Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht zur Deutschen IslamKonferenz. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat sich heute mit dem Bericht zur Deutschen Islam-Konferenz 2006 bis 2009 befasst. Die Bundeskanzlerin hat zu Beginn dieser Legislaturperiode in ihrer Regierungserklärung im November 2005 angekündigt, dass die Bekämpfung von Defiziten bei der Integration von Mitbürgern, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt und aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu uns gekommen sind und mit uns leben, einer der Schwerpunkte dieser Legislaturperiode sein wird. In diesem Zusammenhang hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Kollegin Böhmer, den Nationalen Integrationsplan und den Integrationsgipfel als Dialogprozess entwickelt. Seit 2006 haben wir uns im Rahmen unserer Integrationspolitik mit diesen besonderen Beziehungen und der Tatsache auseinandergesetzt, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist. Damals haben wir angenommen, dass etwa 3,5 Millionen Muslime in unserem Land leben; heute wissen wir, dass es über 4 Millionen sind. Sie haben einen Anspruch darauf - dieser Anspruch ist von vielen Seiten formuliert worden -, zum Beispiel hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so behandelt zu werden, wie es der gewachsenen Tradition in unserem Staatskirchenrecht und unserem Verfassungsrecht entspricht. Das betrifft auch den Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Darauf haben sie einen Anspruch. Wir haben gesagt, dass wir diesen Prozess beginnen und als ständigen Dialogprozess fortführen müssen. Wir müssen miteinander darüber diskutieren, was dieser Anspruch bedeutet. Unser freiheitlich ausgerichteter und weltanschaulich neutraler Rechtsstaat erteilt keine religiöse Unterweisung, sondern bietet nach Art. 7 unseres Grundgesetzes Religionsunterricht in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den jeweiligen Kirchen und Religionsgemeinschaften an. Die Muslime sagen aber, sie seien nicht in einer Kirche zusammengeschlossen. Deswegen mussten wir zu dieser Frage einen Dialog beginnen. Wir sind in diesem Dialog weit gekommen. 15 Vertreter der Vielfalt muslimischen Lebens in unserem Land - das waren Vertreter der Verbände, die einen Teil der Muslime in unserem Land repräsentieren, aber auch Einzelpersönlichkeiten, die sich in der öffentlichen, demokratisch-pluralistischen Debatte hervorgetan haben - haben wir ebenso wie Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen in diese Islam-Konferenz berufen. In diesen drei Jahren haben wir nicht nur in den Plenarkonferenzen, sondern vor allem in drei Arbeitsgruppen und einem Gesprächskreis intensiv gearbeitet und eine Fülle sehr konkreter Ergebnisse erzielt, die wir im Einzelnen in diesem Bericht darlegen, der Ihnen zur Verfügung gestellt werden kann. In der Plenarkonferenz der vergangenen Woche haben wir für diese Legislaturperiode in gewisser Hinsicht Bilanz gezogen. Natürlich ist im Zusammenhang mit dieser letzten Plenarkonferenz auch gesagt worden, dass es noch immer keine einheitliche Meinung der Muslime und der Verbände gibt. Die soll es auch gar nicht geben. Wir sind ein pluralistisch verfasstes Land. Wir haben die Vielfalt des Islam stärker wahrgenommen. Auch die Muslime haben sich stärker damit auseinandergesetzt und sie akzeptiert. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Integration. Redetext Wir haben Empfehlungen für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen entwickelt. Der Präsident der Kultusministerkonferenz und der Vorsitzende der Innenministerkonferenz der Länder haben an allen Beratungen teilgenommen. Die Länder sind dabei - diesbezüglich besteht völliges Einvernehmen -, diese Empfehlungen umzusetzen. In einer Reihe von Bundesländern gibt es bereits entsprechende Ansätze. Wir arbeiten daran - das haben wir in der vergangenen Woche noch einmal gemeinsam empfohlen -, dass in den Hochschulen in Deutschland islamische Theologie auch auf wissenschaftlicher Ebene gelehrt wird, um Religionslehrer auszubilden, aber auch, um Theologie zu betreiben. Auch das wird sicherlich ein wichtiger Schritt in den nächsten Jahren sein. Wir haben für die Kommunen praktische Handreichungen, zum Beispiel zu Fragen des Baus von Moscheen und zu Begräbnisriten, entwickelt. Wir haben gemeinsame Empfehlungen für die Lösung möglicher Konflikte im schulischen Alltag - hinsichtlich des Sportunterrichts für Mädchen bis hin zu vielen anderen Fragen - einvernehmlich erarbeitet. Wir haben einen Gesprächskreis eingesetzt, in dem die Vertreter der Muslime gemeinsam mit den Sicherheitsorganen zusammenwirken, um unserer gemeinsamen Verantwortung für die Friedlichkeit und die Toleranz unserer Freiheitsordnung gerecht zu werden. Wir haben nicht alles erreicht; aber wir haben die Wahrnehmung der Muslime in unserem Land ein Stück weit verändert. Sie sollen das Gefühl haben, dass sie willkommen sind, wenn sie sich in unserer freiheitlichen Ordnung engagieren. Wir haben die öffentliche Meinung der Nichtmuslime in unserem Lande ein Stück weit dahin gehend entwickelt, dass wir Muslime nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung empfinden - immer unter der Voraussetzung, dass sich alle an Recht und Gesetz halten. Wir alle - Bund, Länder und Kommunen sowie alle Muslime mit ihren ganz unterschiedlichen Positionen waren uns bei allen Unterschieden im Einzelnen einig, dass sich die Arbeit der vergangenen drei Jahre gelohnt hat und dass es wichtig ist, sie fortzusetzen. Deswegen sind wir nicht am Ende der Bemühungen; aber wir sind auf einem guten Weg. Vielen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank, Herr Minister. - Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet wurde. Bitte schön, Herr Kollege Wolff.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, vielen Dank für den kurzen Bericht. Aus meiner Sicht und seitens der FDP ist klar zu konstatieren, dass die Deutsche Islam-Konferenz notwendig war und dass der Weg, der begangen worden ist, ein wichtiger erster Schritt war. Insofern sind die Ausführungen, die Sie gemacht haben, grundsätzlich zu begrüßen. Sie sprachen an, dass Kontinuität erforderlich ist und dass wir einen vertieften Dialog führen müssen. Mich würde interessieren, wie Sie sich diesen Dialog und wie Sie sich die Beteiligung des Parlaments und der Abgeordneten an diesem Dialog vorstellen. Denn ich halte es für ein Versäumnis der Deutschen Islam-Konferenz, dass der Deutsche Bundestag bisher nicht eingebunden war und die gerade hier bestehende Möglichkeit der Verbreiterung des Dialogs nicht genutzt worden ist. In der nächsten Legislaturperiode besteht vielleicht die Chance, den Dialog zu vertiefen. Ein weiterer Punkt, den Sie ansprachen, ist die Ausbildung von Imamen in Deutschland. Mich würde ganz konkret interessieren, welche Möglichkeiten Sie sehen, dass in dieser pluralistischen Welt - auch in der pluralistischen Welt des Islam - die in Deutschland ausgebildeten Imame tatsächlich anerkannt werden. Welche Zeitschiene sehen Sie hier, um auf diesem Weg, den die FDP-Fraktion durchaus begrüßt, deutlich weiterzukommen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank. - Herr Minister, bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank, Herr Kollege Wolff. - Zu Ihrer ersten Frage: Wir hatten uns, und zwar auf den drei Ebenen Bund, Länder und Gemeinden, bei der Einberufung der Islam-Konferenz vorgenommen, mit der Vielfalt muslimischen Lebens einen institutionalisierten, auf eine gewisse Dauer angelegten Dialog zu führen. Das ist eine klassische Aufgabe der Exekutive. Daher haben wir das so betrieben. Es ist dem Deutschen Bundestag, dem Hohen Hause, völlig unbenommen, seinerseits jede Form von Dialog zu führen. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht dafür vielfältige Möglichkeiten vor. Aber für unseren Ansatz war, glaube ich, dieser Weg richtig. Ich will noch einmal betonen, dass nicht nur der Bund beteiligt war. Wir brauchen zum Beispiel für Fragen des Religionsunterrichts und der Lehre der islamischen Theologie an Hochschulen vor allem die Länder; sie sind hier verantwortlich. Wir hätten eine unüberschaubare Größe dieses Gremiums in Kauf nehmen müssen, wenn wir die Fraktionen des Bundestages einbezogen hätten. Dann hätten wir genauso die Landtage beteiligen müssen. Ich weiß nicht, ob Sie an der Föderalismusreformkommission I oder II teilgenommen haben. Mein Rat lautet, dass wir nach den Wahlen gemeinsam für die nächste Legislaturperiode überlegen, wie wir dem Anliegen, das Parlament stärker einzubeziehen, gerecht werden können. Ich glaube aber, für diese drei Jahre war unser Weg richtig. Sie haben nach der Ausbildung von Imamen in Deutschland gefragt. Hier besteht eine dringende Notwendigkeit; dies ist der Wunsch vieler Muslime in unserem Land. Deswegen begrüße ich es sehr - auf der Islam-Konferenz wurden dieser Wunsch und diese Erwartung sehr nachdrücklich geäußert -, dass wir Kapazitäten für die Ausbildung von Imamen in Deutschland schaffen. Es wird dann also nicht nur um die Ausbildung von Lehrern für den Religionsunterricht an Schulen gehen, sondern auch um die Ausbildung von Imamen. Das heißt, es wird an deutschen Hochschulen auch islamische Theologie gelehrt. Das ist gar keine einfache Frage. Deswegen stehen wir in Kontakt mit vielen Ländern. Ich war in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder in einer Reihe von islamisch geprägten Ländern, um dort Gespräche zu führen. Wir stehen übrigens in einem engen Kontakt mit der Türkei, die weiß, dass DITIB aus der Verantwortung der türkischen Religionsbehörde Diyanet entlassen werden muss. Hier gibt es eine Menge positiver Entwicklungen. Die Erklärung des Vertreters von DITIB in der letzten Sitzung des Plenums der IslamKonferenz hat gezeigt, dass die türkische Regierung bzw. die türkische Religionsbehörde diesen Weg geht. Hier gibt es viele spannende Fragen. Ich habe mich mit dem Großmufti in Syrien unterhalten. Er hat mir gesagt: Sie müssen einen deutschen Islam schaffen. Führen Sie alle Gruppen zusammen und gründen Sie dann einen deutschen Islam. - Daraufhin habe ich ihm geantwortet: Nein, das werden wir nicht tun. Wir sind eine freiheitliche Demokratie. Wir schreiben den Muslimen nicht vor, ob sie alle einer Glaubensrichtung angehören oder unterschiedliche Glaubensrichtungen verfolgen. Das ist Sache der Muslime. In unserem Land ist das nicht die Sache der Regierung oder der Politik. Unsere Regierung ernennt auch keinen Großmufti, wie das in Syrien der Fall ist. Wir haben hier eine ganz andere Verfassungsordnung. Gleichwohl ist wahr, dass die Vielfalt muslimischen Lebens in starkem Maße durch die Herkunftsländer geprägt ist. Vielleicht steckt darin, wenn wir eine islamische Theologie in Deutschland entwickeln, mittelbar eine Chance für den Islam selbst. Aber das müssen wir - vor allen Dingen auch die Länder - in Respekt vor der Religionsfreiheit und in Partnerschaft schrittweise entwickeln.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Grund, bitte.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie vor drei Jahren diese Deutsche Islam-Konferenz ins Leben gerufen und auch mit Leben erfüllt haben und damit in Deutschland zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein Dialog eingesetzt hat, der dazu dient und dienen kann, Probleme und Vorurteile abzubauen und aufzulösen. Sie haben es eben erwähnt: Sie waren unter anderem in Ägypten gewesen und haben dort mit islamischen Gelehrten Gespräche geführt, auch an der Universität in Kairo. In Zeitungsberichten über diese Reise ist zu lesen, dass der Eindruck entstanden sei, dass sich diese islamischen Gelehrten - der Islam versteht sich nicht als Kirche; damit gibt es auch keine Hierarchie, die bei Gesprächen des Staates mit Vertretern der Religionen vielleicht wünschenswert wäre - über das Spannungsverhältnis des Islam innerhalb einer freien und offenen Gesellschaft viel weniger Gedanken machen, als wir oder Sie das möglicherweise tun. Teilen Sie den Eindruck, dass hier Nachholbedarf besteht? Wie schätzen Sie die Situation islamischer Würdenträger in Deutschland ein? Sind wir hier weitergekommen, oder ist das ein Prozess, bei dem wir gegenseitig voneinander lernen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Wir sind anders als muslimisch geprägte Länder; das ist zunächst einmal ein wichtiger Punkt. Ich würde nicht dazu raten, dass wir in Deutschland oder in Europa etwa anfangen, zu sagen, wir seien hinsichtlich der Theologie des Islam weiter als islamische Länder. Das mögen kluge, aufmerksame journalistische Wegbegleiter schreiben. Aber als Politiker sollten wir uns zurückhalten. Im Übrigen möchte ich bei dieser Gelegenheit folgende Bemerkung machen: Islamisch geprägte Länder, nicht nur Ägypten, machen sich über den Missbrauch der Religion zu fundamentalistischen Zwecken mindestens so viele Sorgen, wie wir dies um der Sicherheit unseres Landes willen tun müssen. Gleichwohl kann und wird unser Ansatz niemals sein, dass wir staatlicherseits eine Religion kontrollieren. Wir achten darauf, dass sie sich in den Grenzen unserer Rechtsordnung bewegt und gewaltfrei ist. Die Religionsfreiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Aber das ist bei allen muslimischen Vertretern völlig unstreitig. Es ist dann die Sache der Muslime selbst, sich auf diesem Weg weiterzuentwickeln. Ich weiß nicht, ob wirklich alle Muslime Religionsunterricht im Sinne religiöser Unterweisung nach Art. 7 Abs. 3 unseres Grundgesetzes wollen. Auch auf der Islam-Konferenz plädierten manche Vertreter eher für einen Religionskundeunterricht, also für die Vermittlung von Kenntnissen über den Islam. In einigen Bundesländern ist der Staat dieser Forderung bereits nachgekommen. Aber auch hier gilt: Darüber entscheidet die demokratische Mehrheit. Religiöse Minderheiten, die eine Religionsgemeinschaft sind, haben allerdings den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes. In den meisten Ländern in Deutschland wird dies so praktiziert. Aufgrund der Bremer Klausel - das sage ich für die Verfassungsrechtler unter Ihnen - besteht dieser Anspruch zwar nicht in allen Bundesländern, wohl aber in den allermeisten. Darüber hinaus ist das eine Frage der demokratischen Entscheidung. Ich wiederhole: Wenn es uns gelingt, dafür zu sorgen, dass islamische Theologie an deutschen Hochschulen gelehrt wird - dafür wäre allerdings ein Austausch mit anderen Ländern erforderlich -, würde dies zu einer Bereicherung der Theologie in unserem Lande führen, und zwar über den Islam hinaus. Außerdem wäre dies ein wichtiger Beitrag zur islamischen Theologie, der über unser Land hinausgeht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Dağdelen, bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister Schäuble, in der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“, die im Zusammenhang mit dem letzten Treffen der Deutschen Islam-Konferenz herausgegeben wurde, hat sich nur ein Viertel der im Rahmen dieser Studie befragten in Deutschland lebenden Muslime dazu bekannt, dass es sich ohne Einschränkungen von den an der Deutschen Islam-Konferenz beteiligten islamischen Dach- und Spitzenverbänden vertreten fühlt. Je nach Konfession oder Herkunftsregion variiert ihr Organisationsgrad laut Studie zwischen 10 und 20 Prozent. Ist es insbesondere vor diesem Hintergrund eigentlich berechtigt, davon zu sprechen, dass im Rahmen der Deutschen Islam-Konferenz ein Dialog mit den Muslimen in Deutschland stattfindet?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, die Tatsache, dass sich ein großer Teil der in Deutschland lebenden Muslime nicht von den vier islamischen Verbänden, die an der Deutschen IslamKonferenz beteiligt waren - wenn Sie die Aleviten hinzuzählen, waren es fünf -, vertreten fühlt, war der Grund dafür, dass wir bei Einberufung der Islam-Konferenz trotz vielfältiger Kritik der Verbände gesagt haben: Wenn es darum geht, wer auf muslimischer Seite an der Islam-Konferenz teilnimmt, dürfen wir unseren Blick nicht ausschließlich auf Vertreter der Verbände richten, sondern müssen auch andere Muslime einbeziehen. Die von Ihnen erwähnte Studie, die auf Anforderung der Islam-Konferenz erstellt worden ist, kam zu dem Ergebnis, dass über 4 Millionen Muslime in unserem Land leben. Grundlage dieser Studie waren übrigens 6 000 Telefoninterviews. Da eine Befragung der Menschen durchgeführt wurde, verfügen wir jetzt zum ersten Mal über verlässliche Angaben. Nichtsdestotrotz ist die Aussagekraft von Statistiken immer ein Stück weit begrenzt. Die mehr als 4 Millionen Muslime, die in Deutschland leben, stammen aus über 40 Ländern; daran zeigt sich die große Vielfalt, mit der wir es zu tun haben. Da diese Muslime über keine repräsentative Vertretung verfügen, war es eine richtige Entscheidung, sowohl die großen Verbände als auch Persönlichkeiten, die öffentlich in Erscheinung getreten sind, einzuladen. Ein solches Vorgehen ist immer ein Stück weit unvollkommen. Da man allerdings nicht 4 Millionen Muslime einladen kann, braucht man eine Vertretung. Da die Muslime keine flächendeckende Vertretung haben, war die Entscheidung, die wir getroffen haben, wie ich glaube, richtig. Frau Kollegin, die in Deutschland lebenden Muslime haben in den letzten Jahren in viel stärkerem Maße an der öffentlichen Debatte hierzulande teilgenommen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um in diesem Land heimisch zu werden. Man muss sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, die von dem Streit zwischen Liberalen, Nichtreligiösen, Konservativen und allen anderen Strömungen, die es in unserer pluralistischen Gesellschaft gibt - darin besteht der Reichtum unserer freiheitlichen Ordnung -, gekennzeichnet ist. Dies tun die Muslime heute mehr als in der Vergangenheit. Hinzu kommt, dass sie die Medien in Deutschland in größerem Umfang nutzen, da ihnen diese Vielfalt viel stärker bewusst geworden ist. Auf der Plenarkonferenz waren wir uns einig, die Empfehlung auszusprechen, dass sich die Vertretung des Islam, wenn der Dialog im Rahmen der Islam-Konferenz in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt wird, nicht ausschließlich auf Verbände reduziert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Köhler, bitte.

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, in dem Bericht wird eindeutig festgestellt, dass die Islam-Konferenz ein Prozess ist und dieser nicht abgeschlossen ist. Sie haben eben gesagt, dass schon Überlegungen für die kommende Legislaturperiode stattgefunden haben. Wir wissen alle noch nicht, was da passiert. Aber was sind denn Ihre Überlegungen bezüglich einer Fortführung der Islam-Konferenz? Was würden Sie beibehalten, was würden Sie anders machen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Wir haben alle Teilnehmer eingeladen, den Zeitraum von der Plenarsitzung, die in der vergangenen Woche stattgefunden hat, bis zu einer Neukonstituierung der Islam-Konferenz in der nächsten Legislaturperiode zu nutzen, um über die Frage „Gibt es eine andere Repräsentation der muslimischen Seite?“ selber ein Stück weit zu diskutieren. Wir sind ja jetzt drei Jahre weiter. Auch wir werden sicherlich darüber diskutieren - der Kollege Wolff hat diese Frage aufgeworfen -, wer der Vertreter des Staates sein soll. Nach meiner Überzeugung wird ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt in den kommenden Jahren darin bestehen, zunächst einmal weitere Schritte in Richtung Islamunterricht an staatlichen Schulen zu gehen - sei es Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Grundgesetz, sei es Religionskunde; wir haben für beides Modelle. Ein anderer wichtiger Schritt wird sein, an Hochschulen Ausbildungskapazitäten zu schaffen, damit wir bei der Lehrerausbildung wie bei der Imamausbildung vorankommen. Da führen wir intensive Gespräche mit den Ländern. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, der Kollege Tesch, hat in der Plenarsitzung einen sehr präzisen Bericht über die Vielfalt der Bemühungen in vielen Bundesländern gegeben. Dies ist wirklich ein Fall, wo sich der Föderalismus als eine leistungsstarke Organisation unseres Gemeinwesens herausstellt. Wir gehen nicht bundeseinheitlich vor, sondern die Länder stehen in einem gewissen Wettbewerb, in einem BenchmarkingProzess, operieren mit unterschiedlichen Ansätzen; aber alle sind engagiert. Die Länder sind übrigens dankbar, dass ihnen über die Islam-Konferenz - dies ist ein Nebenprodukt der IslamKonferenz - Ansprechpartner bekannt geworden sind. Jede Kommune, die sich mit diesen Dingen beschäftigt, kann über die vielfältigen Kontakte und Beziehungen, die das Netzwerk der Islam-Konferenz geschaffen hat, Ansprechpartner finden. Wir haben allein in den letzten Monaten für - wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe; ich sage das also mit einem gewissen Vorbehalt 52 Kommunen mit Unterstützung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Integrationsbeauftragte ausgebildet. Das ist ein Stück weit ein selbsttragender Prozess geworden. In diesen Bereichen müssen wir den Schwerpunkt setzen. In der Frage der Gestaltung des schulischen Alltags, des Sportunterrichts, sind die Empfehlungen so, dass man hoffen muss, dass sie in die Vielfalt der in Deutschland lebenden Muslime noch weiter hineinwirken. Übrigens hat die Untersuchung ergeben - das ist eine Bemerkung wert -, dass lediglich 5 Prozent der muslimischen Mädchen gelegentlich vom Sportunterricht befreit werden. Wenn man sich manche Medienberichte vergegenwärtigt, muss man glauben, dass der Prozentsatz viel höher sei. Doch in der großen Mehrzahl der Fälle, in 95 Prozent der Fälle, spielt eine Befreiung keine Rolle. Wenn man das weiß, führt das zu einer entspannteren Wahrnehmung. Die ist wiederum eine gute Voraussetzung für Toleranz, und zwar auf beiden Seiten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Winkler, bitte.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch ich will auf die Zusammensetzung der Islam-Konferenz eingehen. Herr Minister, Sie haben bei der Beantwortung anderer Fragen gesagt: Die Muslime selbst müssen noch einmal überlegen, wie sie sich organisieren, jedenfalls der Teil, der bisher nicht in Verbänden organisiert ist. Ich muss sagen: Dass die Ergebnisse der Islam-Konferenz doch recht dürftig sind, liegt zum Teil daran, dass man Einzelpersonen, die sich selber als Islamkritikerinnen verstehen und nicht im Konsens und im Dialog vorankommen wollen, zu Mitgliedern der Islam-Konferenz berufen hat. Frau Kelek zum Beispiel hat den Moscheebau in Köln in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Fortsetzung der Eroberung Konstantinopels - bis in die Bundesrepublik - dargestellt. Die Beschneidung von Jungen und das Schächten von Tieren führen nach ihrer Meinung dazu, dass muslimische Jugendliche gewalttätiger als andere Jugendliche seien. Das sind jetzt nur zwei von fünf, sechs Klopsen, die sich allein diese Einzelperson geleistet hat. Wenn man das in Betracht zieht, muss man eigentlich froh sein, dass die Dialogbereitschaft der muslimischen Verbände, die ja zum Teil recht konservativ sind, überhaupt noch zum Tragen gekommen ist. Würden Sie Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin im Amt in der nächsten Wahlperiode wirklich empfehlen, die Konferenz wieder so zu organisieren? ({0}) - Wenn Sie es selber sind - das wollte ich damit natürlich nicht ausschließen -, würden Sie das dann wirklich wieder so machen? - Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies zu konstruktiven Fortschritten führt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Doch, ganz im Gegenteil: Ich würde mir selber und jedem anderen Nachfolger geradezu dringlich empfehlen, es genauso zu machen, Herr Kollege Winkler. Ganz am Anfang, vor der ersten Plenarsitzung, habe ich mich gefragt, wie es werden wird, wenn Frau Kelek, Frau Ates oder andere bedeutende Persönlichkeiten mit Herrn Kizilkaya und anderen an einem Tisch zusammensitzen. Auch die Beteiligten konnten sich das vorher nicht vorstellen. Heute ist das für sie völlig selbstverständlich. Sie streiten natürlich, so wie auch wir streiten. Aber Demokratie und Toleranz zeichnen sich doch dadurch aus, dass wir unterschiedliche Meinungen haben und die Diskussion darüber streitig austragen. ({0}) So entsteht Freiheit, und so wird Freiheit nachhaltig; das ist ganz wichtig. Frau Kelek, wie viele andere auch, hat doch wichtige und ernstzunehmende Beiträge - niemand muss sie teilen - in dieser Debatte geleistet. Diese wollen Sie doch nicht unterdrücken. Auch ich will sie nicht unterdrücken, sondern ich will, dass wir alle uns damit auseinandersetzen - auch die Muslime. ({1}) Das geleistet zu haben, ist ein ganz wesentlicher Erfolg. Ich teile Ihre Bewertung übrigens überhaupt nicht, sondern ich bin genau gegenteiliger Meinung. Die Ergebnisse sind viel besser, viel zahlreicher und viel konkreter, als ich vor drei Jahren zu hoffen gewagt hätte. Wenn Sie sie als dürftig bezeichnen, dann ist das Ihre Sache; das ist in Ordnung. Ich bin aber gegenteiliger Meinung; denn es ist gelungen, die Haltung der Muslime in unserem Land zu verändern. Wenn sie Teil unseres Landes werden und in unserem Land heimisch werden wollen, dann dürfen sie Vielfalt, unterschiedliche Meinungen und Streit nicht als etwas verstehen, was man am besten verhindert, durch den Staat oder sonst wen kontrolliert oder beseitigt oder durch eine Einheitsvertretung unterdrückt, sondern das genaue Gegenteil gilt: Unser Land ist pluralistisch. Das ist doch der Reiz unserer Freiheitsordnung. Jetzt liegt es an ihnen selber. Herr Kermani wäre nach Ihren Kriterien auch kein Mitglied der Islam-Konferenz. Sie können nun aber nicht bestreiten, dass Herr Kermani eine ernstzunehmende Stimme des Islam in unserem Land ist. Er hat in der Plenarsit25562 zung und auch öffentlich gesagt: Es liegt an uns Muslimen, dass wir die Vertretung der Vielfalt muslimischen Lebens in unserem Land nicht nur den Verbänden überlassen. Auch wir selber müssen uns engagieren. - Das ist jedermann unbenommen. Noch einmal: Mit dem von uns gewählten Weg wurde die Vielfalt muslimischen Lebens in unserem Land repräsentiert. Die Frau Kollegin hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Untersuchung ergibt, dass wir, wenn nur die Verbände beteiligt gewesen wären, vielleicht 10 Prozent oder 15 Prozent des muslimischen Lebens und nicht die Wirklichkeit in ihrer großen Reichhaltigkeit erfasst hätten. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Dağdelen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Ich glaube kaum, dass man der Meinung sein kann, dass die Grünen, wie die Linken auch, intolerant sind und andere Meinungen, die von den eigenen abweichen, sozusagen unterdrücken wollen. ({0}) Hier sehen wir uns in der Tradition der französischen Aufklärung: Auch wenn wir nicht alle Meinungen teilen, das Recht, andere Meinungen zu vertreten, würden wir bis zum Lebensende verteidigen. Herr Minister, Sie haben gesagt, es gebe viele gute Ergebnisse. Darauf haben Sie auch in Ihrer Eröffnungsrede in der letzten Woche hingewiesen. Mich würde interessieren, welche Ergebnisse dies sind. Sie sind derjenige, der zu dem Spiel, zur Deutschen Islam-Konferenz, eingeladen und natürlich auch die Spieler und Spielerinnen ausgesucht hat. Dementsprechend konnten Sie den Verlauf des Spiels schon im Vorfeld erahnen oder vermuten, und Sie konnten auch ein bisschen manövrieren. Es ist ja schön und gut, wenn der Dialog innerhalb der Deutschen Islam-Konferenz auf der einen Seite mit Herrn Kizilkaya und auf der anderen Seite mit Frau Kelek stattgefunden hat. Aber inwiefern hat das - das ist ja sozusagen oben, also außerhalb der Gesellschaft wirklich Ergebnisse für das Handeln unten, vor Ort, lokal, also da, wo das Zusammenleben stattfinden muss und meines Erachtens der Dialog auch stattfindet? Ich hätte gern, dass Sie mir konkrete Ergebnisse nennen einmal abgesehen von dem Dialog jener zwei Kontrahenten auf der Deutschen Islam-Konferenz.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Es ist doch ein nicht zu bestreitendes Ergebnis dieser drei Jahre, dass in einer Reihe von Ländern an staatlichen Schulen experimentell Islamunterricht durchgeführt wird. ({0}) Es ist nicht zu bestreiten, dass es in mehreren Bundesländern konkrete Bemühungen gibt, islamische Theologie an Hochschulen zu installieren. Man kann doch nicht die Wirklichkeit bestreiten und sagen, es gebe kein Ergebnis. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir gemeinsam Richtlinien für den Moscheebau erarbeitet haben, die über die kommunalen Spitzenverbände allen Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Meine Einschätzung ist, dass einerseits die Widerstände, die es gelegentlich - Köln ist hier genannt worden - in Teilen der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Bau von Moscheen gegeben hat, geringer geworden sind; es wird andererseits besser verstanden, dass man beim Bau auch von Moscheen oder anderen Gotteshäusern ein Stück weit Rücksicht auf andere zu nehmen hat, weil es immer ein Miteinander ist. Toleranz lebt ja von gegenseitiger Rücksichtnahme. Wenn Sie sich die Handreichungen für die Lösung von praktischen Problemen im schulischen Alltag, die die Arbeitsgruppe 2 erarbeitet hat, genau ansehen, dann werden Sie feststellen, dass für die meisten Fragen, die gelegentlich im täglichen Leben konkrete Probleme aufwerfen, gemeinsame Empfehlungen gegeben worden sind. Werten Sie bitte weder die Vertreter der Verbände noch die anderen muslimischen Vertreter in der IslamKonferenz in der Weise ab, dass Sie sagen, diese seien von irgendjemandem manipuliert worden. Das würden die mit aller Entschiedenheit zurückweisen. ({1}) - Auch ich habe sie nicht manipuliert. - Das Folgende ist völlig unstreitig - ich habe es bereits gesagt, als wir im Deutschen Bundestag über die Gründung der IslamKonferenz debattiert haben -: Wir werden uns nicht auf die Repräsentanten der Verbände beschränken. Wir grenzen sie nicht aus, aber wir geben ihnen kein Monopol, weil sie nicht flächendeckend vertreten sind. Wir wollen angesichts der Vielfalt im Islam, die sich durch die Herkunft der Menschen aus unterschiedlich islamisch geprägten Ländern mit ihren verschiedenen Strukturen und Gewohnheiten ergeben hat, nicht einen deutschen Islam entwickeln - das habe ich bereits vorher gesagt -; vielmehr müssen wir die Muslime selbst dazu bringen, mit dieser Vielfalt umzugehen. Denn die sind es, die das tun müssen; das kann nicht der Staat, die Regierung, der Bund, die Länder, die Kommunen. Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, und sie wird dadurch stärker, dass dieser Prozess stattfindet. Den haben wir gefördert, und ich hoffe, dass er weitergeht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Wolff, bitte.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, mich interessieren die Vertiefung, Verbreiterung und auch die Akzeptanz des Dialogs und vor allem die Einbeziehung von Praktikern vor Ort, insbeHartfrid Wolff ({0}) sondere der Imame und Hodschas aus den jeweiligen Moscheevereinen. Wie kann aus Ihrer Sicht am besten eine Verbreiterung des Dialogs auch in die einzelnen Moscheevereine organisiert werden bzw. stattfinden? Vielfach ist da ja auch der außenpolitische Bereich berührt, da zum Beispiel die Ausbildung vieler Imame im Ausland stattfindet, die Curricula im Ausland aufgestellt werden. Hier stellt sich natürlich die Frage der Akzeptanz - ich sagte es bereits am Anfang der Frage - der Imam-Ausbildung. Von daher ist aus meiner Sicht die Verbreiterung des Dialogs sehr entscheidend. In diese Richtung sollte weitergedacht werden. Wie stellen Sie sich das vor?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Was die Imam-Ausbildung anbetrifft, ist es nicht angezeigt, dass eine Regierung Empfehlungen abgibt, schon gar nicht die Bundesregierung. Dieser Bereich ist ja Ländersache. Wir vertrauen darauf, dass man in dieser Frage die Community der internationalen Wissenschaftler nutzen wird. Diejenigen, die islamische Theologie an Hochschulen unterrichten, werden sich sicherlich mit Hochschulen in islamisch geprägten Ländern rückkoppeln. Es gibt eine Vielzahl von Austauschmöglichkeiten, Begegnungen und Diskussionen. Das ist ein wichtiger Prozess. Je fundierter die islamische Theologie in Deutschland wird, desto stärker wird auch der Beitrag sein, den wir in den islamischen Teil der Welt ausstrahlen können. Das kann man nicht verordnen, aber man kann darauf vertrauen. Im Übrigen wird das, was wir mit der Islam-Konferenz in den letzten drei Jahren auf Bundesebene begonnen haben, vermutlich auch auf regionaler und kommunaler Ebene vielfältige Nachfolgeaktivitäten auslösen. Das ist auch beabsichtigt. In vielen Gemeinden gibt es das schon. Das haben wir mit der Islam-Konferenz nicht erfunden; ich will überhaupt nicht den Eindruck erwekken, als wollte ich das behaupten. ({0}) Es gibt unendlich viele Bemühungen in den allermeisten Städten und Kommunen. Aber wir haben das Thema ein Stück weit mit befördert und ihm, auch was den Islam selbst anbetrifft, eine stärkere Dimension gegeben, und wir haben in Kontakt mit Regierungen islamisch geprägter Länder - insbesondere mit der Türkei - eine Menge vorangebracht. Ich habe eine Diskussion mit der türkischen Regierung bzw. mit dem Präsidenten der türkischen Religionsbehörde, Herrn Bardakoglu, geführt. Die Entwicklung stimmt mich sehr zuversichtlich, dass wir auf diesem Weg weiter vorankommen werden. Das muss im Übrigen auf Bundesebene geleistet werden. Solange es an den deutschen Hochschulen keine islamische Theologie gibt, können wir hier schwerlich Imame ausbilden. Deshalb müssen wir erst Ausbildungskapazitäten schaffen. Wir haben übrigens mit der Türkei in diesen Jahren immerhin auch verabredet, dass Imame, die aus der Türkei nach Deutschland entsandt werden, einen Vorbereitungskurs - sozusagen einen kleinen Integrationskurs bis hin zum Erwerb deutscher Sprachkenntnisse beispielsweise - schon in der Türkei mitmachen oder dass sie in Deutschland an einem solchen Kurs teilnehmen. Denn wir haben ein großes Interesse daran - das geht über den Islam im engeren Sinne hinaus -, dass Imame, die in Deutschland tätig sind, die deutsche Sprache sprechen und der Integration dienen und nicht der Segregation.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich habe jetzt noch eine Wortmeldung des Kollegen Montag. Dann sind wir am Ende der Regierungsbefragung. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich weiß nicht, ob es so persönlich wird, wie Sie es wünschen, Herr Kollege Grindel. Herr Innenminister, ich habe zwei Fragen, und zwar nach der Zusammensetzung und der Zielsetzung. Ich verhehle nicht, dass ich eine etwas liberalere Position zur Zusammensetzung habe als mein Kollege Winkler, besonders was zum Beispiel Frau Kelek anbelangt. Aber stellen Sie sich einmal vor, Herr Minister - nur als kurzes Gedankenspiel -, dass wir eine solche Debatte über ein vielfältiges Christentum zu führen hätten und Sie zu einer solchen Konferenz Opus Dei, die Piusbruderschaft und den Bund der Antichristen einladen würden. Dann würde sich auch die Frage stellen, die ich jetzt in allem Ernst vorbringe: Gab es für Sie nachvollziehbare Kriterien, wie weit Sie sozusagen die konstruktive Vielfalt bei der Zusammensetzung berücksichtigen wollten? Dass die vier oder fünf Verbände nicht ausreichen, ist sicherlich jedem klar - mir jedenfalls ist es klar -, aber wenn man Einzelpersönlichkeiten einbezieht, braucht man, weil man ja nicht 4 Millionen Menschen einladen kann, irgendwie geartete Kriterien. Mich interessiert auch, welche Kriterien Sie für die Zukunft vorschlagen. Meine zweite Frage betrifft die Zielsetzung. Wir brauchen zweifelsohne für die Zukunft auch einen oder mehrere organisatorische Zusammenschlüsse auf der muslimischen bzw. islamischen Seite, wenn wir das Verhältnis zwischen Staat und islamischer Religion in etwa parallel zu dem des Judentums oder der christlichen Kirchen installieren wollen. Glauben Sie, dass mit der bisherigen Tätigkeit der Islam-Konferenz bereits Kriterien erarbeitet wurden, oder gibt es eine Zeitschiene, wann und wie diese Kriterien erarbeitet werden sollen? Sollen wir dann, wenn die Kriterien feststehen, die muslimische Gesellschaft in Deutschland bei dem Organisationsprozess alleine lassen, oder soll der Staat diesen Organisationsprozess helfend begleiten? Wie sollte das Ihrer Meinung nach konkret aussehen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Montag, wenn ich mit der Beantwortung Ihrer zweiten Frage beginnen darf. Ich möchte nicht entscheiden - wir können es auch gar nicht -, ob es eine islamische Religionsgemeinschaft oder mehrere islamische Religionsgemeinschaften gibt. Es gibt übrigens auch mehrere christliche Kirchen. Wenn Sie sich anschauen, wie viele Kirchen und Freikirchen in den einzelnen Bundesländern - diese sind dafür zuständig - als Religionsgemeinschaften anerkannt sind, dann sehen Sie eine große Vielfalt. Das mag auch im Islam so sein oder anders sein. Aber das entscheiden die Muslime, niemand sonst. Damit die Muslime Partner im Sinne unseres Religionsverfassungsrechts, das wir aus der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz übernommen haben, sein können, müssen sie als Religionsgemeinschaft anerkannt sein. Das war eine der schwierigen Fragen am Anfang. Die Verbände haben gesagt: Wir machen eine einheitliche Vertretung; dann ist es das. - Wir wollten nicht belehrend wirken. Man wird aber so wahrgenommen, wenn man sagt: Nein, eine weltliche Organisation ist noch keine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes. - Das muss also eher von den Moscheevereinen her aufbauen. Zudem bedarf eine Anerkennung einer gewissen Kontinuität. Dafür braucht man ein bisschen Zeit; das geht nicht innerhalb von sechs Monaten. Das ist in der Geschichte der Religionen über Jahrhunderte immer so gewesen. Mir haben übrigens viele Gesprächspartner in islamischen Ländern gesagt: Drei Jahre sind überhaupt keine Zeit, wenn es um das Verhältnis des Staates zur Religion geht; das ist eine sehr kurze Zeitspanne. - Wir sollten nicht zu ungeduldig sein. Wenn man islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen durchführen will, braucht man eine gewisse Relevanz. Auch das ist Voraussetzung für eine Partnerschaft. Darüber, wie die Muslime das machen, können wir beraten, indem wir als Staat - Bund, Länder und Kommunen, wer auch immer - für einen Dialog zur Verfügung stehen. Helfen wir mit, ohne zu bevormunden! Das ist, glaube ich, die richtige Gratwanderung. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Ich bin zuversichtlich. Wir haben trotz aller Unterschiede gemeinsam mit allen Verbänden und allen Einzelpersönlichkeiten auf der dritten Plenarkonferenz im vergangenen Jahr völlig einvernehmlich verabredete Empfehlungen über die Voraussetzungen für Religionsunterricht an staatlichen Schulen und theologische Fakultäten formuliert. ({0}) Das ist über die Kultusministerkonferenz in alle Länder kommuniziert worden. Die Länder setzen das - vorläufig mit unterschiedlichen Konzepten - sehr kreativ um. Ich bin für diesen Beitrag der Länder wirklich dankbar. Nun möchte ich Ihre erste Frage beantworten. Sie ist sicherlich bedenkenswert. Man muss aber vielleicht hinzufügen: Wir leben in einem Teil der Welt, der über Jahrhunderte durch die christliche Religion bzw. das christlich-jüdische Erbe stärker geprägt ist als durch andere Religionen, mit allem Guten, aber auch mit vielen Problemen. Wir wissen, dass Religion für Gewalt missbraucht werden kann. Hier müssen wir nicht auf den Islam schauen. Dafür gibt es im Christentum in Europa und in Deutschland über Jahrhunderte genügend Beispiele, von den Kreuzzügen ganz zu schweigen. Aber unser Religionsverfassungsrecht ist durch das Miteinander und die Erfahrungen von Jahrhunderten - wenn Sie wollen: seit der Gründung des Kaiserreichs, des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mit dem Dualismus zwischen Kaiser und Papst, der dann folgenden Reformation etc. - geprägt. Deswegen kann man nicht einfach die Frage beantworten: Was geschähe in einem muslimisch geprägten Land mit einer Vielzahl von Christen, die bisher in diesem Land gar nicht organisatorisch verfasst sind? Das ist zudem eine irreale Annahme, weil die römisch-katholische Kirche weltweit - ich selber gehöre nicht der katholischen, sondern der protestantischen Kirche an - in geistlicher Form, institutionell und glaubensmäßig gefestigt ist. Die protestantischen Kirchen sind ein bisschen vielfältiger. Aber auch sie haben vielfältige internationale Organisationen. Immerhin hat Ihr Vorhalt eine gewisse Relevanz. Aber ich sage noch einmal: Welche Alternative hätten wir denn haben können? Wir haben gesagt, dass wir nicht alle Organisationen einladen. Die Debatte ging ja um Milli Görüs, um es klar zu sagen. Wir haben Milli Görüs nicht in die Islam-Konferenz eingeladen, aber gesagt, dass es nicht hinderlich sein wird, wenn ein Islamrat einen Vertreter entsendet, der Mitglied von Milli Görüs ist oder zu dieser Organisation Beziehungen hat. Wir wollen auch Milli Görüs erreichen, eine Organisation, die weiterhin nach der übereinstimmenden Auffassung der Innenminister von Bund und Ländern durch den Verfassungsschutz beobachtet werden muss und deshalb auch beobachtet wird. Die Mitarbeit in der IslamKonferenz ist kein Gütezeichen für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsschutzes. Wir wollen Milli Görüs überzeugen, sich auf den Weg der Verfassungstreue und der Gewaltfreiheit zu begeben. Deswegen verweigern wir nicht den Dialog. Aber wir haben sie nicht als Organisation in die Konferenz eingeladen. Was die Einzelpersönlichkeiten betrifft, so haben wir zum damaligen Zeitpunkt gefragt, wer bei Debatten, die für den Islam in unserem Lande relevant sind, besonders hervorgetreten ist. Auf die meisten Mitglieder der IslamKonferenz wären auch Sie gekommen. Auch Sie wären auf Navid Kermani gekommen; ich bin ganz sicher. Vermutlich wären auch Sie auf Frau Kelek gekommen, es sei denn, Sie wollten Kritiker unter keinen Umständen haben. Das hielte ich für falsch. ({1}) - Ich finde, Frau Kelek hat wirklich anspruchsvolle Beiträge zu der Debatte geleistet, aber Sie vertritt nicht in allen Punkten eine Position, die Ihrer Meinung entBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble spricht. Aber das Recht von Frau Kelek, diese Meinung zu vertreten, verteidige ich. ({2}) Auch ihre wissenschaftliche Qualifikation sollten wir nicht infrage stellen. So haben wir versucht, die Kriterien festzulegen. Wer in der Literatur, der Publizistik oder auch im Bildungssystem - wir haben einen Vertreter aus Berlin, der in einer Bildungsakademie sehr engagiert ist - hervortritt, der wurde eingeladen. So haben wir eine zugegebenermaßen nicht hundertprozentig repräsentative, aber doch Pluralismus ermöglichende und daher hinreichend legitime Vertretung gefunden. Die Ergebnisse waren besser, als die allermeisten am Anfang zu hoffen gewagt hätten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank, Herr Innenminister, für die Beantwortung der Fragen. Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall. Ich beende deshalb die Befragung zum Themenbereich der heutigen Kabinettssitzung. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksachen 16/13569, 16/13594 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche Frage auf Drucksache 16/13594 der Abgeordneten Heike Hänsel auf: In welcher Weise engagiert sich die Bundesregierung dafür, dass in Honduras der rechtmäßige Präsident Manuel Zelaya wieder in sein Amt eingesetzt wird? Die dringliche Frage beantwortet Herr Staatsminister Dr. Gernot Erler. Bitte schön, Herr Staatsminister.

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Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Hänsel, meine Antwort lautet wie folgt: Die Bundesregierung hat sowohl bilateral als auch im Rahmen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen die Verhaftung und Exilierung des demokratisch gewählten Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya Rosales, als inakzeptable Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung in Honduras verurteilt. Sie fordert alle Beteiligten dazu auf, auf friedlichem Wege den Dialog zu suchen und eine Lösung zu finden, die der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerecht wird. Die Bundesregierung begrüßt die Vermittlungsbemühungen aus der Region, insbesondere die der Organisation Amerikanischer Staaten, über die Rückkehr des Staatspräsidenten Manuel Zelaya nach Honduras und seine Wiedereinsetzung zu verhandeln.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Staatssekretär. - Ich denke, die nächsten Tage sind wirklich dafür entscheidend, dass der demokratisch gewählte Präsident wieder in das Amt zurückkommt. Er hat seine Rückkehr angekündigt. Gleichzeitig gibt es aber auch die Ankündigung der Putschisten, ihn zu verhaften, wenn er das Land betritt. Es gibt in der Region eine Initiative, ihm Begleitschutz zu gewähren. Was können Sie über die Verurteilung dieses Putsches hinaus konkret machen, um den Präsidenten bei seiner Rückkehr zu schützen? Aus Spanien kommt der Aufruf, seitens der Europäischen Union mehr Druck auszuüben, etwa indem Botschafter abgezogen werden. Was könnten Sie konkret tun - außer Verlautbarungen abzugeben -, um die Rückkehr des Präsidenten zu garantieren?

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Frau Kollegin Hänsel, wir stellen fest, dass es eine sehr breite internationale Unterstützung für den Präsidenten Zelaya gibt. Wie Sie wissen, hat er gestern vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gesprochen. Dort wurde eine - was nicht häufig vorkommt einstimmige Resolution zu seinen Gunsten verabschiedet. Die regionalen Organisationen von Zentralamerika und von Südamerika unterstützen dies ebenso wie die amerikanische Regierung. Sie haben hier eben die Bemühungen der EU angesprochen. Übrigens wird es in Brüssel heute Nachmittag eine Beratung zu dem spanischen Vorschlag geben, unter Umständen Botschafter zurückzuziehen. Was unsere Position angeht, haben wir Druck ausgeübt, indem wir gesagt haben: Wir werden im Augenblick auf keinen Fall die Assoziationsverhandlungen mit den Vertretern Zentralamerikas - Honduras ist Mitglied der entsprechenden Organisationen - fortsetzen. Wir werden diese Verhandlungen erst fortführen, wenn in Honduras wieder verfassungsmäßige Zustände herrschen. Auch was die bilateralen Beziehungen angeht - Sie wissen, dass Honduras einer der wichtigsten Empfänger deutscher Entwicklungshilfe ist -, werden wir uns auf bereits angelaufene Programme beschränken, die der Bevölkerung direkt dienen. Wir werden aber keine neuen Projekte verabreden und jeden Kontakt mit den jetzigen Ministerien vermeiden. - Ich glaube, das ist eine angemessene Reaktion.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine zweite Zusatzfrage bezieht sich auf die Unterstützung für bestimmte soziale Gruppen, insbesondere für die Anhänger und Anhängerinnen von Präsident Zelaya vor Ort. Es gibt schon jetzt viele Verfolgungen, auch Verhaftungen. Zum Beispiel sind die Aktivistinnen und Aktivisten der internationalen Organisation La Via Campesina mehr oder weniger in den Untergrund gegangen, um sich zu schützen; diese Aktivisten setzen sich für eine soziale Politik in Honduras ein. Wie können Sie diesen Menschen konkret vor Ort Schutz anbieten? Wäre es zum Beispiel möglich, ihnen die deutsche Botschaft zu öffnen?

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Uns liegen sehr unterschiedliche Nachrichten aus Honduras vor, Frau Kollegin Hänsel, auch darüber, dass es im Augenblick etwas chaotische Verhältnisse gibt. Es hat Demonstrationen und auch Gewalt gegen Demonstranten gegeben. Allerdings sind mir persönlich keine Einzelfälle bekannt, in denen eine direkte Nothilfe oder Ähnliches notwendig ist. Sie können sicher sein, dass die Gemeinschaft der diplomatischen Vertretungen in Tegucigalpa alles Notwendige tun wird, um in solchen Notfällen zu helfen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Dağdelen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Lieber Herr Erler, Sie haben bei der Beantwortung der dringlichen Frage den Putsch verurteilt und dem demokratisch legitimierten Präsidenten Zelaya Unterstützung dafür zugesagt, dass er in sein Land zurückkehren kann. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne wissen, wie es die Bundesregierung bewertet, dass eine deutsche Stiftung, nämlich die FDPnahe Friedrich-Naumann-Stiftung, dem gestürzten Präsidenten eine Mitschuld an der Situation in Honduras zuschiebt, den Militärputsch verharmlost und ihn auch gerechtfertigt hat. ({0}) Kann die Bundesregierung hinnehmen, dass ein demokratisch legitimierter Präsident gestürzt wird? Inwieweit gedenkt die Bundesregierung Konsequenzen zu ziehen, wenn sich eine politische Stiftung, die letztendlich auch mit Steuergeldern finanziert wird, so äußert?

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Frau Kollegin, ich unterstreiche noch einmal die von mir hier dargelegte Position der Bundesregierung zu diesen unrechtmäßigen Vorgängen in Honduras, die auch in einer Erklärung des deutschen Außenministers FrankWalter Steinmeier am 29. Juni zum Ausdruck gekommen ist. Mir sind die Äußerungen, die Sie zitiert haben, nicht bekannt. ({0}) In Deutschland herrscht bezüglich der Bewertung von aktuellen Vorgängen eine sehr ausgedehnte Meinungsfreiheit, worüber ich wirklich froh bin. Insofern ist es nicht meine Angelegenheit als Vertreter der Bundesregierung, hier irgendwelche Einzeläußerungen, die ich auch gar nicht kenne, zu kommentieren. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nachdem die dringliche Frage beantwortet worden ist, rufe ich die Fragen auf Drucksache 16/13569 in der üblichen Reihenfolge auf. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 3 der Kollegin Dr. Martina Bunge wird ebenfalls schriftlich beantwortet. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Fragen des Kollegen Dr. Ilja Seifert - das sind die Fragen 4 und 5 - werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Deshalb kommen wir nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Frage steht, wie schon bei der dringlichen Frage, der Staatsminister Dr. Gernot Erler zur Verfügung. Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Veronika Bellmann auf: Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem Sachverhalt, dass der namibische Altpräsident Dr. Sam Nujoma mit neuerlichen, gleichermaßen streitbaren wie abstoßenden Aussagen gegen Deutsche - so hat Dr. Sam Nujoma bei einer Rede in einem Dorf nahe Ongwediva am Sonntag, dem 14. Juni 2009, die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche, DELK, angegriffen und ihr unterstellt, „vor der Unabhängigkeit mit dem Feind kollaboriert zu haben und möglicherweise noch immer ein Feind zu sein“, und hinzugefügt: „Wir tolerieren sie. Aber wenn sie sich nicht benehmen, werden wir sie angreifen. Und wenn sie dann ihre weißen Freunde aus Deutschland rufen, dann schießen wir ihnen in die Köpfe.“ negativ aufgefallen ist und sich die regierende SWAPO - South West Africa People’s Organization - bisher nicht eindeutig von diesen Äußerungen distanziert hat?

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Frau Kollegin Bellmann, meine Antwort auf Ihre Frage lautet so: Die Bundesregierung hat die in verschiedenen Presseberichten wiedergegebenen angeblichen Äußerungen des ehemaligen Staatspräsidenten Dr. h. c. Sam Nujoma mit Besorgnis zur Kenntnis genommen. Deshalb hat der deutsche Botschafter in Windhuk am 23. Juni 2009 hochrangig Kontakt zur namibischen Regierung aufgenommen und um Aufklärung gebeten. Bei diesem Gespräch hat die namibische Regierung mit Erleichterung die besonnene Reaktion des namibischen Kirchenrates, zu dem auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Namibia gehört, und die Tatsache, dass der Kirchenrat das Gespräch mit Dr. Sam Nujoma sucht, zur Kenntnis genommen. Auch der namibische Botschafter in Berlin wurde gebeten, seine Regierung von der Besorgnis der Bundesregierung in Kenntnis zu setzen. Die namibische Regierung sagte zu, den Wahrheitsgehalt der Presseberichte zu prüfen. Diese Prüfung ist bisher nicht abgeschlossen. Daher hat die namibische Regierung die Äußerung des früheren Präsidenten Dr. Sam Nujoma weder bestätigt noch dementiert. Aus Sicht der Bundesregierung entsprächen die berichteten Äußerungen nicht dem tatsächlichen guten Stand der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, es ist der Regierung unbenommen, diese Äußerung noch einmal zu prüfen. Aus meiner Sicht ist es keine Äußerung, die nur angeblich gemacht worden ist. Sie ist von einem Angehörigen der namibischen Menschenrechtsorganisation, der bei der Veranstaltung anwesend war, auf der Sam Nujoma dies geäußert hat, direkt aufgenommen worden. Wenn man hört, dass man Vertreter der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche dort bei Nichtbenehmen angreifen werde und Deutschen, die ihnen zu Hilfe kämen, in die Köpfe schießen werde, ist man schon erschüttert. Wir haben eine umfangreiche Partnerschaft zwischen der Universität in Freiberg und der Universität in Windhuk, die sich, wie ich aus meinem Wahlkreis weiß, möglicherweise auch noch auf Kirchengemeinden Sportverbände und dergleichen erstrecken könnte. Den Menschen, die das wollen, aber das jetzt hören, macht das schon Angst. Hinzu kommt, dass diese Äußerung von Altpräsident Sam Nujoma, die sich gegen Deutsche gerichtet hat, nicht die einzige dieser Art ist. Er hat in der Vergangenheit auch gegen Ausländer, gegen Juden, selbst gegen die Opposition menschenverachtende Äußerungen gemacht, die durchaus unter Menschenrechtsaspekten zu bewerten wären. Nun haben Sie gesagt, dass die deutsche Botschaft eine Art Protestnote abgegeben hat und dass auch das Auswärtige Amt seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht hat. Nun frage ich Sie: Ist das an dieser Stelle tatsächlich genug? Hier schließt sich - ähnlich wie bei dem Thema Honduras - noch eine Frage an. Wir geben einen nicht unerheblichen Teil unserer Entwicklungshilfegelder nach Namibia - Entwicklungshilfegelder sind auch Steuergelder von Deutschen -, nicht nur für Deutsche, sondern für das namibische Volk. Kann man es im Hinblick darauf hinnehmen oder auch nur akzeptieren, dass man es bei der Protestnote belässt? Dazu noch die Frage: Wie gehen Sie nach Prüfung dieser Äußerung damit um, auch im Hinblick auf die Praxis bei der Entwicklungshilfe?

Not found (Gast)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Die Bundesregierung hat, wie ich ausgeführt habe, das getan, was man in solchen Fällen international üblicherweise tut: Sie ist in Windhuk vorstellig geworden wie auch beim namibischen Botschafter hier in Berlin. Wir haben die Zusage, dass die Äußerungen geprüft werden. Sie persönlich haben keinen Zweifel daran, dass sie so gefallen sind. Das deckt sich aber noch nicht mit den Erkenntnissen der Untersuchungen, da noch keine abschließende Klärung des Vorgangs stattgefunden hat. Zunächst einmal ist es natürlich Angelegenheit der namibischen Regierung, eine Erklärung abzugeben. Diese müssen wir jetzt erst einmal abwarten. Insofern wäre es vorschnell, schon jetzt über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken. Bei einem solchen Vorgang ist es international üblich, erst einmal die Aufklärung abzuwarten. Erst dann kann man entscheiden, welche Schlüsse zu ziehen sind.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte in diesem Zusammenhang nachfragen, wie lange nach Ihren Vorstellungen der Zeitraum ist, den Sie abwarten wollen. Wer die afrikanischen Verhältnisse kennt, der weiß, dass in Afrika gilt: Alles verzögert sich, vor allen Dingen, wenn es sich um solche sehr diffizilen Tatbestände handelt. Wird die deutsche Bundesregierung darauf dringen, dass dieser Vorgang zügig abgearbeitet wird, und zwar nicht nur unter dem Aspekt des Schutzes der Deutschen, sondern auch unter dem Aspekt des Schutzes der Menschenrechte?

Not found (Gast)

Frau Kollegin Bellmann, ich habe viel Verständnis für Ihre Ungeduld. Es ist aber in solch einem Fall nicht üblich, von unserer Seite einen Zeitpunkt festzulegen. Selbstverständlich erwarten wir eine Aufklärung zu den möglichen Äußerungen von Herrn Nujoma. Das liegt aber jetzt in der Hand der namibischen Regierung, die nach unserer Auffassung - ich habe auf den guten bilateralen Status hingewiesen - auch ein Eigeninteresse an der Aufklärung dieses Vorgangs haben sollte. Wie Sie wissen - Sie haben das selber angesprochen -, haben wir nicht nur gute bilaterale Beziehungen, sondern Namibia bekommt auch pro Kopf die höchste Entwicklungshilfe, die Deutschland leistet. Ich bin ganz sicher, dass sich alle Verantwortlichen dort darüber bewusst sind, dass diese guten Beziehungen ein Gut sind, das man erhalten sollte, und zwar auf beiden Seiten: Wir wollen das und die namibische Regierung nach unserer Auffassung auch. Insofern rechnen wir damit, dass der Aufklärungsprozess erfolgreich sein wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe diesen Themenbereich. Vielen Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Die Frage 7 der Kollegin Dr. Martina Bunge, die Frage 8 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch und die Frage 9 des Kollegen Omid Nouripour werden schriftlich beantwortet. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Die Fragen 10 und 11 der Kollegin Gudrun Kopp werden ebenso wie die Fragen 12 und 13 des Kollegen Dr. Hakki Keskin sowie die Fragen 14 und 15 der Kollegin Marieluise Beck schriftlich beantwortet. Jetzt rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Die Fragen beantwortet Herr Parlamentarischer Staatssekretär Peter Hintze. Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Dorothée Menzner auf: Ist die Bundesregierung bereit, vor dem Hintergrund der dramatischen wirtschaftlichen und finanziellen Situation der insolventen Wilhelm Karmann GmbH in Osnabrück, einem Autobauer und Zulieferer, der in den letzten fünf Jahren bereits 5 000 Arbeitsplätze abgebaut hat und der eine mit der Adam Opel GmbH vergleichbare Bedeutung für die Region besitzt, die Karmann GmbH und deren Insolvenzverwalter ähnlich wie die Adam Opel GmbH bei der Suche nach einem Investor zu unterstützen und die Finanzkraft der Karmann GmbH mit öffentlichen Mitteln zu stärken?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Danke schön, Frau Präsidentin. - Zu der Frage von Frau Kollegin Menzner nach möglichen staatlichen Hilfen für die Karmann GmbH ist zu sagen: Die Bundesregierung hat neben dem bereits bestehenden Bürgschaftsinstrumentarium des Bundes mit dem „Wirtschaftsfonds Deutschland“ ein Instrument zur Verfügung gestellt, um sowohl mittelständischen als auch großen Unternehmen, die infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten sind, die Finanzierung von Investitionen bzw. von Betriebsmitteln zu erleichtern. Diese Unternehmen dürfen zum 1. Juli 2008 keine Unternehmen in Schwierigkeiten im Sinne der Rettungs- und Umstrukturierungsleitlinien der Europäischen Kommission gewesen sein. Es steht allen interessierten Unternehmen frei, die angebotenen Möglichkeiten zu prüfen und gegebenenfalls im vorgesehenen Verfahren einen Antrag auf Kredite oder Bürgschaften zu stellen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Kollege Hintze. - Ich habe die Nachfrage: Wie konkret ist der Stand bei der Karmann GmbH? Ist Ihrer Kenntnis nach ein Antrag gestellt worden? Gibt es einen Kontakt des Ministeriums zu dem Betrieb, bzw. gibt es Gespräche Ihres Hauses mit dem Land Niedersachsen über mögliche gemeinsame Maßnahmen, um den Betrieb und vor allem die Arbeitsplätze, die für die Region Osnabrück elementar sind, zu erhalten?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Ich bitte um Verständnis dafür, dass die Bundesregierung aus Gründen der Vertraulichkeit nicht befugt ist, Fragen zu Kredit- oder Bürgschaftsanträgen einzelner Unternehmen zu beantworten. Die Bundesregierung weiß, dass sich das Land Niedersachsen in diesen Fragen sehr engagiert bemüht. Frau Präsidentin, darf ich vielleicht noch die Frage 17, die mit Frage 16 in engem Zusammenhang steht, beantworten, damit das noch deutlicher wird?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ja, bitte schön. - Ich rufe die Frage 17 der Kollegin Menzner auf: Wurden bereits Schritte in diese Richtung eingeleitet, und worin sollte nach Auffassung der Bundesregierung die mögliche und notwendige Mitwirkung der niedersächsischen Landesregierung bestehen?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Der Insolvenzverwalter hat seine Tätigkeit bereits aufgenommen. Seine Aufgabe ist es auch, soweit wie möglich dafür zu sorgen, dass das Unternehmen weitergeführt werden kann. Dazu kann beispielsweise die Suche nach einem neuen Investor für eine übertragende Sanierung oder die Erstellung eines Sanierungsplans in Absprache mit den Gläubigern für ein Insolvenzplanverfahren gehören. Je nach Ausgang dieser Prüfung kann der Insolvenzverwalter gegebenenfalls auch beurteilen, ob und in welcher Form staatliche Hilfe in Anspruch genommen werden kann. Hinsichtlich der Frage nach der Mitwirkung eines Bundeslandes weise ich darauf hin, dass sich das Land Niedersachsen konkret bemüht und dass das Land, in dem ein Unternehmen, das beispielsweise einen Bürgschaftsantrag stellt, seinen Sitz hat, im Rahmen des Bürgschaftsausschusses immer mit hinzugezogen wird. Im Falle eines Bürgschaftsantrages werden darüber hinaus alle Bundesländer beteiligt, in denen mehr als 10 Prozent der gesamten Mitarbeiter des Unternehmens beschäftigt sind. Wie ich schon in der Antwort auf die Zusatzfrage zu Frage 16 ausgeführt habe, weise ich noch einmal darauf hin, dass die Bundesregierung aus Gründen der Vertraulichkeit keine Auskünfte zu Kredit- oder Bürgschaftsanträgen einzelner Unternehmen erteilt. Außerdem möchte ich - wie schon bei meiner ersten Antwort - noch einmal darauf hinweisen, dass es ein wichtiges Prüfkriterium ist, ob das Unternehmen zum 1. Juli 2008 ein Unternehmen war, das nicht in Schwierigkeiten war; denn dies ist eine europarechtliche Voraussetzung für die Gewährung von Staatshilfen. Im Hinblick darauf muss bei Karmann geschaut werden, was geschehen kann, damit Arbeitsplätze und Unternehmen erhalten werden können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben keine weiteren Fragen mehr?

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank. - Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Manfred Kolbe auf: Wie rechtfertigt die Bundesregierung den Verkauf von circa 48 Prozent der Verbundnetz Gas AG Leipzig, VNG, an einen der vier großen deutschen Energiekonzerne, und sieht die Bundesregierung hier keine Gefahr, dass die Eigenständigkeit der VNG Leipzig beeinträchtigt wird?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung würde ich gerne die Fragen 18 und 19, die inhaltlich in einem engen Zusammenhang stehen, gemeinsam beantworten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Dann rufe ich jetzt außerdem die Frage 19 des Kollegen Manfred Kolbe auf: Widerspräche ein solcher Verkauf gemäß Frage 18 nicht der Aussage des ehemaligen Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Alfred Tacke, dass mit der VNG Leipzig die fünfte Kraft auf dem deutschen Energiemarkt etabliert werden sollte und deshalb eine Beeinträchtigung der Eigenständigkeit der VNG Leipzig eine erhebliche Einschränkung des Wettbewerbs zur Folge hätte?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege Kolbe, die Frage des Kaufs oder Verkaufs von Unternehmensanteilen liegt grundsätzlich in der Kompetenz der Anteilseigner sowie der Kaufinteressenten. Die Bundesregierung hat keine rechtliche Möglichkeit, auf die Aktionärsstruktur bzw. das Verhalten der Anteilseigner einzuwirken. Das gilt auch im Hinblick auf den angekündigten Anteilserwerb der Energie BadenWürttemberg, der EnBW AG, an der VNG, der selbstverständlich der kartellrechtlichen Fusionskontrolle unterliegt. Nachdem sich die EWE AG und die EnBW AG über den Transaktionswunsch im Hinblick auf 47,89 Prozent der VNG-Anteile geeinigt hatten, wurde dieser dem Bundeskartellamt angemeldet. Das Bundeskartellamt hat angekündigt, den beabsichtigten Verkauf an die EnBWAG bis September dieses Jahres zu prüfen. Außer einer Erlaubnis des Bundeskartellamtes bedarf die Umsetzung der Transaktion der Zustimmung der Aktionäre auf einer Hauptversammlung der VNG AG.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen bitte, Herr Kollege.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich habe mit Frage 18 nicht gefragt, ob die Bundesregierung Möglichkeiten hat, etwas zu verhindern, sondern wie die Bundesregierung eine solche Transaktion sehen würde, insbesondere ob sie in dem Verkauf von knapp 48 Prozent der Anteile eine Gefährdung der Eigenständigkeit der VNG AG sehen würde.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege, das fragen Sie jetzt. Laut Ihrer Frage wollten Sie aber wissen, wie die Bundesregierung den Verkauf rechtfertigt. Eine Rechtfertigungssituation kann aber logischerweise nicht entstehen, weil der Bund keine Anteile besitzt und die Bundesregierung keine rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten hat. ({0}) - Man hat mir aufgeschrieben - Manfred Kolbe ({1}): In Frage 18 heißt es: … und sieht die Bundesregierung hier keine Gefahr, dass die Eigenständigkeit der VNG Leipzig beeinträchtigt wird?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Das war der zweite Teil der Frage. Im ersten Teil der Frage ging es darum, wie wir den Verkauf rechtfertigen. Darauf habe ich unter anderem geantwortet, dass die Prüfung durch das Bundeskartellamt und die Entscheidung der Hauptversammlung, ob der Verkauf überhaupt genehmigt wird, ausstehen. Jetzt fragen Sie mich eher nach einer politischen Bewertung. Darauf will ich wie folgt positiv antworten: Die Bundesregierung hat ein großes Interesse an einer starken, in Sachsen verwurzelten, eigenständigen VNG AG. Im Rahmen unserer Möglichkeiten begleiten wir den Prozess in diesem Sinne. Rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten haben wir nicht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben keine weiteren Fragen. Die Frage 20 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird schriftlich beantwortet. Jetzt rufe ich die Frage 21 des Kollegen HansChristian Ströbele auf: Für welche Empfängerstaaten wie etwa Iran oder China haben die Nokia Siemens Networks oder verbundene Unternehmen wie die Münchener „Perusa Partners Fund 1 LP“ Ausfuhrgenehmigungen gemäß dem Außenwirtschaftsgesetz beim Bundesausfuhramt beantragt bzw. beantragen müssen und erhalten für Technik zur Überwachung von Stimm- und Datenkommunikation in jeglichen Netzwerken wie die 2008 an den staatlichen iranischen Provider TCI gelieferten sogenannten Monitoring-Center zum millisekundenschnellen Scannen mit Suchbegriffen ({0}), die nun gegen die iranische Opposition eingesetzt wird, und welche Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, um künftig sicherzustellen, dass solche Überwachungstechnik zumal einst deutscher Unternehmen nicht in den Zugriff repressiver Regime gelangt?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Frau Präsidentin! Herr Kollege Ströbele, die Antwort lautet: Genehmigungen für die Ausfuhr derartiger Abhörtechnik, das heißt für sogenannte Lawful-Interception-Management-Systeme, in den Iran bzw. nach China wurden nicht beantragt und nicht erteilt. Ein von Nokia Siemens Networks gestellter Antrag zur Ausfuhr von Betriebs- und Verschlüsselungssoftware zum Betrieb solcher Monitoring-Center in den Iran wurde abgelehnt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, können Sie sagen, wann das gewesen ist und welche Art Kontrollanlagen das betraf? Sie müssen nicht die Firma nennen.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Das war im November 2008. Die Firma habe ich gerade genannt. Sie hatten ja nur nach einer Technik gefragt; dazu hat es keinen Antrag gegeben und insofern auch keine Anerkennung oder Ablehnung. Dann habe ich, obwohl Sie nicht danach gefragt haben, versucht, dem Sinn Ihrer Frage noch tiefer auf den Grund zu gehen, wie es meinem parlamentarischen Verständnis entspricht, und etwas zur Betriebs- und Verschlüsselungssoftware ausgeführt. Dazu hat es im November 2008 einen Antrag gegeben. Diesen hat das BAFA abgelehnt. Die Ausfuhrgenehmigung für diese Software ist also nicht erteilt worden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, kann es sein, dass Lieferungen für Teile von Anlagen erfolgten, sogenannte auch in diesem Bereich existierende Dual-Use-Gegenstände, die dann für solche Kontrolltechniken Verwendung finden können?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Es können sogar ganze Anlagen geliefert worden sein. Die Frage ist, ob ausfuhrrechtlich genehmigungspflichtige Anlagen geliefert wurden. Diese Frage habe ich mit Nein beantwortet. Dazu hat es auch keinen Antrag gegeben. Den Medien haben wir entnommen, dass nicht genehmigungspflichtige Anlagen geliefert wurden. Ich nehme an, dass das zutrifft. Auch danach hatten Sie zwar nicht gefragt; aber ich sage Ihnen dennoch, wie unser Erkenntnisstand dazu ist. Nach unserem Erkenntnisstand sind das nicht genehmigungspflichtige Anlagen, die mit dem Thema Telefonie zusammenhängen. Sie hatten in Ihrer Frage auch noch das Thema Internet angesprochen. Hierzu sagt das Unternehmen - weil ein entsprechender Vorwurf in der Presse erhoben wurde -, Anlagen, die sich auf Kontrollüberwachungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Internet beziehen, seien nicht geliefert worden. Anträge dazu haben uns nicht vorgelegen und sind deswegen auch nicht genehmigt oder abgelehnt worden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen. Ich schließe diesen Geschäftsbereich. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Die Frage 22 der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk wird schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 23 und 24 der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die Fragen 25 und 26 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 27 und 28 des Kollegen Peter Hettlich. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Fragen beantwortet Frau Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug. Die Frage 29 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Hans-Josef Fell auf: Reichen die Sicherheitsbestimmungen und vor Ort getroffenen Maßnahmen aus, um bei allen deutschen Atomkraftwerken, AKW, ausschließen zu können, dass Terroristen Zutritt zur Hülle von Atomkraftwerken oder zu anderen wichtigen AKW-Komponenten wie zum Beispiel Transformatoren erlangen und dort Sprengkörper anbringen können, und wie stellt die Bundesregierung sicher, dass es zukünftig tatsächlich nur durch das Sicherheitspersonal sicherheitsüberprüften Greenpeace-Aktivisten - und damit nicht getarnten Terroristen - gelingen kann, auf das Atomkraftwerksgelände und auf die sicherheitsrelevanten Gebäudeteile von Atomkraftwerken vorzudringen?

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege Fell, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die für alle Kernkraftwerke in Deutschland erforderlichen Maßnahmen gegen terroristische Angriffe sind zwischen den maßgeblichen atomrechtlichen Behörden und den Sicherheitsbehörden abgestimmt. Ziel der Maßnahmen ist es insbesondere, das vorsätzliche Eindringen unberechtigter Personen in die besonders geschützten inneren Sicherungsbereiche zu verhindern. Nur dort befinden sich die sicherheitsrelevanten Einrichtungen. Durch die technischen, baulichen und administrativen Maßnahmen wird sichergestellt, dass das Vordringen unberechtigter Personen auf das Gelände sofort erkannt wird, lageangepasste Gegenmaßnahmen eingeleitet werden und die inneren Sicherungsbereiche intakt bleiben. Die Bundesregierung hält dieses gestaffelte Konzept für geeignet, den erforderlichen Schutz gegen Einwirkungen Dritter zu gewährleisten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin Klug, für diese Antwort. Sie ist nicht ganz zufriedenstellend; denn es bleibt eine ganze Reihe von Fragen offen. Dazu gehören zum Beispiel die Fragen: Wie kann es einer Umweltschutzorganisation wie Greenpeace gelingen, zwar nicht in den inneren, aber in den äußeren Sicherheitsbereich eines Atomkraftwerkes einzudringen? Kann man daraus den Rückschluss ziehen, man brauche sich nur als Umweltschutzorganisation zu tarnen, um als Terrorist in die Anlage zu kommen? Anschließend stellt ein Anwalt noch Regressforderungen, indem er damit droht, wegen der Unverhältnismäßigkeit der Gegenmaßnahmen an die Öffentlichkeit zu treten. - So ist es geschehen. Es kann also sein, dass eine Umweltschutzorganisation plötzlich Zugang zur Kuppel eines Atomreaktors hat.

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Sehr geehrter Herr Kollege Fell, es werden natürlich regelmäßig Analysen zur Gefährdung durch terroristische Angriffe erstellt. Nach den Ergebnissen dieser Analysen werden die Maßnahmen zur Anlagensicherung ausgelegt. Greenpeace gehört ausdrücklich nicht zu dem Bereich der Gefährder. Der äußere Anlagensicherungszaun, der von Greenpeace überwunden wurde, dient zur Unterstützung der Polizei, die auf die zu erwartenden Demonstrationen reagieren muss. Mit dem zweiten Sicherungszaun, der ebenfalls überwunden wurde, soll es ermöglicht werden, ein unberechtigtes Eindringen zu erkennen. Dieser dient aber nicht dazu, ein Eindringen zu verhindern. In diesem Fall hat das Erkennen eines unberechtigten Eindringens die entsprechenden Sicherheitsbehörden unmittelbar auf den Plan gerufen. Greenpeace ist es daher nicht gelungen, in die sicherheitsrelevanten Bereiche einzudringen. Das gestaffelte Sicherheitskonzept hat also an dieser Stelle funktioniert. Die sicherheitsrelevanten Bereiche jeder Anlage sind durch massive bauliche Maßnahmen, durch eigene Zutrittskontrollsysteme und eine ständige Überwachung besonders geschützt. Der Objektsicherungsdienst hat, nachdem der zweite Zaun überwunden worden war, lageangepasst reagiert und diese Aktion als eine Aktion von Greenpeace identifiziert. Daher hat er nicht von den Maßnahmen Gebrauch gemacht, wie es bei einem terroristischen Angriff der Fall gewesen wäre.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gestatten Sie eine zweite Nachfrage. - Immerhin ist es Greenpeace gelungen, auf die Kuppel zu gelangen. Das ist nicht im Sinne der Sicherheitsmaßnahmen. Auf die Kuppel könnten nach unserem Dafürhalten auch Terroristen gelangen. Sie könnten dort eine Bombe zünden. Umweltminister Sander aus Niedersachsen hat zwar gesagt, das Containment würde das Zünden einer normalen Bombe aushalten. Ich frage mich aber: Was wäre - das ist denkbar -, wenn die Terroristen eine stärkere Bombe oder einen stärkeren Sprengsatz zünden würden? Wir kennen die schlimmen Machenschaften von islamistischen Terroristen. Man kann nicht von der Hand weisen, dass sie durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Ich halte das für eine besondere Gefährdung. Wie will die Bundesregierung ausschließen, dass über solche Attacken tatsächlich die Kuppel durchstoßen werden könnte?

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Ich will hier nichts beschönigen. Es wird natürlich niemals eine hundertprozentige Sicherheit geben, sowohl was den Betrieb der Atomkraftwerke als auch was Angriffe von außen angeht. Einer der Gründe für den Atomausstiegsbeschluss in Deutschland war, dass diese hundertprozentige Sicherheit eben nicht gewährleistet werden kann. Es gibt natürlich ein größtmögliches Maß an Sicherheit. Dafür brauchen wir die entsprechenden Maßnahmen. In diesem Fall wurde die Aktion als eine Aktion von Greenpeace identifiziert. Deshalb waren keine weiteren Maßnahmen an dieser Stelle notwendig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich rufe die Frage 31 des Kollegen Hans-Josef Fell auf: Bedeutet die Aussage der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, dass es aus Gründen der nationalen Sicherheit unverantwortlich sei, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern ({0}), dass die nationale Sicherheit so lange gefährdet ist, wie die sieben ältesten Atomkraftwerke in Betrieb sind, und auf welcher Grundlage basiert die Einschätzung der Bundesministerin der Justiz?

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Das ist eine Frage zum gleichen Themenkomplex, die ich wie folgt beantworte: Mit dem Atomausstiegsgesetz vom 22. April 2002 hat der Gesetzgeber entschieden, die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Elektrizitätserzeugung aufgrund der mit ihr verbundenen Risiken nur noch für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Entschließung dazu hervorgehoben, dass die Ausstiegsnovelle geeignet ist, auch auf allgemeine Risiken wie terroristische Bedrohungen sicherheitsgerichtet zu reagieren, indem insbesondere ältere Anlagen noch vor Ablauf ihrer Restlaufzeit vom Netz genommen und ihre Restlaufzeiten auf andere Anlagen übertragen werden. Berücksichtigt man, dass gerade die alten Anlagen den geringsten Schutz gegen Flugzeugabstürze oder terroristische Angriffe aus der Luft bieten und weniger Sicherheitsreserven als neuere Atomkraftwerke haben, ist es aus Gründen der inneren Sicherheit und zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger geboten, dass die Betreiber die Möglichkeit des Atomgesetzes nutzen, die Restlaufzeiten auf neuere, sicherere Reaktoren zu übertragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, Sie wissen, dass sich meine Frage auf die Aussage der Justizministerin Brigitte Zypries bezieht. In einer dpa-Meldung wurde sie dahin gehend zitiert, dass alte Reaktoren abzuschalten seien, weil die nationale Sicherheit gefährdet sei, solange sie noch in Betrieb seien. Ist die Bundesregierung gemeinsam der Auffassung, dass es unverantwortlich ist, die älteren Reaktoren mit einer Laufzeitverlängerung zu belegen, was die Reaktorbetreiber vorhaben?

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Diese Frage hat der Gesetzgeber mit dem Atomausstiegsgesetz beantwortet, mit dem bewusst entschieden wurde, dass Restlaufzeiten für Atomkraftwerke zur Verfügung stehen und Atomkraftwerke noch eine gewisse Zeit in Deutschland am Netz bleiben, Atomkraftwerke aber gerade unter Sicherheitsgesichtspunkten abgeschaltet werden sollen, und zwar ältere Atomkraftwerke schneller als jüngere. Das spiegelt sich in dem Atomausstiegsgesetz wider.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre zweite Zusatzfrage.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es besser wäre, die sieben älteren Atomkraftwerke frühzeitiger vom Netz zu nehmen und die entsprechenden Reststrommengen auf jüngere Atomreaktoren zu übertragen?

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Das Bundesumweltministerium hat dies immer ausdrücklich bejaht und die Betreiber dazu aufgefordert, genau so zu reagieren und die Möglichkeit zu nutzen, die ihnen das Atomausstiegsgesetz bietet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen. Ich schließe diesen Geschäftsbereich und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf. Die Fragen 32 und 33 des Kollegen Kai Gehring werden ebenso wie die Fragen 34 und 35 der Kollegin Cornelia Hirsch schriftlich beantwortet. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der vereinbarten Debatte zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon um 15.05 Uhr. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gestrige Tag vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war ein wichtiger Tag für Deutschland, für Deutschland in Europa, für den Deutschen Bundestag wie für den Bundesrat. Es ist gut, dass wir uns hier heute direkt mit den Konsequenzen dieses Urteils befassen. Lassen Sie mich drei einleitende Punkte nennen. Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das ist ein großer Erfolg für die große Mehrheit dieses Hauses. ({0}) Zweitens. Das Zustimmungsgesetz mit den Änderungen des Grundgesetzes zum Lissabon-Vertrag ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch das ist ein großer Erfolg für die große Mehrheit dieses Hauses. ({1}) Drittens. Im Begleitgesetz haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere Beteiligung und unsere Möglichkeiten zur Mitwirkung nicht in vollem Umfange genutzt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle Nein gesagt und uns bestimmte Aufgaben auferlegt, die wir erfüllen wollen und die wir, wie ich glaube, auch erfüllen können und werden. Deshalb diskutieren wir heute. ({2}) Lassen Sie uns hier die Maßstäbe zurechtrücken. Wer heute Zeitung liest, hat manchmal den Eindruck, es gehe allein um die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat und weniger um den großen Erfolg der europäischen Integrationsgeschichte. Dieser Erfolg aber ist gleichzeitig ein Signal des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum Beispiel Richtung Irland, wo das künftige Referendum, also die zweite Runde, erfolgreich verlaufen soll. Gleichzeitig ist es auch ein Signal an die Präsidenten Kaczynski und Klaus - auch nachdem das tschechische Verfassungsgericht so votiert hat -: Es gibt jetzt keine rechtlichen Hindernisse mehr, die Verfassung in Form des Reformvertrages von Lissabon zu unterAxel Schäfer ({3}) zeichnen. Auch das sollten wir heute an dieser Stelle ganz deutlich machen. ({4}) Es kommt jetzt sowohl darauf an, was wir diskutieren, als auch darauf, wie wir es diskutieren. Zum Thema, wie wir es diskutieren, ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, zu sagen: Nein, die Regierungsfraktionen haben nicht immer nur recht. ({5}) Nein, die Oppositionsfraktionen haben nicht immer nur unrecht. Nein, das Bundesverfassungsgericht weiß nicht immer alles besser. Auch diese drei Dinge sollten wir in die Diskussion mitnehmen. Wir wollen jetzt - das ist unser Anspruch, den ich gerne für die SPD-Fraktion zum Ausdruck bringen möchte - zügig, aber solide und gründlich mit allen Fraktionen dieses Hauses zu einer fairen Regelung kommen, die ermöglicht, dass erstens der Deutsche Bundestag das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode ändert, dass sich zweitens auch der Bundesrat noch in dieser Legislaturperiode damit befasst und dass drittens die Ratifikationsurkunde bis Anfang Oktober dieses Jahres in Rom hinterlegt wird; das wäre auch mit Blick auf die dann in Irland stattfindende Volksabstimmung ein wichtiges Signal. Ich glaube, darauf sollten wir alle uns hier und heute verständigen. ({6}) Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche Stärkung seiner Rechte erfahren, nicht nur insofern, als deutlich gemacht wurde, welche Rechte ein Parlament hat, sondern auch, weil deutlich gemacht wurde, welche Rechte sich ein Parlament nehmen - manchmal könnte man auch sagen: was es sich herausnehmen - kann. Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem jeder parlamentarischen Regierungsform - auch der Regierungsform, die wir haben und die wir wollen -: Ein Parlament steht, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen, ein Stück weit im Konflikt mit jedweder Regierung. Ein Parlament hat nämlich immer ein Interesse daran, mehr gestalterische Möglichkeiten zu bekommen - das gilt insbesondere für die europäische Ebene -, während eine Regierung immer darauf bedacht ist, ihre Handlungsmöglichkeiten zu behalten, sodass sie genügend Verhandlungsmöglichkeiten hat. Aus unserer Sicht darf nicht der Eindruck entstehen, dass das Parlament störend ist. Vielmehr ist das Parlament ein wichtiger Faktor der Gestaltung und der Kontrolle der Regierung. Auch das sollten wir heute betonen. ({7}) Wenn wir diese Aussage selbstkritisch hinterfragen - es ist wichtig, selbstkritisch zu sein; denn man kann nur selbstbewusst sein, wenn man auch selbstkritisch ist -, stellen wir fest, dass wir die Arbeitsweise unseres Parlaments in Zukunft ein Stück weit werden ändern müssen. Außerdem muss sich - das Haus ist nicht gerade übervoll - die Mentalität, also die Einstellung zur Debatte über die Europäisierung auch unserer Politik verändern. Das ist nicht nur die Aufgabe der sogenannten Europaspezialisten, sondern auch eine Aufgabe, der wir uns in der Alltagsarbeit in allen 22 Ausschüssen des Deutschen Bundestages stellen müssen. Wir müssen ganz ehrlich zugeben: In diesem Parlament haben wir in dieser Hinsicht noch eine ganze Menge Überzeugungsarbeit zu leisten. Weil die große Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages europäische Föderalisten sind, erlaube ich mir, an dieser Stelle einen deutlichen Beurteilungsunterschied im Vergleich zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts herauszustellen. Jawohl, das Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag gestärkt. Es hat aber argumentativ - nicht rechtlich, sondern argumentativ - das Europäische Parlament geschwächt. ({8}) Die Aussage - so steht es in einem Satz der Begründung des Urteils -, dass der Lissabon-Vertrag im Hinblick auf das Europäische Parlament keinen Zugewinn an Demokratie zur Folge hat ({9}) - „keinen“ steht da, nicht „nicht genügend“, sondern „keinen“ -, ist falsch. Das sollten wir deutlich sagen. ({10}) Wenn man das Maastricht-Urteil zur Grundlage nimmt, darf nicht so getan werden, als hätte sich von 1992 bis 2009 nichts geändert. 1992 gab es keine Form von gleichberechtigter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Durch Lissabon haben wir das in ungefähr 90 Prozent der Fälle. So wie der Lissabon-Vertrag angelegt ist, nämlich auf eine repräsentative Demokratie, ist das Europäische Parlament ein zentraler Ort. Es ist gleichberechtigt mit dem Rat. Die Begründung, die von Karlsruhe angeführt wurde, lautet: Gesetzgeber ist insbesondere der Rat, die nationalen Parlamente haben eine wichtige Stellung, und das Europäische Parlament tritt hinzu oder hat ein Vetorecht. - Von einem Vetorecht des Parlaments ist in keinem Vertrag die Rede, wohl aber von gleichberechtigter Mitentscheidung. Dies sollten wir unterstreichen. ({11}) Das spielt nicht nur aufgrund der solidarischen Zusammenarbeit mit dem EP, sondern auch in Anbetracht der Tradition unseres Hauses eine wichtige Rolle. Es waren Generationen von Abgeordneten, von 1952 bis 1976, die eine Direktwahl des Europäischen Parlaments eingefordert haben. Die SPD stand hierbei Gott sei Dank immer mit an der Spitze; aber dieses Anliegen wurde auch von allen anderen - von der FDP, von der CDU/CSU und später auch von den Grünen - getragen. Auch um diese Frage geht es heute. Es geht heute nicht nur um eine Stärkung der Rechte von Bundestag und Bundesrat Axel Schäfer ({12}) in Europafragen, sondern auch um eine Anerkennung, eine Würdigung, eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Markus Löning. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seinen verschiedenen Aspekten. Wir begrüßen aber zuallererst, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon für verfassungskonform erklärt hat. Karlsruhe sendet damit ein ganz wichtiges Signal, auch über Deutschland hinaus. ({0}) Wir begrüßen auch, dass alle Verfassungsbeschwerden und -klagen zurückgewiesen wurden. ({1}) Wir halten es für wichtig, dass in der politischen Argumentation, die sich gegen den Lissabon-Vertrag an sich gerichtet hat, nun die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts angelegt werden. Ich bin sehr gespannt auf die politische Debatte, insbesondere von denjenigen, die gegen den Vertrag an sich argumentiert haben. ({2}) Es wird jetzt darauf ankommen, dass der Deutsche Bundestag ein weiteres Signal für die europäische Integration sendet, und zwar in Richtung Irland. Ich denke, es ist richtig, dass wir das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode - wir sollten den 4. Oktober, den Tag der Volksabstimmung in Irland, im Auge haben - überarbeiten, neu schreiben, auf den Stand bringen, den uns das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat. An Deutschland wird der Vertrag von Lissabon nicht scheitern. Das ist ein wichtiges Signal, das wir nach Irland senden, aber auch in die Tschechische Republik und nach Polen; gerade für diese beiden Länder spielt ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle. Das Bundesverfassungsgericht hat uns für die weitere Integration eine Reihe von Leitplanken gegeben. Der eine oder andere hat in der Debatte gesagt: Was wir da bekommen haben, ist ein integrationsfeindliches Urteil. - Ich sehe es anders: Es ist im Gegenteil ein integrationsfreundliches Urteil. Denn Karlsruhe hat sich in der Begründung nicht etwa von Integrationseuphorie, sondern von der Ratio, von der Vernunft, und von demokratischen Grundsätzen leiten lassen. Das haben gerade wir als FDP oft genug angemahnt. Das Demokratiedefizit in der Europäischen Union kann nicht dadurch geheilt werden, dass dem Europäischen Parlament mehr Rechte gegeben werden. Es muss dadurch geheilt werden, dass der Deutsche Bundestag und die anderen nationalen Parlamente ihre Aufgabe der demokratischen Kontrolle der Gesetzgebung endlich wahrnehmen. ({3}) Was das angeht, kann ich es mir nicht ersparen, die Koalitionsfraktionen noch einmal anzuschauen. Eine ganze Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Monaten getroffen worden sind, wären im Lichte dieses Urteils anders ausgefallen. Ich erinnere an die Grundrechteagentur der Europäischen Union, basierend auf Art. 308 EGV: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre es nicht mehr möglich, dass die Regierung so etwas ohne Ansehen der Meinung der breiten Mehrheit des Bundestages durchwinkt. ({4}) Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Debatte über den Vertrag von Lissabon daran erinnern, dass Bundesregierung und Bundestag über das Mandat zur Verhandlung von Vertragsänderungen Einvernehmen herzustellen haben. Nach dieser Entscheidung hätte der Bundestag auch hier ganz anders eingebunden werden müssen. Der Bundestag hätte dem Mandat zustimmen müssen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Hierdurch werden die Fehler, die von der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode gemacht worden sind, deutlich aufgezeigt. ({5}) Der Bundestag ist nach diesem Urteil nicht mehr ein Parlament, das das Recht zur Mitwirkung hat, sondern nach diesem Urteil hat der Bundestag die Pflicht zur Mitwirkung. Wir können nicht durch bloßes Zuhören oder durch Weghören Dinge auf europäischer Ebene passieren lassen. Nach diesem Urteil sind wir als Vertreter des deutschen Volkes in der Pflicht, das, was in Brüssel und in den Ministerräten geschieht, rechtzeitig hier im Deutschen Bundestag zu behandeln, und zwar gerade nicht nur - Herr Kollege Schäfer, das haben Sie richtig gesagt - im Europaausschuss. Ganz besonders in den einzelnen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages muss der nächste Bundestag mit europäischen Rechtsetzungsakten und damit, was die Bundesregierung in den Räten entscheidet, ganz anders umgehen. Der Bundestag ist hier in der Pflicht, sich frühzeitig zu informieren, frühzeitig Entscheidungen zu treffen und frühzeitig der Regierung einen Auftrag mit auf den Weg zu geben. ({6}) Ich glaube, dass wir die Auswirkungen des Urteils auf die Verschiebungen zwischen den Verfassungsorganen so kurz nach dem Urteil noch gar nicht richtig überMarkus Löning blicken. Es wird zu einer Stärkung gerade derjenigen Abgeordneten führen müssen, die den Koalitionsfraktionen angehören. Es wird gerade bei den Kolleginnen und Kollegen zu einem stärkeren Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Regierung führen müssen, die in den Koalitionsfraktionen sitzen. Sie müssen hier anders und mit deutlich mehr Selbstbewusstsein auftreten, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. ({7}) Ich wage die Prognose, dass sich das nicht auf die Europapolitik oder auf das, was auf europäischer Ebene passiert, begrenzen lassen wird. Wir brauchen hier - das werden wir auch bekommen ein anderes Rollenverständnis des Bundestags im Vergleich zum Verfassungsorgan Bundesregierung. Dieses Rollenverständnis wird sich selbstverständlich auch auf alle anderen Bereiche der Politik ausdehnen - auch auf das Verhältnis zum Europäischen Parlament -, und es wird sich auch auf unser Verhältnis zu anderen nationalen Parlamenten ausdehnen müssen. Weit über die Kooperationsmöglichkeiten hinaus, die wir jetzt über die COSAC haben, in der die Europaausschüsse miteinander kooperieren, brauchen wir ein Netzwerk der Kooperation zwischen den nationalen Parlamenten. Wir müssen bei jeder einzelnen Sachfrage in der Lage sein - bei der Kontrolle der Subsidiarität, aber auch bei anderen Sachfragen -, sehr viel schneller zu politischen Vereinbarungen und politischen Abstimmungen mit anderen nationalen Parlamenten zu kommen. Aus meiner Sicht ist die Stärkung des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente die eigentliche Stärkung der Demokratie in Europa, die mit diesem Urteil verbunden ist. Lassen Sie mich zu guter Letzt eines noch anfügen: Die FDP-Fraktion wird sich an der Ausarbeitung eines neuen Begleitgesetzes beteiligen, wie das von den Koalitionsfraktionen angeboten worden ist. Wir werden darauf dringen, dass die BBV in Gesetzesform gegossen wird. Wir sollten hier keinerlei Risiken eingehen, sondern wir sollten uns sehr klar darüber sein, was wir wollen. Wir sollten keine komischen Zwitterpositionen einnehmen, sondern gesetzlich regeln, was gesetzlich zu regeln ist. ({8}) Eines sage ich hier aber auch ganz klar: Für unsere Kooperation und unsere Zustimmung am Ende werden wir strengste Maßstäbe an die Inhalte anlegen. Es darf hier nicht versucht werden, weichzuwaschen. Das, was wir heute in den Medien von Vertretern der Bundesregierung teilweise schon vernommen haben, nämlich Versuche, das Urteil herunterzuinterpretieren, ist nicht akzeptabel. Es geht hier um die Rechte des Parlamentes und darum, dass dieses Begleitgesetz verfassungsfest ist. Da wird es keine Kompromissbereitschaft auf unserer Seite geben. Wir brauchen ein klares Begleitgesetz, das unzweideutig verfassungsfest ist. ({9}) Zu guter Letzt wiederhole ich das, was ich an dieser Stelle schon oft gesagt habe: Die beste gesetzliche Regelung wird nicht helfen, wenn der politische Wille, sie zu nutzen, nicht da ist. Man muss mehr Demokratie auch wollen, und man muss mehr Demokratie auch wagen. Die eigentliche Aufgabe und Herausforderung für dieses Haus besteht aus meiner Sicht darin, eine Änderung des Selbstverständnisses zu finden und mehr Demokratie zu wagen, auch was Europa angeht. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die Unionsfraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält für die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag und den Bundesrat zwei zentrale Botschaften. Erstens. Das Grundgesetz - das kann man gar nicht oft genug wiederholen - sagt Ja zum Vertrag von Lissabon. Mit dieser sehr klaren Aussage des Vorsitzenden Richters des Zweiten Senates, Professor Dr. Voßkuhle, werden die Anträge der Kläger im Organstreitverfahren verworfen und zurückgewiesen, ebenso die Verfassungsbeschwerden, soweit sie das Ratifikationsgesetz und die Grundgesetzänderung betreffen. Der Vertrag von Lissabon verstößt nicht gegen das Grundgesetz; er führt nicht zu einer Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland; Art. 20 des Grundgesetzes, in dem die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert wird, ist nicht verletzt; auch die Entscheidungshoheit des Deutschen Bundestages beim Einsatz der Streitkräfte wird durch die Bestimmungen des Vertrages von Lissabon nicht ausgehöhlt - um die wesentlichen Klageinhalte zu wiederholen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit die Verfassungsbeschwerden der Kläger in ihren zentralen Punkten als unbegründet zurückgewiesen. ({0}) Die zweite zentrale Botschaft lautet: Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen mit den ihnen nach dem Grundgesetz zustehenden Ausgestaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung des Vertrages im innerstaatlichen Recht selbstbewusster umgehen und ihre Beteiligungsrechte aktiver und umfassender wahrnehmen. In dem 147 Seiten umfassenden Urteil erläutert das Gericht auf den letzten Seiten sehr genau, welche Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates nicht in dem erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind. Gemeint sind in dem Kontext nicht nur die vereinfachten Verfahren zur Änderung der EU-Verträge, die nach der Auffassung des Verfassungsgerichts ein aktives Handeln des Deutschen Bundestages erfordern und einer ordentlichen Vertragsänderung im Wege eines Ratifikationsverfahrens gleichkommen müssen. Gemeint sind auch diejenigen Politikbereiche, die sich in einem dynamischen europäischen Prozess weiterentwickeln, ohne dass bereits heute ausreichend erkennbar wäre, in welche Richtung der Weg geht. Dies betrifft zum Beispiel die Entwicklungsklauseln im europäischen Strafrecht. Bei der Weiterentwicklung des EU-Primärrechts darf es keine Lücken in der demokratischen Legitimation geben. Dies würde auch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zuwiderlaufen. Der Deutsche Bundestag muss also das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon ändern, bevor die Ratifikationsurkunde in Rom hinterlegt werden kann. Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD haben hierfür bereits einen Fahrplan beschlossen, der sicherstellt, dass die erforderlichen Änderungen nach der Maßgabe der Entscheidung des Verfassungsgerichts noch vor der Bundestagswahl ins Gesetz geschrieben werden. Wir drängen in dieser Frage auf Eile, nicht nur deshalb, weil wir davon überzeugt sind, dass der Vertrag von Lissabon für die weitere Gestaltung der Europäischen Union absolut notwendig ist. Wir drängen auch auf Eile, weil wir eine europäische Mitverantwortung für die rechtzeitige Inkraftsetzung des Vertrages von Lissabon in der Europäischen Union tragen und vom Verhalten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates eine Signalwirkung für die noch ausstehenden Unterschriften unter das Ratifikationsgesetz in Polen, Tschechien und Irland ausgeht. Wir werden diese Verantwortung wahrnehmen, ohne dass wir dabei die notwendige Sorgfalt außer Acht lassen. Wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Ganzen liest, kommt zu dem Ergebnis, dass der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber gestärkt aus dem Verfahren herausgekommen ist, nicht zuletzt deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht Nachbesserungen beim Begleitgesetz verlangt hat, mit denen eine aktive Beteiligung des Bundestages in allen europapolitischen Fragen verlangt wird, besonders aber bei jenen Fragen, bei denen der Integrationsweg nicht hinreichend bestimmt ist. Es reicht nicht, wenn der Bundestag Vertragsänderungen stillschweigend passieren lässt. Er ist durch das Grundgesetz zur aktiven Verantwortungswahrnehmung verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht stärkt den Deutschen Bundestag auch im Verhältnis zur Bundesregierung. Wir haben uns in den vergangenen Jahren bei der Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten auf die Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung stützen können und erst vor wenigen Wochen einen Antrag dazu im Deutschen Bundestag verabschiedet, in dem Meinungsverschiedenheiten und Auslegungsdefizite ausgeräumt werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gestern klargestellt, dass dieser Vertrag mit der Bundesregierung schon wegen seiner unklaren Rechtsnatur für die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte nach dem Grundgesetz nicht ausreicht. Wir werden deshalb nicht umhinkommen, wesentliche Elemente aus der Vereinbarung in das Gesetz hineinzuschreiben, zum Beispiel die notwendige Herstellung des Einvernehmens vor der Aufnahme neuer Mitglieder bzw. dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen oder vor der Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen. Im Duktus des Urteils sind dies wesentliche EU-Entscheidungen bzw. EU-Rechtsetzungsakte. Diese bedürfen eines Zustimmungsvorbehaltes durch den Deutschen Bundestag und - soweit betroffen - auch vom Bundesrat. Wir werden uns sehr eng an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts halten. Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung in eigener Sache. Die Zusammenarbeitsvereinbarung besteht seit über zwei Jahren. Wir haben gerade vor wenigen Wochen eine Debatte darüber geführt. Aber gerade das Verfahren zum zweiten Monitoring-Bericht dieser Vereinbarung und das Ergebnis zum Beispiel des Briefes der beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an den Ausschussvorsitzenden haben in mir schon damals die Überzeugung wachsen lassen, dass es grundsätzlich besser wäre - wie es das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat -, die grundlegenden Normen der Zusammenarbeitsvereinbarung in einem Gesetz zu regeln. Diesen Auftrag haben wir jetzt. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass ungeachtet der Stärkung der nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon die Europäische Union zu ihrer Legitimation weiterhin auf die Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten angewiesen ist. Der supranationale Charakter der Europäischen Union hat nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine staatliche Identität. Er wird sie auch in Zukunft nicht bekommen, es sei denn - das ergibt sich aus dem Urteil -, dass unsere Nachfolger im Sinne des Art. 146 des Grundgesetzes einen echten europäischen Bundesstaat gründen wollen, und zwar mit einem Referendum über eine echte europäische Verfassung. Ich denke aber, diese Fragen können wir getrost unseren nachfolgenden Generationen überlassen. Die gestrige Entscheidung definiert eine Grenze der europäischen Integration nach dem jetzigen Staatenbundmodell, die gerade von uns als Bundestag bei der weiteren Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union beachtet werden muss. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vertrag von Lissabon nachhaltig unterstützt und alles daransetzen wird, dass er so früh wie möglich in Kraft gesetzt werden kann. Der Vertrag von Lissabon erweitert die Zuständigkeiten der Europäischen Union; er macht die Europäische Union jedoch zugleich demokratischer, indem er die Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verbessert und diesen zum Beispiel ein Klagerecht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof gegen GesetzMichael Stübgen gebungsakte einräumt, die nach ihrer Auffassung gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Auch andere institutionelle Neuerungen - zum Beispiel die Abschaffung der Rotation bei der EU-Ratspräsidentschaft und die Zusammenführung des Amtes des Hohen Beauftragten mit dem des EU-Außenkommissars sind aus unserer Sicht notwendig und stärken die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in ihren auswärtigen Beziehungen. Europa soll künftig seine Interessen noch wirkungsvoller vertreten können. Dass dies notwendig ist, zeigt sich beispielhaft an den Themen weltweiter Klimaschutz und Bewältigung der globalen Finanzkrise. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung kein Urteil gegen die europäische Integration gefällt. Ganz im Gegenteil: Es hat auf die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes hingewiesen und die Notwendigkeit unterstrichen, dass die Legimitation europäischen Handelns vor allem von den Nationalstaaten ausgehen muss. Sie bleiben die Herren der europäischen Verträge. Die Europäische Union hat eben keine Kompetenzkompetenz. Diese darf ihr nach dem Grundgesetz auch nicht übertragen werden. Natürlich ist die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft. Aber sie kann vollen demokratischen Standards nur zusammen mit dem Grundgesetz genügen. Wir haben in den nächsten Wochen eine ganze Menge zu tun. Wir alle wissen, was wir wollen und was möglich ist; denn wir alle haben darüber in den letzten Jahren diskutiert. Deswegen habe ich die große Hoffnung, dass wir es schaffen, mit großer Mehrheit das Begleitgesetz demokratischer zu machen - wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat - und es noch im September abzuschließen. Ich hoffe, dass der Bundesrat - die Zusammenarbeit mit ihm wird von besonderer Bedeutung sein - diesen Weg mitgeht und wir noch vor dem Referendum in Irland am 4. Oktober unsere Urkunde in Rom zur Ratifikation des Lissabon-Vertrages hinterlegen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die wenigsten haben über Nacht die 147 Seiten des Urteils gelesen. Wer nicht dabei war und nicht zugehört hat und trotzdem so redet, als ob er es wirklich gelesen hätte, sagt deshalb falsche Sätze, zum Beispiel den Satz, es sei wunderbar, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon als grundgesetzgemäß angesehen habe. Dazu muss man zwei Dinge sagen: Erstens. Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht einen internationalen Vertrag für grundgesetzwidrig erklärt. ({0}) - Herr Trittin, warten Sie! Zu Ihnen komme ich noch. Sie haben schon während der Verkündung alles besser gewusst. Die Richter hatten es noch nicht vorgelesen, da waren Sie schon wieder oberschlau, lieber Herr Trittin. Das habe ich mitbekommen. ({1}) Zweitens. Entscheidend ist, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert haben ({2}) und mit ihrer Interpretation Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung gebunden haben. Dadurch hat der Vertrag zum Teil einen neuen Inhalt. Lassen Sie mich zwei Sachen herausgreifen. Zum Beispiel bleibt die Bundeswehr eine Parlamentsarmee. ({3}) - Entschuldigung, im Vertrag ist es anders geregelt. ({4}) - Das kann ich Ihnen sagen: im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Aber das haben Sie nicht gelesen. Dort steht, dass man die Bestimmung auch so verstehen könne, dass man das aber für Deutschland anders interpretiere; das gehe nur, wenn der Bundestag zuvor zugestimmt habe. ({5}) Dort steht ebenfalls, dass man die Bestimmung zur Sozialstaatlichkeit zwar auch so verstehen könne, dass es aber für die Bundesrepublik Deutschland nur eine Interpretation gebe; sie müsse in der Zuständigkeit dieses Parlaments bleiben. Das alles wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation des Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert. Das ist Tatsache. ({6}) - Das finden Sie wohl amüsant. Aber das ist gar nicht amüsant. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens schon oft gemacht, Herr Trittin. Zum Beispiel wurde die Organklage im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR abgewiesen. Aber Bayern hat das als Erfolg gefeiert, weil die Interpretation des Vertrages völlig anders war als zuvor. Auch das haben Sie nicht mitbekommen. ({7}) Nun gebe ich Ihnen einen Beweis. Wissen Sie, wie der vorletzte Satz des Urteils lautet? Dort steht: Mit Rücksicht darauf, dass das Zustimmungsgesetz zum Ver25578 trag von Lissabon - Sie sind stolz darauf, dass die Beschwerde dagegen abgewiesen wurde - nur nach Maßgabe der Gründe dieser Entscheidung mit dem Grundgesetz vereinbar und die Begleitgesetzgebung teilweise verfassungswidrig ist, wurden Bundestag und Bundesregierung verpflichtet, uns ein Drittel der Kosten zu erstatten; das haben Sie völlig übersehen. Ich finde das völlig richtig. ({8}) Ein weiterer Hinweis: Das 147 Seiten umfassende Urteil ist von grundlegender Bedeutung; denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben Stellung zur Europäischen Union, zum europäischen Recht, zum Europäischen Gerichtshof, zu Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung sowie übrigens auch zu den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts genommen. Selten ist in einem Urteil so häufig zu diesen Kompetenzen Stellung genommen worden wie in diesem. Ich glaube, dass wir alle das Urteil noch sehr gründlich studieren und auswerten müssen, weil es von großer Relevanz für unsere künftige Politik ist. Es hat eine Sache festgestellt, die Sie auch nicht gesagt haben, nämlich dass die 27 souveränen Staaten Verträge schließen dürfen, die aber nicht so verwirklicht werden dürfen, „dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum“ - alles wörtlich - „zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, der hier aufgestellt wird. Ich komme zu einer weiteren Sache, nämlich dass das Begleitgesetz für grundgesetzwidrig erklärt worden ist. ({9}) Was mich schon erstaunt - auch bei Ihnen, Herr Trittin, bei Ihnen allen -, ist, dass keiner von Ihren Fraktionen auch nur einen selbstkritischen Satz sagt, zum Beispiel: Ja, wir haben etwas Grundgesetzwidriges beschlossen. ({10}) Das hat keiner von Ihnen gesagt. Das ist das Mindeste, was ich hier erwartet hätte. ({11}) - Ich wusste, dass Sie sich gleich aufregen, aber wahr ist es trotzdem. Das hat nun einmal das Bundesverfassungsgericht festgestellt. ({12}) Das Nächste ist: Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden? Es hat erstens Europa in den Bundestag geholt. Das ist wichtig. Es stimmt, was gesagt wurde: Wir müssen über neue Bedingungen nachdenken. Das ist wahr. Es wird übrigens auch höchste Zeit, wenn wir die Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung erhöhen wollen. ({13}) Zweitens hat es das Verhältnis von Legislative und Exekutive geklärt. Jetzt sage ich es Ihnen einmal ganz deutlich: Es wird keine Änderung des Vertrages, wie Sie es wollten - alle vier Fraktionen wollten das -, ohne Zustimmung des Bundestages geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt. Sie wollten, dass Brüssel ohne Zustimmung des Bundestages Strafrechtsnormen beschließen kann. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass genau das nicht gehen wird. ({14}) Sie haben keine Rechte des Bundestages und keine Rechte des Bundesrates im Begleitgesetz festgelegt. Genau deshalb ist es für grundgesetzwidrig erklärt worden. Das ginge doch auch nicht. Es geht doch nicht, dass sich Brüssel überlegt, was hier eine Straftat sein könnte, und der Bundestag noch nicht einmal darüber mitentscheidet. Sie können doch einmal selbstkritisch sagen, dass Sie die Rechte des Bundestags in dieser Hinsicht verletzt haben. ({15}) Es wird auch keine wichtigen zivil- und familienrechtlichen Vorschriften aus Brüssel ohne vorhergehende Zustimmung des Parlaments geben. Nun müssen wir also ein neues Begleitgesetz schaffen. Wir werden dabei zusammenarbeiten. Ich stimme dem Vertreter der FDP zu: Auch mit uns wird es kein Gesetz geben, das versucht, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen. Aber das ist nicht das Einzige. Das Bundesverfassungsgericht hat noch etwas anderes vorgeschlagen, und ich bitte Sie, das gründlich zu lesen. Es gibt Fälle, in denen die Europäische Union kompetenzüberschreitend oder identitätsverletzend wirkt. Es wurde vorgeschlagen, über ein neues Verfahren nachzudenken, wie man diesbezüglich eine Feststellung des Bundesverfassungsgerichts einholen kann. Das verlangt eine Änderung des Grundgesetzes. Ich bitte Sie, diese Stelle genau zu lesen und uns dann in dem Gremium gleichzeitig beraten zu lassen, ob wir dieses Gesetz nicht einbringen, das Grundgesetz ändern und die Möglichkeiten des Weges zum Bundesverfassungsgericht erweitern. Letztlich kommen Sie um eines nicht herum - Sie können hier alle reden, was Sie wollen -: ({16}) Durch Gauweiler, durch Graf Stauffenberg und durch die Fraktion Die Linke sind die Rechte des Bundestages und des Bundesrates gestärkt worden. ({17}) Sie hätten sie geschwächt. Ein Satz von Ihnen hätte fallen müssen: Danke, Graf Stauffenberg, danke, Herr Gauweiler, danke, Fraktion Die Linke. Danke. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Rainder Steenblock das Wort.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern war ein wichtiger, ein großer Tag für die Demokratie, für die Demokratie in Deutschland und für die Demokratie in Europa. Dieses Ereignis wird uns - da haben alle recht - noch sehr lange beschäftigen: die Menschen, die ihre Hoffnungen auf Europa setzen, und uns, die wir das vermitteln müssen und die in den Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes treten müssen, um Europa dichter an die Menschen zu bringen. Lieber Kollege Gysi, die Menschen in diesem Lande ärgert immer besonders, dass sich nach Wahlen alle zum Sieger erklären, selbst die Verlierer; auch ich finde das äußerst ärgerlich, selbst wenn es Vertreter meiner Partei machen. Ich meine, es ist für die politische Kultur ausgesprochen wichtig, dass diejenigen, die aus einem Entscheidungsprozess als Verlierer hervorgegangen sind, ihre Niederlage akzeptieren. ({0}) In den letzten Monaten hat mich wirklich begeistert, wie die politische Figur John McCain seine Niederlage gegen Barack Obama akzeptiert hat; wie er darauf reagiert hat, war für mich vorbildlich. Die Größe von Politikern und Parteien zeigt sich nicht beim Feiern von Erfolgen, sondern insbesondere in der Niederlage. Was Sie allerdings an den Tag legen, das ist bitter. Herr Gysi, Sie haben recht - ich bin an dieser Stelle völlig bei Ihnen -: Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für die Demokratie in Deutschland ein großer Erfolg. Das, was Sie mit dieser Klage erreichen wollten, ist aber etwas völlig anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. ({1}) Sie sind jahrelang durch dieses Land gezogen und haben den Vertrag von Lissabon schlechtgeredet. ({2}) Das war sozusagen der Kernpunkt Ihrer Klage, also das, worauf Sie hingesteuert haben. Sie sind grandios gescheitert! ({3}) All Ihre Kritik am Vertrag ist vom Verfassungsgericht zurückgewiesen worden. Lieber Kollege Gysi, lassen Sie uns das, was Sie verbockt haben, nicht schönreden. ({4}) Zusammen mit dem Kollegen Gauweiler haben Sie uns die Chance gegeben, die Demokratie in Deutschland weiterzuentwickeln. Das ist gut so, und das unterstützen wir. Ihr Tun sollte sich nicht darin erschöpfen, hier den Vertrag von Lissabon zu kritisieren. Wir, der Deutsche Bundestag und damit die Volksvertretung, also die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sind diejenigen, die durch dieses Urteil neue Kraft bekommen haben. Wir haben neue Kompetenzen bekommen, und - Markus Löning hat darauf hingewiesen - diese Kompetenzen müssen wir auch nutzen. Das ist unsere große Chance. Daraus ergibt sich eine Reihe von zusätzlichen Fragen, die wir klären müssen. Eine zentrale Frage ist, wie die Verfassungsorgane in dieser Republik zueinander stehen. Eine Antwort, die wir bekommen haben, betrifft das Verhältnis von Bundesregierung und Parlament. Dieses Verhältnis wird sich ändern, und das wird erhebliche Konsequenzen haben. Ich finde, der Bundesinnenminister hat heute eine schlechte Erklärung abgegeben, als er gesagt hat: Eigentlich wird sich gar nichts ändern; es müssen lediglich einige Änderungen an den Gesetzesformulierungen vorgenommen werden. Das ist falsch: Wenn wir dieses Urteil ernst nehmen, wird sich in diesem Hause viel ändern. Wir alle, die Parlamentarier, werden mehr Verantwortung bekommen. Diese Verantwortung müssen wir annehmen. ({5}) Das ist wichtig. Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir in Zukunft das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander neu gestalten, geht es auch darum, die Rolle des Verfassungsgerichtes neu zu gestalten. Das Urteil des Verfassungsgerichtes enthält auch darauf Hinweise; ich verweise auf bestimmte Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH. Dieses Thema wird Sie in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen müssen; ich werde dem Parlament leider nicht mehr angehören. ({6}) - Das ist kein Grund zum Klatschen. ({7}) Ich selber habe mich dazu entschieden; das ist auch gut so. Gerade was die europapolitischen Fragen angeht, wird es nicht nur eine Herausforderung sein, den Prozess europäischer Gesetzgebung zu begleiten, sondern auch, im Parlament selber entsprechende Arbeitsstrukturen zu entwickeln; das ist nicht einfach. Darüber hinaus wird es Arbeitsstrukturen auf europäischer Ebene - Stichwort „Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten“ - geben müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt sehr deutlich, dass die nationalen Staaten den Staatenverbund Europa gestalten. Das ist eine integrationsfreundliche Gestaltung. Das Verfassungsgericht hat noch einmal sehr klar gesagt: Dieses Grundgesetz will - erlaubt also nicht nur - die europäische Integration im Staatenverbund. ({8}) Das ist wichtig. Das ist eine ganz deutliche Ansage in Richtung der Nationalisten, von welcher Seite auch immer sie kommen. Wir wollen als deutsche Bundesrepublik mit dem Grundgesetz die europäische Integration. - Das ist ein sehr wichtiger Satz in dem Urteil. Deshalb müssen wir die Nationalstaaten in die Lage versetzen, zu kooperieren. Ich will jetzt gar nicht die Debatte um die zweite Kammer noch einmal aufmachen, aber: Wir müssen als Parlamentarier solche Strukturen schaffen, dass wir nicht nur unsere Regierungen kontrollieren, sondern auch diesen europäischen Prozess auf der Ebene der europäischen Parlamente miteinander besser diskutieren können - die COSAC ist dazu nach meiner Kenntnis nicht in der Lage -; das steht an. ({9}) Natürlich müssen wir auch mit den Parlamentariern aus dem Europäischen Parlament - Axel Schäfer hat darauf hingewiesen - anders und besser zusammenarbeiten. Ich interpretiere das Urteil nicht als Schwächung der europäischen Parlamentarier, sondern als Stärkung der nationalen Parlamentarier. Auch die europäischen Parlamentarier sind gut beraten, glaube ich, von ihrer Seite aus aktives Engagement in diese Kooperation mit den nationalen Parlamenten zu investieren. In fast allen europäischen Ländern gibt es zum Teil Unverständnis, Misstrauen in europäische Entscheidungsstrukturen. Als Parlamentarier, als diejenigen, die auf nationaler Ebene vom Volk oder auf europäischer Ebene gewählt worden sind, müssen wir die Verantwortung annehmen, das heißt kooperieren. Es geht nicht an, dass jeder in seinem eigenen Pott oder in seiner eigenen Partei rührt; wir müssen zusammenarbeiten. Zum Schluss möchte ich gern noch Folgendes ansprechen: Wir werden diesen Prozess nur dann hinbekommen, wenn wir unsere Rolle als Parlamentarier tatsächlich mit mehr Rückgrat spielen, als wir das bisher gemacht haben; das meine ich jetzt nicht als individuellen, persönlichen Vorwurf. ({10}) Wir haben in diesem Land eine politische Kultur, die eher auf Parlamentarier-Bashing ausgerichtet ist. Wir arbeiten für das Volk, weil wir vom Volk gewählt sind und die Verantwortung annehmen. Natürlich sind auch wir mit Fehlern behaftet, wie alle. Aber wenn ich an all die Debatten denke, in denen es um die Bezahlung der Politiker, um die Ausstattung der Politiker, um die Reisen der Politiker geht, komme ich zu dem Schluss: Wir müssen sehr selbstbewusst sagen: Wir arbeiten. Wir können die Regierung kontrollieren. Wir können die Entscheidung auf europäischer Ebene mitgestalten; das kommt jetzt dazu. Dahinter stehen muss das Selbstbewusstsein, zu sagen: Wir stehen hier als diejenigen, die gewählt worden sind - mit Rechten und Pflichten. Wenn das in populistischer Manier kleingeredet wird, sollten wir das parteiübergreifend bekämpfen; denn wir sind diejenigen, die das Mandat haben, über dieses Land zu entscheiden. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Steenblock, die Wünsche des gesamten Hauses, denke ich, begleiten Sie in Ihren neuen Lebensabschnitt. ({0}) Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPDFraktion. ({1})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist dem Vertrag von Lissabon in den vergangenen Monaten und Jahren nicht alles entgegengeschleudert worden? Hydra! Camouflage! Marktradikales Monster! - Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt eindeutig: Er ist weder ein asoziales Subjekt noch ein militaristischer Moloch. ({0}) Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren: Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte besteht auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort. Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates oder seines Parlaments zurückzugreifen. Außerdem heißt es darin: Der Vertrag von Lissabon beschränkt die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass das Sozialstaatsprinzip ... in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit Michael Roth ({1}) notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses Urteil eine Ermutigung für alle Europapolitikerinnen und Europapolitiker in den Fraktionen, die sich tagtäglich darum bemühen, dieses europäische Einigungswerk demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu gestalten. ({2}) Es ist aber auch ein Weckruf für alle anderen Abgeordneten, auch hier in diesem Hause, die sich mitunter etwas arrogant oder desinteressiert über diejenigen äußern, die im Europaausschuss sitzen und tagtäglich versuchen, ihre Arbeit zu leisten - nicht um ihrer selbst willen, sondern damit dieses Integrationsprojekt auch weiterhin in eine gute Zukunft geführt werden kann. Es ist, liebe Mitglieder der Bundesregierung, natürlich auch ein Stoppsignal für alle Exekutiven, sei es in Brüssel, sei es in Berlin, die der Auffassung sind, dass der Parlamentarismus bzw. seine Stärkung Sand im Getriebe des europäischen Räderwerks sind. Auch das muss man so klar und deutlich benennen. ({3}) Dennoch hat mich das Urteil - das sage ich unumwunden - enttäuscht. Ich frage mich, ob der Deutsche Bundestag die Rolle eines Europaparlamentes zu übernehmen in der Lage ist, wie wir es heute in der Überschrift einer respektablen Zeitung haben lesen dürfen. Wir alle wissen - das ist jetzt auch schon mehrfach gesagt worden -: Allein die Änderung des Begleitgesetzes, auch wenn alle Fraktionen daran mitwirken sollen, müssen und dürfen, reicht nicht aus. Ich befürchte auch, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode nicht alle Fragen, deren Beantwortung uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, klären können. Deswegen erwarte ich von uns allen, ob wir diesem Parlament dann noch angehören oder nicht, dass wir die Inhalte dieses Urteils auch als Arbeitsauftrag für die nächste Legislaturperiode verstehen und dann grundsätzlicher, in aller Ruhe und Sorgfalt noch einmal darüber nachdenken, was das für den Europaausschuss heißt, was das für die Zusammenarbeit der Fachausschüsse heißt, was das im Einzelnen für die Fraktionen heißt und was das für die Zusammenarbeit zwischen den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages heißt. Ich meine, hier sind keine Schnellschüsse gefragt. Wir müssen aber anerkennen - das hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben -: Europa ist Innenpolitik. Heribert Prantl hat heute so schön geschrieben wir haben uns hier im Plenum und im Ausschuss so oft darüber beklagt, dass dies nicht geschieht -: Europa muss... ins Deutsche übersetzt werden. Ich meine, das gilt auch im übertragenen Sinne. Wir müssen es den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Wir müssen auf die Defizite, aber gleichzeitig auch auf die Chancen hinweisen. Hier setzt meine Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an. Es ist selbstverständlich, dass für das Bundesverfassungsgericht das Konzept der nationalen Souveränität verpflichtend ist. Ich frage mich aber, ob sich so im 21. Jahrhundert die Globalisierung politisch gestalten lässt. Wir reden tagtäglich über den Klimaschutz. Wir reden darüber, dass die Welt friedlicher werden soll. Können wir das wirklich allein nationalstaatlich regeln? Die überwiegende Mehrheit von uns wollte die Möglichkeiten zu Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene ausweiten, weil wir uns ein handlungsfähiges Europa gewünscht haben, das sich nicht klein macht, sondern sich seiner internationalen Verantwortung bewusst ist und auch diese Verantwortung übernehmen kann. Dafür braucht es aber auch eine entsprechende Entscheidungsfähigkeit, die ich derzeit noch nicht zu sehen vermag. Für mich galt immer ein Satz: Die Europäische Union ist selbstverständlich eine Union von Staaten, sie ist aber auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Dies hat sich ja bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament immer wieder manifestiert. Das Bundesverfassungsgericht bemisst die Frage, wie die Zukunft Europas gestaltet werden soll, allein am Maßstab des Grundgesetzes. Dazu ist es verpflichtet. Wir alle wissen aber auch, dass jeder Vertrag von den 27 nationalen Kulturen und Traditionen jedes Mitgliedstaates geprägt ist und in einem überwölbenden Kompromiss zustande gebracht werden muss. Deswegen weiß natürlich jeder Europapolitiker zuallererst und zuvörderst: Es ist immer ein wenig Demut, Toleranz und Respekt gegenüber den 26 anderen Partnern - möglicherweise werden es, wie einige hoffen, noch mehr - in der Europäischen Union nötig. Ich frage mich: Wie kann man das alles unter einen Hut bringen? Das Bundesverfassungsgericht bleibt ein wichtiger Akteur. Aber es kann uns nicht alles im Kleinen vorgeben. Vielmehr müssen wir als Parlament diese Aufgaben selbstbewusst wahrnehmen und dürfen uns dabei nicht alles vorschreiben lassen. ({4}) Ja, das ist eine Stärkung der Demokratie auf nationaler Ebene. Ich finde es schade, dass Rainder Steenblock, der sich diesbezüglich immer durch Kompetenz und Engagement ausgezeichnet hat, im nächsten Bundestag nicht mehr dabei sein wird. Kolleginnen und Kollegen wie ihn brauchen wir in den nächsten Legislaturperioden noch viel mehr, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Es ist schade, dass Kolleginnen und Kollegen, die sich der europäischen Idee verpflichtet fühlen, in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr dabei sein werden. Dazu, wie wir die Demokratiedefizite auf der EUEbene beheben können, sagt das Bundesverfassungsgericht nichts. Ich habe meine Zweifel, ob die Frage allein damit beantwortet ist, dass wir das Europäische Parlament schlechter reden, als es aus meiner ganz persönlichen Sicht realiter ist. ({5}) Michael Roth ({6}) Bei allem Respekt sind weder Herr Gauweiler noch die Fraktion Die Linke die Helden des gestrigen Tages. Die Helden sind für mich die Europapolitikerinnen und Europapolitiker des Alltags, die sich tagtäglich darum bemühen, europapolitischen Themen Aufmerksamkeit zu verschaffen, die der Regierung Beine machen, die sich selbstbewusst in das komplizierte und komplexe europäische Räderwerk einbringen und damit die demokratische Legitimation des europäischen Gesetzgebungsprozesses stärken. Ich wünsche mir viel mehr solcher Kolleginnen und Kollegen im nächsten Deutschen Bundestag. Dann könnte manches gelingen, was uns das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zutraut. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler aus der Unionsfraktion.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Steenblock hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die heutige Debatte an einen Wahlabend erinnert, an dem es lauter Sieger gibt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden hat, dass der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung mir nicht 30 Prozent, sondern 50 Prozent meiner Kosten erstatten müssen, fühle ich mich zur Hälfte als Sieger. Die andere Hälfte als Verlierer nehme ich gerne in Kauf, weil es sich um ein sehr gutes Urteil handelt, das da erstritten worden ist. Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Punkte zu dem Vorwurf vortragen, dass das Europaparlament schlechtgeredet worden ist. Das ist nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Europaparlament überhaupt nicht politisch geäußert. Es hat rechtlich festgestellt, dass das Europaparlament nicht gleichheitsgerecht gewählt ist. ({0}) Es hat weiter erklärt, dass es deshalb nicht geeignet ist, politische Leitentscheidungen zu treffen, die in einer Demokratie repräsentativ und zurechenbar sein müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit gleichzeitig Ihre Kompetenzen gestärkt, meine Damen und Herren. Das sollte einen Bundestagsabgeordneten ermuntern, statt ihm Anlass zur Kritik zu geben. ({1}) Ich möchte Ihnen sieben Punkte darstellen, die mir im Hinblick auf das Urteil wesentlich erscheinen. Erstens. Das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar, dass das Prinzip der souveränen Staatlichkeit eine Schranke der Integrationsermächtigung ist. ({2}) Die Bundesregierung und der Bundestag haben dies in ihren Schriftsätzen ausdrücklich bestritten. Insofern führt das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer Klärung dieser verfassungsrechtlichen Streitfrage. Zweitens. Einer der wesentlichen Streitpunkte war die Frage - das wissen Sie, Herr Schäfer -, ob es richtig ist, dass im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren bei Anwendung der sogenannten Brückenklauseln eine Vielzahl von Bestimmungen der EU-Verträge ohne Befassung des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente geändert werden kann. Das ist von anderer Seite als „Selbstkastrierung des Parlaments“ bezeichnet worden. Diese Selbstkastrierung des Parlaments ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert worden, weil das von diesem Hause mit riesiger Mehrheit beschlossene Begleitgesetz in wesentlichen Punkten geändert und unter vielen Aspekten ergänzt werden muss, um den Anforderungen des Grundgesetzes bei der Anwendung des Vertrags Geltung zu verschaffen. Der dritte Punkt. Die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV - auch das war ein Einwand der Kritiker - birgt die Gefahr in sich, dass die EU die Kompetenzkompetenz für die Gesetzgebungszuständigkeit und damit letzten Endes faktisch die Souveränität von unserem eigenen Souverän an sich zieht. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass diese Bedenken zu Recht bestehen. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Sie darüber hinwegreden können. ({3}) Es verlangt deshalb, dass die Inanspruchnahme dieser Klausel - und zwar entgegen den Regelungen des Vertrags, nach denen die Zustimmung der nationalen Parlamente nicht nötig ist - in Deutschland der Ratifikation durch Bundestag und Bundesrat bedarf. Das ist ein gewaltiger Sieg. Damit ist das, was Sie hier beschlossen haben, ins Gegenteil verkehrt worden. ({4}) Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat - das stimmt; da haben Sie recht - zwar das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon als verfassungsmäßig angesehen, allerdings ausdrücklich - darauf haben Sie schon hingewiesen - nur nach Maßgabe der vom Gericht formulierten Entscheidungsgründe. Das Gericht hat an vielen Stellen zu jedem Vertragspassus - das zieht sich durch das ganze Urteil - einschränkende Interpretationen vorgenommen und Auslegungsmöglichkeiten, die der Wortlaut des Vertrags zulässt und die mit dem Grundgesetz unvereinbar wären, ausgeschlossen. ({5}) Es hat fünf besondere Gebiete genannt, in denen die Zuständigkeit - schütteln Sie nicht den Kopf, sondern lesen Sie das Urteil - unter keinen Umständen, höchstens in einem sehr eng begrenzten Bereich, weitergegeben werden darf. Es hat insbesondere das Strafrecht, das staatliDr. Peter Gauweiler che Gewaltmonopol, die Staatsausgaben und die Prinzipien des Sozialstaates genannt. Es ist gut für den Deutschen Bundestag, dass das - erstmals - in dieser Klarheit festgestellt werden konnte. Fünftens. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass - das war uns besonders wichtig - das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor zentral für den Staatenverbund ist. Nur weil dieses Prinzip nach wie vor gilt, ist der Vertrag überhaupt mit dem Grundgesetz - mehrfach heißt es: „noch“ - vereinbar. ({6}) Das Bundesverfassungsgericht hat auch darauf hingewiesen, dass die Fülle von Einzelermächtigungen, die es nach dem Vertrag von Lissabon geben wird, die Gefahr in sich birgt, dass hier eine flächendeckende Kompetenz geschaffen wird. Dem hat das Bundesverfassungsgericht jetzt erstmalig in dieser Form einen Riegel vorgeschoben. ({7}) Es verteidigt nämlich gegen eine mögliche Auslegung des Vertrags seine Kompetenz, ultra vires gehenden, also die Grenzen der Ermächtigung überschreitenden, EURechtsakten in Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern. ({8}) Den Vorrang des EU-Rechts und die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts durch einen völkerrechtlichen Vorbehalt abzusichern, wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein. Ich bitte die Bundesregierung herzlich, uns allen hier Klarheit zu verschaffen. ({9}) - Die Bundesregierung kann das durch einen entsprechenden Vorbehalt, der erklärt werden muss, absichern. Das sollten Sie eigentlich wissen. Das steht am Anfang der Debatte. Sechstens - ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin - hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass die demokratische Legitimation der EU-Organe unzulänglich ist und demokratischen Anforderungen nicht genügt. ({10}) Deswegen ist immer von „noch verfassungsgemäß“ die Rede. Siebtens und letztens. Das Urteil macht bedeutende Vorgaben für die weitere Entwicklung der europäischen Integration. Das gilt insbesondere für die Notwendigkeit einer verfassungsgebenden Volksabstimmung. Herr Kollege Steenblock, Sie haben in Ihrer Abschiedsrede die Befugnisse und das Recht des Parlaments betont. Ich danke Ihnen. Aber dieses Urteil bedeutet für dieses und das nächste Parlament einen Kompetenzschub. Es dient uns nicht zum Ruhme, dass es dazu eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedurfte. ({11}) Ich möchte Ihnen herzlich mit auf den Weg geben, auch als Staatsbürger, der Sie ja sind: Ein Parlament, das seine Kompetenzen aufgibt, gibt sich selber auf. Dies zu verhindern, sind wir da. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Die Medien vom heutigen Tage wie Süddeutsche Zeitung, Handelsblatt und Welt sind eine einzige Ohrfeige für die Bundesregierung und für die Mehrheit des Bundestages. Ich zitiere aus der FAZ von heute: Ein deutlicheres Attest ihrer Selbstentmündigung hätten die Parlamentarier kaum ausgestellt bekommen können. Vom gespielten Jubel der Regierung ist die Rede. Sie hätte einen starken Stier kaufen wollen und von Karlsruhe eine kleine Kuh geliefert bekommen; jetzt jubiliere sie: Immerhin ein Rindvieh. Hätte die Koalition die Rechte des Bundestages nicht abgewertet, Karlsruhe hätte die Rechte nicht aufwerten müssen. Das ist doch die Wahrheit. ({0}) Sie beschließen ein grundgesetzwidriges Gesetz, werden ertappt und ernennen sich zum Sieger. Die Medien haben naturgemäß versucht, den Erfolg der Linken so klein wie möglich zu halten. ({1}) Hinter den Medien stehen ja meist CDU/CSU, FDP und ein paar Finanzhaie. Aber immerhin hat Herr Professor Mayer, der Prozessbevollmächtigte der Gegenseite und damit unser Gegner, heute Morgen im Ausschuss gesagt, künftige Oppositionsfraktionen müssten der Linken dankbar sein; denn unsere Klage habe die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag gestärkt, was gänzlich neu sei. Lieber Rainder, sollen wir uns jetzt darüber ärgern oder sollen wir uns darüber freuen, dass der gegne25584 rische Prozessbevollmächtigte uns gesagt hat, durch uns seien die Minderheitenrechte gestärkt worden? ({2}) Aufrüstung und Kriege ums Öl wurden zwar gestern nicht gestoppt, aber der widerwärtige Versuch - so steht es im Lissabon-Vertrag -, über den Einsatz der Bundeswehr in Brüssel zu entscheiden statt allein im Deutschen Bundestag. ({3}) Das ist durch den Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichtes gestoppt worden. Der Neoliberalismus, der die Finanzkrise bewirkt hat, wurde nicht gestoppt. Aber das Gericht hat deutlich das Sozialstaatsprinzip betont, ausdrücklich gegen EUBürokratie und Europäischen Gerichtshof. Das Bundesverfassungsgericht betont: Wir sind und bleiben zuständig für den Schutz der Verfassungsidentität, zu der der Sozialstaat gehört. Auch diese soziale Würde des Menschen ist also nicht verhandelbar. Darüber ist jetzt klar entschieden worden. ({4}) Also passen Sie nicht mehr im vorauseilenden Gehorsam Ihre Gesetze an den Neoliberalismus der EU an! Ich erwähne in diesem Zusammenhang das niedersächsische Vergabegesetz hinsichtlich öffentlicher Bauaufträge und nenne nur das Stichwort Rüffert-Urteil. Lassen Sie EuGH-Angriffe auf Volkswagen und auf die Tariflöhne nicht mehr zu, sondern streiten Sie mit den Gewerkschaften und klagen Sie vor dem Bundesverfassungsgericht! Seit gestern bietet sich die Gelegenheit förmlich an, dagegen zu klagen. Das sollte auch wahrgenommen werden. ({5}) Der Bundestag ist nach dem Urteil zudem gehalten, sich mehr um internationale Verträge zu kümmern, die die Lebenssituation der Menschen unmittelbar betreffen. Das gilt vor allem für die neoliberalen Angriffe über die WTO auf die ärmsten Menschen auf allen Kontinenten. Sollten die Menschen draußen erschrocken sein über die monströsen Schwächen, die der Bundesregierung und der Mehrheit des Bundestages attestiert worden sind, dann können sie in dieser Beziehung beruhigt sein: Sie haben eine starke Linke in den Deutschen Bundestag gewählt. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kommt einem schon merkwürdig vor, nach einer nationalkonservativen Allianz aus PDS und anderen Europaskeptikern und Europagegnern hier reden zu können. Es gilt für uns nach wie vor das, was die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beinhaltet, nämlich dass das deutsche Volk von dem Willen beseelt ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. ({0}) Diese Äußerung hat das Bundesverfassungsgericht in den Mittelpunkt seiner gestrigen Argumentation gestellt. Ich sage: Darüber können wir alle froh sein. Ich darf den heute schon wiederholt erwähnten Heribert Prantl zitieren, der die richtige Schlussfolgerung gezogen hat: Diesem spektakulären, glänzenden und klugen Karlsruher Urteil gelingt die Kunst, den europäischen Integrationsprozess nicht aufzuhalten, sondern ihn - bei einem deutschen Zwischenstopp demokratisch zu befruchten. Ich denke, das ist die zentrale Botschaft. Das ist auch eine Botschaft an diejenigen, die sich hier gerne als Gewinner feiern lassen; denn von Gewinnen kann man nur reden, wenn man mit seinen Zielen durchkommt. Wenn man das Urteil nicht von hinten zu lesen beginnt, sondern von vorne, dann sieht man, was Sie zum Gegenstand Ihrer Anträge beim Bundesverfassungsgericht gemacht haben, dann stellt man fest, dass Sie sich allein gegen das Zustimmungsgesetz und nicht gegen das Begleitgesetz gewendet haben. Also Gewinner? Fehlanzeige, nur herbeigeredete Gewinner. ({1}) Es ist wichtig, dass wir uns darüber klar werden, was mit dem Urteil gesagt wurde. Wenn Sie noch mehr aus dem Urteil hören möchten, kann ich Ihnen noch mehr vorlesen. Auch wenn es Ihnen nicht recht ist, trage ich vor - Seite 91 -: Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Demokratieprinzip, vereinbar. Das Wahlrecht … ist nicht verletzt. Oder auf Seite 93: Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen. Oder: Die mit den Antrags- und Beschwerdeschriften vorgetragene, im Mittelpunkt der Angriffe stehende Behauptung, mit dem Vertrag von Lissabon werde das demokratische Legitimationssubjekt ausgetauscht, ist unzutreffend. Anderes brauchen wir nicht zu sagen. Jeden dieser Sätze, die ich verlesen habe, sehe ich als einen knallenden Schlag ins Gesicht derjenigen auf der linken Seite dieses Hauses, die sich als Sieger fühlen. ({2}) Wichtig ist auch, dass im Deutschen Bundestag einmal vorgetragen wird, was der Vorsitzende des Zweiten Senats, Vizepräsident Voßkuhle, zu Beginn der Urteilsverkündung gesagt hat. Er sprach von Vorurteilen und eindeutigen Vorverständnissen, über die das Bundesverfassungsgericht nicht gerichtet hat. Welche Vorurteile und Vorverständnisse sind das? Das ist das, was ich am Anfang schon herausgearbeitet habe: Das sind die Europafeindlichkeit und die überzogene Europaskepsis, die es leider auch in diesem Hause gibt. Wenn wir die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen wollen, müssen auch wir uns klar zu Europa und zur europäischen Einigung bekennen, und diejenigen, die Probleme mit Europa und der europäischen Einigung haben, dürfen nicht weiter versuchen, sich als Sieger des gestrigen Tages darzustellen. ({3}) Ein kleines Detail, Herr Dehm, wenn ich Sie beim Telefonieren stören darf: Der Prozessbevollmächtigte des Deutschen Bundestages, Professor Mayer, hat im Ausschuss gesagt, dass man sich bei Ihnen bedanken kann. Dazu sage ich: Interessant ist, dass sich Professor Mayer auf die Frage der Zulässigkeit bezogen hat, auf die Frage, wann sich eine Oppositionsfraktion an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Das hatte mit dem Inhalt, mit der materiellen Frage oder der Begründetheitsfrage nicht das Geringste zu tun. ({4}) So viel zum selbsternannten, gefühlten Gewinner. ({5}) Ich sehe ein Handeln der Bundesregierung - darüber sind wir uns in diesem Hause einig - nicht als veranlasst an, Kollege Gauweiler. ({6}) Für uns ist und bleibt es wichtig, dass wir das Begleitgesetz ändern und dass wir unsere Geschäftsordnung ändern; darauf hat noch niemand Bezug genommen. ({7}) Ich halte es für zentral, dass wir wichtige Änderungen in der Geschäftsordnung vornehmen, damit wir unseren Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, im Rahmen unserer Möglichkeiten nachkommen können. Das ist für mich die wichtige Botschaft. ({8}) Ich halte es für ebenso wichtig und für ein bedeutendes Signal an die übrigen Mitgliedstaaten, dass Folgendes zum Ausdruck gebracht wurde: Wir in Deutschland wollen nach wie vor die europäische Einigung, und wir möchten, dass unsere befreundeten Mitgliedstaaten mit uns an der europäischen Einigung arbeiten. Deswegen ist es unser Ziel, trotz der Wahlen zum 17. Deutschen Bundestag Ende September dieses Jahres noch im Laufe dieser Wahlperiode schnell die notwendigen Änderungen durchzuführen, um dieses Signal, das über unsere Grenzen hinaus wirkt, zu geben, ein Signal zugunsten der Einheit Europas und zugunsten dessen, was in der Präambel des Grundgesetzes schon festgestellt wird: dem Ziel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wir sprechen auf der einen Seite über das Urteil; auf der anderen Seite sollten wir das, was angegriffen worden ist, nicht vergessen: den Vertrag von Lissabon. Es steht uns zu, nochmals darauf hinzuweisen, dass der Reformvertrag von Lissabon der Europäischen Union die Fähigkeit verleihen wird, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger auf der Basis unserer europäischen Werte die Europäische Union fortzuentwickeln. Ich wage eine Prognose, die uns alle betrifft: Wir werden noch im Laufe der 16. Wahlperiode das Begleitgesetz und unsere Geschäftsordnung ändern. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies kein statisches System sein kann, sondern dass wir - das sehe ich gemäß dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts an uns alle - darauf Acht geben müssen, dass in der Praxis, die wir hier im Deutschen Bundestag, aber auch Sie im Bundesrat dann an den Tag legen, der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen wird, sodass wir dem Demokratieprinzip immer und unangreifbar Rechnung tragen. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die Unionsfraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Steenblock hat recht: Gestern war ein guter Tag für die Demokratie. Wenn man den Ausführungen so mancher Kollegen hier folgt, dann muss man sich die Frage stellen: Über was streiten wir eigentlich? Jeder fühlt sich als Sieger. Wenn sich jeder als Sieger fühlt, dann bin ich für den weiteren Gang der vor uns liegenden parlamentarischen Beratungen sehr optimistisch. Denn das kann ja dann alles sehr gut über die Bühne ge25586 hen, wenn wir uns in diesen wesentlichen Punkten schon einig sind. Herr Kollege Gysi, gestatten Sie mir bitte folgenden Hinweis: Es wäre zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, dass ein Sieger auf zwei Drittel seiner Verfahrenskosten sitzen bleibt. ({0}) Die Kostenteilung ist hier ein sehr sicheres Indiz; bei Kollege Gauweiler waren es immerhin 50 Prozent. Diese Quote zeigt, wie das Bundesverfassungsgericht es sieht. Derjenige, der sich dafür interessiert, sollte sich einfach einmal die Kostenverteilung ansehen. ({1}) Das erleichtert, glaube ich, den Überblick. Es war ein guter Tag für die Demokratie. Warum? Weil der Vertrag von Lissabon seitens des Bundesverfassungsgerichts als verfassungskonform angesehen wird. ({2}) Wir als Parlamentarier haben schon deshalb Vorteile, weil der Vertrag von Lissabon unsere Rolle, die Rolle der nationalen Parlamente aufwertet. ({3}) Das Begleitgesetz müssen wir in der Tat neu aufrollen, aber mit sehr konkreten Vorgaben, die uns Parlamentariern den Rücken stärken. Deswegen haben wir, wenn man es so nennen möchte, eine Win-win-Situation: Die Parlamente sind die Gewinner des gesamten Verfahrens. Damit meine ich nicht nur das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Weil wir hier in einer öffentlichen Debatte sind und so manches, was man den Berichterstattungen der Medien entnehmen durfte, eher zur Begriffsverwirrung der Bürger beigetragen hat, möchte ich Folgendes ausführen: Warum fühlen sich die meisten als Sieger? Ich glaube, es lohnt sich, einen Blick auf das bisherige Verfahren zu werfen. Traditionell ist die Außenpolitik der Europäischen Union stets sehr regierungsgeprägt gewesen. Seit dem Maastricht-Urteil hat der Deutsche Bundestag seine Europatauglichkeit aber kontinuierlich verbessert. Wir haben heute einen Europaausschuss, der sich nicht nur aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages, sondern auch - und zwar aus guten Gründen - aus Kollegen des Europäischen Parlaments zusammensetzt. Wir haben einen Unterausschuss Europarecht. Wir haben die COSAC-Konferenz, eine Kooperation der nationalen Europaausschüsse. Wir haben mittlerweile ein Verbindungsbüro mit Mitarbeitern der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung in Brüssel. Seit zwei Jahren besteht außerdem eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung. Dieses Parlament hat kontinuierlich für mehr Rechte gekämpft und diese auch bekommen. Deswegen betrachten wir die gestrige Entscheidung als einen Katalysator, der uns hilft, auf diesem Weg weiterzumachen. Sie können daher sicherlich nachempfinden, dass wir uns über dieses Urteil freuen. Es geht aber noch um etwas anderes, das bei dieser Debatte nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte. Bei aller Betonung der Parlamentsrechte: Wir haben ein großes Interesse daran, dass unsere Regierung, egal welcher Couleur, in Brüssel handlungsfähig bleibt. Wir müssen in Brüssel, in Europa sprechfähig bleiben. Uns wäre nicht geholfen, wenn Regierungsmitglieder bei jeder Entscheidung, die von der ursprünglichen Vorgabe abweicht, in die Maschine steigen und nach Berlin zurückfliegen müssten, um sich das neuerliche Votum des Parlaments einzuholen. Das würde die Europapolitik lähmen. Wir wollen die Europapolitik und Europa gerade mit dem Vertrag von Lissabon handlungsfähiger machen. Deswegen wird es bei der Neufassung des Begleitgesetzes im Kern darum gehen, eine Balance zu finden. Wir möchten ein austariertes Verhältnis finden zwischen den berechtigten Interessen der Parlamentarier des Bundestages und unserem Wunsch nach einer handlungsfähigen und sprechfähigen Regierung in Brüssel. ({4}) Ich komme zu den einzelnen Punkten, die Kollege Gauweiler angesprochen hat. Ja, die Brückenklausel ging dem Bundesverfassungsgericht zu weit, auch die Einschränkung beim Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wobei es von Beginn an bei diesem Prinzip bleiben sollte. In der Summe kann man aber feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht damit aussagen möchte: Fahrt bitte auf Sicht, gleichsam mit angezogener Handbremse, auch bei der europäischen Integration, wenngleich die europäische Integration erstmals als ausdrückliches Verfassungsziel postuliert wurde. Man muss allerdings auch einen Blick auf das Bundesverfassungsgericht selbst werfen, das sich in einem ständigen Konkurrenzverhältnis zum EuGH sieht. Deswegen haben auch ein Bundesverfassungsgericht und die dortigen Richter ein elementares Interesse daran, dass ihre eigenen Rechte gewahrt bleiben. In diesem Zusammenspiel ist das Urteil sicherlich auch zu sehen. Es ist ein Grundsatzurteil und wird weit über den gestrigen Tag hinaus wirken. Es ist vielleicht noch bedeutender als das Maastricht-Urteil. Ich möchte noch eines aufgreifen, was Kollege Gauweiler in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel gesagt hat. Ich zitiere -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gysi?

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danach.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie holten keine Luft. Ich hatte keine Möglichkeit, zwischen Ihren Sätzen etwas zu sagen.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wundern sich, für wie viel frischen Wind wir hier sorgen können. Das Zitat des Kollegen Gauweiler lautet: Das Urteil werde die „europäische Gesinnung“ der Bürger stärken und damit eine „proeuropäische, volkspädagogische Wirkung“ haben. Mit dem Wort Volkspädagogik, das der Kollege Gauweiler benutzt hat, tue ich mich etwas schwer. Aber wenn das Urteil zu einem dient, dann mit Sicherheit dazu, dass die Akzeptanz der Bürger in Bezug auf die europäische Integration nach dem gestrigen Urteil und dem Ausspruch, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht, steigen wird. Die Bürger können sich fortan darauf verlassen, dass die Verfassungstauglichkeit und die Verfassungsgemäßheit dieses Vertrages - gleichsam wie durch den TÜV - bestätigt wurden. Das fördert die Akzeptanz der Bürger auch in die europäische Integration. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, da hier immer wieder darüber diskutiert wird, ob es seitens des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr irgendeine Art von Korrektur gegeben hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir bestätigen können, dass auf den Seiten 135 und 136 des Urteils ausgeführt wurde, dass es eine Bestimmung gibt, nach der, falls ein Mitgliedsland überfallen wird, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen schulden, und dass dann dargelegt wird, warum diese Regelung für Deutschland nicht ohne einen Beschluss des Bundestages gilt. ({0}) - Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden! - Können Sie mir also bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus akzeptiert hat, dass es eine Bestimmung gibt, die man auch anders hätte verstehen können ({1}) - es gab übrigens auch den Willen, sie anders zu verstehen -, dass man dem aber einen Riegel vorgeschoben hat? ({2})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gysi, ich habe das Urteil, das 147 Seiten umfasst, nicht über Nacht auswendig gelernt. Ich habe es aber gelesen. Wenn Sie das Urteil genau lesen, werden Sie auf eine Passage stoßen, in der das Bundesverfassungsgericht darauf hinweist, dass die im Vertrag von Lissabon vorgesehene gegenseitige Beistandspflicht über die Regelungen, die wir ohnehin schon haben, nicht hinausgeht. ({0}) In genau diesem Kontext und in diesem Licht ist das Ganze zu sehen. Parlamentsvorbehalte gab es schon in der Vergangenheit. Insofern wird durch den Vertrag von Lissabon keine neue Situation geschaffen. ({1}) Infolgedessen gelangt das Bundesverfassungsgericht in diesem Punkt völlig zu Recht zu dem Schluss, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht. ({2}) Wie wird es nun weitergehen? Der Europaausschuss wird mehrere Sondersitzungen durchführen, und wir werden das weitere Verfahren konkret ausgestalten. Ende August dieses Jahres wird dann die erste Lesung im Deutschen Bundestag anstehen. Es ist eine reine Selbstverständlichkeit, dass dieses Gesetz dann aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden sollte. Alles andere widerspräche dem Geist des gestrigen Urteils. Natürlich wird es immer gerne gesehen, wenn, wie es auch heute geschehen ist, seitens der Bundesregierung Formulierungshilfe angeboten wird. ({3}) Aber dieser konkrete Fall ist die Stunde des Parlaments, und es geht um die Rechte des Parlaments. Ich glaube, wir tun sehr gut daran, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen und die Maßgaben im neuen Begleitgesetz eins zu eins abzubilden. Unbestritten ist, dass wir unter Zeitdruck stehen. Deswegen muss das Ganze jetzt zügig über die Bühne gehen. Wenn wir das nicht mehr in dieser Legislaturperiode schaffen, können wir im Hinblick auf das Referendum, das in Irland noch durchgeführt werden muss, keinen positiven Impuls mehr geben. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, wie sich die Situation in Großbritannien weiterentwickeln wird. Es gibt übrigens auch Zeiten, in denen ein Christdemokrat für die Gesundheit eines Labour-Ministerpräsidenten in Großbritannien betet. ({4}) In diesem Sinne sage ich zum Schluss: Ich bin zuversichtlich, dass es uns, wenn wir zügige Beratungen durchführen, gelingt, das notwendige Begleitgesetz und den Vertrag von Lissabon auf den Weg zu bringen, damit Europa erfolgreich in seine Zukunft gehen kann. Danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der deutschen Banken Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema unserer heutigen Aktuellen Stunde lautet „Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der deutschen Banken“. Sicherlich haben es die meisten von uns in der letzten Woche gelesen: Bundesbankpräsident Axel Weber war über das seiner Meinung nach schlimme Verhalten der Banken erbost und hat sogar gedroht, die Banken zu übergehen und selber Kreditgeschäfte durchzuführen, um die Zinsweitergabe, die die Banken seiner Meinung nach nicht vollziehen, selber zu gewährleisten. Wie ist die Situation? Die EZB hat den Banken ein Angebot gemacht, das folgendermaßen lautet: Für 371 Tage - das bedeutet Planungssicherheit für die Institute - gibt es für einen Zinssatz von 1 Prozent unbegrenzt Geld. Bisher fragten insgesamt 1 121 Finanzinstitute bei der EZB 442,2 Milliarden Euro nach. Das Angebot scheint also zu wirken. Wie das Handelsblatt letzte Woche jedoch berichtete, sind die Banken sowohl reich als auch arm. Einerseits gibt es eine Geldschwemme, andererseits - dies betrifft die Unternehmen anscheinend aber eine Kreditklemme. Wie kann das sein? Es gibt einen Unterschied zwischen Liquidität, also Geld für den Moment, und Kapital, also Geld, das der Bank für unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht. Die EZB kann Liquidität zur Verfügung stellen, nicht aber Kapital. Wenn Firmen, nachdem sie Auftragspolster abgearbeitet haben, weniger Umsatz und damit auch weniger Gewinn machen, sinkt ihre Kreditwürdigkeit. Dann - so argumentieren die Banken - müssen die Firmen Kredite mit mehr Kapital unterlegen. Das aber fehlt trotz der Großzügigkeit der EZB. Was ist zu tun? Aktiengesellschaften können an der Börse Kapital aufnehmen. Wenn die finanzielle Situation der Firma allerdings nicht stabil ist oder sie keine Aktiengesellschaft ist, bleibt als Helfer nur der Staat. Da soll unser Bad-Bank-Konzept, über das wir im Finanzausschuss heute abschließend beraten werden, Hilfe leisten. Wir appellieren an die Banken, dass sie dieses Angebot nutzen, und hoffen, dass sie es tun. Unternehmen und Verbände der deutschen Wirtschaft sehen die deutsche Wirtschaft vor einer Kreditklemme, weil Unternehmen, die Kredite nachfragen, vonseiten der Banken immer häufiger härtere Bedingungen auferlegt werden oder ihnen Ablehnung entgegenschlägt. Die Banken argumentieren: Es handelt sich um normales Rezessionsverhalten. Man schaut genauer hin, wenn man Kredite vergibt, und die Bonität der Schuldner hat sich - Stichwort Basel II - in der letzten Zeit verschlechtert. Da möchte man gerne Sicherheiten haben; das alles haben wir beschlossen und gewollt. Das ist das, was sich augenblicklich abspielt. So weit ist alles noch nachvollziehbar. Es ist in unser aller Interesse, wenn sich die Banken verhalten, wie wir es mit Basel II ursprünglich beabsichtigt haben: dass sie mit dem Geld anderer Leute verantwortungsvoll umgehen. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass es Anzeichen gibt, dass auf den Finanzmärkten wieder spekuliert wird: Es gibt Institute, die sich günstig Geld bei der EZB holen und dann in anderen Ländern in Anlagen investieren. ({0}) - Auch in Deutschland, gut. - Diese Spekulationen müssen, denke ich, kritisiert werden. Laut Bundesverband deutscher Banken lag das Volumen der Kreditvergabe in Deutschland im ersten Quartal trotz negativer Ausnahmen immer noch 7 Prozent über dem des Vorjahres. Das ist eine Tendenz, die mir - ich habe in meinem ländlichen Wahlkreis eher wenig mit Großbanken und Großunternehmen zu tun - meine heimischen Sparkassen und Volksbanken bestätigt haben: Man schaut genauer hin; aber man gibt mehr als früher. Für die Unternehmen stellt sich die Situation etwas anders dar: Sie bestätigen, dass es mehr Nachfrage gibt; aber es müssen mehr Sicherheiten aufgelistet werden, es werden nicht mehr so leicht Kredite vergeben. Auf mein Argument, dass wir alle wollten, dass bei der Kreditvergabe mehr Vorsicht gezeigt wird, wird mir immer wieder entgegnet: Wenn keine Zwischenfinanzierungen mehr gemacht werden, drohen Insolvenzen. Das ist die Situation. Natürlich brauchen wir einen Ausgleich zwischen vorsichtigem Handeln der Banken und genug Krediten für die Unternehmen. Als ich vor circa 30 Jahren mein BWL-Studium begonnen habe

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Arndt-Brauer, achten Sie bitte auf die Zeit!

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

mein letzter Satz -, hieß es: Oberstes Ziel eines Unternehmens ist Gewinnmaximierung. - Ich denke, in Zeiten der Krise sollte gesamtgesellschaftliche Verantwortung hinzukommen. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege CarlLudwig Thiele das Wort. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Aus Sicht der FDP gibt es für die deutsche Wirtschaft schon jetzt eine Kreditklemme. Viele Firmen sind auf Fremdkapital angewiesen; denn die Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen ist im Vergleich zu der in anderen Ländern ausgesprochen gering. Viele Unternehmen sind insbesondere in schwierigen Zeiten, wie jetzt, darauf angewiesen, das Kapital zu haben. Dieses Problem für den deutschen Mittelstand lässt sich kurzfristig überhaupt nicht lösen. Viele Firmen sind auf Kredite angewiesen. Einige der bisher bereits eingeräumten Kredite laufen aus und müssen neu verhandelt werden. Andere Firmen benötigen auch in der heutigen Zeit Kredite, um zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Daher sind ein funktionierender Geldkreislauf und die Versorgung mit Krediten für die Wirtschaft selbst und für jeden einzelnen Arbeitsplatz in unserer Wirtschaft von überragender Bedeutung. ({0}) Angesichts der derzeitigen Krise ist festzustellen, dass gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten viele Unternehmen schlechter eingestuft oder schlechter geratet werden, wie das heute heißt. Aus diesem Grunde erhalten die Unternehmen Kredite häufig nur zu deutlich verschlechterten Bedingungen. Hier ist aus Sicht der FDP zu prüfen, ob die entsprechenden Vorschriften im Regelwerk Basel II aus heutiger Sicht noch richtig und zielführend sind. Insofern muss Basel II aus unserer Sicht auf den Prüfstand gestellt werden, um zu sehen, ob damit in der heutigen Situation noch der richtige Kern getroffen wird, um auf der einen Seite die Versorgung der Firmen sicherzustellen und um auf der anderen Seite den Banken die Möglichkeit zu geben, Kredite zu vergeben. Es stellt sich aber eben auch die Frage, wie viel Kapital die Banken dafür binden müssen; denn gerade dieses Kapital ist erforderlich, damit die Unternehmen es erhalten. ({1}) Aber auch der Finanzsektor selbst leidet darunter, dass in ihm trotz aller gesetzlichen Regelungen zu wenig Eigenkapital vorgehalten wird. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten müssen auch die Kreditinstitute wetterfest sein, um entsprechende Stürme bestehen zu können. Insofern halten wir von der FDP es für richtig, das Leitbild des HGB, das Leitbild eines vorsichtigen Kaufmannes, zum Maßstab des wirtschaftlichen Handelns in unserem Lande zu machen. ({2}) Der wesentliche Unterschied zwischen börsennotierten Kapitalgesellschaften und privaten mittelständischen Unternehmen besteht darin, dass im Mittelstand der Eigentümer selbst für sein Unternehmen haftet. ({3}) Verantwortung in der Wirtschaft muss eben immer mit Haftung einhergehen. Wer persönlich haftet, der geht völlig anders mit Risiken um als jemand, der für seine Entscheidungen nicht selbst haften muss. Insofern ist die Haftung der Unternehmen und auch des Unternehmers zentraler Bestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft. ({4}) Seitens der FDP-Fraktion begrüßen wir die Finanzspritze der Europäischen Zentralbank von gut 440 Milliarden Euro über eine Laufzeit von 12 Monaten grundsätzlich. Mit diesem Geld wird den Banken geholfen, der Realwirtschaft wird es voraussichtlich aber nur zu einem begrenzten Teil zugutekommen. Die FDP unterstützt die Forderung des Bundesbankpräsidenten Axel Weber, die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank an ihre Kunden weiterzugeben. Präsident Weber fordert allerdings im Weiteren, dass die Notenbanken die Banken umgehen und die Wirtschaft direkt stützen können sollten, was er derzeit noch nicht für nötig hält. Dies könnte wohl nur durch den Kauf von Unternehmensanleihen geschehen; denn dass die EZB selbst dazu übergeht, Kredite zu vergeben, ist, so glaube ich, auch vom Bundesbankpräsidenten gar nicht angedacht. Sollten aber Unternehmensanleihen erworben werden, dann würden dies nur Anleihen größerer Firmen sein, die tatsächlich in der Lage sind, entsprechende Anleihen zu platzieren. Das Problem der mangelnden Kreditversorgung haben aber nicht nur die großen börsennotierten Unternehmen, sondern insbesondere auch der deutsche Mittelstand. ({5}) Der deutsche Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und wesentlich für die Arbeitsplätze in unserem Lande. Deshalb möchte ich für die FDP nochmals an die Banken appellieren, ihre Kreditkonditionen auch im Interesse der Kunden und der Wirtschaft zu überprüfen. Denn die Banken sollten bei der Festlegung ihrer Kreditkonditionen trotz aller Vorgaben daran denken, dass die Versorgung der Wirtschaft mit Kapital auch in ihrem ureigensten Interesse liegt. Eine mangelhafte Versorgung der Unternehmen, aber auch der Bürger mit Kapital wird sich letztlich auch auf das Geschäft der Banken schädlich auswirken. Deshalb sollten die Banken die günstigen Konditionen so weit wie möglich an ihre Kunden weitergeben. Diesen Appell können wir hier an sie richten. Auf der anderen Seite müssen aber sowohl die Firmen als auch die Kreditinstitute in unserem Land wetterfester werden. Wir als FDP werden weiter unseren Beitrag dazu erbringen, dass genau dies geschieht. Denn gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und bei Stürmen gilt: Wer sicherer und fester steht, der wird nicht so schnell umgehauen. Das muss bekannt werden. Insofern können weder die Bürger noch die Unternehmen in unserem Land immer nur als Melkkühe des Staates gesehen werden. Dort wird das erwirtschaftet, was erforderlich ist, um die Existenz der Bürger zu sichern, um die Einnahmen der Sozialversicherungen sicherzustellen und um dem Staat die Finanzierungsmöglichkeiten zu geben, die er für seine Aufgaben braucht. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser. Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es besteht ja in der heutigen Debatte über die Kritik an der Zinspolitik der deutschen Banken und Sparkassen eine erstaunliche Übereinstimmung, die wir aber auch in weiteren Kreisen finden: Ich nenne die Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften, die Verbraucherzentralen, die Fraktionen hier und eben auch die Deutsche Bundesbank. Es geht um zwei Themen, zum einen - meine beiden Vorredner haben es bereits angesprochen - um die Versorgung der Wirtschaft mit Krediten, die eben immer noch unzureichend stattfindet, und zum anderen - das wird heute mein Thema sein - um die Weitergabe der günstigen Leitzinsen an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Der Herr Bundesbankpräsident hat damit gedroht - Herr Thiele hat es gerade erwähnt -, notfalls das Bankensystem zu umgehen, um sicherzustellen, dass der Wirtschaft genügend zinsgünstige Kredite zur Verfügung stehen. Lassen Sie mich seine Forderung ergänzen: Die deutschen Banken müssen die ihnen gegebenen günstigen Zinskonditionen nicht nur an die Wirtschaft, sondern auch an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben. Schon vor Wochen hat Ministerin Ilse Aigner die Banken aufgefordert, die niedrigen Refinanzierungszinsen an die Kunden weiterzugeben. Der Leitzins ist seitdem weiter gesunken, er liegt mittlerweile bei 1 Prozent. Wir wissen aber, die Verbraucher profitieren davon nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang, und wenn sie etwas davon profitieren, dann nur zeitverzögert. Es mag vielleicht Ausnahmen geben, wo Banken ihre gesunkenen Kosten voll und ganz an die Verbraucher weitergegeben haben. Das sind aber eben Ausnahmen. Denn es gibt eine Reihe von Kreditinstituten, die ihre Zinsen für Dispokredite erhöht haben. Im April/Mai waren es 24 Banken, die ihre Zinssätze noch erhöht haben. Traurige Spitzenreiter sind leider die Berliner Sparkasse und die Sparkasse Köln/Bonn mit 14,5 Prozent. Das muss man sich einmal vorstellen! ({0}) Es kommt dann der Hinweis der Kreditwirtschaft, dass sich die Banken nur zu einem Teil mit Zentralbankgeld finanzieren. Das ist meines Erachtens ein vorgeschobenes Argument. ({1}) Denn auch die Geldmarktsätze im Interbankenverkehr sind drastisch gesunken, egal ob es sich um EURIBOR, EONIA oder die Geldmarktsätze am Frankfurter Bankenplatz handelt. Für kurzfristiges Geld lagen diese Zinssätze letzten Sommer noch deutlich über 4 Prozent, inzwischen liegen sie sogar unter 1 Prozent. Da liegt der Verdacht nahe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass hier von Bankenseite aus nicht ehrlich argumentiert wird, sondern dass es hier auch um die Erhöhung der Margen geht. ({2}) Was können wir tun? - Zum einen müssen die Verbraucher ein Stück weit ihre Marktmacht aktivieren. Sie müssen Dispozinsen vergleichen, sollten Dispositionskredite vermeiden und auf deutlich günstigere Verbraucherdarlehen umsteigen. Zum anderen sind wir natürlich politisch gefordert. Es geht darum, die Kreditwirtschaft, der zum Teil mit erheblichen Rettungspaketen geholfen wird, an ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu erinnern. Appelle, wie wir sie auszusprechen pflegen, scheinen absolut nicht zu fruchten. ({3}) Wir müssen - das ist der entscheidende Punkt - die rechtlichen Schranken, die von der Rechtsprechung zur Anpassung der Zinsen entwickelt wurden, stärker in den Vordergrund rücken. Die Zinsanpassung liegt eben nicht im freien Ermessen der Banken, sondern hat sich an klar definierten Maßstäben zu orientieren. Im Hinblick auf die Sparzinsen funktioniert das bereits. Auf Grundlage zweier Zinsurteile des Bundesgerichtshofes, in denen er ausdrücklich die Angaben von Kriterien für die Kalkulierbarkeit von Zinsänderungen fordert, haben mittlerweile die ersten Sparer mit Unterstützung der Verbraucherzentralen sogar Nachzahlungen ihrer Geldinstitute in teilweise vierstelliger Höhe erhalten. Im April dieses Jahres hat der Bundesgerichtshof in einem Krediturteil entschieden, dass Zinsanpassungen in bestehenden Geschäftsbeziehungen keine Einbahnstraße sein dürfen. Wenn Banken gestiegene Refinanzierungskosten an ihre Kunden weitergereicht haben, sind sie verpflichtet, nach den gleichen Maßstäben auch sinkende Refinanzierungskosten weiterzugeben, und ich füge hinzu: Sie müssen es auch im gleichen Tempo machen. Dieser Rechtsprechung hat die Kreditwirtschaft Rechnung zu tragen und die erforderlichen Zinsanpassungen unverzüglich vorzunehmen. Wenn sie jedoch weiterhin unzulässige Zinsklauseln verwendet und das geltende Recht missachtet, ist ganz klar die Finanzaufsicht gefordert. Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser Die Kreditwirtschaft ist verpflichtet, ihrer Verantwortung heute gerecht zu werden, und zwar ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kunden, den Unternehmen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern und ihrer Verantwortung im Hinblick auf ihren Beitrag zur Wiedererstarkung der Gesamtwirtschaft. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Zentralbank - das ist schon angesprochen worden - hat unglaubliche 442 Milliarden Euro in den Finanzmarkt gepumpt. Das ist eine Rekordsumme. Die Banken und Sparkassen können sich für ein Jahr bei der Notenbank Geld zu 1 Prozent leihen. Dieses Traumangebot haben bereits über 1 100 Banken aus der Eurozone genutzt. Damit wollte die EZB die Bürger und Unternehmen ermuntern, Kredite zu günstigen Konditionen aufzunehmen. Diese Maßnahme sollte die Binnenkonjunktur beleben. Doch die Rechnung der Europäischen Zentralbank geht nicht auf, zumindest nicht in Deutschland. Denn die deutschen Banken verhalten sich wie mittelalterliche Wegelagerer. Sie geben die Zinssenkung der Zentralbank nicht an die Kunden weiter. Der Zinssatz für Dispokredite liegt aktuell deutlich höher als in der letzten Wirtschaftskrise. Am Ende des Krisenjahres 2003 verlangten die Banken knapp 1 Prozent weniger Zinsen auf Dispokredite als Anfang 2009. Die Banken verdienen sich - ohne einen einzigen Handschlag gemacht zu haben mit der üppigen Zinsdifferenz weiterhin eine goldene Nase, und die Bankenaktien steigen. Das ist ein Skandal, ({0}) aber kein wirklich aktuelles Problem für eine Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages. Bereits am 17. März dieses Jahres - wir haben heute den 1. Juli - wurde in der FAZ über den Verdruss des Bundesbankpräsidenten Axel Weber über die deutschen Banken und ihre Zinspolitik berichtet. Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, erinnerte an die Verantwortung der Banken und forderte sie auf, die Zinsen zu senken: ohne Erfolg. Nur einen Tag später brachte unsere Fraktion, die Fraktion Die Linke, einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der eine Begrenzung des Zinssatzes bei Überziehungskrediten fordert. Wir wollen ein Verbot des Zinswuchers. ({1}) Für Dispositionskredite soll eine Höchstgrenze des Jahreszinssatzes festgeschrieben werden. Der Zinssatz soll auf maximal 5 Prozentpunkte über dem Basiszins begrenzt werden. ({2}) - Ich höre schon Zwischenrufe von der FDP. Bevor Sie wieder Staatssozialismus wittern, gebe ich Ihnen zur Kenntnis, dass es diese gesetzliche Regelung bei Verbraucherdarlehensverträgen bereits gibt. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, unseren Vorschlag, diese Regelung auch auf Dispositionskredite anzuwenden, nicht umzusetzen. Meine Damen und Herren von der SPD und der CDU/ CSU, Sie alle haben das Verhalten der Banken beklagt. Wenn Sie Ihre parlamentarische Arbeit ordentlich gemacht hätten, dann hätten wir schon im März dieses Jahres eine Lösung gehabt. Leider haben Sie sich bisher standhaft geweigert, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Hätten Sie damals zugestimmt, hätten wir heute eine Aktuelle Stunde über die positiven Wirkungen der gesetzlichen Regelung des Überziehungskredits haben und darüber diskutieren können, wie gut der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke gewirkt hat. ({3}) Aber Sie lassen sich lieber von den Bankmanagern weiter auf der Nase herumtanzen. Es ist doch unglaublich, dass diese Bundesregierung immer nur an die Vernunft der Bankmanager appelliert, aber niemals klare gesetzliche Vorgaben macht. Dass es mit der Vernunft der Bankmanager nicht weit her ist, haben wir in den letzten Monaten überdeutlich erlebt. Unser Vorschlag ist sinnvoll und leicht umsetzbar. Er setzt allerdings voraus, dass sich diese Bundesregierung mit den deutschen Banken anlegt. Doch dazu fehlte ihr bisher der Mut. Wir, die Linke, fordern die Bundesregierung auf, ihre wirkungslosen Appelle an die Vernunft der Bankmanager einzustellen und schnell klare gesetzliche Regelungen zu verabschieden, damit die Bürger nicht weiter von den Banken geschröpft werden können. Wir fordern sie auf, einen Beitrag zu leisten, die Umverteilung von unten nach oben endlich zu beenden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Manfred Zöllmer das Wort. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erhebliche Absenkung der Leitzinsen durch die Europäische Zentralbank ist eine der vielen Maßnahmen, die Banken wieder in die Lage zu versetzen bzw. sie zu ermuntern, sich erneut zu vertrauen, Geld zu leihen und zu verleihen, damit investiert wird. Es ist offensichtlich, dass dieser für die Wirtschaft überlebenswichtige Pro25592 zess noch nicht funktioniert. Die Banken haben sich rund 445 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank geliehen. Doch ein Großteil des Geldes ist wieder angelegt worden. Vertrauen sieht anders aus. Es geht hier aber nicht nur um die Unternehmensinvestitionen. Die größte Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist die Konsumgüternachfrage der privaten Haushalte. Dabei spielt auch der Teil der Konsumgüternachfrage eine wichtige Rolle, der kreditfinanziert ist. Leider müssen wir feststellen, dass bei den derzeitigen Zinssenkungszyklen in den letzten Monaten nur die Habenzinsen schnell nach unten angepasst wurden, die Sollzinsen entweder gar nicht oder nur mit zeitlicher Verzögerung. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind offensichtlich die neuen Melkkühe der Banken, da andere Profitquellen versiegt sind. Dies geht eindeutig zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Was ist zu tun? Seit der Aufhebung der Zinsverordnung vor über 40 Jahren, am 1. April 1967, können die Zinssätze zwischen Kreditinstitut und Kunden frei vereinbart werden. Liebe Kollegin Lötzsch, ich halte es für sinnvoll, nicht wieder zur Praxis in den 70er-Jahren zurückzukehren. Für die Linkspartei ist ja das Programm. ({0}) Bei Girokonten behalten sich die Kreditinstitute zumeist die Änderung des Zinssatzes in Zinsanpassungsklauseln vor. Diese Klauseln unterliegen dem Recht betreffend die AGBs. Der BGH hat hierzu entschieden - Frau Staatssekretärin Heinen hat eben darauf hingewiesen -, dass diese Klauseln eine Anpassungssymmetrie haben müssen. Das heißt, dass die Institute die Verpflichtung haben, Zinssätze nicht willkürlich zu erhöhen. Im Umkehrschluss gilt, dass daraus auch eine Verpflichtung zur Herabsetzung des Vertragszinses in Relation zur Marktzinsentwicklung resultiert. Ich erlaube mir hier den Hinweis, dass die Banken der Wettbewerbsaufsicht des Bundeskartellamtes unterliegen, aber auch die Verbraucherorganisationen die Möglichkeit haben, mögliche gesetzwidrige Praktiken im Zusammenhang mit den AGBs mit einer Unterlassungsklage zu verfolgen. Wir sollten sie ermutigen, das auch zu tun. Was erwarten die Verbraucherinnen und Verbraucher? Erstens. Wir haben aus der Finanzkrise mit den unzähligen geschädigten privaten Kleinanlegern eines gelernt: Wir müssen die Nachfrageseite des Finanzmarktes stärken. Wir brauchen eine außerhalb der BaFin existierende Aufsicht - eine Art Finanz-TÜV -, die den Markt systematisch und verbraucherorientiert beobachtet, auch den Bereich der Kreditzinsen. ({1}) - Erzählen Sie doch keinen Unsinn. ({2}) - Schauen Sie sich doch einfach die Anträge an, die auf dem Tisch liegen. - Es ist sinnvoll, dass etablierte Verbraucherorganisationen kooperieren und wir diese staatlicherseits stärken und unterstützen. Mit der Stiftung Warentest und den Verbraucherzentralen bestehen Institutionen, die dies leisten können. Barack Obama in den USA gibt ebenfalls ein Beispiel, wie das Ganze zu machen ist. Zweitens. Es gibt im Privatkreditgeschäft offensichtlich zu wenig Konkurrenz unter den Instituten. Der Wettbewerb muss gestärkt werden; die Existenz von mehr und auch kleineren Anbietern wird zu niedrigeren Zinssätzen führen. Vielleicht sollte man wirklich einmal überlegen, wie groß Banken eigentlich werden dürfen. Warum müssen sie systemisch sein? Warum können sie nicht kleiner sein und den normalen Untergangszyklen in einer Marktwirtschaft unterliegen? Drittens. Schließlich müssen sich die Verbraucherinnen und Verbraucher auch im Kreditmarkt so verhalten, wie es beim Konsumgüterkauf üblich ist: Preise vergleichen, mit den Instituten verhandeln oder den Anbieter wechseln. Auch ein Girokonto kann gewechselt werden. Es ist allerdings Fakt, dass die Kreditinstitute in vielen Fällen mit Lockvogelangeboten werben. Kaum jemand kommt in den Genuss des niedrigsten Zinssatzes. Da verschleiern und tricksen die Banken. Es darf nicht sein, dass die Banken von der Krise, die sie selbst verursacht haben, auch noch profitieren. Deshalb fordern wir: Herunter mit den Kreditzinsen! Dies ist gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher und auch für die Konjunktur. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, welche Privatkredite Verbraucher und Verbraucherinnen bekommen, ist das eine; das andere ist unsere wirtschaftliche Lage und die Überlegung, wie kleine und mittlere Unternehmen an die notwendigen Kredite kommen. Letzteres ist das, was uns eigentlich am meisten umtreibt. Die Bedingungen für diese Unternehmen sind schlechter geworden. Das bedeutet, dass wir nachweislich eine Kreditklemme haben. Wenn man einmal Revue passieren lässt, was in den letzten Monaten passiert ist und welche Hausaufgaben die Bundesregierung in diesem Kontext hätte machen können, dann wird klar, dass die Bankenrettung auf freiwilliger Basis gescheitert ist. ({0}) Die EZB und andere Notenbanken haben Geld in die Märkte gepumpt. Die Märkte wurden regelrecht geflutet. Das Geld versackt bei den Banken. Wir fragen uns, warum die Banken bei der Kreditvergabe knausern und die Zinsen erhöhen. Die Antwort liegt seit Monaten auf dem Tisch: Die Banken haben auf der einen Seite zu wenig Eigenkapital für neue Risiken, weil sie immer noch auf einem Berg von Schrottpapieren sitzen. Gleichzeitig haben sie kein Vertrauen in andere Banken, weil sie die Sorge haben, dass diese noch Leichen im Keller haben. Auch Ihr bombastisches Bankenrettungspaket von 480 Milliarden Euro hat nichts daran geändert. Dieses Trauerspiel müssen wir zur Kenntnis nehmen. ({1}) Auf der anderen Seite ist es klar, dass Banken Eigenkapital bilden müssen. Dazu müssen sie Gewinne erzielen. Diese Polster werden sie - die Insolvenzwelle kommt leider - dringend brauchen. Deswegen horten die Banken die Liquidität und heben die Kreditzinsen an; denn nur so können sie Geld verdienen. Das ist die Logik in dieser ganzen Angelegenheit. Es bringt nichts, wenn Finanzminister Steinbrück und Bundesbankpräsident Weber die Rufer in der Wüste spielen und an die Banken appellieren, mehr Kredite zu vergeben. Die Politik ist hier gefragt, und die Politik muss einen Strategiewechsel bei der Bankenrettung vollziehen. Andere Länder machen uns das vor. ({2}) Was ist zu tun? Erstens. Wir brauchen einen Stresstest nach US-Vorbild. Banken, die bei einem solchen Test schlecht abschneiden, sollen Rekapitalisierungsmaßnahmen nicht mehr ablehnen können. Zweitens. Notwendig ist, dass diese Banken ihre Schrottpapiere verbindlich und zu transparenten Bedingungen auslagern; denn nur so kann überhaupt Vertrauen in ein Neugeschäft entstehen. ({3}) Drittens. Es muss offengelegt werden, wohin die Steuermilliarden fließen. In den USA wird im Internet veröffentlicht, welche Bank von welchen Maßnahmen profitiert. Das Geld der Steuerzahler und der Steuerzahlerinnen, der Bürger und der Bürgerinnen hat den Totalcrash verhindert. Deswegen werden zu Recht mehr Transparenz und mehr parlamentarische Kontrolle eingefordert. ({4}) Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik konnten so wenige Menschen so viel Geld vergeben, ohne einer effektiven Kontrolle zu unterliegen. Das halten wir für skandalös. Auch hier muss mehr Transparenz geschaffen werden. Dazu braucht es eben diesen Strategiewechsel. Um diesen Strategiewechsel herbeizuführen, muss diese Regierung aber erst einmal zugeben, dass sie die Bankenrettung falsch angepackt hat. Hier sehen wir leider keine Einsicht. Aber wir können dazu gern verhelfen. ({5}) Der Kreditfluss stockt auch, weil die Banken nicht an einen baldigen Aufschwung glauben. Sie haben kein Vertrauen in die Konjunkturprogramme der Bundesregierung und sind deswegen sehr vorsichtig mit der Vergabe neuer Kredite. Tatsächlich kann von einem konjunkturellen Impuls durch die milliardenschweren Programme, die Sie aufgelegt haben - 80 Milliarden Euro! -, bisher keine Rede sein. Der gesamte Bereich der kommunalen Investitionen - Infrastruktur, energetische Sanierung, Instandsetzung - liegt noch brach. Sie müssen sich einmal klarmachen: Von den zur Verfügung gestellten Mitteln in Milliardenhöhe sind bisher nur 12 Millionen Euro abgeflossen. Das heißt, dass diese Konjunkturhilfe bei den kleinen Unternehmen und Handwerksbetrieben in den Kommunen noch gar nicht angekommen ist. Das muss sich dringend ändern. Die Kommunen müssen jetzt schnell Aufträge vergeben, und sie müssen - das gehört dazu - schnell zahlen können, damit das Geld in den Unternehmen ankommt. Unternehmen mit vollen Auftragsbüchern bekommen auch Kredite. Wir brauchen kein bürokratisches Monster, wie Sie es mit der Vergabe der Kommunalkredite durch Bund und Länder kreiert haben, sondern ein zügiges Vorgehen, vor allem im Bereich der energetischen Sanierung. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Olav Gutting das Wort.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Zentralbank hat im Zuge der Finanzkrise seit Oktober 2008 die Zinsen um insgesamt 325 Basispunkte gesenkt - ein richtiger Schritt. Nun muss auch dafür gesorgt werden, dass der Wirtschaft, dem Mittelstand, aber auch den Verbrauchern weiterhin genügend Kapital für Investitionen zur Verfügung steht. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn alle Kreditinstitute die Leitzinssenkungen schnellstmöglich an die Verbraucher und die Wirtschaft weiterreichen würden. ({0}) Ich glaube, insoweit sind wir uns hier im Hause alle einig. Warum wird diese Zinssenkung von den Instituten nun nicht eins zu eins weitergegeben? Es gibt zwar Auswirkungen auf den Markt; sie sind aber gering, weil die Zinssenkungen der EZB nur bei denjenigen Banken wirken, bei denen das Kreditgeschäft durch Refinanzierungsmittel bei der EZB finanziert ist. Das zeigt sich vor allem bei den Volksbanken, den Raiffeisenbanken und den Sparkassen. Sie finanzieren ihre Kreditmittel oftmals nicht bei der EZB, sondern überwiegend am Markt, und die Mittel auf dem Markt sind wiederum größtenteils Kundeneinlagen. Diese Kundeneinlagen sind mit unterschiedlichen Fristigkeiten versehen, auf die sich eine Zinssenkung frühestens bei der Fälligkeit auswirken kann. Hinzu kommt, dass die flüssigen Mittel zum Beispiel bei den Volksbanken, die diese mit kurzen Laufzeiten bei ihrer Zentralbank angelegt haben, durch die Zinssenkungen ebenfalls sofort weniger Erträge erzielen. Das heißt, bei sinkenden Zinsen bekommen die Banken für ihre eigenen Einlagen bei anderen Instituten auch weniger Zinsen. Deshalb ist es unredlich, wenn wir jetzt alle Banken pauschal beschimpfen und ihnen vorwerfen, dass sie die Zinssenkung nicht eins zu eins weitergeben. Wir müssen schon genauer hinsehen. Entscheidend ist dabei immer auch die Bilanzstruktur des jeweiligen Geldhauses. Wenn ein Großteil der Einlagen von Kunden wegen vereinbarter Fristigkeiten sozusagen gar nicht an den aktuellen Märkten hängt, dann verbilligen sich die Refi-Mittel durch die Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes so gut wie gar nicht oder eben nur mit einer entsprechenden zeitlichen Verzögerung. Vor diesem Hintergrund würde eine erzwungene Weitergabe der Zinssenkung nicht nur die Ertragslage vieler Banken erheblich beeinträchtigen, sondern diese Banken nahezu in den Ruin treiben. Das können wir nicht wollen. Bei der Anpassung der variablen Zinsen bei Darlehen und Kontokorrentkrediten sind immer die Bilanzstruktur und damit auch die Entwicklung der Refinanzierungskosten der Bank über alle Produkte hinweg maßgeblich. Sicherlich: Es gibt Institute in diesem Land, die die Zinssenkungen der EZB nicht in dem Umfang weitergeben, wie sie es eigentlich könnten, weil es ihre Bilanzstruktur zuließe. Diese Institute versuchen, aus der Situation Profit zu schlagen. Ich glaube, das ist nur vorübergehend möglich; denn wer in diesem Bereich die Schraube überdreht, wird früher oder später vom Markt abgestraft. Im Übrigen ist es doch so: Die Kunden haben die Möglichkeit, von dem aktuell günstigen Zinsniveau bei Konsumenten- und Wohnungsbaukrediten mit fester Zinsvereinbarung zu profitieren. Wer seinen Dispositionskredit langfristig in Anspruch nimmt, kann seine Zinsbelastung über eine Umschuldung in einen Konsumentenkredit merklich senken. Aber hier ist der Verbraucher gefordert, sich zu informieren und den Wettbewerb unter den Instituten zu seinen Gunsten zu nutzen. Nun mag es in Krisenzeiten, wie wir sie haben, schmerzen, aber wir sollten es bei diesem Thema wirklich dabei belassen, an die Banken zu appellieren; denn die schwarzen Schafe, die es in diesem Bereich gibt, wird der Wettbewerb früher oder später vom Markt drängen. Dass dieser Wettbewerb funktioniert, zeigt sich auch auf der anderen Seite: bei den Guthabenzinsen. Auch die Zinssätze bei den Tagesgeldkonten sind nicht im gleichen Umfang zurückgegangen, wie der Leitzins gesunken ist. Deshalb kann man abschließend sagen: Weniger Aufregung und mehr Aufklärung würden dieser Debatte sehr guttun. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehe ich zum Thema der Aktuellen Stunde komme, will ich doch noch eine Anmerkung zu dem Rundumschlag der Kollegin Christine Scheel machen; sie hat das ja sehr engagiert vorgetragen und sich dabei ziemlich in Rage geredet. ({0}) - Es klang ein bisschen so, als wenn du dich in Rage geredet hättest; egal. ({1}) Das Thema „Konjunkturpaket II“ ist keines, bei dem man sich in Rage reden muss, sondern ganz im Gegenteil: Es ist ein Thema, bei dem Applaus angesagt ist. ({2}) Das Konjunkturpaket II ist eine tolle Sache. Es hilft den Kommunen. Wenn man mit Vertretern der Kommunen spricht, dann hört man eigentlich nur Lob für dieses Konjunkturpaket II. Den Kommunen werden Mittel zur Verfügung gestellt, die der Bund alleine schultert. Das finden die Kommunen gut, und das kann man auch verstehen. ({3}) Mit den Geldern können, wollen und müssen die Kommunen die energetische Sanierung insbesondere ihrer Schulen finanzieren. In den Schulen führt man solche Maßnahmen in der Regel in den Sommerferien durch. Da die Sommerferien gerade erst vor der Tür stehen, ist klar, dass noch nicht sehr viele Mittel abgeflossen sein können. Das wird sich dramatisch ändern. Im Gesetz haben wir auch vorgesehen, dass die Hälfte der gesamten Programmmittel, wenn es eben geht, bis Ende des Jahres zu investieren ist. Ich bin zuversichtlich, dass das klappt. Übrigens, die Bild-Zeitung hat vor kurzem eine Untersuchung zu genau dieser Frage in Auftrag gegeben. Vor zwei Wochen ist man in dieser Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen: Das Paket beginnt zu wirken. - Man hat uns - das ist bei der Bild-Zeitung schon etwas Besonderes - für dieses Paket gelobt; das sollte man einmal festhalten. Jetzt aber zum Thema der Aktuellen Stunde - ich muss mich ein wenig beeilen; denn die Zeit läuft -: „Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der deutschen Banken“. Heute Morgen hat der Vorsitzende des Finanzausschusses zu Beginn der letzten Sitzung dieser Legislaturperiode eine kurze Bilanz gezogen und festgestellt: Es war viel Arbeit in den letzten vier Jahren. Das war immer schon so, auch in den vorherigen Legislaturperioden, aber insbesondere natürlich im letzten Jahr bedingt durch die Finanzkrise. Wir alle gemeinsam haben im Finanzausschuss, im Haushaltsausschuss und auch hier im Plenum mit dem Bankenrettungsschirm eine Menge Arbeit gehabt. Diesen haben wir nicht aufgespannt, weil es uns Spaß gemacht hat, sondern weil das die einzige Möglichkeit war, das Bankensystem vor dem Kollaps zu bewahren und damit auch die Einlagen der Sparerinnen und Sparer, die Einlagen von Versicherungen, von Lebensversicherungen, von Krankenversicherungen und anderen, zu sichern. Das hat, wie ich glaube, ganz gut funktioniert. Wir gehen in dieser Woche einen weiteren Schritt, und zwar am Freitag mit dem Bad-Bank-Gesetz, um den Banken nun wirklich auch jede Möglichkeit zu geben, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen, nämlich Kredite zu vergeben. Die EZB hat diese Politik der Bundesregierung, aber auch vergleichbare Politiken anderer europäischer Regierungen durch eine Zinssenkungspolitik begleitet: Der Leitzins wurde von 3,75 Prozent im Oktober letzten Jahres in mehreren Stufen bis heute auf 1 Prozent gesenkt. Außerdem hat sie in der letzten Woche die Märkte sozusagen mit Geld überschwemmt und geflutet. Geld ist also da; Liquidität ist vorhanden. Das heißt, die Bundesregierung, das Parlament und die EZB haben ihre Hausaufgaben gemacht. Es liegt jetzt an den Banken, ihrer Verantwortung auch gerecht zu werden. Die Aufgabe von Banken ist, Kredite zu vergeben. Wenn sie das nicht tun, haben sie ihre Existenzberechtigung verloren. Ihre einzige Aufgabe ist, Kredite zu vergeben. ({4}) Wir haben ihnen dazu das Instrumentarium an die Hand gegeben. Zu dem Problem, das unter dem Stichwort „Kreditklemme“ diskutiert wird, gibt es zwei Meinungen: Die eine lautet, es gibt sie. Die andere lautet, es gibt sie nicht. Ich glaube, die Wahrheit liegt dazwischen. Es gibt keine allgemeine Kreditklemme. Kollegin Arndt-Brauer hat ja vorhin darauf hingewiesen, dass viele Banken, Sparkassen, aber auch Genossenschaftsbanken, in diesem ersten Halbjahr mehr Kredite als im Vergleichszeitraum des vorigen Jahres ausgereicht haben. Wir hören aber umgekehrt aus der Wirtschaft, dass dort das Empfinden vorherrscht, dass Kreditlinien gekürzt werden, dass es schwieriger ist, an Kredite zu kommen, und dass höhere Zinsen verlangt werden. Ich glaube, beides ist richtig. Dass im Einzelfall höhere Zinsen verlangt werden, will ich gar nicht kritisieren. Da muss man genau hinschauen. Wir haben mit Basel II ja beschlossen, dass Kreditrisiken bewertet werden müssen und eine risikoadäquate Bepreisung der Kredite erfolgen muss. Das will ich also nicht kritisieren. Darüber hinaus muss man aber feststellen, dass die Banken insgesamt viel zu vorsichtig bei Kreditvergaben sind. Man muss auch festhalten, dass die Wirtschaftskrise gleichsam ein Kollateralschaden der Bankenkrise ist. Ohne Bankenkrise hätten wir keine Wirtschaftskrise. Also stehen die Banken aus meiner Sicht in einer ganz besonderen Verantwortung; denn von ihnen ging die Krise aus, und sie müssen nun auch dabei mithelfen, dass diese Krise überwunden wird. Dass die jetzige Lage für die Wirtschaft noch nicht dramatisch ist - nichtsdestotrotz kann sie noch dramatisch werden -, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Fremdfinanzierungsquoten, Herr Kollege Thiele - damit komme ich auf Ihre Ausführungen zurück -, heute deutlich besser als in den 80er-Jahren sind, als Sie regierten. Damals lagen die Fremdfinanzierungsquoten der deutschen Industrie im Durchschnitt bei etwa 85 Prozent, heute liegen sie im Durchschnitt bei etwa 60 Prozent. Das ist im Vergleich zwar immer noch hoch, aber die Situation insgesamt hat sich deutlich verbessert. ({5}) Das hat dazu beigetragen, dass die Unternehmen jetzt ganz gut durch die Krise kommen. Dafür hat sicherlich auch - der Zuruf von Staatssekretär Diller ist völlig richtig - das Steuerrecht gesorgt. Früher war es günstiger, sich hoch zu verschulden. Heute ist es günstiger, sich nicht so hoch zu verschulden. Wir sind hier also gemeinsam wohl auf dem richtigen Weg. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Scheelen, ich kann jetzt leider keine Zeitkredite ausreichen. Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme sofort zum Schluss. Ich bin eigentlich am Schluss meiner Rede. Ich will zum Ende nur noch sagen: Wir appellieren heute an die Banken. Ich glaube, der Weckruf des Bundesbankpräsidenten Weber ist zur rechten Zeit gekommen. ({0}) - Er hat es jetzt noch einmal deutlich gemacht. - Der Bundesfinanzminister und die Verbraucherministerin haben in dieselbe Kerbe geschlagen. Es liegt jetzt an den Banken, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Dabei wollen wir sie gerne unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Julia Klöckner das Wort. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die derzeitige Arbeitsteilung, wonach die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Bürgerinnen und Bürger, für die solidarische Beschaffung des Geldes und die Banken für die individuelle Verwaltung der Schatztruhe zuständig sind, funktioniert nicht. Das führt zu erheblichen Unruhen. Jeder von Ihnen, der im Wahlkreis unterwegs ist, kennt sicherlich folgende Situation: Man kommt mit Unternehmerinnen und Unternehmern oder Verbraucherinnen und Verbrauchern ins Gespräch, die sich darüber ärgern, dass sie recht niedrige Zinsen bekommen, wenn sie Geld bei einer Bank anlegen, aber ein Vielfaches dieser Zinsen zahlen müssen, wenn sie zu derselben Bank gehen und Geld leihen wollen. ({0}) Natürlich liegt zwischen Spar- und Kreditzinsen eine Marge, aber die Frage ist, ob diese angemessen ist. Dass es, wenn die Leitzinsen gesenkt werden, sehr lange dauert, bis die Kreditzinsen der Banken, wenn überhaupt, angepasst werden - Frau Heinen hat eben erwähnt, dass diese bei der Berliner Sparkasse sogar noch erhöht wurden -, dass aber, wenn die Leitzinsen angehoben werden, diese Erhöhung sofort weitergegeben wird, erinnert mich sehr an die Kopplung des Gaspreises an den Ölpreis: Herauf geht es schnell, herunter aber nur langsam und selten. Wir werden uns in dieser Woche noch mit vielen Themen beschäftigen, bei denen es um das Verhältnis zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und Banken geht. Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wurde heute die Verbraucherkreditrichtlinie behandelt. In Zukunft darf in Zeitungsanzeigen oder anderen Werbebotschaften für Kredite nicht mehr mit Lockzinsen geworben werden, die eigentlich für kaum einen Antragsteller gelten. Die meisten haben nicht einen Zins von 2 Prozent, sondern von 12 Prozent oder 14 Prozent zu zahlen. Dies werden wir ändern. Derartige Lockvogelangebote darf es zukünftig nicht mehr geben. Vielmehr muss der versprochene Zinssatz in zwei Dritteln der Fälle auch tatsächlich verfügbar sein. Über das Schuldverschreibungsgesetz werden wir am Freitag diskutieren; darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Die Verbraucher, die Unternehmer und wir Politiker sehen es nicht länger ein, an der Nase herumgeführt zu werden. Es darf nicht sein, dass just diejenigen die Sieger in der Finanzkrise sind, die in erheblichem Maße zu ihrer Verursachung beigetragen haben. Es ärgert mich sehr, wenn diese jetzt die größten Profiteure der Krise sind. Deswegen freue ich mich über die klaren Worte von Herrn Weber; Kollege Otto Bernhardt wird später darauf noch eingehen. Ich bin sehr erstaunt darüber, dass die Commerzbank jetzt einen Sprechzettel mit Argumenten vorbereitet hat, mit denen man auf diese Debatte antworten kann; denn an Argumenten fehlt es doch gerade. Ich finde, dass die Kritik gerechtfertigt ist. Da die Banken für die Kreditvergabe untereinander noch günstigere Konditionen als den Leitzins haben, kann es nicht sein, dass uns immer wieder gesagt wird, dass die überhöhten Zinsen daran liegen, dass sie nicht günstig Geld beschaffen könnten. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass die Banken das billige Geld lieber irgendwo sicher anlegen, als es in Verkehr zu bringen. Ich bin dankbar für die Arbeit der Stiftung Warentest, die folgende Rechnung aufgemacht hat: Zwischen Juni 2008 und April 2009 haben das billige Leihen von Geld und die Weitergabe zu nicht so günstigen Bedingungen dazu geführt, dass die Banken über zusätzliche 1,3 Milliarden Euro verfügen. Das ist nicht im Sinne des Erfinders; denn das Geld kommt nicht da an, wo es ankommen soll. ({1}) Letztlich geht es darum, dass wir alle etwas für das Allgemeinwohl tun müssen. Es darf nicht sein, dass nach dem Steuerzahler und dem Staat gerufen wird, wenn etwas in Schieflage gerät, und dass, sobald es besser wird, die Gebührenkeule zuschlägt - hier wird die Asymmetrie erkennbar -, wenn ein Kleinkunde seinen Kredit abbezahlen muss und die Bank nicht wechseln kann. Das ist weder fair noch vorausschauend, und es führt auch nicht dazu, dass wir in Ruhe und solidarisch miteinander agieren können. Es kann meiner Meinung nach nicht sein, dass sich diejenigen, die Hilfe vom Staat bekommen, so verhalten, als seien sie die Herren der Schatztruhe. Ich finde es richtig, dass unsere Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner das Gebaren der Banken jetzt in ihrem Haus untersuchen und dokumentieren lässt. Denn die Union steht dafür, dass das Geld bei denen ankommt, für die wir es vorgesehen haben. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett für die SPDFraktion. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Die Europäische Zentralbank hat die Leitzinsen seit Oktober 2008 von 4,25 auf 1 Prozent gesenkt, also in neun Monaten um 325 Basispunkte. Die Banken im Euroraum können sich jetzt zum Hauptrefinanzierungssatz in jeder beliebigen Kredithöhe refinanzieren. Ziel ist, dass solvente Banken in die Lage versetzt werden, Kredite zu marktgerechten Konditionen an Unternehmen und auch an private Haushalte zu vergeben. Das Kreditvergabeverhalten der Banken soll also positiv beeinflusst werden. Die Senkung der Leitzinsen durch die EZB muss an den Kunden weitergegeben werden. Es ist sicherzustellen, dass die Wirtschaft genügend zinsgünstige Kredite für notwendige Investitionen zur Verfügung hat. Eine Kreditklemme - das wurde schon angesprochen - ist zu verhindern; denn sie führt nur zu mehr Firmenpleiten und Arbeitsplatzverlust. Die Liquiditätsspritze hat also nicht in erster Linie das Ziel, die Banken aus der von ihr mitverursachten Krise zu retten oder sogar deren Gewinn zu erhöhen, sondern sie dient der Realwirtschaft mit kostengünstigen Krediten, um die Konjunktur wieder zum Laufen zu bringen bzw. am Laufen zu halten. Nicht ohne Grund überlegt jetzt Bundesbankpräsident Weber, dass in dem Fall, dass die niedrigen Zinsen nicht weitergegeben werden, die Wirtschaft direkt gestützt werden muss, wie es auch in den USA jetzt geschieht. Die dortige Notenbank kauft die Papiere der Unternehmen direkt, um so unmittelbar in das Marktgeschehen einzugreifen. Selbst der ifo-Chef, Herr Sinn, bemerkt, dass seiner Meinung nach die Banken darauf hinsteuern, das Geld eher zu horten und anzulegen, als es in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Dagegen verweist der Präsident des Bundesverbands deutscher Banken, Andreas Schmitz, darauf, dass die Bonität der Kunden während der Rezession sinkt und deswegen die Banken zögerlich bei der Kreditvergabe sind. Daraus erwächst aber die Gefahr, dass eine Spirale in Gang gesetzt wird: Wenn die Außenstände der Unternehmen hoch sind, weil die Zahlungsmoral ihrer Kunden, von denen sie abhängig sind, schlecht ist, da diese sich durch längere Zahlungsziele Vorteile verschaffen wollen, dann haben die Unternehmen oft nur sehr knappe Betriebsmittel und brauchen, um ihrerseits Rechnungen bezahlen und Investitionen tätigen zu können, Geld von der Bank. Aber weil ihnen plötzlich die Luft ausgegangen ist, werden sie von den Banken heruntergestuft und kommen noch schwerer an Kredite, was bis zur Insolvenz führen kann. Noch schlimmer sieht es derzeit bei Existenzgründern aus. Sie haben oft keine gute Bonität, weil ihr Unternehmen erst kürzlich gegründet wurde bzw. sie viel zu kurz am Markt sind. Dabei bemängeln wir doch ständig, dass die Gefahr besteht, dass Deutschland zu einer Gründungswüste wird. Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir haben mit dem Konjunkturpaket I die Stabilisierung des Bankensystems erreicht, und das Gesetz zur Bad Bank werden wir wahrscheinlich noch in dieser Woche verabschieden. Ich weiß, dass die Mittel, die wir in den Kreislauf gegeben haben, eine erhebliche Belastung für die öffentlichen Haushalte sind, weshalb wir für die Banken, die Geld von uns bekommen, entsprechende Auflagen und eine Aufsicht vorgesehen haben. Durch das Konjunkturpaket II - darüber wurde ebenfalls schon gesprochen - werden der Arbeitsmarkt, die Privathaushalte und, nicht zu vergessen, auch die Kommunen stabilisiert. Was wir jetzt brauchen, ist ein Mitmachen der Banken; denn sie sind Teil des Systems und können sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Die günstigen Bedingungen, die die Europäische Zentralbank für die Banken schafft, müssen - ich sage es noch einmal - von diesen weitergegeben werden. Denn gerade die Banken haben jetzt die Verpflichtung, mitzuhelfen, den Wirtschaftsmotor zum Laufen zu bringen bzw. am Laufen zu halten; sie dürfen ihn nicht abwürgen. Vorsicht, wie Sie vorhin gesagt haben, ist für Banken sicherlich angeraten. Aber wer sie als Monstranz, als Grund für Kreditversagung vor sich herträgt, schadet letztendlich sich selbst. ({0}) Genauso ist es auch unangemessen, wenn Banken jetzt von zweistelligen Renditen reden, die sie wahrscheinlich teilweise dank des EZB-Geldes erwirtschaften. Sie sollten die Zinssenkungen der EZB an ihre Kunden weitergeben. Nur das ist gerecht und in dieser Krise ein wichtiges Mittel, um die private Nachfrage anzukurbeln. Ich frage mich deshalb: Wie lange gibt es noch hohe Renditen in der Finanzwirtschaft, in dieser irrealen, virtuellen und nicht existierenden Wirtschaft, während die Realwirtschaft in die Knie geht, weil ihr die Mittel für Investitionen ausgehen? Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die Unionsfraktion.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Wahrnehmung von Kredithürden und Kreditklemmen ist natürlich sehr unterschiedlich. Die letzten Untersuchungen des Ifo-Instituts von Ende Juni zeigen, dass 54 Prozent der Unternehmen mit über 1 000 Beschäftigten - es sind nicht so sehr die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Kollege Thiele - eine Kredithürde beklagen. Die letzte Umfrage von den Industrieund Handelskammern kommt im Prinzip zu dem gleichen Ergebnis. Auf dem Geldmarktsektor gibt es drei Säulen: Privatbanken, Sparkassen und Volksbanken. Die Privatbanken refinanzieren sich überwiegend auf dem Interbankenmarkt. Auf diese trifft der Vorwurf des Bundesbankpräsidenten Weber ohne Wenn und Aber zu. Die Sparkassen und die Volksbanken refinanzieren sich überwiegend nicht am Interbankenmarkt. Aber auch sie müssen Fragen beantworten; denn auch bei den Sparkassen sind die Einlagenzinsen überwiegend nicht höher als 1 Prozent. Es gibt keine wesentlichen Unterschiede bei Zinsen für Ratenkredite, Überziehungs- oder Dispokredite im Vergleich zu denen der Privatbanken. Die Sparkassen haben allein 111 Milliarden Euro mehr an Einlagen, als sie an Krediten ausgereicht haben. Ich hebe hier deswegen auf die Sparkassen ab, weil wir ja ihre besondere Bedeutung für den Mittelstand sehen müssen. Die Sparkassen haben schon wegen ihrer regionalen Verankerung eine deutlich andere Funktion als Privatbanken. Außerdem gilt: Nicht jede Sparkasse kann das Thema Landesbank als Problem anführen. Besonders spannend ist, was heute die Commerzbank herausgegeben hat. Die Commerzbank, die unter den staatlichen Schutzschirm gekommen ist, hat am 8. Mai in einer Pressemitteilung geäußert, dass sie Schiffsfinanzierungen - dies betrifft unter anderem auch meinen Wahlkreis - nur selektiv bzw. gar nicht mehr machen will. Die Commerzbank sollte sich einmal genau das Finanzmarktstabilisierungsgesetz durchlesen. Was nun heute von der Commerzbank herausgegeben worden ist, halte ich in Teilen schlichtweg für Verdummung. Es wird davon gesprochen, der harte Wettbewerb um Spareinlagen von Privaten habe dazu geführt, dass deren Zinssätze nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers nicht gesunken seien und sie daher inzwischen über dem EZB-Leitzins lägen. Von Oktober 2008 bis Dezember 2008 lagen die Zinsen für Festgeld noch bei 4 bis 5 Prozent. Wie hoch sind sie heute? Weiter heißt es dort, die Zentralbankzinsen würden von den Banken derzeit genauso wirksam in Kreditzinsen übersetzt wie in der Vergangenheit. Der Kreditkanal der Geldpolitik funktioniere also. Wer sich die Spreizung zwischen dem EZB-Zinssatz in Höhe von 4,25 Prozent zu den Hypothekenkreditzinsen vor einem Jahr anschaut, der erkennt einen Unterschied von 150 Basispunkten. Heute liegen die EZB-Leitzinsen bei 1 Prozent, und die Zinsen für Kredite sind eher auf dem gleichen Niveau geblieben. Deswegen kann ich nur an die Bank appellieren, mit dieser Verdummung - ich nehme diesen Begriff bewusst in den Mund - endlich aufzuhören. Frau Kollegin Scheel, noch eine Bemerkung zum Konjunkturpaket II. Die Baubetriebe bei mir vor Ort sagen mittlerweile: Macht nicht so schnell mit der Umsetzung. Wir haben im Augenblick noch genug Aufträge. Es ist besser, wenn noch etwas für das nächste Jahr übrig bleibt. - Insoweit glaube ich, dass man auch dieses Problem realistisch betrachten muss. Außerdem sagen sie: An den Ausschreibungen merkt man, dass das Konjunkturpaket II vor Ort wirkt. - Hieran wird deutlich, dass wir zielorientiert handeln. Ich möchte einen weiteren Bereich ansprechen: die Warenkreditversicherung. Hier handelt die Bundesregierung schnell. Sie hat heute im Wirtschaftsausschuss vorgetragen, dass der Bund, weil sich die privaten Kreditversicherer aus dem Akkreditivbereich fast völlig zurückgezogen haben, eine Lösung finden wolle. Denn wenn die Zulieferer keine Kreditversicherung mehr bekommen, dann ist Vorkasse sehr schnell ein Thema für den Hauptauftraggeber. Eine Abschlussbemerkung. Sicher gibt es eine weit wahrnehmbare Kredithürde, aber noch keine flächendeckende Kreditklemme. Gleichwohl ist das gewichtige Wort des Bundesbankpräsidenten richtig, dass sich die Banken - so übersetze ich das - ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung stellen müssen. In diesem Sinne verstehe ich auch diese Aktuelle Stunde. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die Unionsfraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat im Oktober des vergangenen Jahres in einem Kraftakt einen 480-Milliarden-Euro-Schirm für die Banken gespannt. Wir haben das nicht aus Liebe zu den Banken gemacht - das haben wir damals alle erklärt -, sondern wir haben dieses Paket beschlossen, damit die Banken weiterhin ihrer zentralen Aufgabe, die deutsche Wirtschaft mit Krediten zu versorgen, nachkommen können. Einen kleinen Teil der Aufgabe haben wir noch nicht gelöst. Das werden wir am Freitag tun, indem wir den Banken die Möglichkeit geben, sich von ihren schlechten Papieren zu trennen und gegebenenfalls ganze Geschäftsbereiche auszusondern. Damit haben wir unsere Aufgabe erfüllt. Die Europäische Zentralbank hat ihre Aufgabe auch erfüllt. Sie hat zum einen die Zinsen deutlich gesenkt und zum anderen in erheblichem Umfang neue Liquidität zur Verfügung gestellt. Außerdem hat sie sich bereit erklärt - das ist fast ein wenig untergegangen -, die 442 Milliarden Euro, die jetzt in der Diskussion stehen, den Banken für zwölf Monate zu geben. Bisher waren das nur sechs Monate. Trotz all dieser Anstrengungen stellen wir fest, dass immer mehr Betriebe Probleme haben. Jeder kennt das aus seinem Wahlkreis: Da kommt jemand in die Sprechstunde oder ruft an und sagt: Ich habe Probleme, Kredite zu bekommen. - Alle drei Bankenverbände haben auf die Kritik, die wir an die Bankenverbände gerichtet hatten, mit konkreten Zahlen geantwortet. Alle drei Bankenverbände haben gesagt, dass die von ihnen vertretenen Banken im ersten Quartal dieses Jahres Kredite in einem etwas höheren Umfang vergeben haben als im ersten Quartal des vergangenen Jahres. Trotzdem sage ich: Es gibt zwar keine generelle Kreditklemme, aber in vielen Bereichen gibt es sie dennoch. Zwei Dinge muss man bei diesen Zahlen berücksichtigen: Der eine Punkt ist, dass sich fast alle ausländischen Banken von der Kreditvergabe in Deutschland verabschiedet haben, zum Teil haben sie sich davon verabschieden müssen. Dadurch ist ein großes Loch entstanden. Der zweite Punkt ist, dass ich in schwierigeren Zeiten, in Zeiten, in denen meine Kunden nicht so schnell zahlen, die Kreditversicherer sich zurückziehen und meine Umsätze zurückgehen, natürlich mehr Kredite brauche. Wenn Sie das zusammenfügen, kommen Sie zu dem Ergebnis: Wir haben in einigen Bereichen Probleme. Nun ist mir klar, dass der Chef einer Sparkasse oder einer Volksbank nicht volkswirtschaftlich entscheiden kann und wird. In den Jahren, in denen ich Banken geleitet habe, ging es auch mir im Wesentlichen darum, sicherzustellen, dass mein Institut vernünftige Zahlen schreibt. Der Chef einer Sparkasse oder einer Volksbank kann nur betriebswirtschaftlich denken. Vor diesem Hintergrund haben wir ja KfW-Programme geschaffen, die 15 Milliarden Euro bzw. 100 Milliarden Euro umfassen. Ich glaube nicht, dass es Sinn hat, jetzt zu Zwangsmaßnahmen überzugehen. Meiner Meinung nach ist der Appell des Präsidenten der Deutschen Bundesbank zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Professor Weber genießt Autorität in der deutschen Wirtschaft, und es ist fast besser, dass er auf diese Probleme aufmerksam macht. Es ist schon bezeichnend, wenn der Präsident erklärt: Sollte sich das verschärfen, denke ich darüber nach, ob ich direkt auf die Firmen zugehe, indem ich das mache, was in Großbritannien und den USA getan wird, wo man nämlich direkt Unternehmensanleihen aufkauft. - Dies wäre ein Weg; aber das hilft unserem Mittelstand - das sage ich ganz vorsichtig - natürlich nur sehr begrenzt. Bei allem Verständnis für betriebswirtschaftliche Entscheidungen von Banken und bei allem Verständnis dafür, dass die Risiken in einer Rezession beachtet werden müssen - in einer allgemeinen Rezession nehmen die Risiken natürlich zu; ich bin sicher, die einzelnen Bankdirektoren machen es sich nicht einfach -, appelliere ich von dieser Stelle aus, ähnlich wie der Präsident der Deutschen Bundesbank, an die Banken: Versucht in eurem eigenen Interesse, ein bisschen mehr an dieser Front zu machen; versucht, die Zinssenkungen ein Stück mehr an die Kunden weiterzugeben! Ihr leistet damit einen Beitrag, der letztlich auch euch zugutekommt. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Juli 2009, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.