf das Ausland zubewegt. Das ist auch Inhalt dieses FDP-Antrags. Wir wollen, dass die deutsche Beteiligung an Geheimgefängnissen und an Folterungen - Sie alle kennen diese Themen - geklärt wird. Wir bemühen dabei nichts Geringeres als das Grundgesetz, unser aller Basis. Mit großer Mehrheit haben wir gestern die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am ISAF-Einsatz in Afghanistan beschlossen. Die letzten Monate haben jedoch gezeigt, wie instabil die Lage in Afghanistan ist. Bewaffnete Auseinandersetzungen sind dort leider tägliche Realität. Von der Gefahr, in bewaffnete Auseinandersetzungen involviert zu werden, bleiben auch die deutschen Soldaten im Norden des Landes nicht verschont. Gleichzeitig ist es der afghanischen Regierung bisher nicht gelungen, ihre Staatsgewalt über die Stadtgrenzen von Kabul hinaus stabil auszudehnen. Von einer landesweiten Etablierung rechtsstaatlicher Standards, die mit denen der Bundesrepublik Deutschland auch nur annähernd vergleichbar sind, kann in Afghanistan bisher keine Rede sein. In Übergangssituationen wie derjenigen in Afghanistan kommt es im Rahmen internationaler Friedensmissionen auch zur Verhaftung von Personen durch internationale Streitkräfte. Solche Verhaftungen werden in Afghanistan und im Kosovo auch von Angehörigen unserer Bundeswehr vorgenommen. Zudem wirken Bundeswehrangehörige an Verhaftungen durch Angehörige anderer Nationen mit. Von der Bundeswehr festgenommene Personen werden anschließend regelmäßig den zuständigen örtlichen Behörden übergeben, wie es zum Beispiel die Rules of Engagement für den Libanoneinsatz vorsehen. Allerdings fehlt es bisher an Informationen über den weiteren Verbleib der festgenommenen Personen. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wie lässt sich für uns sicherstellen, dass diejenigen, an die unsere Bundeswehr festgenommene Personen übergibt, auch ein Mindestmaß an rechtsstaatlichen Garantien gewährleisten? Diese Frage mag sich zunächst theoretisch anhören - in der Tat hat sich bisher mehr die Rechtswissenschaft damit beschäftigt -, aber wenn sich Deutschland darauf einrichten muss, in der Welt eine immer größere Rolle bei internationalen Friedensmissionen zu übernehmen, als das in der Vergangenheit der Fall war, kommt dieser speziellen Frage eine immer größere Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere dann, wenn Verdächtige im Rahmen des weltweiten Kampfs gegen den Terror in geheimen Gefängnissen inhaftiert, unter Einsatz von Folter verhört werden und ihnen ein rechtsstaatliches Verfahren vorenthalten wird. Unter dem Eindruck solch gravierender Menschenrechtsverletzungen muss durch uns sichergestellt werden, dass deutsche Stellen - dazu gehört die Bundeswehr durch ihre Handlungen keinen Beitrag zu solchen Vorgängen leisten. Erst mit dieser Gewissheit kann die Bundesrepublik Deutschland glaubhaft und selbstbewusst auftreten, wenn sie international die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen einfordert. Die immense Bedeutung, die einem rechtsstaatlichen und menschenrechtskonformen Verhalten internationaler Streitkräfte bei Friedensmissionen zukommt, haben uns - leider in negativem Sinne - die Misshandlungen von irakischen Gefangenen im Gefängnis von Abu Ghureib in Bagdad gezeigt. Die Verantwortung für das Schicksal einer Person, die von Angehörigen der Bundeswehr, zum Beispiel in Afghanistan, festgenommen wurde, darf für die Bundeswehr nicht mit der Überstellung an eine örtlich zuständige Stelle enden; denn eine solche Bedenkenlosigkeit stünde uns, der Bundesrepublik Deutschland, nicht zu. Im Gegenteil: Wenn Angehörige unserer Bundeswehr bei einem Auslandseinsatz einen Menschen, sei er Kombattant oder Nichtkombattant, verhaften, übernimmt die Bundeswehr damit auch im rechtlichen Sinne eine Verantwortung für diesen Menschen; denn sie hat mit der Festnahme eine Ursache für die weitere Behandlung des Festgenommenen geschaffen. Dieser Verantwortung kann sich die Bundeswehr - damit auch wir als Deutscher Bundestag - nicht dadurch entziehen, dass sie den Festgenommenen einem anderen Staat überstellt und die Augen davor verschließt, was danach mit ihm geschieht, ob er zum Beispiel gefoltert wird. Das gilt insbesondere dann, wenn die verhaftete Person einem Rechtssystem überantwortet wird, das - ich nenne Afghanistan als Beispiel - noch im Aufbau befindlich ist und in dem grundlegende Rechtsstaatsgarantien nach unseren Maßstäben nicht gewährleistet werden können. Es kann nicht angehen, dass sich Deutschland auf der ganzen Welt einerseits gegen Folter und Geheimgefängnisse und für die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestgarantien einsetzt - das vertreten wir fraktionsübergreifend und andererseits gegenüber jenen Menschen gleichgültig ist, deren Schicksal unsere Bundeswehr im Ausland wesentlich beeinflusst, wenn nicht sogar begründet hat, wie ich schon ausgeführt habe. Es geht also nicht an, dass wir nach außen einen hohen Maßstab bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit setzen und sogar predigen - das meine ich in sehr positivem Sinne - und uns beim Einsatz deutscher Soldaten im Ausland genau dieser Verantwortung entziehen. ({0}) Bei einer Beteiligung deutscher Soldaten an internationalen Friedensmissionen kommt hinzu, dass diese Teil der deutschen öffentlichen Gewalt sind und damit der Grundrechtsbindung des Art. 1 Grundgesetz unterworfen sind. Ich will jetzt am Freitagnachmittag keine Vorlesung über Verfassungsrecht halten; ({1}) nur so viel: Die Verfassung verlangt hier ganz klar eine aufklärende Regelung. Das Verfassungsgericht hat klar gesagt - Bestimmtheitserfordernis -, dass wir solche Regelungen vorzugeben haben und es nicht einfach jedem einzelnen Soldaten vor Ort überlassen dürfen, mit dem Grundgesetz unter dem Arm solche Verhaftungen vorzunehmen. Noch ein letztes Wort. Diplomatische Versicherungen allein reichen hier nicht aus, wenn sichergestellt werden soll, dass Personen, die von deutschen Soldaten im Ausland verhaftet werden, einer rechtsstaatskonformen Behandlung zugeführt werden. Die Unzulänglichkeit und Unverbindlichkeit solcher Zusagen hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach erwiesen. Deswegen fordert meine Fraktion hier verbindliche Regeln. Deswegen unser Antrag, meine Damen und Herren, liebe Kollegen. Es darf am Ende nicht heißen: Die Bundeswehr macht im Ausland keine Gefangenen. - Die Bundeswehr soll im Ausland Gefangene machen, aber sie muss sich auch Gedanken darüber machen, was mit diesen Gefangenen nach Überstellung an die zuständigen örtlichen Stellen passiert, und darf sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat als nächster Redner der Kollege Michael Leutert von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klar ist, dass sich deutsche Soldaten im Ausland an deutsches Recht und Gesetz zu halten haben und damit auch an unser Wertesystem, das die Menschenrechte beinhaltet. Nichts anderes wird in diesem Antrag der FDP skizziert. Durch ihn soll die Bundesregierung darauf festgelegt werden, dass sie sich insbesondere dann, wenn die Bundeswehr Gefangene im Ausland macht und an Drittstaaten übergibt, auch daran hält. In diesem Sinne unterstützen wir den FDP-Antrag ganz klar. ({0}) Allerdings geht uns dieser Antrag nicht weit genug. 1) Anlage 2 ({1}) Ich möchte auch erklären, warum. Wir haben uns in diesem Hause ja schon sehr oft darüber unterhalten, wie sich deutsche Behörden, insbesondere Geheimdienste, im Ausland verhalten. Wir haben darüber diskutiert, dass Geheimdienstmitarbeiter in Guantanamo Gefangene verhören, einem Lager, in dem die Menschenrechte nicht so groß geschrieben werden, wie es eigentlich sein sollte. Damit sind wir wieder bei unseren amerikanischen Freunden. An dieser Stelle kann man von ihnen wieder einmal ganz klar die sofortige Schließung von Guantanamo fordern. ({2}) Mit dieser Forderung ist allerdings eine gewisse Ambivalenz verbunden: Während Guantanamo im Fokus der Öffentlichkeit steht - wir wissen wenigstens einigermaßen, was da abläuft -, wissen wir nicht, was in den vielen nicht öffentlichen Guantanamos stattfindet. Es bleibt zu befürchten, dass diese nicht öffentlichen Guantanamos auch nach Schließung von Guantanamo bestehen bleiben. Auf alle Fälle bleibt festzuhalten: In Guantanamo opfert Amerika unter strategischen Gesichtspunkten Menschenrechte. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Wie handelt unsere Regierung? Da möchte ich an Usbekistan erinnern; darüber haben wir hier schon gesprochen. Das Regime in Usbekistan ist eines der grausamsten auf der Welt. Ich kenne kein anderes Land, in dem über 800 Personen bei einer Demonstration über den Haufen geschossen wurden. Deutschland opfert auch dort unter strategischen Gesichtspunkten Menschenrechte, ({3}) nämlich indem wir dort den Militärflughafen Termes betreiben und dieses Jahr auch noch 19 Millionen Euro Wirtschaftshilfe unter dem Deckmantel der Entwicklungszusammenarbeit leisten. Ich halte dies, ehrlich gesagt, für einen Skandal. Jetzt ist die Frage, wie wir unsere Regierung, die ungefähr das Gleiche wie die amerikanische Regierung macht, indem sie Menschenrechte unter strategischen Gesichtspunkten opfert, darauf verpflichten, dass sie bei der Übergabe von Gefangenen an Drittstaaten auf Menschenrechte achtet. Angesichts dessen geht, wie ich denke, der Antrag nicht weit genug, weil er das Parlament letztendlich wieder außen vor lässt. Er müsste um die Forderung ergänzt werden, dass die Bundesregierung einen monatlichen Bericht darüber abgibt, wann wer verhaftet und an welchen Drittstaat übergeben wurde. Das müsste als laufender Bericht gestaltet werden, sodass wir nachvollziehen können, wo sich die Betroffenen in Gefangenschaft befinden und was mit ihnen in Gefangenschaft passiert ist. Zumindest diese Ergänzung werden wir in die laufenden Beratungen einbringen. Ein Letztes. Auch in den vorangegangenen Tagesordnungspunkten wurde oft über Geld gesprochen. Die Mehrheit dieses Bundestages hat in den letzten acht Tagen Auslandseinsätze der Bundeswehr beschlossen, die Kosten in Höhe von 640 Millionen Euro - das ist die offizielle Zahl - mit sich bringen. Wenn wir Auslandseinsätze in solch einer finanziellen Größenordnung beschließen, dann sollten wir erst recht darauf achten, dass menschenrechtliche Grundstandards dort eingehalten werden, wo unsere Soldaten aktiv sind. Eine Bemerkung kann ich mir hier nicht verkneifen. Bei den letzten Tagesordnungspunkten wurde immer wieder von den leeren Kassen gesprochen. Gleichzeitig beschließen wir aber Auslandseinsätze in einer Größenordnung von 640 Millionen Euro. Ein solches Verhalten führt das Argument der leeren Kassen ad absurdum. Danke. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Johannes Jung für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Antrag der Kollegen von der FDP gilt einem ernsten Thema und hat ein berechtigtes Anliegen zum Inhalt. Ganz gewiss müssen und wollen wir sicherstellen, dass von deutschen Sicherheitskräften im Ausland festgenommene und den dortigen Behörden überstellte Personen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen behandelt werden. Auch in dieser Legislaturperiode wurde vom Bundestag, von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung mehrfach die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Politik im Allgemeinen und im Speziellen bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus betont. Ich erinnere hier gern und auch aus aktuellem Anlass an den Beschluss des Bundestages vom 26. Januar dieses Jahres. Darin heißt es kurz und bündig unter Punkt 3: Der Deutsche Bundestag bekräftigt nochmals seine grundsätzliche Auffassung zur Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten von Gefangenen, wie er sie bereits zum Ausdruck gebracht hat. Dies ist übrigens eine Passage aus dem Beschluss des Bundestages zu Guantanamo, gilt also der gegenwärtigen US-Administration und nicht einem labilen Übergangsregime im einem Failing State. Das macht diesen Beschluss in meinen Augen noch gewichtiger. Er hat leider keineswegs an Aktualität eingebüßt; denn in den USA hat gestern nach dem Repräsentantenhaus auch der Senat das neue Antiterrorgesetz gebilligt. Wir alle wissen, dass damit die so genannten alternativen Johannes Jung ({0}) Verhörmethoden und das gesamte staatliche Antirechtsstaatsprogramm von Guantanamo formal legalisiert werden soll. Das ist ungeheuerlich und wird von der amerikanischen Bürgerrechtsunion zu Recht als drastischer Rückschrift für die Menschenrechte scharf kritisiert. ({1}) Hoffnung gibt mir einzig der Anlass, der hinter diesen gesetzgeberischen Maßnahmen steckt. So war es nach einer Serie von Gerichtsurteilen letztlich der Oberste Gerichtshof der USA, der die bisherige Praxis der militärischen Sondertribunale für rechtswidrig erklärt hat. Wer sich die Mühe macht - damit komme ich konkret zum Antrag der Fraktion der FDP - und ein bisschen in den Bundestagsdrucksachen stöbert, stellt fest, dass die FDP immer wieder um das heutige Thema kreist. Die FDP-Fraktion erhält auch immer wieder geduldig Antworten auf allerlei Anfragen, die sie zu diesem Thema stellt. Allerdings ist in Ihren Beiträgen keine inhaltliche Weiterentwicklung erkennbar. Sie stagnieren und wiederholen sich. ({2}) Das legt den Schluss nahe, dass Sie das Thema taktisch und nicht inhaltlich bearbeiten. Das ist sehr bedauerlich. Ich bitte Sie deshalb herzlich, diese geduldigen Antworten, die Sie immer wieder erhalten, auch einmal zur Kenntnis zu nehmen und intellektuell zu verarbeiten. Das spart so manchen Antrag. Das, was sich die FDP heute in diesem Antrag wünscht, ist durch das Völkerrecht, durch zwischenstaatliche Vereinbarungen und durch die UN-Mandatierungen bei Einsätzen längst abgedeckt. ({3}) - Ich komme gleich auf die Fälle. - Dort, wo Sie Probleme in der Operationalisierung guter Absichten sehen - die haben wir natürlich -, liefern Sie selbst keinen einzigen Verbesserungsvorschlag. Ihre Generalforderung, bestehende verbindliche Regelungen noch verbindlicher zu machen, ist weder geistreich noch hilfreich. Hinsichtlich der praktischen Fragen im konkreten Einsatzfall hätte Ihnen vielleicht auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke weitergeholfen. Dort wird am Beispiel von ISAF in Afghanistan Wesentliches dazu erläutert. Schauen Sie sich bitte auch diese Antwort einmal an. Ihr Antrag ist aus meiner Sicht nicht nur sachlich ungenügend, er ist auch politisch durchsichtig; denn Sie unternehmen damit den untauglichen Versuch, aus Verdächtigungen gegenüber der Bundesregierung und staatlichem Handeln im Allgemeinen taktisch Kapital zu schlagen. Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Diese Frage - also die Frage der rechtsstaatskonformen Behandlung wird insbesondere dann politisch bedeutsam, wenn wie in jüngster Zeit der Verdacht entsteht, dass Verdächtige im Rahmen des weltweiten Kampfes gegen den Terror in geheimen Gefängnissen inhaftiert, unter Einsatz von Folter verhört und einem rechtsstaatlichen Verfahren vorenthalten werden. Dann fordern Sie noch, die Bundesrepublik solle sich vergewissern, dass sie mit ihren eigenen Handlungen keinen Beitrag zu solchen Vorgängen leiste. Was soll das in einem Antrag, der ernst genommen werden soll? Das ist Politik als Suggestion und Sie suggerieren hier eine Komplizenschaft, die es nicht gibt. ({4}) Die SPD hat als Regierungspartei bewiesen, dass sie diese Praxis nicht unterstützt. ({5}) Unser Beitrag dient der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten. Dies gilt auch und besonders bei Militäreinsätzen. Ich fürchte, in Ihrem Antrag kommt nicht die ehrliche Sorge um die Menschenrechte zum Ausdruck. Nein, hier obsiegt die kleinliche, taktische Absicht. ({6}) Ihr Antrag wird der komplizierten internationalen Rechtslage nicht gerecht. Als Beispiel seien die rules of engagement bei UN-Einsätzen genannt. Ihr Antrag macht Andeutungen, die nicht belegt werden. Als Beispiel sei die angebliche Unwirksamkeit diplomatischer Zusagen genannt. Ihr Antrag hilft mit sechs Einzelforderungen am Ende und der Generalforderung - sie steht über allem -, alles müsse noch verbindlicher werden als bisher, niemandem über den Status quo hinaus weiter. Kurzum: Ihr Antrag verbessert nichts. Deshalb empfehlen wir, diesen Antrag nach Überweisung abzulehnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile nun dem Kollegen Volker Beck das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Antragsteller, dass bei der Behandlung von Gefangenen, die von der Bundeswehr im Ausland gemacht werden, die Menschenrechtsstandards eingehalten werden, teilen wir selbstverständlich. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig. Selbstverständlich ist auch die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen an Recht und Gesetz gebunden. Die UN-Charta, die Menschenrechtsstandards des Europarates und das Grundgesetz verhindern aus unserer Volker Beck ({0}) Sicht bereits jetzt die Übergabe von Gefangenen an andere Staaten, wenn damit zu rechnen ist, dass ihre Grundrechte geschmälert werden. Dies ist heute geltendes Recht und ist eine Selbstverständlichkeit. Auch die Bundeswehr muss sich an den hohen Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Wahrung der Rechte überstellter Personen messen lassen. Der Antrag weist auf ein reales Problem hin. Dieses Problem ist nicht in fehlenden rechtlichen Übereinkommen begründet, sondern es hat mit der Frage zu tun: Wie wird praktisch überprüft, dass sich die Vertragsparteien, mit denen wir gegebenenfalls im Rahmen des Gefangenenaustausches zusammenarbeiten, tatsächlich an die von ihnen zugesicherten Standards halten? Da kommt es nicht so sehr, wie es in Ihrem Antrag suggeriert wird, auf die Frage an, ob es sich um eine diplomatische Zusicherung oder um völkerrechtliche Übereinkommen handelt. Im Übrigen rate ich beim Thema völkerrechtliche Übereinkommen dazu, die Länder, die dies noch nicht gemacht haben, zu bewegen, die entsprechenden Konventionen des Europarates zu unterzeichnen. Diese gibt es nicht nur für die Mitglieder des Europarates, sondern sie können auch von anderen Staaten unterschrieben werden. Das Problem liegt darin, dass wir nicht wirklich überprüfen, was mit den Gefangenen geschieht, die wir überstellt haben. Ich glaube, wir sollten im Ausschuss im Zuge der Diskussion über den Antrag - die Diskussion hat nicht das Ziel, ihn zu beschließen - darüber reden, wie das Monitoring von solchen Verfahren verbessert werden kann. Meine Idee in diesem Zusammenhang ist - sie muss nicht die einzige sein -, die Position des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung zu stärken, indem wir ihn in die Lage versetzen, in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt und mit dem diplomatischen Dienst vor Ort Nachforschungen anzustellen. Er kann sich dafür einsetzen, dass die Gefangenen ordentlich behandelt werden, dass sie nicht verschwinden, dass sie nicht gefoltert werden und dass sie entweder als Kriegsgefangene oder als Strafgefangene im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens behandelt werden. Man kann sicher auch andere Modelle entwickeln. Aber man muss sich daranmachen, das Problem des Monitorings zu lösen. Man darf nicht glauben, man könne durch die Produktion von zusätzlichem Papier auf internationaler Ebene etwas für die Menschenrechte tun. Es geht darum, dass die Menschenrechte in diesem Bereich gestärkt werden. Deshalb müssen wir zu einer Verbesserung der realen Situation kommen. ({1}) Der Kollege Leutert hat den Betrag von einigen 100 Millionen Euro erwähnt, den wir für Auslandseinsätze ausgeben. Er spricht davon, dass dies zeigt, wie verkehrt unsere Politik sei, weil für andere Dinge kein Geld da sei. Angesichts der Situation im Libanon und in Israel - dort haben die Vereinten Nationen, militärisch unterstützt durch die internationale Staatengemeinschaft, das Schweigen der Waffen durchgesetzt - ist das zynisch. Noch zynischer klingen diese Worte, wenn man sich die Situation im Sudan - wir waren doch gemeinsam dort - anschaut. Es besteht nicht das Problem, dass wir zu viel tun, um den Friedensprozess mit dem Südsudan abzusichern. Es besteht vielmehr das Problem, dass wir zu wenig tun oder zumindest nicht die Bereitschaft erklärt haben, mehr zu tun, um den Völkermord in Darfur zu beenden. ({2}) Auch wenn das noch ein paar 100 Millionen kostet: Diese Millionen zahlen wir gern, um einen Genozid zu stoppen. Deshalb muss ich sagen: Dieses Argument sollten Sie besser zurückziehen. Das war der Sache nicht angemessen. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Dr. Norman Paech, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN 70. Jahrestag der Gründung der Internationalen Brigaden in Spanien - Würdigung des Kampfes deutscher Freiwilliger an der Seite der Spanischen Republik für ein antifaschistisches und demokratisches Europa - Drucksache 16/2679 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({1})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für den deutschen Faschismus war Spanien vor 70 Jahren der Probelauf für einen barbarischen Krieg, mit dem er später ganz Europa überzog. Damals gab es zwei Gesichter Deutschlands. Es gab auch ein Deutschland, das Krieg und Faschismus aufhalten und abwenden wollte. Mit den deutschen Freiwilligen in den Internationalen Brigaden beschäftigt sich das deutsche Parlament heute zum ersten Mal seit seinem Bestehen im Plenum. Auch das ist leider sehr bezeichnend. Zwei Persönlichkeiten, die in Spanien ihr Leben für die Republik, die Freiheit und gegen den Faschismus eingesetzt haben, befinden sich heute auf der Zuschauertribüne unseres Parlamentes. Ich freue mich ausgesprochen, dass Santiago Carrillo, der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens, und Kurt Goldstein, der Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitzkomitees, unserer Debatte beiwohnen. ({0}) Auch das hat für das deutsche Parlament eine große Bedeutung. Die Geschichte des deutschen Widerstandes gegen den Faschismus begann nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg. Die deutschen Freiwilligen im spanischen Bürgerkrieg waren Teil des antifaschistischen Widerstandes Deutschlands. Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass dieser Teil des Widerstandes in die Erinnerungskultur aufgenommen wird, dass er endlich wieder Gesicht und Stimme erhält. Unter den Interbrigadisten waren Kollegen von uns, Abgeordnete des Reichstages und des Bundestages. Stellvertretend nenne ich Artur Becker, Fritz Kahmann, Peter Blachstein, Gustav Gundelach und Willy Brandt. Ich schlage vor, dass sich der Ältestenrat des Bundestages damit beschäftigt, ob nicht auch in diesem Parlament eine Ehrentafel an diejenigen Menschen erinnern sollte, die ihr Leben gegen den Faschismus in Spanien eingesetzt haben. ({1}) Es geht uns um das Gedenken, um das Denken, um das Nachdenken. Wir Linken hinterfragen unsere eigene Geschichte kritisch. Es geht auch darum, die einseitige Wahrnehmung des spanischen Bürgerkrieges zu korrigieren. Sagen wir es einmal so: Die Republik West hat eine rechte Schlagseite. Es geht darum, dieses Überbleibsel des Kalten Krieges zu korrigieren. Im spanischen Bürgerkrieg hatte Deutschland zwei Gesichter: das der Legion Condor, die Guernica in Schutt und Asche legte, und das der Interbrigadisten, deren Heimat vor Madrid war und die diese Heimat gegen den Faschismus verteidigten. Für die einen gab es im Westen nach 1945 Renten; Straßen und Kasernen wurden nach ihnen benannt. Über die Taten der anderen wurde geschwiegen. Heute bricht der Deutsche Bundestag dieses Schweigen. Damit setzt er auch ein Signal dafür, dass wir nach der Vereinigung nicht einfach Geschichte West fortschreiben und fortschreiben können, sondern dass wir den Mut haben sollen, eine andere Geschichte, die Geschichte dieses vereinten Deutschlands, auch anders zu schreiben. ({2}) Ich bitte nicht gerne um irgendetwas; ich bitte schon gar nicht besonders gerne den Bundestag um irgendetwas. Aber ich bitte Sie sehr, auch diesem anderen Deutschland Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich bitte Sie sehr darum, beizutragen, dass in einer anderen Art und Weise mit unserer Geschichte umgegangen wird. Und ich bitte auch sehr darum, dass wir in einer neuen Art und Weise auf unsere Nachbarländer blicken, dass wir zur Kenntnis nehmen, was sich in Spanien unter der Zapatero-Regierung und in Frankreich verändert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss Willy Brandt zitieren. Willy Brandt schrieb 1937, wie wichtig es sei, über den Spanischen Bürgerkrieg aufzuklären. Wörtlich: Gelingt uns das in genügendem Maße …, dann wird Einheit einkehren, dann wird Hitler von der spanischen Krankheit nicht mehr genesen. Sicherlich wäre mein Fraktionsvorsitzender Oskar Lafontaine berufener als ich, Willy Brandt zu zitieren. ({3}) Er steht in seiner Tradition; ich stehe nicht in der Tradition. ({4}) Aber der Begriff der Einheit verbindet Oskar Lafontaine und mich in dieser Frage. Ich bitte Sie sehr, dass wir als Deutscher Bundestag deutlich machen: Geschichtlich hat Brandt über Hitler, hat Demokratie über den Faschismus gesiegt. Auch das haben wir heute zu verteidigen. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt Umarmungen, gegen die sich Willy Brandt nicht mehr wehren kann. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Vorbereitung auf diesen Tagesordnungspunkt, bei der Wiederannäherung an das Thema „Internationale Brigaden in Spanien“ haben in der DDR sozialisierte Bundesbürger Bilder vor Augen, die noch von einer sehr einseitigen und verklärenden Geschichtsbetrachtung geprägt sind und die sich auch im Antrag der Linksfraktion wiederfinden, so das Bild von den Antifaschisten aus der ganzen Welt, die für die Rechte des spanischen Volkes und seiner demokratisch gewählten Regierung unter dem Satz „Für eure und unsere Freiheit!“ kämpften. ({0}) Unter den deutschen Freiwilligen werden im Antrag unter anderem Hans Beimler und Willy Brandt namentlich erwähnt. Zu beiden wäre etwas anzumerken, aber auch zu den im Antrag nicht erwähnten Spanienkämpfern Wilhelm Zaisser und Erich Mielke. ({1}) Denn der Antrag der Linken, Herr Kollege Gehrcke, ist Teil einer Legendenbildung, die sich der Deutsche Bundestag in dieser Einseitigkeit nicht zu Eigen machen sollte. ({2}) Das im Antrag gezeichnete Bild folgt dem in der DDR gepflegten Erbe der Spanienkämpfer, freilich auch in der charakteristischen Einseitigkeit, durch die sich kommunistische Historiengemälde auszeichnen. Die Rolle der Kommunisten wird im Stil einer Heiligenlegende geschildert, politisch unliebsame Einzelpersonen oder Ereignisse werden totgeschwiegen und ausgeblendet. Die Internationalen Brigaden waren von der Komintern rekrutierte und ausgebildete Freiwilligenverbände, die im spanischen Bürgerkrieg an der Seite der gewählten spanischen Regierung gegen die von Franco angeführten aufständischen Verbände kämpften. ({3}) - Es waren Freiwillige, die im Auftrag der spanischen Regierung gegen die von Franco geführten aufständischen Verbände gekämpft haben. Was ist daran falsch, Kollege Ramelow? ({4}) Mehr als die Hälfte der insgesamt circa 40 000 Interbrigadisten kam im Zuge der Kampfhandlungen ums Leben. Viele kamen im Zuge der stalinistischen Säuberungen ums Leben; denn ein sehr dunkles Kapitel der Interbrigaden sind die stalinistischen Säuberungen, bei denen die Internationalen Brigaden Opfer und Täter waren. Zu Anfang waren die Interbrigaden noch eine Sammlung von Antifaschisten unterschiedlicher politischer und religiöser Einstellungen. Mit der Zeit wurden sie aber durch materielle und vor allem ideologische Aufrüstung durch die Sowjetunion zu einem außenpolitischen Werkzeug Stalins. ({5}) In den Schützengräben Spaniens wiederholten sich die stalinistischen Säuberungen der Jahre 1937 und 1938. Stalinisten klagten gegen so genannte Linksabweichler, Anarchisten und Trotzkisten wegen Feigheit vor dem Feind oder Abweichlertum. Nicht selten führte das am Ende zur Exekution. Spionage und Personenüberwachungen waren an der Tagesordnung. In den Truppenteilen arbeitete ein Netz von Agenten. Es wurden schwarze Listen geführt. Für die Überwachung der deutschsprachigen Spanienkämpfer scheint zeitweilig Wilhelm Zaisser zuständig gewesen sein. Ein enger Mitarbeiter Zaissers war Erich Mielke. Beide avancierten später zu Staatssicherheitsministern der DDR. Zaisser wurde beschuldigt, Anfang Dezember 1936 die Erschießung politisch unliebsamer Personen veranlasst zu haben. Über Erich Mielke schreibt Wolf Biermann in seiner „Ballade von den verdorbenen Greisen“: Hey Mielke, du warst ein Spanienkämpfer? Ich glaube dir nichts, du warst privilegiert Wir wissen, du hast die Trotzkisten und andre Genossen feig hinter der Front liquidiert Willy Brandt - er wurde bereits erwähnt -, der sich zeitweilig als Vertreter der linkssozialistischen SAP in Barcelona aufgehalten hatte, entging der im Frühjahr 1937 einsetzenden Verhaftungswelle dadurch, dass er Spanien rechtzeitig verließ. Am nördlichen Stadtrand von Madrid fiel bei der Inspektion eines Frontabschnitts der bei den einfachen deutschen Interbrigadisten beliebte, von der offiziellen KPDFührung aber beargwöhnte Politkommissar Hans Beimler. Bis heute ist unklar, ob Hans Beimler einer stalinistischen Säuberung zum Opfer gefallen ist. Eine Vertraute Beimlers sprach von einem Mord seitens des sowjetischen Geheimdienstes GPU. Das Kapitel der Genossenmorde wurde und wird bis heute - auch in Ihrem Antrag - verschwiegen. Es ist die Einseitigkeit des Geschichtsbildes, die eine parlamentarische Auseinandersetzung mit dem Antrag der Linksfraktion erschwert. Nichtsdestotrotz wird in den Ausschussberatungen über den geschichtlichen Kontext zu reden sein. Das, was tatsächlich angemessen herausgestellt werden muss, wird zu würdigen sein. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Fraktion Die Linke für diesen Antrag sehr dankbar; denn dieser Antrag zeigt in aller Deutlichkeit, mit welcher Heuchelei, Unseriosität und Doppelzüngigkeit sie hier im Deutschen Bundestag ihre Politik betreibt. Die Fraktion Die Linke fordert uns in ihrem Antrag auf, den Einsatz deutscher Freiwilliger im spanischen Bürgerkrieg zu würdigen - das erstaunt -; denn das, was vor 70 Jahren - ich zitiere - „ein wichtiger Beitrag im Kampf für die Verteidigung demokratischer Werte“ war, bezeichnet die gleiche Fraktion heutzutage als Terrorismus. ({0}) Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Sie müssen sich entscheiden: Sind kriegerische Mittel grundsätzlich nicht erlaubt oder nur selektiv? ({1}) Wenn Sie militärische Einsätze im Deutschen Bundestag grundsätzlich ablehnen, dann muss das auch für die Vergangenheit gelten. Oder Sie geben zu, dass es sinnvolle militärische Einsätze gibt und weniger sinnvolle. Diese Diskussion können Sie auch durch Zwischenrufe und noch so große Erregung nicht vom Tisch wischen. Dieser Diskussion müssen Sie sich stellen. Sie argumentieren heute im Gegensatz zu gestern und letzter Woche völlig anders; das passt hinten und vorne nicht zusammen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich einmal eine kohärente Politik betreiben. ({2}) Gregor Gysi hat am 19. September dieses Jahres an dieser Stelle gesagt: Krieg ist eine Höchstform von Terror und mittels Terror kann man Terror nicht wirksam bekämpfen. Das Protokoll vermerkt anschließend Beifall bei Ihnen. Sie haben geklatscht. Heute sollten Sie zu diesem Beifall stehen. Ist Krieg immer Terror? Dann gilt das natürlich auch für den Krieg von damals, den Sie befürworten. Das müssen Sie sich klar machen. ({3}) Sie müssen sich entscheiden. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefallen kann. Das ist völlig klar. Wenn zwischen Ihren Argumenten der letzten Tage und denen von heute eine solch große Diskrepanz herrscht, dann kann Ihnen das nicht gefallen. Das würde auch mir nicht gefallen. Wenn ich mir die Reden der Kollegin Knoche von gestern und letzter Woche zum Afghanistaneinsatz vor Augen führe, komme ich zu dem Ergebnis, dass Ihre Fraktion vor 70 Jahren, wenn es sie damals schon gegeben hätte, den sofortigen Abzug aller freiwilligen Truppen hätte fordern müssen. Sie hätten Rechtsstaatsbildung, Wirtschaftshilfe und die Beachtung von Menschenrechten fordern müssen, natürlich - wie immer bei Ihnen ohne jede konkrete Möglichkeit zur Verwirklichung der Forderungen. Diesem Dilemma stehen Sie hier in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber. ({4}) Sie sind sehr gut darin, populistische Forderungen zu stellen. In der Realität sind Sie jedenfalls nicht angekommen. Das müssen wir hier sehr deutlich sagen. Realistisch umsetzbare Strategien haben Sie nicht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Oskar Lafontaine - da oben sitzt er - hat in seiner Rede hier definiert: Terrorismus ist das Töten von Menschen zum Erreichen politischer Ziele. Herr Gehrcke, das ist die Definition von Oskar Lafontaine hier im Deutschen Bundestag. ({0}) - Sie definieren das so. Wenn Sie dazu wenigstens stehen würden. Das wäre ja in Ordnung. Sie lehnen hier doch jeden militärischen Einsatz ab. Für Sie gibt es heutzutage keinen sinnvollen militärischen Einsatz. Aber vor 70 Jahren in der goldenen Vergangenheit gab es ihn Ihrer Meinung nach. Das ist unaufrichtig. Das müssen wir hier sehr deutlich sagen. Sie sind heutzutage zu keiner Abwägung bereit. Wir stehen bei jedem einzelnen Einsatz vor einer schwierigen Gewissensfrage. Wir wägen alles ab. Manchmal stimmen wir zu und manchmal eben nicht. Zu dieser grundsätzlich realitätsbezogenen Politik sind Sie nicht bereit. Ich persönlich, obwohl ich die Meinung von Pazifisten nicht teile, habe großen Respekt vor wirklichen Pazifisten, gerade deshalb, weil es eine sehr hochmoralische Position ist, die so wahnsinnig schwierig in der Realität durchzuhalten ist, was Pazifisten immer wieder merken. Diese Position teile ich nicht; aber ich respektiere sie. ({1}) Ihre Position kann ich jedoch nicht respektieren und Ihre Partei auch nicht. Sie bedienen sich im Pazifismus wie in einem Gemischtwarenladen. ({2}) - Das kann Ihnen nicht gefallen; das finde ich gut. Ich bin Ihnen dankbar und freue mich über Ihre Resonanz. Herzlichen Dank. Machen Sie so weiter! Ich freue mich darüber. Danke schön. Ihre Widersprüchlichkeit können Sie so nicht weiter im Deutschen Bundestag betreiben. Sie wird Tag für Tag deutlicher. Ein vielleicht nicht einmal schlechtes Anliegen wird so durch die, die es hier vertreten, völlig kompromittiert. Wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr Kollege Gehrcke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es gibt ja immer noch Steigerungsmöglichkeiten. Ich finde, dass Herr Stinner einen Anspruch darauf hat, relativ rasch eine Reaktion auf seine Rede zu erhalten. ({0}) Seine Argumente waren ja zu erwarten. Ich bitte Sie darum, mit mir gemeinsam über Folgendes nachzudenken: Warum sind diese Freiwilligen nach Spanien gegangen? Die ganzen geschichtlichen Bemerkungen - ich weiche denen nicht aus - machen das Opfer, das sie gebracht haben, und ihre Entschlossenheit, Herr Grund, noch viel größer. Sie waren in einer geschichtlich schwierigen Situation. Sie mussten sich entscheiden. Sie sind nach Spanien gegangen, um die Demokratie gegen den Faschismus zu verteidigen. ({1}) Es waren Freiwillige, die nach Spanien gegangen sind. Sie haben sich entschieden, mit der Waffe - auch das darf nicht verschwiegen werden - zu kämpfen. Jetzt komme ich auf die Unterschiede zu heute zu sprechen. Ein Argument unserer Fraktion - das können wir beweisen - lautet, dass zwar immer mehr Militäreinsätze mit dem Einsatz für die Menschenrechte begründet werden, dass aber tatsächlich Öl, Erdgas oder andere Interessen im Mittelpunkt stehen. ({2}) Darüber hinaus geht es heutzutage - das lässt sich an vielen Beispielen belegen - um den Einsatz von Armeen, nicht um das Engagement von Freiwilligen. Zudem muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Zeit eine andere geworden ist. Beispielsweise bin ich heute fest davon überzeugt - das gilt für die Linke insgesamt als Paradigmenwechsel; das gebe ich zu -, dass politische Probleme nicht mit Gewalt und Bürgerkrieg zu lösen sind. ({3}) Einer Debatte gehen Sie immer aus dem Weg: Wir brauchen andere Regulierungsmechanismen. Daher frage ich: Warum eigentlich werden die Vereinten Nationen nicht mit einer ständigen, unter dem Kommando ihres Generalsekretärs stehenden Polizeitruppe ausgerüstet, ({4}) damit sie endlich selbstständig handeln können und das Handeln nicht an die Mächtigen übertragen müssen? Wir müssen die Vereinten Nationen handlungsfähig machen, weil Gewalt als Mittel der Politik ausscheidet. Über diese Fragen müssen wir uns verständigen, wenn wir nicht immer wieder in Militäreinsätze geraten wollen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Stinner.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Gehrcke, Sie haben sicherlich zur Kenntnis genommen - zumindest hoffe ich das -, dass ich die Motivation derjenigen, die damals nach Spanien gegangen sind, in meiner Rede in keiner Weise angezweifelt bzw. dass ich diese Personen nicht diskreditiert habe. Ich respektiere ihre Motivationslage völlig. Meine Argumentation allerdings gründet auf den Erfahrungen vom September des Jahres 2006. Denn auch heute, sehr geehrter Herr Gehrcke, müssen wir wichtige Abwägungen vornehmen. Die Frau Kollegin Knoche war dabei - vielleicht waren noch einige andere von Ihnen anwesend -, als 20 afghanische Parlamentarierinnen uns deutschen Parlamentariern auf unglaublich eindrucksvolle Art und Weise die folgenden zwei Botschaften auf den Weg gegeben haben: Bleibt auf jeden Fall in Afghanistan, geht aber um Gottes willen anders als bisher vor! Auch die Kollegin Knoche hat das gehört. Dennoch hielt sie nur wenige Tage später hier im Bundestag eine Nullachtfünfzehn-Wischiwaschi-Rede. Lieber Kollege Gehrcke, wir müssen auch diese deutlichen Botschaften vom September 2006 berücksichtigen. Sie können doch nicht nur die Botschaften der Jahre 1936 bis 1939, sondern Sie müssen auch die Botschaften des heutigen Tages zur Kenntnis nehmen. Durch meine Argumentation habe ich den Spanienkämpfern in keiner Weise den Respekt versagt; das würde ich niemals tun. Ich habe lediglich auf die aktuelle Situation abgestellt und nachgewiesen, dass Ihre heutige Diskussionsgrundlage und Ihre heutige Politik völlig widersprüchlich sind. Das wird hier wieder einmal deutlich. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer persönlichen Erklärung erteile ich nun der Kollegin Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine kurze Erwiderung, Herr Stinner: Es ist nahezu unverschämt, was Sie sich hier erlauben. Sie selbst sind, als wir die Gespräche mit den Frauen aus Afghanistan geführt haben, vorzeitig gegangen. In den Gesprächen, die wir später intern unter Frauen weitergeführt haben, wurde deutlich, dass die Frauen aus Afghanistan große Klage führen und den fortdauernden militärischen Angriff sowie insbesondere die Operation im Süden des Landes - dort ist übrigens die Frauenbeauftragte zu Tode gekommen - eindeutig verurteilen. Wie kommen Sie dazu, mir Unredlichkeit zu unterstellen? Ihr Verhalten als Parlamentarier ist ungeheuerlich. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Erwiderung auf eine persönliche Erklärung im Plenum ist nicht üblich. ({0}) - Wenn auch Sie in einigen Sätzen eine persönliche Erklärung abgeben wollen, dann gebe ich Ihnen gerne das Wort, aber wirklich nur zu einer persönlichen Erklärung.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Knoche, Sie haben die Unwahrheit gesagt. Ich habe die Sitzung mit den afghanischen Parlamentarierinnen im Verteidigungsausschuss persönlich geleitet. Ich war bei dieser Sitzung von der ersten bis zur letzten Sekunde anwesend. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie werden im Ausschuss Gelegenheit haben, diesen Dialog und die weiteren Gespräche fortzusetzen. Ich erteile nun das Wort als letztem Redner in dieser Debatte dem Kollegen Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei allem Respekt vor den Argumenten aller Seiten muss ich sagen: Ich weiß nicht, ob wir denjenigen, die damals als Europäer - das sollten wir uns klar machen - versucht haben, den Putsch eines Militärs gegen eine demokratisch gewählte Regierung zu verhindern, mit dieser Form der Debatte gerecht werden. ({0}) Ich sage das mit allem Nachdruck, weil wir uns in der alten Bundesrepublik Deutschland lange schwer damit getan haben, mit diesem Teil der Geschichte umzugehen, wie die Debatten über das Jagdgeschwader, das nach Herrn Mölders benannt war, und über die Legion Condor zeigen. Bis in die jüngste Vergangenheit haben wir versucht, dieses ein ganzes Stück aufzuarbeiten. Deswegen finde ich das Anliegen der Linkspartei, dass wir Deutsche und wir als Deutscher Bundestag der Menschen, die damals für Europa, für die Demokratie gestritten haben, gedenken, erst einmal richtig; das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Dieses Grundanliegen sollten wir ernst nehmen und unterstützen. ({1}) Dazu gehört aber die Betrachtung der ganzen Geschichte, nicht nur der Beteiligung Deutscher an faschistischen Verbrechen wie in Guernica. Dazu gehört ebenso die Feststellung: Ja, diejenigen, die als Freiwillige dort gekämpft haben, waren nicht alle Demokraten und nicht immer ist dieser Kampf für die Demokratie mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln geführt worden. Das müssen wir mit aufarbeiten, wenn wir gedenken wollen. Es gibt durchaus Geschichtswissenschaftler, die sagen, dass die Schwächung der republikanischen Kräfte vor Madrid viel damit zu tun hat, dass innerhalb dieser Brigaden durch die von der Komintern verwendeten Methoden des Stalinismus die Kräfte des Kampfes für die Demokratie, diese Stadt zu halten, geschwächt wurden. Deswegen rate ich uns allen: Versuchen wir, in dieser Situation den Respekt vor denjenigen, die da für die Demokratie, für Europa gekämpft haben, zu verknüpfen mit einer Betrachtung der Geschichte, die auch die grauen und die schwarzen Seiten dieses Kampfes für die Demokratie erhellt und aufzeigt. Ich denke, in diesem Sinne können wir deutschen Parlamentarier, wie in diesem Antrag gefordert, derjenigen, die für die Demokratie dort gestorben sind, ernsthaft gedenken. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe nun die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2679 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung abweichend von der Tagesordnung beim Auswärtigen Ausschuss liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Oktober, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und eine angenehme sitzungsfreie Zeit. Die Sitzung ist geschlossen.