Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/14/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich, wünsche uns allen einen guten Morgen sowie für den heutigen Tag und insbesondere die unmittelbar folgende Debatte besonders gute und intensive Beratungen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Dr. Klaus Lippold begeht heute seinen 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses herzlich. ({0}) Dieses beachtliche Ereignis haben in den vergangenen Tagen noch vier weitere Kollegen feiern können, und zwar der Kollege Wolfgang Spanier am 30. Januar, der Kollege Paul Friedhoff am 2. Februar, der Kollege Ernst Hinsken am 5. Februar und der Kollege Dr. Hakki Keskin am 12. Februar. Auch ihnen gelten unsere herzlichen Glückwünsche. ({1}) Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der Kollege Clemens Bollen ebenfalls am 12. Februar seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. Auch ihm gelten meine herzlichen Glückwünsche. ({2}) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 28. November 2007 „Der Aufschwung kommt bei den Menschen an“ und die wirkliche Situation in Deutschland ({3}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen - Drucksache 16/8044 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Bahnprivatisierung am Parlament vorbei - Drucksache 16/8046 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Haltung der Bundesregierung zu einer räumlichen und personellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden - Drucksachen 16/5587, 16/6497 Redetext

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Bernd Schmidbauer Gert Weisskirchen ({0}) Dr. Norman Paech ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Aufsichtsstruktur der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({1}) - Drucksache 16/7078 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 16/8083 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Nina Hauer Frank Schäffler ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Katherina Reiche ({3}), Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht durch europäische Vorgaben für einen Zertifikatehandel unterlaufen werden - Drucksache 16/8047 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({4}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle von EU-Agenturen - Drucksache 16/8049 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 8 morgen nach dem Tagesordnungspunkt 23 aufzurufen. Der Tagesordnungspunkt 24 soll zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 22 beraten werden. Die Tagesordnungspunkte 15 und 16 sowie 17 und 18 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungspunkt 21 wird abgesetzt. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 133. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken ({6}) - Drucksache 16/7438 überwiesen: Finanzausschuss ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ich frage, ob irgendjemand mit den vorgesehenen Veränderungen nicht einverstanden ist. - Das ist offen- kundig nicht der Fall. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes - Drucksache 16/7981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche ({9}) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes - Drucksache 16/7982 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen ({11}) - Drucksache 16/7983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Priska Hinz ({13}), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten einPräsident Dr. Norbert Lammert gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes - Drucksache 16/7984 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({15}), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiterer Abgeordneter Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz - Adulte Stammzellforschung fördern - Drucksache 16/7985 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Diese Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner der unterschiedlichen Anträge verteilt werden. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich darauf verständigt, dass aufgrund der großen Anzahl der Redewünsche und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprache die Reden der Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Ich vermute, dass es auch dazu Einvernehmen gibt. - Das ist der Fall. Dann verfahren wir genau so. Diejenigen, die die Debatte an den Bildschirmen verfolgen, weise ich darauf hin, dass im Unterschied zu dem in diesem Haus sonst üblichen Verfahren keine Fraktionszugehörigkeiten angezeigt werden. Das mag den einen oder anderen zunächst irritieren, erklärt sich aber aus der Debattenlage; denn wir verhandeln nicht über Gesetzesinitiativen oder Anträge von Fraktionen, sondern über Anträge, die quer durch das Haus Unterstützung von Mitgliedern der einen wie der anderen Fraktion gefunden haben, sodass eine Diskussionslage deutlich wird - das wird sich in der Debatte gleich ganz sicher herausstellen -, die mit den Fraktionszugehörigkeiten nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen René Röspel. - Bitte schön, Sie haben das Wort. ({17})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sechs Jahren haben wir an dieser Stelle eine grundsätzliche Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen geführt. Vorangegangen war der Antrag eines Forschers an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, sich den Import embryonaler Stammzelllinien aus dem Ausland finanzieren zu lassen. Es gab damals in Deutschland keine Rechtslage, wie damit zu verfahren ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Antrag so lange zurückgestellt, bis die Politik ein Votum dazu abgeben konnte. Wir haben viele Monate, fast anderthalb Jahre, in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Politik und im Parlament sehr intensiv darüber diskutiert. Die EnqueteKommission hat im November 2001 einen sehr umfassenden und auch heute noch lesenswerten Bericht zur Stammzellforschung abgegeben. Der Nationale Ethikrat folgte wenige Wochen später. Wir haben damals sehr viele Fragen aufgeworfen: Ab wann beginnt das menschliche Leben? Ist der Embryo schon vom ersten Tag an Träger der Menschenwürde? Wie geht man mit Stammzelllinien um, die ohne unser Zutun - aber auch, ohne dass wir es hätten verhindern können - im Ausland aus Embryonen hergestellt worden sind? Wie stark kann Forschungsfreiheit eingeschränkt werden? Wir haben weder als Enquete-Kommission noch in den Debatten allgemeingültige Antworten finden können; das wäre bei dieser ethischen Frage auch nicht möglich gewesen. Aber wir haben für die Grundsatzentscheidung, die alle Mitglieder dieses Hauses für sich allein und ihrem Gewissen verpflichtet am 30. Januar haben treffen müssen, Entscheidungshilfen geben können. Die übergroße Mehrheit hat damals entschieden: Für deutsche Forschung soll kein Embryo zerstört werden. Margot von Renesse, eine ehemalige Kollegin, drückte es damals so aus: nicht in Deutschland und auch nicht im Ausland. Es sollte von Deutschland aus kein Anreiz an das Ausland gehen, dies zu tun. ({0}) Aber deutsche Forscher sollten - das war der Grundsatzbeschluss 2002 - unter bestimmten Bedingungen mit bereits existierenden Stammzelllinien arbeiten dürfen. Diese Grundsatzentscheidung führte zum Stammzellgesetz, das wir im April 2002 beschlossen haben und das den sogenannten Stichtag enthält, das heißt, vor dem 1. Januar 2002 im Ausland hergestellte embryonale Stammzelllinien durften und dürfen nach Deutschland importiert werden. Auch wenn ich persönlich bei der Grundsatzentscheidung 2002 gegen den Import gestimmt habe, so habe ich den Kompromiss, das Stammzellgesetz, im April 2002 mitgetragen, und zwar aus guter Überzeugung. Er ist möglicherweise ein ethisch nicht hundertprozentig konsequenter Kompromiss - wir haben es auch nie als Kompromiss bezeichnet, sondern als Mittelweg -, aber er war ein guter politischer und guter gesellschaftlicher Kompromiss. ({1}) Denn er hat die lange Debatte, die vorher stattfand, befriedet. Dieser Rechtsfrieden hat auch seinen Wert. Ich bin froh, dass es sechs Jahre lang gut vonstatten gegangen ist. Heute und in den nächsten Wochen geht es darum, ob dieser Kompromiss, dieser Mittelweg, Bestand hat, ob er auf Dauer in den nächsten Jahren lebensfähig bleibt. Dazu gehört nicht nur die Einhaltung der ethischen Grenzlinien, die wir 2002 gezogen haben, sondern eben auch die Einhaltung des Versprechens an die Forschung, mit Stammzellen arbeiten zu können. Genau das ist der Punkt, über den wir heute und in den nächsten Wochen diskutieren werden. Während der Grundsatzdebatte 2002 sind wir davon ausgegangen - das stand auch so im Enquete-Bericht -, dass weltweit etwa 60 Stammzelllinien existieren. Mittlerweile wissen wir: Heute sind für deutsche Forscher 21 Stammzelllinien verfügbar. Ich würde mir wünschen, dass die deutschen Forscher mit diesen Stammzelllinien noch viele Jahre arbeiten könnten; wer je mit Zellkulturen gearbeitet hat, weiß aber, dass sie sich verändern. Nach meiner Einschätzung ist absehbar, dass mindestens ein Teil dieser Stammzellen, die es heute noch für deutsche Forscher gibt, nicht mehr für die intendierten Forschungszwecke zu gebrauchen sein werden. Im Antrag der Kolleginnen und Kollegen Hinz, Klöckner, Hüppe und anderer wird diese Position bestätigt. Ich zitiere: Probleme, die durch die Kultivierung von menschlichen embryonalen Stammzellen entstehen wie genetische/epigenetische Veränderungen, treten bei allen menschlichen embryonalen Stammzellkulturen auf. Embryonale Stammzellen sind im Allgemeinen instabil. Um über genetisch/epigenetisch stabile Kulturen zu verfügen, müssen diese regelmäßig ersetzt, also immer wieder neue Embryonen getötet werden. Weiter unten heißt es: … da auch neue embryonale Stammzelllinien durch die Kultivierung genetische/epigenetische Veränderungen aufweisen und damit unbrauchbar werden. Ich sage: Das gilt natürlich erst recht für die 21 bestehenden Stammzelllinien. Auch sie werden sich verändern, und zwar nachhaltig. Neue Embryonen zu töten, wie es in dem Zitat zum Ausdruck kommt, wäre mit den im Jahre 2002 vereinbarten ethischen Grundlinien nicht vereinbar. Ich glaube, dafür gäbe es auch in diesem Hause keine Mehrheit. Ist denn der Ersatz oder die Ergänzung der bestehenden Stammzelllinien möglich, ohne diese Grenzlinien zu überschreiten? Wie unserem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, meinen wir: Ja, das ist möglich, nämlich mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007. Dann würde es dabei bleiben, dass erstens für deutsche Forschung kein Embryo zerstört wird und dass wir dadurch zweitens dem Ausland keinen Anreiz geben, dies zu tun. Denn es ist nicht anzunehmen, dass bis zum 1. Mai 2007 irgendjemand im Ausland damit gerechnet hätte, für Deutschland Stammzelllinien produzieren zu können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass laut DFG weltweit mittlerweile etwa 500 Stammzelllinien beschrieben und anders, besser, etablierter und stabiler in Kultur gehalten sind, als es die von vor sechs Jahren waren. Vielleicht werden für deutsche Forscher in einiger Zeit 200 oder noch mehr Stammzelllinien verfügbar sein. Das würde für viele Jahre guter Forschung reichen. Meine Damen und Herren, im Jahre 2002 haben wir aus meiner Sicht einen guten Weg eingeschlagen. Die rot-grüne Bundesregierung hat den ethisch unproblematischen Weg der adulten Stammzellforschung deutlich breiter angelegt und darin investiert. Frau Bundesministerin Schavan hat sogar noch eine Schippe draufgelegt. Sie setzt diesen Kurs hervorragend fort. Beispielsweise hat sie ein Programm zur Reprogrammierung von Stammzellen zur Förderung ausgeschrieben. Das ist ein vielversprechender Bereich. Wir haben in der letzten Zeit viel von den Arbeiten des japanischen Forschers Yamanaka gehört. Er hat es tatsächlich geschafft, normale Hautzellen des Menschen so weit zurückzuprogrammieren bzw. in einen Zustand zurückzuversetzen, der fast dem einer embryonalen Stammzelle gleicht. Daran wird das große Potenzial deutlich, das sich aus der Entwicklung anderer Zellkulturarten ergibt. Das ist ein ethisch unproblematischer Weg - so scheint es zumindest. Das ist nämlich nur dann der Fall, wenn diese Hautzellen tatsächlich nicht zu embryonalen Stammzellen zurückentwickelt werden, die Alleskönner sind. Um das zu verhindern und die Grenze einzuziehen, dass diese Hautzellen nicht so weit zurückentwickelt werden, dass sie wieder zu embryonalen Stammzellen werden, braucht man zum Vergleich sicherlich embryonale Stammzellen. Denn man muss der Frage nachgehen: Wann weisen diese Hautzellen die typischen Charakteristika einer Stammzelle auf? Möglicherweise bzw. vermutlich betont der japanische Forscher Yamanaka, dessen erklärtes Ziel es ist, dazu beizutragen, dass zukünftig auf embryonale Stammzellforschung verzichtet werden kann, dass aus seiner Sicht in nächster Zukunft noch nicht auf embryonale Stammzellforschung verzichtet werden kann. Meine Damen und Herren, die Unterstützer unseres Gesetzentwurfes kommen aus durchaus unterschiedlichen Richtungen. Frau Aigner und ich haben im Jahr 2002 gegen den Import gestimmt, Kollege Tauss und Kollegin Reimann dafür. Es gab sicherlich einige, die damals noch weiter hätten gehen wollen und gehen können. Wir haben uns zusammengefunden, weil wir ein gemeinsames Interesse verfolgen: Wir wollen den Kompromiss, besser gesagt den Mittelweg von 2002 am Leben erhalten und fortführen. ({2}) Die anderen Vorschläge, die gemacht werden - die embryonale Stammzellforschung ganz zu verbieten oder den Stichtag abzuschaffen -, würden das sofortige Ende dieses Kompromisses bedeuten. Den Stichtag unverändert beizubehalten, wie es in einem anderen vorliegenden Antrag vorgesehen ist - ich habe ausgeführt, dass die Zahl der Stammzelllinien sinken wird -, würde zu einem Austrocknen dieses Kompromisses führen und hätte sein schleichendes oder vielleicht sogar schnelles Ende zur Folge. Das wäre falsch. Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtages wollen wir den erfolgreichen Mittelweg weiter beschreiten. Wir wollen keine Embryonen zum Zweck der deutschen Forschung zur Verfügung stellen und dem Ausland keinen Anreiz geben, das für die deutsche Forschung zu tun. Wir wollen aber gewährleisten, dass deutsche Wissenschaftler in den nächsten Jahren genug Arbeit haben. Ich lade Sie ein, den erfolgreichen Weg dieses Kompromisses, der Rechtsfrieden im Land gebracht hat, mit uns weiterzugehen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Priska Hinz.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits seit über einem Jahr gibt es massive Forderungen, vor allem aus der Forschung, die Politik solle das Stammzellgesetz ändern. Herr Röspel hat Ihnen mitgeteilt, dass es vor sechs Jahren nach schwieriger Abwägung zu einer großen Mehrheit in diesem Haus dafür kam, einen Mittelweg zu beschreiten und ein Stammzellgesetz zu beschließen, das den Embryonenschutz hochhält, aber gleichzeitig die embryonale Stammzellforschung unter eng bestimmten Bedingungen zulässt. Das wichtigste Argument für dieses Stammzellgesetz war und ist der geltende Stichtag. Dazu kommen die Alternativlosigkeit der embryonalen Stammzellforschung und die Hochrangigkeit der Forschungsziele. Bereits damals haben viele Mitglieder dieses Hauses diesen Kompromiss für zu weit gehend erachtet, weil sie der Meinung waren: Wenn man einmal die Tür aufgemacht hat, landet man auf einer Rutschbahn, bei der nicht abzusehen ist, wohin sie führt. Ich glaube, gerade aus diesem Grund müssen wir besondere Anforderungen stellen, wenn wir heute darüber nachdenken, was sich in diesen sechs Jahren eigentlich verändert hat und ob diese Veränderungen tatsächlich zu einer Änderung des Stammzellgesetzes führen müssen. Schauen wir uns das einmal an - auch mit einem Blick auf das, was andere Länder tun -: Gibt es denn neue ethische Erkenntnisse? Aus meiner Sicht nicht. Denn das vielfach vorgebrachte Argument der Ethik des Heilens ist zwar eine wichtige Leitlinie; aber die embryonale Stammzellforschung kann heute wie 2002 keine dem Embryonenschutz gleichwertige Hochrangigkeit oder gar therapeutischen Erfolge für sich beanspruchen. ({0}) Weltweit glauben immer weniger Wissenschaftler daran, irgendwann einmal eine Zellersatztherapie entwickeln zu können. Stattdessen haben sich die Forschungsziele geändert: Embryonale Stammzellen werden inzwischen für die toxische Überprüfung von Medikamenten benutzt. Natürlich ist das eine wichtige Sache. Aber Hand aufs Herz: Sind Medikamentenprüfungen wirklich der Grund, weshalb das Stammzellgesetz eingeführt wurde? Ist die embryonale Stammzellforschung zur Medikamentenüberprüfung wirklich ein hochrangiges Forschungsziel und alternativlos? Wir sagen: Nein. ({1}) Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse? Natürlich, die gibt es. Die Forschung entwickelt sich ständig weiter, führt zu neuen Erkenntnissen. Das gilt natürlich auch für die Stammzellforschung. Aber man muss doch sehen: Seit 2002 basieren die meisten Publikationen - das gilt weltweit - auf der Forschung an Stammzelllinien, die vor 2002 gewonnen wurden. Das heißt, in Deutschland ist Grundlagenforschung nach wie vor sehr wohl möglich. Auch aus diesem Grund brauchen wir keine Änderung des Gesetzes. Natürlich sind Verunreinigungen ein Problem, aber nicht nur bei den alten Stammzelllinien, Herr Röspel. ({2}) Auch die neuen Stammzelllinien sind verunreinigt. Es gibt weltweit nur zwei Linien, die xenofrei sind. Diese sind allerdings nicht standardisiert nach den sogenannten GMP-Richtlinien; um jetzt mal Fachchinesisch zu sprechen. Das heißt, den Ansprüchen der DFG genügen diese beiden Linien nicht. Auch das muss man in dieser Debatte wissen. ({3}) Ich glaube deswegen nicht, dass wir, nur weil die Forscher sagen, sie brauchten neue Stammzelllinien, den Kompromiss aufkündigen sollten. Die bedeutsamste Frage ist doch: Haben die bisherigen Forschungsarbeiten bewiesen, dass die embryonale Stammzellforschung im Hinblick auf eine Therapie überhaupt Fortschritte macht? Nein, das ist weder in Deutschland noch in den Ländern der Fall, in denen eine andere Gesetzgebung gilt und in denen es weder einen Stichtag noch sonstige große Restriktionen gibt. Das heißt, der Wunsch, dass man mit embryonaler Stammzellforschung schwere Krankheiten heilen kann, bleibt bis heute ein Wunsch. Da die Grundlagenforschung möglich ist, man aber das Ziel, das mit dem Stammzellgesetz verfolgt wird, nämlich Heilserwartungen zu erfüllen, nicht erreicht hat, kann man nicht sagen, dass die Forschungsziele so hochrangig sind, dass man den Stichtag zur Disposition stellen kann. ({4}) Priska Hinz ({5}) Uns, die wir gegen die Verschiebung des Stichtages sind, wird oft Fortschrittsfeindlichkeit oder sogar Wissenschaftsfeindlichkeit unterstellt. ({6}) Ich muss sagen: Das ärgert mich. Es gibt nämlich keine wissenschaftlichen Beweise für den Glauben, dass die Nutzung neuer embryonaler Stammzellen zu mehr Heilungschancen führt. Es gibt keinen seriösen Wissenschaftler, der bereits sagen könnte, dass klinische Versuche in irgendeiner Form in absehbarer Zeit möglich sind. Dafür ist die Tumorgefahr zu groß. In Deutschland und weltweit werden demgegenüber große Schritte in der sogenannten alternativen Stammzellforschung, der adulten Stammzellforschung, gemacht. Wir sind nicht wissenschaftsfeindlich. Wir wollen die Forschung stützen und fördern, die tatsächlich Aussicht auf Erfolg hat, nämlich die adulte Stammzellforschung. ({7}) Die Reprogrammierung von Hautzellen oder das Gewinnen von Stammzellen aus Nabelschnurblut und Hoden - all diese Forschritte hat es in den letzten sechs Jahren gegeben. Auch von daher muss man sich überlegen, ob die embryonale Stammzellforschung unter den heutigen Gesichtspunkten wirklich alternativlos ist und ob man - ich sage es einmal so - den Stichtag verschieben muss, nur weil Stammzelllinien instabil werden. Auch die neuen Linien, die seit 2002 gewonnen wurden, sind instabil. Das ist immanent. Wenn es Entwicklungen hin zu einer anderen, besseren und ethisch unbedenklicheren Forschung gibt, dann sollte man sich wirklich überlegen, ob man nicht diesen Weg geht und fördert und das Bisherige auf dem Level belässt, auf dem es sich jetzt befindet. Grundlagenforschung ja, etwas anderes brauchen wir aber nicht. ({8}) Meine Damen und Herren, es gibt auch noch ein anderes Argument, das uns immer wieder vorgehalten wird: Die Stichtagsverschiebung sei notwendig, weil wir jetzt neue Linien brauchen, um später ganz darauf verzichten zu können - das allein finde ich schon eine fragwürdige Vorstellung -, und wir bräuchten die neuen Linien für die vergleichende Forschung. Herr Röspel hat eben auf den Yamanaka-Erfolg bei der Reprogrammierung von Hautzellen hingewiesen. Der Forscher Yamanaka hat für die vergleichende Forschung aber Stammzelllinien von 1998 genutzt, das heißt, Stammzelllinien, die auch bei uns in Gebrauch sind und zugelassen werden können. Allein auf die Vermutung hin, es könnte irgendwann einmal eine vergleichende Forschung notwendig sein, für die man bisher zugelassene Stammzelllinien nicht mehr brauchen kann, sollte man einen gesellschaftlich gefundenen Kompromiss, eine ethische Grenzziehung nicht einfach opfern. ({9}) Ich will kurz noch einen anderen Punkt ansprechen. Es geht darum, was sich entwickelt, wenn es bei der embryonalen Stammzellforschung keine Restriktionen und damit auch keine Entschleunigung des Prozesses gibt. Spanien und Großbritannien gehen in den Bereichen der Stammzellforschung und der Fortpflanzungsmedizin gleich vor. Weil die Stammzellforscher sagen, sie könnten die tiefgekühlten Embryonen nicht mehr benutzen, wenn sie aufgetaut sind, da dann die Qualität nicht mehr so gut sei, werden Frauen dazu überredet, angehalten und teilweise auch bezahlt, dass sie bei der Fortpflanzungsmedizin entweder ihre Embryonen oder sogar Eizellen direkt für die Stammzellforschung spenden. Meine Damen und Herren, dies ist die Folge, wenn keine Entschleunigung stattfindet, wenn es keine Restriktionen gibt. So werden nicht nur Frauenkörper, sondern auch Embryos zur Ware degradiert. Hier sehe ich die Notwendigkeit einer Grenzziehung. ({10}) Zum Schluss weise ich noch kurz darauf hin, dass der Glaube daran, man könne es bei einer einmaligen Verschiebung des Stichtags belassen, ein Trugschluss ist. Schon die einmalige Verschiebung des Stichtags ist ein Angriff auf das Herzstück des Stammzellgesetzes. Selbst die Forscherinnen und Forscher, die heute dankbar wären, wenn es eine einmalige Verschiebung gäbe, sagen Ihnen ganz deutlich, dass sie sich damit nicht zufriedengeben. Sie sagen heute schon, sie brauchen weitere Verschiebungen. Wenn Sie mit ihnen unter vier Augen reden, sagen sie: Wir wollen überhaupt kein Stammzellgesetz, wir wollen die Freigabe aller Stammzelllinien, wir wollen sie im Lande selber herstellen. ({11}) Das sollte man wissen, wenn man sich in diese Debatte begibt. Wir wollen nicht, dass der Stichtag zur Wanderdüne wird. Wir wollen, dass die ethische Grenzziehung bleibt. Es ist notwendig, sich noch einmal zu vergewissern, was in der Debatte im Jahre 2002 denen gesagt wurde, die meinten, der Damm mit einer Stichtagsregelung sei vielleicht nicht hoch genug.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz! - Dort wurde gesagt: Das Parlament soll doch bitte selbstbewusst sein und an sich glauben; es soll davon ausgehen, dass die von ihm geschaffene Grenzziehung hält. Diese Aussage von damals sollten wir beherzigen und daher diese Grenzziehung beibehalten. Danke schön. Priska Hinz ({0}) ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir führen hier heute eine forschungspolitische Debatte, die mehr als eine forschungspolitische Debatte ist. Sie ist eine Debatte, die in diesem Lande mit vielen Hoffnungen verknüpft ist, und zwar Hoffnungen auf zwei Seiten: Zum einen sind es die Hoffnungen der Forscher - ich bin sehr froh, dass wir heute eine ganze Reihe von namhaften Forschern unter uns haben; ich denke beispielsweise auch an namhafte Krebsforscher, die uns alle angeschrieben haben -, die wollen, dass sie mit Forschern auf der ganzen Welt gleichgestellt werden. Zum anderen sind es die Hoffnungen von Menschen, die an schweren Krankheiten leiden: MS - hier hat Sie ein Schreiben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft erreicht -, Parkinson, Diabetes. Die Menschen, die mit diesen schweren Krankheiten tagtäglich leben und die pflegende Angehörige haben, setzen natürlich Hoffnungen in eine solche Debatte. Sie alle wissen, dass wir eine Lösung - an dieser Stelle bin ich völlig bei Ihnen, Frau Hinz - weder heute noch morgen anbieten können. Aber wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, in diese Therapien hineinzukommen. Es geht um Grundlagenforschung mit dem erklärten Ziel, wirklich zu einer Therapie kommen zu können. ({0}) In der Tat ist die Stammzellforschung in den letzten Jahren enorm vorangekommen, sowohl im embryonalen - das sagen wir ausdrücklich - als auch im adulten Stammzellbereich. Wir, die inzwischen 100 Unterzeichner des Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin, möchten hier gar nicht die verschiedenen Formen der Stammzellforschung gegeneinander aufrechnen. Für uns sage ich ausdrücklich: Wir brauchen beides. Das sagen uns übrigens auch die Wissenschaftler, darunter viele, die zum Beispiel mit Nabelschnurblut forschen und gerne von den Gegnern der embryonalen Stammzellforschung zitiert werden. Gerade in diesen Tagen hat der Düsseldorfer Forscher Peter Wernet, der mit Stammzellen aus Nabelschnurblut arbeitet, erklärt: Nur wenn ich meine Ergebnisse mit denen der embryonalen Stammzellen vergleiche, weiß ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Darum geht es, meine Damen und Herren. ({1}) Deshalb haben wir uns immer dafür ausgesprochen, beide Forschungszweige zu fördern. Wir - sowohl wir als Liberale, die wir uns seit vielen Jahren für die embryonale Stammzellforschung einsetzen, als auch viele andere Kollegen in diesem Hause - tun dies finanziell und mental. Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Jahren Millionenbeträge für beide Forschungszweige ausgegeben. Wir werden dabei von Patientenorganisationen wie der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft begleitet, die sich klar für unseren Antrag ausgesprochen haben. Sie wollen diesen Antrag - ich zitiere -, „um die Hoffnungen der vielen tausend MS-Erkrankten in unserem Land verantwortungsbewusst in die Entscheidungsfindung einzubeziehen“. Es geht um Chancen und Hoffnungen. Wir wissen, dass eine Chance noch keinen Erfolg und eine Hoffnung keine Gewissheit bedeutet. Aber die Politik muss aus unserer Sicht Chancen und Hoffnungen eröffnen, statt sie zu verbauen. ({2}) Unser Antrag geht einen klaren und eindeutigen Weg. Wir wollen den Stichtag 1. Januar 2002 für den Import embryonaler Stammzellen abschaffen, und wir wollen keinen neuen Stichtag setzen. Das heißt nicht - auch das betonen wir -, dass wir jegliche Forschung freigeben. Jeder Import- und Forschungsantrag soll wie bisher - das ist nämlich bereits der Fall - vom Robert-Koch-Institut als Genehmigungsbehörde intensiv geprüft und entschieden werden. Hochrangigkeit der Forschung, Alternativlosigkeit der Nutzung embryonaler Stammzellen und ethische Abwägung - all dies bleibt im Einzelfall erhalten. Diese Praxis hat sich bewährt. Sie ist Garantie dafür, dass es in diesem Land keine Grauzone und keine Wildwestmethoden gibt, wie es uns die Gegner der Stammzellforschung 2002 mit auf den Weg gegeben haben. Wir sind ein streng regulierter Staat, in dem diese Forschung an hohen ethischen Maßstäben gemessen wird. ({3}) Die Stichtagsregelung allerdings hat sich nicht bewährt. In diesem Punkt sind wir anderer Meinung als die Kollegen um René Röspel. Der Umstand, dass aus Deutschland kein Anreiz zur Etablierung neuer Zelllinien gegeben werden sollte, hat entgegen der erklärten Absicht der damaligen Befürworter nämlich nicht dazu geführt, dass weltweit weniger Stammzelllinien entstanden sind. Er hat aber dazu geführt, dass deutsche Wissenschaftler keinen Zugang zu den neuesten Linien haben und mit Zellen arbeiten müssen, die Alterserscheinungen wie Mutationen aufweisen und durch tierische Viren verunreinigt sind. Deshalb können - wie die Max-PlanckGesellschaft zu Recht sagt - die anstehenden biologischen und medizinischen Fragen nicht beantwortet werden. Zwar können bestimmte Fragen der Grundlagenforschung mit den alten Linien beantwortet werden - das bezweifelt niemand -, aber eine Therapie wird damit nie möglich sein. Außerdem - das ist für mich als Liberale besonders wichtig - wird vor dem Hintergrund der sich im Laufe der Zeit immer weiter verschlechternden Qualität der Zellen das hohe Gut der Forschungsfreiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes, die nur in besonderen Ausnahmefällen vom Gesetzgeber eingeschränkt werden darf, immer mehr gefährdet. ({4}) Hinzu kommt, dass auch die Mitwirkung an Projekten im Ausland mit Stammzelllinien, die nach dem Stichtag etabliert wurden, strafbar ist. Diese Entwicklung haben wir schon immer für falsch gehalten. Die Regelung wurde damals als Kompromiss in das Gesetz aufgenommen. Ich erinnere diejenigen daran, die damals dabei waren, dass wir schon damals darauf hingewiesen haben, dass dies falsch ist. Dadurch kriminalisieren wir unsere Forscher selbst dann, wenn sie mit EU-Mitteln EU-weit forschen. Das müssen wir ändern. Ich bin sehr froh, zumindest in allen ernstzunehmenden Anträgen und Gesetzentwürfen zu erkennen, dass in diesem Punkt die Strafbarkeit beseitigt werden soll. ({5}) Aus den Ausführungen von Herrn Röspel ist deutlich geworden, dass es auf diesem sehr schwierigen ethischen Feld nicht nur eine Lösung gibt. Wiederum reicht für uns eine Verschiebung des Stichtages nicht aus, weil sie nach unserer Meinung auf einem ethisch sehr schwankenden Fundament steht. Entweder ist Forschung moralisch, oder sie ist es nicht. Entweder können wir sie rechtfertigen, oder wir können sie nicht rechtfertigen. Wir müssen uns entscheiden. Ein Kompromiss kann nicht der Weg auf einem so schwierigen ethischen Feld sein. Das führt uns in dieser Forschungslandschaft nicht zu einem schlüssigen Ergebnis. ({6}) Eine Verschiebung ist aber auch eine Mogelpackung in rechtlicher Hinsicht; denn die Forschungsfreiheit wird weiterhin eingeschränkt. Als Stichtag ist der 1. Mai 2007 vorgesehen. Dieser ist völlig willkürlich. Die Entscheidung, in diesem Land frei zu forschen, wird politischen Prämissen unterworfen. Lieber Kollege Röspel, es ist nicht sehr glaubwürdig, wenn Sie sagen, dies solle ein einmaliger Nachschlag sein. ({7}) Was tun Sie denn, wenn es in zwei Jahren Stammzelllinien gibt, mit denen wir viel weiter kommen können. Sagen Sie dann den Menschen, jetzt könnten wir nicht mehr verschieben, weil wir im Jahre 2008 gesagt hätten, wir würden nur einmal einen Nachschlag gewähren? ({8}) Ich finde, das ist der große Pferdefuß einer Verschiebung. Aus diesem Grunde stimmen wir dem nicht zu. ({9}) Auch unter den Unterzeichnern unseres Antrags gibt es viele, die christliche Werte in den Mittelpunkt ihrer Überzeugung stellen. Im katholischen Spanien, im anglikanischen England und im protestantischen Skandinavien gelten zurzeit weniger restriktive Regelungen als bei uns. In England haben sich Erzbischöfe für die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen. In Spanien gibt es die liberalsten Regelungen in Europa. Christliches Bekenntnis und Abschaffung des Stichtages passen aus unserer Sicht zusammen. Wir, die 100 Unterzeichner des Antrages auf Abschaffung des Stichtages, bekennen uns eindeutig zur Ethik des Heilens. ({10}) Altpräsident Herzog hat einmal gesagt, er könne es nicht verantworten, einem kranken Kind sagen zu müssen, dass wir nicht alles täten, um ein Mittel gegen seine Krankheit zu finden. Sowohl die christliche Nächstenliebe als auch die ärztliche Pflicht gebieten es, alle Chancen auszuloten. Das wollen wir. ({11}) Für mich als Forschungs- und Technologiepolitikerin ist auch das Argument des Forschungsstandortes Deutschland wichtig. Ich möchte eben nicht, dass unsere Wissenschaftler dauerhaft ins Ausland getrieben werden. Ich möchte auch keinen Patiententourismus. Ich möchte nicht, dass Menschen, denen in Deutschland nicht geholfen werden kann, gesagt wird: Dann geht doch ins Ausland; dort hat man inzwischen etwas gefunden, und zwar mit Methoden, die bei uns nicht zulässig sind. ({12}) Aber für viele von uns ist der Forschungsstandort nachrangig. Es geht - das möchte ich an dieser Stelle betonen - um den besten Weg, kranken Menschen eines Tages zu helfen, nicht heute und nicht morgen, Frau Hinz. Das sind keine falschen Heilsversprechungen. Aber Forschung hat nun einmal das Ziel, Menschen langfristig zu helfen. ({13}) Das sage ich Ihnen als ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für Bildung und Forschung und damit als intime Kennerin der Forschungsszene in diesem Lande. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir alle haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Viele Kollegen haben bereits unterschrieben. Ich freue mich, dass dieses Thema so großes Interesse in diesem Plenum hervorruft. Wir appellieren an Sie: Treffen Sie eine Entscheidung gegen einen Kompromiss! Geben Sie diesem Land die Chance, etwas auf einem Forschungsgebiet zu tun, welches rasante Fortschritte macht und überall auf der Welt als eines der innovativsten und zukunftsträchtigsten Forschungsgebiete angesehen wird! Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und stimmen Sie für unseren Antrag! ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs Jahren haben 266 Kolleginnen und Kollegen gegen einen Import von embryonalen Stammzellen nach Deutschland gestimmt. Wir bringen heute wieder einen solchen Antrag ein, weil wir glauben, dass es wichtig ist, zu zeigen, dass es Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause gibt, die glauben, dass das große Problem darin besteht, dass menschliches Leben für Forschungszwecke getötet wird. Wenn man die Argumentation von damals mit der von heute vergleicht, muss man sagen, dass die Gründe, gegen diese Forschung zu sein, heute stärker sind, als es noch vor sechs Jahren der Fall war. ({0}) Die Forschung an menschlichen Embryonen und die Schaffung von embryonalen Stammzellen setzen voraus, dass menschliche Embryonen getötet werden. Wenn der menschliche Embryo nicht lebendig wäre, dann würde er sich nie zu dem Blastozystenstadium entwickeln, in dem er dann zur Stammzellgewinnung getötet wird. Es ist völlig unbestreitbar - deswegen haben wir hier im Deutschen Bundestag vor Jahren mit großer Mehrheit ein Embryonenschutzgesetz verabschiedet -, dass es sich hierbei um individuelles menschliches Leben handelt. In dieser Phase - es ist nicht die befruchtete Eizelle, wie manchmal gesagt wird -, nach fünf, sechs Tagen, kann sich dieser Embryo nicht mehr teilen. Es können keine eineiigen Zwillinge mehr entstehen. Es ist völlig klar, welche Erbanlagen er hat, und es wird sogar fein säuberlich registriert, welches Geschlecht der Embryo hat. Bei den letzten embryonalen Stammzelllinien, deren Import nach Deutschland gerade noch im Januar genehmigt worden ist, kann man erkennen, dass eine Zelllinie von einem männlichen Embryo stammt, die andere Zelllinie von einem weiblichen Embryo. Man kann also nicht sagen, dass das irgendeine Zellmasse ist, irgendein Müll, der bei der Reproduktion übrigbleibt, sondern es handelt sich um menschliches Leben. Wir haben Probleme damit, dass dieses menschliche Leben allein für Forschungszwecke getötet wird. ({1}) Aus meiner Sicht spielt es auch keine Rolle, ob diese Menschen überzählig sind. Die Frage, ob jemand überzählig werden kann und deswegen die Menschenwürde verletzt werden kann, überhaupt zu stellen, ist für mich gar nicht nachvollziehbar. Es ist übrigens auch egal, wie dieser Mensch entstanden ist. Es ist doch nicht die Frage, wie ein Mensch entsteht - übrigens auch nicht, wenn das Klonen funktionieren würde -, sondern ob ein Mensch entstanden ist. Und wenn er Mensch ist, dann hat er die volle Menschenwürde. Das ist Verfassungsgrundsatz, so steht es in den Gerichtsurteilen des Bundesverfassungsgerichts. Da, wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu. ({2}) Wir können nach zehn Jahren Bilanz ziehen. Seit 1998 gibt es embryonale Stammzellforschung. Ich möchte etwas als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion, was die meisten Kolleginnen und Kollegen wissen, sagen. Ich kenne keinen Behindertenverband, zumindest keinen Betroffenen-Verband, der dafür ist, diese Forschung in Deutschland zu erweitern oder diese Forschung noch weiter zu öffnen. ({3}) Das gilt im Übrigen auch für die MS-Kranken. Frau Flach, ich habe angerufen und mich erkundigt. Es waren nicht die Betroffenen, nicht die Selbsthilfeleute, die diesen Brief geschrieben haben, sondern es war der Ärzteund Forschungsbeirat. Ich habe gestern telefoniert und gefragt, ob ein Betroffener oder ein Angehöriger unter denen gewesen sei, die diesen Brief unterschrieben haben. Das war nicht der Fall. Auf der anderen Seite haben Sie einen Brief von der Lebenshilfe für sogenannte geistig Behinderte bekommen. Ich mag den Begriff „geistig Behinderte“ nicht. Diese haben an uns appelliert, die Stammzellforschung nicht weiter zu öffnen, und zwar deswegen, weil sie Angst haben, dass dann noch stärker als bisher der Schutz der Menschenwürde gegen die Forschungsfreiheit abgewogen wird. Die Menschenwürde kann nicht gegen die Forschungsfreiheit abgewogen werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird ja argumentiert, dass durch die Forschung viele geheilt werden können. Dazu ist zu sagen: Vor einigen Monaten fand die Debatte über das Gewebegesetz statt. Wir haben - übrigens mit der Unterstützung der Gesundheitsministerin entgegen dem ersten Entwurf zum Schluss festgestellt: Eingriffe an nicht Einwilligungsfähigen dürfen nicht stattfinden, wenn sie nicht ihnen selbst helfen. Jeder kann sich vorstellen, dass vielleicht Medikamente für Alzheimerkranke entwickelt werden könnten, wenn man Medikamentenversuche mit Alzheimerpatienten oder sogenannten geistig Behinderten machen würde. Aber wir tun es nicht, weil unserer Auffassung nach das Individuum im Mittelpunkt steht und wir keine Forschung an Menschen wollen, in die der Betroffene nicht selber einwilligen kann. Ansonsten wäre das ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Nicht umsonst ist die Menschenwürde in Art. 1 der Verfassung verankert, das Lebensrecht in Art. 2 und die Forschungsfreiheit in Art. 5. Die Menschenwürde ist nicht abstufbar; daran sollten wir auch nichts ändern. Es wird gesagt: Wir setzen auf Therapien. Aber warum hat es denn dann innerhalb von zehn Jahren nicht eine Therapie gegeben? Warum hat es noch nicht einmal eine klinische Studie gegeben? Ich habe noch einmal nachgeschaut: Das größte Register über klinische Studien mit Stammzellen gibt es beim NIH in den USA. In diesem Register werden über 1 700 Studien mit Stammzellen aufgeführt - nicht eine einzige mit embryonalen Stammzellen, aber sehr viele mit adulten Stammzellen und Cord Blood, also Stammzellen aus dem Nabelschnurblut. Wenn wir den Menschen helfen und sie heilen wollen, dann sollten wir uns doch dort engagieren, wo Hilfe wirklich möglich ist. Das gilt nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Anwendung. Es wäre viel sinnvoller, die Zeit, in der wir über diesen kleinen Forschungsbereich sprechen, für die Kranken und Behinderten aufzuwenden, die heute in Einrichtungen wie Pflegeheimen leben und dort Probleme haben und auf Therapie und Pflege warten. Ich glaube, damit wäre ihnen mehr geholfen als mit Heilungsversprechen, die jedenfalls bisher nicht gehalten werden konnten. ({5}) Ich halte es für etwas schwierig, es dauerhaft bei nur einem Nachschlag zu belassen, wie jetzt gesagt wird. Diejenigen - zu denen ich und übrigens auch der Kollege Röspel gehörten -, die damals gesagt haben, dass sie gegen einen Import von embryonalen Stammzellen sind, haben das wie folgt begründet: Wenn wir die Tür einmal ein Stück weit aufmachen, dann wird sofort die nächste Diskussion darüber beginnen, ob die Tür nicht ganz aufgemacht werden oder der Stichtag wieder verschoben werden soll. Meine Damen und Herren, lieber Kollege Röspel, nehmen Sie es mir nicht übel, aber die Zuversicht, dass man sich dieses Mal daran hält, den nächsten Stichtag ganz bestimmt nicht zu verschieben, nimmt bei mir eher ab. ({6}) Frau Flach, Sie haben argumentiert - und das kam auch von René Röspel -, wir brauchen diese Stammzellen - über Therapie redet hoffentlich niemand; denn es gibt keine Therapie mit embryonalen Stammzellen -, um sie mit den adulten oder den iPS-Zellen, also den reprogrammierten Zellen, zu vergleichen. ({7}) - Das ist ja immer wieder gesagt worden. - Ich habe die Bundesregierung gefragt - die Antwort liegt seit Freitag letzter Woche vor -, welche Studien an adulten Stammzellen sie nennen könnte, deren Erkenntnisse letztlich auf dem Vergleich mit Erkenntnissen aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen basierten. Die Antwort des Ministeriums war, dass leider keine solchen Studien vorliegen. Wer so argumentiert, der muss zumindest den Beweis erbringen, dass es wirklich so ist. Wenn es nicht so ist, dann sollte man dieses Argument nicht gebrauchen. ({8}) - Kollege Röspel, es steht in Ihrem Antrag, dass Sie auch deswegen eine Stichtagsverschiebung anstreben, weil es jetzt weniger Stammzelllinien gebe, als es zum Zeitpunkt der Debatte in 2002 der Fall war. Auch das habe ich die Bundesregierung gefragt. Das Ergebnis war: An dem Tag unserer Debatte gab es eine einzige Stammzelllinie, die für den Import verfügbar war. Im Oktober 2002 waren es 16, 2004 waren es 17, und heute sind es 21. Meine Damen und Herren, wenn die Forscher forschen wollen - sie sind noch bei der Grundlagenforschung -, können sie es jetzt machen. Es gab noch nie so viele Stammzelllinien, die zur Verfügung stehen, wie heute, und deswegen brauchen wir keine Verschiebung. Wir brauchen schon gar keine Abschaffung des Stichtages. Es gibt keine Argumente dafür. Es gibt vor allen Dingen keine Argumente, menschliches Leben für Forschungszwecke zu töten. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt die Sorge, dass der Lebensschutz mit einer Änderung des Stammzellgesetzes beeinträchtigt werden könnte. Deshalb will ich als Erstes auf eines hinweisen: In keinem der Anträge ist eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes vorgesehen. ({0}) Durch dieses Gesetz sind in Deutschland die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, die Forschung an Embryonen sowie die Herstellung von Stammzelllinien unter Strafe verboten - und das soll auch so bleiben! Das zur Debatte stehende Stammzellgesetz regelt den Import von Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt wurden. Jeder Antrag muss folgende Kriterien erfüllen: Die Forschung kann nur mit embryonalen Stammzellen durchgeführt werden, wenn es keine Alternativen gibt. Das heißt, es müssen alle Möglichkeiten, mit adulten und tierischen embryonalen Stammzellen zu forschen, ausgeschöpft sein. Die Stammzelllinien müssen aus einem Embryo gewonnen worden sein, der ursprünglich für die künstliche Befruchtung erzeugt wurde und für diese endgültig nicht mehr verwendet werden kann. Ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes war der Stichtag. Er lag in der Vergangenheit, also vor der damaligen Debatte. So konnte sichergestellt werden, dass nur Stammzellen verwendet werden, die schon zum Zeitpunkt der Gesetzgebung vorhanden waren. Damals gab es weltweit etwa 70 Stammzelllinien. Heute sind es etwa 500 Stammzelllinien, ohne einen Anreiz aus Deutschland. Durch eine einmalige Verschiebung des Stichtages, der wieder in der Vergangenheit liegt, wird kein einziger Embryo angetastet und wird auch weiterhin kein Anreiz zur Gewinnung von neuen Stammzelllinien entstehen; denn es gibt keinen Automatismus für eine weitere Anpassung. Die Entscheidung wird immer in der Hand des Bundestages liegen. Warum wollen die Forscher eigentlich auch an embryonalen Stammzellen forschen, wo doch bereits Therapien mit adulten Stammzellen möglich sind? Adulte Stammzellen können sich eben nicht - im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen - in alle Zelltypen des Körpers differenzieren. Deshalb erhofft man sich von der Forschung an embryonalen Stammzellen langfristig Therapien für bisher nicht heilbare Krankheiten. Aber man verspricht sich eben auch grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung von Zellen. Eine Erkenntnis konnte daraus gewonnen werden: wie normale Hautzellen reprogrammiert werden können. Sie ähneln stark embryonalen Stammzellen. Man bezeichnet sie als induzierte pluripotente Stammzellen. Diejenigen Forscher, die dies bewiesen haben, gehören zu den weltweit führenden Köpfen der embryonalen Stammzellforschung. ({1}) Auch sie mussten auf das Wissen aus der embryonalen Stammzellforschung zurückgreifen. James Thomson, einer der Forscher, bestätigte dies wie folgt: Diese neuen ({2})Zelllinien hätten auf keinen Fall hergestellt werden können, wenn es zuvor nicht 10 Jahre humaner embryonaler Stammzellforschung gegeben hätte. Bisher wurde allerdings nur die prinzipielle Machbarkeit der Reprogrammierung bewiesen. Um zu verstehen, ob und in welchem Maße induzierte pluripotente Stammzellen den embryonalen Stammzellen tatsächlich gleichen, werden jetzt auch Stammzelllinien benötigt, die unter standardisierten Bedingungen hergestellt wurden. Diese gibt es eben erst seit 2006. ({3}) Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass Vergleiche von induzierten pluripotenten Stammzellen und embryonalen Stammzellen überhaupt zu belastbaren Aussagen führen können. Diese Art von Zellen könnten vielleicht - und dann weltweit - die embryonalen Stammzellen ersetzen. Jetzt können sie es noch nicht. Die Hoffnung auf Ersatz für embryonale Stammzellen ist für mich ein gewichtiger Grund dafür, einer einmaligen Verschiebung des Stichtages zuzustimmen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können, wie von einigen vorgeschlagen, die Forschung an bestehenden Stammzelllinien in Deutschland ganz verbieten. Aber die weltweite Herstellung embryonaler Stammzelllinien und die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien weltweit können wir nicht verbieten - ob es uns gefällt oder ob es uns nicht gefällt. Damit stellen sich für uns folgende Fragen: Wie gehen wir eigentlich mit dem Wissen um, das im Ausland durch die Forschung mit diesen Linien entsteht und publiziert wird? Werden wir unseren Forschern verbieten, diese Publikationen zu lesen? Darf dieses Wissen für den Erkenntnisgewinn auch bei der adulten Stammzellforschung genutzt werden? Sollten doch einmal Anwendungen, in welcher Form auch immer, entstehen: Darf und kann man diese dann den Menschen in Deutschland verwehren? Diese Fragen muss jeder von uns selbst beantworten. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Julia Klöckner ist die nächste Rednerin. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hoffnung und Hilfe sind gerade für kranke Menschen sehr, sehr wichtig. Aber wer Hilfe verspricht, der muss diese auch bieten können. Unhaltbare Heilsversprechungen sind meines Erachtens sehr, sehr unlauter. ({0}) Seit Jahren wird so getan, als könne die Forschung mit embryonalen Stammzellen ganz neue Erfolge garantieren. Genau das war 2002 auch der Grund dafür, dass die embryonale Stammzellforschung unter gewissen Bedingungen in Deutschland überhaupt erlaubt wurde. Die ganz konkreten Versprechen, die die Forscher damals selbst gaben, haben sich aber nicht einmal ansatzweise bewahrheitet. Im Gegenteil, wissenschaftliche Studien zeigen, dass embryonale Stammzellen ein extremes Tumorrisiko besitzen. Man sollte deshalb nicht so tun, als hänge das Glück aller Patienten von der Forschung mit embryonalen Stammzellen ab. Wer das Stammzellgesetz ändern will, braucht meiner Meinung nach sehr gute Gründe. Ein oft vorgetragenes Argument lautet, die aktuellen Zelllinien seien verunreinigt. Für mich ist das wenig überzeugend. Gerade erst im Januar wurde eine weitere Importgenehmigung erteilt. Sie wäre wohl kaum beantragt worden, wenn man den Zellen nicht das nötige Potenzial zusprechen würde. Als weiteres Argument wird angeführt, man brauche die embryonale Stammzellforschung zum Vergleich für die adulte. Trotz dieser Behauptung finden sich bei den adulten Stammzellforschern keine Beispiele, die dies konkret belegen. Das gilt selbst für die zitierten Wissenschaftler Thomson und Yamanaka. Der Vergleich für die Reprogrammierung wurde mit alten Stammzelllinien gemacht. Das hätte auch in Deutschland geschehen können. ({1}) Die adulte Stammzellforschung ist älter und auch viel weiter. Deutschland gehört auf dem Gebiet der ethisch unproblematischen adulten Stammzellforschung zu den international führenden Nationen. Wir haben bereits Therapien in der Anwendung, die den Menschen helfen, und darum geht es. Mit dem Kompromiss von 2002 wurde ein Import unter strengen Auflagen möglich. Dies hing genau mit den enormen Heilsversprechungen zusammen. Wir sind heute aber schlauer. Der einmalige Unschuldsbonus von damals ist vergeben. Ich habe die Sorge, dass wir einen Stichtag auf Rollen bekommen würden. Der Kern des Kompromisses von 2002 war aber just dieser Stichtag. Irgendwann könnten auch die neuen, sogenannten frischen Stammzelllinien verbraucht sein. Was wäre dann, liebe Kolleginnen und Kollegen? Bestimmen wir dann einfach wieder einen neuen Stichtag? ({2}) Durch die Verschiebung des Datums nimmt man meiner Meinung nach in Kauf, dass mehr Embryonen nachgefragt, also zerstört werden. Wenn der Stichtag einmal verschoben wird, gibt es keinen Grund mehr, der dagegen spricht, ihn wieder und wieder und immer wieder zu verschieben. Das kommt einer Abschaffung gleich. ({3}) Es ist nur eine Frage der Zeit - wenn man nur lange genug wartet -, bis ein zukünftiges Datum in der Vergangenheit liegt und sich dann wiederum für eine neue Stichtagsregelung eignet. Wir dürfen nicht einen Dominoeffekt auslösen. Deshalb bin ich ganz klar gegen eine Stichtagsverschiebung und für die Beibehaltung des Kompromisses von damals. Immer wieder betonen die Forscher, die Stammzelllinien seien keine Embryonen mehr. Das stimmt, die Stammzelllinien sind keine Embryonen mehr, aber sie waren es vor der Zerstörung ihres Lebens. Es geht also um die Voraussetzungen dieses Stichtages. Der Embryo wird nicht mehr als Zweck an sich, sondern nur als bloßes Mittel behandelt. Aber der menschliche Embryo entwickelt sich nicht etwa aus einem untermenschlichen Stadium plötzlich zum Menschen, und es gibt in diesem Ablauf auch keine Zäsur, von der sich sagen ließe: Just genau hier entsteht etwas völlig Neues. Deshalb geht es um die Grundsatzentscheidung, welchen moralischen Preis die hypothetische medizinische Behandlung von Krankheiten haben darf. Ich meine, die Zerstörung wäre eindeutig ein zu hoher Preis für die versprochene Heilung. ({4}) Ich meine auch, das jeweils schützenswerte menschliche Leben darf nicht nach den aktuellen Erfordernissen der Biowissenschaften fortlaufend neu definiert werden. Menschliches Leben ist um des Lebens willen zu schützen und nicht vor dem Hintergrund der Nutzbarmachung. Der Wert und die Würde des menschlichen Lebens leiten sich nicht davon ab, wie hoch die Überlebenschancen oder die Nutzbarmachungsmöglichkeiten sind. ({5}) Ich habe Sorge, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass wir immer und immer wieder von Fall zu Fall im Bundestag darüber entscheiden werden, unter welchen Bedingungen menschliches Leben weniger wert ist als andere erstrebenswerte Güter. ({6}) In einer solchen Gesellschaft, wo je nach Interessenlage darüber entschieden wird, was wert ist oder nicht wert ist, zu leben, möchte ich persönlich nicht leben. Forschungsfreiheit darf niemals unter Preisgabe der Menschenwürde ermöglicht werden. Deshalb sage ich: Bedenke das Ende - im Zweifel für das Leben! ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier für den Antrag, mit dem die Stichtagsregelung ersatzlos aufgehoben und unseren Medizinern die Unterstützung für ihre verantwortungsvolle Forschung gegeben werden soll, die sie brauchen. Noch nie haben Biologen und Mediziner in so kurzer Zeit so viel Neues Katherina Reiche ({0}) über die Grundlagen des Lebens und über die Möglichkeiten, dieses Wissen anzuwenden, gelernt. Über kein Forschungsfeld wird so intensiv diskutiert wie über die Stammzellforschung. Sie ist eines der vielversprechendsten Forschungsfelder der Biomedizin. Deshalb sollten wir ernst nehmen, was uns die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Selbstorganisation der gesamten deutschen Hochschulwissenschaft, sagt. Sie bittet uns nämlich, den Zugang zu neuen reinen Stammzelllinien zu ermöglichen. ({1}) Worum geht es? Im Jahre 2001 hat der Deutsche Bundestag entschieden, die embryonale Stammzellforschung in Deutschland mit großen Einschränkungen zuzulassen. Doch zeigt sich im Rückblick, dass das Gesetz mit starken sachfremden Einschränkungen arbeitet. Die geltende Regelung stellt eine Forschungsbremse dar. Diese Forschungsbremse müssen wir lösen. Der Entwurf, den wir heute vorlegen, sieht das Minimum dessen vor, was an Veränderungen passieren muss, um dem Lebensrecht kranker Menschen und der Freiheit der Forschung den Raum zu geben, den das Grundgesetz ausdrücklich schützt. Die Einschränkungen des aktuellen Gesetzes stellen eine folgenschwere Behinderung der medizinischen Forschung sowie eine grundgesetzwidrige Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit dar. ({2}) Der entscheidende Unterschied zur Situation 2001 ist, dass die Wissenschaft heute in großer Breite sagt, dass die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien unverzichtbar ist, um adulte Stammzellen zu verstehen. Auch für die adulte Stammzellforschung werden die Erkenntnisse der embryonalen Stammzellforschung gebraucht. Frau Kollegin Flach hat Zitate genannt; ich könnte diese Liste weiterführen. Auch die induzierten pluripotenten Stammzellen, über die die Forscher Thomson und Yamanaka vor kurzem publiziert haben, sind nur mit der Erkenntnis aus der vorangegangenen embryonalen Stammzellforschung möglich gewesen. ({3}) Die für deutsche Forscher verfügbaren embryonalen Stammzelllinien sind alt, mit Viren verseucht und haben viele der Eigenschaften verloren, an denen geforscht werden muss, die gebraucht werden. Für weitergehende Forschungsarbeiten oder gar therapeutische Ansätze sind sie in jedem Fall unbrauchbar. Damit ist deutschen Forschern nicht nur eine Teilnahme am internationalen Forschungsgeschehen verwehrt - es sei denn, sie verlassen Deutschland -; vielmehr läuft das Gesetz nun auf ein Forschungsverbot hinaus, da neuere, standardisierte Stammzelllinien für deutsche Forscher unerreichbar sind. Das Stammzellgesetz droht damit in die Verfassungswidrigkeit zu gleiten, wenn es nicht schon von Anfang an verfassungswidrig war. Denn die in Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz gewährte Forschungsfreiheit darf gar nicht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden. Nur die Kollision mit anderen Grundrechten würde eine solche Einschränkung zulassen. Beim Import von Stammzelllinien ist eine solche Kollision aber auch mit größter Mühe nicht zu konstruieren. ({4}) Nun, nach fünf Jahren, ist der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit sehr ernst zu nehmen; denn der Ausschluss deutscher Forscher von einer Forschung an Stammzelllinien und eben nicht an befruchteten Eizellen selbst kommt einem Forschungsverbot gleich. Dabei ist diese dynamische Grundlagenforschung erst am Anfang. Der Vorwurf von Stammzellkritikern an die Forscher, es gebe noch keine Therapie, ist geradezu absurd. Die erfolgreiche Grundlagenforschung ist ja gerade Voraussetzung für die Entwicklung von Therapien - ohne Grundlagenforschung keine Therapie. ({5}) Stammzellen sind auch für die Forschung gedacht, um neue Medikamente zu erproben und so auf den Versuch am Tier oder am Menschen verzichten zu können. Aber das sind Forschungsmöglichkeiten, die sich unseren Forschern momentan verschließen. Wir müssen in Verantwortung für kranke Menschen, die leiden und hoffen, und in Verantwortung für unsere Wissenschaftler, die mit Sorgfalt, Seriosität und hohem Verantwortungsbewusstsein ihrer Arbeit nachgehen, den Weg für eine hochrangige Forschung eröffnen und sie unterstützen. Deshalb bitte ich Sie, der Streichung des Stichtags und der Streichung der Strafandrohung Ihre Zustimmung zu geben. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konrad Schily.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Reiche hat es gerade gesagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wissenschaft und Kunst sind frei. Dann kommt ein wichtiger Nachsatz: Das entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Wir haben es mit einem Spannungsbogen zu tun, den Frau Flach beschrieben hat. Auf der einen Seite stehen die Wissenschaftsfreiheit und die Tatsache, dass wir über die Welt Aufklärung haben wollen. Alle Heilsversprechen, dass dabei etwas herauskommen könnte, mögen eine Rolle spielen; aber sie sind nicht bestimmend. Es ist die Freiheit der Grundlagenforschung, die die Wissenschaft fruchtbar gemacht hat und die zu den Erfolgen geführt hat, die wir heute vorweisen können. Das ist die eine abendländische Linie. Die andere ist, dass die Technik und Wissenschaft, vor denen wir alle bewundernd stehen, uns immer mehr Ehrfurcht vor der - lassen Sie es mich ruhig so sagen Weisheit der vor uns ausgebreiteten Schöpfung empfinden lassen. Diese abendländische Entwicklung hat Kant in dem Satz zusammengefasst, dass der Mensch nie Mittel nur, sondern immer auch Zweck sein muss. Darin gründet sich die Menschenwürde; sie ist unantastbar. Ungeachtet dessen, ob wir mittels eines bestimmten Weges helfen können: Wir dürfen diese Menschenwürde nicht antasten. Es gibt keinen Grund - beispielsweise ein ökonomisches Versprechen -, menschliches Leben zu zerstören. Wann der Mensch zum Menschen wird, ist biologisch nicht festzustellen und aus dem Materialismus nicht abzuleiten. Es ist eine ethische, soziokulturelle Feststellung. Deswegen wird diese Frage in unterschiedlichen Kulturen verschieden beantwortet. ({0}) - Ja, wir sagen es eigentlich auch. In dem Moment, wo die Anlage zum Mensch gegeben ist - das ist beim Embryo der Fall -, besteht das Recht auf Menschenwürde. Es gibt darüber sehr viele Besprechungen, die sich mit den Konsequenzen aus dieser Feststellung beschäftigen. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit. Wie gesagt: Es gibt nicht nur das Versprechen, zu ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält, um daraus die Heilung abzuleiten, sondern es gibt zwei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit ist, die Forschung freizugeben. Das ist eine klare und eindeutige - man kann auch sagen: fortschrittliche - Meinung. Dann verzichten wir aber auf die Menschenwürde. Wir würden damit die Auffassung vertreten, dass Freiheit unteilbar ist, dass sie gilt und dass sie uns in die Zukunft führen wird. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Entwicklung auf diesem Gebiet uns nicht von der Treue zur Verfassung entbindet und dass wir uns zur Menschenwürde und dazu bekennen, dass menschliches Leben niemals in irgendeiner Form zum Mittel gemacht werden darf und dass der Mensch in sich Zweck bleibt. ({1}) Ich denke, wir werden versuchen - das liegt ja in der Natur der Politik -, Kompromisse zu machen. Wir werden sagen: Mit dem ersten Stichtag hat es nicht geklappt, vielleicht klappt es mit dem nächsten. In diesem polaren Spannungsfeld - Frau Flach und Herr Hüppe haben es anhand der entsprechenden Anträge dargestellt - gibt es aber keinen Kompromiss. Wir müssen uns schon entscheiden. ({2}) Ich plädiere für die Menschenwürde. Wir werden den Fortschritt auch damit erreichen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Jörg Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, die Debatte zeigt, dass wir - wie auch schon bei der letzten Debatte, als wir das Stammzellgesetz verabschiedet haben - mit großem Ernst und mit großem Respekt voreinander diskutieren. Deswegen habe ich die Bitte, Frau Kollegin Klöckner und Herr Kollege Schily, dass Sie denen, die hier in der Tat um einen Kompromiss ringen und einen anderen Vorschlag unterbreiten - das sind über 300 Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause -, auch nicht ansatzweise etwas Ähnliches wie ein gestörtes Verhältnis zur Menschenwürde unterstellen. Das halte ich für nicht akzeptabel, und das sollte auch nicht Gegenstand der Auseinandersetzung sein. ({0}) Ich hätte die herzliche Bitte, dass im weiteren Verlauf der Debatte auch auf den Kampfbegriff des Heilsversprechens verzichtet wird. ({1}) Ein solches Heilsversprechen gibt es von keinem seriösen Wissenschaftler in diesem Land. Wer gestern im Forschungsausschuss war - wir werden zu diesem Thema eine Anhörung durchführen, an der teilzunehmen alle Kolleginnen und Kollegen eingeladen sind, und danach fragen -, hat erkennen können: Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seriös mit diesen Fragen beschäftigen - das geschieht hier im Lande -, sagen uns: Wir sind sehr weit weg von einem medizinischen Erfolg. Wir befinden uns im Bereich der Grundlagenforschung, und Heilsversprechen erfolgen nicht. Diesen Begriff sollten wir deshalb im weiteren Verlauf der Debatte aufgeben; denn dies trägt zur Sachlichkeit bei. ({2}) Kollege Röspel hat zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, dass er aus einer etwas anderen Richtung kommt. Ich komme eher aus der Richtung, die die Kollegin Flach vertritt. Kollege Schily, wir haben in der Tat geschaut - das halte ich für gut und richtig; das ist angemessen für dieses Parlament -, wie wir angesichts der unterschiedlichen Positionen einen Kompromiss finden können. Das ist unsere Aufgabe hier. Dieser Aufgabe will ich nachkommen. Ein Punkt ist heute noch kaum angesprochen worden: Das ist der strafrechtliche Bereich, bei dem schon damals erkennbar war, dass er gewisse Probleme aufwerfen wird. Dieser Punkt ist heute weniger umstritten. DesJörg Tauss wegen glaube ich, dass wir an diesem Punkt auf einem guten Weg sind. Frau Kollegin Hinz, wir waren sogar so fair, Sie auf einen Fehler in Ihrem Antrag hinzuweisen; denn Sie hätten, wenn man den Originaltext ansieht, sogar die Strafbarkeitsschwelle abgeschwächt. Dazu haben wir Ihnen noch gesagt: Wenn ihr das tut, ist das gar nicht in eurem Sinne. - Ich glaube, auch das gehört zu einem kollegialen Umgang untereinander. Das tun wir auch. ({3}) Der Stichtag ist der eigentliche Streitpunkt. Da besteht immer die Frage: Warum eigentlich eine Stichtagsverschiebung? Haben wir dann nicht - das hat die Kollegin Klöckner gesagt; das ist ein ernstes Argument - eine Art Wanderdüne und ständig zu verändernde Stichtage? Ich bin nicht so vermessen, zu sagen, was künftige Parlamente an dieser Stelle tun werden. Ein Parlament wäre hier sogar frei, zu sagen: Wir schaffen das Stammzellgesetz völlig ab. Es wäre sogar, wenn die entsprechenden Mehrheiten da sind, so frei, zu sagen: Wir schaffen das Embryonenschutzgesetz ab. Dies ist keine Position, die hier jemand vertritt. Vielmehr haben wir auf der Basis des Embryonenschutzgesetzes das Stammzellgesetz geschaffen. Wir stellen fest - Kollege Röspel hat darauf hingewiesen -, dass die damaligen Grundlagen insofern nicht mehr bestehen, als eine ausreichende Zahl von Stammzelllinien für die Forschung nicht mehr vorhanden ist. Aus diesem Grunde wollen wir jetzt eine Änderung vornehmen, wenn eine entsprechende Mehrheit zustande kommt; denn wir wollen die Forschung, die wir damals vorgesehen haben, auch künftig ermöglichen. Frau Hinz fragte: Haben die bisherigen Forschungen etwas bewiesen? Sie sagte Nein. All denjenigen, die einen Erfolg anzweifeln, kann ich nur empfehlen, in dem entsprechenden Protokoll des Forschungsausschusses nachzulesen: Es ist ganz klar gesagt worden, dass die Forschung an adulten Stammzellen in einem logischen Zusammenhang mit der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen steht, dass die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen eine Grundlagenforschung auch im Hinblick auf die Forschung an adulten Stammzellen ist. Wer dies bestreitet, begibt sich in eine absolut gegenteilige Darstellung dessen, was die gesamte deutsche Wissenschaft hierzu seriös vorträgt. ({4}) Wir haben im Laufe dieser Diskussion sehr viele emotionale Briefe bekommen. Den von der Lebenshilfe habe ich ein bisschen bedauert, weil er Heilsversprechen und Ähnliches zum Gegenstand hatte. Aber ich warne die Kollegen Hüppe und Schily - auch in ihrem Sinne davor, ihren Weg, den sie gehen wollen, weiterzugehen. Die USA haben es bewiesen: Herr Bush, der US-amerikanische Präsident, hat ein ganz klares Veto gegen die Forschung an embryonalen Stammzelllinien eingelegt. Was war die Folge? Er hat kein nationales Gesetz geschaffen. Sogar ein Parteifreund von ihm, Herr Schwarzenegger, ist ausgeschert und hat in Kalifornien eine eigenständige gesetzliche Regelung geschaffen, mit der Folge, dass für die Forschung an embryonalen Stammzellen 3 Milliarden US-Dollar im Wesentlichen nicht so strikt gesetzlich reguliert, wie wir es hier kennen, fließen. Allein im Januar dieses Jahres wurden 260 Millionen US-Dollar zusätzlich freigegeben. Das ist ein Argument dafür, Herr Kollege Schily, verantwortungsbewusst mit diesem Thema umzugehen und eine ethische Grundlage für die Forschung an embryonalen Stammzellen zu legen. Mit dem Kompromissantrag, den ich Sie zu unterstützen bitte, haben wir genau dies ermöglicht. Ich bedanke mich herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben und mit uns diesen Antrag vorgelegt haben. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. DäublerGmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, wie die an und für sich sehr positiv zu bewertende Suche nach einem Kompromiss in diesem Fall aussehen kann, wird, lieber Kollege Tauss, dadurch erschwert, dass es um Grundsatzfragen geht. Da muss in der Tat, sofern ein Kompromiss überhaupt möglich ist, sehr sorgfältig hingeschaut werden. Deswegen bin ich sehr dankbar, wenn wir uns nicht gegenseitig irgendwelche Dinge unterstellen. Wir haben in diesen Fragen unterschiedliche Meinungen. Ich glaube, diese Meinungen müssen sehr offen auf den Tisch gelegt werden, ohne dass der eine, der eine bestimmte Meinung vertritt, dem jeweils anderen gleich die moralische Keule übers Haupt haut. Das gilt übrigens hin wie her. ({0}) Ich spreche mich hier sehr klar dafür aus, den Stichtag nicht zu verschieben. Ich will das begründen. Vielleicht fange ich mit dem an, was wir vor sechs Jahren gemacht haben. Damals ging es im Wesentlichen um zwei Punkte: Zum Ersten ging es um die Frage, ob man den forschungspolitischen Ansatz der Forschung an menschlichen Embryonen braucht, und zum Zweiten darum, ob das ethisch vertretbar ist. Die ethische Vertretbarkeit spielt weit über die verfassungsrechtliche Frage hinaus eine gesellschaftspolitisch zentrale Rolle, weil damit die Frage verbunden ist, ob man den menschlichen Embryo, der, wie wir alle wissen, das Gebilde ist, in dem, wie man heute sagen würde, das vollständige Programm eines neuen Menschen vorhanden ist, zu Forschungszwecken wie ein Objekt benutzen bzw. gebrauchen darf. Diejenigen, die damals wie ich gegen den Kompromiss gestimmt haben, haben sehr klar gesagt: Man darf das nicht, und zwar, weil das absolute Gebot der Menschenwürde vollständig und immer dagegen steht. Damals wussten wir noch nicht, dass der erfolgversprechende Ansatz auf der Forschung an adulten Stammzellen liegen würde. Liebe Frau Flach, wir wissen sehr wohl, dass viele Menschen hoffen, dass mithilfe der neuen Methoden schreckliche Krankheiten gelindert oder geheilt werden können. Damals wussten wir das noch nicht, dass die Hoffnung bei der Forschung an adulten Stammzellen liegt. Heute haben wir viele zusätzliche Informationen. Wir wissen heute ganz genau, dass die Forschung mit adulten Stammzellen mehr Hoffnungen bietet. Ich glaube deshalb, dass wir festhalten sollten, dass das so ist - selbstverständlich, ohne Heilsversprechen zu machen. Das gibt dann aber keinen Grund für die Stichtagsverschiebung. Noch einmal zurück zu dem Kompromiss von damals. Viele von uns, die damals gegen den Kompromiss gestimmt haben, haben sich mit dem Kompromiss letztendlich abgefunden. Warum? Wir waren der Auffassung, dass man mit diesem Kompromiss zwar in die ethische Grauzone und damit in die gesellschaftspolitisch bedenkliche Grauzone hineingegangen ist, dass eine einmalige Stichtagsregelung das aber noch erträglich macht. Heute gibt es weniger Argumente für die embryonale Stammzellforschung. Die ethische Grauzone indes bleibt. Warum soll dann der Stichtag verschoben werden? Ich sage das so deutlich, weil Sie daraus vielleicht erkennen, dass uns viel weniger persönliche Vorbehalte oder Misstrauen gegenüber der Forschung daran hindern, der Verschiebung des Stichtages zuzustimmen, sondern eher die schädliche Tendenz zur immer weiteren Relativierung in einer Grundsatzfrage ohne Not. Das ist genau der Punkt. ({1}) Ich will deswegen noch einmal dafür werben, sich genau zu überlegen, wie man sich entscheidet. Es kann manchmal ärgerlich sein, wenn einem vorgeworfen wird, das Festhalten an dem, was wir haben, sei durch Denkverbote oder Bequemlichkeit diktiert. Das ist es nicht, sondern das ist ganz klar das Ergebnis einer Abwägung zwischen einer Relativierung in Grundsatzfragen, die wir nicht wollen, und der Möglichkeit, positive Ansätze für Heilen und Helfen tatsächlich zu nutzen. Diese Möglichkeiten liegen aber in der Forschung an adulten Stammzellen und nicht in der Nutzung menschlicher Embryonen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Renate Schmidt ist die nächste Rednerin.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich stimme Konrad Schily ausdrücklich zu. Es gibt in dieser Frage in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten: entweder derartige Forschung ganz zu verbieten oder sie im Rahmen der von uns festgesetzten Regelungen ganz zuzulassen. ({0}) Ich stimme auch Herta Däubler-Gmelin zu, die gesagt hat, dass es Fragen gibt, die Kompromissen unzugänglich sind. Ich glaube, in dieser Frage ist ein Kompromiss ungeheuer schwierig. Ich unterstütze den Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin und habe mir als gläubige Christin, der an ihrer evangelischen Kirche etwas liegt, die Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich bin sowohl Bischof Huber als auch Kardinal Lehmann für ihre Stellungnahmen dankbar - auch wenn ich daraus andere Schlussfolgerungen ziehe -, weil sie mir bei meiner Entscheidungsfindung geholfen haben. Bevor ich zu unserem Gesetzentwurf komme, möchte ich meine Position zur Frage menschlichen Lebens, werdenden, ungeborenen Lebens beschreiben, weil ich glaube, dass das in diesen Zusammenhang gehört. Wir müssen uns einmal fragen: Wie halten wir es denn insgesamt mit dem Schutz menschlichen Lebens vor der Geburt? Ich bin für einen sehr viel vorsichtigeren Umgang und für viel mehr Beratung bei der Pränataldiagnostik, um das Recht auf Nichtwissen von Eltern zu gewährleisten. ({1}) Genauso bin ich der Meinung, dass wir in Deutschland Präimplantationsdiagnostik zur Überprüfung schwerster Schäden einer befruchteten Eizelle zulassen sollten. ({2}) Ich kann nicht nachvollziehen, dass diese verboten, eine spätere Abtreibung des schwer geschädigten Embryos aber zugelassen ist. ({3}) Ich hoffe - hier vertrete ich nahezu eine Einzelmeinung in meiner Fraktion -, dass wir zu Regelungen kommen werden, die Spätabtreibungen reduzieren, auch wenn es jährlich - ich sage das in Anführungszeichen - nur einige hundert Fälle sein mögen. Genauso bin ich überzeugt, dass die Stichtagsregelungen für die Stammzellenforschung ganz entfallen sollten. ({4}) Es ist überhaupt keine Frage: Natürlich ist eine befruchtete Eizelle im ersten Entwicklungsstadium menschliches Leben, und zwar vollkommen unabhängig davon, Renate Schmidt ({5}) ob sie in Deutschland oder in einem anderen Land dieser Erde und bis zu welchem Stichtag sie entstanden ist. Aber ist diese befruchtete Eizelle werdendes, ungeborenes Leben? Nein, ihr fehlt eine wesentliche Qualität, um das werden zu können, nämlich das Einnisten in die Gebärmutter. ({6}) Nur ein Bruchteil der befruchteten Eizellen führt zu einer Schwangerschaft. Die größere Zahl nistet sich nicht ein; die Frau merkt davon nichts. Beim Einsetzen einer Spirale geschieht genau dasselbe. Was geschieht mit sogenannten überzähligen Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung nicht mehr benötigt werden? Haben diese einen anderen menschlichen Wert als aus dem Ausland eingeführte embryonale Stammzellen? Erhalten wir uns unsere Moral, unsere ethischen Prinzipien und unsere forschungspolitische Unschuld dadurch, dass deutsche Steuergelder in Forschungsvorhaben der EU ohne jedwede Stichtagsregelungen fließen? ({7}) Nein, diese Unschuld haben wir längst verloren, und zwar beginnend mit dem Zulassen künstlicher Befruchtung. In meinen Augen versuchen wir, das mit unzulänglichen Mitteln zu verbrämen. Kardinal Lehmann hat in seiner Stellungnahme geschrieben, dass man beim Vorliegen mehrerer Alternativen die sicherere Variante, also in dubio pro vita, wählen sollte. Bischof Huber hat in einem Interview geäußert, die evangelische Kirche habe immer gefragt, was konkret dem Menschen und dem Leben dienen kann. Ich möchte mit meiner Unterstützung des Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin pro vita entscheiden. Ich möchte damit den Menschen und dem Leben dienen, den Chancen der Menschen mit multipler Sklerose, mit Alzheimer oder Diabetes. Ich betone das Wort „Chancen“. Ich möchte erreichen, dass nichts unversucht bleibt, von geeigneten Organspendern weniger abhängig zu werden, wohl wissend, dass dies noch Zukunftsmusik ist und vielleicht auch bleiben wird. Natürlich dürfen wir keine verfrühten Hoffnungen wecken. Vielleicht - wirklich nur vielleicht - brauchen wir in absehbarer Zeit keine embryonalen Stammzellen mehr, um die genannten Ziele zu erreichen. Vielleicht führt auch kein einziger dieser Wege zu diesen Zielen. Dieses Noch-nicht-wissen-Können gehört zum Wesen der Forschung. Trotz aller Zweifel steht für mich daher fest: Nicht zu versuchen, den aussichtsreichen Weg der Forschung mit embryonalen Stammzellen zu gehen, wäre in meinen Augen nicht „pro vita“, würde nicht den Menschen und dem Leben dienen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir diesen Weg gehen müssen, und zwar ohne Stichtagsregelung. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre 2002 habe ich zu den Mitinitiatoren des damaligen Stammzellgesetzes gehört. In den heute zur Diskussion stehenden Vorlagen werden ebenso wie innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Religionsgemeinschaften und christlichen Kirchen ganz verschiedene Positionen vertreten. Dies zeigt vor allem eines: Es gibt bei diesem Thema keinen einfachen und nicht nur einen Weg, weder rechtlich noch ethisch noch christlich. Den gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmen zur Beantwortung dieser Frage stellt unser Grundgesetz dar. Daher werden sich diejenigen, die ein Rollback und damit ein Forschungsverbot fordern, fragen lassen müssen, wie sie zu folgender Tatsache stehen: Ein vollständiges Verbot, das auch die weltweit bereits vorhandenen ES-Zell-Linien umfasst, ist verfassungsrechtlich nicht begründbar. Dies ist ein wörtliches Zitat aus der Begründung zum Stammzellgesetz. ({0}) Worum ging es 2002? Im Kern ging es um zwei Anliegen. Erstens wollten wir im Sinne der grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit die Grundlagenforschung ermöglichen. Zweitens wollten wir durch einen festen, in der Vergangenheit liegenden Stichtag ausschließen, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, dass im Ausland Embryonen zerstört werden. Sagen wir es doch ruhig: Diese Ziele hat das Stammzellgesetz zunächst erreicht. ({1}) Inwiefern hat sich die Lage seit 2002 verändert? Die Wissenschaft betont in breitem Konsens, dass mit den aufgrund des Gesetzes verfügbaren Stammzelllinien eine konkurrenz- und vor allem kooperationsfähige Forschung nur noch sehr eingeschränkt möglich ist; denn diese Stammzelllinien sind teils kontaminiert, teils genetisch verändert und nicht standardisiert. ({2}) Adulte Stammzellen sind wichtig, aber sie können embryonale Stammzellen nicht ersetzen; denn sie können nicht langfristig vermehrt werden, und sie können sich nicht zu allen Körperzellen entwickeln. An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zur Behauptung von MdB Hüppe machen, die er vorhin aufgestellt hat, als es im Zusammenhang mit der Antwort des Forschungsministeriums auf seine Anfrage um den Vergleich von adulten und embryonalen Stammzellen ging: Die Behauptung, die vorhin geäußert wurde, ist falsch. Richtig ist, dass sich die Forschung an adulten und die Forschung an embryonalen Stammzellen gegenseitig beeinflussen. ({3}) Das ist nichts Theoretisches, sondern findet statt. ({4}) Zurzeit werden in Deutschland mehrere vom RobertKoch-Institut genehmigte Forschungsprojekte zum direkten Vergleich von humanen embryonalen Stammzellen und adulten Stammzellen durchgeführt. So wird beispielsweise am MDC in Berlin das Potenzial von Nabelschnurblutzellen und embryonalen Stammzellen bei der Generierung von Leberzellen untersucht. Das ist also bereits Praxis. ({5}) Forscher wie Yamanaka und Thomson werden für die Ergebnisse ihrer Forschung im Bereich der Reprogrammierung von Körperzellen, zu sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen, übrigens auch von denjenigen gefeiert, die keine Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland wollen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Rachel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rachel, da die Antwort der Bundesregierung auch von Ihnen unterschrieben worden ist, habe ich folgende Frage: Können Sie mir eine Arbeit nennen, die im Rahmen der Forschung an adulten Stammzellen zum Erfolg führte bzw. eine klinische Studie zur Folge hatte, die tatsächlich nur deswegen durchgeführt werden konnte, weil Ergebnisse der embryonalen Stammzellforschung vorlagen? Können Sie mir eine solche Arbeit nennen?

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hüppe, in Ihrer Anfrage an die Bundesregierung haben Sie nach einer Bewertung erschienener Publikationen gefragt. Die Antwort des Ministeriums lautete, dass es Ihnen dazu keine Zitationsanalyse vorlegen kann, da zum Stichwort „stem-cells“ knapp 20 000 Publikationen vorliegen und das genau ausgewertet werden müsste. Faktum ist, dass es in dieser Hinsicht bereits vergleichende Studien in Deutschland gibt. Außerdem sagen die Forscher selber, dass sie die Erfolge bei der Reprogrammierung den Erkenntnissen aus der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen verdanken. Das hat Thomson erst im Dezember letzten Jahres gegenüber der New York Times erklärt. Die Forscher selbst haben es also belegt. ({0}) Thomson hat sogar gesagt, dass weder seine noch die Ergebnisse in Japan ohne die Ergebnisse der letzten zehn Jahre Forschung an embryonalen Stammzellen möglich gewesen wären. Thomson hat nachgewiesen, dass die Reprogrammierung grundsätzlich machbar ist. Man kann auch sagen, er hat den Proof of Principle erbracht. Das ist toll. Für die nun anstehenden Detailanalysen, ob die iPS-Zellen und die humanen embryonalen Stammzellen identisch sind oder sich, wie Schöler sagt, in über 1 000 Genen unterscheiden, sind die Forscher auf neue embryonale Stammzelllinien angewiesen. ({1}) James Adjaye, der hier in Berlin am Max-Planck-Institut an der Reprogrammierung von Stammzellen forscht, hat gesagt: Wir können es schaffen, reprogrammierte Zellen für die Medizin nutzbar zu machen; dazu benötigen wir aber dringend brauchbare neue embryonale Stammzellen. Meine Damen und Herren, eine Position, bei der ausschließlich Prinzipien verteidigt werden, wird ethisch nur schwer überzeugen können. Wer die Forschung an Stammzellen in Deutschland verbieten will, muss erklären, wie er mit den Ergebnissen umgehen will, die Forscher in anderen Ländern erzielen. Entweder werden diese Ergebnisse den kranken Menschen in Deutschland vorenthalten, oder er wird sich zumindest mit dem Vorwurf der Inkonsequenz auseinandersetzen müssen. Wir sind gefordert, zu überprüfen, ob der Geist des damaligen Kompromisses durch das geltende Stammzellgesetz noch hinreichend verwirklicht wird, ob in Deutschland nach wie vor hochwertige Forschung an embryonalen Stammzellen möglich ist oder dies bald nur noch auf dem Papier steht. Durch die Verschiebung des Stichtages auf einen neuen, ebenfalls in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt würde es den Forschern ermöglicht, auf neue Stammzelllinien zurückzugreifen. Diese Zelllinien - um nichts anderes geht es - sind bereits vorhanden. Das heißt, kein einziger Embryo wird bei einer Verschiebung des Stichtages auch nur berührt. ({2}) Eine theoretisch denkbare Änderung in der Zukunft bleibt - das ist uns wichtig - dem Gesetzgeber vorbehalten. Wenn also einige im Moment eine ethische Wanderdüne malen, sprechen sie letztlich den Mitgliedern zukünftiger Bundestage ein verantwortliches und moralisches Urteil ab. ({3}) Die Mutmaßung, dass im Ausland extra für die Forschung in Deutschland Embryonen zerstört würden, ist, vorsichtig formuliert, gewagt. Wer die deutsche Nabelschau ein Stück verlässt, stellt fest, dass 98 Prozent der entsprechenden Publikationen im Ausland entstehen. Wir - Bund und DFG - geben innerhalb von fünf Jahren knapp 4 Millionen Euro für die embryonale Stammzellforschung aus. Allein der Bundesstaat Kalifornien stellt in einem Jahr 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Diese Größenverhältnisse sagen alles. Kurz und gut: Mit dem von uns vorgestellten Antrag kann der Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen von 2002 in verantwortlicher Weise fortgeführt werden. ({4}) Wir tragen mit ihm den veränderten Bedingungen in der Wissenschaft Rechnung; zugleich wird kein einziger Embryo berührt. Eine Verschiebung des Stichtages entwertet den damaligen Kompromiss nicht. Im Gegenteil, sie gibt ihm den Wert zurück, den er 2002 hatte. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste Redner. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich sehr froh darüber bin, dass unsere Diskussion trotz der Bandbreite der Positionen - sie reicht von der Position Herrn Schilys und meiner Kollegin Frau Flach bis zur Position anderer - eine weit höhere Qualität aufweist als das, was ich in den letzten Tagen im Fernsehen sah. Da wurde in einem Bericht aus Berlin ein armes Kind vorgestellt, mit lauter Schläuchen an seinem Körper. Daneben stand ein ratloser Mediziner, der suggerierte: Wenn doch nur die embryonale Stammzellforschung möglich wäre; dann könnte ich diesem Kind helfen. Als ich gestern Abend nach Berlin zurückfuhr, sprach ein Journalist im Radio davon, dass es sich doch nur um einen Zellhaufen handele und dass man Tilman Riemenschneider ja auch kein altes Holz zur Verfügung gestellt habe, um seine Kunstwerke zu erstellen. ({0}) Ich denke, es geht hier um eine ganz grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, wie wir es mit den ethischen Werten in unserer Gesellschaft halten. Es geht hier nicht darum - auch für mich ganz persönlich nicht -, seine Position als Katholik deutlich zu machen. Es geht hier nicht darum, über die Bibel zu reden, sondern es geht darum, zu fragen, was die Grundbausteine unserer Gesellschaft sind, welchen Stellenwert wir dem Leben geben und wie das Leben in unserem Grundgesetz definiert ist: Es existiert von Anfang an. Ich bin mit der Aussage einverstanden, dass der Stichtag ein Kompromissstichtag ist. Wir haben es aber in allen Bereichen, in denen sehr wesentliche Entscheidungen getroffen werden, mit Stichtagen zu tun. Ob Sie die Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen wollen, ob Sie eine Abtreibung machen lassen wollen oder müssen - auch dann haben Sie es mit Stichtagen zu tun. Deswegen bin ich der Meinung, dass der Kompromiss hinsichtlich des alten Stichtages trägt. Diese Regelung braucht keinen neuen Geist, wie es Herr Rachel eben zum Ausdruck gebracht hat. Es besteht meiner Meinung nach auch nicht die Gefahr, dass es beim Thema Stichtag zu einer Entwicklung gleich einer Wanderdüne kommt. Wir müssen abklopfen - deswegen bin ich auch froh, dass es zu diesem Thema noch eine Anhörung geben wird -, ob der alte Stichtag für die gegebenen Erfordernisse ausreichend ist. Ich will noch etwas sagen: Ich bin ein bisschen betroffen darüber, dass man zwischen der Ethik des Heilens und - in Anführungsstrichen - der Notwendigkeit des Tötens abwägen will. Ich glaube, das kann man nicht miteinander abwägen. ({1}) Es muss immer Vorfahrt für das Leben gelten. Das ist keine konfessionelle Position, sondern eine grundgesetzliche Position. Sie gilt nicht nur am Anfang des Lebens, sondern auch am Ende des Lebens. Wir müssen uns sehr genau darüber unterhalten - das werden wir im Rahmen der Anhörung auch noch tun -, ob wir mit der Chance der embryonalen Stammzellenforschung weitergekommen sind. Ich glaube, man muss sehr kritisch hinterfragen, wie die Tumorneigung von embryonalen Stammzellen außerhalb des menschlichen Körpers aussieht. Nehmen wir hier nicht einen sehr hohen ethischen Preis in Kauf, um vermeintliche Erfolge zu erzielen? Ist das zu rechtfertigen? Ich melde hier erhebliche Zweifel an; denn gerade die Entwicklungen der letzten Zeit haben gezeigt, dass uns die Erfolge mit der adulten Stammzellenforschung wesentlich weitergebracht haben. Es betrübt mich schon, wenn manchmal durchklingt, dass der eine oder andere Antrag vielleicht nicht ganz so wertvoll sei. Ich finde sie alle sehr wertvoll, weil sie eine wichtige Grundlage sind, um Dinge zu entwickeln. Jeder von Ihnen wird persönliche Erfahrungen gemacht haben, möglicherweise mit dem Vater, der elendig an Krebs gestorben ist. Ich glaube, man sollte die Werthaltigkeit der Anträge nicht infrage stellen. ({2}) Ich habe mich positioniert und gesagt, dass ich den Kompromiss für klug und notwendig halte. Wir sollten nicht an ihm rütteln. Ich möchte noch einen Gedanken anfügen, der manchmal ein bisschen zu kurz kommt und den man si14904 cherlich kritisch sehen sollte. Ich fand es sehr interessant, dass in den Umfragen, die mir zur Kenntnis gebracht worden sind, Frauen eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen als Männer. Wir sollten auch einmal hinterfragen, wie die Forscherlandschaft in diesem Bereich ausgestaltet ist. Ich fand auch die Feststellung sehr interessant, dass junge Menschen gerade in letzter Zeit eine stärker ablehnende Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen. Ich meine, auch das sollten wir im Rahmen der Anhörung und der weiteren Erörterung dieser Problematik in unsere Überlegungen einbeziehen. Ich hoffe, dass wir wieder einen guten Kompromiss finden werden, durch den unsere Gesellschaft vorangebracht wird und der von unserer Gesellschaft getragen wird. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Michael Kretschmer.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte ist viel von Angst die Rede, einer Angst, die aus dem Unbehagen herrührt, mit den Stammzellforschungsprojekten könnte leichtfertig umgegangen werden. Daher stelle ich zunächst einmal fest, dass jedes der wenigen Projekte, die in Deutschland genehmigt worden sind, nach sehr strengen fachlichen und vor allem ethischen Maßstäben bewertet wurde. Ich trete dem Eindruck entgegen, die deutschen Forscher gingen mit diesem Thema leichtfertig um und seien sich der ethischen Bedeutung dieses Themas nicht bewusst. ({0}) Vielmehr täten wir als Deutscher Bundestag gut daran, egal wie wir zu diesem Thema stehen, der deutschen Wissenschaft zu vertrauen und das Vertrauen in sie zu nähren und zu betonen; denn auf diese Leute, über die wir hier heute oftmals mit dem Anflug reden, es könnte sich bei ihnen um leichtfertige Gesellen handeln, sind wir ansonsten stolz. Ihnen haben wir gerade im medizinischen Bereich in den letzten Jahren unheimlich viel zu verdanken, und wir unterstützen und feiern sie bei vielen Anlässen. Aus diesem Grund haben sie zunächst einmal unser Vertrauen und unsere Achtung verdient. ({1}) Meine Damen und Herren, es wird in der Diskussion, aber auch in der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag vieles miteinander vermengt. Wir reden nicht über das Embryonenschutzgesetz, weil wir uns alle, wie ich denke, darüber einig sind, dass in Deutschland keine Stammzelllinien hergestellt werden sollen und dass wir das Embryonenschutzgesetz nicht ändern wollen. Vielmehr sagen wir ganz deutlich: Das ist für uns ein Wert, der Bestand hat. Es geht einzig und allein darum, Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt wurden, auch in Deutschland zu verwenden. Deswegen kann man auch nicht von einem Dammbruch oder von einer ethischen Wanderdüne reden. Solche Kampfbegriffe tun dieser Diskussion nicht gut. Von Deutschland wird kein Anreiz ausgehen, Stammzelllinien herzustellen oder Embryonen zu töten. Deutschland steht eher in der Gefahr, eine Entwicklung zu verpassen und sich aus ihr zu verabschieden, als selbst treibende Kraft oder Motor zu sein. Wir haben gerade gehört, dass in Kalifornien allein von der Privatwirtschaft 300 Millionen Euro ausgegeben werden; in Deutschland reicht die Deutsche Forschungsgemeinschaft 13 Millionen Euro für alle einschlägigen Forschungsbereiche aus, wovon nur 3 Prozent für embryonale Stammzellen bestimmt sind. Alles andere wird für die Forschung mit tierischen oder adulten Stammzellen ausgegeben. Aus diesem Grund sage ich noch einmal ganz deutlich: Deutschland ist bei diesem Thema nicht der Nabel der Welt, weder was die ethischen Standards angeht - viele Länder, die wie Spanien und Großbritannien ebenfalls unserem Kulturkreis angehören, gehen ganz anders damit um; man muss auch einmal darüber nachdenken, warum andere zu anderen Ergebnissen kommen - noch was die Funktion als treibende Kraft angeht. ({2}) Es muss uns doch bedenklich stimmen, wenn ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit hohen ethischen Standards und einer bedeutenden Wissenschaft an diesem Thema nicht mehr mitwirkt. ({3}) Zum einen können wir keine ethischen Standards im Ausland mitbestimmen, wenn wir nicht mehr daran teilhaben; zum anderen werden wir, wenn es am Ende tatsächlich zu Ergebnissen kommt, an ihnen nicht teilhaben. Meine Damen und Herren, ich kann nur davor warnen, dass Geisteswissenschaftler oder Ingenieure, die Mitglieder dieses Parlaments sind und sicherlich auch große wissenschaftliche Leistungen erbringen, über die Frage urteilen, ob Forschung an embryonalen Stammzellen eine Chance haben soll oder nicht und ob wir lieber auf adulte Stammzellen setzen sollen. Dies müssen wir doch den Wissenschaftlern überlassen, darüber kann doch nicht die Politik entscheiden. ({4}) Stammzellforschung ist zutiefst Grundlagenforschung, und man kann nie im Voraus wissen, was dabei herauskommt. Wir reden nicht über Auftragsforschung. Sie müssen sich stets klarmachen, dass kein Nobelpreisträger einen Preis für das bekommen hat, was er vorhatte, sondern nur für tatsächlich gewonnene Erkenntnisse. So ist es auch bei diesem Thema. Aus diesem Grund plädiere ich klar dafür, dass wir uns an dieser Forschung beteiligen. Wir brauchen diesen Stichtag nicht. Die Zulassungsverfahren bieten uns andere Möglichkeiten, unsere ethischen Standards, die, wie ich denke, unumstritten sind, einzuhalten. Wir sollten uns aus diesem Feld nicht zurückziehen. Wenn es irgendwann einmal zu Ergebnissen kommt, können wir die Möglichkeiten zur Heilung niemandem in Deutschland verwehren; das sollten wir auch nicht tun. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon im Herbst 2006 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit großer öffentlicher Resonanz auf die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für die Stammzellforschung in Deutschland aufmerksam gemacht. Die DFG legte seinerzeit dar, dass die derzeit geltenden Regelungen zur Stichtags- und Strafbarkeitsregelung deutsche Forscher von der Arbeit an neuen, qualitativ hochwertigen Stammzelllinien de facto ausschließen. In einer großen öffentlichen Anhörung des Bildungs- und Forschungsausschusses - unter Beteiligung der Gesundheitspolitiker - im Mai 2007 wurde diese Sichtweise weitgehend bestätigt. Die Mehrheit der dort gehörten Sachverständigen zeigte einen dringenden Handlungsbedarf bei der Stichtags- und Strafbarkeitsregelung auf. ({0}) Schließlich fand im September 2007 eine Veranstaltung zum fünfjährigen Bestehen der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung statt. Die beim Robert-Koch-Institut angesiedelte interdisziplinäre Kommission, die wir erstmals mit Inkrafttreten des Stammzellgesetzes eingesetzt haben, bewertet die ethische Vertretbarkeit von Forschungsvorhaben mit embryonalen Stammzellen und gibt dann gegenüber der Genehmigungsbehörde eine entsprechende Stellungnahme ab. Die ethische Vertretbarkeit ist an Vorprüfungen gebunden. Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit - das ist heute Morgen schon angesprochen worden müssen dargelegt werden. Damit verfügt Deutschland über extrem hohe Prüf- und Zulassungsstandards, die sonst so nirgends in der Welt zu finden sind. ({1}) Bis zum Herbst 2007 - inzwischen ist ein weiteres Vorhaben dazugekommen - wurden 25 Vorhaben nach strenger Prüfung genehmigt, allerdings bei einer sinkenden Zahl von Anträgen. An dieser Stelle ist festzustellen, dass die Zentrale Ethik-Kommission hier eine ausgesprochen verantwortungsvolle und gute Arbeit geleistet hat. Dafür möchte ich mich beim Vorsitzenden, Professor Siep - stellvertretend für alle Mitglieder -, für die sehr gute Arbeit bedanken, die sie geleistet haben. ({2}) Dies gilt im Übrigen auch für die deutschen Forscher. Mein Vorredner hat bereits darauf hingewiesen, dass sie seit 2002 sehr verantwortungsvoll mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten umgegangen sind. Bei der Veranstaltung anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Zentralen Ethik-Kommission wurde eines überdeutlich: Die Antragsentwicklung - und zwar nicht qualitativ, sondern quantitativ - gibt entschieden Anlass zur Sorge. Es muss etwas geschehen, um den beim Stammzellgesetz gefundenen Kompromiss weiterhin mit Leben zu füllen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, eine Initiative auf den Weg zu bringen, den Stichtag einmalig zu verschieben. Durch eine einmalige Verschiebung - das ist hier schon angeklungen - erhalten deutsche Forschergruppen die Möglichkeit, mit 500 hochwertigen und unter standardisierten Bedingungen hergestellten Zelllinien zu arbeiten. Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtags setzen wir den gefundenen Mittelweg von 2002 fort, der dazu beigetragen hat, den strengen Maßstab des Embryonenschutzgesetzes zu erhalten. Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass auch der von uns gewählte neue Stichtag in der Vergangenheit liegt. So ist sichergestellt - das war eines der zentralen Ziele des Stammzellgesetzes und sollte es auch bleiben -, dass von Deutschland keinerlei Anreize ausgehen, sogenannte überzählige Embryonen für Forschungszwecke zu verbrauchen. ({3}) Eine Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 gefährdet die Grundintention des Stammzellgesetzes in keiner Weise, sondern erhält diesen Mittelweg. Besonders diejenigen, die eine Stichtagsverschiebung rigoros ablehnen, müssen sich fragen lassen, wie in Zukunft die wichtige Forschung mit adulten Stammzellen vorankommen soll. Hier wird immer wieder übersehen, dass die jüngsten Erfolge bei der Umwandlung von adulten Körperzellen in pluripotente Stammzellen - die sogenannte induzierte Pluripotenz - ohne die jahrelange embryonale Stammzellforschung nicht möglich gewesen wäre. ({4}) Wir können auch in nächster Zukunft nicht auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verzichten; denn sie ist - darüber wurde intensiv diskutiert - für Referenzbzw. Vergleichsmöglichkeiten notwendig. Dabei geht es nicht unbedingt um vergleichende Studien, sondern darum, Wissen über Differenzierungsvorgänge zu erlangen. Dieses Wissen wird in beiden Bereichen genutzt, und zwar wechselseitig. ({5}) Der damalige vermittelnde Weg konnte nur zustande kommen, weil die Vertreter einer größeren Forschungsfreiheit und die Befürworter eines umfassenden Lebensschutzes ihre weiter gehenden Überzeugungen zugunsten eines tragfähigen und gangbaren Kompromisses zurückgestellt haben. Auch die Initiatoren des heutigen Kompromissvorschlages sind von unterschiedlichen Positionen gekommen, um sich nach gründlicher Abwägung der Argumente auf den nun vorliegenden Vorschlag einer einmaligen Stichtagsverschiebung zu verständigen. Deshalb denke ich, dass wir mit dem Gesetzentwurf einen vermittelnden Vorschlag vorlegen, den viele Kolleginnen und Kollegen mittragen können. Wir erhalten damit die Substanz des gefundenen Mittelweges. Was wollten denn die Väter und Mütter des Stammzellgesetzes? - Ich begrüße in diesem Zusammenhang Margot von Renesse und Wolf-Michael Catenhusen auf der Zuschauertribüne. - Wir wollten doch einen Ausgleich zwischen Lebensschutz auf der einen Seite und Freiheit der Forschung und dem berechtigten Interesse kranker Menschen an neuen Therapiemöglichkeiten auf der anderen Seite. Wir setzen das mit dem vermittelnden Vorschlag in Verantwortung fort und ermöglichen, dass dieser Weg begehbar bleibt und nicht nur auf dem Papier besteht. Ich danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in Europa zwei große Traditionen. Die erste große Tradition ist die Forschungstradition. Mit dieser Forschungstradition haben wir unglaublich viel für die Welt und die Menschen bewegt. Wir haben Ergebnisse erzielt, die die Menschen zum Staunen gebracht haben. Wir haben Ergebnisse erzielt, die junge Menschen dazu bewogen haben, sich den Naturwissenschaften zu widmen. Diese große Forschungstradition ist ungebrochen. Deshalb ist es völlig richtig, wenn die Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin, aber auch wir in der EU die Forschung in ganz besonderer Weise fördern und unterstützen. Wir müssen als Deutscher Bundestag alles daran setzen, dass die Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin das Ziel erreichen können, die Forschung in Europa voranzubringen. Wir haben eine zweite große Tradition, die ihren ersten Höhepunkt in der Aufklärung hatte. Wir sind uns darüber bewusst geworden, dass der Mensch nicht einfach als naturwissenschaftliches Produkt, sondern auch als geistiges Wesen in der Welt ist. Der Mensch hat sich immer gefragt, ob es Grenzen seines Handelns gibt oder ob er alles, was er kann, auch wirklich darf. Die Qualität des Menschen zeichnet aus, dass er sich fragt, welche Konsequenz sein Handeln hat, dass er nicht nur auf Forschung und Innovation schaut. Diese zweite große Traditionslinie besagt, dass der Mensch nicht alles darf, was er kann. Unbestritten war und ist, dass der Mensch nie zum Objekt werden darf, dass er nie verzweckt werden darf, sondern dass er in seiner Menschenwürde immer als Ebenbild Gottes betrachtet werden muss. ({0}) Heute führen wir eine Diskussion darüber, was Technik, Innovation und Wissenschaft können. Ich will gar nicht bestreiten, dass es da Möglichkeiten gibt, wenngleich all diejenigen, die von den großen Möglichkeiten der embryonalen Stammzellen sprechen, den Beweis dafür noch schuldig geblieben sind und noch keine Antwort auf die Frage haben, was passiert, wenn Fehlentwicklungen stattfinden. Aber diese Frage will ich gar nicht weiter vertiefen. Ich glaube vielmehr, dass die ganz entscheidende Frage, die gestellt werden muss, lautet: Wann beginnt menschliches Leben? ({1}) Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, was ich mit den Zellen machen darf und was nicht. Da es darüber unterschiedliche Auffassungen gibt, haben wir heute eine Debatte, die losgelöst von Fraktionsvorgaben ist. Jeder ist seinem Gewissen verantwortlich. Es ist völlig richtig, dass die Frage, wann menschliches Leben beginnt, eine Frage der Definition ist. Sie wird in verschiedenen Kulturen und von verschiedenen Religionen unterschiedlich beantwortet. Der Respekt vor diesen Religionen gebietet es mir, mich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Ich komme zu einer für mich ganz eindeutigen und klaren Position, und die heißt: Da ich nicht hundertprozentig weiß - das ist eine Definitionsfrage, und eine Definition hängt natürlich immer von denen ab, die die Definition geben -, wann menschliches Leben beginnt, bin ich in Respekt vor der Würde des Menschen und der Ebenbildlichkeit Gottes der Auffassung, den Termin zum frühestmöglichen Zeitpunkt anzusetzen und nicht zum spätestmöglichen. ({2}) Ich komme zu der Überzeugung, dass die Ei- und die Samenzelle das eine sind, aber dass mit der Verbindung von Ei- und Samenzelle etwas ganz Neuartiges entsteht, etwas, mit dem sich der Start des Lebens verbindet und mit dem Leben weitergeht. Jeder, der diese Position nicht vertritt, muss mir sagen, wann Leben beginnt. Ich glaube, die entscheidende Frage heute - die müssen sich alle vorlegen - ist nicht, ob der Stichtag verschoben werden soll oder nicht, sondern entscheidend ist: Wenn ich dem Embryo menschliche Lebensqualität zugestehe, dann verbietet sich Forschung an ihm, und dann darf ich auch nicht aus der Dritten Welt oder von sonst wo die Zellen herholen. Da kann ich nur sagen, was der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und anVolker Kauder dere sagen: Das fortgesetzte Rechnen mit fremdem, nicht selbst begangenem Unrecht erschüttert die eigene moralische Glaubwürdigkeit. ({3}) Weil ich zu der Überzeugung komme, dass der Start des menschlichen Lebens unwiderruflich mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, was wir im Übrigen auch im Embryonenschutzgesetz formuliert haben, bin ich der Auffassung, dass wir an den Embryonen nicht forschen dürfen. Deswegen bin ich gegen eine Verschiebung des Stichtages. ({4}) Der Kollege Jochen Borchert hat im Jahr 2002 genau das formuliert, was heute eintritt: Es wird nicht beim Stichtag bleiben, er wird verschoben werden. ({5}) Ich sage Ihnen: Es wird auch nicht bei diesem Stichtag bleiben. Es gibt nämlich nur die Alternative: Wenn der Embryo menschliches Leben ist, dann nein, und wenn er es nicht ist, dann brauche ich auch keinen Stichtag; dann stellen sich die Fragen ganz neu. ({6}) Ich werbe für klare Positionen, und ich werbe dafür, dass wir den Embryo als den Startschuss des menschlichen Lebens betrachten, sodass niemand mehr sagen kann, dass das menschliche Leben später beginnt. Allein der frühestmögliche Zeitpunkt hilft, menschliches Leben zu schützen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Cornelia Pieper. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kauder, nachdem Sie die Debatte mit der Frage, wann menschliches Leben beginnt, fortgesetzt haben, möchte ich an dieser Stelle auch namens der FDPFraktion an eine andere wichtige Debatte ethischer Kultur erinnern, nämlich an die Debatte zum Schwangerschaftsrecht mit der Fristenlösung. Auch damals haben wir uns verantwortungsbewusst der Frage gestellt: Wann beginnt menschliches Leben? Wir haben aus meiner Sicht sehr verantwortungsbewusst zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens und dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen abgewogen. Ich meine, dass die Lösung, die wir gefunden haben, nämlich eine Fristenlösung mit einer Beratungspflicht, eine sehr verantwortungsbewusste Lösung war, die man mit dieser Debatte heute nicht wieder infrage stellen sollte, Herr Kauder, wie Sie es getan haben. Wir müssen uns bewusst machen, dass es in der Debatte, die wir heute zum Stammzellgesetz führen, sowohl um den Schutz des ungeborenen Lebens als auch um die Unversehrtheit des Lebens geht, also um die Ethik des Heilens. ({0}) Ich möchte ganz bewusst an die Worte der Kanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung erinnern - daran erinnere ich mich immer sehr gerne. ({1}) Sie wissen, was kommt: „mehr Freiheit wagen!“ Ich zitiere die Kanzlerin: Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie setzen. Der Staat darf nicht glauben, er wisse selber, was da am besten zu tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die Wissenschaftsorganisationen in den Vordergrund rücken. ({2}) So, wie es die Kanzlerin damals formuliert hat, will ich es heute auch tun. Ich finde es nicht richtig, dass wir in der Debatte heute - in einigen Beiträgen kam das ein bisschen zum Vorschein - den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht verantwortungsbewusstes Handeln unterstellen. Denn auch sie diskutieren natürlich ethische Fragen. Wir alle wissen doch, dass selbst in der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung namhafte Stammzellenforscher mitarbeiten und unter strengen ethischen Auflagen Entscheidungen für Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen treffen. ({3}) Deshalb möchte ich heute die Leopoldina, die älteste Akademie der Naturwissenschaften - ich gratuliere Frau Schavan noch einmal zu der Entscheidung, die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften zu machen -, zitieren. Die Leopoldina hat in ihrer Stellungnahme zur Stammzellenforschung erklärt: Es ist wissenschaftlich trotz wiederholter anderer Aussagen aus Politik und Medien allgemein anerkannt, dass beim derzeitigen Kenntnisstand die ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen die humanen embryonalen Stammzellen auch im Stadium der Forschungsentwicklung nicht ersetzen können. Dies ist in zahlreichen Studien zur Regene14908 ration von Herzgewebe mit Knochenmarkstammzellen gezeigt worden. Professor Steinhoff, ein Ihnen bekannter Stammzellenforscher aus Rostock, der sich mit der Regeneration von Zellgewebe des Herzens befasst, hat es in einer Anhörung, die wir im Mai vergangenen Jahres durchgeführt haben, vor dem Forschungsausschuss folgendermaßen formuliert: Die wissenschaftliche Untersuchung von Stammzellen ist Lebensforschung, und zwar von der ersten Sekunde des Lebens bis zur letzten Sekunde, und da kann man Stammzellen nicht trennen in embryonal, fötal oder adult. Sie alle können nicht ohne Stammzellenerhalt leben. … Deshalb können wir aus Sicht der Klinik und der adulten Stammzellforschung nicht auf die embryonale Stammzellforschung verzichten. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist der Punkt. Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal die Ethik des Heilens in den Vordergrund zu stellen. Wozu machen wir denn Forschung? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen doch nicht aus Selbstzweck. Wir machen Forschung im Dienste des Menschen, zum Wohle der Menschen. Dank der Forschung ist es heute beispielsweise schon möglich, viele Krebsarten zu bekämpfen. Aber als die Grundlagenforschung in diesem Bereich begonnen hat, war sie natürlich ergebnisoffen. So ist es auch heute bei der Stammzellforschung. Wenn sich Chancen auf Heilung eröffnen könnten, dann dürfen wir uns dem doch nicht versperren. Herr Hüppe, Sie haben gesagt, dass einige Verbände - Sie haben die Behindertenverbände angesprochen - zu Recht nicht wollen, dass mit embryonalen Stammzellen geforscht wird. Aber man kann doch nicht gleichzeitig anderen Menschen, die für sich persönlich entscheiden, dass sie geheilt werden möchten, Therapien verwehren, die irgendwann zur Verfügung stehen. Ich zitiere das Grundgesetz: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. ({5}) Diesem Grundrecht fühlen wir uns verpflichtet. Es sind für mich auch Zweifel angebracht, ob das bestehende Stammzellgesetz in der Tat dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit standhält; Frau Reiche hat es schon angesprochen. Auch eine Verschiebung des Stichtages wird dieses Dilemma nicht lösen. Das hat auch Herr Professor Schöler, einer der weltweit bekanntesten Stammzellforscher, in der letzten Anhörung im Forschungsausschuss zum Ausdruck gebracht. „Deutsche Stammzellforscher können international nur noch schwer mithalten“, sagt Hans-Peter Schreiber, Leiter des Novartis-Ethikrates.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, dass wir gut daran tun, gerade am Forschungsstandort Deutschland Zeichen zu setzen, uns nicht einer Entwicklung zu versperren, die unter ethischen Prinzipien gut ist und die aus meiner Sicht auch notwendig ist, um den Standort Deutschland weiterhin an der Spitze zu halten, vor allen Dingen um Menschen zu helfen, die schwer krank sind. Deswegen votiere ich für den Fall des Stichtages, und ich votiere vor allen Dingen für die Entkriminalisierung der Forscher in diesem Land. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eberhard Gienger.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Biotechnologie verbinden sich wie in fast keinem anderen Forschungsgebiet große gesellschaftliche Hoffnungen. Aber diese Hoffnungen werden auch begleitet von Ängsten und Sorgen. Vielen Menschen wird „unheimlich“. Sie fragen sich: Sind denn die Forscher die neuen Zauberlehrlinge des Lebens? Sie fürchten ethische Dammbrüche, die unsere Gesellschaft verändern könnten. Die Menschen erwarten von der Politik aber zu Recht, dass sie die Rahmenbedingungen so setzt, dass neue Technologien zum Positiven genutzt werden können. Die Diskussion um die Stammzellforschung hat eine besondere Dimension, besonders für Abgeordnete, die sich am christlichen Menschenbild orientieren. Als Forschungspolitiker stehe ich hier wie viele andere Mitglieder dieses Hohen Hauses vor der enormen Herausforderung, unsere klare Position zum Lebensschutz verantwortlich in Einklang zu bringen mit den berechtigten Interessen der Forschung. Mit dem Antrag zur einmaligen Verschiebung des Stichtages glauben wir einen guten Weg gefunden zu haben, mit dem wir die Substanz des 2002 erlangten Kompromisses fortschreiben und erhalten können. Aus forschungspolitischer Sicht geht es mir dabei in erster Linie um die Vereinbarkeit von Lebensschutz und Verpflichtung zum Heilen; zum anderen geht es mir darum, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu setzen, dass geforscht werden kann. Zugegeben, das ist keine einfache Aufgabe. Die meisten von uns befinden sich hier in einem Dilemma. Als vor fast sechs Jahren das Stammzellgesetz verabschiedet wurde, ist den deutschen Forschern erlaubt worden, mit humanen embryonalen Stammzellen zu arbeiEberhard Gienger ten, ohne jedoch Anreize für die Tötung von Embryonen zu geben. Das muss auch so bleiben. Mit der Stichtagverschiebung zum 1. Mai 2007 haben wir einen Kompromiss gefunden, dem sich die Forscher, ein großer Teil der evangelischen Kirche und auch viele Katholiken dieses Hohen Hauses anschließen können. Ein Stichtag ist ein wirksames Instrument, um zu verhindern, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, Embryonen für die Herstellung von Stammzelllinien zu töten. Einen solchen Anreiz wollen wir definitiv nicht. ({0}) Wir lehnen deshalb die gänzliche Aufhebung des Stichtages entschieden ab. Eine Aufhebung ist auch nicht nötig, da wir eine erfolgreiche Reprogrammierung von menschlichen Hautzellen zu Zellen mit embryonalen Eigenschaften demnächst erwarten dürfen. Deswegen können wir davon ausgehen, dass wir in absehbarer Zeit auch auf embryonale Stammzellen verzichten können. Doch bis es so weit ist, müssen Forscher die reprogrammierten embryonalen Stammzellen miteinander vergleichen können. Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass auf Forschungsarbeiten mit humanen embryonalen Stammzellen derzeit nicht verzichtet werden kann. Grundlagenkenntnisse für mögliche spätere therapeutische Ansätze können zum Teil nur in parallelen Arbeiten an adulten sowie an embryonalen Stammzellen gewonnen werden. Professor Ho, der nur an adulten Stammzellen arbeitet, hat hier in einer Anhörung vor einigen Monaten gesagt: Ohne die Kenntnisse der embryonalen Stammzellen hätte ich es nicht so weit gebracht. ({1}) Wir wollen demzufolge der Forschungsfreiheit und auch dem Interesse der kranken Menschen an der Entwicklung neuer Therapien angemessen Rechnung tragen. Uns ist es wichtig, dass die Grundausrichtung des bestehenden Gesetzes nicht verändert wird. Es geht um die Anpassung an neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Herausforderungen. Wir befinden uns unausweichlich in einem Dilemma. Die Werteorientierung für uns heißt: Lebensschutz. Aber dies beinhaltet auch die Verantwortung für die geborenen Menschen und deren Lebenswürde. Diese Verantwortung verpflichtet uns, Krankheiten zu bekämpfen und Heilungschancen zu nutzen. Eine einmalige Verschiebung des Stichtags ist aus meiner Sicht nicht nur eine verantwortbare Lösung; sie ist aus meiner Sicht eine gute Lösung. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zu folgen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Fritz Kuhn das Wort.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Präsident! Für mich ist eine vernünftige und kluge Definition dessen, was ein Embryo ist, der Satz: Ein Embryo ist ein zukünftiges Kind zukünftiger Eltern. - Er kann - deswegen bin ich gegen eine Stichtagsverschiebung - nicht als Rohstoff oder als Zellmaterial angesehen werden. ({0}) Jürgen Habermas hat in einer wichtigen Schrift zur Frage der Bioethik einmal gesagt, dass die Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens unser gattungsethisches Selbstverständnis - wie wir uns in unserer Kultur mit den Traditionen, die wir haben, definieren - aufs Spiel setzen würde, also das, was wir in unserer Kultur unter Menschsein verstehen. Deswegen sage ich: Bei alldem, was die Tür dazu öffnet, aus dem Embryo einen Rohstoff für Heilungsprozesse zu machen, haben wir es mit einer gefährlichen Fragestellung zu tun; über die Grenzen haben wir ernsthaft zu diskutieren. Wir diskutieren - Herr Kauder hat es vorhin dargestellt - in einer Welt der naturwissenschaftlichen ZweckMittel-Relation, aber auch in einer moralischen Welt der Ethik. Es gibt in der Ethik seit langem, seit David Hume, einen Grundsatz, der lautet: Du darfst keinen naturalistischen Fehlschluss begehen. - Es ist unzulässig, in ethischen Diskussionen aus dem Sein auf das Sollen zu schließen. ({1}) „Weil es faktisch Ungerechtigkeit gibt, dürfen wir Ungerechtigkeit akzeptieren“, das wäre ein Beispiel für einen naturalistischen Fehlschluss. Das heißt übrigens auch: Aus einem prognostizierten Sein - mit Stammzellenforschung heilen wir jetzt noch unheilbare Krankheiten; das ist ja eine Hoffnung oder ein vages Versprechen - darf nicht abgeleitet werden, was wir heute tun müssen. Wenn wir dies anfangen - an dieser Stelle schaue ich Frau Kollegin Flach an -, hebeln wir systematisch alle ethischen, moralischen Diskussionen aus. Dann gibt es nämlich nichts anderes mehr. Aus der Möglichkeit, die übrigens in allem steckt, dieses oder jenes zu tun, müssen wir dann, moralisch gezwungen, dieses oder jenes zulassen. ({2}) Wer dies macht, hebelt die Ethik aus und verlässt systematisch die Spannung zwischen Kausalität und moralischer Verantwortung - das sind die zwei Welten, die Kollege Kauder angeführt hat -, indem er die Ethik nicht mehr entsprechend zur Geltung bringt. Deswegen: Vorsicht vor dieser Argumentation: „Wir müssen, weil es das Ausland macht, weil die Hoffnung daran hängt“! Diese Argumentation ist - ich will es den Kollegen nicht persönlich unterstellen ({3}) in logischer Konsequenz durchdacht meines Erachtens eine Kapitulation vor der ethischen Grundfrage, und die heißt seit Kant: Was dürfen wir tun? Die muss mit eigener Vernunft und darf nicht nur mit Verweis darauf, was andere tun, beantwortet werden. ({4}) Ich will jetzt noch etwas zum Thema Kompromiss sagen; da war ich doch ein bisschen erstaunt. Herr Kollege Röspel, was wir im Jahr 2002 beschlossen haben, war, fand ich, ein Kompromiss und nicht ein Mittelweg. Ich war erstaunt über den Begriff Mittelweg. Ich sage Ihnen: Es war deswegen ein Kompromiss, weil er für beide Seiten - die Lösung war ja der Stichtag - Zumutungen bedeutet hat. Für viele von uns war dieser Kompromiss eine Zumutung, aber wir haben gesagt: Obwohl wir eine eindeutige Auffassung von der Bedeutung von Embryos haben, machen wir bei der Festlegung eines einmaligen Stichtages mit, weil wir das Argument, mit der Gewährung von Forschungsfreiheit in diesem Bereich könne man möglicherweise Heilmethoden für bisher unheilbare Krankheiten entwickeln, gewertet und gewichtet haben. Ihr Vorschlag, den Stichtag „einmalig“ zu verschieben, stellt für uns ein Abrücken von diesem Kompromiss dar. Ich fühle mich sogar ein wenig betrogen, nachdem ich 2002 den Kompromiss mitgetragen habe. Ich will Ihnen das erläutern: Damals war der Kontext, dass die Verfechter der embryonalen Stammzellforschung doch sehr stark argumentiert haben, dass sie gute Hinweise hätten, dass durch entsprechende therapeutische Eingriffe bisher unheilbare Krankheiten geheilt werden könnten. ({5}) Dieses Argument ist in den letzten sieben Jahren sehr stark in den Hintergrund getreten. Wenn man jetzt aus den gleichen Gründen sagt, man müsse den Stichtag weiter nach hinten verschieben, dann nimmt man das, was sich in der Zwischenzeit getan und gezeigt hat, nicht besonders ernst. ({6}) Herr Röspel, wir wollen fair diskutieren. Ich will Ihnen nichts unterstellen. ({7}) Man muss aber auch schon streiten und Auseinandersetzungen ertragen können. Alle wissen doch - Sie sind ja auch Politiker -, welches Signal wir, wenn wir jetzt einen neuen Stichtag festlegen, an das Ausland und die ganze Forschungscommunity senden. Das Signal ist eindeutig: ({8}) Immer dann, wenn neue Argumente - jetzt übrigens schwächere als damals - ins Feld geführt und breit über die Medien transportiert werden, hat man eine ausreichende Begründung für die Festlegung eines neuen Stichtages. Deswegen sage ich: Wer sich dafür einsetzt, dass wir einen neuen Stichtag beschließen, der gibt damit einen Dauerauftrag für weitere Stichtagsverschiebungen auf. Ich finde, das sollten wir nicht tun. Das war nicht die Geschäftsgrundlage für den Kompromiss des Jahres 2002. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thomas Oppermann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kant ist heute in unserer Debatte mehrfach und auch zu Recht zitiert worden, so von Herrn Schily und von Herrn Kauder. Auch mein Vorredner Kuhn hat es versucht. Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft die richtigen Fragen für unsere Debatte formuliert. Sie lauten: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“. Die Stammzellforschung hat zunächst einmal etwas mit Wissen zu tun. Es handelt sich nicht um eine Therapieforschung. Es geht darum, die grundlegende Funktionsweise von Zellen, von Zellveränderungen und von menschlichem Leben herauszufinden. ({0}) Bevor wir zu Heilmethoden und Therapien kommen, müssen wir erst einmal die Wissensbasis dafür erarbeiten, müssen wir durch Forschung erst einmal das notwendige Wissen dafür erlangen. Deshalb geht die Kritik, die hier teilweise formuliert worden ist, dass nach so und so vielen Jahren noch keine Therapien entwickelt wurden, das alles daher nichts gebracht habe und man jetzt auf adulte Stammzellen zurückgreifen müsse, völlig an der Sache vorbei. ({1}) Stammzellforschung ist Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist zunächst einmal die Erweiterung des Wissens, also die Verschiebung der Grenzen menschlichen Wissens, Schritt um Schritt. Aber medizinische Grundlagenforschung von heute hilft auch den Erkrankten von morgen und übermorgen. Übrigens verdanken wir die medizinischen Heilbehandlungsmöglichkeiten, die wir heute genießen, der Grundlagenforschung von vor 50 oder 100 Jahren. Deshalb ist die Frage, wie wir mit vielversprechenden, mit aussichtsreichen Forschungsansätzen bei der embryonalen Stammzellforschung umgehen, auch eine Frage, an der sich die Möglichkeiten entscheiden, die künftige Generationen haben. ({2}) Meine Damen und Herren, was sollen wir tun? Sollen wir am Stichtag festhalten, sollen wir ihn verschieben, oder sollen wir ihn ganz aufgeben? Ich plädiere konsequenterweise dafür, ihn ganz aufzuheben. Die deutsche Stichtagsregelung mit dem Stichtag 1. Januar 2002 hat ganz offenkundig und ganz erkennbar keinen Einfluss auf die Nutzung von Embryonen. ({3}) Auch ohne Veranlassung oder Anreizwirkung aus Deutschland sind in den letzten Jahren weltweit rund 500 embryonale Stammzelllinien etabliert worden. Wenn die deutschen Forscher durch eine Verschiebung oder Aufhebung des Stichtages jetzt Zugang zu diesen neuen, hochwertigen Stammzelllinien bekommen, dann können sie den Anschluss an die internationale Forschung gewinnen. Aber vermutlich müssten wir schon in wenigen Jahren den Stichtag erneut verschieben, weil dann noch bessere Linien zur Verfügung stehen. Ich rate davon ab. ({4}) Ich finde es im Übrigen ohnehin hochproblematisch, dass wir einerseits den Import von überzähligen ausländischen Embryonen erlauben, gleichzeitig aber die Verwendung überzähliger inländischer Embryonen unter Strafe stellen. ({5}) Das ist für mich ein schwerer Wertungswiderspruch. Ich kenne keinen einzigen Grund, warum inländische Embryonen schutzwürdiger sein sollten als ausländische Embryonen. ({6}) Das Argument, mit den adulten Stammzellen könnten die gleichen Erfolge erzielt werden, ist nicht redlich. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Die embryonale Stammzellforschung ist notwendige Grundlagenforschung, um die Funktionsweise von adulten Stammzellen präzise verstehen zu können. Wenn wir adulte Stammzellen für die Therapie wollen, dann brauchen wir gerade deshalb mehr Forschung mit embryonalen Stammzellen. ({7}) Was dürfen wir hoffen, meine Damen und Herren? Durch verantwortbare Forschung mit embryonalen Stammzellen können wir neue, grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung, die Degeneration und die Regeneration von menschlichen Zellen gewinnen. Das könnte für die Lebensqualität, die Gesundheit und die Lebenschancen künftiger Generationen eine ganz wesentliche Verbesserung sein. Dafür zu arbeiten, haben wir als aufgeklärte Menschen das Recht, aber auch die Pflicht. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003870, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Änderung des Stammzellgesetzes diskutieren, dann sind drei Aspekte, mit denen wir es zu tun haben, von sehr großer Bedeutung: Erstens geht es um die Grenzen der Wissenschaft, sowohl verfassungsrechtlich als auch ethisch. Nicht alles, was an Biomedizin heute oder künftig möglich ist, wollen oder können wir zulassen. Zweitens geht es neben dem medizinischen Fortschritt um die Chancen, schwere Krankheiten künftig besser zu heilen und dadurch menschliches Leben zu retten. Drittens geht es um den Forschungsstandort Deutschland und die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Forschung. ({0}) Es geht darum, ob unsere Wissenschaftler auch in Zukunft international konkurrenzfähig bleiben können. Das Stammzellgesetz von 2002 sah einen vernünftigen Ausgleich zwischen allen Belangen - den Belangen der Medizin, der Forschung und des Schutzes embryonalen Lebens - vor. Heute, sechs Jahre später, müssen wir feststellen, dass das geltende Recht diesen Ausgleich nicht mehr hinreichend gewährleistet. Die bisherige Stichtagsregelung schränkt die Forschungsmöglichkeiten für die heutige Zeit zu stark ein. Die Stammzelllinien aus der Zeit vor dem Stichtag reichen quantitativ und qualitativ nicht mehr aus. Deshalb meine ich: Wir brauchen eine Änderung des Gesetzes. Ich meine auch, dass eine Verschiebung des Stichtages verfassungsrechtlich einwandfrei und in der Sache richtig ist. ({1}) Für mich ist klar, dass auch der Embryo in der Petrischale kein beliebiger Zellhaufen ist. Er ist menschliches Leben, und unser Grundgesetz verlangt ausdrücklich, Leben zu schützen. Dafür, wie wir das tun, gibt uns die Verfassung allerdings einen Spielraum. Wir sind verpflichtet, diesen Spielraum zu nutzen, und zwar verantwortungsvoll. ({2}) Nur so können wir auch anderen Verfassungsgütern oder anderen Facetten der staatlichen Schutzpflicht Geltung verschaffen, zum Beispiel der Forschungsfreiheit oder der Verpflichtung des Staates, die Menschen bestmöglich vor Krankheiten zu schützen. Mit dem Embryonenschutzgesetz und der neuen Stichtagsregelung im Stammzellgesetz gelingt uns ein vernünftiger Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Verfassungsgütern. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Tötung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen. Dabei bleibt es. Dieses Verbot steht nicht zur Disposition. ({3}) Wenn wir jetzt den Stichtag einmalig verschieben, dann erlauben wir der Forschung, mit Stammzellen zu arbeiten, die bereits vor dem Stichtag bestanden. Wir schützen zugleich das embryonale Leben, weil von Deutschland auch künftig kein Anreiz ausgeht, Embryonen zur Gewinnung von neuen Stammzellen zu töten. Die Verschiebung des Stichtages ist eine gute und verfassungsrechtlich vernünftige Lösung. Wir sichern damit eine weitere Stammzellforschung in Deutschland, und wir schaffen die Grundlage für Verbesserungen etwa in der Transplantationsmedizin und in der Krebsbekämpfung. Schließlich begründen wir damit die zusätzliche Hoffnung, dass gerade diese Forschung dazu führt, dass die Wissenschaft auf die Nutzung embryonaler Stammzellen schon bald völlig verzichten kann. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die menschliche Würde ist unantastbar. Dies gilt für mich vom Beginn bis zum Ende des menschlichen Lebens. Deshalb habe ich im Jahr 2002 zusammen mit weiteren 262 Kolleginnen und Kollegen gegen den Import embryonaler Stammzellen und gegen die Stichtagsregelung gestimmt. Die Kernargumente von 2002 gelten heute genauso wie vor sechs Jahren. Diese Grundüberzeugung kommt im Gesetzentwurf Hüppe zum Ausdruck. Wir, die 52 Unterzeichner, wollen deutlich machen, dass eine Forschung mit menschlichen Embryonen auch heute ethisch nicht zu vertreten ist. Die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen setzt die Tötung von Embryonen voraus. Deshalb lautet die Schlüsselfrage, der wir uns immer wieder stellen müssen: Wann entsteht menschliches Leben? Natürlich gibt es unterschiedliche Positionen. Aber man muss für sich selbst eine Entscheidung treffen. Solange nichts anderes bewiesen wird, ist für mich klar: Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger Mensch mit all seinen Anlagen und Fähigkeiten. Damit beginnt die Entwicklung dieses einen unverwechselbaren Menschen. Nach meiner vollen Überzeugung muss das Leben bereits ab diesem Zeitpunkt geschützt werden. ({0}) Jede andere Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn des vollen Schutzes menschlichen Lebens ist willkürlich. Würden wir dem Menschen nicht von Anfang an in jedem Stadium die volle Würde zuerkennen, so kämen wir schnell in Gefahr, auch am Ende des Lebens bei Krankheit oder Gebrechlichkeit diese Zuerkennung der menschlichen Würde infrage zu stellen. Der Lebensschutz verträgt keine Relativierung. Forschung an embryonalen Stammzellen ist ethisch bedenklich, weil für ihre Herstellung die Tötung menschlicher Embryonen erforderlich ist. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. ({1}) Die Verheißungen der Forschung rechtfertigen nicht, dass menschliches Leben getötet wird. Das gilt auch für die sogenannten überzähligen Embryonen. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht nach meiner festen Überzeugung höher als die Forschungsfreiheit. ({2}) Liebe Kolleginnen, uns Frauen kommt in den Fortpflanzungstechnologien und in der Embryonenforschung eine Schlüsselrolle zu. Die embryonale Stammzellforschung basiert auf der Verfügbarkeit von Eizelle und Embryo. Das führt dazu, dass Frauen in einigen Ländern gegen Bezahlung dazu animiert werden, Eizellen für die Forschung zu liefern. Damit werden wir Frauen zu Rohstofflieferanten. Hier wird Menschenwürde verletzt. Gott sei Dank gibt es das bei uns nicht. Aber nur wenn wir die ethischen Grundsätze bewahren, wird das bei uns so bleiben. In den letzten Jahren wurden pluripotente adulte Stammzellen entdeckt, die sich in Zellen unterschiedlicher Gewebe entwickeln, für deren Gewinnung weder Embryonen noch Eizellen von Frauen benötigt werden und die nach Aussagen der Wissenschaftler nicht von embryonalen Stammzellen zu unterscheiden sind. Die Forschung an adulten Stammzellen entspricht den Vorstellungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, vor allem denen der Frauen. Aus einer Umfrage von Infratest im Januar dieses Jahres geht hervor, dass sich 61 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 70 Prozent der Frauen für die adulte und gegen die embryonale Stammzellforschung aussprechen. 75 Prozent der deutschen Frauen wollen darüber hinaus, dass in Deutschland keine menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken erzeugt und zerstört werden. Das sollte uns nachdenklich machen. ({3}) Deutschland nimmt schon heute in der adulten Stammzellforschung einen internationalen Spitzenplatz ein. Dieser muss weiter ausgebaut werden. Forschung an adulten Stammzellen ist nicht nur ethisch unbedenklich, sondern auch therapeutisch aussichtsreicher; das ist heute schon mehrmals gesagt worden. Wenn wir uns auf diese Forschung konzentrieren und unseren Einsatz dafür verstärken, liegt dies im Interesse der Patienten und im Interesse von Forschung und Medizin. Es muss dazu kein einziger Embryo getötet werden. Gehen wir diesen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn der Schutz des menschlichen Lebens hat höchste Priorität. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Behutsame Novellierung des Stammzellgesetzes ist die Fortschreibung des Stammzellkompromisses“, haben René Röspel und andere ihren Antrag überschrieben. In der Tat gibt dieser Antrag wie auch der von Frau Flach und anderen eingebrachte Gesetzentwurf der medizinischen Stammzellforschung in Deutschland eine Perspektive. Beide Richtungen belassen es trotz Stichtagsveränderung bei den weltweit strengsten Auflagen zur öffentlichen Kontrolle und gegen eine Kommerzialisierbarkeit dieser Forschung. ({0}) Es handelt sich daher nicht um eine Ausweitung der Stammzellforschung, wie immer wieder zu hören ist; vielmehr geht es um die Suche nach neuen Heilungschancen, ergänzend zu herkömmlichen Therapien. Das heißt, die Stammzellforschung wird fortgesetzt. Am Ende eines zugegebenermaßen langen Forschungsweges soll eine auf den einzelnen Patienten oder die einzelne Patientin zugeschnittene Behandlung von solchen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer oder des Herzinfarktes stehen. Solange diese Forschungen nicht umfassend geschehen sind, diese Chancen nicht seriös erforscht worden sind, könnte ich persönlich niemandem erklären, weshalb die medizinische Stammzellforschung in Deutschland erheblich eingeschränkt wird. ({1}) Darauf liefe aber eine Beibehaltung des alten Stichtages, wie in dem von Frau Hinz und anderen eingebrachten Gesetzentwurf gefordert, hinaus. In dem von Herrn Hüppe und anderen eingebrachten Gesetzentwurf wird diese Forschung faktisch verboten. Nun wird gesagt, die Stammzellforschung solle sich auf alternative, ethisch unbedenkliche Methoden der Gewinnung von Stammzellen konzentrieren. Es wird auf adulte Stammzellen oder auf reprogrammierte adulte Stammzellen verwiesen. Auch ich glaube, dass darin langfristig die Zukunft von Stammzelltherapien liegt. Ob die Erwartungen zu erfüllen sind, ist aber nicht ohne vergleichende Forschung an embryonalen Stammzellen einzuschätzen. ({2}) Dabei könnten die weltweit etwa 500 vorhandenen embryonalen Stammzelllinien helfen. Bliebe es beim alten Stichtag, wären - das ist schon mehrfach gesagt worden - für die deutsche Forschung eben nur 21 verunreinigte Linien nutzbar. Die so erzielten Ergebnisse sind - das wird klar belegt; das hat sich auch in der Anhörung gezeigt - unter Umständen verfälscht. Ich verweise allein auf die Schädigungen von Chromosomen. Mit einer Stichtagsverschiebung ließen sich Forschungen aus anderen Ländern zu besonderen Risiken aller Stammzelltypen, insbesondere das Problem der Tumorbildung, vergleichen und ergänzen. Wenn nun eingewandt wird, dass die embryonale Stammzellforschung noch keine klinischen Anwendungen hervorgebracht hat, dann ist das zweifelsohne richtig. Das hat hier auch niemand behauptet. Medizinische Forschungen sind nun einmal so komplex, dass in bestimmten Feldern über Jahrzehnte geforscht wird. Das zeigt der Kampf gegen Aids. Ich will einfach einmal einwerfen, dass die Medikamentenentwicklung im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre dauert. Menschliche embryonale und reprogrammierte Zellen werden frühestens in 15 Jahren klinische Bedeutung erlangen, sagen seriöse Stammzellforscher. Die Zulässigkeit medizinischer Stammzellforschung stand und steht im Zentrum bioethischer Debatten; denn die Zellentnahme führte bislang - es gibt, wie gesagt, auch andere Methoden - zum Verlust von Embryonen. Ich meine, der Schutz vorgeburtlichen Lebens und der Menschenwürde einerseits sowie die Hoffnung auf Heilung und die Forschungsfreiheit andererseits müssen immer wieder aufs Neue miteinander in Einklang gebracht werden. Es gibt weder einfache Antworten im Umgang mit menschlichem Leben noch gibt es einen Königsweg zu einer neuen Therapie. ({3}) Unsere Rechtsordnung schützt den Embryo in Abhängigkeit von seiner vorgeburtlichen Entwicklungsphase. Das Selbstbestimmungsrecht der Mutter geht unter Umständen dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus vor. Gleichwohl wird ein drei Tage alter achtzelliger Embryo im Reagenzglas absolut geschützt, obwohl ihm erst mit seiner Einnistung in die Gebärmutter die reale Chance auf Menschwerdung eröffnet wird. Selbstverständlich bedarf es des strengen Schutzes. Zerstörung und Verzweckung des Embryos verhindert das Embryonenschutzgesetz. Dabei bleibt es auch nach einer Stichtagsverschiebung. Das Stammzellgesetz vollzieht aber insoweit eine ethische Abwägung, als es ausnahmsweise für ethisch hochstehende Ziele die Einfuhr und Forschung an bestehenden Stammzelllinien aus dem Ausland erlaubt. Die Befürchtungen von 2002, dass Deutschland den Weg uferloser Embryonenforschung geht, haben sich nicht erfüllt. ({4}) Daran haben verantwortungsbewusste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein transparentes Genehmigungsverfahren und die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellforschung einen erheblichen Anteil. Ethisch umstrittene Forschung bedarf öffentlicher Kontrolle und Förderung. Schließlich ist Transparenz das beste Mittel gegen Missbrauch und Kommerzialisierung. ({5}) Abschließend: Ich finde, das Bemühen um neue Therapien für kranke Menschen ist ein wichtiges und ein ethisch hochstehendes Ziel. Auch diese Menschen haben ein Recht auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Würde. Deswegen stimme ich für eine Verschiebung des Stichtages. Das ist eine behutsame und ethisch verantwortbare Lösung. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wie vereinbart, erhält jetzt Monika Knoche das Wort zu einer Kurzintervention.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich melde mich zu einer Kurzintervention, um deutlich zu machen, dass ich mich sehr geärgert habe. Ich möchte mein Unverständnis über das Verhalten einiger Antragstellerinnen und Antragsteller in diesem Hause äußern. Sie haben sich zu Gruppenanträgen zusammengefunden, um das breite Spektrum der Meinungen zu diesem sehr wichtigen Thema, das in allen Fraktionen, auch in der Fraktion Die Linke vorhanden ist, zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht möglich gewesen, uns als in dieser Frage engagierte Linke - auch ich habe sehr intensiv an der Thematik zum Jahr 2002 gearbeitet - auf die Liste der Initiatorinnen und Initiatoren dieser Gruppenanträge zu setzen. Das ist Frau Petra Sitte mit ihrer Position genauso ergangen wie mir. Im Ergebnis bedeutet das, dass es der Fraktion der Linken heute nicht möglich ist, hier in diesem Haus die Breite der Auffassungen darzustellen. Das halte ich angesichts der Bedeutung dieser Thematik für vollkommen unangemessen, ({0}) und das ist in dieser Debatte nicht wiedergutzumachen. Ich hoffe sehr, dass wir im Verlaufe des Beratungsverfahrens ernsthaft die Chance haben, dass sich die Kollegialität und das parlamentarische Gebaren wieder dahin gehend einpendeln, wie es ehedem war. Eine Position - ich und sehr viele Mitglieder meiner Fraktion vertreten diese - lautet, dass es hier um die grundlegende Frage des Verbotes der Instrumentalisierung menschlichen Lebens geht, dass es darum geht, dass wir Grenzen ziehen müssen gegenüber den Begehrlichkeiten einer Forschung, die auf der künstlichen Erzeugung und Zerstörung menschlichen Lebens aufbaut. Im Sinne einer Entwicklung einer humanistischen Humanmedizin müssen die Voraussetzungen für Forschung und für eventuelle therapeutische Anwendungen den Prinzipien der Menschenwürde und des Lebensschutzes gerecht werden. Wir haben in unserer Verfassung das Verbot der fremdnützigen Forschung als eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft festgehalten. An diesen Prinzipien müssen wir uns messen. Es kann nicht angehen, dass das Parlament, das eine so wesentliche Entscheidung bereits getroffen hat, heute von ständig neuen Forderungen der Forschung überhäuft wird und seine Grundsätze und Prinzipien infrage stellen muss. Deshalb bitte ich die Öffentlichkeit um Verständnis dafür, dass es der Fraktion der Linken in der Gänze heute nicht möglich war, an dieser Debatte teilzunehmen. Es lag nicht an uns. Sie können gewiss sein, dass wir alle Instrumente nutzen, um die Breite unserer Auffassungen der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine Damen und Herren, damit in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck entsteht, will ich ausdrücklich sagen: Erstens sind Vertreter der Fraktion Die Linke, wenn ich es richtig gesehen habe, bei allen Vorlagen als Unterzeichner bzw. Antragsteller dabei. ({0}) Zweitens. Es war vereinbart worden, dass es hier nicht um Fraktionsmeinungen geht, sondern um individuelle Meinungen, ({1}) Gewissensüberzeugungen, die dargestellt werden, die sich nicht nach Fraktionen richten. Ich möchte das nur klarstellen; alles andere ist der Diskussion zugänglich. Nun erteile ich Wolfgang Wodarg das Wort.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen, jetzt neue Regeln aufzustellen und den Stichtag zu verschieben, wurde nicht von den Patienten vorgebracht. Es kommt von Forschern in Deutschland, die eine bestimmte Forschungsrichtung gefahren haben, die sich darauf verlassen und öffentliche Gelder für ihre Forschung bekommen haben. Diese Forscher sind auf dem Holzweg. Sie kommen nicht in die Nähe dessen, was sie den Menschen und uns hier im Hause versprochen haben. Sie haben uns versprochen, dass das, was sie tun, zu größeren Heilungschancen führen wird und dass daraus Therapien entwickelt werden können. Man wollte menschliche Embryonen klonen, um Zellen zu erhalten, die nicht abgestoßen, sondern vom Körper des Patienten akzeptiert werden. Das ist ein ganz großer Umweg, für den sehr viele Embryonen und sehr viele Eizellen benötigt werden. Das ist so abwegig, dass man noch nicht einmal an klinische Versuche denken kann; auch die Tumorgefahr ist hierbei sehr groß. Das ist also ein völliger Holzweg in Bezug auf Therapien. Das ist hier heute ganz häufig angeklungen. Jetzt lautet das Argument: Aber wir müssen das, was wir tun, mit dem, was andere tun, vergleichen. Wir brauchen das. - Wieso eigentlich? Wieso ist das der Standard, der verglichen werden muss? Das ist nichts weiter als der Versuch, mit etwas in der Diskussion zu bleiben, das überholt ist und nicht benötigt wird; die Forschung ist bereits fortgeschritten. Wir haben im Bereich embryonaler Stammzellen natürlich ganz interessante Erkenntnisse erlangt. Aus embryonalen Stammzellen, die aus Tieren gewonnen worden sind, haben wir international über Programmierung und Reprogrammierung grundsätzliche Erkenntnisse gewinnen können. Aber für das, was wir jetzt unterstützen und woran wir weiterarbeiten wollen, nämlich dass es irgendwann einmal Therapien gibt, dass Heilungschancen für Menschen geschaffen werden, brauchen wir die embryonale Stammzellforschung nicht. Das ist das letzte Zucken derjenigen, die in der Sackgasse sind. Das Ganze ist wissenschaftlich nicht notwendig. ({0}) Wenn wir dem zustimmten, würden wir etwas aufgeben, das wir kaum wiedergutmachen können. Wir haben durch unseren Kompromiss schon viel aufgegeben. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, hat einmal etwas resigniert gesagt: „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ Wir haben das Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und dieses gegenseitige Versprechen der Menschen relativiert. Denn wir haben gesagt: Es gibt auch solche Fälle, in denen man Menschen töten darf - dass es sich hierbei um Menschen handelt, ist unstrittig -, weil der höhere Zweck, anderen Menschen zu helfen, dies rechtfertigt. Diesen Kompromiss, der sehr strittig war, sind wir eingegangen. Der Deutsche Bundestag hat sich vor einer konsequenten Haltung gedrückt. Wir haben gesagt: Da das in der Vergangenheit passiert ist, können wir das nicht „reparieren“. Da wir aber nicht die Augen vor den Ergebnissen verschließen wollen, werden wir die Ergebnisse, die erzielt wurden, nutzen. Das haben wir getan, und zwar mit großen Bauchschmerzen. Das gilt insbesondere für diejenigen in diesem Hause, die einander achten und davon ausgehen, dass auch diejenigen, die eine andere Position vertreten, gute Argumente haben. Wir haben das getan, weil wir die Regeln für dieses Land aufstellen müssen. Jeder in diesem Hause muss aber wissen, dass der Grund für die damals unterschiedlichen Sichtweisen dadurch nicht vom Tisch ist. Er ist weiterhin vorhanden. Wenn wir den Stichtag jetzt verschieben, dann heißt das, dass wir uns auf eine völlig andere, auf eine sehr utilitaristische, also von Nutzenerwägungen geprägte Ebene begeben. Dann muss man tatsächlich fragen: Was soll das nutzen? Am Anfang meiner Rede habe ich bereits gesagt: Es nutzt nichts. Jetzt geht es darum, ob wir uns dafür entscheiden, embryonale Stammzellen zu „vernutzen“ und damit indirekt immer wieder einen Anreiz zu schaffen, dass anderswo auf der Welt - natürlich nicht bei uns; wir sind ganz sauber - für uns aus Embryonen, die getötet werden, Stammzellen gewonnen werden. Die Argumente, die für diese Entscheidung sprechen, sind schlechter als die Gegenargumente. Heute gibt es weniger gute Gründe, die dafür sprechen, als es bei der letzten Debatte zu diesem Thema vor einigen Jahren der Fall war. ({1}) Ich stehe zu unserem Kompromiss, weil ich dieses Haus achte und weil ich denke, dass wir Rechtssicherheit brauchen. Die Menschen müssen wissen, worauf sie sich verlassen können, und sie müssen uns ernst nehmen. Ich denke, wenn wir den Stichtag verschieben, dann werden uns die Bürger und die Forscher nicht mehr ernst nehmen können. Deshalb bitte ich Sie alle: Lassen Sie uns zu dem guten Kompromiss, den wir gefunden haben, stehen. Wir dürfen die Basis unseres Zusammenlebens nicht aus Nutzenerwägungen relativieren oder sogar aufgeben. Das können und dürfen wir nicht machen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Meinhardt. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Anbetracht der bisherigen Debattenbeiträge kann ich feststellen: Meiner Meinung nach ist heute ein besonderer Tag der Parlamentskultur. Im Laufe dieser auch für mich sehr bewegenden Debatte über die Zukunft der Stammzellforschung haben sich überraschend neue Überzeugungsgemeinschaften gebildet, und zwar jenseits von Fraktions- und Koalitionsgrenzen und diesseits von Ethik und Forschungsfreiheit. Deswegen können wir Parlamentarier wirklich stolz darauf sein, dass wir diese ernste Debatte mit so großem Respekt und so großer Achtung vor der Meinung des anderen führen. ({0}) Ein wesentliches Ziel der heute zur Beratung anstehenden Vorlagen besteht darin, die Rechtsunsicherheit, die für im Rahmen internationaler Forschungsverbünde tätige deutsche Forscher entstanden ist, zu beenden. Diese Rechtsunsicherheit muss durch eine Klarstellung im Stammzellgesetz, durch die die Wirkung des Gesetzes nur auf das Inland beschränkt wird, beseitigt werden. Auch wenn dieser Aspekt in der öffentlichen Debatte bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, ist er für die Forschungsgemeinschaft von nachhaltiger Bedeutung. Wir sind es unseren Forschern schuldig, für Rechtssicherheit zu sorgen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in einer Welt, in der es grausame Krankheiten gibt, die wir mithilfe der Stammzellforschung bekämpfen können und müssen, ist eine sinnvolle Forschungspolitik wichtig. Wir müssen sie aber immer wieder unter ethischen Gesichtspunkten hinterfragen. Als Abgeordneter und als bekennender Christ muss ich mir immer wieder die Frage stellen, welche Entscheidung ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Ich füge ganz bewusst hinzu: Wir werden zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, auch wenn wir von ein und demselben ethischen Fundament ausgehen; diese Demut gehört zur heutigen Debatte hinzu. Die Bewahrung der Schöpfung Mensch ist sicherlich der oberste Maßstab. Dies beinhaltet aber auch und gerade die Ethik des Heilens. Genau wie der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Huber, sehe ich die Forschung an embryonalen Stammzellen als eine Gratwanderung, die mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 nur zeitlich begrenzt vertretbar ist. Die EKD spricht in diesem Zusammenhang von einem schonenden Ausgleich der beiden so essenziellen Grundwerte des Lebensschutzes und der Forschungsfreiheit. Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die sagen, dass der Schutz der Würde des Menschen sie zu einem Nein zur embryonalen Stammzellforschung kommen lässt. Ich habe aber auch großes Verständnis für diejenigen, die von hier aus, wenige Hundert Meter von der Charité entfernt, dem Ort der biologischen und medizinischen Zellrevolution, wie es im Spiegel von dieser Woche zu lesen ist, der Forschung noch mehr Möglichkeiten einräumen wollen. Umso mehr müssen wir im Rahmen einer verantwortungsvollen Forschungspolitik Alternativen fördern. Bei der Forschung an adulten Stammzellen befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich auf einem hohen Niveau. Dies sollte uns dazu motivieren, noch besser zu werden. Durch den kürzlich erfolgten Durchbruch bei der Reprogrammierung von Hautzellen eröffnet sich möglicherweise ein neuer Weg. Trotzdem muss der veränderten Sachlage Rechnung getragen werden, dass zurzeit nur noch immer schlechter verwendbare Stammzelllinien für die so wichtige Forschung zur Verfügung stehen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die gesetzlichen Regelungen dürfen nicht so restriktiv ausfallen, dass die Forschung ins Ausland geht und später eimmal Heilmittel gegen Querschnittslähmung, Krebs und Aids, die auf Ergebnissen genau dieser Forschung beruhen, aus dem Ausland eingeführt werden, um hier Menschen zu retten. Deshalb müssen wir konsequent entscheiden: Chancen, die sich durch die Forschung ergeben, müssen genutzt werden; sie müssen der Menschheit zugänglich gemacht werden. Wir als Gesetzgeber haben aber die Verpflichtung, hierfür einen klaren Gestaltungsrahmen zu setzen. Solch eine klare Haltung des Parlamentes auf der Grundlage des Beschlusses von 2002 ist deswegen sicherlich ein ethisch vertretbarer Weg. Oder um es mit Professor Klaus Tanner von der Universität Halle-Wittenberg zu sagen: Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch einer Situation kein schwächliches Kapitulieren, sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen Demokratie. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die einmalige Stichtagsverlegung ist solch ein parlamentarischer Kompromiss, ist solch eine Gratwanderung, solch ein schonender Ausgleich. Die heutige Diskussion verlangt jedem von uns ab, dass er mit sich um die bestmögliche Entscheidung ringt. In dem Wissen darum, dass wir mit dieser Entscheidung immer auch Schuld auf uns laden, bietet diese Vorlage die Chance, den wichtigen Bogen zwischen der Ethik des Heilens und der Ethik des Lebens zu spannen. Deutschland verträgt solch eine ethisch fundamentierte Forschungsfreiheit. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Brand.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Rede fällt mir heute nicht leicht und ich bitte Sie um einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit für eine persönliche Schilderung. Ich nehme an dieser besonderen Debatte vor dem Hintergrund besonderer Umstände teil, wie sie vielen von uns sicherlich bekannt oder selbst schon begegnet sind. Nach dieser Debatte werde ich mich nach Hause zu meiner Familie begeben, um meinen krebskranken Schwiegervater in seiner letzten Lebensphase zu begleiten. Gestern Abend war der Pfarrer da und hat den Rosenkranz gebetet. Meine Frau hat mir gestern Abend am Telefon nochmals gesagt, dass ich hier heute meinen Beitrag zu dieser so wichtigen Debatte leisten soll. So will ich mich auf die Kernpunkte unserer Debatte beschränken. Ich wollte diese persönliche Bemerkung aber deswegen machen, weil mir in den letzten Wochen bei den Diskussionen viele begegnet sind, die gesagt haben - Herr Tauss, es ist so, dass die Diskussion so geführt wurde -: Na ja, die einen sind für das Heilen zuständig und die anderen wissen nicht, wovon sie reden. Mein Vater ist vor fast acht Monaten nach vielen Operationen an einem Herzleiden gestorben. Im Jahre 1973, meinem Geburtsjahr, ist er kurz nach meiner Geburt an Krebs erkrankt. Ich habe jetzt erlebt, dass mein Schwiegervater alles versucht hat, bis hin zum Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Wir alle stehen vor der Frage, was zu tun ist, um die Chancen auf Heilung zu verbessern. Wie gehen wir diesen Weg zur Heilung der Menschen, ohne das zentrale Gebot des Schutzes der Würde und des Lebens der Menschen zu verletzen? Ich habe auch deswegen diese persönliche Bemerkung gemacht, liebe Frau Kollegin Flach, weil schon im Titel des Gesetzentwurfes, den Sie unterzeichnet haben, „für eine menschenfreundliche Medizin“ steht. Ich will Ihnen das nicht ersparen: Ich finde es sehr anmaßend, in der Diskussion so zu argumentieren. Deswegen will ich es Ihnen auch nicht ersparen, so zu antworten. Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Krankenhaustourismus verhindern wollen. Mit diesem Argument müssten Sie hinsichtlich der Sterbehilfe genauso sagen: Bevor auf deutschen Parkplätzen Medikamente verabreicht werden, lassen wir die Sterbehilfe zu. Ich sage Ihnen dazu nur: Hilfe; denn ich glaube, es muss Grenzen geben. ({0}) Wir verzeichnen in Deutschland und weltweit beachtliche Erfolge in der Forschung mit adulten Stammzellen, zum Beispiel bei Herztherapien, Leukämie, Leberkrebs und anderen schweren Krankheiten. Da dies nicht allen hilft, wünscht man sich gerade in der konkreten Situation mehr Hilfe und hofft man auf mehr Fortschritte. Allerdings stimme ich Kollegin Schmidt, Kollegen Schily, Kollegen Hüppe und auch Volker Kauder ausdrücklich zu: Manche Entscheidung entzieht sich eben einem wie auch immer gewünschten Kompromiss. Meine Überzeugung ist klar: Wir können eine weitere Aufweichung der Grenzen bei der Stammzellforschung nicht verantworten. ({1}) Lieber Herr Kollege Meinhardt: Bei allem Leid, bei aller Standortdebatte und auch bei mancher Diskriminierung ethischer Überzeugungen können wir eines nicht zulassen, nämlich die Tötung menschlichen Lebens. Das ist einfach nicht hinnehmbar. ({2}) Für mich persönlich heißt ethischer Standard, dass dies unabdingbar ist. Das bedeutet, dass ich bei dieser Gewissensfrage nicht anders kann, als gegen den Gesetzentwurf für die embryonale Stammzellforschung zu stimmen; denn die Nutzung der embryonalen Stammzellen setzt nun einmal das Töten von Menschen voraus. Vor diesem Fakt kann sich niemand drücken, kein Forscher, kein Politiker und auch kein anderer Mensch. ({3}) Der Verweis auf andere Länder, andere ethische Sichtweisen und andere Traditionen hilft hier nicht weiter. Wir alle haben uns die Frage zu stellen, ob die einmalige, ausnahmsweise vorgenommene Setzung eines Stichtages aus dem Jahr 2002 gerechtfertigt oder relativ ist. Bleiben wir bei den Standards in den gesetzten Grenzen oder durchbrechen wir diese Grenzen? Dass der Mensch und seine Würde unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung stehen, ist ein großartiges und in vielen Ländern nicht selbstverständliches, hohes Gut. Das dürfen wir nicht gefährden, auch nicht Schritt für Schritt. Alle Wissenschaft und alle Forschung sind zu Recht frei, aber sie stehen unter diesem Vorbehalt. Heute geht es um die Frage, wer hier diese Grundrechte bei einer kleinen Frage mit großer Wirkung verteidigt. Ich glaube - das zeigt auch die große Ablehnung zur Stammzellenforschung bei jungen Menschen -, dass wir ein hohes Risiko eingingen, wenn wir uns bei konkreten einzelnen Forschungsvorhaben nicht an die weit gezogenen, aber strikt einzuhaltenden Grenzen unserer Verfassung halten. Ich möchte Sie alle deshalb aufrufen, die Büchse der Pandora nicht weiter zu öffnen. Ich wende mich vor allem an die Zweifler, also an diejenigen, die sich noch fragen, ob der Stichtag dieses eine Mal noch einmal verschoben werden kann. Und ich stelle die zentrale Frage: Glaubt irgendjemand hier im Saal ernsthaft daran, dass wir diese zweite Verschiebung nach dem Prinzip „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ beschließen und später die Schleuse wieder schließen können? Es muss niemand meine persönliche Einstellung zum Schutz des menschlichen Lebens teilen, aber eines ist in dieser Debatte doch ganz wichtig: Wenn wir heute der Verschiebung zustimmen, dann ist es vorbei; denn dann wird eine Grenze überschritten, die nicht mehr zu schließen ist. ({4}) Nach aller Erfahrung wird sie dann immer weiter verschoben. Ich möchte Sie daher herzlich bitten: Tun wir das nicht. Lassen wir uns nicht dazu bringen, aus durchaus überzeugend erscheinenden Gründen einen schweren Fehler zu begehen, den wir nicht mehr ungeschehen machen können. Wir müssen mehr als bisher tun, um die erfolgreiche Forschung an adulten Stammzellen, Alternativen mit Nabelschnurblut und vieles andere zu raschen Ergebnissen zu bringen. Es ist und bleibt bitter, dem Tod und dem Leid ausgesetzt zu sein und manchmal einfach machtlos davorzustehen. Dennoch bitte ich Sie an diesem besonderen Tag: Geben wir nicht die Grenzen auf, bleiben wir bei den Grundfragen menschlichen Lebens wachsam, tun wir bitte nicht alles, was uns technisch möglich ist, weil wir mehr als die Würde und die Achtung vor dem menschlichen Leben verlieren könnten. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mich mit einigen Wertungswidersprüchen beschäftigen, die mich bewegen, seit ich Gesundheitspolitik betreibe. Ich habe heute niemanden gehört, der dafür eingetreten wäre, dass menschliche Embryonen zu Forschungszwecken produziert werden. Vielmehr geht es ausschließlich um den Fall, wie wir Stammzellen behandeln, die aus Embryonen gewonnen werden, die für eine Schwangerschaft produziert wurden, dafür aber nicht benötigt werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt; ({0}) denn damit müssen wir alle die Frage beantworten, wieso wir keine öffentliche Debatte über die Tatsache führen, dass solche überzähligen Embryonen zum Tod verurteilt werden, wenn sie für die Schwangerschaft nicht gebraucht werden, wohl aber eine Debatte über eine Forschung an Stammzellen aus solchen Embryonen. ({1}) - Ja, die Tötung ist möglich, nicht aber die Forschung. Dies ist ein gewaltiger Wertungswiderspruch. Daher stelle ich, der ich für eine Verschiebung des Stichtags eintrete, jedenfalls für meine Person fest: Es geht nicht um eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes - das ist ganz wichtig -, es geht nicht um die Produktion von Embryonen zu Forschungszwecken, und die Forschungsfreiheit erhält keinen Vorrang vor der Menschenwürde. Diese eindeutige Lage kann niemand bezweifeln. ({2}) Auch für diejenigen, die für den Stichtag oder seine Verschiebung eintreten, steht die Achtung der Menschenwürde an vorderster Stelle. ({3}) Mich bewegt dieses Thema der Wertungswidersprüche so stark, weil im Grunde nur eine gesellschaftliche Kraft, die katholische Kirche, in diesem Punkt in sich schlüssig argumentiert, nämlich von der künstlichen Befruchtung bis zur Forschung an Stammzellen überflüssiger Embryonen. Alle anderen beschäftigen sich nicht mit diesem Wertungswiderspruch, dass Embryonen getötet werden, wenn sie für die Schwangerschaft nicht gebraucht werden, aber bei der Forschung sehr wohl wieder in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtung treten. ({4}) Wir müssen uns diesen Spiegel in vielen Bereichen selbst vorhalten. Wir haben ethische Regeln für die Transplantation, die uns aber nicht daran hindern, täglich in Deutschland Organe zu implantieren, die in Europa nach ganz anderen ethischen Regeln gewonnen worden sind. Wir haben ethische Regeln für die Präimplantationsdiagnostik, die uns überhaupt nicht daran hindern, täglich in der deutschen Medizin im Ausland gewonnene Erkenntnisse der Präimplantationsdiagnostik anzuwenden. Wir haben ethische Regeln für Blutspenden und die Produktion von Blutprodukten, was uns überhaupt nicht daran hindert, Blutprodukte, die nach ganz anderen ethischen Regeln zum Beispiel in Amerika gewonnen worden sind, in Deutschland tagtäglich einzusetzen, weil wir sonst unsere Versorgung nicht sicherstellen könnten. ({5}) Auf diesen Punkt wollte ich hinweisen, weil es hier nicht um die Frage geht, ob man Embryonen für Forschungszwecke produziert, sondern ausschließlich darum, ob man aus überzähligen Embryonen Stammzellen für die Forschung gewinnen darf. Deswegen ist die These einfach falsch, dass Leben zerstört werde, um forschen zu können. ({6}) Meine Damen und Herren, wer sich in der Medizin auskennt, kommt an der Realität nicht vorbei. Da bin ich eher auf der Seite der Mehrheitsmeinung bei der FDP. Die Stammzellforschung ist eines der am ehesten zukunftsträchtigen und vielversprechenden Felder der Biomedizin. Damit verbinde ich ausdrücklich kein Heilsversprechen. Aber es gehört zum Wesen der Grundlagenforschung, dass man das Ergebnis nicht vorhersagen kann. Wenn wir erreichen wollen, dass heute noch nicht beherrschbare oder nicht heilbare Krankheiten überwunden werden können, dann brauchen wir die Grundlagenforschung an embryonalen Stammzellen. ({7}) Insofern werden wir einen Prozess erleben, der die Voraussetzung dafür ist, dass heute noch nicht beherrschbare Krankheiten überwunden werden können. Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt, warum ich für eine Verlegung des Stichtags bin - in Amerika wurde die gleiche Debatte geführt -: Ohne einen Stichtag bestünde in der Tat die Gefahr, dass im Zuge der künstlichen Befruchtung überzählige Embryonen produziert würden, um umfangreicheres Material für Forschungszwecke zu erhalten. Deshalb ist ein Stichtag notwendig, der in der Vergangenheit liegt, damit die Gefahr, dass wegen der Forschung im Zuge der künstlichen Befruchtung überzählige Embryonen entstehen, vermieden wird. Ich selbst bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht um einen blinden Fortschrittsglauben geht; es geht vielmehr um eine sorgfältige Güterabwägung. Ich glaube, dass diejenigen, die für eine Verlegung des Stichtags eintreten, für sich in Anspruch nehmen können, für einen ethisch verantwortlichen Fortschritt einzutreten. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme mit Horst Seehofer darin überein, dass die Freiheit der Forschung nicht unbegrenzt sein kann. Auch wenn Art. 5 des Grundgesetzes keinen Gesetzesvorbehalt kennt, gilt für die Forschung eine immanente Schranke, wenn ein höheres Rechtsgut der Forschung entgegensteht. Das sind immer das Leben und die Würde des Menschen. ({0}) Insofern stellt sich die Frage, ob der Embryo Würde und ein Recht auf Leben hat. Ich stimme mit den meisten in diesem Hause auch darin überein, dass der Embryo von Anfang an ein Mensch ist. Denn wir alle haben als Embryo angefangen. Das ist der Beginn unseres Lebens. Wenn dies so ist, dann gilt der Grundsatz, dass der Embryo von Anfang an - nach Verschmelzung von Ei und Samenzelle - Würde und das Recht auf Leben hat. Deshalb ist der Staat verpflichtet, dieses Grundrecht gegen die Forschung zu schützen. ({1}) Das gilt auch vor der Nidation. Die Nidation ist die Voraussetzung für den Fortgang des Lebens. Diese Voraussetzungen gelten aber auch für den geborenen Menschen. Es gibt immer wieder Momente, in denen es darauf ankommt, dass ein Hindernis beiseitegeschoben wird, damit das Leben seinen Fortgang nehmen kann. Die Nidation ist nichts anderes. Sie ist kein neuer sogenannter qualitativer Sprung; vielmehr ist der Mensch auch vor der Nidation ein Mensch. Ich glaube, dass man auch diese Überlegung anstellen muss. ({2}) Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Horst Seehofer hat eben ausgeführt, dass bei der Konservierung der sogenannten - so würde ich es lieber ausdrücken - überzähligen Embryonen eine Tötung erfolgt. Das ist nicht der Fall. Embryonen, die konserviert werden, werden nicht getötet. Sonst müssten sie schließlich nicht konserviert werden. Sie sterben aber, wenn die Konservierung beendet wird. ({3}) Aber das ist etwas anderes. ({4}) - Lieber Herr Tauss, lassen Sie mich ausreden! Ich habe Sie auch nicht gestört. Wir haben eine hervorragende Debatte geführt, und ich möchte, dass wir in Ruhe weiterreden können. ({5}) Nach meiner Auffassung ist es etwas anderes, jemanden sterben zu lassen, als ihn zu töten. ({6}) Das ist ein wesentlicher Unterschied. Deswegen ist die eben getroffene Folgerung nicht richtig, dass bei der Konservierung eine Tötung erfolgt, der „überzählige“ Embryo aber nicht getötet werden darf, wenn es um Forschung geht. Dann wird er aber getötet. Der sogenannte überzählige Embryo wird dann zu Forschungszwecken getötet. Um den Embryo zu schützen, haben wir aber das Embryonenschutzgesetz, das offensichtlich auch niemand aufheben will. In Deutschland darf kein Embryo getötet werden, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Diesen Grundsatz wollen wir beibehalten. Das ist in der Diskussion nicht ganz deutlich zum Ausdruck gekommen. Nun kommt ein weiterer Punkt. Die aus dem getöteten Embryo gewonnene Stammzelle ist mit dem Embryo nicht identisch; das muss man anerkennen. Sie hat deshalb keinen unmittelbaren Anspruch auf Schutz des Lebens und der Würde. Aber sie steht in einem engen Verhältnis zum Embryo. Sie war Embryo, bevor der Embryo getötet wurde, um sie zu gewinnen. Deswegen wirkt das Recht auf Leben - das wissen wir seit der Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus einem anderen Zusammenhang -, der Anspruch auf Würde gewissermaßen über den Tod des Embryos hinaus und erstreckt sich auch auf die embryonale Stammzelle. Deswegen tun wir uns so schwer und haben einen Stichtag eingeführt. Von Deutschland soll kein Anreiz ausgehen, Embryonen im Ausland zu töten, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Dies haben wir 2002 so beschlossen. Richtiger wäre die Auffassung von Hubert Hüppe, der sagt: Auch dann darf es keine Forschung an Stammzellen geben. Das ist konsequent. Darauf haben der Kollege Schily und andere hingewiesen. Man kann eigentlich nur Ja oder Nein sagen; denn wenn man davon ausgeht, dass auch die Stammzelle Würde hat, weil sie vom Embryo stammt, dann darf man daran eigentlich nicht forschen. Wir haben aber den Kompromiss aus dem Jahre 2002 zu achten; davon müssen wir ausgehen. Nun geht es darum, ob wir den Stichtag, den wir eingeführt haben, damit kein Embryo im Ausland getötet wird, um in Deutschland an Stammzellen zu forschen, verschieben. Ich schließe mich hier all den Argumenten an, die von Volker Kauder in sehr eindrucksvoller Weise vorgetragen wurden. Wenn wir den Stichtag aufgeben, werden wir im Ausland nicht mehr ernst genommen. ({7}) Von Deutschland wird dann der Anreiz ausgehen, im Ausland Embryonen zu töten, um Stammzelllinien nach Deutschland einzuführen. ({8}) - Diese Befürchtung muss man haben, Herr Tauss. Sie liegt auf der Hand. ({9}) Wir werden nicht mehr ernst genommen werden. Außerhalb Deutschlands wird man sagen: Die Deutschen meinen es mit ihrem Stammzellgesetz nicht ganz so ernst, genauso wenig wie mit ihrem Embryonenschutzgesetz. Diesen bösen Anschein dürfen wir nicht erwecken. Deswegen müssen wir uns diesen Überlegungen widersetzen und am vorhandenen Stichtag festhalten. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Griese.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich richte mich bei meiner Entscheidung zugunsten eines Gesetzentwurfs nach meinen ethischen, christlichen Grundwerten. Viele in diesem Parlament tun das, kommen aber zu unterschiedlichen Entscheidungen. Ich glaube, das muss in dieser Debatte möglich sein. ({0}) Genauso wie bei den Patientenverfügungen muss man anerkennen, dass man aufgrund christlicher Grundüberzeugungen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen kann. ({1}) Mir ist es wichtig, was meine Kirche zu diesem Thema sagt. Es ist aber gut, dass es eine Vielfalt in den Positionen der christlichen Kirchen in dieser Frage gibt. ({2}) Ich bedanke mich ausdrücklich bei der katholischen und der evangelischen Kirche für viele Stellungnahmen und Ausführungen. Es ist richtig und wichtig, dass sie sich in die Diskussion über ethische Grundwerte einschalten. Ich will aber auch deutlich sagen: Gleichzeitig müssen die Kirchen Raum für die Gewissensverantwortung jedes einzelnen Christen und jeder einzelnen Christin in diesem Parlament und darüber hinaus geben. ({3}) Ich möchte sagen, welche Grundsätze mir aus ethischer Verantwortung wichtig sind, welche Argumente mich bewogen haben, den Gesetzentwurf von Herrn Röspel und anderen auf eine einmalige Stichtagsverschiebung zu unterstützen. Wir müssen eine klare Regelung finden. Ich weiß nicht, warum hier so negativ über den Kompromiss gesprochen wird. Ich glaube, das geltende Stammzellgesetz stellt eine klare Regelung dar, die deutlich macht, dass keine Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen zerstört werden. Das wird im Ausland sehr ernst genommen, weil es eine klare Regelung ist, eine deutlichere als in vielen anderen Ländern. ({4}) Wir müssen eine Regelung finden, die es uns ermöglicht, Heilungschancen zu nutzen, wenn es solche - das kann noch niemand wissen - in Zukunft gibt. Bischof Huber, der EKD-Ratsvorsitzende, ist heute schon häufiger zitiert worden. Er hat sich für die einmalige Verschiebung des Stichtages mit dem Argument ausgesprochen: Starre Argumentationen können Lösungen auch verhindern. Ich glaube, das ist ein sehr kluges Argument. Er hat weiter gesagt, es sei gerade im Sinne des Lebensschutzes, den Stichtag nicht abzuschaffen, sondern einen Weg zu finden, das Stammzellgesetz von 2002 fortzuschreiben. Deshalb habe ich mich für die Verschiebung des Stichtages ausgesprochen, und ich will ganz deutlich sagen: Das ist eine klare, eine sehr strenge, eine sehr restriktive Regelung, die sehr viel restriktiver als die Regelungen in allen anderen Ländern der Welt ist. ({5}) Es sind besonders drei Argumente, die mich bewogen haben, für diese Haltung zu plädieren. Erstens. Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher nicht kennt. ({6}) Das ist eine Binsenweisheit, aber es liegt in der Natur der Forschung, dass man vorher nicht weiß, was dabei herauskommt. Ob die embryonale Stammzellforschung nun wirklich ergebnislos ist, wie heute einige sagten und zu wissen meinen, ({7}) können wir nicht sagen. Das muss und wird die Forschung ergeben. ({8}) Deshalb müssen wir die Forschung mit adulten Stammzellen - das tun wir auch - stärken. Genau das brauchen wir. Wir sollten uns hier und heute nicht anmaßen, schon zu wissen, dass embryonale Stammzellforschung keine Ergebnisse zeitigen und dass es keine Heilungschancen geben wird. Deshalb sage ich noch einmal: Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher nicht kennt. Deshalb muss man sie ermöglichen. ({9}) Mein zweites Argument. Die strengen ethischen Regeln, die das deutsche Stammzellgesetz vorsieht, können nur erhalten bleiben, wenn dieses Gesetz weiterentwickelt wird, wenn wir der einmaligen Verschiebung zustimmen; denn - ich habe es schon gesagt - im internationalen Vergleich sind diese Regelungen sehr restriktiv. Es gibt keine Zerstörung von Embryonen zum Zwecke der Forschung in Deutschland, und es gibt auch keinen Anreiz im Ausland zur Zerstörung von Embryonen für die Forschung in Deutschland, weil wir diese klaren Regelungen haben. Der Gesetzentwurf des Kollegen Röspel und anderer schreibt diese Regelungen fort. Mein drittes Argument. Wir sind keine Insel in Deutschland, und wir können auch keine Insellösung finden. Was passiert denn, wenn mithilfe der embryonalen Stammzellforschung in anderen Ländern Erkenntnisse gewonnen werden, mit denen auch bei uns in Deutschland Menschen geheilt werden könnten? Wie gehen wir mit solchen Ergebnissen um? Muss dann ein Arzt oder eine Ärztin sagen: Aus ethischer Verantwortung wende ich diese Ergebnisse nicht an? ({10}) Ich glaube, Grundlage von Ethik ist, Mitleid haben zu können. Eine Ethik ohne Mitleid gibt es nicht, hat mir Margot von Renesse gestern für diese Debatte mit auf den Weg gegeben. Mitleid ist ein Teil von Ethik. Man muss sich um Menschen kümmern wollen, Menschen heilen wollen. Auch das ist Ethik. Wir können uns nicht wie auf einer Insel vor dem verschließen, was im Rest der Welt geschieht. ({11}) Mich haben besonders diese drei Gründe bewogen, für eine Verschiebung des Stichtages zu stimmen, übrigens im Sinne der Menschenwürde - das nehme ich ausdrücklich auch für mich und die anderen, die diesen Gesetzentwurf unterschrieben haben, in Anspruch -, im Sinne ethischer Grundlagen, die wir nicht nur auf dem Papier stehen haben wollen, sondern die wir anwenden und die wir tatsächlich bei uns leben wollen. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Marlies Volkmer hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Deswegen erteile ich jetzt Peter Hintze das Wort.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte eint uns die Überzeugung, dass der Schutz des Lebens des Menschen den rechtlichen und moralischen Kern unserer Zivilisation darstellt. ({0}) Ich möchte uns bitten, dass wir in dieser Debatte nicht in falsche Alternativen geraten, wenn es um die Menschenwürde, wenn es um den Schutz des menschlichen Lebens und wenn es um die Heilung der Menschen geht. Die von Immanuel Kant bis Volker Kauder ({1}) geäußerte These unterstütze ich - ich werde es gleich erläutern - nachdrücklich, nämlich dass es Grenzen des Handelns geben muss. Ich unterstütze nachdrücklich die These, dass kein noch so hoher medizinischer Zweck eine Verzweckung des Menschen gestatten würde. Das ist überhaupt nicht die Alternative, über die wir hier reden. ({2}) Wir sagen, der rechtliche und moralische Kern unserer Zivilisation ist der Lebensschutz. Wer kümmert sich denn in Deutschland und in der Welt mehr um den Schutz des Lebens als unsere Ärzte, als die Biologen und Wissenschaftler in der medizinischen Forschung? Die Medizin ist von ihrer Natur her Lebensschutz. ({3}) Die Mediziner, die um diesen Lebensschutz ringen, bitten uns in großer Einhelligkeit - übrigens ein interessanter Unterschied im Vergleich zu 2001 - darum: Gebt uns diese Möglichkeit auf dem hoffnungsvollsten Feld der Medizin, nämlich dem der regenerativen Medizin! Gebt uns die Möglichkeit, dem Menschen in seinem Leben zu helfen! ({4}) Kollege Schily und Kollege Kauder haben gesagt, dass man dazu eine Entscheidung treffen muss. Die Entscheidung hängt natürlich mit unserem Menschenbild zusammen. Ich glaube, auch darin sind wir uns wieder einig. Volker Kauder hat die Frage aufgeworfen, wann menschliches Leben beginnt. Er hat die Theorie vom frühestmöglichen Zeitpunkt angesprochen. Dieser Theorie kann man zustimmen. Aber ich finde, wenn man den Beginn des menschlichen Lebens auf diese biologische - um das harte Wort „biologistisch“ zu vermeiden Weise definieren will, dann muss man auch der Logik recht geben. Menschliches Leben kann doch wohl frühestens dort beginnen, wo bei weiterer Entwicklung auch ein Mensch entsteht. ({5}) Die Vorverlegung dieses Zeitpunktes ist meiner Ansicht nach logisch ausgeschlossen. Wenn man sich auf eine solche biologische Definition einlassen will, dann entsteht der Mensch, wenn sich die befruchtete Eizelle im Mutterleib einnistet. Dann entsteht ein Mensch. ({6}) Wenn wir nach dem frühesten Zeitpunkt fragen, dann haben wir ihn damit bestimmt. Jetzt will ich ein ethisches Urteil sprechen: Für mich hat ein kranker Mensch, um dessen Heilung es geht, in der Tat einen höheren Stellenwert als die sehr achtenswerte biologische Substanz, aus der ein Mensch entstehen kann. Ich bin der Meinung, damit muss man würdevoll umgehen. Aber für mich hat ein kranker Mensch Vorrang vor einer befruchteten Eizelle, die wir tiefgekühlt in einem Stahlbehälter im Labor der Reproduktionsmedizin aufbewahren. Übrigens fragt niemand, ob das der Menschenwürde entspricht. ({7}) Wer diesen Unterschied nicht macht, wer meint, eine befruchtete mikroskopisch kleine Eizelle in der Petrischale ist vom gleichen Wert wie ein kranker Mensch, dem geholfen werden muss, wer lieber den kranken Menschen sterben lässt, ({8}) als diese gespendete überzählige Eizelle zur Verfügung zur stellen, der kann natürlich sagen: Ich bin konsequent. Das ist ganz klar. Aber Konsequenz hat Menschen schon oft sehr geschadet. Ich bin für eine menschenfreundliche Konsequenz. Und die menschenfreundliche Konsequenz lautet: Wenn uns die Medizin in Deutschland, die Menschen, die für den Lebensschutz arbeiten und um ihn kämpfen, darum bitten, dann sollten wir diese Möglichkeit rechtlich auch erschließen, unabhängig von der Frage, ob das unser Grundgesetz nicht sowieso gebietet. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zum Wissenschaftsverständnis anführen. Wer Wissenschaft so versteht, dass Forschung dort erlaubt ist, wo die Forscher von vornherein das therapeutische Endergebnis garantieren, der hat Wissenschaft nicht verstanden. ({9}) Der Charakter der Wissenschaft ist ihre Offenheit. Daraus erwachsen Ergebnisse, und zwar erstaunliche Ergebnisse, die den Menschen sehr helfen. Ich möchte, dass unsere verantwortlichen Forscher dieses Recht bekommen. Deswegen bin ich für die Abschaffung der entwürdigenden Kriminalisierung und Strafandrohung. Deshalb bin ich dafür, dass wir den Stichtag aufheben und es bei den anderen guten Regelungen belassen, die sicherstellen sollen, dass wir einer Ethik des Heilens Rechnung tragen. Das können wir durch unsere Beschlussfassung in diesem Parlament. Ich danke Ihnen sehr. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Steffen Reiche.

Steffen Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten und wollen einen Kompromiss finden. Wir finden uns gespalten in fünf Beschlussvorschläge so viele Gruppen wie Fraktionen. Kompromiss heißt, zuzusagen, sich der Entscheidung eines Schlichters zu beugen. Schlichter kann hier nur der Gesetzgeber als Ganzes, also der Bundestag sein. ({0}) Durch einen Kompromiss wird niemand kompromittiert. Unser Gesetzentwurf beinhaltet einen Kompromiss zwischen divergierenden, gut begründeten Positionen, indem eine einmalige Verschiebung des Stichtages und die Begrenzung der Reichweite der Strafandrohung auf das Inland beschlossen werden sollen. Ja, die Positionen stehen unvermittelbar im Raum; aber gerade deswegen ist ein Kompromiss notwendig. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat unseren Vorschlag im vergangenen November - anders als ein Jahr zuvor - im Wesentlichen als tragfähigen, glaubwürdigen Kompromiss angesehen. Also gab es auch hier keine Änderungen bei den ethischen Grundlagen, wohl aber bei der daraus entwickelten Position. Wir schreiben hier einen schon einmal erzielten Kompromiss einmalig fort. So wie damals sichert er eine Balance zwischen Embryonenschutz und Forschungsfreiheit. Mir sind folgende Argumente besonders wichtig: Wir fördern mit europäischem Geld aus guten, mit der Mehrheit des Europäischen Parlaments beschlossenen Gründen auch die embryonale Stammzellenforschung. Wenn mit deutschem Fördergeld gefördert wird, was deutsche Forscher in Deutschland nicht dürfen, ist das nicht konsequent. Die Debatte, die wir heute führen, ist eine zu Recht häufig geführte, und sie wird auch nach diesem Beschluss geführt werden und werden müssen. Seinerzeit, Mitte Juni 2006, als es um die Fortschreibung des EUForschungsrahmenprogramms ging, entzündete sich die Debatte im Europäischen Parlament genau an der Frage, ob dieses Förderprogramm eben auch die Forschung unter Verwendung menschlicher Stammzellen, sowohl adulter wie embryonaler, ermöglichen soll. Ergebnis der Diskussion war auch hier ein vernünftiger Kompromiss: Ja, die EU fördert diese Forschung, aber nur nach Maßgabe des Inhalts des wissenschaftlichen Vorschlags, nach den rechtlichen Rahmenbedingungen des betreffenden Mitgliedstaats und unter Einhaltung strenger, EU-weit geltender Genehmigungs- und Überwachungsvorschriften. Mit der einmaligen Verschiebung ermöglichen wir die seit langem und mit Nachdruck geforderte europäische und internationale Forschungskooperation. Noch ist die deutsche Forschung auf diesem Gebiet gefragt. Stehen deutschen Forschern mit einem Beschluss der einmaligen Stichtagsverschiebung statt 21 dann rund 260 der im neuen Stammzellregister geführten Zelllinien zur Forschung zur Verfügung, wird in den nächsten Jahren klar werden, welcher Weg um der Menschen willen weiter verfolgt werden sollte: der der adulten oder auch der der embryonalen Stammzellenforschung. Damit diese Frage endlich beantwortet werden kann, sollte eine der weltweit erfolgreichsten Forschungslandschaften, nämlich die deutsche, diese derzeit global bearbeitete Frage mit klären können. Lebensschutz ist uns von der Verfassung aufgetragen, von der Zeugung bis zum Tod. Aber wie wir Leben schützen, dafür gibt uns die Verfassung einen Freiraum. Mit der Regelung über die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches oder die erlaubte Nutzung der Spirale ist in Deutschland dieser Raum genutzt worden. ({1}) Steffen Reiche ({2}) Die deutsche medizinische Forschung darf sich nicht selbst von einer medizinischen Entwicklung innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft abschneiden. Das ist in der Begründung der Gesetzesinitiative zur ersatzlosen Streichung der Stichtagsregelung richtig erkannt worden. Unser Kompromiss der einmaligen Verschiebung des Stichtags fügt dem aber ein entscheidendes Detail hinzu: Wir müssen sowohl mit unseren Forschungsfortschritten als auch mit den berechtigten ethischen Vorbehalten argumentieren dürfen. Verbleibt es bei der jetzigen Situation, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man deutschen Stammzellforschern nicht mehr zuhört. Aber käme es zur ersatzlosen Stichtagsabschaffung, würden wir die Möglichkeit, aus ethischen Gründen Widerspruch zu erheben, gänzlich abschaffen. Damit liegt der vernünftige Kompromiss auf der Hand. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Annette Schavan.

Dr. Annette Schavan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003836, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung, die der Deutsche Bundestag nach Abschluss seiner Beratungen zur Stammzellgesetzgebung zu treffen hat, ist nicht nur für Deutschland bedeutsam. Von ihr gehen auch Signale an die internationale Wissenschaftswelt aus. Forschung ist international vernetzt. Unser Wertefundament endet nicht an nationalen Grenzen, sondern ist Teil einer europäischen Wertetradition. ({0}) Die besondere Stellung des Menschen als Individuum, die Überzeugung von der Würde eines jeden Menschen und davon, den grundlegenden Wert des Lebensschutzes zu achten, sind nicht Sondermoral, sondern kulturelles Fundament für die Forschung in dieser Tradition - in Deutschland und in Europa. ({1}) Genau davon sind das Stammzellgesetz und das Embryonenschutzgesetz geprägt, das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990, das Stammzellgesetz aus dem Jahr 2002. Wissenschaft und Politik in Deutschland haben bei der Frage der Stammzellforschung einen weitreichenden Konsens erzielt - quer durch die Fraktionen, im Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. Nenne man mir ein Land der Welt, in dem der Konsens so groß ist wie in Deutschland und in dem das Fundament im Blick auf den Schutz des Lebens und die Heilung von Krankheiten so stabil ist wie in Deutschland! ({2}) Das haben gerade die Debatten der vergangenen Monate gezeigt: Niemand will die grenzenlose Forschung. Niemand stellt das Embryonenschutzgesetz in Frage. Wissenschaft und Politik führen seit Monaten einen ernsthaften Dialog, der auch für andere Länder beispielgebend ist. Das Signal, das vom Stammzellgesetz in Deutschland bislang ausgeht und nach meiner Überzeugung auch in Zukunft ausgehen soll, lautet: Erstens. Es darf keine Herstellung von menschlichen Embryonen zum Zweck der Forschung geben. Zweitens. Es darf von Deutschland kein Anreiz zum Verbrauch von Embryonen für die Forschung ausgehen. Der Import von embryonalen Stammzelllinien, gewonnen aus menschlichen Embryonen, darf nur im Ausnahmefall und für einen streng definierten Korridor der Forschung erfolgen. Seit Inkrafttreten des Stammzellgesetzes wurden 25 Anträge bewilligt. In jedem Antrag muss dargelegt werden, dass keine Alternative zu dem Weg existiert, der beantragt wird. ({3}) Der damalige Justizminister Klaus Kinkel schrieb 1990 im Vorwort zum Embryonenschutzgesetz: Das Embryonenschutzgesetz ist im europäischen Vergleich die umfassendste Regelung der mit der Fortpflanzungsmedizin zusammenhängenden strafrechtlichen Fragen. ({4}) Auch das sollten wir also sagen: Nirgends sonst in Europa ist eine so klare Regelung sämtlicher strafrechtlicher Fragen erfolgt. Die Stammzellgesetzgebung in Deutschland gilt bis heute als eine der restriktivsten Regelungen; ich sage: als eine der verantwortungsbewusstesten Regelungen überhaupt. ({5}) Beide Gesetze haben dazu beigetragen - davon bin ich überzeugt -, dass man sich in Deutschland erfolgreich auf solche Stammzellforschung konzentriert hat, die vor allem ethisch unbedenkliche Alternativen - sprich: Quellen für die Gewinnung embryonaler Stammzelllinien - sucht. Glaube niemand, irgendwann brauche man embryonale Stammzelllinien nicht mehr! Natürlich werden sie gebraucht. Die Frage ist nur, woher wir diese Stammzelllinien gewinnen. Deshalb sind die neuen Durchbrüche so wichtig für die Zukunft dieser Forschung, die die Basis der regenerativen Medizin, der Medizin im 21. Jahrhundert sein wird. ({6}) Wenn ich immer höre, man solle jetzt endlich mehr für adulte Stammzellforschung tun, muss ich noch einmal eine Zahl nennen: 97 Prozent der Mittel sowohl des Ministeriums wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind in Alternativen, also in Forschung mit tierischen und adulten Stammzellen, geflossen. ({7}) Um noch eine Zahl zu nennen: Im gesamten Zeitraum seit Anfang 2000 hat das Forschungsministerium 49 Millionen Euro ausgegeben. Allein der neue Förderschwerpunkt „Wege der Reprogrammierung“, den ich im letzten Jahr verkündet habe, wird jährlich mit bis zu 10 Millionen Euro dotiert sein. Ich habe erklärt: Am Geld wird es nicht liegen. Was notwendig ist, wird finanziert werden. ({8}) Noch vor fünf Jahren, noch vor drei Jahren glaubte niemand, dass Reprogrammierung möglich ist. Das hat in der damaligen Debatte keine Rolle gespielt. Genau hier setzt das Dilemma im Blick auf die ethische Bewertung ein, in dem wir jetzt stehen. Ich sage noch einmal sehr deutlich - das kann einem ethisch passen oder nicht; mir passt es auch nicht hundertprozentig -: Zu moralischer Integrität gehört auch, dass ich nicht einfach ignoriere, was mir nicht passt. Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass Reprogrammierung ohne embryonale Stammzellforschung nicht funktionieren kann und das alles, was Yamanaka und Thomson gemacht haben, auf Erkenntnisse aus der embryonalen Stammzellforschung angewiesen ist. Wir wüssten sonst - so hat es ein Berliner Forscher gestern gesagt - nicht einmal, wann aus einer Hautzelle eine embryonale Stammzelle geworden ist. Diese Tatsachen können forschungspolitisch nicht ignoriert werden. ({9}) Natürlich, Frau Hinz, hat diese Forschergruppe mit sogenannten alten Stammzelllinien gearbeitet. Aber jeder in der Forschung weiß, dass sich an den Durchbruch, der jetzt erreicht wurde, gleichsam eine Überprüfungsphase anschließt. In dieser Überprüfungsphase ist es notwendig, wenn es denn je um die Entwicklung von Therapien gehen soll, auf qualitativ einwandfreie Stammzelllinien zurückgreifen zu können. ({10}) Ich komme zum Ende, Herr Präsident; ich sehe das Blinklicht. - Mit den vor 2002 gewonnenen Stammzelllinien lässt sich forschen. Ja, das bezweifelt niemand. Aber um die neuen Wege der Reprogrammierung zum Erfolg zu bringen, um also das zu erreichen, was wir wollen, nämlich ethisch unbedenkliche Quellen für Stammzellen, ist der Rückgriff auf qualitativ bessere und neuere Stammzelllinien notwendig. Die Forschung in diesem Feld braucht Überprüfung, wenn ich Alternativen will, wenn ich also will, dass Deutschland zu einem Motor für die Entwicklung ethisch unbedenklicher Alternativen wird. Aus diesem Grunde halte ich die Verlegung des Stichtages für verantwortbar. Was wir damit ermöglichen, bedeutet nach meiner festen Überzeugung weder Dammbruch noch grenzenlose Forschung. Wir sorgen damit nicht für eine Liberalisierung des Gesetzes, sondern für eine Weiterentwicklung, die der Intention des Gesetzes von 2002 entspricht. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Jung, Krings, Willsch, Eisel, Weiß ({0}), Fischer ({1}), Mißfelder, Liebing, Eymer ({2}), Knoche und Volkmer.1) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7981, 16/7982, 16/7983, 16/7984 und 16/7985 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nach dieser intensiven Debatte, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zu einem anderen Tagesordnungspunkt, dem Tagesordnungspunkt 5: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Herbert Schui, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent - Drucksachen 16/4485, 16/6732 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Dr. Barbara Höll Ich weise darauf hin, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion, das Wort.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich warte vielleicht noch ein bisschen, bis sich die Unruhe etwas gelegt hat.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie dieser Debatte nicht mehr folgen wollen, dann bitte ich Sie, Ihre Gespräche außerhalb fortzusetzen.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kinderarmut zu bekämpfen ist ein Ziel, dem sich das ganze Hohe Haus verschrieben hat. Die Quote der in Armut lebenden Familien in Deutschland ist viel zu hoch. Natürlich ist das materielle Wohl der Kinder nicht allein ausschlagge- bend für ihr glückliches und gesundes Aufwachsen. Was dazu nötig ist, können wir von Staats wegen nicht beein- 1) Anlage 2 flussen. Aber immer mehr Familien sind nur deshalb, weil sie Kinder haben, auf Grundsicherung angewiesen. Bei Familien mit mehreren Kindern steigt das Armutsrisiko. Diese Armut beeinträchtigt natürlich die Möglichkeiten sozialer, gesundheitlicher und auch kultureller Entwicklung der Kinder. Das nehmen wir als Regierungsfraktionen nicht einfach hin. Zug um Zug rücken wir - die Koalitionsfraktionen, Bundesregierung, Länder und Kommunen, aber auch viele gesellschaftliche Partnerorganisationen - diesem Problem zu Leibe. Das Ganztagsschulprogramm, der Kinderzuschlag, die Wohngelderhöhung, die BAföG-Erhöhung, die Mehrgenerationenhäuser, der Ausbau der Kinderbetreuung sind ganz wichtige Bausteine, die wir bereits auf den Weg gebracht haben. ({0}) Deren Ergebnisse werden sich in Kürze zeigen. Nur ein kleines Beispiel: Durch die durch unser Programm ermöglichte Einrichtung der Ganztagsschule ist es in meiner Region, in der Regionalen Schule Wallhalben, gelungen, fast alle Kinder wenigstens mit Hauptoder Realschulabschluss ins Leben zu entlassen. Die individuellen Fördermöglichkeiten ersetzten teure Nachhilfestunden und eröffneten den Kindern neue Welten. Das ist wirkungsvolle Armutsbekämpfung. Was liegt uns heute vor? Ein Antrag, der vorspiegelt, die große Sorge der Kinderarmut durch ein paar Drehungen an diversen Schräubchen beheben zu können. Das ist angesichts dieser Aufgabe mehr als unredlich. ({1}) Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite, benutzen die Not der betroffenen Familien, um hier wieder einmal eine ganz große Show abzuziehen. ({2}) Ihr Antrag „Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent“ ist jetzt bald ein Jahr alt. Inzwischen sollten Sie, eventuell belehrt von Exfinanzminister Oskar Lafontaine, gelernt haben, dass wir alle hier, auch Sie, dieser Forderung nicht entsprechen können, weil sie EU-rechtswidrig ist, sehen wir einmal davon ab, wie sinnvoll eine solche Maßnahme wäre. Gegen Polen wurde jetzt wegen solcher Maßnahmen von Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Über diese offenkundige EU-Rechtswidrigkeit lassen Sie auch noch namentlich abstimmen. Da sieht man einmal, wie Sie zu Europa stehen. Bei dieser Farce fällt es zumindest auch denjenigen leicht, dagegen zu stimmen, die aufgrund des Tenors Ihres Antrags vielleicht noch damit geliebäugelt haben. Sie führen mit dieser Maßnahme doch nur vor, wie wichtig Ihnen die Bekämpfung der Kinderarmut in Wirklichkeit ist. Es macht mich zornig, wie Sie die Nöte und Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger instrumentalisieren. Vor drei Wochen fast um dieselbe Zeit hat Herr Gysi an diesem Rednerpult Vorschläge gemacht, wie er Kinderarmut bekämpfen würde, leidenschaftlich und lautstark, wie er ist. Am Schluss seiner Rede erklärte er, dass alles leicht über Steuererhöhungen - er sprach von 120 Milliarden Euro jährlich - zu finanzieren sei. Und worüber reden wir heute, drei Wochen später, aufgrund seines Antrags? Nicht über mehr, sondern über weniger Steuern. Das Merkwürdigste dabei ist, dass jeder weiß, dass dieses Geld kaum den Familien zugutekommen wird, die es brauchen. Sie stopfen es den Unternehmen in den Rachen, die Sie sonst immer mit mehr Steuern belegen wollen. ({3}) Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, einen Vergleich der Preise für Kinderkleider in mehreren Ländern anzustellen. Das war schwierig; denn selbst in Deutschland gibt es häufig unterschiedliche Preise in den einzelnen Regionen. Aber ich habe es doch geschafft. Zum Beispiel ein Babylangarmshirt von derselben Firma kostet in Österreich 3,19 Euro, in Tschechien - ermäßigter Steuersatz - 3,74 Euro, in Deutschland 2,99 Euro, in Großbritannien 3 Pfund, also mehr als 4 Euro. Ungefähr das Gleiche gilt für Pampers und anderes. In Großbritannien ist Kinderkleidung ganz von der Mehrwertsteuer befreit; dennoch war das Shirt dort am teuersten. Wer hat in dem Fall den Profit? ({4}) Außerdem ist die Kinderarmut in dem von Ihnen als Beispiel genommenen Großbritannien noch weit höher als in Deutschland. Was wollen Sie also mit diesem Antrag bewirken? ({5}) Ich nehme an, dass Sie sich schon vor dem Verfassen des Antrags über die tatsächlichen Verhältnisse schlau gemacht haben. Also wissen Sie, dass das ein reiner Schaufensterantrag ist. So einen Umgang haben die Familien wirklich nicht verdient. ({6}) Falls die EU-Kommission die Babywindeln in den Katalog der ermäßigten Steuersätze aufnimmt, was wir dann natürlich auch tun, können wir allein an diesem Beispiel studieren, wie sich die Preise entwickeln werden. Dass das am Ende dem Verbraucher nutzt, bezweifle ich sehr. Stimmten wir aber Ihrem Antrag zu, hätten wir zuverlässig hohe Steuerausfälle. Um das zu erkennen, brauche ich mir nur die Schreiben auf meinem Tisch anzuschauen: Die deutschen Freizeitparks sind familienfreundlich, Mineralwässer und Medikamente für Kinder ebenso. Wie sieht es mit der Bahn aus? Auch Bahnfahren ist familienfreundlich. Nette Familienrestaurants gibt es ebenfalls. Sehr viele würden vorgeben, Produkte für Kinder herzustellen bzw. Dienstleistungen für Kinder zu erbringen. Ein Milliardenloch würde so entstehen. Zusätzlich er14926 wartet uns ein teures Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel. Die von Herrn Gysi anvisierten 120 Milliarden Euro Steuererhöhung würden also nicht ausreichen. Da müssten Sie kräftig noch etwas drauflegen. Ihr Antrag ist wirklich ein schlechter Witz, obwohl niemand bei diesem Thema lachen kann. Mit einer Minderung der Umsatzsteuer, meine Damen und Herren von der Linken, entziehen Sie Bund, Ländern und Gemeinden das Geld, das gebraucht wird, um all das zu finanzieren, was Familien zugute kommt. Ich nenne beispielsweise beitragsfreie Kindergärten, Kinderpsychologen und Gesamtschulen, wie sie in Rheinland-Pfalz - von den Eltern gefordert und vom Land gefördert - auch in ländlichen Gebieten wohnortnah entstehen. Der von Ihnen zitierte Christoph Butterwegge analysiert, dass sich Kinderarmut in der Regel auf Mütterarmut zurückführen lässt. Er sieht den Schlüssel zur Verringerung dieser Armut in einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen. Mütter sollen Geld verdienen, so schreibt er. Wenn ich Ihren Kronzeugen ernst nehme, dann komme ich zu dem Schluss: Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir können ein höheres Kindergeld beschließen sowie Ganztagsschulen, Kinderbetreuung und anderes einführen. Wie die rot-grüne Koalition wird auch die Große Koalition die Familienförderung weiterentwickeln. Das Wichtigste ist aber, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Denn Arbeitslosigkeit macht arm - nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Schauen wir einmal auf den rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt. In keinem Jahr konnte in Rheinland-Pfalz die Arbeitslosigkeit so deutlich abgebaut werden wie im Jahr 2007. Der Abbau hat alle Personengruppen erreicht: Frauen, Männer, Jugendliche und auch viele Bezieher von Arbeitslosengeld II. Natürlich ist das dem konjunkturellen Aufschwung geschuldet, aber auch unseren Arbeitsmarktreformen. Das ist eine nachhaltige Bekämpfung der Armut. Die Mindestlöhne, die wir auf den Weg gebracht haben, ziehen Familien auch aus der Armut. Auf diesem Weg werden wir weitermachen. Ich bin davon überzeugt, dass der Armuts- und Reichtumsbericht ganz anders ausschauen wird, wenn wir es geschafft haben, Mindestlöhne flächendeckend durchzusetzen, sodass Menschen, die arbeiten, nicht noch zusätzlich Unterstützung vom Staat brauchen. ({7}) Wir werden es schaffen - allerdings nicht mit Ihren Forderungen nach immensen Steuererhöhungen, meine Damen und Herren von der Linken. Denn dadurch verschwinden die Arbeitsplätze so schnell, wie sie entstanden sind. ({8}) Da Sie die 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die Kinder ausgeben wollen, bleibt für einen öffentlich unterstützten Arbeitsmarkt nichts übrig, es sei denn, Sie würden noch etwas oben drauflegen. Mit Ihren Plänen stürzen Sie die Familien geradezu in Armut. Ich komme zurück zur Mehrwertsteuer, die für die Durchsetzung so vieler Ziele einschließlich der Verminderung der Schuldenlast der öffentlichen Haushalte bestimmt ist. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, gerade wenn wir uns mit dem Thema Kinder beschäftigen. Die Liste der Dinge, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, ist zugegebenermaßen kaum noch nachvollziehbar. Sie ist in vielen Jahren gewachsen und verändert worden. Neu hinzugekommen sind nun die Bergbahnen. Ich wünsche mir zum Beispiel die Aufnahme der Kunstfotografie. Die Begehrlichkeit von allen Seiten, in das verwirrende System der ermäßigten Steuersätze aufgenommen zu werden, nimmt zu. Wir Finanzpolitiker werden uns diese Liste in Kürze genauer anschauen müssen. Herr Wissing, Kaviar ist übrigens nicht mit dem ermäßigten Steuersatz belegt, wie Sie das immer behaupten. ({9}) - Man kann immer etwas finden. - Wir werden uns diese Liste, wie gesagt, genauer anschauen müssen, um eine Linie zu finden. Diese Linie könnte zum Beispiel sein, leibliches und geistiges Wohl durch einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu unterstützen und alles andere dem normalen Steuersatz zu unterwerfen. Das wird eine sehr spannende Diskussion, auf die ich mich schon jetzt freue. Aber heute bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag abzulehnen, weil er die Familien benutzt, ihnen aber in keiner Weise nutzt. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag scheint zwar jetzt auf Ablehnung zu stoßen. Aber ich kann Ihnen sagen: Sie haben auch Befürworter, zum Beispiel jemanden im Bundeskanzleramt. Dort gibt es eine große Fürsprecherin Ihres Antrages. Staatsministerin Maria Böhmer hat dazu Folgendes gesagt - ich zitiere sie -: Das ist ein „zielgerichteter Vorschlag für eine familienfreundliche Steuerpolitik“. ({0}) Sie sehen, es geht wie Kraut und Rüben durcheinander. Sie haben im Bundeskanzleramt auch noch andere Fürsprecher. Die Bundeskanzlerin selbst hat gesagt, sie könne nicht ausschließen, dass mittelfristig der ermäßigte Steuersatz für die meisten Kinderprodukte gelten solle. Nun werden Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union, sagen: Diese Aussagen sind schon zwei Jahre alt. Zwei Jahre sind natürlich eine lange Zeit für eine Regierungsfraktion. Damals wurden viele Steuersenkungsversprechungen gemacht, und am Ende wurde kräftig erhöht; das wissen wir alle. Die Erinnerungslücke, was die Wahlversprechen in der Steuer- und Finanzpolitik angeht, ist bei den Regierungsfraktionen schon beängstigend. 2005 haben Sie den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Kinderartikel gefordert, und 2007 haben Sie noch einmal 3 Prozentpunkte auf den vollen Umsatzsteuersatz draufgeschlagen. ({1}) Statt für Kinderartikel einen Steuersatz von 7 Prozent einzuführen, besteht für die Bürgerinnen und Bürger heute ein Steuersatz von 19 Prozent. Das heißt, statt einer Halbierung haben wir jetzt fast eine Verdreifachung dessen, was Frau Böhmer damals beschworen hat. Eines kann man jedenfalls sagen: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte ist eine Antifamilienpolitik, die Sie von der SPD mitgetragen haben. Die Bürgerinnen und Bürger haben auch Ihre Mehrwertsteuerlügen nicht vergessen. Es hieß, die Merkel-Steuer werde teuer. Mit der SPD wurde es dann noch viel teurer. So war das in Deutschland. Diese Steuererhöhungspolitik, die Sie von der Großen Koalition in den letzten Jahren massiv betrieben haben, hat die Familien erheblich belastet. Sie zahlen heute jährlich im Schnitt 1 600 Euro mehr an den Fiskus. Dieses Geld fehlt für die Kinder, fehlt den Familien. Das ist für sie ein sehr ernstes Thema. Deswegen kann ich nachvollziehen, dass Sie von der SPD jetzt so ernst schauen. Bei vielen Familien in Deutschland wurde durch Ihre Politik wirklich existenziell abkassiert. Da hilft es auch nichts, wenn Sie dann Feigenblättchen in die Welt setzen, zum Beispiel das Elterngeld und all das andere Gute, das Sie tun wollen. Wenn man erst bei den Leuten abkassiert und sich hinterher bei den Familien als Gönner aufspielt, dann ist das schon an der Grenze dessen, was man den Menschen zumuten kann. ({2}) Sie haben die Eigenheimzulage gestrichen, Sie haben die Pendlerpauschale gekürzt, Sie haben den Sparerfreibetrag gekürzt, Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht und damit tief in die Taschen der Familien gegriffen. Sie haben den Familien in Deutschland sehr viel genommen, und Sie nehmen ihnen sehr viel. Sie sind nicht in der Lage, ihnen auch nur ansatzweise etwas Adäquates zurückzugeben; auch das muss an dieser Stelle gesagt werden. Die Forderung der Linken nach Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte ist von der Zielsetzung her verständlich. Wir alle wollen etwas für Familien tun. Es war einmal die erklärte Absicht des Gesetzgebers, bei der Mehrwertsteuer ein System zu schaffen, das die Artikel des täglichen Bedarfs vergünstigen soll. Es gibt in diesem Haus niemanden, der bestreitet, dass dieses Ziel verfehlt worden ist. Das Bundesministerium der Finanzen vertritt sogar die Auffassung - wir hatten da einmal nachgefragt -, dass die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes keiner inneren Logik folge - das ist schon bemerkenswert -, sondern vielmehr - so sagt das BMF - Ausdruck der Durchsetzungsfähigkeit verschiedener Lobbyisten und anderer Interessengruppen sei. Nun hat das Bundesfinanzministerium im Oktober 2006 den ermäßigten Umsatzsteuersatz für getrocknete Schweineohren gewährt. Für Kinderartikel gilt aber nach wie vor der volle Satz. Da sieht man: Beim BMF haben sich die Lobbyisten für getrocknete Schweineohren durchsetzen können. Für Kinder, in der Familienpolitik wurde bisher wenig getan. ({3}) Da gibt es starke Lobbygruppen für Sessellifte und Seilbahnen, die bei der Bundesregierung offene Ohren finden und sich durchsetzen können. Es ist eine Sache, wenn Lobbyisten und Interessengruppen ihre Anliegen vertreten. Es ist aber eine andere Sache, wenn deren Wünsche dann mir nichts, dir nichts den Weg in das Gesetz finden. Es spricht nicht gerade für die politische Standhaftigkeit der Bundesregierung, wenn sie es nicht einmal schafft, den Interessenvertretern für getrocknete Schweineohren Paroli zu bieten. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobbygruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den berechtigten Belangen der Gesellschaft und - wie wir immer betonen - einer guten Familienpolitik gerecht wird. Es wäre ein Signal gewesen, wenn Sie, statt stupide die Mehrwertsteuer zu erhöhen, die Chance genutzt hätten, unser Mehrwertsteuersystem umfassend zu reformieren. Das ist zwar ein großes Projekt, es wäre aber angemessen gewesen, wenn die Große Koalition das in Angriff genommen hätte. Wenn Sie gebetsmühlenartig sagen: „Das geht alles nicht, wegen Europa!“, frage ich mich: Wer ist denn Europa? ({4}) Die Bundesregierung tut immer so, als hätten wir damit gar nichts zu tun. Um Gottes willen! Erheben Sie doch einmal Ihre Stimme und sagen Sie in Europa, was für Deutschland richtig, wichtig und gut ist. Wir können uns von den anderen doch nicht immer sagen lassen, dass das nicht geht. Nein, damit flüchten Sie sich aus der Verantwortung, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({5}) Wer den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Sessellifte und Bergbahnen einführen kann, der kann sich in anderen Bereichen nicht einfach mit dem Verweis auf Europa verweigern. Immerhin gab es schon einmal eine Initiative der SPD. Sie wollten das schon einmal überarbeiten, damals unter Finanzminister Eichel. Jetzt werden Sie sagen: Die FDP war damals nicht begeistert. Natürlich nicht! Weil Sie nur einseitig anheben wollten. Sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht, ob man in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Trüffel und Gänsestopfleber, von der Subventionierung wegkommen müsste, weil sie keinen Sinn macht, Frau Kollegin Westrich. Das haben Sie damals einfach ausgelassen. Wenn man schon eine Reform macht, sollte es auch eine vernünftige sein, dann sollte es nicht nur ein bisschen sein, dann sollte man nicht nur die Kassen ein bisschen auffüllen, wie Sie immer denken, sondern dann muss man etwas machen, das das System strukturell verbessert. Deswegen sagt die FDP gebetsmühlenartig immer wieder im Finanzausschuss: Wir brauchen die Selbstbefassung. Wir müssen jetzt an die Überarbeitung des Mehrwertsteuersystems ran. Es ist höchste Zeit. Ich kann Sie an dieser Stelle nur wieder auffordern: Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Man sollte nicht immer nur sagen: Europa! Europa! Wir können nicht! Wir wollen nicht! Ich glaube, es gibt viel zu tun: In Deutschland gibt es unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für Dill und Basilikum. Bei Lorbeer kommt es darauf an, ob er frisch oder getrocknet ist. Weihnachtskränze haben je nach Feuchtigkeitsgehalt der Tannen unterschiedliche Mehrwertsteuersätze. Was ist denn das für ein Steuersystem? Da kann man doch hier nicht einfach sagen: Das lassen wir einfach so! Europa! Ich finde, wir müssen uns dieses Themas dringend annehmen. Wir sollten uns diesem Thema nicht immer verweigern und sagen, dass das nicht geht. Lassen Sie uns die Selbstbefassung machen. Zu dem Antrag der Linken: Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vorstellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Symbolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch auch keinem. Sie sprechen von „Waren und Dienstleistungen für Kinder“. Wie das abgegrenzt und praxisgerecht ausgestaltet werden soll, sagen Sie aber nicht. Nehmen Sie beispielsweise ein Kinderschnitzel in einem Restaurant. Jetzt kommt ein Erwachsener und isst ein Kinderschnitzel. Was machen wir denn jetzt? Sagen wir dann: Es kommt darauf an. Wir können Ihnen den Mehrwertsteuersatz und den genauen Preis erst beim Abrechnen mitteilen, erst, nachdem wir Ihr Alter festgestellt haben. ({6}) Sie müssen schon einen Vorschlag vorlegen, der hiebund stichfest und europatauglich ist. ({7}) Die Chance, die dieser Finanzausschuss und dieses Parlament haben, sollten wir nutzen. Wir sollten aber keine Symbolpolitik machen, weil das Thema viel zu ernst ist. Da hat Frau Westrich recht. Wenn wir das machen wollen, lassen Sie es uns gemeinsam tun. Bei einer vernünftigen Überarbeitung des Systems ist die FDP an Ihrer Seite. Ich sage Ihnen aber eines voraus - Stichwort: Steuererhöhungen -: Wenn Sie meinen, Sie könnten mit einer Systemüberarbeitung wieder abkassieren, so wie damals, dann haben Sie uns als Gegner. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke, den Mehrwertsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent zu ermäßigen, ist der klassische Fall eines Rohrkrepierers: Eine im Kern gut gemeinte Absicht wird durch schlechte handwerkliche Ausführung kaputtgemacht. Das ist Ihr Rohrkrepierer. ({0}) In der Sache hat sich auch die Union mittelfristig das Ziel gesetzt, wie jüngst wieder in der Hamburger Erklärung vom 11. Februar betont wurde, zu prüfen, ob auf typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs künftig nur noch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann. Familien und Kinder stehen im Mittelpunkt der Politik dieser Koalition. ({1}) Der heute zur Abstimmung stehende Antrag ist handwerklich schlicht und ergreifend Murks. Das hätte Ihnen der ehemalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine eigentlich erklären können. Ich sehe ihn nicht. Er ist nicht da. Das ist schon bezeichnend. Sie ziehen hier etwas hoch, Sie beantragen eine namentliche Abstimmung, und dann kommt einer Ihrer Fraktionsvorsitzenden nicht. Das zeigt doch den Showcharakter dieses Antrags. ({2}) Ihr Antrag ist schlicht und ergreifend schlampig formuliert. Warum ist er handwerklicher Murks? Der Antrag übersieht zunächst, dass eine ganze Reihe von Artikeln für Kinder bereits jetzt dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt: Nahrungsmittel, Milchprodukte, Süßigkeiten, Schokolade - das ist nicht ganz unwesentlich - und Bücher einschließlich Malbücher werden schon heute ermäßigt besteuert. Was sollen denn dann die weiteren Waren und Dienstleistungen für Kinder sein? Sollen darunter generell Musik-CDs, Videofilme, Videospiele, Gameboys, MP3-Player, iPods nano und andere teilweise kostspielige Elektronik fallen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benutzen, ja oder nein? Sie werden wahrscheinlich Nein sagen. Sollen darunter auch hochwertige Puppen, Modellautos, Modelleisenbahnen, Modellflugzeuge, teure Markenkleidung und Ähnliches fallen? Mancher erwachsene Sammler oder erwachsene KonsuManfred Kolbe ment würde sich darüber freuen. Der Zielrichtung Ihres Antrags würde das aber wahrscheinlich nicht gerecht werden. Meine Damen und Herren von der Linken, der Teufel liegt wie immer im Detail. Der kurze und knappe Rat meiner Fraktion lautet: Ziehen Sie diesen schlampigen Antrag zurück und sitzen Sie nach. Damit dienen Sie auch den Kindern. Dieser Antrag ist typisch für Ihre Fraktion: immer alles fordern, aber nichts in die Realität umsetzen. ({3}) Das ist auch typisch für Ihre scheinheilige Strategie und für Ihre Spitzenleute. Unter Ihnen befinden sich zwei Personen, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, die einmal hohe Staatsämter in dieser Republik bekleidet haben. Da hätten sie manches ändern können, aber sie haben es nicht getan. Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, die bedauern, dass sie es nicht getan haben. Sie haben irgendwann den Bettel hingeschmissen und sich lieber der Polemik im Bundestag hingegeben. Genau das ist die Scheinheiligkeit Ihrer Strategie. ({4}) Dafür ist auch dieser Antrag typisch. Sie übersehen weiter - Kollege Wissing hat es schon ausgeführt -, dass dieser Antrag schlicht und ergreifend europarechtswidrig ist. ({5}) Auch Sie haben Europaabgeordnete. Über eine habe ich neulich etwas in der Zeitung gelesen. Herr Gysi, vielleicht treffen Sie sich einmal mit Frau Wagenknecht zum Hummeressen in Brüssel und lassen sich das erklären. ({6}) Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass Sie dabei fotografiert werden. ({7}) Frau Wagenknecht löscht diese Bilder dann eigenhändig auch von fremden Kameras. Die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Mehrwertsteuersystemrichtlinie bildet heute die rechtliche Grundlage für das harmonisierte Mehrwertsteuerrecht in Europa. Gemäß Art. 98 Abs. 1 können Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden, aber eben nur auf Gegenstände, die sich in Anhang III befinden. Schaut man sich einmal das Verzeichnis in Anhang III an, so findet man eben nicht - ich bedauere das - Kinderwindeln, Kinderkleidung oder Spielsachen. Man mag dies bedauern, aber es ist so. Eine Möglichkeit zur Änderung haben wir zurzeit nicht. Mein Vorredner hat bereits zu Recht ausgeführt, dass Europa nicht irgendein Fremdkörper ist, sondern wir Teil der Europäischen Union sind und Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wir begrüßen es deshalb, dass die Europäische Union im letzten Jahr zu der Auffassung gelangt ist, dass die derzeitige Struktur der Mehrwertsteuersätze, insbesondere der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, vereinfacht werden muss, da die derzeitige Regelung zu komplex sei. Die Kommission möchte neue gemeinsame Vorschriften entwickeln, die nach 2010 Anwendung finden sollen. Hierbei wird die Koalition den Bundesfinanzminister, der dafür die Verhandlungen in Brüssel führt, mit Tatkraft unterstützen. Die Kinder stehen dabei für uns ganz im Zentrum der Bemühungen. Auch wir - das kann ich für meine Fraktion sagen wollen die Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände gemäß der Anlage zu § 12 Umsatzsteuergesetz überarbeiten. Brauchen wir tatsächlich eine solche ellenlange, detailverliebte Kasuistik, die regelmäßig eine Fundgrube für Büttenredner im Karneval darstellt, um die Regelungswut des Steuergesetzgebers anzuprangern? Ich zitiere die Nummer 22 dieser Liste: Dem ermäßigten Steuersatz unterliegen: Johnnisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten sowie andere pflanzliche Waren ({8}) der hauptsächlich zur menschlichen Ernährung verwendeten Art, … ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr. Alles klar, oder? Ich könnte auch aus dem Schreiben des BMF zum Thema Schweineohren zitieren. Hier besteht in der Tat Reformbedarf. Noch schwerwiegender als solche Kuriosa wiegen die teilweise krassen Wertungswidersprüche, die in dieser Liste enthalten sind. Warum werden Musik-CDs niedriger besteuert als Babywindeln? ({9}) Warum wird Tierfutter niedriger besteuert als Arzneimittel besteuert werden? Warum werden Hummer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser besteuert wird? Ich glaube, es besteht sicherlich ein gewisser Konsens in diesem Hause, dass eine breit angelegte Diskussion über das Thema „Ermäßigte Mehrwertsteuersätze“ geführt werden muss. Allerdings sollten die Vorarbeiten der Europäischen Kommission abgewartet werden. Wir wollen eine europäische Regelung. Deutschland darf hier keinen nationalen Alleingang wagen. Die Vorarbeiten der Europäischen Kommission und die uns vorliegenden Berichte des Bundesfinanzministeriums bilden dabei die Grundlage. Unser Ziel ist, zu prüfen, ob es möglich ist, dass auch typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs lediglich mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belastet werden. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, was wir uns auf keinen Fall vorwerfen lassen werden: dass wir Kinder politisch benachteiligen. Die Bundesregierung mit der Bundeskanzlerin und der Bundesfamilien14930 ministerin an ihrer Spitze hat die Familienpolitik ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und dem auch Taten folgen lassen: Erstens. Mit dem Elterngeld haben wir Vätern und Müttern im ersten Lebensjahr ihres Kindes gezielt das Einkommen gesichert, damit sich die Eltern für ihr Neugeborenes Zeit nehmen können. ({10}) Auch die große Gruppe der Alleinerziehenden profitiert davon, Frau Schewe-Gerigk. Zweitens. Der beschlossene Ausbau des Betreuungsangebots für unter Dreijährige sorgt für echte Wahlfreiheit. Bis 2013 wollen wir in Deutschland für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsangebot in Tagespflege oder Kinderkrippen schaffen. Im Anschluss daran werden wir ein Betreuungsgeld für Eltern einführen, die ihre Kinder vom vollendeten ersten bis dritten Lebensjahr zu Hause betreuen und keinen Platz in einer Kindertagesstätte beanspruchen. Drittens. Die Koalition wird im Herbst dieses Jahres entscheiden, ob wir das Kindergeld erhöhen oder nicht. Abschließend: Auch wir wollen im Rahmen der europäischen Vorgaben und unserer haushaltspolitischen Möglichkeiten typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs künftig nur noch mit dem ermäßigtem Mehrwertsteuersatz belasten. Den heutigen Antrag der Fraktion Die Linke lehnen wir aber ab, da er dazu wegen seiner fachlichen Mängel nicht geeignet ist. Danke. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kolbe, ich verstehe gar nicht, warum Sie sich darüber aufregen, dass einer unserer Fraktionsvorsitzenden fehlt. Wir haben immerhin zwei. Ihrer ist nicht da, von der Regierung ist keiner da. ({0}) Ich weiß gar nicht, was Sie hier herummeckern. Das Problem, das mir an dieser Debatte auffällt, ist: Manche Abgeordnete werden, wenn sie über den Schutz von Embryonen diskutieren, sehr leidenschaftlich. Wenn es aber um die bereits geborenen Kinder geht, dann fehlt ihr Interesse plötzlich. ({1}) Wir haben es hier mit einem sehr ernsten Thema zu tun. Denn in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, leben 2,6 Millionen Kinder in Armut. ({2}) Das können wir uns nicht leisten. Ganz egal, ob man Mitglied der CSU oder der Linken ist: Das ist nicht hinnehmbar. Das müsste der ganze Bundestag beschließen. ({3}) Ursache der Kinderarmut ist immer die Armut der Eltern. Also muss man dort ansetzen und die Strukturen verändern. Da Sie uns immer vorwerfen, wir würden Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das, was wir gerade bei der Union erleben, ist in jeder Hinsicht klassischer Wahlkampf. Das werde ich Ihnen auch belegen. Frau Westrich, Sie haben argumentiert, indem Sie auf das EU-Recht hingewiesen haben. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das finde ich wirklich unakzeptabel. Denn wenn man von EU-Recht spricht, tut man immer so, als sei dieses Recht göttlich gegeben. Darf ich Sie daran erinnern, dass auf EU-Ebene nichts ohne Zustimmung der deutschen Bundesregierung beschlossen wurde? ({4}) Selbstverständlich sind wir berechtigt, auf europäischer Ebene Veränderungen herbeizuführen. Dass Sie das Handwerkliche an unserem Antrag kritisieren, finde ich völlig falsch. In unserem Antrag steht: Die Bundesregierung wird aufgefordert, das Umsatzsteuergesetz so zu ändern, dass solche Produkte aufgenommen werden können. - Wenn der Bundestag das beschlösse, könnten die Bundesregierung und der Bundestag anschließend beraten, welche Produkte aufgenommen werden, wie wir vorgehen und was am EURecht verändert werden muss. Wenn der Bundestag unseren Antrag mehrheitlich annimmt - wenn er es denn täte, er macht es leider nicht -, drückt er seinen Willen aus, dass die Bundesregierung diesbezüglich aktiv wird. Das ist handwerklich völlig sauber. ({5}) Wenn wir alles einzeln aufgeschrieben hätten, hätten Sie über das Handwerkliche meckern können. Doch in diesem Falle ist Ihr Vorwurf falsch. Hinzu kommt: Wie schnell haben Sie die Mehrwertsteuer gleich um 3 Prozentpunkte, von 16 auf 19 Prozent, erhöht! Wieso haben Sie, wenn Sie das schon machen, im Ausgleich nicht wenigstens die Mehrwertsteuer für bestimmte Produkte gesenkt? Warum haben Sie sich dafür bei der EU nicht entsprechend eingesetzt? Die Situation ist doch grotesk: Bei Nahrungsmitteln sind es 7 Prozent, bei Zeitungen, Büchern, Kultur, öffentlichem Nahverkehr sind es 7 Prozent, bei Tiernahrung und Tiermedikamenten sind es 7 Prozent. Sie müssen einmal erklären, wieso jemand auf das Antibiotikum für seinen Hund nur 7 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss, auf ein Antibiotikum für sich selbst hingegen 19 Prozent! ({6}) Dieser Logik kann ich nicht folgen. Kinderkleidung - das ist selbstverständlich - muss für jedes Jahr neu angeschafft werden, also viel häufiger als bei Erwachsenen, und auf jedes Kleidungsstück sind 19 Prozent Mehrwertsteuer zu zahlen. Kommen Sie mir jetzt nicht mit Beispielen, wo es nicht angebracht wäre, wenn der Mehrwertsteuersatz ermäßigt würde! Darüber können wir diskutieren, wenn der Bundestag beschlossen hat, die Mehrwertsteuer auf Produkte für Kinder zu ermäßigen. Dann können wir das Produkt für Produkt durchgehen. ({7}) Bayern ist spitze: Bayern sorgt dafür, dass Seilbahnfahrten künftig nur noch mit 7 Prozent besteuert werden. Im Hinblick auf Kinderkleidung gab es keinen solchen Antrag aus Bayern; das möchte ich an dieser Stelle einmal feststellen. ({8}) Kommen wir einmal zu dem Affentheater, das wir hier in letzter Zeit erleben. Im Wahlkampf in Hamburg wird erklärt, das Kindergeld muss erhöht werden. Der Bundesfinanzminister äußert sich dazu, das sei der völlig falsche Weg, er sei strikt dagegen, das Kindergeld zu erhöhen. Einen Tag später denkt Herr Beck laut darüber nach, das Geld je zur Hälfte in eine Erhöhung des Kindergeldes und in Schulessen zu investieren. Dann hört man wieder nichts. Dann beschließt die CDU die Hamburger Erklärung, zufällig in Hamburg; ich glaube, da sind Wahlen. In dieser Hamburger Erklärung steht, anders als Sie es heute zitiert haben: Zahlreiche wichtige Kinderartikel unterliegen schon heute dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Wir wollen auch unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit prüfen, wo in Zukunft grundsätzlich der untere Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann. Ziel ist, typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs hierunter zu fassen. Nicht vor zwei Jahren - jetzt, im Jahre 2008, ist das beschlossen worden. Da muss ich Herrn Beck recht geben, der hierzu sagt: Es ist nicht glaubwürdig, was die Union da macht. - Denn heute wird sie genau gegen das stimmen, was sie in ihrer Hamburger Erklärung gefordert hat; das wollen wir den Hamburgerinnen und Hamburgern und der Öffentlichkeit zeigen. ({9}) Wenn Sie Ihre Hamburger Erklärung ernst nehmen, müssen Sie heute unserem Antrag zustimmen. Sonst ist das eine typische Wahlkampferklärung, die nicht in Ordnung ist. Wie gesagt: Das Ganze ist ein ziemliches Affentheater. Noch etwas. Sie sagen, alles ist abhängig von dem, was im Existenzminimumbericht steht. Dieser Bericht, der im September vorgelegt werden soll, bindet Sie; da sind Sie gar nicht frei in Ihrer Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat klipp und klar gesagt: Das Existenzminimum ist für jedes Kind zu gewährleisten. Sie kommen gar nicht umhin, die Ergebnisse dieses Berichts zu berücksichtigen. Andernfalls würden Sie sich in eine grundgesetzwidrige Situation begeben, was dann entsprechende Folgen hätte. Die CDU/CSU spricht davon, das Kindergeld um 10 Euro erhöhen zu wollen. Die SPD will die Hälfte - das wären dann 5 Euro - sowie den gleichen Betrag für Schulessen. So kommen wir nicht weiter, so überwinden wir die Armut von 2,6 Millionen Kindern in Deutschland nicht. ({10}) Jedes sechste Kind in Deutschland kann sich Klassenfahrten nicht leisten, hat kein Taschengeld, kann sich die Mitgliedschaft im Sportverein nicht leisten und geht in Suppenküchen. Wenn Sie sich einmal die Gesichter der Kinder, die in Suppenküchen gehen, anschauen - das hätte ich gerne Herrn Koch gesagt -, dann wissen Sie, wo Frust und Gewaltbereitschaft entstehen. ({11}) Wenn wir das nicht überwinden, haben wir es später mit noch viel schlimmeren Folgen zu tun. ({12}) Sie haben recht: Die 7 Prozent Mehrwertsteuer sind nur der erste Schritt. Wir fordern ja mehr; wir können nur nicht immer alles zur Abstimmung stellen. So fordern wir, das Kindergeld von 154 Euro auf 200 Euro zu erhöhen. Doch dazu sind Sie nicht bereit. Wir fordern darüber hinaus, den Kinderzuschlag für Hartz-IV-Bezieherinnen und Hartz-IV-Bezieher von maximal 140 Euro für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro zu erhöhen. ({13}) Wir sagen: Die entsprechenden Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern müssen von 207 Euro bzw. 276 Euro auf 300 Euro erhöht werden. Damit könnte man die Kinderarmut überwinden. Sie alle fragen, wovon man das bezahlen soll. Wir sagen: Wir brauchen Steuergerechtigkeit. An einer Tatsache kommen Sie, die Sie hier so lange über die 120 Milliarden Euro gesprochen haben, nicht vorbei: Die durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote in Deutschland liegt bei 35,6 Prozent, während der Durchschnitt aller 27 Mitgliedsländer der EU bei 40,8 Prozent liegt. Als stärkstes ökonomisches Land der EU liegen wir also um über 5 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt. ({14}) Damit meinen wir nicht die Mehrwertsteuer und auch nicht die Einkommensteuer - schon gar nicht die der Empfänger unterer Einkommen und auch nicht die der Empfänger durchschnittlicher Einkommen. Damit meinen wir eine gerechte Besteuerung der Empfänger hoher Einkommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Wir meinen eine Vermögensteuer, eine Börsenumsatzsteuer, eine Luxussteuer und eine Veräußerungserlössteuer. Auf all das verzichten Sie. ({0}) Andere Länder haben sie aber. Wenn wir darauf nicht verzichten würden und Steuergerechtigkeit hätten, dann könnten wir die Kinderarmut überwinden. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Rede von Herrn Gysi könnte man meinen, dass alle, die diesem Antrag nicht zustimmen, völlig unsozial sind, noch nie eine Suppenküche gesehen haben und sich mit dem Problem der Kinderarmut nicht auseinandersetzen wollen. Ich glaube, diesen Eindruck muss man ganz deutlich zurückweisen. ({0}) Sie schlagen die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes vor. Ich rede nicht über andere Vorschläge, die wir teilweise durchaus richtig finden. Wir selber haben den Antrag gestellt, die Regelsätze endlich an das Existenzminimum anzupassen, damit die Kostensteigerungen, die unter anderem durch die Mehrwertsteuererhöhung entstanden sind, durch entsprechende Einkommenserhöhungen für die Menschen gemildert werden. Natürlich kann man hier über einiges reden, aber heute steht die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte zur Debatte. ({1}) Sie würde natürlich überhaupt nichts zur Bekämpfung der Kinderarmut beitragen, die Sie hier gerade anhand einer Reihe von Bildern geschildert haben. ({2}) Möglicherweise würde das Symptom der Kinderarmut aufgrund der Verbilligung einzelner Produkte ein wenig gelindert werden - aber wohl noch nicht einmal das. Herr Gysi, auf das Gegenargument von Frau Westrich, dass sich die Reduzierung der Mehrwertsteuer auf die Preise nicht auswirken würde - das ist das zentrale Kernargument, und ich sage auch für meine Fraktion, dass die Reduzierung bei den Menschen nicht ankommt -, sind Sie gar nicht eingegangen. Daran erkennt man, dass Ihr Antrag nicht wirklich begründet ist. Es kommt bei den Kindern nicht an. Deswegen lehnen wir den Vorschlag auch ab. ({3}) Wir müssen uns mit der Kinderarmut beschäftigen. 2 Millionen Kinder leben unter der Armutsschwelle. Auch im aktuellen Aufschwung steigt diese Zahl. Dies gilt auch für Baden-Württemberg, ein Bundesland, dessen ökonomische Zahlen häufig überdurchschnittlich sind. Mit einem Plus von 13 Prozent stehen wir sogar am oberen Rand dieses Zuwachses. Man sieht eindeutig, dass ein Handlungsbedarf vorhanden ist. Diesem dürfen wir uns nicht entziehen. Deswegen ist es richtig, dass wir über die Kindergelderhöhung sprechen und uns fragen, wie wir die Infrastruktur verbessern und es verhindern können, dass Eltern, insbesondere alleinerziehende Eltern, so stark von Armut betroffen sind. Das sind richtige Fragen, denen wir uns mit einer Reihe von Vorschlägen stellen. ({4}) Ich möchte hier jetzt aber nicht zu allen Aspekten der Kinderpolitik sprechen, vielmehr möchte ich Sie noch einmal darauf hinweisen, was wir im Steuersystem machen und wo das richtig angesiedelt ist. Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen, dass wir das Mehrwertsteuersystem nicht für die zentrale Stelle halten, an der wir Sozialpolitik idealerweise betreiben sollten. Die empirische Evidenz, dass das irgendetwas bringt, ist einfach nicht gegeben. Durch den Bericht der Bundesregierung wurde uns das noch einmal sehr deutlich gemacht. Darin sind wir alle uns ja auch einig. Nun kommen wir aber zu folgendem Punkt: Wenn die Bundesregierung feststellt, dass das Mehrwertsteuersystem jeder Logik widerspricht und es im Wesentlichen auf Lobbyeinflüsse zurückzuführen ist, wo wir Ausnahmen machen und wo nicht, dann müssen wir jetzt einmal etwas tun. Ich halte den Vorschlag der Oppositionsfraktionen, einmal richtig an dieses Thema heranzugehen, für geeignet, hier System hineinzubringen. Daher würde ich mich freuen, wenn die weiteren Rednerinnen und Redner von der Großen Koalition uns einen Vorschlag machten, wie wir darangehen wollen. Wir haben vorgeschlagen, das im Rahmen der Selbstbefassung im AusDr. Gerhard Schick schuss hinter verschlossenen Türen zu machen, gegebenenfalls auch in Form eines Berichterstattergesprächs, damit wir uns diesem Thema in Ruhe nähern können. Allerdings hat Herr Wissing hier zu Recht deutlich gemacht, dass die Große Koalition damit ihre Schwierigkeiten hat: Ihre Leute werben in Hamburg und im Saarland damit, dass sie die Ermäßigung wollen; gleichwohl werden sie hier mit Nein stimmen. Auch das Beispiel der Sessellifte widerspricht jeder Systematik. Dies zeigt das Ausmaß des Problems, das wir nur gemeinsam angehen können. Unsere Fraktion ist bereit, an einer besseren Systematik des Mehrwertsteuerrechts mitzuwirken. Dies werden wir aber nur tun können, wenn Sie von der Großen Koalition endlich zu einem ernsthaften Prozess der Verbesserung und Vereinfachung unseres Mehrwertsteuersystems Ja sagen. Darauf warten wir, und ich fordere die nachfolgenden Redner der Koalition auf, hierzu Stellung zu nehmen. ({5}) Aber die FDP muss noch eine Voraussetzung schaffen, wenn wir ernsthaft an dieses Thema herangehen wollen. Wenn Sie in dem Graben bleiben und überall dort, wo ungerechtfertigte Erleichterungen, Subventionen und Vergünstigungen abgebaut werden, mit der großen Steuererhöhungskeule ausholen - ich erinnere nur daran, wie die Debatte lief, als wir damals Verbesserungsvorschläge vorgelegt hatten -, dann werden wir nicht vorankommen. Im Endeffekt ist es doch egal, ob man an dieser oder an einer anderen Stelle die Steuer erhöht, wenn man einen Konsolidierungsbedarf hat. Wenn Sie wirklich an die Systematik heranwollen, dann müssen Sie diese Systematik in den Vordergrund stellen und dürfen nicht in erster Linie darauf abstellen, dass Steuern erhöht würden. ({6}) Deswegen fordere ich Sie auf, konstruktiv mitzumachen und nicht wieder in den Fehler zurückzufallen, sofort „Steuererhöhung“ zu schreien. Dann haben wir die Chance, zu mehr Systematik bei der Mehrwertsteuer zu kommen. Außerdem könnten wir dann dort, wo es sinnvoll ist, nämlich im Bereich der Transferleistungen und der Infrastruktur, wirklich etwas für Kinder in diesem Lande tun. Wir müssen Kinderarmut dort bekämpfen, wo es tatsächlich etwas bringt, also nicht so, wie es die Linke heute vorschlägt. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion erteile ich nun das Wort der Kollegin Gabriele Frechen. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Schick hat eben etwas aufgegriffen, was ich mir auch dachte, als ich Herrn Dr. Wissing hörte: Egal, was es ist, und wenn es die getrockneten Schweineohren sind, ({0}) fällt etwas aus dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz heraus, ist Herr Dr. Wissing der Erste, der auf den Barrikaden steht und brüllt: Haltet den Dieb, Steuererhöhungen! Das ist unredlich, Herr Dr. Wissing, einfach unredlich. ({1}) Herr Dr. Gysi hat relativ wenig zum Antrag seiner Fraktion gesprochen, sondern eher allgemeine Ausführungen gemacht, was ich auch nachvollziehen kann. Aber er hat behauptet, in dem Antrag werde die Bundesregierung aufgefordert, die Voraussetzungen für eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes zu schaffen. Nein, Herr Dr. Gysi, in dem Antrag steht, dass Sie das Umsatzsteuergesetz ändern wollen, unabhängig davon, ob es EU-rechtlich zulässig ist. Sie wollen also sehenden Auges in ein Vertragsverletzungsverfahren hineinlaufen. Oder bereiten Sie Spiegeleier zu, indem Sie zuerst das Ei auf den Herd kloppen und dann die Pfanne daraufstellen? Ich mache es umgekehrt, und so sollten wir eigentlich auch Gesetze machen. ({2}) In der heutigen Diskussion habe ich schon mehrfach bemerkt, dass Ihnen der Hang zur Logik abgeht. Zu den Beispielen von Frau Westrich haben Sie auch gesagt, dahinter stecke keine Logik. Alle Kolleginnen und Kollegen konnten sie verstehen, nur Sie merkwürdigerweise nicht. Aber lassen Sie mich ein ähnliches Beispiel anführen; denn ich habe mich wirklich mit Ihrem Antrag auseinandergesetzt. Auch wenn er nur wenige Zeilen hat, hat er ordentlich Zeit gekostet. ({3}) - Sie nicht. Das habe ich auch nicht vermutet. Ich habe im Internet gestöbert und eine Plattform entdeckt, auf der sich Eltern austauschen können. Dort habe ich Folgendes gefunden: Ich habe heute Windeln gekauft, aber kann es wirklich sein, dass dieselben Windeln in unterschiedlichen Geschäften einen Preisunterschied von mehr als 5 Euro haben? Zuerst war ich bei A: Ich kann Ihnen zwar die Marke nennen, aber ich will keine Reklame machen. … eine Packung … mit 56 Windeln 13,99 Euro. Das war mir viel zu teuer, also zu B …, da kostete dieselbe Packung 10,99 Euro, gut, dachte ich, sind ja 3 Euro! Zur Sicherheit bin ich dann noch mal zu C … in der Hoffnung, vielleicht noch 50 Cent oder so zu sparen, da kostete genau dieselbe Packung … auch mit 56 Stück nur 8,45 Euro. Die Preisdifferenz beträgt 5,54 Euro bzw. 40 Prozent. Die Nachbarländer erleben dasselbe. In Österreich hat die Tiroler Arbeiterkammer festgestellt, dass Windelpreise um bis zu 50 Prozent variieren. Sind Sie wirklich der Meinung, dass das am Steuersatz liegt? ({4}) Meinen Sie im Ernst, der Mutter wäre ihre Windelrallye erspart geblieben, wenn der Steuersatz nur 7 Prozent betragen würde? Das wage ich zu bezweifeln. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gysi?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin, ich habe eine Frage, weil Sie wie Ihre Vorredner behaupten, dass eine Mehrwertsteuersenkung nicht bei den Kundinnen und Kunden ankäme. Erstens haben wir aber erlebt, dass eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte bei allen Kundinnen und Kunden ankommt. ({0}) Darf ich zweitens aus Ihrer Bemerkung schließen, dass Sie sämtliche Unternehmer für Gauner dergestalt halten, Gabriele Frechen ({1}): Nicht durchgehend.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- dass sie bei einer Mehrwertsteuersenkung um 12 Prozentpunkte anschließend eine Preissteigerung um 12 Prozentpunkte durchführen? Ist das wirklich Ihre Einstellung? Eine so negative Einstellung habe ich nicht gegenüber den Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bestimmt kein misstrauischer Mensch, aber ich glaube nicht, dass Steuersenkung gleichbedeutend mit Preissenkung ist. Denn wie das Beispiel der Mutter, die sich auf den Weg durch die Geschäfte machte, zeigt, folgt die Preisfindung bei Babykleidung, Babyfläschchen, Babyschnullern und Babywindeln offensichtlich ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als dem Mehrwertsteuersatz. Sonst würden sich nicht solche Preisunterschiede ergeben. ({0}) Deshalb bin ich sicher, dass es mit der in Ihrem Antrag vorgeschlagenen Lösung zwei Gewinner gäbe: zum einen die Händler, die die Preise, wie gesagt, nach anderen Kriterien festlegen, und zum anderen die Hersteller - die internationalen Konzerne -, die auch gerne ein Stück von dem Kuchen abhaben wollen. Ich weiß nicht, ob es die Intention Ihres Antrags war, Steuersenkungen zugunsten der betroffenen Unternehmen durchzuführen. Fakt ist, dass ihr Antrag diese Wirkung hätte. Die Familien hätten nichts davon. Das ist reine Augenwischerei. ({1}) Wenn Sie von Kindern sprechen, dann fallen immer nur Begriffe wie Kostenfaktor, Armutsrisiko und schlechte Lebensbedingungen für die Eltern. Dass Kinder einen Wert an sich darstellen, habe ich von Ihnen noch kein einziges Mal gehört. ({2}) Das schmerzt mich; denn Kinder möchten genau das sein, was sie sind: weder ein Armutsrisiko noch ein Kostenfaktor, sondern ganz einfach Kinder. ({3}) Ich bin, wie gesagt, kein misstrauischer Mensch. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich hinter dem Antrag ansatzweise das Anliegen verbirgt, dass es Familien mit Kindern bessergehen soll. Dieses Anliegen teilt sicherlich jeder hier und die SPD-Fraktion ganz besonders.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Frau Kollegin Frechen. - Ich möchte auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz eingehen. Ich habe Ihrer Rede entnommen, dass Sie alles, was wir vorschlagen, für nicht sehr zielführend halten. Ich komme aus Bayern. Der VdK Bayern sammelt zurzeit Unterschriften für eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Medikamente. Wenn ich mich richtig erinnere, sind inzwischen 800 000 bis 1 000 000 Unterschriften zusammengekommen. Die Vorsitzende des VdK Bayern ist Mitglied Ihrer Partei. Ich möchte gerne wissen, ob Sie die hier geforderte Senkung des Mehrwertsteuersatzes ebenfalls für unsinnig halten. In der Vergangenheit haben Sie unseren Antrag abgelehnt, während Mitglieder Ihrer Partei nun in Bayern Unterschriften dafür sammeln.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich würde dem VdK Bayern eine ähnliche Antwort geben wie in der heutigen Diskussion. Wenn Sie sich den Preisverfall bei Medikamenten nach der Gesundheitsreform, wonach die preiswertesten unter gleichwertigen Medikamenten genommen werden müssen, anschauen, dann müssen auch Sie sehen, dass der Mehrwertsteuersatz ganz sicher nicht das entscheidende Kriterium bei der Preisfindung bei Medikamenten ist. ({0}) - Das will ich gar nicht abstreiten. Ich will nicht abstreiten, dass neben den Vorteilen für Händler und Hersteller von Babyartikeln vielleicht ein Erfolg für die Familien erzielt würde. Aber Copenhagen Economics und das Bundesfinanzministerium sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass es deutlich bessere Mittel gibt als einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz, um Familien zu entlasten. Ich habe mich natürlich gefragt, welche Produkte und Dienstleistungen Sie in Ihrem Antrag meinen und wie das praktisch aussehen könnte; denn ich nehme Sie ernst. Soll künftig auf Bleistifte ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozentpunkten erhoben werden, wenn Kinder sie benutzen, und ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozentpunkten, wenn ich als Erwachsene sie benutze? Wie groß darf eine Jeans sein, um eine Kindergröße zu haben? Die Turnschuhe meines 13-jährigen Neffen passen mir ebenfalls. Das alles können also keine Kriterien sein. Nehmen wir das Alter als Beispiel. Die Eltern müssten den Kinderausweis vorzeigen, um nachzuweisen, dass sie noch Kinder im Sinne des Umsatzsteuerrechtes haben. Das ist doch ein Stück aus Absurdistan. Das kann doch nicht ernst gemeint sein. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, der Kollege Pronold hat den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen. Gestatten Sie?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Frechen, es geht um die Frage, ob eine Mehrwertsteuersenkung an die Verbraucher weitergegeben wird. Nehmen wir als Beispiel Fast-Food-Restaurants. Wenn man das Essen mitnimmt, wird ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz erhoben. Wenn man das Essen im Lokal verzehrt, wird der volle Mehrwertsteuersatz erhoben. Ist Ihnen bekannt, ob die Preise unterschiedlich sind, ob der Hamburger billiger ist, wenn man ihn mitnimmt?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege Pronold. Das ist ein geeignetes Beispiel dafür, dass die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze bei der Preisfindung keine Rolle spielen. Ich kaufe ab und zu einen Döner „auf die Faust“ - ich weiß natürlich nicht, ob auch Sie von der Linken das machen - oder bestelle mir eine Pizza. Ob ich die Pizza in der Pizzeria esse oder ob ich sie mitnehme, sie kostet immer gleich viel. Dabei wird im ersten Fall ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent und im anderen Fall ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent erhoben. Die Weitergabe einer Mehrwertsteuersenkung an den Kunden findet also nicht statt. So viel dazu. ({0}) Die eben schon erwähnte Studie von Copenhagen Economics oder auch der Bericht des Bundesfinanzministeriums besagen, dass es zielführendere Hilfen gibt. Es gibt vieles, was deutlich besser ist, um Familien zu helfen, und das sind direkte Hilfen. Wer wirklich ernsthaft Familien entlasten will, der muss erst einmal dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer Arbeit auch leben können. Deshalb stehen wir zu Mindestlöhnen. ({1}) Wenn das Familieneinkommen nicht ausreicht, gibt es den Anspruch auf Kinderzuschläge, die weiter ausgebaut werden. Damit Eltern in Ruhe arbeiten gehen können, gibt der Bund viel Geld für die Tagesbetreuung von Kindern ab dem ersten Lebensjahr aus. Das ist für uns direkte Hilfe für Familien. Was mir noch wichtig ist, sind Einschulungspakete, kostenloses Mittagessen in der offenen Ganztagsschule oder in den Kindertagesstätten. ({2}) Wer mir jetzt entgegenhält, das sei Ländersache und damit habe der Bund nichts zu tun, dem kann ich nur sagen, dass er den Gong noch nicht gehört hat. Wer heute noch nicht kapiert hat, dass Familienpolitik, dass die beste Politik für unsere Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe auf allen staatlichen Ebenen ist, der lernt es nie mehr. ({3}) Ich glaube, Kompetenzgerangel oder Schmollecken auf den verschiedenen Ebenen helfen da überhaupt nicht. Was am allerwenigsten hilft, sind populistische Einzelmaßnahmen, wie sie von Ihnen heute gefordert wurden. Diese stärken vielleicht das Ego des einen oder anderen Machos bei Ihnen, aber den Familien hilft das ganz bestimmt nicht. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun darf ich Sie um Aufmerksamkeit für den letzten Redner in dieser Debatte bitten. Es ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Umsetzung der Forderung im Antrag der Linken würde 1,5 Milliarden Euro kosten. Ich glaube, Sie stimmen mir zu, dass man mit diesem Betrag Besseres für die Kinder in unserem Lande tun kann. ({0}) Natürlich ist es populär, so etwas zu fordern. Aber ich finde, wenn man so etwas fordert, sollte man der Fairness halber auch sagen, was das kostet. Bei der gesamten Debatte über den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bzw. den normalen Mehrwertsteuersatz dürfen wir eines nicht aus dem Auge verlieren: Jede Maßnahme zur Ausdehnung des ermäßigten Steuersatzes auf weitere Produkte führt zur Verringerung des Steueraufkommens. Dann stehen wir vor der Frage, ob wir den generellen Steuersatz erhöhen. Ich will das einmal an der Größenordnung der Mehrwertsteuer klarmachen. Das Gesamtaufkommen liegt bei etwa 175 Milliarden Euro, und damit ist die Mehrwertsteuer für die öffentliche Hand eine der wichtigsten Einnahmen überhaupt. Ich will darauf verweisen, dass 85 Prozent aller Güter und Dienstleistungen mit dem normalen Steuersatz von 19 Prozent und 15 Prozent mit dem ermäßigten Steuersatz besteuert werden. ({1}) 75 Prozent der Produkte, die den ermäßigten Steuersatz haben, entfallen auf Lebensmittel. Wenn wir keinen ermäßigten Steuersatz hätten, sondern alle Produkte mit 19 Prozent besteuern würden, dann hätten wir ein zusätzliches Aufkommen von 18 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass wir den Steuersatz generell um 2,5 Prozentpunkte reduzieren könnten, um zum gleichen Steueraufkommen zu kommen. Nun wissen Sie, dass die Mehrwertsteuer in der heutigen Form ziemlich genau vor 40 Jahren eingeführt wurde. Damals gab es den Übergang von der generellen Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer. Damals gab es eine sehr intensive Diskussion über die Frage, für welche Produkte ein ermäßigter Steuersatz gelten soll und für welche nicht. Das EU-Recht eröffnet den Ländern übrigens sogar die Möglichkeit, zwei ermäßigte Steuersätze anzuwenden. Viele Länder machen davon Gebrauch wir nicht. Natürlich sind die Maßstäbe, nach denen man heute Grundlebensmittel von anderen Lebensmitteln abgrenzt, heute andere als noch vor 40 Jahren. Das zeigt ein extremes Beispiel: Vor 40 Jahren - niemand von uns war damals schon im Bundestag - hielt man zum Beispiel Wasser nicht für ein lebensnotwendiges Gut. Es wurde mit 19 Prozent besteuert. Wir alle erhalten jedes Jahr immer wieder Schreiben mit der Bitte, doch dieses Produkt, das immer wichtiger wird, endlich nur noch mit 7 Prozent zu besteuern. ({2}) Ich will Ihnen einmal sagen, was das kosten würde: Wir hätten Mindereinnahmen von 300 Millionen Euro, wenn die Besteuerung von Wasser auf 7 Prozent gesenkt würde. Dieses Beispiel - und auch andere Beispiele, die meine Vorredner angeführt haben - zeigt, dass das System überprüfungsbedüftig ist. ({3}) Jeder, der das leugnet, kann sich mit dem Thema nicht beschäftigt haben. Sobald man eine Detaildiskussion führt, macht jeder Vorschläge dazu, bei welchen Produkten der Steuersatz dringend auf 7 Prozent gesenkt werden muss. Aber es kommen keine Anträge und Vorschläge, welche Produkte höher besteuert werden sollen - außer vielleicht Katzenfutter. Aber mit den 10 Millionen Euro, die sich daraus ergeben würden, kann das System nicht verändert werden. Deshalb glaube ich, es ist richtig, dass wir uns diesem Thema ausführlich widmen - das wird ja auch im Grundsatz von allen Fraktionen gefordert - und nicht mit Rosinenpickerei beginnen. Ich sage an dieser Stelle auch, vor welcher Problematik wir stehen: Es gibt zwei Bereiche, die heute schon angesprochen worden sind, bei denen vieles dafür spricht - auch mit Blick auf den internationalen Vergleich -, einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. Der eine Bereich ist die Gastronomie, der andere die Medizin. Ich nenne die Größenordnungen, um die es dabei geht: Wenn wir die Produkte bzw. Dienstleistungen in diesen beiden Bereichen - und viele fordern das ja von uns - in Zukunft mit 7 Prozent besteuern, dann ergibt sich ein Steuerausfall von rund 8 Milliarden Euro. Im Gegenzug müssten wir den generellen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent auf 20 Prozent erhöhen. Ich finde es fair, wenn wir in unseren Diskussionen vor Ort darauf hinweisen. Ich sage mit allem Nachdruck: Ich finde den Antrag der Linken - mein Kollege Kolbe hat es bereits gesagt -, für einen Bereich 1,5 Milliarden Euro einzusetzen, wenn man nicht einmal weiß, wie viel davon wirklich bei den Kindern ankommt, im Grunde erbärmlich. Jeder, der sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt - einige Vorredner haben das gemacht -, wird schnell zu dem Ergebnis kommen, dass das vor dem Hintergrund der EU-Regelungen schwierig umzusetzen ist. Sicherlich können wir auf EU-Ebene etwas verändern, aber das geht nur in Jahren und nicht in Monaten, um das klar zu sagen. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch noch das Stichwort der gesamten Abgrenzungsproblematik nennen. Wir von der Koalition werden Ihren Antrag aus diesen Gründen ablehnen und dem Beschluss des Finanzausschusses zustimmen. Wir werden unsere Politik insbesondere der Stärkung der Situation der jungen Generation und der Kinder fortsetzen. Ein wichtiger Beitrag, vielleicht der wichtigste, ist es, an dem Ziel der Stabilisierung und Sanierung der öffentlichen Finanzen konsequent weiterzuarbeiten. Denn alle Schulden, die wir heute machen, müssen unsere Kinder und Enkelkinder nicht nur verzinsen, sondern auch zurückzahlen. Wir bleiben bei unserer soliden Finanzpolitik ({4}) und lassen uns bei einer Politik für die Kinder durch niemanden überbieten, insbesondere nicht durch die EinOtto Bernhardt malhascher von der linken Seite. Wir bleiben bei unserer soliden Politik für die Kinder in Deutschland. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem An- trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistun- gen für Kinder auf 7 Prozent“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6732, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4485 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentli- che Abstimmung. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich er- öffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Ich würde gern die Beratungen fortsetzen. Wir haben noch eine ganze Reihe von Abstimmungen zu bewälti- gen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Gespräche vor dem Saal zu führen. Diejenigen, die an den weiteren Beratungen und Abstimmungen teilneh- men wollen, bitte ich, die Plätze einzunehmen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften ({0}) - Drucksache 16/7955 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wissenschaftsjahr der Mathematik 2008 als Chance begreifen - Drucksache 16/7535 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 1) Ergebnis Seite 14939 D c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({3}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wiedereinführung der Zwölf-Tage-Regelung in Europa unterstützen - Drucksache 16/7861 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen - Drucksache 16/8044 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Bahnprivatisierung am Parlament vorbei - Drucksache 16/8046 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 m auf. Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 a: Beratung des Antrags der Bundesregierung Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 16/7975 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Finanzen und zur Änderung des Münzgesetzes - Drucksache 16/7616 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/8082 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Martin Gerster Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8082, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7616 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 30 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Dr. Norman Paech, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 70. Jahrestag der Gründung der Internationalen Brigaden in Spanien - Würdigung des Kampfes deutscher Freiwilliger an der Seite der Spanischen Republik für ein antifaschistisches und demokratisches Europa - Drucksachen 16/2679, 16/3828 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Niels Annen Harald Leibrecht Jürgen Trittin Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3828, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2679 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Wie ist das bei den Grünen? ({2}) Enthaltung der ganzen Fraktion? ({3}) Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Friedensprozess im Nahen Osten wieder aufnehmen - Drucksachen 16/3802, 16/4588 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Gert Weisskirchen ({5}) Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({6}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4588, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3802 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({8}), Joachim Günther ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rollende Supermärkte von fahrpersonalrechtlichen Vorschriften ausnehmen - Drucksachen 16/6639, 16/7844 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7844, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6639 für erledigt zu erklären. Gleichwohl müssen wir über die Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt und Reaktorsicherheit ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zum Schutz des Klimas vor Veränderungen durch den Eintrag bestimmter fluorierter Treibhausgase ({11}) - Drucksachen 16/7604, 16/7793 Nr. 2.1, 16/7941 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Frank Schwabe Michael Kauch Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7941, der Verordnung auf Drucksache 16/7604 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 30 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 345 zu Petitionen - Drucksache 16/7847 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 345 ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 30 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 346 zu Petitionen - Drucksache 16/7848 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch die Sammelübersicht 346 mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 30 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 347 zu Petitionen - Drucksache 16/7849 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 347 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 348 zu Petitionen - Drucksache 16/7850 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 348 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 30 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 349 zu Petitionen - Drucksache 16/7851 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 349 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 350 zu Petitionen - Drucksache 16/7852 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 350 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 351 zu Petitionen - Drucksache 16/7853 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 351 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Bevor ich die Aktuelle Stunde aufrufe, darf ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke „Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent“ bekannt geben: Abgegebene Stimmen 566. Mit Ja haben gestimmt 514, mit Nein haben gestimmt 50, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 566; davon ja: 514 nein: 50 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Peter Albach Peter Altmaier Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({19}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Clemens Binninger Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({20}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({21}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({22}) Dirk Fischer ({23}) Axel E. Fischer ({24}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({25}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Peter Gauweiler Dr. Jürgen Gehb Eberhard Gienger Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Markus Grübel Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Michael Hennrich Bernd Heynemann Ernst Hinsken Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({26}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({27}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Jens Koeppen Kristina Köhler ({28}) Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({29}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({30}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({31}) Maria Michalk Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Carsten Müller ({32}) Stefan Müller ({33}) Bernward Müller ({34}) Bernd Neumann ({35}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Daniela Raab Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({36}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({37}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({38}) Hermann-Josef Scharf Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({39}) Andreas Schmidt ({40}) Ingo Schmitt ({41}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Marion Seib Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({42}) Michael Stübgen Hans Peter Thul Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({43}) Gerald Weiß ({44}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({45}) Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gregor Amann Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Ernst Bahr ({46}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({47}) Volker Blumentritt Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({48}) Marco Bülow Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Peter Friedrich Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Renate Gradistanac Angelika Graf ({49}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Gabriele Groneberg Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({50}) Nina Hauer Hubertus Heil Dr. Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz ({51}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({52}) Frank Hofmann ({53}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({54}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Christian Kleiminger Dr. Bärbel Kofler Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({55}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Petra Merkel ({56}) Ulrike Merten Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({57}) Michael Müller ({58}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Holger Ortel Johannes Pflug Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche ({59}) Gerold Reichenbach Walter Riester Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({60}) Michael Roth ({61}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({62}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({63}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Otto Schily Dr. Frank Schmidt Ulla Schmidt ({64}) Silvia Schmidt ({65}) Renate Schmidt ({66}) Heinz Schmitt ({67}) Carsten Schneider ({68}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz ({69}) Ewald Schurer Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Dieter Steinecke Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber ({70}) Dr. Rainer Wend Dr. Margrit Wetzel Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Waltraud Wolff ({71}) Heidi Wright Manfred Zöllmer FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({72}) Uwe Barth Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({73}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({74}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Horst Meierhofer Jan Mücke Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({75}) Detlef Parr Gisela Piltz Jörg Rohde Frank Schäffler Marina Schuster Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({76}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({77}) Volker Beck ({78}) Cornelia Behm Birgitt Bender Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Bettina Herlitzius Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({79}) Ulrike Höfken Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({80}) Monika Lazar Anna Lührmann Nicole Maisch Winfried Nachtwei Omid Nouripour Claudia Roth ({81}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Karin Binder Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Diana Golze Heike Hänsel Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger Dr. Barbara Höll Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Hakki Keskin Monika Knoche Jan Korte Oskar Lafontaine Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Kersten Naumann Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({82}) Volker Schneider ({83}) Dr. Ilja Seifert Frank Spieth Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann fraktionslos Enthaltung CDU/CSU Uda Carmen Freia Heller Volkmar Uwe Vogel Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Bundesregierung zu einer räumlichen und personellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({84})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit vergangenem Wochenende wissen wir zumindest eines: Die Schlagzahl, mit der über eine Verstärkung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan geredet wird, erhöht sich beträchtlich. Kaum hatte man die Stellung der schnellen Eingreiftruppe im Norden zugesagt, wurde darüber diskutiert, dass das Kontingent aufgestockt und eventuell das Einsatzgebiet erweitert werden müsse. Die Bundesregierung hat zwar schnell dementiert, aber sofort auch gesagt, spätestens im Herbst würden die Karten neu gemischt. Das heißt, es wird neu über das Mandat geredet. Heute lesen wir in den Agenturmeldungen, dass es einen Koalitionsgipfel geben solle, wo man vielleicht schon vorher über eine Aufstockung des Bundeswehrkontingents reden wolle. Das liegt in Ihrer Logik. Sie wollen die schnelle Eingreiftruppe stellen, Sie wollen mehr Militärausbilder, Sie wollen mehr Personal für den Schutz der Bundeswehreinrichtungen, Sie wollen mehr Aufbauteams. Das alles ist mit dem bisherigen Aufwand nicht zu machen. Vergessen wir eines nicht: Der Druck - auch das ist am vergangenen Wochenende deutlich geworden - der NATO, dass die Bundeswehr sich stärker engagieren und mit mehr Truppen und mehr Kampfverbänden vertreten sein soll, hält an. Die US-Botschafterin hat es deutlich gesagt: Wir werden alle unsere Verbündeten, darunter auch Deutschland, auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April dringend bitten, mit uns Soldat für Soldat, Euro für Dollar gleichzuziehen. Das ist die eindeutige Ansage. Für uns steht fest: Die deutsche Beteiligung an den Kriegshandlungen in Afghanistan wird umfangreicher und intensiver. Genau das lehnen wir als Linke entschieden ab. ({0}) Die Intensivierung ergibt sich allein schon durch die Stellung der schnellen Eingreiftruppe. Das ist eine neue Qualität des deutschen Militäreinsatzes. Da geht es nicht vorrangig um Routinepatrouillen, sondern es geht um die militärische Bekämpfung des Gegners, um Einsätze mit militärischer Gewalt, um offensive Militäroperationen. Die Erfahrungen der Norweger, die bisher diese Quick Reaction Force gestellt haben, belegen: Dabei geht es um Einsätze, bei denen man nicht zimperlich zu Werke geht. Ich füge hinzu: Das, was dort im Rahmen der Operation Harekate Yolo gemacht worden ist, ist mit den bisherigen deutschen Einsatzregeln nicht in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb werden wir nächste Woche darüber hier im Bundestag abstimmen lassen. ({1}) Zumindest hören wir jetzt von Ihnen, die Debatte müsse ehrlicher geführt werden. Ja, es gehe um Kampfeinsätze, und man müsse auch mit Toten rechnen. - Man könnte es martialisch ausdrücken: Der Kampf an der Heimatfront ist eröffnet. ({2}) Ich wage allerdings zu bezweifeln, ob es gelingen wird, mittels verschärfter PR-Arbeit die Deutschen von der Afghanistan-Mission zu überzeugen. 84 Prozent der Bundesbürger sind gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Süden. Weit über die Hälfte der Befragten wollen das Bundeswehrengagement grundPaul Schäfer ({3}) sätzlich beendet sehen. Das bekommen Sie nicht weg, und das ist auch gut so. ({4}) Sie haben ja selber Zweifel am Erfolg Ihrer Öffentlichkeitskampagne. Warum sonst die Überlegungen, die Mandatsverlängerungen nicht im Herbst 2009, sondern Monate später zu vollziehen? Wir, die Linke, werden uns dieser Manipulation entschieden widersetzen. Die Bevölkerung muss die Möglichkeit haben, bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr auch darüber zu entscheiden, ob die Bundeswehr in Afghanistan bleiben soll oder nicht. ({5}) Es gibt zwei Gründe, warum es eine so große Mehrheit der Deutschen gegen diesen Einsatz gibt: ({6}) Erstens, lieber Kollege Nachtwei, fürchten die Menschen, dass wir uns in Dinge verstricken, in die wir uns vor dem Hintergrund unserer Geschichte im letzten Jahrhundert nicht verstricken sollten. Sie sehen die Bilder von Abu Ghureib, sie hören, dass in afghanischen Gefängnissen auch misshandelt und gefoltert wird, und keiner hier kann definitiv ausschließen, dass gezielt getötet wird, was völkerrechtswidrig ist. Deshalb ist es, glaube ich, richtig, dass die Leute nicht wollen, dass wir uns an so etwas beteiligen, auch nicht mittelbar. ({7}) Der zweite Punkt. Man merkt: Auf diesem Kriegsschauplatz läuft so viel schief, dass dieser Einsatz nicht zu einem guten Ende gebracht werden kann. Die britische Außenministerin hat jetzt gesagt, Afghanistan drohe ein „failed state“ zu werden. Bisher waren diese gescheiterten Staaten eher ein Anlass, um zu intervenieren, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Jetzt sind sieben Jahre Militärintervention offensichtlich der Grund für einen „failed state“. Man muss darüber nachdenken, was dieser Auflösungsprozess mit der US- und NATOgeführten Militärmission zu tun hat. Das sind die Gründe, warum auch wir meinen, dass der Militäreinsatz so schnell als möglich beendet und die Truppen zurückgezogen werden sollten. Sie gehen stattdessen in die entgegengesetzte Richtung und weiter in die Sackgasse hinein. Andersherum wird es richtig: Truppenabzug, Vervielfachung der zivilen Aufbauhilfe und Verstärkung des diplomatischen Prozesses, um zu einem stabilen Waffenstillstand im Land zu kommen. Das ist der Weg, um die Taliban wirkungsvoll zu bekämpfen und um dem Land zu einer eigenständigen, demokratischen Entwicklung zu verhelfen. In diese Richtung und nicht in die andere müssen wir gehen. Dieser Irrweg muss unverzüglich beendet werden. Danke. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Eckart von Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Was unterscheidet die Linkspartei von einem Huhn? Das Huhn begackert das Ei erst, wenn es gelegt ist. Die Linkspartei nutzt eine Pressemeldung vom Wochenende, die schon längst dementiert wurde, um für den Donnerstag eine Aktuelle Stunde zu beantragen. ({0}) Das zeigt: Es geht hier nicht um Afghanistan, sondern um Innenpolitik, nämlich um die Bürgerschaftswahlen in Hamburg. ({1}) Man versucht, die Sorgen unserer Bevölkerung zu instrumentalisieren. Dieses Spiel kennen wir von der Linkspartei schon seit einiger Zeit. Ganz besonders deutlich wurde das im vergangenen Sommer, als ein deutscher Ingenieur in Afghanistan entführt wurde. Das Auswärtige Amt wies danach darauf hin, dass die Entführung einen rein kriminellen Hintergrund hatte und den Zweck verfolgte, Lösegeld zu erpressen. Gleichzeitig haben aber zwei versucht, dieses Verbrechen für politische Zwecke zu missbrauchen. Der eine war der Sprecher der Taliban in Afghanistan, und der andere war der Sprecher der Linkspartei, Gregor Gysi, in Deutschland. ({2}) Beide haben dieselbe Forderung aufgestellt, nämlich nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Dabei wissen wir alle, dass die Tragödie in Afghanistan mit dem Einmarsch der Roten Armee begonnen hat. Wir wissen auch, dass die einzige Partei, die diesen Einmarsch frenetisch begrüßt hat, die umbenannte Linkspartei gewesen ist. ({3}) Furchtbare Juristen wie Professor Paech, der heute für die Linkspartei im Auswärtigen Ausschuss sitzt, haben damals diesen Einmarsch gerechtfertigt. Heute wollen sie nichts mehr davon wissen. Aber nicht die Geisteshaltung der Linkspartei, sondern die Verhältnisse haben sich - übrigens gegen ihren Willen - durch die demokratische Revolution von 1989 geändert. Vor dem Fall der Mauer hat die umbenannte Linkspartei mit arabischen Terrorgruppen und Terrorstaaten sowie der RAF kooperiert. Man hat den Genossen von der RAF in der DDR Unterschlupf gewährt. ({4}) - Ich komme jetzt dazu. ({5}) Heute wirbt Herr Professor Paech mit weicher Stimme im Auswärtigen Ausschuss für Verständnis für Terrorgruppen und Mörderbanden wie die Hamas oder die FARC. ({6}) Die Verhältnisse haben sich geändert, aber „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. ({7}) Auch wenn ein Misserfolg der Bundeswehr und der NATO im Rahmen des ISAF-Mandats in Ihr politisches Kalkül passen würde: Die Fakten in Afghanistan sprechen eine andere Sprache. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus einer Studie der FU Berlin zitieren, ({8}) über die die FAZ am 6. Februar berichtet hat. ({9}) - Die FU Berlin ist ein dubioser Verein? Ich möchte, dass dieser Zwischenruf von Herrn Gehrcke in das Protokoll aufgenommen wird. ({10}) Die FAZ schreibt, dass 2 034 Haushalte in Nordafghanistan von der FU Berlin befragt worden sind. Weiter heißt es: 76 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen zwei Jahren stark verbessert habe, 23 Prozent sagten, sie habe sich etwas verbessert. Nur 0,6 Prozent äußerten, die Sicherheitslage habe sich in dieser Zeit verschlechtert. Zur Verbesserung haben in der Wahrnehmung der Afghanen im Norden des Landes - also dort, wo wir die Verantwortung im Rahmen eines Mandats tragen, von dem Sie meinen, dass wir es unmittelbar beenden sollten vor allem die Soldaten aus dem Westen beigetragen. 80 Prozent der Befragten glauben demnach, ihre Präsenz habe positive Effekte auf die Sicherheitslage. Die FAZ führt weiter zutreffend aus, dass Sicherheit als Voraussetzung für den Erfolg der Friedensmission beim zivilen Aufbau nicht wegzudenken sei. Deswegen stehen wir zu unserem Einsatz in Afghanistan und zu unserem dortigen Engagement. Wir stehen für das Konzept der vernetzten Sicherheit, weil es keine Entwicklung ohne Sicherheit, aber auch keine Sicherheit ohne Entwicklung geben kann. Wir stehen zu der regionalen Aufteilung der Verantwortung in Afghanistan und für unsere Verantwortung im Norden. Und: Wir stehen zu der Solidaritätsklausel im Mandat des Bundestages. Wir lassen unsere Verbündeten in ganz Afghanistan nicht im Stich. ({11}) Vieles liegt noch vor uns, und vieles muss besser gemacht werden. Aber wir alle wissen doch, dass die bisher glücklicherweise vereitelten Anschläge in Deutschland alle im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet vorbereitet worden sind und dass bis heute mehr deutsche Staatsbürger durch den islamistischen Terror gestorben sind als durch die Anschläge der RAF. Deswegen dient unser Einsatz in Afghanistan nicht nur dem afghanischen Volk, sondern vor allem unserer eigenen Sicherheit. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der öffentlichen Debatte, die derzeit über den Afghanistan-Einsatz geführt wird, geht es wieder überwiegend um militärische Fragen. Ich finde, dies greift zu kurz. Dies reicht nicht; wir brauchen einen Gesamtansatz. Wir müssen vor allen Dingen versuchen, den Menschen in Deutschland zu vermitteln, warum die Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt ist. Ich sage hier in aller Deutlichkeit - darauf hat mein Vorredner schon hingewiesen -: Wir sind dort, um die afghanische Regierung und das afghanische Volk beim Aufbau zu unterstützen, um eine selbsttragende Sicherheit in Afghanistan zu erreichen. Aber wir sind auch dort, weil wir wissen: Wenn wir Afghanistan jetzt alleine lassen würden, dann würde von dort aus wieder eine terroristische Bedrohung ausgehen, ganz abgesehen von der destabilisierenden Wirkung, die dies auf Pakistan hätte, mit unabsehbaren Folgen auch für uns hier. Deshalb stehen wir zu diesem Einsatz. ({0}) Ich möchte einige Bemerkungen an die Bundesregierung richten: Herr Bundesverteidigungsminister, Sie bzw. die Bundesregierung haben gerade erst eine Ausweitung des Einsatzes im Rahmen des bestehenden Mandats beschlossen. Die Bundeswehr wird ab Sommer dieses Jahres die schnelle Eingreiftruppe im Norden Afghanistans stellen. Ich sage deutlich, dass diese Diskussion für die FDP-Fraktion noch nicht abgeschlossen ist. Wir möchten von Ihnen wissen, ob die Ausstattung und Ausrüstung, die der Truppe zur Verfügung gestellt werden, tatsächlich ausreichend sind. Wir haben hier Zweifel. Dies bezieht sich auf die gepanzerten Fahrzeuge, die Fernmeldeausrüstung, den Lufttransport, die Mörsertrupps und die Fliegerleittrupps. Darauf sind Sie, Herr Minister, bisher eine Antwort schuldig geblieben. Die Bundesregierung kann zwar im Rahmen des bestehenden Mandats über diesen Einsatz entscheiden. Auch wir sagen ganz eindeutig: Die schnelle Eingreiftruppe im Norden des Landes ist absolut notwendig. Aber sie ist nur verantwortbar, wenn die Bundeswehr die nötige Ausrüstung und Ausstattung erhält. Da erwarten wir von Ihnen, Herr Minister, klare Antworten; wir erwarten, dass Sie dafür sorgen, dass das passiert. ({1}) Die Ausweitung ist noch nicht einmal umgesetzt, schon folgt die nächste Diskussion über noch mehr Militär. Deswegen möchte ich an dieser Stelle für meine Fraktion sehr deutlich festhalten: Mit immer mehr Soldaten allein wird der Erfolg in Afghanistan nicht zu erreichen sein. ({2}) Ich möchte Auskunft über die fragliche Ausweitung der Mandatsobergrenze, über die seit dem Wochenende diskutiert wird, haben, wozu Ihr Generalinspekteur, Herr Minister, öffentlich mitteilt, er werde Ihnen eine Ausweitung der Obergrenze vorschlagen. Wir möchten wissen, was es mit der Erweiterung des Einsatzes von der Nordregion gen Westen zu tun hat. Hören Sie endlich mit der Geheimniskrämerei auf und sagen Sie dem Deutschen Bundestag, was Sie planen! Herr Jung, es ist eben nicht so, wie Sie sagen. Dass es ein Mandat gibt, an das Sie sich halten müssen, das ist insoweit richtig. Dass dann der Deutsche Bundestag entscheidet, auch das ist richtig. Aber Sie, Herr Minister, müssen vorlegen. Sie wissen genau, dass wir im Deutschen Bundestag nur Ja oder Nein zu einem Mandat sagen können. Das heißt, Sie sind auskunftspflichtig. Was wir von Ihnen hierzu hören, ist schlicht und ergreifend ausweichend. Es sind Ausreden, und es ist Verschleierung. Hören Sie endlich auf damit und spielen Sie mit offenen Karten! Denn Sie werden den Deutschen Bundestag am Ende brauchen. Ich sage Ihnen: Gerüchte schaden. Sie heizen die Diskussion an, ({3}) verunsichern die Truppe und befördern die Skepsis in der Bevölkerung. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie uns endlich klar und deutlich sagen, was die Bundesregierung plant. ({4}) Ich möchte hier noch einmal ansprechen, dass wir für Afghanistan ein Gesamtkonzept brauchen. Der Wiederaufbau und der Aufbau staatlicher Strukturen bei Militär und Polizei müssen im Zentrum dieses Konzeptes stehen. Als Bundesregierung haben Sie Verantwortung übernommen und klare Zusagen gemacht. Wir erwarten, dass diese klaren Zusagen jetzt auch eingehalten werden. Wir erwarten, dass beim Wiederaufbau mehr passiert. Wir erwarten, dass bei der Militärausbildung mehr passiert. Und wir erwarten vor allen Dingen, dass Sie bei der Polizeiausbildung, bei der es immer noch furchtbar und erbärmlich läuft, bei der nichts vorwärtsgeht, mehr tun. ({5}) Eine bessere Koordinierung aller Maßnahmen ist notwendig, und zwar NATO-weit. Das klappt aber noch nicht einmal bei den Ressorts der Bundesregierung. Sie sprechen von vernetzter Sicherheit. Ja, das ist das, was wir brauchen. Wir brauchen vernetzte Sicherheit. Sorgen Sie aber bitte dafür, dass das keine Leerformel bleibt, sondern mit Leben erfüllt wird! Das erwarten wir von Ihnen, bevor Sie schon wieder über mehr Soldaten reden. ({6}) Zum Schluss sage ich: Wir sehen die öffentliche Diskussion in der NATO mit Sorge. Ich denke, dass auf dem Gipfel in Bukarest ein Gesamtkonzept beschlossen werden muss, das von allen getragen wird. Es muss in politischer, ökonomischer und militärischer Hinsicht ein Gesamtkonzept geben. Das ist absolut zwingend. Die öffentliche Diskussion innerhalb der NATO muss aufhören; das schadet uns. Wenn diese Diskussion weiterhin geführt wird, wird das in Afghanistan negative Effekte hervorrufen. Dieses Gesamtkonzept muss die NATO auf dem Gipfel in Bukarest Anfang April leisten, damit sie in den nächsten, wie ich finde, ziemlich entscheidenden Monaten in Afghanistan geschlossen auftreten kann. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Walter Kolbow für die SPD-Fraktion. ({0})

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist richtig, auch in dieser Aktuellen Stunde darauf hinzuweisen, dass Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr, aber auch zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Menschen in Afghanistan in einem überaus harten Winter helfen, den Familien Unterstützung zuteilwerden lassen und Menschenleben retten, womit sie sich auch in einem humanen Einsatz befinden. ({0}) Genauso richtig ist es, darauf hinzuweisen, dass das afghanische Parlament nach der Pause, die es im Winter zwangsläufig eingelegt hat, wieder mit den Tagungen begonnen hat und Präsident Karzai, aber auch der Unterhaussprecher Qanuni, den wir hier bald erwarten dürfen und mit dem wir hier sprechen werden, im afghanischen Parlament die Erfolge, aber auch die Defizite der ISAFMission und der zivilen Anstrengungen angesprochen haben. Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht vergessen, unsere Leistungen darzustellen. Die Bundesregierung tut das Gott sei Dank nicht. Lassen Sie mich an dieser Stelle die Bemerkung einschieben, dass das auch auf der Münchener Sicherheitskonferenz geschehen ist. Die Berichterstattung, die für Aufregung gesorgt hat, muss zurechtgerückt werden. Das geschieht auch dadurch, dass im afghanischen Parlament die verbesserte Selbstversorgung mit Lebensmitteln, die Förderung der Zivilgesellschaft und der Medien, der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitsbereichs sowie die Gewährleistung der Frauenrechte als Erfolg bezeichnet werden. Unsere afghanischen parlamentarischen Kollegen sagen aber auch, dass es Rückschläge gegeben hat, vor allem im Sicherheitsbereich. Sie sprechen auch die weiteren terroristischen Gefahren, die Drogensituation und die Korruption an. Ich denke, es ist richtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir im Afghanistan Compact die Gesamtstrategie der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan festgelegt haben und die Bundesregierung die deutschen Ziele für Afghanistan im Rahmen dieser Gesamtstrategie im Einvernehmen mit dem Parlament festgelegt hat. In der Verlautbarung unserer Regierung, die wir alle kennen, heißt es: Beibehaltung der Bundeswehrpräsenz im internationalen Rahmen so lange, bis die afghanischen Kräfte selbst für die Sicherheit sorgen können; Werben im Kreise der Bündnispartner um noch konsequentere Vermeidung ziviler Opfer. Wir sind nicht nur im Norden Anhänger der Strategie „Frei verhandeln, statt freikämpfen“, sondern auch draußen im Lande. Denn die zivile Strategie, die des Sicherheitskonzepts nicht entbehren darf, ist die Voraussetzung dafür, dass die Gesamtstrategie des Afghanistan Compact und unsere nationale Zielrichtung in der internationalen Gemeinschaft gelingen. Das bedeutet eben auch eine aktive Vermittlung der Notwendigkeit des Einsatzes in der deutschen Öffentlichkeit. Ich würde mich sehr freuen, wenn die deutschen Medien mehr darauf abstellen würden, was geleistet wird, und nicht nur darauf, was noch fehlt. ({1}) Natürlich fehlt etwas. Ich denke, dass die Ausfächerung der Präsenz im Norden durch Bildung von mehreren zivil-militärischen regionalen Beraterteams eine Ergänzung der aktuellen Strategie, die mehr als sinnvoll ist, darstellt. Die Verdreifachung der Bemühungen für die Ausbildung der afghanischen Armee ist ein wesentlicher Bestandteil der Weiterentwicklung; Weiterentwicklung muss in einem dynamischen Mandatsprozess enthalten sein. Wir haben klare Festlegungen getroffen. Diese Festlegungen gelten. Nun ist es an der Bundesregierung, mit den nationalen und internationalen Partnern abzustimmen, wie ein Mandat weiterentwickelt werden muss oder kann. ({2}) - Das heißt konkret, dass wir auf den NATO-Gipfel gehen und mit unseren internationalen Partnern abstimmen, was möglicherweise fortentwickelt werden muss; denn am 13. Oktober dieses Jahres läuft das jetzige ISAF-Mandat aus. ({3}) Das ist im Übrigen bei jedem anderen Mandat, über das der Deutsche Bundestag beschließt, auch der Fall. Bei der internationalen Afghanistan-Konferenz, deren Einberufung wir hier im Parlament stark gewollt haben und der wir als Bestandsaufnahme- und Evaluierungseinrichtung für die internationale Gemeinschaft eine große Bedeutung geben, werden für die mögliche Fortentwicklung eines Mandates Outputs gegeben. Es ist dann Sache der Bundesregierung, dies dem Parlament vorzulegen. Dann ist es Sache des Parlaments, dies zu beurteilen. Wenn dieser Fall eintritt, dann werden wir eine Beurteilung vornehmen, und zwar im Rahmen unseres Selbstverständnisses, das die Rednerinnen und Redner von der Koalition, aber auch von der Opposition - ich nenne Frau Homburger - hier dargestellt haben. Das ist auch Grundlage dafür, innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu bestehen und die Defizite, die wir haben, auf der Basis von tatsächlichen Fortschritten zu beheben, um in Afghanistan zum Erfolg zu kommen. Dafür werben wir auch in dieser Aktuellen Stunde trotz ihrer vordergründig taktischen Anberaumung durch die Fraktion der Linken. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung zu Ihnen, Kollege Schäfer: Afghanistan ist nicht erst in den letzten sieben Jahren zu einem „failed state“ geworden. Afghanistan war ein „failed state“, seit Russland und die USA dort den Kalten Krieg heiß gemacht haben. Es war ein „failed state“, als der Bürgerkrieg tobte. Es war ein „failed state“, als die Taliban dort ihre Terrorherrschaft errichtet haben. Die Afghanen aus der Situation des „failed state“ zu holen, ist der Ansatz der Vereinten Nationen. ({0}) Das ist nicht einfach. Es gibt Rückschläge, es gibt Widersprüche; es gibt Fehler. Man kann auch über unabhängige und seriöse Untersuchungen sagen, dass sie von einem dubiosen Verein durchgeführt wurden. Ich halte die FU und den entsprechenden Forschungsbereich dort für das Gegenteil. Man kann das alles machen. Aber man muss doch auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass von den Menschen, die aufgrund der Tatsache, dass Afghanistan ein „failed state“ ist, ins Ausland geflohen sind, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen zurückgekehrt sind, dort bauen und dort ihre Zukunft sehen. ({1}) Das kann man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Jetzt komme ich zur Bundesregierung. Sie stellt sich immer besonders pfiffig dabei an, ihre Afghanistan-Politik zu verteidigen. ({2}) - Ich rede von der aktuellen Bundesregierung. Von welcher sonst? ({3}) Was ist denn am letzten Wochenende passiert? Wir alle konnten in den Zeitungen lesen, Herr Jung plane, die deutschen Truppen, um die Amerikaner zu beschwichtigen, um 1 000 Leute aufzustocken, das Einsatzgebiet im Norden und im Westen Afghanistans zu erweitern und das Ganze so zu stricken, dass der Deutsche Bundestag nach Möglichkeit nicht mehr vor der nächsten Bundestagswahl mit diesem unangenehmen Thema befasst wird. Soll ich Ihnen einmal sagen, was das ist? ({4}) Beim Kollegen Lafontaine war die Freude natürlich groß; denn wenn man dieses Thema so anfasst, dann wird doch völlig klar, dass man nicht zur eigenen Politik steht. Das ist besonders peinlich, wenn man dann auf der Münchener Sicherheitskonferenz danach gefragt wird und darauf, weil man in Gedanken offensichtlich schon beim Amt des hessischen Ministerpräsidenten ist, keine Antwort weiß ({5}) und wenn dann Vertreter der Oppositionsfraktionen - in diesem Fall war es der Vorsitzende der Partei von Frau Homburger - die deutsche Position darstellen bzw. klarstellen müssen. ({6}) Ich sage Ihnen: Mit dieser Haltung tun Sie uns im Ausland keinen Gefallen. Vor allen Dingen tun Sie uns dann keinen Gefallen, wenn Sie die Bundesrepublik weiterhin unter Wert verkaufen. ({7}) Haben wir es eigentlich nötig, uns in dieser Debatte von den USA in die Ecke drängen zu lassen? Das geht so weit, dass es heißt, auch wir hätten mehr als 20 Tote zu beklagen gehabt. Das ist eine Herangehensweise, die nicht von Selbstbewusstsein zeugt. Das ist nur peinlich. Tatsache ist doch: Der größte Legitimationsverlust des internationalen Einsatzes in Afghanistan war der ohne völkerrechtliche Begründung durchgeführte Krieg der Amerikaner im Irak. Dadurch wurden die Bemühungen um den Aufbau Afghanistans massiv zurückgeworfen. ({8}) Da es in dieser Debatte auch um Caveats, also um Vorbehalte, geht, weise ich Sie darauf hin: Den größten Caveat im Zusammenhang mit dem Einsatz in Afghanistan haben nicht die Deutschen, die Dänen oder die Norweger. Den größten Caveat haben die USA. Sie haben bis heute massive Vorbehalte dagegen, die Truppen, die sie im Rahmen von OEF einsetzen, dem Kommando, der Einsatzdoktrin und den Einsatzregeln von ISAF zu unterstellen. Das ist meiner Meinung nach der größte Caveat. Ich finde, in Anbetracht dessen sollte man auch mit guten Verbündeten und Freunden einmal Klartext reden. ({9}) Als der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates in München gesagt hat, es bedürfe in Afghanistan endlich einer zivilen Koordinierung, und als er dann auf die Europäer gezeigt hat, hätte ich mir von einem deutschen Verteidigungsminister, von einem deutschen Außenminister folgende Antwort gewünscht: ({10}) Die Amerikaner und die Briten, die Tom Koenigs so lange gemobbt haben, bis er vorzeitig aus dem Amt geschieden ist, die aber bis zum heutigen Tag nicht in der Lage waren, einen Nachfolger zu stellen, sind die letzten, von denen wir uns über Koordination bei der zivilen Hilfe belehren lassen. ({11}) Ich füge eine letzte Bemerkung hinzu: Derjenige, den die Amerikaner und die Briten gerne im Amt des UNSondergesandten in Afghanistan gesehen hätten, hat ihnen etwas ins Stammbuch geschrieben. Paddy Ashdown, der abgelehnte Bewerber, hat gesagt: Mehr Truppen hel14948 fen nicht. Wir brauchen mehr Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen mehr Zivilität. Wir brauchen einen Strategiewechsel. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sagt, dass sie für einen Strategiewechsel ist. Sie hat aber nicht einmal auf einer öffentlichen Konferenz den Mores in der Hose, um offensiv für diesen Strategiewechsel zu streiten. Das sind im Hinblick auf den kommenden NATO-Gipfel in Bukarest sehr schlechte Nachrichten. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Bernd Schmidbauer für die CDU/CSU-Fraktion.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja erlebt, wie in den letzten Tagen Enten durch die Presse geeiert sind und jeder, der die Argumente gebraucht hat, draufgehüpft ist. ({0}) Aber ernsthaft: Wir sind doch der Meinung, dass unser Engagement vor vielen Jahren gerechtfertigt war, weil wir den Sumpf des Terrors in Afghanistan austrocknen wollen. Die Bundeskanzlerin hat im Hinblick auf München und im Hinblick auf die Debatten, dass der eine oder andere 1 000 Soldaten zusätzlich schicken soll, zu Recht gesagt, dass unser Mandat, das wir erst vor wenigen Monaten verabschiedet haben, bis Oktober gilt und dass daran nichts geändert wird. So ist das nun einmal mit einem Mandat: Es wird im Deutschen Bundestag verabschiedet und bringt dann entsprechende Termine mit sich. Wir können nun für die Zeit ab Oktober neu überlegen. In der Zwischenzeit sollten wir aber aufpassen, nicht Verteufelung zugunsten der Taliban zu betreiben. Die verfolgen schließlich aufmerksam, was hier erzählt und verabschiedet wird. Auch die Nord-Süd-Debatte und das Herausstellen von Egoismen sind kleinkariert. Wir alle sollten uns bemühen, in Solidarität mit diesem Bündnis die Argumente, die erwägenswert sind, auszutauschen. Frau Homburger spielt ja seit vielen Debatten auf diesem Instrument und hat sich im zweiten Teil ihrer Rede der Bundesregierung zugewandt. Selbstverständlich muss kritisch hinterfragt werden, wie es mit der Ausrüstung unserer Soldaten in Afghanistan aussieht. Darüber, was Experten zur Frage der Hubschrauber sagen, lese ich mehr in englischsprachigen Zeitungen als bei uns. Wir würden ja gerne Hubschrauber liefern; aber wir haben keine solchen Hubschrauber. Es gibt auch Ideen, Munition auszuleihen. Frau Homburger, es wäre gut, wenn wir uns in der nächsten Zeit Antworten geben ließen zum Einsatz, zur Ausbildung, zur Sicherheit unserer Soldaten. Ich habe bisher nur gehört, was uns der Verteidigungsminister im Ausschuss darüber berichtet hat. Ich kann das nachvollziehen. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass wir vor der Entscheidung stehen, zusätzliche Ausrüstung zu beschaffen, die im Hinblick auf Nothilfe, auch im Süden, nötig ist. In der Öffentlichkeit wird zwar immer so getan, als würden wir uns über eine bestimmte Demarkationslinie - aus welchen Gründen auch immer - nicht hinauswagen. Aber dem ist nicht so. Wir helfen aus im Süden: mit Transportmaschinen, mit Funkaufklärung, mit Flugzeugaufklärung insgesamt. Wir haben einen Gesamtansatz. Natürlich gibt es Bereiche, in denen die Situation desaströs ist, bei der Polizeiausbildung zum Beispiel. Heute Morgen konnten wir wieder - bei Marmelade und Wurst - lesen, dass sich alles positiv entwickelt habe. Ein Dreck hat sich hier positiv entwickelt! Die Situation wurde Monat für Monat schlechter. ({1}) Ich will aber festhalten, dass der deutsche Beitrag hervorragend war, dass wir hervorragende Polizisten in Kabul hatten. ({2}) Plötzlich aber gab es die Idee, die Situation zu europäisieren. Damit fing es an. Den 27 Ländern war es nicht möglich, 18 Polizisten dorthin zu entsenden, weil die Division nicht aufging. Dann hat man festgestellt, dass man andere Überlegungen anstellen muss. Die Situation verschlechtert sich; es ist derzeit nicht abzusehen, wie wir sie verbessern können. Ich habe vorgeschlagen, gemeinsam einen Teil der Ausbildung in Deutschland durchzuführen. Geschockt hat mich, dass mir daraufhin vorgehalten wurde, das gehe nicht, weil das ein Kulturschock für die Polizisten aus Afghanistan wäre. Mit dieser Argumentation kommen wir nicht weiter. Wir können doch Spezialisten ausbilden, die ihrerseits als Multiplikatoren vor Ort andere Polizisten ausbilden. Wenn das alle europäischen Länder tun - und seien es nur die, die unsere Ansicht teilen -, kommt eine erkleckliche Anzahl zustande. ({3}) Das Problem war ja, dass die Anzahl der Polizisten nicht dividierbar war, dass manche Länder 0,7 Polizisten hätten stellen müssen. Aber das war wohl nicht der Grund. Ich hoffe, Herr Trittin, dass die kommende Konferenz in Paris im Sommer nicht eine erneute Ausrede wird, mit Leerformeln, ({4}) mit der Forderung nach neuen Strategien, nach einer Gesamtstrategie, sondern dass das, was in London vorgegeben wurde, erfüllt wird. Dann hätten wir einen großen Schritt gemacht. Dazu gehört auch, der Regierung in Kabul zu sagen, dass sie ihren Beitrag leisten muss. Ich habe an sich keine große Freude daran, weil wir wissen, dass dort immer noch ein Korruptionssystem befördert wird, dass wir die Einsetzung des Ausschusses nicht erreichen und andere Dinge mehr. In Kabul wird Vorschub geleistet für Gerüchte in Zeitungsartikeln und Presseberichten. Ich glaube, man kann nicht alles mit PR machen. Eine PR-Geschichte, die sich nicht auszahlen würde, wäre, bei der Erteilung des Mandats hier im Parlament zu manipulieren, nur weil ein Wahlkampf ansteht. ({5}) Meine Freunde, ich sage Ihnen allen: Wir stehen zu diesem Einsatz, also können wir auch Wahlen bestehen. ({6}) Wir müssen doch nicht auf diejenigen hereinfallen, die vor Populismus strotzen und meinen, man müsse das zwei Monate lang verschweigen. ({7}) Was bringt das denn? Glaubt denn einer, dass wir um Afghanistan einen Zaun ziehen können und damit die Debatte in der Öffentlichkeit beendet ist? Nein, unser Engagement für diese Aufgabe, Terror auszutrocknen, ist glaubwürdig. Diejenigen, die nicht mitziehen, dürfen sich nicht beschweren, wenn der Terror weitergeht und wir es nicht schaffen, die zweite und dritte Generation des Terrors in Afghanistan zu bekämpfen und auszurotten. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist nun die Kollegin Heike Hänsel. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Klaeden, ich möchte zunächst einmal zu den Vergleichen kommen, die Sie hier gezogen haben und die absolut unzulässig sind. Dass Sie uns und insbesondere Herrn Gysi mit faschistischen Tendenzen beleidigen - „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ -, möchte ich im Namen unserer Fraktion ganz klar zurückweisen. ({0}) Bezüglich der Einschätzung der Sicherheitslage im Norden habe ich jetzt eine Frage an Sie: Lesen Sie auch die regelmäßigen Berichte der Bundeswehr über den signifikanten Anstieg der Zahl der Anschläge im Norden? Wenn Sie nach Afghanistan fahren, werden Sie stark geschützt. Sie machen Blitzbesuche; Frau Merkel kündigt ihren Besuch nicht einmal an. Aus dem Entwicklungsausschuss waren zwei Leute im Norden Afghanistans; sie wurden ebenfalls stark geschützt, die Begleiter waren schwerbewaffnet. Wir vom Entwicklungsausschuss wollten bereits zweimal nach Afghanistan fahren. Das wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt. Trotzdem sprechen Sie von einer Sicherheitslage im Norden Afghanistans, die für die Menschen erträglich ist. Das kann ich hier nur ganz klar zurückweisen. ({1}) Nach sieben Jahren Militärpräsenz wird die Sicherheitslage für die Menschen in dieser Region immer schlechter. Zur Instrumentalisierung der Politik und der Soldaten und Soldatinnen. Sie instrumentalisieren die Soldaten und Soldatinnen, um von einer fehlenden Politik abzulenken. Sie haben keine politische Lösung für Afghanistan. Ihnen geht es um Bündnistreue. Wie Herr Lamers sprechen auch Sie von der Glaubwürdigkeit der NATO, die dort auf dem Spiel steht. Deswegen sind dort Soldaten und Soldatinnen, die kämpfen. Das ist für mich eine Instrumentalisierung der Leben von Soldaten und Soldatinnen, da wir hier nicht fähig sind, politische Lösungen für dieses Land zu entwickeln. ({2}) Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen auch noch etwas bezüglich Ihres Gedächtnisses sagen. Sie sprachen von der Sowjetunion. Wer hat denn in den 80er-Jahren die Taliban, die Mudschaheddin und pakistanische Söldner systematisch finanziert, ausgebildet und ausgerüstet? Das war die US-Regierung. ({3}) Die werden jetzt auch von deutschen Soldaten bekämpft. Wer hat diese Kräfte über Jahrzehnte stark gemacht? ({4}) Jetzt muss das Bündnis in Afghanistan gegen diese Kräfte kämpfen - das ist der Zynismus der Politik -, während wir hier im Parlament sitzen. Man spricht hier noch nicht einmal von Kämpfen. In diesem Land, in Afghanistan wird Krieg geführt - das wird hier mit keinem Wort erwähnt -, und die Bundeswehr ist dabei. Die Süddeutsche Zeitung hat am 7. Februar 2008 sehr gut getitelt: „Kämpfen, aber nicht darüber reden“. - Wir müssen darüber reden und uns fragen lassen - vor allem Sie -, ob Sie das vor dem Hintergrund der Situation in Afghanistan verantworten können. Aus entwicklungspolitischer Sicht - ich bin ja Entwicklungspolitikerin - kann ich nur sagen: Nach diesen sieben Jahren ist die Lebenssituation der Menschen katastrophal. Wir müssen uns auch fragen lassen, wohin sehr viele Gelder dieser Entwicklungshilfe fließen.Wir müssen auch über die Korruption der dortigen Regierung sprechen: Welches System wird dort eigentlich von ISAF aufrechterhalten? Mit welchen Kräften kooperieren sie dort, mit demokratischen Kräften oder mit Warlords und Drogenbaronen, die im Parlament sitzen? Über 60 Prozent der Abgeordneten in Afghanistan haben militärischen oder Drogenhintergrund; dies müssen wir doch einmal ansprechen. ({5}) In 10, 20 Jahren werden sie diese Kräfte bekämpfen müssen, etwa die Nordallianz, die systematisch aufgebaut wird, weil sie mit dem Westen kooperiert. Das ist die Situation in Afghanistan, die auch mit einer Unglaubwürdigkeit den Menschen gegenüber einhergeht. Fragen Sie doch einmal in Ihrer FU-Umfrage nach der Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Regierung in Afghanistan. ({6}) Die Menschen vertrauen dieser Regierung nicht mehr, weil sich ihre Lebenssituation nicht verbessert. In diesem Zusammenhang begrüße ich eine mutige Frau, die auf der Besuchertribüne sitzt: die afghanische Parlamentarierin Malalai Joya. ({7}) Sie hat am Montag den Human Rights Award von „Cinema for Peace“ bekommen, weil sie genau das thematisiert, was ich hier anspreche: die schreckliche Situation für Frauen und die insgesamt schreckliche Menschenrechtssituation in diesem Land. Sie spricht von Kollegen im Parlament, die Kriegsverbrecher sind. Sie spricht von - ({8}) Können Sie hier bitte einmal für Ruhe sorgen? ({9}) Sie spricht von der schrecklichen Situation. Sie hat genau das gesagt: Sie sind Opfer zwischen US-feindlichen Fundamentalisten und US-freundlichen Fundamentalisten. ({10}) Das ist keine Zukunft für Afghanistan. ({11}) Wir wollen, dass diese demokratischen Kräfte unterstützt werden, Herr von Klaeden. Aber Frau Joya konnte nicht einmal im Auswärtigen Ausschuss reden, obwohl wir darum gebeten hatten. Seit Monaten bemühen wir uns darum, dass sie in das Netzwerk „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ aufgenommen wird. Es gibt seitens des Auswärtigen Amtes immer neue Verzögerungen. Wenn solche Menschen, die mutig die Zukunft Afghanistans repräsentieren, weil sie den Mund aufmachen, nicht einmal hier in Deutschland unterstützt werden, dann brauchen Sie von Demokratisierung in Afghanistan gar nicht mehr zu reden. ({12}) Wir brauchen einen Politikwechsel in Afghanistan. In meinen Augen ist die Bundeswehr Teil des Problems und nicht der Lösung. Wir müssen langfristig auf demokratische Kräfte in Afghanistan setzen. Dazu gehören Malalai Joya und viele mutige Journalisten, die jetzt Todesstrafen ausgesetzt sind, weil sie die Fundamentalisten kritisieren. Wo ist da die Bundesregierung, wo ist ISAF? Werden diese Menschen geschützt? Da passiert nichts. Deswegen brauchen wir einen Politikwechsel. Ich bedanke mich noch einmal ausdrücklich, dass es so mutige Menschen wie Malalai Joya gibt. Sie sollte sogar an der Ausreise gehindert werden. Ich hoffe, dass wir uns alle dafür einsetzen, dass solche Menschen in Afghanistan stärker geschützt werden. Danke. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort Herrn Staatminister Günter Gloser.

Not found (Gast)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Kollegin, in den letzten Wochen und Monaten gab es eine Reihe von Begegnungen zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, an denen auch Gäste aus Afghanistan teilnahmen. Dort haben Frauen vorgetragen und deutlich gemacht, dass ihnen heute vieles möglich sei, was sie vorher nicht hätten tun können. Dies konnte nur dadurch gelingen, dass Soldaten in Afghanistan sind. ({0}) Sie haben davon gesprochen, dass ein Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Wasserversorgung und zu Bildung vorhanden sei. Wir blenden die Probleme in keiner Weise aus; aber wir sollten auch dokumentieren - dies haben mehrere Rednerinnen und Redner bereits gesagt -, was in dieser Zeit erreicht worden ist. Ich komme auf die in den letzten Wochen - insbesondere im Vorfeld des NATO-Verteidigungsministertreffens in Vilnius und der Münchener Sicherheitskonferenz sicherlich etwas aufgeregte Debatte über das internationale militärische Engagement in Afghanistan zurück. Die USA und andere NATO-Partner - deren Einsatz im Süden Afghanistans ist unstreitig - haben in unterschiedlicher Form in den letzten Tagen und Wochen die gleiche Botschaft an ihre NATO-Partner, auch an Deutschland, gerichtet: Bitte verstärkt erneut euer Engagement in Afghanistan und engagiert euch insbesondere im Süden Afghanistans. - Für die Bundesregierung stelle ich ganz klar fest: Sie hat stets die Position vertreten, dass Fragen der Truppengenerierung im Rahmen der NATO zu beraten sind. Kollege Kolbow hat darauf bereits hingewiesen. Das geschah dann auch beim NATO-Verteidigungsministertreffen letzte Woche in Vilnius in einer partnerschaftlichen Atmosphäre. Dabei wiederholten die USA, Kanada, die Niederlande und Großbritannien ihre Appelle, wobei sie aber nicht die einzelnen Staaten, sondern die NATO insgesamt angesprochen haben. Wir haben in dieser Debatte deutlich darauf hingewiesen - dabei beziehe ich mich auf die Beiträge von Frau Homburger oder Herrn Trittin -, dass es nicht ständig nur darum gehen kann, mehr Truppen zu entsenden; vielmehr hängt in Afghanistan viel von einer verbesserten Vernetzung der Bemühungen der verschiedenen Akteure um den Wiederaufbau und die Schaffung von Sicherheit ab. In Vilnius sowie am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz hat die Bundesregierung vor allem eines sehr deutlich gemacht: Wir brauchen uns mit unserem Engagement in Afghanistan nicht zu verstecken. ({1}) Denn mit derzeit 3 300 tatsächlich eingesetzten Soldaten bei einer Obergrenze des ISAF-Mandats von 3 500 Soldaten stellt Deutschland das drittgrößte ISAF-Kontingent. Mit der Übernahme des regionalen Wiederaufbauteams in Kunduz im Herbst 2003 und im Herbst 2004 auch in Faizabad haben wir als erste - das unterstreiche ich - den Regionalisierungsansatz von ISAF vollzogen. Wir wissen, dass der Wiederaufbau Afghanistans ein sehr komplexes Unterfangen ist, in dem die einzelnen Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Wir haben von Anfang an einen umfassenden zivil-militärischen Ansatz verfolgt, der zwar von einigen NATO-Partnern anfangs kritisch hinterfragt wurde; er hat sich jedoch als richtig herausgestellt. Es gibt keinen Grund für die Behauptung, dass dieser Beitrag nicht ausreichend sei. Ich finde, er ist vorbildlich, nachhaltig und im internationalen Vergleich überdurchschnittlich. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle etwas ansprechen, das bei einem Besuch der Gebirgsjägerbrigade in Bad Reichenhall vor einer Woche deutlich geworden ist und widerlegt, was Sie in Ihren Ausführungen gesagt haben, nämlich dass Soldaten, die Auslandseinsätze auf dem Balkan, aber auch in Afghanistan hatten, festgestellt haben: Je mehr wir am Wiederaufbau beteiligt sind und je mehr sichtbare Projekte des zivilen Aufbaus wir schaffen, desto größer ist die Akzeptanz. Diese sichtbaren Erfolge bedeuten nicht nur Sicherheit für die afghanische Bevölkerung, sondern auch Sicherheit und Schutz für die dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten. - Dies hat jemand geschildert, der das vor Ort hautnah miterlebt hat. ({3}) Wir haben einen klaren Fokus auf den Norden Afghanistans. Wir sind dorthin gegangen und haben den Auftrag nach besten Kräften erledigt, und wir kommen unserer Verantwortung dort auch weiter nach, was sich auch in der Übernahme der Quick Reaction Force des Regionalkommandos Nord, das bisher von Norwegen gestellt wurde, ab dem zweiten Halbjahr 2008 widerspiegelt. Wir haben unsere Haushaltsmittel für die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei signifikant erhöht. Aber auch für den Gesamterfolg der Mission entziehen wir uns keinesfalls der Verantwortung. Wir - auch das unterstreiche ich - leisten mit den Aufklärungsflügen unserer Tornados in ganz Afghanistan einen wichtigen und von unseren Partnern vor Ort hochgeschätzten Beitrag für den Erfolg von ISAF. Unsere Partner wissen aber auch, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten in Notsituationen helfen werden und dies bereits jetzt beispielsweise mit Lufttransportunterstützung und Fernmeldepersonal tun. Solche Solidarität in Notsituationen ist nach Vorgaben des Bundestagsmandats zeitlich und im Umfang befristet möglich, wenn dies für den Erfolg der Gesamtmission unabweisbar ist. Dies alles zeigt, dass die Bundesregierung zum bestehenden ISAF-Mandat steht. Wir können und werden unseren im Bündnis übernommenen Aufgaben im Rahmen des bestehenden Mandates nachkommen. Für Spekulationen, wie ein zukünftiges Mandat aussehen kann, ist es noch zu früh. Hierzu müssen wir weitere Entwicklungen in Afghanistan, aber auch innerhalb des Bündnisses abwarten. Es ist ein sehr wichtiger Schritt, dass voraussichtlich im Juni eine internationale Afghanistan-Konferenz in Paris stattfinden wird. Auf dieser Konferenz soll die bisherige Arbeit im Rahmen des Afghanistan-Compact im Rahmen einer Art Halbzeitbilanz kritisch überprüft werden. Die Ergebnisse dieser Konferenz werden dann ebenfalls in die von Ihnen angemahnte Debatte über unser weiteres Afghanistan-Engagement einfließen. Es gibt also derzeit innerhalb der Bundesregierung noch keinerlei Festlegungen oder Positionierung zu diesen Fragen. Das gilt auch im Hinblick auf die Mandatsdauer. Bundesminister Frank-Walter Steinmeier hat darauf hingewiesen - diesen Punkt hat bereits Herr Schäfer angesprochen -, dass das Ende des ISAF-Mandats in den Oktober 2009 und damit voraussichtlich in den Zeitraum nach der Bundestagswahl und möglicherweise vor der Neukonstituierung von Bundestag und Bundesregierung fallen wird. Es wäre sinnvoll, einem neuen Kabinett und einem neuen Bundestag die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung über die Fortsetzung des ISAF-Engagements zu treffen. Nichts anderes wurde gesagt. Genauso wie bei allen anderen vorangegangenen Entscheidungen über ein Mandat oder über eine Mandatsverlängerung wird sich die Bundesregierung an das bewährte Verfahren halten. Sie wird für eine Abstimmung mit den NATO-Partnern sorgen und das Parlament rechtzeitig unterrichten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Hans Raidel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße die afghanische Kollegin sehr herzlich und darf feststellen: Wenn es nach der Politik der Linken gegangen wäre, hätte die verehrte Kollegin überhaupt keine Chance, hier zu sein. Das muss hier klar und deutlich zum Ausdruck gebracht werden. ({0}) Sie malen den Teufel an die Wand und betätigen sich dann als Teufelsaustreiber. Das ist keine hervorragende Politik, weil sie mehr vernebelt als versachlicht. Ich meine, dass wir mehr Sachlichkeit bei diesem Thema brauchen, um die Fakten richtig beurteilen zu können. Verehrte Frau Kollegin Homburger, es gibt keine Geheimniskrämerei. Die Auseinandersetzungen werden nicht ständig im Bundestag ausgetragen, wohl aber in den Ausschüssen. ({1}) - Sie haben nicht richtig zugehört oder es nicht richtig verstanden. Dafür kann aber der Minister nichts. Wir alle haben kapiert, worum es geht. Wir sind ausreichend informiert. Wenn Sie sich nicht ausreichend informiert fühlen, ist das nicht unser Problem, sondern Ihr persönliches. Wir fühlen uns in der Sache ausreichend informiert. In jeder Ausschusssitzung wird über die hier zur Debatte stehenden Themen diskutiert. Der Minister ist für alle Fragen zugänglich, und das Haus ist für alle Fragen offen. Es gibt keine Geheimniskrämerei. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier immer wieder vor der deutschen Öffentlichkeit diskutieren; denn so wird deutlich, wie sehr uns dieses Thema berührt, wie wichtig es ist und wie sehr der Einsatz in Afghanistan im deutschen Interesse liegt. Meine Vorredner haben darauf bereits ausreichend hingewiesen. Mittlerweile ist das deutsche Konzept zu einem nachahmenswerten Modell für alle anderen Nationen geworden. Auch die NATO nimmt dieses Konzept immer mehr an. Das von uns verfolgte Konzept sieht vor, den Terrorismus auszugrenzen und ihm den Boden zu entziehen. Hier sind Erfolge zu verzeichnen. Wir setzen aber nicht nur auf die militärische Karte, sondern gleichermaßen auf Nation-Building, den Aufbau einer zivilen Verwaltung und Good Governance. Es wurde unterstellt, wir verschwiegen, dass es sich um kritische Einsätze, um Kampfeinsätze handle. Natürlich gilt: Wer helfen und schützen will, muss in einer solchen Situation kämpfen können und kämpfen wollen, wenn es darauf ankommt, und zwar mit der notwendigen Ausrüstung und Ausbildung. Dazu sind sicherlich kritische Fragen teilweise angebracht. ({2}) Wir müssen nun unseren Blick auf das neue NATOKonzept richten. Das Gipfeltreffen der NATO in Bukarest bietet dazu eine gute Chance. Natürlich muss die NATO mehr Wert darauf legen, dass die kollektiven Anstrengungen verbessert werden und dass neben dem militärischen Engagement das zivile stärker zum Tragen kommt. Ich bin der Meinung, dass immer mehr Militär nicht das richtige Konzept ist. Im Übrigen kann man mit Verlustdebatten über tatsächlich geübte Solidarität nicht hinwegtäuschen, wenngleich wir die Sorgen der anderen Nationen durchaus verstehen. Dieses einheitliche Konzept muss natürlich auch die unterschiedlichen ethnischen Gruppen in diesem Zusammenhang berücksichtigen. Afghanistan ist groß, verschiedene Stämme mit verschiedenen Kulturen leben dort. Wenn wir zum Beispiel zu einem Rotationsmodell kämen und wir den Norden verlassen und in andere Regionen gehen würden, dann würde vieles, was dort aufgebaut worden ist, genau wegen dieser Fragen wieder aufs Spiel gesetzt werden, und wir würden uns eines großen Vorteils begeben. Deswegen sollte unser Einsatzschwerpunkt im Norden beibehalten werden. Wir sollten unsere Aufgabe dort weiter beispielhaft lösen. Wir sollten innerhalb der NATO darauf drängen, dass dieses Konzept weiter verfeinert und auf ganz Afghanistan ausgedehnt wird. Wir sollten die Einzelfragen einschließlich des Drogenanbaus neu bewerten und neue Instrumente zur Bekämpfung entwickeln. Der Wiederaufbau ist notwendig, und die Regierungs-, Polizei- und die Verwaltungsstrukturen müssen verbessert werden. Wir wissen, dass wir gerade im zivilen Bereich mehr Defizite als im militärischen Bereich haben. Wir müssen dafür werben, dass hier nachhaltige Verbesserungen eintreten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen?

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. - Ich bin für den Regionalansatz. Wir müssen die Nachbarstaaten einbeziehen; denn es kann nicht sein, dass die NATO die Aufgaben allein bewältigt und die Nachbarstaaten danebenstehen und nur über den Zaun blicken. Insgesamt - ein letzter Satz sei mir gestattet - bin ich der Meinung, dass wir trotz aller Probleme gerade mit dem deutschen Beitrag auf dem richtigen Weg sind. Wir sollten aus eigenen Interessen diesen Beitrag verstärken. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainer Arnold, SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist es das parlamentarische Recht der Linken, inzwischen jede Woche eine Aktuelle Stunde zum Thema Afghanistan zu beantragen. Ob das zeitökonomisch ist, ist eine ganz andere Frage; denn Sie erzählen jede Woche genau dasselbe. ({0}) - Hören Sie erst einmal zu! - Sie bleiben bei Ihrer üblichen Oberflächlichkeit und bei der Verdrehung von Tatsachen. Frau Kollegin Hänsel, Sie befinden sich, wenn es um Polemik geht, auf Augenhöhe mit Ihren Herren Lafontaine und Gysi. ({1}) Sie sprachen die Kollegin des afghanischen Parlamentes an, die dort oben sitzt, sagen eines aber nicht: Ohne den Petersberg-Prozess, den Deutschland maßgeblich initiiert hat, ohne Afghanistan Compact und ohne die Anstrengungen der Vereinten Nationen zum zivilen, politischen und Sicherheitsaufbau des Landes gäbe es diese Kollegin nicht im Parlament, weil es dann kein demokratisches Parlament in Afghanistan gäbe. ({2}) Sie fordern, die Parlamentarier in Afghanistan müssten geschützt werden. ({3}) Sie sollten sich einmal Gedanken darüber machen, ob freundliche Worte und Ideologie Schutz für die Menschen in Afghanistan sind oder ob es nicht auch bestimmter robuster polizeilicher und militärischer Fähigkeiten bedarf. Sie machen einen Fehler und erzählen der deutschen Öffentlichkeit Falsches. Sie wollen den Menschen bei uns einreden, dort gehe es um Krieg zwischen den Talibanterroristen und den internationalen Truppen. Das ist falsch. Es geht zunächst um einen Krieg der Terroristen gegen die Menschen in Afghanistan, ({4}) gegen den Lehrer, der Mädchen ausbildet, gegen die Krankenschwester, die Fortschritt bringt, gegen den Straßenbauarbeiter, der die Brücke saniert, und gegen die Familien, die auf dem Marktplatz von Talibanbomben in die Luft gesprengt werden. Wenn man dies sieht, dann merkt man sehr schnell: Um die Menschen in Afghanistan kümmern Sie sich nicht wirklich. ({5}) Insofern ist es wirklich schade, dass Sie Ihre Reise nicht machen konnten. Gerade die Linken müssen nach Afghanistan und sich die Situation dort anschauen. ({6}) Und die Herren Lafontaine und Gysi sollten, bevor sie darüber reden, erst einmal nach Afghanistan fahren und dort hören und sehen. Das könnte vielleicht, wenn man gutwillig ist, hilfreich sein. Warum nun führen wir die heutige Debatte? Herr Gates, der amerikanische Verteidigungsminister, hat in einem recht. Er sagte nämlich: In Deutschland sind diese Debatten immer etwas zu aufgeregt. - Ich glaube, es gibt dafür in der Tat überhaupt keinen Grund. Die Frage der Ausweitung hinsichtlich der Regionen oder des Umfangs können wir in Deutschland solide und gelassen diskutieren, aber nicht, indem Parlamentarier über Zahlen philosophieren, sondern indem wir uns ins Gedächtnis rufen, welche Aufgaben wir in Afghanistan gemeinsam bewältigen wollen. Es gibt die neue Komponente der schnellen Eingreiftruppe. Letzte Woche hat die Regierung der NATO zugesagt. Aber man sollte der Regierung schon noch ein bisschen Zeit geben, um auszurechnen, wie sich das in der Feinplanung abbildet. Eine Woche ist dafür sicherlich zu kurz. Wir wollen im Deutschen Bundestag miteinander, dass mehr Ausbildungsleistung für die afghanische Armee erbracht wird. Gestern konnten wir lesen, dass sich bei der ANA sehr viel Positives bewegt. Die Soldaten werden jetzt gut bezahlt und haben langfristige Perspektiven, bei der Armee zu bleiben. Das ist schon eine sehr gute Entwicklung. Wir müssen allerdings dazusagen: Bei der Polizei muss man dasselbe erreichen. Dieser Prozess muss quantitativ besser werden. Alle deutschen Innenminister sind aufgerufen, in diesem Bereich ihre Verantwortung wahrzunehmen. ({7}) Wir wollen in Afghanistan sicherlich unsere Erkenntnisse umsetzen. Einer der wichtigen Punkte ist: Es genügt auf Dauer nicht, wenn die PRTs, die Wiederaufbauteams, nur in den Städten ihre Arbeit machen und nur bei Patrouillen hinauskommen. Nein, das Konzept der kleinen, dezentralen PATs, der Ableger der großen PRTs, ist richtig, und es muss implementiert werden. Jetzt muss auch im Norden von Afghanistan eine Phase erreicht werden, in der auch die Menschen in den abgelegenen Tälern, in den ländlichen Regionen sehen, warum die Staatengemeinschaft da ist, nämlich um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Deshalb brauchen wir die PATs. Wenn man bedenkt, dass in Kunduz über Monate insgesamt 36 Raketen eingeschlagen sind, die nicht nur die deutschen Soldaten bedrohen, sondern auch die Familien, die auf dem Markt einkaufen, dann liegt es doch auf der Hand, dass die Bundeswehr darüber nachdenkt, auf welche Art und Weise sie im Umfeld von Kunduz, wo die Raketen abgeschossen werden, Präsenz zeigt, damit dies verhindert wird. Die Aufgaben liegen also auf der Hand. Sie basieren inhaltlich zu 100 Prozent auf dem Mandat. Wenn die Bundeswehr schließlich meint, sie braucht dazu mehr Personal, dann ist es Sache des Verteidigungsministers, ({8}) der deutschen Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag zu einem geeigneten Zeitpunkt die Planungen vorzutragen. Dieser Prozess verdient überhaupt keine Aufregung. Noch in Kürze ein zweiter Punkt, weil Sie auch die regionale Komponente angesprochen haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege, das geht auch nicht in Kürze. ({0}) Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In der deutschen Debatte ist klar geworden: Bundestag, Regierung und dankenswerterweise auch die verantwortungsvollen Oppositionsparteien haben, was den Einsatz im Süden betrifft, den amerikanischen Partnern mit guten Gründen gesagt, was wir nicht tun werden. Dabei wird es auch für die Zukunft bleiben. Ansonsten gilt: Wir tun in Afghanistan das, was notwendig ist, und halten immer die Balance zwischen dem, was wir politisch und gegenüber den Soldaten verantworten können und wollen. So wird es auch bleiben. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit drei Zahlen anfangen: Etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung sind für einen möglichst schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Drei Viertel des Deutschen Bundestages haben diesem Einsatz zugestimmt und ihn für ein weiteres Jahr mandatiert. 80 Prozent der Bevölkerung von Afghanistan sind der Meinung, dass die ausländischen Soldaten bleiben müssen, weil sonst nicht für ihre Sicherheit gesorgt ist. Nun debattieren wir hier im Deutschen Bundestag. Deshalb ist es notwendig, dass wir uns einmal etwas intensiver mit der Haltung und den Gründen auseinandersetzen, die zu dieser Einschätzung in der deutschen Bevölkerung führen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihren Veranstaltungen geht und was Sie ihrer Post entnehmen. Ich glaube, es gibt zwei tiefer liegende Gründe für die Skepsis gegenüber dem Einsatz. Darauf müssen wir zuerst reagieren, ehe wir über konkrete Einzelheiten des Einsatzes sprechen können: Was klappt? Was klappt nicht? Wie weit sind wir? Wohin wollen wir? Aus meiner Sicht sind es vor allen Dingen die Kriegsgeneration oder diejenigen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit groß geworden sind, die aus dem Zweiten Weltkrieg zu Recht die Lektion gelernt haben: Das war ein Verbrechen, und das darf nie wieder passieren. Aber sie haben daraus auch eine zweite Lektion gelernt - ich halte sie für falsch -, die lautet: Wir Deutsche sollten uns in der Zukunft besser heraushalten; dann machen wir auch nichts verkehrt. Mit dieser Haltung haben wir zu kämpfen. Die Linke bedient diese Haltung. Herr Schäfer hat vorhin davon gesprochen: Wir sollten uns nicht in Dinge verstricken. Das gibt genau diese Haltung wieder. Lassen Sie es mich einmal so formulieren: Aus dem deutschen Überfall aus Polen erwächst für das heutige Deutschland kein Recht auf unterlassene Hilfeleistung. ({0}) Das Gegenteil ist richtig. Die Forderung, sich herauszuhalten, knüpft an eine zweite, urmenschliche Erfahrung an: Wenn man selbst einem anderen nichts Böses tut, dann passiert einem umgekehrt in der Regel auch nichts. Im unmittelbaren persönlichen Umfeld macht hoffentlich jeder diese Erfahrung. Aber schon in der Gesellschaft allgemein trifft diese Erfahrung nicht mehr zu, wie wir wissen; sonst brauchten wir keine Polizei. International gesehen, ist diese Erfahrung erst recht weder historisch noch aktuell je richtig gewesen. Was den Terrorismus betrifft, müssen wir doch wissen: Der Terrorismus lebt von der Unschuld der Opfer. Das heißt, die Strategie, sich gegenüber Terroristen herauszuhalten, funktioniert nicht. Auch hier bedient die Linke diese Haltung, indem sie quasi Ursache und Wirkung umkehrt und der deutschen Bevölkerung suggeriert: Weil wir uns engagieren, sind wir nunmehr gefährdet. ({1}) Der 11. September wurde von Leuten geplant und durchgeführt, die alle über Wochen und Monate in Trainingscamps der al-Qaida in Afghanistan waren. Schon vorher, Ende der 90er-Jahre, waren die Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Afrika von afghanischem Territorium ausgegangen. Es gab in der Zwischenzeit die Anschläge in Madrid, London, Istanbul, Amsterdam, Paris, Glasgow, Bali und Djerba. Diese Anschläge haben stattgefunden - ausgeübt von alQaida. Allein das begründet schon, dass wir alles tun müssen, damit Afghanistan nicht wieder eine sichere Zuflucht für die al-Qaida-Mitglieder wird, etwa wenn die Taliban den Süden Afghanistans oder das ganze Land wieder in ihre Hand bekämen, wie es in den 90er-Jahren der Fall war. Was wir aber gar nicht so wahrnehmen, was hier auch einmal vorgetragen werden muss und was eben auch beRuprecht Polenz gründet, dass wir wegen unserer eigenen Sicherheit in Afghanistan sind, sind die vielen Anschläge, die glücklicherweise rechtzeitig entdeckt und vereitelt worden sind. Es gab sehr konkrete Pläne der al-Qaida, eine ganze Reihe von Flugzeugen über dem Atlantik gleichzeitig explodieren zu lassen, in der Londoner U-Bahn Anschläge mit Rizin zu verüben, in der Metro in Paris chemische Waffen einzusetzen, mit Autobomben Anschläge in England, Belgien und Deutschland zu verursachen und Bombenanschläge auf Hochgeschwindigkeitszüge in Deutschland und Spanien durchzuführen. Außerdem war geplant, in Dänemark zwei Anschläge auszuüben. Dort wurden in Häusern Anleitungen zum Bombenbauen und die erforderlichen Materialien gefunden. Glücklicherweise konnten sie vereitelt werden. Gerade vor kurzem sind in Barcelona 14 Verdächtige festgenommen worden, die Selbstmordattentate gegen Transportsysteme in Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien und Deutschland geplant haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Streben nach Autarkie ist im Zeitalter der Globalisierung eine falsche politische Zielsetzung. Das gilt für die Ernährung, für die Energie und erst recht für die Sicherheit. ({2}) Aus diesem Grunde haben wir auch eine Bündnisverpflichtung; denn nur darin können wir unsere Sicherheit schützen. Ohne Frieden in Afghanistan gibt es keine Sicherheit für Deutschland. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Polenz, Ihren richtigen Aufzählungen möchte ich gern noch etwas hinzufügen. Das Unbehagen in der Bundesrepublik über den Afghanistan-Einsatz hing zum Teil auch damit zusammen, dass hier der Eindruck war: Die Menschen in Afghanistan sind mit dem, was dort geschieht, nicht einverstanden. - Umso überraschender war es für viele, als dann durch Untersuchungen, zum Beispiel initiiert von kanadischen Zeitungen und Universitäten oder in Deutschland von der ARD und jetzt von der Freien Universität, endlich belastbare Ergebnisse dazu vorlagen, wie dieser Einsatz in Afghanistan selbst gesehen wird, nämlich mit großer Zufriedenheit, mit Zustimmung. Dass man manche Dinge differenziert betrachten muss, dass es Situationen gab, wo man mit dem Fortgang der Dinge eben nicht zufrieden war, ist unbestreitbar. Deswegen werden wir auch weiter diskutieren, wie wir im Zweifel besser werden können. Wir diskutieren in unserem Parlament. Wir sind aber in eine internationale Gemeinschaft, in ein multilaterales Staatenbündnis eingebunden. Wir betonen zum Beispiel, dass wir ein Stückchen stolz darauf sind, den Parlamentsvorbehalt zu haben. Wir müssen uns aber auch mit den Erwartungen und den Vorstellungen unserer Partner auseinandersetzen. Ich finde ausgesprochen interessant - das will ich heute in die Diskussion einbringen -, dass die kanadische Regierung eine Sonderkommission unter Federführung des ehemaligen Außenministers Manley eingesetzt hat, um sich mit der Frage zu beschäftigen, was aus kanadischer Sicht, aus Bündnissicht eigentlich notwendig wäre, um in Afghanistan voranzukommen. Interessant ist zum Beispiel, dass auch in diesem Bericht als Erstes festgestellt wird: Wir glauben, dass ein stärkeres Gewicht auf Diplomatie, Wiederaufbau und Führungsaufgaben der Rolle Kanadas in Afghanistan besser entspricht, während die militärische Mission sich zunehmend auf die Schulung der afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren sollte. Weiter wird gesagt, im Hinblick auf Afghanistan und die Akteure in der Region sei eine stärkere und diszipliniertere diplomatische Position geltend zu machen. Insbesondere soll Kanada mit den wichtigsten Verbündeten auf dem folgenden Punkt bestehen: frühzeitige Ernennung eines hochrangigen Zivilvertreters des UN-Generalsekretärs, um in Bezug auf die zivilen und militärischen Bemühungen in Afghanistan mehr Kohärenz zu erreichen. Kollege Trittin, Sie haben dazu einiges gesagt, was ich unterstreichen kann. Aber wie oft haben wir im Bundestag - ich kann das jedenfalls für mich in Anspruch nehmen - diese internationale Kohärenz schon gefordert? Damit ist ein ganz wichtiger Punkt angesprochen worden. ({0}) Die Kommission empfiehlt weiter die baldige Festlegung der NATO auf einen umfassenden politisch-militärischen Handlungsplan mit dem Ziel, auf Sicherheitsfragen und Ungleichgewichte einzugehen. Hier sei, heißt es, besonders ein höherer Truppenbestand zur Verbesserung der Sicherheit und zur schnelleren Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte notwendig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle Ihnen die Lektüre dieses Berichts, weil wir uns dieser Argumentation nicht entziehen können. Wir müssen uns mit unseren Partnern zusammensetzen und mit ihnen darüber diskutieren, selbst wenn diese Kommission der Regierung in Kanada vorschlägt, auf jeden Fall das Mandat im Süden über 2009 hinaus fortzusetzen, allerdings mit der Erwartung, dass die NATO - es wird nicht ein bestimmter Bündnispartner genannt - oder andere Verbündete darüber nachdenken, wie eine Verstärkung für die kanadischen Kräfte in diesem Bereich möglich ist. Wenn wir uns diesem Diskussionsprozess darüber, wie wir mehr Kohärenz und eine gemeinsame Strategie hinbekommen, entziehen, würden wir einen entscheidenden Fehler machen. Hier wurde immer wieder die Polizeiausbildung angesprochen, weil wir da hohe Verantwortung haben. Zur inneren Sicherheit gehört natürlich vorrangig die Polizei, aber auch - ich sage das immer dazu - die Justiz. Wenn man sich da umschaut, ist man noch erschrockener. Es liegen objektive Zahlen vor. Ich will mich jetzt nicht darüber auslassen, dass wir durchaus Qualität geliefert haben, aber eben nicht in der notwendigen Quantität. Nur Folgendes: Derzeit sind zum Beispiel von den 195 Experten, die EUPOL stellen soll, 83 da. ({1}) - 81. Um die zwei wollen wir uns nicht streiten. - Ich will noch etwas darlegen, damit wir einmal die Dimension erkennen und uns klarmachen, wo wir uns eigentlich bewegen und welche Erwartungen wir haben dürfen. Ich habe die heutige Meldung einmal in einen Zusammenhang mit der Mission, die die Europäische Union im Kosovo mit einbringen will, um dort zu helfen, gebracht. Kosovo entspricht in etwa der Größe eines deutschen Landkreises mit 100 Kilometer Durchmesser. Allein der Norden Afghanistans, den wir zu betreuen haben, umfasst einen Raum, der vom Bodensee bis nach Flensburg reichen würde. Im Kosovo wollen wir 1 400 Polizisten, 250 Richter sowie 200 Beamte verteilt über die Provinz einsetzen. Diese Zahlen sollte man sich einmal vergegenwärtigen. Angesichts dessen muss man doch zugespitzt fragen: Was machen wir eigentlich in Afghanistan? ({2}) Jetzt ist der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums schon wieder weg. Wir ringen im Auswärtigen Ausschuss seit Monaten darum, dass der Innenminister einmal kommt und mit uns über die Frage der Polizeiausbildung diskutiert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Dzembritzki, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie ist deutlich überschritten.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist einerseits freundlich, andererseits schade. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Trotzdem muss ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir hier in aller Kooperation und kollegialer Zusammenarbeit international wie national unsere Schulaufgaben zu machen haben; denn die Erwartungen an uns sind hoch. Diese können wir mit den von Ihnen immer wieder angestoßenen Diskussionen nicht erfüllen. Diplomatie ist - so haben Sie Ihre Rede geschlossen, Herr Schäfer; in diesem Punkt sind wir uns ja einig - notwendig. Aber ohne Sicherheit wird das nicht machbar sein. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerne würde ich an dieser Stelle sagen können: Was lange währt, ist endlich gut geworden. - Doch davon sind wir in Afghanistan meilenweit entfernt. Der Senlis Council, der ja nicht gerade linker Umtriebe verdächtig ist, hat schon vor einem Jahr davor gewarnt, dass die NATO mit ihrer Strategie der militärischen Aufstandsbekämpfung „Freunde verliert und sich Feinde macht“. Heute, nach einem Jahr des „Weiter so!“, kommt Senlis zu dem vernichtenden Urteil, dass diese kontraproduktive Strategie die Regierung Karzai an den Rand des Abgrunds gebracht hat und sich die Aufständischen im Süden festgesetzt haben. Karzai sagte im Interview mit der Welt am 30. Januar dieses Jahres, dass weitere Truppen nicht die richtige Antwort seien. Die signifikant gestiegene Zahl der Anschlägt gibt ihm dabei recht. Anderen, auch hier in Deutschland, ist dies offensichtlich nicht klar. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch von den Steuern der 70 Prozent Kriegsgegner finanziert wird, trommelt seit Monaten für die Umstellung des deutschen Konzeptes von CIMIC auf Aufstandsbekämpfung. Die von der Großindustrie gesponserte Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ({0}) forderte am 4. Februar: „Volles Engagement in Afghanistan!“. In wessen Interesse wohl? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Kollegen der SPD reden öffentlich der Aufstockung des Bundeswehrkontingentes und einer Erweiterung des deutschen Kommandobereiches das Wort. Wo soll das denn enden? Soll das bei den 400 000 Soldaten enden, die General McNeill für eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung für nötig hält? Nein, wir brauchen vielmehr eine schonungslose Bilanz, die dann in ein politisches Gesamtkonzept münden muss. Dabei muss der Schwerpunkt auf die zivile Aufbauhilfe gelegt werden, wie Norwegen dies gerade vorgemacht hat und wie dies auch 78 Prozent der kanadischen Bevölkerung fordern. ({1}) Mir ist völlig unbegreiflich, wie sich die Bundesregierung diese eskalierende Ausweitungsdebatte aufzwingen lassen konnte. Immer nur zu reagieren, ist miserables politisches Management. Anstatt proaktiv für das eigene, als richtig erkannte Konzept zu werben und den Verbündeten klare Signale zu geben, hat sie seit Jahren scheibchenweise dem Druck derer nachgegeben, die sich offensichtlich in Afghanistan auf Dauer militärisch festGert Winkelmeier setzen wollen. Britische und US-Politiker sprechen von Jahrzehnten, die der Einsatz noch dauern werde. Davor kann man doch nicht die Augen verschließen. Das ist die Spaltung der NATO. Die Gefahrenquelle liegt nicht zwischen Nord und Süd. Seit Rumsfeld wissen Sie auch: Freund ist, wer gerade zur Hand ist, um US-Interessen zu unterstützen. 1993 waren die Taliban Freund; ab 2000 hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan. Für die Wahlen 2009 in Afghanistan wird bereits jetzt ein Karzai-Nachfolger aufgebaut; das pfeifen sogar die Spatzen in Washington von den Dächern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Winkelmeier, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich komme zum Ende; letzter Satz. - Wie kann man nur eine Politik von einem derartig opportunistischen Verbündeten abhängig machen? In Afghanistan wird ein neokolonialer Krieg geführt. Steigen Sie aus, bevor es zu spät ist! Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afghanistan ist ein Land, von dem wir alle hoffen - ich denke, dass wir in diesem Punkt übereinstimmen -, dass es so schnell als möglich aus den Wirren des Krieges und der gewalttätigen Auseinandersetzungen herausfindet. Wenn das so ist, dann müssen wir uns überlegen: Was ist der nächste richtige Schritt, den wir gehen müssen? Der richtige Schritt ist meiner Meinung nach, in Bezug auf die Situation in diesem Land ehrlich zu sein. Das Land ist in vielen Punkten von Gewalt geprägt. Es gibt nach wie vor kriegerische Gruppen, Banden, Kriminelle, die versuchen, das Land auszubeuten, Territorien zu besetzen, Grenzen nicht anzuerkennen. Das kann man beispielsweise an der nicht bestimmten Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan sehr plastisch sehen. Wenn das die Situation ist, wenn dieses Land und die Gewählten dieses Landes, sei es der Präsident, sei es das Parlament, zugleich der Meinung sind, dass Afghanistan der Hilfe bedarf, und insbesondere wenn und solange die Vereinten Nationen ein Mandat bereitstellen, damit diesem Lande geholfen werden kann, dürfen wir uns dem Hilferuf aus diesem Lande nicht entziehen. ({0}) Das ist der entscheidende Punkt, der uns von allen unterscheidet, die einfach über das hinweggehen, was die Weltgemeinschaft will. Sie will, dass wir diesem Lande helfen. Dieser Aufforderung, dieser Bitte des Weltsicherheitsrats müssen wir uns stellen. Es muss immer wieder neu darüber debattiert werden, wie die Mandate aussehen. Der zentrale Punkt dabei ist: Wie kann durch Mandate, also durch Produktion von Sicherheit, bewirkt werden, dass die Menschen die eigene Entwicklung selbst gestalten können? Ich greife einmal einen Punkt aus dem Afghanistan Compact - in dem sich ja 51 Staaten dieser Erde im Januar 2006 verpflichtet haben, diesem Land zu helfen heraus: Minenräumung. Dieser Punkt ist jetzt erledigt, und zwar deshalb, weil wir alle, die internationale Staatengemeinschaft, gemeinsam dazu beigetragen haben, dass die Minen in diesem Lande geräumt werden konnten. Das ist eine Verpflichtung, die wir übernommen haben, und wir haben diese Verpflichtung erfüllt. Ich wünsche mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders von der Linken, dass wir jetzt versuchen, in der Sache das abzuarbeiten, was der Afghanistan Compact von uns gemeinsam verlangt. Ich nenne ein zweites Beispiel. In dem Compact steht, dass wir im Rahmen der sozialen Entwicklung des Landes mithelfen, dass am Ende 60 Prozent aller Mädchen und Jungen gemeinsam in die Primarschule gehen können, davon hoffentlich über die Hälfte - das ist das Ziel Mädchen. Wir sind noch nicht an diesem Punkt angelangt. Es ist noch nicht gelungen, dass über 60 Prozent aller Jungen und Mädchen in die Primarschule können. Das ist aber, verdammt noch mal, eine Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen können! Das ist doch eine Aufgabe, bei der wir gemeinsam unsere Kraft zusammennehmen können, um im Rahmen der Entwicklungspolitik mitzuhelfen, diesen jungen Menschen eine Zukunft zu geben und die Möglichkeit zu eröffnen, ihr eigenes Land selbst in die Hand zu nehmen! Das ist ein wichtiger Punkt des Afghanistan Compact. ({1}) Auch ein anderer Punkt hat etwas mit Sicherheit zu tun - ich will jetzt nicht auf die Armee zu sprechen kommen; die Zahlen hierzu sind bekannt -: der Aufbau der Polizei. Darunter versteht man nicht Verkehrspolizei in unserem Sinne. Es handelt sich um Polizeikräfte wie etwa die Guardia Civil in Spanien oder die Gendarmerie in Frankreich. Auch an dieser Stelle ist es wirklich zwingend erforderlich, dass wir unsere Anstrengungen verstärken. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich auch diesen Punkt anspreche - leider ist niemand aus dem Innenministerium mehr anwesend -: Wir warten im Auswärtigen Ausschuss schon seit Monaten darauf, dass der Innenminister zu uns kommt und mit uns über diesen Punkt debattiert. Wie lange will er eigentlich noch warten? Die Zahlen, die wir heute früh erfahren haben - der Kollege Schmidbauer hat darüber gesprochen -, sind verheerend. Wir haben gegenwärtig 18 deutsche Polizeibeamte in Afghanistan, in einem Land, das Sicherheit braucht. Wir haben uns sogar dazu verpflichtet, mitzuhelfen, eine Polizei aufzubauen. Aber wir waren bisher nur in der Lage, 18 deutsche Polizeibeamte dorthin zu schicken. Gert Weisskirchen ({2}) Die Aufgabe, die wir uns selbst gestellt haben, müssen wir erfüllen. So können wir Afghanistan am besten helfen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage Ratsdok. 13288/07 - Drucksachen 16/7070 Nr. A.7, 16/8031 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Burkhardt Müller-Sönksen Volker Beck ({1}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist mittlerweile gute Tradition geworden, dass der Deutsche Bundestag zu wichtigen menschenrechtlichen Publikationen der Europäischen Union Stellung bezieht. Der 9. Jahresbericht der EU über die Menschenrechte erstreckt sich über den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 30. Juni 2007. Am 21. Juni 2007 haben wir in diesem Hause über den 8. Jahresbericht debattiert. Ich habe in dieser Debatte die Bundesregierung, die zu jenem Zeitpunkt noch die Ratspräsidentschaft innehatte, gebeten, alles daranzusetzen, die bereits seit langem textlich existierende Grundrechtecharta verbindlich zu machen. Als Abgeordneter einer Koalitionsfraktion kann ich nun feststellen - das kann man nicht jeden Tag sagen -: Die Bundesregierung ist diesem Wunsch in vollem Umfang nachgekommen. ({0}) Mit der feierlichen Verkündung des Grundlagenvertrages vom 12. Dezember 2007 ist auch die Grundrechtecharta endlich für fast alle Staaten der EU verbindlich geworden. Damit sind all die widerlegt, die die Europäische Union immer noch als ein bürgerfernes, ausschließlich den Interessen des Großkapitals verpflichtetes und waffenstarrendes Monster diffamieren. Das Gegenteil ist richtig: Zum ersten Mal gibt es auf diesem Kontinent, der jahrhundertelang und noch bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts von totalitären, demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Systemen geprägt war, ein verbindliches Wertesystem für die in der EU zusammengefasste Staatengemeinschaft. Dies ist ein Wertesystem, das geprägt ist von den Grundwerten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, von der Menschenwürde, von der Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Vor allem: Es gibt Millionen von Menschen die Möglichkeit, zum ersten Mal diese Rechte geltend zu machen, insbesondere hinsichtlich der Verletzung von Gemeinschaftsrecht. Ich denke, dies ist ein großer Erfolg für die Vervollständigung des Menschenrechtsschutzsystems in Europa. Es ist ein Fortschritt für alle Menschen, die in den Staaten der EU leben, und damit ein großer Erfolg für die deutsche und europäische Menschenrechtspolitik. Deshalb geht mein herzlicher Dank an die Bundesregierung für ihre Bemühungen, die an dieser Stelle sehr erfolgreich agiert hat. Insgesamt lässt der Bericht erkennen, dass der Umfang der Tätigkeit der EU im Bereich der Menschenrechte zugenommen hat. Die Instrumente zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten wurden weiterentwickelt. Insbesondere die Entwicklung der fünf Leitlinien der EU zu den Menschenrechten - zur Todesstrafe, zur Folter, zu Kindern und bewaffneten Konflikten, zu Menschenrechtsdialogen und zu den Menschenrechtsverteidigern - war ein wichtiger Schritt zu einer zielgerichteten und kohärenten Menschenrechtspolitik der EU. Positiv ist hervorzuheben, dass auf Initiative des deutschen EU-Ratsvorsitzes hin Leitlinien zur Förderung der Rechte des Kindes erarbeitet und im Dezember 2007 verabschiedet wurden. Ich wünsche mir im Rahmen der Schaffung eines zweiten Zusatzprotokolls zur Kinderrechtskonvention einen Fortgang in den Gesprächen, die gegenwärtig begonnen haben, um so ein Individualbeschwerderecht analog zu anderen UN-Pakten einzuführen. Auch da sollten wir die Bundesregierung in ihrem Bemühen unterstützen. Soviel ich weiß, gibt es unter den Ressorts keine großen Meinungsunterschiede. Es wäre gut, wenn wir in einem Jahr auch hier Erfolg vermelden könnten. Wir begrüßen besonders, dass die EU in ihren Strategien verstärkt menschenrechtliche Aspekte in allen Politikfeldern mitberücksichtigt. So wurden im Berichtszeitraum Menschenrechtsfragen systematischer in die Treffen im Rahmen politischer Dialoge und in andere hochrangige Treffen zwischen der EU und Drittländern einbezogen. Wir treten schon lange für ein konsequentes - ich muss diesen Begriff, der nicht der deutschen Parlamentssprache entspricht, leider aufgreifen - HumanRights-Mainstreaming in allen kohärenten Politikbereichen ein. Das bedeutet, dass wir die Menschenrechte in sämtlichen Politikfeldern - seien sie international, seien sie auf Deutschland ausgerichtet - umsetzen wollen. Die Institutionalisierung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hier in diesem Hohen Hause hatte zum Ziel - das darf man, glaube ich, selbstChristoph Strässer bewusst sagen -, die Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen und den Menschenrechten in allen Politikbereichen ein Sprachrohr zu verschaffen. Wir begrüßen es, wenn sich dieser Gedanke immer stärker auch auf europäischer Ebene durchsetzt. Es wäre sicherlich nicht verkehrt, wenn es in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes nicht mehr nur einen Unterausschuss, sondern einen Vollausschuss für Menschenrechte gäbe, damit wir auf dieser Ebene einen adäquaten Gesprächspartner für die weitere Arbeit haben. ({1}) Wir haben zu bewerten, dass insbesondere in zwei Politikbereichen die Arbeit auch institutionell vorangegangen ist. Ich erwähne in aller Kürze den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Dass sich diese Institution bestimmte Strukturen und Verhandlungsmöglichkeiten gegeben hat, ist deshalb gelungen, weil insbesondere die Europäische Union dort mit einer Stimme gesprochen hat. Wir haben Verfahrensregeln verabschiedet, die gut sind und auf deren Basis man arbeiten kann. Ich glaube, es könnte gelingen, den Menschenrechtsrat endlich zu einem wirklichen Instrument der Menschenrechtspolitik weltweit zu machen. Auch dafür lohnen sich alle Anstrengungen. Ein zweiter Erfolg inhaltlicher Art - auch daran haben die EU, die Bundesregierung und wir in diesem Parlament sehr massiv Anteil gehabt - ist die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Ächtung der Todesstrafe, der sich über 190 Staaten angeschlossen haben. Dies ist ein sehr wirksames Zeichen - auch wenn sie nicht verbindlich ist -, das letzte menschenunwürdige Strafsystem endlich abzuschaffen, und zwar überall auf der Welt, in China wie in den Vereinigten Staaten und überall dort, wo die Todesstrafe noch existiert. Hier gilt es in der Tat, noch einige Arbeit zu leisten. ({2}) Man kann allerdings nicht über diesen Bericht diskutieren, ohne an bestimmten Stellen ein wenig Selbstkritik zu üben. Es ist sicherlich richtig: Die EU ist eine wichtige politische, rechtliche und moralische Instanz. Ihre Glaubwürdigkeit leidet, wenn wir an uns selbst andere Maßstäbe anlegen als an andere Staaten. Wir müssen deshalb die Außen- und die Innenpolitik noch stärker miteinander verzahnen. Wir müssen erkennen, dass die Außen- und die Innenpolitik verschiedene Seiten einer Medaille sind. Das heißt, nach innen wie nach außen glaubwürdig zu arbeiten, ist ein wesentliches Ziel der Politik, die wir in Europa verfolgen müssen. Das bezieht sich unter anderem auf den Umgang mit Flüchtlingen. Es kann nicht sein, dass wir die Menschenrechtssituation in vielen Ländern dieser Erde aufs Schärfste kritisieren und sagen, dass die Menschen dort unter unwürdigen Bedingungen leben, es aber zulassen, dass der geringe Teil der Menschen, der überhaupt noch nach Deutschland kommt, Probleme hat, hier ein Aufenthaltsrecht zu bekommen. Auch hier sollten wir eine glaubwürdige Politik betreiben; ({3}) ansonsten wird all das, was wir gemeinsam auf den Prüfstand stellen wollen, unglaubwürdig. An dieser Stelle müssen wir nacharbeiten und besser werden, und dann bekommen wir in Europa eine vernünftige Menschenrechtspolitik hin. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Burkhardt MüllerSönksen, FDP-Fraktion.

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Strässer, ich bin sehr angetan davon, dass Sie ein wenig Selbstkritik geäußert haben. Als Opposition wollen wir diese Selbstkritik ein wenig ausdifferenzieren. Einig sind wir mit Ihnen, dass der EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage zeigt, dass die EU ein immer aktiverer Akteur der internationalen Menschenrechtspolitik geworden ist. Allerdings bedeutet das nicht, dass die EU auch zu einem einflussreicheren, das heißt effektiveren Akteur der Menschenrechtspolitik geworden ist; denn Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der EU-Menschenrechtspolitik an vielen Stellen leider noch allzu deutlich auseinander. ({0}) Ein einheitlicher Kurs ist nicht erkennbar. Die EU ist deshalb noch ein gutes Stück weg von dem selbstgesteckten Ziel, ein starker und vor allem effektiver Akteur für die Durchsetzung von Menschenrechten zu sein. Die EU könnte gerade in diesem Bereich weltweit viel mehr bewegen, wenn sie nach außen mit einer Stimme sprechen würde. Wenn es Drittstaaten gelingt, einzelne EU-Mitgliedstaaten oder Gruppen von ihnen gegeneinander auszuspielen, dann bleibt der Einfluss der EU meist gering. Das Beispiel Russland zeigt das allzu deutlich. Ein weiteres Problem der EU-Menschenrechtspolitik ist ihre Glaubwürdigkeit. Dieses Problem haben Sie gerade schon angesprochen. Glaubwürdigkeit lässt sich nur dadurch herstellen, dass ein und dieselben Maßstäbe für alle gelten. So sollte etwa die Menschenrechtslage in Staaten, die mit der EU eng zusammenarbeiten, keinesfalls beschönigt werden. Das gilt ganz besondere für die europäische Nachbarschaftspolitik. Von großer Bedeutung für die Verbesserung der EUMenschenrechtspolitik ist der Ende 2007 unterzeichnete Reformvertrag von Lissabon. Nach seinem Inkrafttreten wird der Menschenrechtspolitik der EU mit dem Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht gegeben. Das wird nicht nur die öffentliche Wahrnehmbarkeit der EU-Menschenrechtspolitik stärken, sondern auch die Einflussmöglichkeiten. Ebenso wichtig ist, dass die europäische Grundrechtecharta durch den EU-Reformvertrag nun endlich Rechtsverbindlichkeit erlangt und damit den Grundrechtsschutz der EU-Bürger deutlich stärkt. Nicht zuletzt wird die EU durch den Reformvertrag endlich auch eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten und dadurch der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten können. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat am Zustandekommen des Lissabonner Reformvertrages einen maßgeblichen Anteil gehabt. Das muss und darf ich hier sagen und anerkennen. ({1}) Genauso deutlich muss ich aber auch die Punkte benennen, bei denen die deutsche Ratspräsidentschaft eine eher unrühmliche Rolle bei der Gestaltung der EU-Menschenrechtspolitik gespielt hat. Meines Erachtens ist das eklatanteste Beispiel dafür die Lockerung der EU-Sanktionen gegen Usbekistan, die nach dem blutigen Massaker von Andischan im Mai 2005 verhängt worden waren. ({2}) Die Lockerung der Sanktionen ist maßgeblich aufgrund des Betreibens der Bundesregierung zustande gekommen. Sie erfolgte, ohne dass sich die kritische Menschenrechtssituation in Usbekistan auch nur ansatzweise zum Besseren entwickelt hat. Auch die bei der Verhängung der EU-Sanktionen geforderte internationale und unabhängige Untersuchungskommission zum Massaker von Andischan hat es bisher nicht gegeben. Stattdessen war für die Bundesregierung allein die Andeutung der usbekischen Führung, einen Menschenrechtsdialog mit der EU führen zu wollen, ausreichend, um die Satzungen zu lockern. Den Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, veranlasste dieses Verhalten kürzlich in einem Interview zu folgender Bemerkung, der ich mich anschließe: Wir finden, die Bundesregierung setzt zu sehr auf Dialog, selbst wenn diese Dialoge inhaltsleer sind. Wir wünschen uns ein härteres Herangehen mit klaren Maßstäben. Diesem Standpunkt von Human Rights Watch kann ich mich an dieser Stelle inhaltlich voll anschließen. Ein weiterer menschenrechtlicher Sündenfall der deutschen Ratspräsidentschaft war die Zustimmung zur Errichtung der EU-Grundrechteagentur. Wofür ist sie eigentlich da? Es ist nach wie vor zweifelhaft, welchen Nutzen diese Agentur für die Bürger Europas tatsächlich bringen soll. Es steht zu befürchten, dass diese Agentur in Bereiche des europäischen Grundrechtsschutzes vordringt, die durch den Europarat bereits sehr gut abgedeckt werden; der Kollege Strässer hat das positiv erwähnt. Zwischen beiden Organisationen fehlt eine klare Arbeitsteilung - sie müsste auch von diesem Haus definiert werden -, sodass die Doppelung schon vorprogrammiert ist. Ab 2013 soll die Agentur über ein jährliches Budget in Höhe von sage und schreibe 24 Millionen Euro verfügen. Ich weiß, dass das für dieses Haus ein kleiner Betrag ist. Dieses Geld wäre aber beim Europarat, insbesondere beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weitaus besser angelegt. Denn gerade der Gerichtshof leistet im Bereich des Menschenrechtsschutzes hervorragende Arbeit, bedarf aber dringend einer Verbesserung seiner Finanzausstattung. ({3}) Statt den Gerichtshof zu unterstützen, hat die Bundesregierung mit der Zustimmung zur Errichtung der Grundrechteagentur einen weiteren teuren Fall von Agenturinflation auf europäischer Ebene angeregt und geschaffen. Meine Fraktion lehnt aus den dargelegten Gründen die viel zu unkritische Stellungnahme der Fraktion der SPD - ich gehe davon aus, dass sich die CDU/CSU dem ebenfalls relativ unkritisch anschließen wird - zum Jahresbericht zur Menschenrechtslage ab. Es ist offensichtlich, dass in dieser Stellungnahme vor allem die menschenrechtliche Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft in ein gutes Licht gerückt werden soll. Hier geht es jedoch nicht nur um Licht, sondern auch um eine ganze Menge Schatten. Wir werden uns schon bald wieder an dieser Stelle mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft befassen. Dies wird auf Grundlage einer Großen Anfrage geschehen, welche meine Fraktion an die Bundesregierung gerichtet hat. Mit den Antworten der Bundesregierung werden wir kritisch umgehen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSU-Fraktion.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der aktuelle Jahresbericht der Europäischen Union zur Menschenrechtslage dokumentiert deren Engagement in diesem Bereich. Kaum ein Aspekt ist dabei ausgeblendet. Die Palette reicht von der Beobachtung der Menschenrechtslage in China oder Usbekistan über die Generalthemen Todesstrafe, Religions- und Glaubensfreiheit sowie Menschenhandel bis hin zum Schutz der indigenen Völker. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen wird ebenso dargestellt wie der Internationale Strafgerichtshof. Ein gravierender Mangel aber ist das Fehlen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. Er kommt schlicht und ergreifend nicht im Bericht vor. Ich denke, das ist ein Versehen. Ich habe ihn jedenfalls nicht gefunErika Steinbach den. Leider lassen sich insgesamt aus dem Bericht keine vertieften Erkenntnisse herauslesen. Die Darstellung bleibt weitgehend an der Oberfläche; in einigen Bereichen ist sie leider zu optimistisch. Das lässt sich am Abschnitt zur Türkei exemplarisch belegen. Die Menschenrechtsentwicklung dieses Landes wird in dem Bericht grundsätzlich positiv bewertet, wie der Einleitungssatz belegt, der lautet: Der Reformprozess wurde fortgesetzt und die früheren Reformen haben weiterhin zu positiven Ergebnissen vor Ort geführt. Das ist schlicht falsch. ({0}) Seit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stagnieren die Reformen, und vieles, was auf dem Papier inzwischen an Reformen beschlossen wurde, ist bis heute leider pure Makulatur. Die Bilanz des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes spricht eine deutliche Sprache. Im vorigen Jahr wurde die Türkei am häufigsten von allen Ländern wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Mit 319 Neuverurteilungen führt Ankara die traurige Liste an. Erst mit großem Abstand folgt Russland. Ein erheblicher Anteil der gegen die Türkei gerichteten Urteile betraf die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung. „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, kritisierte der türkische Regierungschef Erdogan. Dazu sage ich ganz deutlich: Er sollte vom radikalen türkischen Vorgehen gegen die alteingesessene kurdische Minderheit in seinem Lande nicht auf die Situation in Deutschland schließen. Ich habe den Eindruck, dass die hier lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen viel weiter sind, als die Verantwortlichen in Ankara es bemerken. In Deutschland gibt es den breiten politischen Willen, niemanden auszugrenzen, sondern alle einzubeziehen. In der Türkei allerdings - das muss man sagen - findet seit Jahrzehnten eine Zwangsturkisierung statt. In keinem europäischen Land werden nach Erkenntnissen der Gesellschaft für bedrohte Völker - ich glaube, Sie alle haben die Presseerklärung von Tilman Zülch bekommen - Sprachen und Kulturen der Minderheiten im Namen der dominierenden Staatsnation so massiv unterdrückt und verfolgt wie in der kleinasiatischen Heimat des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Erdogan fordert, hier bei uns türkische Universitäten und Schulen für die in den letzten Jahrzehnten hergezogenen Türken zu errichten. ({1}) In der Türkei gibt es keine einzige kurdische Schule für diesen seit Jahrhunderten dort lebenden und alteingesessenen Bevölkerungsteil. In der Türkei werden kurdische Publikationen verboten oder drastisch behindert. Die Pressefreiheit scheint für Erdogan ohnehin eher lästig zu sein; diesen Eindruck gewinnt man, wenn man seine aktuellen Äußerungen dazu liest. Christliche Minderheiten befinden sich in der Türkei in einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand. Wer über den Genozid an Armeniern, Assyrern und Chaldäern zu laut nachdenkt, der gerät bis heute unter massiven Druck. Die Mörder von Hrant Dink sind immer noch nicht verurteilt, und wichtige Beweise sind leider verschwunden. Nach Erfahrungen von Amnesty International wird in der Türkei nach wie vor gefoltert; meiner Meinung nach hat Europa dieses Thema voreilig von der diplomatischen Agenda genommen. Ich muss deutlich sagen: Der bizarre Wahlkampfauftritt des türkischen Regierungschefs in Köln war nicht nur vor diesem Hintergrund eine Frechheit. Herr Erdogan sollte mit den Bürgern seines Landes menschlich umgehen. Er sollte ihnen Pressefreiheit und Religionsfreiheit zugestehen. Er sollte die Folter endlich nicht nur auf dem Papier abschaffen, sondern auch in der Realität. Eines ist mir wichtig: Wir werden uns auch nach diesem abstrusen Auftritt von Herrn Erdogan in unserem Willen zu einem guten und menschlichen Miteinander in unserem Land nicht beirren lassen. Dazu muss jeder das Seine beitragen. Zu guter Letzt: Trotz der Informationsmängel gibt der vorliegende Bericht zur Menschenrechtslage im Großen und Ganzen einen Überblick über all das, was die Europäische Union in Menschenrechtsfragen tut. Dadurch wird dieses Thema befördert. Wo nötig, werden wir nachhaken, entweder im Ausschuss oder im Plenum. Denn das sind wir denen schuldig, die in ihrer Menschenwürde und ihren Menschenrechten verletzt sind. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Leutert, Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme erstaunt zur Kenntnis, dass ich heute nicht alleine bin, wenn es darum geht, Kritik zu üben. ({0}) Ich möchte explizit im Namen meiner Fraktion begründen, warum wir den EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage nicht mit Freude und erst recht nicht zustimmend zur Kenntnis nehmen können. Von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern ist schon angesprochen worden, dass darin etliche Gesichtspunkte von Menschenrechtsverletzungen zu differenziert dargestellt werden, während andere Aspekte ausgeblendet oder ganze Komplexe verschwiegen werden. Die Beispiele liegen auf der Hand. An der Situation in Russland und China wird in diesem Bericht viel Kritik geübt. Das begrüßen wir ausdrücklich; die Kanzlerin hat sich in dieser Frage auch im Rahmen der deutschen EURatspräsidentschaft sehr stark hervorgetan. Was die USA betrifft, wird im Abschnitt zum Thema Todesstrafe aber lediglich darauf hingewiesen, dass die Todesstrafe auch in den USA existiert. Im Abschnitt zum Thema Folter werden die USA überhaupt nicht erwähnt. Bei der Terrorismus- und Menschenrechtsbekämpfung - ({1}) - Das war ein Freud’scher Versprecher, der bei diesem Bericht allerdings naheliegend ist. - Beim Thema „Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte“ spielt sie nur noch eine untergeordnete Rolle. Ich möchte eine Stelle des Berichts zitieren - es geht um die EU-Menschenrechtspolitik und die Vereinigten Staaten von Amerika -: Die EU äußerte ihre Bedenken gegen die fortgesetzte Anwendung der Todesstrafe in den USA und bekräftigte ihre Haltung, dass alle Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsvorschriften stehen müssen. Mehr wird dazu nicht gesagt. Dabei handelt es sich um einen 200 Seiten starken Bericht. Dieses Thema, das uns am meisten interessiert - im Deutschen Bundestag beschäftigt sich übrigens auch ein Untersuchungsausschuss mit dem Thema „Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung“ -, wird auf zwei Seiten behandelt; das entspricht gerade einmal 1 Prozent des gesamten Berichts. In diesem 200 Seiten umfassenden Bericht steht darüber hinaus: Wir werden den laufenden Dialog über die für unseren gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus relevanten völkerrechtlichen Grundsätze, der zu einem besseren Verständnis unseres jeweiligen Rechtsrahmens geführt hat und zur Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung beitragen sollte, fortführen und vertiefen. Nichts weiter! Keine Kritik, keine Analyse und keine Konsequenzen! Wir sprechen hier angeblich von einem unserer Verbündeten. Wir sprechen aber auch von einem Land, in dem die Todesstrafe existiert. Wir sprechen von dem Land, in dem die Todesstrafe weltweit am fünfthäufigsten angewendet wird. Wir sprechen von einem Land, das Guantánamo eingerichtet hat. Wir sprechen von einem Land, das fremde Staatsbürger - auch europäische entführt, von CIA-Flügen. Wir sprechen von Verschleppung und von den Black Sites. Das kommt in diesem Bericht zu kurz. Völlig ausgeblendet wird, dass sich in Untersuchungsausschüssen, als es um die Behandlung der Aktivitäten deutscher Behörden bei der Bekämpfung des Terrorismus ging, gezeigt hat, dass die Bundesregierung an Aufklärung kein Interesse hat, dass deutsche Beamte an Befragungen mitgewirkt haben, ohne auf die offenkundige Misshandlung bzw. Folter des Befragten zu reagieren. Diese Frage geht uns etwas an, und Amnesty hat in der Bewertung dieses Berichtes klare Worte gefunden. Wir brauchen eine stärkere menschenrechtliche Kontrolle der Geheimdienste, zum Beispiel durch einen Menschenrechtsbeauftragten in der Sicherheitsrunde im Kanzleramt. Diesem Vorschlag müssten sich eigentlich alle anschließen können. Doch solange in diesen Berichten Dinge, von denen man meinen könnte, dass sie bloß Länder außerhalb der EU betreffen, ausgeblendet werden, so lange können wir diese Berichte nicht zustimmend zur Kenntnis nehmen. Ich möchte wie der Kollege Strässer darauf hinweisen, dass auch die Flüchtlingsproblematik eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Es wird nicht angesprochen, dass Tausende von Flüchtlingen, die von Afrika über das Mittelmeer zu uns zu kommen versuchen, dabei umkommen und die wenigen, die hier ankommen, keine Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. All das wird nicht angesprochen. Es wird zwar angesprochen, dass wir die Richtlinien für den Export von Gerätschaften, die für Folter und unmenschliche Behandlung geeignet sind, verschärfen müssen. Aber es wird nicht darauf hingewiesen, dass Mitgliedstaaten der EU gegen die Richtlinien verstoßen. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen: Solange wir in Menschenrechtsfragen mit dem Finger auf andere zeigen, aber nicht über unsere eigenen Defizite sprechen, so lange untergraben wir unsere Glaubwürdigkeit. Damit habe nicht nur ich ein Problem, auch der Kollege Strässer hat das angesprochen. Ich kann auch auf Veröffentlichungen von Amnesty International verweisen. Wir müssen anfangen, auch Menschenrechtsverletzungen, die bei uns passieren, zu kritisieren. Wenn wir das nicht tun, werden wir das Fundament des Wertesystems, das in Europa nach Jahren der Diktatur aufgebaut worden ist, untergraben, was den Menschenrechten sicherlich nicht förderlich ist. Wir würden die Tür dazu öffnen, dass Menschenrechtsverletzungen wieder an der Tagesordnung sind. Danke. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei Menschenrechtsdebatten muss man leider den Eindruck bekommen, eine Wiederholung zu sehen. Die CDU/ CSU-Fraktion kommt wieder dabei heraus, dass sie eiVolker Beck ({0}) nen EU-Beitritt der Türkei ablehnt, und der Linksfraktion fällt wieder nur ein, Amerika zu kritisieren. ({1}) Konsequente Menschenrechtspolitik muss in der Tat Menschenrechtsverletzungen, egal wo sie auftreten, mit der gleichen Elle, den Menschenrechtspakten, messen. Das muss für Kuba, für China, für Russland und für die USA gelten, aber auch für uns selber. ({2}) Ich habe das Gefühl, dass es bei einigen Fraktionen in dieser Hinsicht eine einseitige Fokussierung gibt. Das tut der Glaubwürdigkeit unserer Menschenrechtspolitik und unserer Außenpolitik nicht gut. Guantánamo - das ist zu Recht angesprochen worden ist die Achillesferse des Westens, wenn er international die Achtung der Menschenrechte anmahnt. Wohin wir auch kommen, sei es Usbekistan, sei es Turkmenistan, sei es Russland, überall wird uns Guantánamo vorgehalten. Das schwächt die Menschenrechtsarbeit weltweit, ganz abgesehen davon, dass Guantánamo für sich genommen ein Skandal ist. ({3}) Deshalb ist es richtig, dass wir darauf hinweisen und in diesem Zusammenhang unseren amerikanischen Freunden gegenüber Druck machen. Es darf aber nicht bei wohlfeilen Erklärungen am Redepult bleiben. Konkrete Taten und Angebote müssen folgen. In Guantánamo sitzt eine ganze Reihe von Gefangenen ein, von denen die Amerikaner sagen, dass sie unschuldig sind. Wir können sie aber nicht in ihre Herkunftsländer zurückführen. Dies gilt zum Beispiel für Uiguren aus China. Kein Land der Welt ist bereit, sie aufzunehmen. Ich finde, wer Guantánamo schließen will, der muss einen Teil der Verantwortung übernehmen, indem er einige dieser unschuldigen Gefangenen aufnimmt. Sonst ist das alles leeres Geschwätz. ({4}) Meine Damen und Herren, es wurde hier viel Weihrauch in Richtung Bundesregierung in die Luft gelassen. Ich meine, angesichts der Menschenrechtspolitik im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft ist das leider nicht ganz angemessen. ({5}) - Gut, hinsichtlich der Grundrechtecharta sind wir uns alle einig. Das war allerdings auch nicht das alleinige Verdienst der Bundesregierung. Hier sollten wir als Deutsche doch einmal ein bisschen bescheiden sein. Daran haben auch noch andere in Europa mitgewirkt. Der Kollege hat vorhin schon das Thema Usbekistan angesprochen. Es ist in der Tat kein Ruhmesblatt, dass Deutschland in Brüssel als Lobbyist dafür eingetreten ist, dass das Sanktionsregime gegenüber Usbekistan gelockert wurde, ohne dass die internationalen Bedingungen von Usbekistan erfüllt wurden - nicht eine der drei -, weil wir Deutschen in Termes einen Militärflughafen unterhalten und deshalb meinen, uns mit ihnen gut stellen zu müssen. Wir waren mit dem Ausschuss in dem Land. Wir sprechen mit dem Botschafter und wissen, wie diese Leute ticken. Es beeindruckt sie gar nicht, wenn man erst die Backen aufbläst und sich dann trollt, wenn sie nicht gleich nachgeben. Das ist bei diesen autoritären Regimen eine Mentalitätsfrage. Für Leute, die sich so verhalten, haben sie nur Verachtung übrig. Deshalb werden sie die Menschenrechte auf diese Art und Weise nicht besser respektieren. ({6}) Nächster Punkt zum Thema Ratspräsidentschaft. Es gibt natürlich immer noch die Malaise, dass Sie bei Ihrem Programm damals das Menschenrechtskapitel vergessen haben. Insofern war es vielleicht auch nicht ganz zufällig, dass dieses „Ruhmesblatt“, was ich gerade zitiert habe, auf Ihr Konto geht. Der Bericht, den die EU vorgelegt hat, ist durchaus besser, als manche Reden es glauben machen. Frau Kollegin Steinbach, die Fundstelle zu der von Ihnen vermissten Passage zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Mitte der Seite 131 des Jahresberichts. ({7}) - Sie ist nicht versteckt, sondern sie steht im Fließtext unter „Europarat“, wo sie auch hingehört. - Dort wird zu Recht ein wichtiges Kapitel angesprochen, das wir mit der Russischen Föderation besprechen müssen - auch nach den Präsidentenwahlen wieder. Das 14. Zusatzprotokoll muss endlich unterzeichnet werden, weil das der entscheidende Grund dafür ist, weshalb der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in nutzloser Arbeit ersäuft und die Menschen kein schnelles Urteil erhalten, sondern ewig darauf warten müssen, was den Russen ganz recht ist. Dem müssen wir natürlich entgegenwirken. Die FDP hat in diesem Haus wieder mit dem Ausspielen der EU-Grundrechteagentur gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begonnen. In der Tat: Einerseits müssen wir die Verfahren des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch das Zusatzprotokoll schneller und effizienter machen, und andererseits müssen wir etwas mehr Geld investieren und zusätzliche Richterstellen schaffen, damit dort besser gearbeitet werden kann, weil der Mangel von der Türkei und von Russland besonders ausgenutzt wird. ({8}) Der EU-Grundrechteagentur wurde aber eine ganz andere Aufgabenstellung hinsichtlich der Länder der Europäischen Union erteilt. Eine Einzelfallbeschwerde setzt immer voraus, dass man den nationalen Rechtsweg vom Amtsgericht bis zum Bundesverfassungsgericht durchlaufen und danach den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen hat. Jede nationale recht14964 Volker Beck ({9}) liche Remedur muss ausgeschöpft sein. Von der EUGrundrechteagentur müssen Missstände auch dann angepackt werden, wenn sie allgemeiner sozialer Natur sind und wenn sich die Menschen vielleicht gar nicht auf den Rechtsweg begeben. Als Beispiele nenne ich die skandalöse Situation der Roma in Europa, die auch in dem Bericht angesprochen wird, und die Homophobie in Europa und besonders in Polen. Das zweite Thema wird die EUGrundrechteagentur in diesem Jahr zuerst anpacken.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beck, Ihre Redezeit ist überschritten.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bei bestimmten Problemfeldern hinsichtlich der Menschenrechte kann man die soziale Situation aufgreifen und für die europäische Politik entsprechende Maßnahmenkataloge jenseits des Rechtlichen entwickeln und vorschlagen. Deshalb hat in diesem Bereich alles seine Funktion, wodurch die Menschenrechte, wenn es sinnvoll gemacht wird, in Europa weiter vorangebracht werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe der Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der neunte Menschenrechtsbericht aus dem Jahr 2007 zeigt in der Tat, dass wir in Europa in der Menschenrechtspolitik gute Schritte vorankommen. Hier kann man die deutsche Präsidentschaft wirklich loben: Sie hat sehr erfolgreich Schwerpunkte gesetzt. Neben allem, was schon gesagt wurde, zeigt er auch, dass wir auf einem guten Wege hin zu einer gemeinsamen Menschenrechtspolitik sind, die auf einheitlichen inhaltlichen Grundlagen beruht. Auf dem Weg dorthin heißt aber, dass es noch vieles zu tun gibt. Bevor ich mich dem zuwenden werde, will ich nochmals darstellen, warum wir die Gemeinsamkeit dieser einheitlichen Grundlagen in der Menschenrechtspolitik als so wichtig ansehen. Menschenrechte sind nach unserer Auffassung kein Beruhigungsmittel für ethisch Hochstehende oder für Sonntagsprediger, sondern die essenziellen, unverzichtbaren Pfeiler für jede friedliche und zukunftsfähige menschliche Ordnung. Dies gilt für uns selber in unserem Lande, aber natürlich auch für die Europäische Union, die sich mit Nachdruck und in erheblichem Tempo aus dem Bereich der Wirtschaft in den Bereich der Politik fortentwickelt. Dies bedeutet aber, wenn man es ganz pragmatisch anspricht, dass Menschenrechtsfragen eben keine in einer besonderen Schublade aufzubewahrenden Fragen sind, sondern dass sie als Querschnittsfragen in jeden Sachbereich der Politik nachprüfbar Eingang finden müssen. Auch dies gilt für die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für die Europäische Union. Was gut war an der EU-Menschenrechtspolitik, ist zum Teil schon angesprochen worden. Eine gemeinsame und einheitliche Menschenrechtshaltung hat es im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in dem ersten kritischen Jahr gegeben, als es darum ging, die neuen Instrumente sowie das, was man aus dem alten Bestand noch an Zusätzlichem präzisierend übernimmt, für die Zukunft fortzuentwickeln. Gut war auch die Initiative zum Moratorium bei der Todesstrafe. Wir können in Europa und gerade auch in dem Bereich, den Frau Steinbach angesprochen hat, dem Europa des Europarates, gute Erfahrungen vorweisen, weil wir sehen, dass die Veränderungen hinsichtlich der Todesstrafe in den neuen Mitgliedstaaten des Europarats und zum Teil auch der Europäischen Union eben nicht zu den befürchteten Verwerfungen oder gar zu einer Zunahme von Schwerstkriminalität geführt haben. Aber es gibt natürlich auch etliche Punkte, bei denen wir noch mehr Gemeinsamkeit und mehr inhaltliche Übereinstimmung brauchen und sich diese in der Praxis bewähren müssen. Das ist zum einen die mehrfach angesprochene Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Europarat. Dies betrifft die Menschenrechtsagentur, weil wir Doppelarbeit nicht wollen; darüber haben wir hier schon ausführlich geredet. Dies betrifft im Bereich des Europarats aber auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Hier ist es mir außerordentlich wichtig, dass die Europäische Union, die für diesen Gerichtshof ja nicht zuständig ist, wenigstens bei ihren Mitgliedstaaten dafür sorgt, dass sie ein zuverlässiges Menschenrechtsschutzsystem auf nationaler Ebene haben. Dies würde nämlich dazu führen, dass die hemmungslose Überlastung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wenigstens zum Teil vermieden wird. Das betrifft nicht nur die Russen, sondern eben auch - lassen Sie es mich einfach sagen - unsere italienischen Freunde. Hinsichtlich des Internationalen Strafgerichtshofs haben wir auch noch einen Nachholbedarf, und zwar nicht nur bei den neuen Mitgliedstaaten des Europarates. Auch die Tschechische Republik ist noch nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs. Hier müssen wir im Zuge der Gemeinsamkeit und der einheitlichen Menschenrechtsgrundlage dafür sorgen, dass die Verfolgung schlimmster Menschheitsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof wenigstens als gemeinsames ethisches und juristisches Minimum für alle Staaten der Europäischen Union gilt. ({0}) Gut ist es auch, dass die Europäische Union im Bereich der europäischen Nachbarschaftspolitik den Menschenrechten einen größeren Raum einräumen wird. So steht es in dem Bericht. Dass dies in der Praxis ganz schwer durchzuhalten sein wird, wird uns allen sehr deutlich, wenn wir an den Nahen Osten mit seinen unendlich schwierigen Konflikten zwischen Israel und Palästina denken. Wir werden, wie gesagt, im Bereich der Nachbarschaftspolitik darauf achten müssen, dass Menschenrechte nicht nur auf dem Papier bestehen. Wichtig ist, dass es im Zusammenhang mit der UN mit Gemeinsamkeit und Klarheit weitergeht. Ich verweise dabei auf das Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, bei dem es um die Individualbeschwerde geht, die für die Verankerung des Bewusstseins für Menschenrechte bei den Bürgerinnen und Bürgern in dieser Rechts- und Kulturgemeinschaft sehr wichtig ist. Wichtig ist, dass diese Initiative, die auch von deutscher Seite einheitlich und stark unterstützt wird, auf einer gesamteuropäischen Grundlage stärker vorangetrieben werden kann. Lassen Sie mich noch auf die gemeinsame Flüchtlingspolitik eingehen, die auch eine Rolle gespielt hat. Es ist ein Skandal, was sich derzeit bei unseren Freunden in Griechenland abspielt. Das hat zwei Aspekte, und zwar einen europäischen, dem in einer besseren Zusammenarbeit Rechnung getragen werden muss, und einen nationalen, nämlich dass man Flüchtlinge nicht mehr dorthin schicken kann, solange sich die Verhältnisse nicht verbessern. Da wir gut daran tun, nicht nur die Balken im Auge der anderen zu sehen, sondern auch bei uns selber weise ich darauf hin, dass auch bei uns im Rahmen der europäischen Flüchtlingspolitik Verbesserungen zum Beispiel im Umgang mit Flüchtlingen, die Opfer von Folter und traumatisiert sind, notwendig sind. Was den Schutz der Menschenrechte bei der Bekämpfung des Terrorismus angeht - er ist schon angesprochen worden -, können wir eine Menge tun. Dabei geht es um konkrete Maßnahmen, die nicht nur die CIA-Flüge betreffen, sondern zum Beispiel auch die Möglichkeit, sich auf europäischer Ebene gegen die unberechtigte Aufnahme in sogenannte Terrorlisten zu wehren. Damit will ich die Aufzählung von Beispielen beenden. Ich könnte sie zwar fortsetzen, aber ich bin sicher, dass das segensreiche Instrument des Berichts zur Menschenrechtslage dafür sorgen wird, dass wir auch im nächsten Jahr eine Menge zu tun haben werden. Im Bereich der Menschenrechtspolitik der EU gibt es noch viel zu tun. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Kontinent und kein Land auf dieser Welt, wo es keine Menschenrechtsverletzungen gibt. Das gilt auch für die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika und für jedes andere Land. Derjenige aber, der wie der Kollege Leutert in der Debatte so undifferenziert angreift, tut, glaube ich, der Wahrung der Menschenrechte genauso wenig einen Gefallen wie diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Grenzen der Europäischen Union verschweigen. Ich finde, Sie sind unredlich, wenn Sie die Dinge so angehen. Ich finde es auch nicht richtig, dass Sie eine renommierte Organisation wie Amnesty International zum Kronzeugen Ihrer Aussagen machen. Es gibt nämlich einen Unterschied: Die Berichte von Amnesty International sind sehr differenziert und gehen in genauen Abstufungen darauf ein, ob zum Beispiel Folter systematisch oder - was auch schlimm ist - gelegentlich vorkommt und ob sie staatlicherseits angeordnet wird oder durch einzelne Dienststellen erfolgt. Der Unterschied zwischen der Europäischen Union und anderen Ländern ist nicht der, dass es das bei uns nicht gibt. Der Unterschied ist, dass es bei uns nicht staatlich angeordnet wird und dass wir Rechtswege haben, über die sich Menschen beschweren können. Das gilt für Deutschland, für die Europäische Union und - auch wenn Sie es nur schwer ertragen können - auch für die Vereinigten Staaten von Amerika; dort in besonderem Maße. ({0}) In vielen Ländern - nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in den USA - ist derzeit eine vitale Debatte im Gange über die Frage, was im Kampf gegen den Terrorismus erlaubt ist und was nicht. Der amerikanische Präsident hat sein Veto gegen den Beschluss des Senates eingelegt, das Waterboarding bei CIA-Einsätzen zu verbieten. Aber dass diese Diskussion stattfindet und dass es einen obersten Gerichtshof gibt, bei dem Menschen Beschwerde einlegen können, unterscheidet die USA und die Europäische Union von Ländern wie China und zum Teil auch von Ländern wie Russland, Usbekistan und viele andere, die in dieser Debatte schon eine Rolle gespielt haben. Ich bleibe dabei: Ich finde es unredlich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Damit wird den Menschenrechten kein großer Gefallen getan. ({1}) Des Weiteren möchte ich die Fokussierung ansprechen. Der Kollege Beck, der leider nicht mehr da ist, hat gesagt, es würden immer nur die USA genannt. Erika Steinbach hat die Türkei angesprochen. Die Türkei will genauso wie andere Staaten Mitglied der Europäischen Union werden. Ein Mitglied der Europäischen Union hat sich aber gewissen Regeln zu unterwerfen und zum Beispiel die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Dazu gehört die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn in einem Fortschrittsbericht festgestellt wird, dass die Menschenrechte nicht eingehalten werden, dass es in manchen Bereichen sogar Rückschritte bei der Umsetzung gibt, dann darf man das in dieser Debatte in aller Deutlichkeit sagen. Das heißt nicht, dass es in anderen Ländern besser ist. Aber es ist jedenfalls ein Fakt, den wir an dieser Stelle festhalten dürfen und festhalten müssen. Wenn sich die oberste Organisation der Aleviten in Deutschland zur Sache meldet und sagt, Herr Erdogan übersehe bei seiner Kritik an der Situation in Deutschland, dass in der Türkei im Zusammenhang mit den Aleviten sehr viel Schlimmeres passiere, dann ist das keine Kritik der CDU/CSU-Fraktion, sondern die Kritik einer betroffenen Religionsgruppe, die deutlich macht, dass zwar Menschenrechte nicht gegeneinander abgewogen werden können, dass wir aber darüber reden müssen, wie es religiösen Minderheiten zum Beispiel in der Türkei geht. Auch das muss in dieser Debatte deutlich gemacht werden. ({2}) Ich möchte auf den EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage zurückkommen. Ich finde es sehr gut, dass der Kollege Beck ihn offensichtlich von vorne bis hinten durchgelesen und tatsächlich die Stelle gefunden hat, an der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erwähnt wird. Ich finde es ebenfalls bemerkenswert, dass der Europarat als nach meiner Meinung wichtigstes Korrespondenzgremium der Europäischen Union auf einer halben bis dreiviertel Seite abgehandelt wird. Das zeigt, welche Bedeutung die Europäische Union dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Europarat beimisst und welcher Wille zur Zusammenarbeit an der einen oder anderen Stelle herrscht. Wir alle haben uns darüber gesorgt, dass die Einrichtung einer Europäischen Grundrechteagentur vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof zu Problemen führt. Aber, Herr Kollege MüllerSönksen, wir sollten unsere eigenen Erfolge nicht schlechtreden. Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung, dass das Mandat dieser Agentur und ihre personelle Ausstattung deutlich eingeschränkt wurden und dass deutlich gemacht wurde, dass es eine klare Strukturierung der Zusammenarbeit zwischen Europäischem Gerichtshof auf der einen Seite und Agentur auf der anderen Seite geben muss. Die Tatsache, dass der Europarat inzwischen durch Berater gewissen Einfluss darauf nehmen kann, was in der Agentur geschieht, stellt einen Fortschritt dar. Sicherlich haben wir uns noch etwas anderes gewünscht. Aber wir sollten unseren eigenen Erfolg - das ist ein Erfolg des Bundestages; wir haben das auf die Tagesordnung gesetzt - nicht schlechtreden. ({3}) Herr Kollege Beck hat gesagt, es sei ein Problem, dass immer erst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden könne. Ich finde, das hat seinen guten Grund. Viele der 80 000 bis 100 000 unbearbeiteten Fälle, die in Straßburg liegen, sind von vornherein nicht zulassungsfähig, weil sie unbegründet sind oder weil sie nicht dorthin gehören. Das hat etwas damit zu tun, dass es Länder gibt, in denen der nationale Rechtsweg nicht funktioniert; das wissen wir. Bestimmte Mitgliedstaaten des Europarates haben den nationalen Rechtsweg so organisiert, dass er offensichtlich nicht funktioniert und dass die Justiz nicht unabhängig, frei und fair handeln und urteilen kann. Das müssen wir benennen. Aber zuerst muss immer der nationale Rechtsweg eingeschlagen werden; das ist das Primat. Sonst überfordern wir den Europäischen Gerichtshof. Wir haben uns auf unseren Vorschlag im Rechtsausschuss des Europarates darauf geeinigt, dass es für die Länder, in denen der Rechtsweg nicht funktioniert, bestimmte Klauseln geben soll. Aber das muss die Ausnahme und darf nicht die Regel sein. Insgesamt hat die Bundesregierung während ihrer halbjährigen Präsidentschaft unter schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet. Es gibt vieles, was wir verbessern müssen, es gibt vieles, woran wir arbeiten müssen. Aber das ist anderen Präsidentschaften vorbehalten. Ich bin der Überzeugung, dass die Bundesregierung und auch dieser Deutsche Bundestag ihren Beitrag dazu leisten werden. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/8031 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt- nis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen - Drucksache 16/7416 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung und Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren ({1}) - Drucksache 16/7251 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn eine Rechtsmaterie wenige Jahre nach ihrer Verabschiedung schon wieder auf der Tagesordnung steht, dann kann das verschiedene Ursachen haben. Beim Insolvenzrecht ist die Ursache der Zuspruch, den das geltende Recht erfahren hat. Die Länder sehen sich in einer Weise belastet, dass sie uns aufgefordert haben, das Verfahren zu überdenken und Vorschläge zu machen, wie man vor allen Dingen die Durchführung des Verfahrens für die Länder kostengünstiger gestalten kann. Das war der Anlass dafür, dass wir darüber zunächst in einer Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder nachgedacht haben. Dann aber haben wir einen eigenen Vorschlag gemacht, um den Gedanken des Sozialstaats noch mehr zu betonen. Viele Menschen nutzen die Verbraucherinsolvenz in diesem Lande, und auch die Restschuldbefreiung wird in einem hohen Maße nachgefragt. Wir würden uns wünschen, es wären weniger Menschen, die dieses Angebot nachfragen. Im vergangenen Jahr waren es rund 105 000. Nun kann man sagen, dass es schlecht ist, dass es so viele sind. Die gute Nachricht aber ist, dass unser Rechtssystem überhaupt verschuldeten Individualpersonen eine Möglichkeit gibt, sich wieder zu entschulden. Ich glaube, dass das eine wirklich gute Möglichkeit für jeden ist, noch einmal von vorne anzufangen und den Neustart zu wagen. Die Praxis zeigt nun allerdings, dass das bisherige Verfahren, das generell bei allen gilt, egal ob sie Geld in der Zukunft zu erwarten haben oder nicht, doch sehr verwaltungsaufwendig ist, insbesondere wenn ein Schuldner mittellos ist und man weiß, dass es aller Voraussicht nach keine signifikanten Einnahmen in den nächsten Jahren geben wird. Dann macht die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in der jetzigen Struktur - das muss man dazu sagen - keinen Sinn. Es ist nämlich jetzt so, dass es öffentliche Bekanntmachungen gibt, dass es Zustellungen gibt, dass Termine einzuhalten sind, dass Termine nachgehalten werden müssen, dass der Treuhänder bestellt wird und dass man regelmäßig nachforschen muss, ob Geld eingegangen ist oder nicht. All das verursacht Kosten, die man sparen kann, weil, wie gesagt, ohnehin nicht davon ausgegangen werden kann, dass Geld in signifikanter Höhe eingehen wird. Das heißt also, die Justiz könnte das Geld, das sie im Moment ausgibt, um das Verfahren zu kontrollieren und zu gestalten, sehr viel sinnvoller verwenden, zum Beispiel indem sie mit den Sozialministerien der Länder gemeinsam die Schuldnerberatungsstellen besser ausstattet und finanziert, ({0}) um Prävention zu ermöglichen; denn es ist so wie in anderen Verfahren auch: Prävention ist immer besser, als hinterher die Folgen bereinigen zu müssen. Wir schlagen mit unserer Reform vor, dass wir künftig auf ein Insolvenzverfahren verzichten, wenn die Masse nicht einmal ausreicht, um die Kosten dieses Insolvenzverfahrens zu decken. In solchen Fällen soll es künftig aus dem Stadium des Eröffnungsverfahrens direkt in das Restschuldbefreiungsverfahren gehen. Wir wollen in diesen Fällen einen vorläufigen Treuhänder einsetzen. Ob das in jedem Fall zwingend erfolgen muss oder ob andere Varianten sinnvoller sind, werden wir im Laufe des Verfahrens zu diskutieren haben. ({1}) Auf alle Fälle, Herr Manzewski, kann ein vorläufiger Treuhänder den Schuldner unterstützen. Das dient natürlich auch dem Interesse der Gläubiger. Denn die Gläubiger wollen ja Gewissheit über die wirtschaftliche Situation des Schuldners haben. Dabei kann ein vorläufiger Treuhänder sehr hilfreich sein. Der Stärkung der Gläubigerposition dient auch der zweite Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs. Ich will ganz offen sagen, dass wir die öffentlich-rechtlichen Gläubiger im Blick haben, also die Sozialversicherungsträger und die Finanzämter. Sie treffen heute bisweilen hohe Forderungsausfälle, unter denen letztlich alle Steuerzahler und Versicherten zu leiden haben. Allerdings - darauf lege ich aus gegebenem Anlass Wert - sieht dieser Gesetzentwurf keine Sonderregelung für eine bestimmte Gläubigergruppe vor; denn die neuen Vorschriften sollen allen Gläubigern zugute kommen. Wir beachten also hierbei den Grundsatz der Gleichbehandlung ganz genau. Die Position der Gläubiger im Verfahren wird verbessert. Ich denke, damit ist dann auch die alte und leidige Debatte um eine Einschränkung der Insolvenzanfechtung erledigt. Der dritte Regelungsgegenstand, den wir vorsehen, ist die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen. Nach der Insolvenzordnung ist das bislang nicht geregelt. Das kann für denjenigen, der eine Lizenz hat, schwerwiegende Folgen haben. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen erwirbt eine Patentlizenz und entwickelt auf Grundlage dieser Lizenz mit einem großen finanziellen Aufwand erfolgreiche Produkte. Dann wird aber der Lizenzgeber insolvent, und der Verwalter kündigt den Lizenzvertrag. Nun passiert das Gleiche wie bei einem Bauklötzchenturm: Wenn auf einmal unten ein Stein herausgezogen wird, bricht der ganze Turm zusammen. Das ist eine schwierige Situation. Deswegen wollen wir die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen einführen, eine Regelung, die es in den Vereinigten Staaten und Japan längst gibt. ({2}) Ich meine, auch mit Blick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sollte das ein Gesichtspunkt sein. Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen den verschiedenen Interessen. Ich weiß natürlich, dass keineswegs alle der Auffassung sind, dass man eine solche Regelung aufnehmen sollte. Meine Damen und Herren, wir werden in den Beratungen, die dem Hause bevorstehen, auch den Gesetzent14968 wurf des Bundesrates anschauen, der in diesem Zusammenhang vorgelegt wurde. Auch er enthält manches Bedenkenswerte. Ich denke beispielsweise an die Idee eines vorläufigen Gläubigerausschusses. Mit diesem vorläufigen Gläubigerausschuss hängt auch die Frage zusammen, wie viel Einfluss die Gläubiger auf die Auswahl des Insolvenzverwalters bekommen sollen. Eine falsche Personalauswahl kann erhebliche Folgen haben. Deswegen ist die Überlegung richtig, den Gläubigern dabei mehr Kompetenzen und Mitsprache einzuräumen als bisher. Das ist allerdings erst der Anfang einer größeren Debatte. Ich meine, dass wir diese Debatte im Sinne einer vernünftigen Weiterentwicklung des Insolvenzrechtes führen sollten. Das ist ein Rechtsgebiet, auf dem wir immer einmal wieder Veränderungen vornehmen müssen. Ich danke Ihnen bereits im Vorgriff auf die Debatte; denn die Beratungen zu diesem Gesetzentwurf werden sicherlich wieder mit der hinreichenden Sachkunde des Hauses, aber auch unter Beiziehung auswärtiger Sachverständiger geführt werden können. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich erteile der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute erneut in kurzer Folge über das Insolvenzrecht beraten, dann hat das zum einen die von Ihnen, Frau Ministerin, dargelegten Gründe. Es ist notwendig, sich mit der Ausgestaltung gewisser Verfahren zu befassen. Aber zu Beginn dieser Debatte muss einfach noch einmal ein Hinweis auf einen Vorgang im Deutschen Bundestag im November letzten Jahres gegeben werden. ({0}) Wie wir alle uns erinnern, fand da die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. Der Rechtsausschuss war nicht beteiligt. ({1}) Es wurde genau diejenige Regelung beschlossen, die im Rechtsausschuss alle Fraktionen einvernehmlich abgelehnt hatten. Das war ein Vorgehen im Parlament, das gerade uns als Rechtspolitiker nicht so gefreut hat. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und den anstehenden Beratungen besteht jetzt die Gelegenheit, noch einmal zu überlegen, inwieweit wir zu Korrekturen kommen können, natürlich immer unter Beteiligung aller, die da gerne mitreden möchten. Das, was hier im November geschehen ist, war kein gelungener Vorgang. Jetzt, da wir uns mit dieser Vorlage und mit insolvenzrechtlichen Themen befassen, haben wir es mit einem erfreulicheren Vorgang zu tun. Ich darf für die FDP-Fraktion sagen, dass wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf vom Grundsatz her viele positive Ansätze sehen. Das beginnt mit dem Entschuldungsverfahren. Vielleicht ist es Ihnen auch so ergangen, dass Sie - nach dem, was man auch aus den Ländern gehört hatte - Befürchtungen hatten, dass möglicherweise fiskalpolitische Interessen und Überlegungen der Länder, die selbstverständlich berechtigt sind, hier überwiegen und dass damit rechtsstaatliche Standards Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten. Jetzt liegt ein Entwurf vor, der eine systemimmanente insolvenzrechtliche Entschuldungslösung klar erkennen lässt. Wir begrüßen nach diesen Debatten die Richtung, die eingeschlagen wird. Frau Ministerin, Sie haben zu Recht gesagt: In den Beratungen im Bundestag wird sich zeigen, ob das, was jetzt vorliegt, auch so beschlossen wird. Denn die aus dem Hut gezauberte Figur des vorläufigen Treuhänders bedarf mit Sicherheit noch einmal der genauen Betrachtung. Diese Figur ist ja ein Supermensch. Was er alles machen soll: nicht nur Formulare ausfüllen, sondern auch Anfechtungstatbestände prüfen, Barmittelsichtungen durchführen, Kosten prüfen, Berichte erstatten usw., und das für eine Grundvergütung von 250 Euro. Ob das alles der bisherigen Rechtsprechung entspricht und ob es Bestand haben wird, müssen wir - zumindest was die Vergütungsregelung für Treuhänder angeht - mit Sicherheit prüfen. Dazu gibt es schon eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Es ist auch zu hinterfragen, ob ein obligatorischer vorläufiger Treuhänder auch der endgültig bestellte Treuhänder sein soll. Wir sollten in Ruhe auch noch einmal der Frage nachgehen, ob das mit der Unabhängigkeit des Verwalters in Einklang zu bringen ist. ({2}) Eine Kostenbeteiligung des Schuldners in maßvollem Umfang halten wir sehr wohl für angebracht. Denn wir sind schon der Meinung, dass man dem Schuldner vor Augen führen soll, dass er das Ergebnis einer Entschuldung - das ist schon eine Rechtswohltat, die wir auch wollen - nicht zum Nulltarif bekommt. Allerdings erscheint es uns sinnvoll, zu prüfen, ob man die Kostenbeteiligung an der Pfändungsfreigrenze oder an der niedrigeren Grenze der Beratungs- bzw. Prozesskostenhilfeberechtigung festmacht. Auch das ist ein Gegenstand für die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss zu einigen Punkten, die wir alle, wie ich glaube, beantragen und durchführen wollen. Der zweite Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft die Stärkung der Gläubigerrechte; Frau Ministerin, Sie haben das angeführt. Jetzt möchte ich einen Bogen zu dem schlagen, was ich ganz zu Anfang bemerkt habe. Hier geht es natürlich wieder um Finanzverwaltung und Sozialkassen. Ich kann mich gut an die Debatten erinnern, die wir geführt haben, als uns schon einmal ein entsprechender Entwurf vorlag. Es ging darum, wie es mit diesen so erheblichen Verlusten tatsächlich ist, die da erlitten werden. Wir hatten im Rechtsausschuss zu Recht eine etwas vorsichtigere Bewertung und Betrachtungsweise, als andere sie bei diesem Punkt an den Tag legen. Das, was jetzt vorliegt, wird doch eher als bei früheren Versuchen dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung gerecht. Wir müssen jetzt aber sehr wohl sehen, wie das zu dem passt, was im Vierten Buch Sozialgesetzbuch beschlossen worden ist und wie weit wir hier möglicherweise zu Korrekturen kommen können. Kurz noch zum dritten Regelungskomplex, der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen. Das ist eine notwendige Regelung. Insofern teilen wir die Einschätzung, die mit der Vorlage dieses Entwurfs zum Ausdruck kommt. So wie die Regelung jetzt angelegt ist, kann sie grundsätzlich geeignet sein, denke ich, einen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Beteiligten herbeizuführen. Ob man sie noch praxisgerechter formulieren kann - wir alle haben schon entsprechende Vorschläge vonseiten derer bekommen, die damit umzugehen haben -, werden wir mit Sicherheit noch in Ruhe zu beraten haben. Zu der Überlegung: „Soll man das alles im materiellen Recht verankern?“ muss ich sagen: Das wäre natürlich der ganz große Wurf. Aber mit den Regelungen, gerade auch des neuen § 108 a Insolvenzordnung, ist hier der richtige Ansatz gewählt worden. Ein letztes Wort zur Bundesratsinitiative, die mit zur Beratung ansteht: Dass der Grundansatz nachvollziehbar ist, sage ich hier deutlich. Auf keinen Fall dürfen wir aber in die Richtung gehen - wir haben uns ja gerade mit dem Normenkontrollrat befasst -, durch Klein-Klein neue bürokratische Hemmnisse aufzubauen. Eine Pflichtversicherung muss nicht immer der richtige Schritt sein. Was das für die Versicherungswirtschaft und überhaupt an Kostenbelastung bedeutet, bedarf bestimmt noch einer intensiven Prüfung. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Gestatten Sie mir, mit einem negativen Faktum anzufangen. Wir haben - nach einer Studie des Unternehmens Creditreform - im letzten Jahr einen traurigen Rekord verzeichnen müssen, nämlich den Rekord von 109 000 Verbraucherinsolvenzen. Die Schallmauer von 100 000 wurde zum ersten Mal durchbrochen - trotz guter Konjunkturdaten in unserem Land. Obwohl die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im gleichen Zeitraum um etwa 10 Prozent zurückgegangen ist, war bei den Verbraucherinsolvenzen ein Anstieg um 18 Prozent zu verzeichnen. Wir erleben in diesen Monaten also: Verbraucherinsolvenzen sind zunehmend ein Massenphänomen. Die Einführung des Instruments der Verbraucherinsolvenz war seinerzeit richtig. Bevor es dieses Instrument gab, traf Überschuldung den Privatmann mitunter härter als eine Freiheitsstrafe. Während ein Straftäter nach Verbüßung einer Strafhaft von vorn beginnen kann, war mancher Privatschuldner de facto lebenslang in seine Schulden verstrickt. An sich ist es eine gute Nachricht, wenn ein neues Rechtsinstitut in so hohem Maße angenommen wird. Von einem Erfolg oder einem Erfolgsmodell will ich allerdings insofern nicht sprechen, als sich hinter jeder einzelnen Verbraucherinsolvenz eine Notsituation, ein Schicksal verbirgt. Hier meint ein Privatmann oder eine Privatfrau: Es gibt keinen anderen Ausweg mehr; ich muss in die Verbraucherinsolvenz gehen. Diese Verfahren waren in den 90er-Jahren eigentlich für Privatschuldner entwickelt worden, bei denen - davon ging man aus - noch etwas zu holen ist und verteilt werden kann. Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass das in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zutrifft. Die Hauptschuldnergruppe ist die der sogenannten völlig mittellosen Schuldner. Das sind immerhin gut 80 Prozent. Dabei sind die durchschnittlichen Verfahrenskosten - das wurde eben schon dargestellt - immens. Sie liegen bei etwa 2 300 Euro - und das für ein Verfahren, bei dem am Ende doch so gut wie keine Tilgung oder gar keine Tilgung von Schulden steht. Diese Geldverschwendung wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unterbinden. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird deshalb ein vereinfachtes Entschuldungsverfahren für die mittellosen Schuldner vorgeschlagen; das geltende Verfahren nach der Insolvenzordnung wird fortentwickelt, einfacher und billiger gemacht. So weit, so gut der Ansatz der Bundesregierung, dem wir ausdrücklich beipflichten. Bei einigen konkreten Vorschlägen - das ist sicherlich nicht überraschend - müssen wir aber darauf achten, dass wir nicht alte Probleme dadurch lösen, dass wir neue Schwierigkeiten schaffen. Ich will drei Beispiele für diesen Bereich der Verbraucherinsolvenz nennen: Erstens. Problematisch ist insbesondere - das hat die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger schon angesprochen - das Instrument des vorläufigen Treuhänders, ein ganz neues Element im Entschuldungsverfahren. Die Figur des Treuhänders ist deswegen problematisch, weil nicht ganz klar ist, welche Aufgaben er im Einzelnen abdecken soll. Er soll beim Ausfüllen der Formulare helfen - das haben Sie angesprochen -; er soll bei der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung helfen und vor allem über deren Folgen aufklären; er soll prüfen, ob die Verfahrenskosten gedeckt werden können; er soll Barmittel, die vielleicht noch vorhanden sind, sichern. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Aufgabenbereich. Die Liste ließe sich fortsetzen. Brauchen wir also einen vorläufigen Treuhänder mit so einem breiten Aufgabenspektrum? In etwa 80 Prozent der Verfahren brauchen wir ihn garantiert nicht. Dieser Wert entspricht in etwa der Zahl der Fälle, wo heute schon bei den Gerichten vollständige Unterlagen eingehen. Das heißt, in diesen Fällen kann der Richter heute schon ohne Hilfe Dritter anhand der Unterlagen ent14970 scheiden, ob der Schuldner zahlungsunfähig ist und ob er die Verfahrenskosten aufbringen kann. Die Treuhändergebühren würden in vier von fünf Fällen also unnötige Kosten für die Staatskasse verursachen. Auch in den übrigen Fällen gibt es eine Alternative zu dem vorläufigen Treuhänder, nämlich den guten alten Sachverständigen. Ich bin daher froh, dass sich die Bundesregierung hier als lernfähig und offen erwiesen hat und in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates die Pflicht zur Bestellung eines vorläufigen Treuhänders ausdrücklich zur Disposition gestellt hat. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, auf dessen Grundlage wir im Gesetzgebungsverfahren ins Gespräch kommen können. Ich will einen zweiten Punkt nennen: Bereits im Vorfeld dieser Debatte ist viel darüber diskutiert worden, ob auch dem mittellosen Schuldner ein eigener Beitrag abverlangt werden kann, durch den dann zumindest die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten des Verfahrens teilweise gedeckt werden können. Ich meine, man kann diesen Beitrag abverlangen, man muss es auch. Sicherlich - das sollte man nicht verniedlichen - wird es manchen Schuldner sehr schmerzen, auch nur kleinste Beiträge beizusteuern. ({0}) Dennoch sollten wir das Signal geben, dass es keine Entschuldung zum Nulltarif gibt. Dem Schuldner sollte nämlich schon vor Augen gehalten werden, dass für den Ausweg aus seiner Misere, den ihm unsere Rechtsordnung ermöglicht, andere, nämlich die Gläubiger, Verzicht üben müssen. ({1}) Dritte müssen verzichten, damit er in den Genuss der Befreiung von Schulden kommen kann. Eine bessere Lebensperspektive für den Schuldner wird erkauft durch Verluste bei Dritten. Im Gegenzug muss dann auch der Schuldner, wie ich finde, einen zumutbaren Beitrag leisten. Für die Union gilt: Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit im Insolvenzverfahren. ({2}) Ein dritter Punkt: die Wohlverhaltensperiode. Im gemeinsamen Entwurf der Bund-Länder-Kommission - das wissen Sie, Frau Ministerin - war von einer Wohlverhaltensperiode von acht Jahren bei mittellosen Schuldnern die Rede. Ich empfinde, ohne mich da festlegen zu wollen, sehr viel Sympathie für diesen Vorschlag. Schließlich ist einem Gläubiger nur schwer verständlich zu machen, dass ein Schuldner nach heutigem Recht immer die gleichen sechs Jahre auf den Schuldenerlass warten muss, egal, ob er noch Vermögen hat, das eben verwertet werden kann, oder ob er völlig mittellos ist und rein gar nichts von seinen Schulden abtragen kann. Für die Gläubiger macht das sehr wohl einen Unterschied. Als Rechtspolitiker sind wir berufen, auch die Interessen der Gläubiger zu beachten. Schließlich ist eine solche schematische Gleichbehandlung letztlich Gift für die Zahlungsmoral und auch für den Gedanken der Eigenverantwortung in unserem Lande. Meine sehr verehrten Damen und Herren, war in der Urfassung im Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs nur noch von der „Entschuldung mittelloser Personen“ die Rede, ist nun noch zusätzlich das Stichwort „Insolvenzfestigkeit von Lizenzen“ hinzugekommen. Endlich findet damit eine alte Unionsforderung Aufnahme in das Insolvenzrecht. ({3}) Wir erinnern uns: Vor etwa anderthalb Jahren, bei der letzten Novellierung des Urheberrechtes, wollten wir das schon einfügen und durchsetzen. Wir hätten die Novelle zum damaligen Zeitpunkt sogar fast scheitern lassen bzw. aufgehalten. Sie, Frau Ministerin, haben aber damals zugesichert, zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Das haben Sie getan. Dafür bedanke ich mich. Damit ist unsere Forderung von damals erfüllt worden, und das Ministerium hat unser Vertrauen darauf, dass es bei der nächsten Gelegenheit die Insolvenzfestigkeit der Lizenzen vorschlagen würde, nicht enttäuscht. Herzlichen Dank dafür! ({4}) Warum ist das so wichtig? Die bisherige Rechtslage ist für den Lizenznehmer riskant. Geht der Lizenzgeber in die Insolvenz, so hat nach heutigem Recht der Insolvenzverwalter ein uneingeschränktes Wahlrecht; es liegt also in seiner Hand, ob er den Lizenzvertrag weiterhin erfüllt oder ob er ihn einfach kündigt. Dieses Wahlrecht ist auch deshalb hochproblematisch, weil das Interesse des Insolvenzverwalters qua Amt gerade nicht unbedingt auf die Erfüllung des Lizenzvertrages gerichtet ist, sondern auf bestmögliche Verwertung des Schuldnervermögens. Dies kann für den Lizenznehmer fatale Folgen haben. Ich will hier ein praktisches Beispiel nennen. Nehmen wir die Pharmaindustrie. Kaum ein Medikament kann heute noch entwickelt werden, ohne dass für seine Wirkstoffe erst einmal Lizenzen eingekauft werden müssen, auf deren Grundlage man dann weiterforschen muss, um ein Medikament auf den Markt zu bringen. Der Weg zur Marktreife ist ein steiniger. Im Schnitt dauert er zwölf Jahre und kostet über 500 Millionen Euro. Stellen wir uns also vor, die Entwicklung ist in vollem Gange, und im zehnten Jahr geht einer der Lizenzgeber - das sind ja in der Regel mehrere - in die Insolvenz, und der Lizenzverwalter kündigt diesen Lizenzvertrag. Aufgrund der Schäden, die den Entwicklern zum Beispiel von Medikamenten in gigantischer Höhe drohen können, haben andere Forschernationen, so die USA und Japan, längst eine Insolvenzfestigkeit der Patentlizenzen eingeführt. Deutschland tut gut daran, diesem Beispiel nun zu folgen. Diese Vorschrift ist wichtig für den Innovationsstandort Deutschland. ({5}) Gerade deshalb - diese Anmerkung gestatten Sie mir müssen wir aufpassen, dass wir bei der genauen Ausgestaltung in § 108 a diese neue Rechtssicherheit nicht gleich wieder verwässern. Zu reden sein wird hier noch über den Satz 3. Wenn der Insolvenzverwalter hier einen Nachschlag vom Lizenznehmer fordern kann, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen vereinbarter und marktgerechter Vergütung besteht, dann droht das zu einer Einladung an den Insolvenzverwalter zu werden, im Zweifel immer von einem Missverhältnis auszugehen und die Hand aufzuhalten. Über die Ausgestaltung dieser Vorschrift werden wir uns noch unterhalten. Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, und zwar die Behandlung insbesondere der öffentlich-rechtlichen Gläubiger. Es ist ja eine nicht enden wollende Geschichte, bei der wir in der Rechtspolitik, Exekutive und Legislative, eigentlich in relativ großer Eintracht gegen Begehrlichkeiten der Fiskalpolitik und auch der Sozialpolitik recht gut zusammengestanden haben. Mit den jetzt vorgeschlagenen Änderungen in § 14 und § 55 der Insolvenzordnung kommen wir - nicht nur, aber de facto vor allem - den öffentlich-rechtlichen Gläubigern, dem Fiskus und der Sozialversicherung, entgegen. Allerdings tun wir das - auch da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau Ministerin - in einer Form, die die Systematik der Insolvenzordnung beibehält, also nicht durchbricht. Wir haben uns also gegenüber den unmoralischen Angeboten, die uns seitens der Finanz- und der Sozialpolitik gemacht worden sind, verschlossen gezeigt. Und wir führen eine Änderung ein, die innerhalb des jetzigen Systems der Insolvenzordnung bleibt. Insbesondere die Änderung in § 14 der Insolvenzordnung dürfte zukünftig die - speziell klingende, aber sehr praktische - Problematik der Stapelanträge zum Verschwinden bringen. Was verbirgt sich dahinter? Vor allem die Sozialversicherungen sind heute oft gezwungen, einen Insolvenzantrag zurückzunehmen, weil ihre Forderungen im letzten Moment noch beglichen werden. Das heißt, der Schuldner hat die letzten Euros zusammengekratzt, um sich einen Moment lang Luft zu verschaffen. Allerdings wird in der Regel schon im nächsten Quartal mangels Zahlung der nächste Antrag fällig. Die Änderung gibt den Insolvenzgerichten nun die Möglichkeit, trotz Begleichung einer Forderung den Antrag aufrechtzuerhalten und zu prüfen, ob es sich nur um eine kurzfristige Zahlungsschwierigkeit handelt - dann braucht man nicht in die Insolvenz zu gehen - oder um eine strukturelle Krise, die schon alsbald wieder zu einem neuen Antrag führen wird. Wir tragen gerade damit einem ganz wichtigen Grundgedanken des heutigen Insolvenzrechts Rechnung: Die Insolvenz soll nämlich als Chance der Restrukturierung eines Unternehmens angesehen werden. Deswegen bringt es überhaupt nichts, ein Insolvenzverfahren um jeden Preis hinauszuzögern. Diese Erkenntnis müssen wir, glaube ich, noch in den Köpfen vieler Kollegen aus anderen Ausschüssen verankern. Im Gegenteil, die Chancen für eine Rettung in neuer Struktur nehmen für jedes Unternehmen zu, wenn der Antrag frühzeitig erfolgt und das Insolvenzverfahren zügig betrieben wird. Deswegen ist die Möglichkeit der Insolvenzrichter, auch nach Zahlung in letzter Minute ein Insolvenzverfahren einzuleiten, im Interesse nicht nur der Gläubiger, sondern auch des Unternehmers und vor allem seiner Mitarbeiter. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch eine Anmerkung dazu machen, welche Zahlungsausfälle den öffentlich-rechtlichen Gläubigern denn nun wirklich drohen. Fiskus und Parafiskus malten hier in unseren Besprechungen in den letzten Monaten geradezu apokalyptische Szenarien an die Wand. Alleine die Sozialversicherungsträger sprachen in der Begründung des neuen Gesetzes zum Pfändungsschutz von mehreren 100 Millionen Euro Zahlungsausfällen. Das scheint mir allerdings deutlich übertrieben. Ich will eine Statistik des Instituts für Freie Berufe aus dem Jahr 2005 dagegenhalten: Hier spricht man von insgesamt knapp 80 Millionen Euro. Es kommt allerdings noch besser: Diesen 80 Millionen Euro Miese stehen noch gezahlte Beiträge und Abgaben nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Höhe von geschätzten 134 Millionen Euro gegenüber. Summa summarum ergibt sich nach dieser Rechnung also ein Plus von knapp 55 Millionen Euro. Die Befürchtungen von Fiskus und Parafiskus, insbesondere des Sozialministeriums, scheinen mir also doch stark übertrieben zu sein. Alles in allem ist es ein gelungener Gesetzentwurf, der in Teilen sicherlich noch verbesserungsbedürftig ist, weshalb es richtig ist, dass wir - das ist jedenfalls mein Wunsch - im Rechtsausschuss eine Anhörung durchführen werden. Auch der parallel beratene Gesetzentwurf des Bundesrates gehört in diese Anhörung. Mit ihm gibt es etwas weniger Schwierigkeiten. Er berührt aber mit der Aufsicht über die Insolvenzverwalter das wichtige Thema der Qualität der Insolvenzverwaltung. Wir müssen erreichen, dass wichtige Insolvenzen nicht ins Ausland abwandern, dass, wenn es um die Restrukturierung größerer Unternehmen geht, nach deutschem Recht verhandelt wird und dass man nicht, wie es heute teilweise passiert, ins ausländische Recht flieht. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir im Rahmen der Anhörung auch das leidige Thema der Leasingverträge und ihrer Behandlung im Insolvenzfalle aus der letzten Novelle noch einmal aufgreifen und die entsprechenden Erfahrungen abfragen. Denn hier sind offenbar erhebliche Auswirkungen in der Praxis zu verzeichnen. Ich komme zu meiner Schlussbemerkung. Das Insolvenzrecht erweckt den Eindruck einer Dauerbaustelle. Das hängt auch damit zusammen, dass es mittlerweile fast zehn Jahre alt ist und Regelungsdefizite in der Praxis sichtbar werden. Es ist eines der jüngsten Kodifikationsprojekte des deutschen Rechtsstaates. Alles in allem ist es eine Erfolgsgeschichte, die beweist, dass Kodifikationen auch heute noch möglich sind. Wir brauchen uns nicht immer auf Detailgesetze zu beschränken, sondern wir sind durchaus in der Lage, moderne Kodifikationsprojekte auf den Weg zu bringen. Im Insolvenzrecht gibt es viel Licht und ein wenig Schatten. Wir werden gemeinsam im Rechtsausschuss für noch mehr Licht sorgen. Ich bedanke mich beim Jus14972 tizministerium und auch beim Bundesrat und freue mich auf die Beratung. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu begrüßen ist, dass im vorgelegten Entwurf einem Ansatz der Bund-Länder-Arbeitsgruppe - das wurde ja schon gesagt - nicht gefolgt wird, wonach die Restschuldbefreiung weitgehend aus dem Insolvenzrecht herausgelöst werden sollte. Denn es ist allein das Insolvenzrecht mit seinem umfassenden Vollstreckungsschutz für den Schuldner und seiner Gesamtwirkung gegenüber allen Gläubigern, das geeignet ist, die Schuldbefreiung allseits interessengerecht zu behandeln. Über sechs lange Jahre ist der Schuldner auf einen umfassenden Vollstreckungsschutz angewiesen, den er nur in einem geordneten Verfahren unter Mithilfe eines Treuhändlers erhält. Außerdem muss das lohnenswerte Ergebnis einer durchgehaltenen Entschuldung dann auch gegenüber allen vorhandenen Gläubigern wirken. In dieser Perspektive liegt die Motivation für den Schuldner zum Durchhalten. In der insolvenzrechtlichen Ausgestaltung des Verfahrens und in dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung liegen Gründe für die Akzeptanz der Entschuldung durch die Gläubiger. Denn so muss niemand befürchten, dass er zu kurz oder zu spät kommt. In diesen wichtigen Punkten macht der vorgelegte Entwurf keine Fehler. Die Verschlimmbesserungen liegen jedoch an anderer Stelle. Die Entwurfsverfasser sagen, es ginge ihnen darum, die Entschuldung mittelloser Personen von einem ebenso nutzlosen wie kostenaufwendigen Insolvenzverfahren zu befreien. Dieses Ziel teilen wir; darum geht es uns ebenfalls. Nötig war dazu lediglich zweierlei: Zum einen musste ermöglicht werden, dass die Vermögensverhältnisse im Antragsverfahren durch das Insolvenzgericht sorgsam geprüft werden können. Zum anderen musste mittellosen Personen auch ohne Insolvenzverfahren eine Entschuldung im Rahmen des Insolvenzrechts ermöglicht werden. Damit erschöpft sich aber das Notwendige im Entwurf, und es beginnt das völlig Unnötige und auch sozial Ungerechte. Sozial ungerecht ist es, vom mittellosen Schuldner zu verlangen, er möge Mittel aufbringen, um das Entschuldungsverfahren überhaupt in Gang zu setzen und es in Gang zu halten. Für die Verfahrenseröffnung schuldet er aus der leeren Tasche 25 Euro. Jährlich schuldet er dann aus derselben leeren Tasche 100 Euro Mindestbeteiligung für die Arbeit des Treuhändlers. Sozial ungerecht ist es darüber hinaus, die anwaltliche Begleitung von mittellosen Schuldnern in das weite Ermessen des Gerichts zu stellen und darüber hinaus Prozesskostenhilfe auszuschließen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu lakonisch-unbarmherzig: Das bedeutet, dass der Schuldner in der Regel seinen Prozessbevollmächtigten selbst bezahlen muss. Und das bei einem Mittellosen! Es hat schon etwas Zwanghaftes, dass es dieser Regierung einfach nicht gelingen will, irgendein Justizreförmchen vorzulegen, ohne gleichzeitig für neue soziale Härten zu sorgen. Es fehlen dieser Regierung das soziale Herz und das soziale Gewissen. ({0}) Das Justizministerium scheint der Auffassung zu sein, seine Arbeit erst dann richtig getan zu haben, wenn es gleichzeitig den Sozialstaat und den Justizgewährungsanspruch lädiert. Ein Mensch, der in seinem Leben an dem Punkt ist, dass er eine Restschuldbefreiung anstrebt, ist oft froh, wenn er noch das Porto für die Gerichtspost und die Kosten für die Bahnfahrt zum Gerichtsstandort aufbringen kann. ({1}) Da gibt es keine übersehenen Eckchen in der Brieftasche mit 25 Euro für alle Fälle. Da gibt es auch keine 100 Euro jährlich, die über das Jahr nicht schon dringend gebraucht werden. Ihr Zuruf macht es deutlich: Können Sie sich einen solchen Menschen und eine solche Situation überhaupt vorstellen? Für die Linke sage ich Ihnen: Wenn man überhaupt eine Kostenbeteiligung will, dann hat sich diese Kostenbeteiligung zwingend an den Pfändungsschutzvorschriften zu orientieren. Ich möchte Ihnen empfehlen, nicht nur Ihr soziales Gewissen, sondern auch Ihren juristischen Ehrgeiz zu beleben, und verweise zum Beispiel auf die einschlägigen Kommentierungen zu den §§ 811 ff. der Zivilprozessordnung. Bei Zöller könnten Sie zum Beispiel nachlesen: Konkretisiert sind mit diesem Schutz Artikel 1 Grundgesetz - die Menschenwürde … und Artikel 2 Grundgesetz … Verwirklicht ist damit der Schutzgedanke des Sozialstaatsprinzips. Bei Musielak, in einem anderen Kommentar zur Zivilprozessordnung, heißt es: Deshalb bewahren die Pfändungsverbote … den Schuldner davor, durch staatliche Zwangsvollstreckung das zu verlieren, was er zu einer „angemessenen, bescheidenen Lebens- und Haushaltsführung“ benötigt. Nun besehen Sie sich einmal die Logik Ihres Entwurfes: Dort soll der mittellose Schuldner mit Mitteln, die der Pfändung entzogen wären, für ein Verfahren mitbezahlen, das unter anderem bezweckt, ebendiesen Pfändungsschutz herbeizuführen. Das ist nicht nur widersinnig und sozialstaatswidrig, das ist für mich auch schlichtweg unanständig. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben letzte Woche vom Statistischen Bundesamt die Insolvenzzahlen übermittelt bekommen; dies ist schon angesprochen worden. Ich habe sie zwar etwas anders gelesen; aber wir brauchen uns über diese Zahlen nicht zu streiten. Denn in der Tendenz ergibt sich folgendes Bild: Bei den Unternehmensinsolvenzen haben wir einen Rückgang von ungefähr 15 Prozent zu verzeichnen; das ist sehr erfreulich. Aber auch in der Phase eines wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es von 2006 auf 2007 einen Anstieg der Zahl der Verbraucherinsolvenzen. Ich habe in den Unterlagen eine Zahl von 9 Prozent gelesen. Wir können noch verifizieren, welche Zahl stimmt. Das bedeutet aber, dass wir in der Pflicht sind, uns insbesondere mit der Verbraucherinsolvenz weiter zu beschäftigen. Ich will es an dieser Stelle klar sagen: Auf der Grundlage der Reform von 1994, die wir erreicht haben und die wir eigentlich nicht konterkarieren sollten, sollten wir schauen, dass wir Änderungen vornehmen, die den Betroffenen auf beiden Seiten - auf der Schuldner- und auf der Gläubigerseite - das Leben erleichtern, und sollten nicht Geld in einem unnötigen, hochkomplizierten Verfahren verschleudern. Insofern sind in den Gesetzentwürfen, die wir jetzt vorliegen haben, gute Elemente enthalten, die wir begrüßen. In der Kürze der Zeit will ich gleich auf die kritischen Punkte zu sprechen kommen. Über den vorläufigen Treuhänder ist bereits gesprochen worden. Ich teile die Kritik, zumindest die Kritik daran, dass eine Notwendigkeit besteht, ihn in allen Fällen einzusetzen. Das ist ein bürokratischer Vorgang, den ich nicht begreifen kann. In der Beratungshilfe wird ein Betrag von 60 Euro für den Anwalt festgesetzt. Dies ist eine Herabsetzung der Gebühren. Ich begreife überhaupt nicht, warum das sein soll. Ich kenne kaum einen Anwalt, der bereit wäre, dafür tätig zu werden. Das muss verbessert werden. Hinsichtlich der Frage der Kostenbeteiligung völlig Mittelloser an dem Insolvenzverfahren will ich nicht die große Münze werfen, die Sie, Herr Kollege Nešković, hier geworfen haben. ({0}) Ich will nur sagen: Ich halte das, was Sie, Herr Kollege Krings, hier positiv bewerten, für ein kleinliches Erziehungsmoment. Ich erinnere Sie an die gestrige Sitzung des Rechtsausschusses. Ein Kollege aus Ihrer Fraktion hat darin mit Verve zum Ausdruck gebracht, dass wir uns davor hüten sollten, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die der Volkserziehung dienen. Sie wollen 25 Euro von völlig Mittellosen; das ist eine Kleinigkeit, ({1}) die für das Verfahren überhaupt keine Vorzüge mit sich bringt. Wir halten das für überflüssig und sinnlos und plädieren dafür, dass man das lässt. ({2}) Auch die Wohlverhaltensperiode sollte überprüft werden. Sie wollen sogar acht Jahre. Wir sollten einmal schauen, wie die anderen Staaten der Europäischen Union das geregelt haben. Nach den mir vorliegenden Zahlen beträgt die Wohlverhaltensperiode in den europäischen Staaten, die um uns herum liegen, zwischen drei und fünf Jahre. ({3}) Wenn dem so ist, empfehle ich, dass wir uns vom letzten Platz wenigstens auf einen mittleren Platz vorarbeiten. ({4}) Frau Ministerin Zypries, Sie haben erfreulicherweise davon gesprochen, dass die Schuldnerberatung mehr Geld bekommen muss. Leider steht das in Ihrem Gesetzentwurf so nicht drin. Auf Seite 29 Ihres Entwurfs steht nur, dass die öffentlichen Mittel zur Förderung der Schuldnerberatung zunehmend zurückgefahren werden; ohne ein Wort der Kritik. Das haben Sie hier nachgeliefert. Dafür bedanke ich mich. Die Kritik hätte aber etwas klarer ausfallen müssen. Ich will zum Schluss noch auf ein Ärgernis zu sprechen kommen, auf das Kolleginnen und Kollegen schon eingegangen sind. Ich muss Ihnen sagen: Ich wundere mich wirklich über das Maß der Heimtücke, das offensichtlich in den Reihen der Bundesregierung und zwischen den Ministerien herrscht. Das Maß der Heimtücke wird deutlich, wenn man sich Folgendes verdeutlicht: Im Jahre 2006 hatten wir hier einen Gesetzentwurf Ihres Hauses zu diskutieren, nämlich den „Entwurf eines Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung“. Ihr Haus hat vorgeschlagen, den Grundsatz der Gläubigergleichheit mit dem § 28 e SGB IV aufzuheben. Darüber wurde im Plenum öffentlich diskutiert. Wir haben im Rechtsausschuss eine Sachverständigenanhörung dazu durchgeführt. Wir haben uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg darauf geeinigt, dass wir das nicht wollen, weil das falsch ist. Wir haben dies dem Plenum empfohlen. Das Plenum ist dem einstimmig gefolgt. Damit hätte die Sache vom Tisch sein sollen. Bereits einige Monate später hat das Finanzministerium aber, ohne Sie zu fragen oder zu informieren, im Jahressteuergesetz 2006 diese Vorschrift wieder dem Parlament zugeleitet. In letzter Sekunde haben die Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković Rechtspolitiker dies bemerkt und dafür gesorgt, dass das rausgestrichen worden ist. Nunmehr einige Monate später unterbreitet das Arbeits- und Sozialministerium in einem Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgesetzbuchs dem Parlament wiederum diesen Vorschlag. Der Rechtsausschuss wird nicht beteiligt. In der ersten Lesung werden alle Reden zu Protokoll gegeben, eine Beratung im Ausschuss für Arbeit und Soziales findet nicht statt, und die zweite und dritte Lesung finden ohne Debatte statt. Auf so heimtückische Art und Weise ist es bestimmten Kreisen tatsächlich gelungen, diesen Paragrafen wirklich ins Gesetzbuch zu bringen. ({5}) Wir sollten dafür sorgen, dass er da wieder rauskommt. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Montag, Sie haben richtigerweise angemerkt, dass die Zeit kurz ist. Jetzt ist sie aber überschritten.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein letzter Satz. - Wir sollten insbesondere deswegen dafür sorgen, weil der Kollege Schaaf von der SPD in seiner zu Protokoll gegebenen Rede ausgeführt hat - ich habe die zu Protokoll gegebenen Reden nachgelesen -, dass er daran denkt, dass seitens der Sozialpolitiker in einer nächsten Stufe noch mehr Ausnahmen von der Gläubigergleichheit vorgesehen werden sollen. Da müssen wir aufpassen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dirk Manzewski das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe zahlreiche Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren hier heute in erster Lesung verschiedene Aspekte des Insolvenzrechts. Soweit es um die Neuregelung zum Verbraucherinsolvenzverfahren geht, ist es meiner Meinung nach völlig richtig, sich die Frage zu stellen, ob es für das nach einhelliger Auffassung viel zu aufwendige und kostenintensive bisherige Restschuldbefreiungsverfahren für mittellose und masselose Fälle nicht einen einfacheren und vor allem kostengünstigeren Weg gibt, zumal in diesen Fällen - das ist schon gesagt worden - die Gläubiger ohnehin meist nicht mit einer Befriedigung rechnen können. Wir werden uns allerdings darüber unterhalten müssen, ob der hierzu eingeschlagene Weg tatsächlich in allen Bereichen der richtige ist. Dass die missbräuchliche Inanspruchnahme der Restschuldbefreiung zum Beispiel bei offenkundigem Vorliegen eines Versagungsgrundes, bei unredlichen Schuldnern oder bei mangelnder Mitwirkungspflicht erschwert werden soll, finde ich richtig. Ich habe aber - genau wie einige Kollegen - zum Beispiel Probleme mit der Person des sogenannten vorläufigen Treuhänders, der nach dem Regierungsentwurf die zentrale Figur des Entschuldungsverfahrens sein soll. Zunächst einmal stelle ich mir die Frage, warum dieser Treuhänder eigentlich obligatorisch für jedes Verfahren bestellt werden soll. Bei einfach gelagerten Fällen macht das meiner Auffassung nach relativ wenig Sinn, zumal die Vorarbeiten in der Regel schon von den Schuldnerberatungsstellen gemacht worden sind. Ich teile da die Auffassung des Kollegen Krings; ich meine, die Kosten könnte man einsparen. Ist der Sachverhalt wiederum komplizierter, wird man sich die Frage stellen müssen, ob der hierfür angesetzte Kostensatz für einen Fachmann tatsächlich auskömmlich ist. Auch hier habe ich Bedenken. Noch ein Wort in diesem Zusammenhang zu den Schuldnerberatungsstellen. Abgesehen davon, dass ich die Abgrenzung des Tätigkeitsfelds von Schuldnerberatungsstelle und Treuhänder nicht ganz zu erkennen mag, soll den Schuldnerberatungsstellen nach der Begründung des Gesetzentwurfes eine größere Bedeutung im angedachten Verfahren zukommen. Hintergrund hierfür ist, dass der außergerichtliche Vergleich gestärkt und das nun vorgerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren nicht mehr vom Richter, sondern vom Schuldner selbst und - als eine Möglichkeit - den ihn unterstützenden Schuldnerberatungsstellen betrieben werden soll. Das kann aber nur funktionieren, wenn die Schuldnerberatungsstellen quantitativ und qualitativ so ausgestattet sind, dass sie dem gerecht werden können. Bereits derzeit gibt es aber insoweit Anzeichen für Probleme, denn schon jetzt müssen Schuldner häufig monatelang auf einen Termin bei ihrer Schuldnerberatungsstelle warten. Man muss es deutlich sagen: Man kann nicht einerseits die Justiz aus der Verantwortung nehmen, ohne andererseits das Alternativverfahren zu sichern. ({0}) Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen - darüber ist hier schon debattiert worden -, ob es in Ordnung ist, den Schuldner an den Kosten des Verfahrens zu beteiligen. Einerseits halte ich das für richtig, um den Schuldner zur Mitwirkung anzuhalten und deutlich zu machen, dass eine Entschuldung keine Larifariveranstaltung ist. Denn wir dürfen ja nicht vergessen, dass ein Schuldner unter Umständen um einen vier-, fünf-, sechsoder sogar höherstelligen Betrag entlastet wird. Hierbei ist zu beachten, dass es Personen gibt, die auf diesen Beträgen sitzen bleiben. Andererseits ist es nicht richtig, wenn es in der Gesetzesbegründung lapidar heißt, dass er diese Beteiligung ohne große Mühe aufbringen kann. Denn für jemanden, der nichts hat, sind 4 Prozent seines Einkommens nicht wenig, zumal diese Menschen ja gerade wegen ihrer ausweglosen finanziellen Situation das Insolvenzverfahren betreiben. Lassen Sie mich zum nächsten Aspekt kommen. Soweit durch das Gesetz Lizenzverträge insolvenzfest gemacht werden sollen, Kollege Krings, habe ich damit erhebliche Probleme. ({1}) Ich kann zwar durchaus nachvollziehen, dass sich zum Beispiel die Pharmaindustrie dies wünscht, weil sie aufgrund von hohen Investitionen gerne auf die Gültigkeit der Lizenzverträge vertrauen würde. Aber diese Begründung kann im Grunde genommen für jeden noch nicht erfüllten Vertrag gelten, der mit dem Schuldner geschlossen worden ist. Negative wirtschaftliche Auswirkungen sind leider die typischen Folgen von Insolvenzen und treffen alle Vertragspartner. Um es noch einmal deutlicher zu machen: Mit jeder Bevorzugung von Gläubigern werden andere Gläubiger benachteiligt. ({2}) Das hat man alles gewusst und auch so gewollt, als man mit der Insolvenzordnung die alte Konkursordnung abgelöst hat. Das Ziel war damals die Gläubigergleichbehandlung. Ich meine, diese hat sich bislang bewährt. Wir haben derzeit ein in sich schlüssiges Insolvenzverfahren, um das uns viele in der Welt beneiden. Durch jede Ausnahmeregelung werden wir dieses aufweichen und komplizierter machen. Wenn erst einmal die Stringenz verlorengegangen ist, dann werden wir irgendwann ein Gesetz haben, das genauso undurchsichtig und unübersichtlich ist wie zum Beispiel das Urheberrecht. ({3}) Schon jetzt haben Lobbyverbände übrigens weitere Begehrlichkeiten angemeldet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nur raten: Wehret den Anfängen! Zum nächsten Punkt. Im Zusammenhang mit dem vorletzten Jahressteuergesetz haben wir uns auch Gedanken darüber gemacht, wie wir das Insolvenzverfahren effektiver gestalten können. Ich bin froh, dass einige der hierbei entwickelten Lösungsansätze tatsächlich Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Ausgangspunkt war die Erkenntnis - auch darauf hat Kollege Krings zu Recht hingewiesen -: Je früher ein Insolvenzfall erkannt wird, desto größer sind die Chancen auf Sanierung des Unternehmens und desto geringer fällt in der Regel der Schaden aus. Ich finde es daher richtig, dass zum einen versucht werden soll, die sogenannten Stapelanträge zu vermeiden, damit der Insolvenzantrag nicht immer gleich bei Zahlung der entscheidenden Forderung quasi erlischt, selbst wenn der Insolvenzgrund - das ist das Entscheidende - weiterhin vorliegt. Das hat in der Vergangenheit nämlich dazu geführt, dass bei eigentlich abzusehenden neuen Forderungsausfällen immer wieder neue Anträge gestellt werden mussten und die Chancen, dem betroffenen Unternehmen wirklich zu helfen, immer geringer wurden. ({4}) Zum anderen sollen diejenigen, die einen Insolvenzantrag hätten stellen müssen, dies aber nicht rechtzeitig getan haben, nun stärker in die Verantwortung genommen werden. Um die Effizienz der Insolvenzverfahren zu steigern, sehe ich persönlich bei der Auswahl der Insolvenzverwalter durch das Gericht noch ein erhebliches Potenzial. Hierzu liegen einige Lösungsvorschläge vor, die bislang leider noch keinen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Ich hoffe aber, dass sich daran noch etwas ändert. Soweit der Bundesrat die Aufsicht der Insolvenzverwalter verbessern möchte, halte ich die vorgeschlagenen Maßnahmen eigentlich für nicht notwendig und in einigen Bereichen sogar für nicht praktikabel; das sage ich ganz deutlich. Im Hinblick auf die Forderung nach einer Berufshaftpflichtversicherung für Insolvenzverwalter teile ich die Auffassung der Bundesregierung, dass diese Versicherung in der Regel ohnehin vorhanden ist, dass sie aber insbesondere bei vorsätzlichen Schädigungshandlungen - das ist ganz wichtig - überhaupt nicht weiterhelfen dürfte. Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, erwartet uns ein interessantes Gesetzgebungsverfahren. Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn Sie sich daran aktiv und vor allen Dingen, Kollege Nešković, konstruktiv beteiligen würden. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/7416 und 16/7251 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden - Drucksachen 16/5587, 16/6497 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Schmidbauer Gert Weisskirchen ({2}) Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Norman Paech Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wäre viel wichtiger, über andere Themen zu debattieren als darüber, ob bzw. inwieweit die Mandatsstrukturen im Hinblick auf den Einsatz in Afghanistan verändert werden sollten. Ich nenne Ihnen ein einfaches Beispiel, das uns selbst betrifft. Ich fände es sehr gut, wenn der Vorschlag von Detlef Dzembritzki, eine deutsch-afghanische Parlamentariergruppe einzurichten, endlich realisiert werden könnte; ich bitte das Präsidium, darüber nachzudenken. Ich halte diesen Vorschlag für sehr wichtig. Denn es wäre klug, mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem gewählten Parlament in Afghanistan enge Arbeitsbeziehungen aufzubauen, damit wir voneinander lernen und erfahren können, wie das, was wir im Rahmen unserer Mandate tun, von den Kolleginnen und Kollegen im afghanischen Parlament wahrgenommen wird. ({0}) Wir müssen mit ihnen an gemeinsamen Projekten arbeiten und uns fragen: Entspricht das, was wir laut Afghanistan Compact machen, ihren Interessen? Können sie die sogenannte Counterinsurgency-Strategie akzeptieren, oder lehnen sie sie ab? Ich finde, dass ein solches offenes und freies Gespräch zwischen Abgeordneten unterschiedlicher Parlamente immer weiterhilft. Warum machen wir das nicht? Wir debattieren heute darüber, ob ISAF und OEF - in welcher Weise auch immer - voneinander getrennt werden. Das mag ein sehr wichtiges Thema sein; aber diese praktischen Dinge der direkten Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten bzw. zwischen Regierungen sind viel wichtiger und praxisnäher. ({1}) Durch so etwas würden wir den Menschen in Afghanistan mehr helfen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns damit befassen und nicht mit einem solchen, doch sehr theoretischen Antrag. ({2}) - Ja. Aber Winni, du weißt doch genauso gut wie wir: Wenn man Mandatsstrukturen ändern will, kann man das natürlich auf dem parlamentarischen Weg machen. Viel wichtiger ist aber, dass wir diese Mandate auf den Prüfstand stellen, schauen, was davon sinnvoll ist und was entwickelt werden muss. Dann können wir bewerten, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen müssen. ({3}) Nehmen wir das Beispiel OEF. Die Soldatinnen und Soldaten, die wir mit unseren Mandaten beauftragt haben, nehmen gar nicht an OEF teil, seit Monaten nicht. Was würde es also bedeuten, wenn man jetzt apodiktisch und überfallartig „Weg mit OEF!“ sagte? ({4}) Das würde uns nicht weiterbringen. Denn die Probleme, lieber Kollege Trittin, die wir gemeinsam zu lösen haben, liegen auf ganz anderen Ebenen. Könnte es nicht sein - ich stelle einmal die Frage an uns selbst -, dass, wenn wir bestimmte Anteile aus der Mandatsstruktur nähmen, wenn wir OEF vollständig herausnähmen, ISAF militärisch aufgestockt werden müsste? ({5}) Ich stelle einfach einmal diese Frage. Ich meine, wir müssen nach den Aufgaben, nach den Funktionen fragen. Dann können wir uns überlegen, wie die Mandate aussehen müssen. Der Parteitag der SPD hat beschlossen, dass wir versuchen sollten, den Anteil von OEF Schritt für Schritt abzubauen, dass wir uns Wege überlegen sollten, wie man beispielsweise die Ausbildungsanteile, die andere Länder bei OEF haben, in das ISAF-Mandat überführen kann. Das halte ich für einen klugen Gedanken. ({6}) Das würde natürlich bedeuten, dass die merkwürdige, für uns fremde Struktur der Befehlszusammenhänge bei OEF - im Unterschied zu ISAF - herausgenommen werden könnte. Das ist ein Punkt, der in Ihrem Antrag eine große Rolle spielt und der richtig ist. ({7}) Solche Dinge muss man tun: nach den Funktionen fragen und danach, wie sie verändert werden müssen, damit das Ziel besser erreicht werden kann. Wir wissen doch alle: Wir können die Taliban allein mit militärischen Mitteln nicht überwinden. Wir brauchen andere, neue, politische Instrumente, um Afghanistan dabei zu helfen, einen eigenständigen Weg in eine selbstbestimmte Freiheit zu gehen. Wenn das unser gemeinsames Ziel ist, dann sollten wir uns bitte schön nicht auf solche publikumsheischenden Anträge kaprizieren. Gert Weisskirchen ({8}) ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weisskirchen, ich störe Sie ungern bei Ihrem Gespräch mit den Kollegen Trittin und Nachtwei; aber Sie müssen es an anderer Stelle fortsetzen. Ihre Redezeit ist überschritten.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin, danke für den Hinweis. - Wir sollten stattdessen dafür sorgen, dass die Probleme gemeinsam besser gelöst werden. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein genialer Schlag der Parlamentsorganisation, dass wir uns anderthalb Stunden nach einer Aktuellen Stunde mit dem gleichen Thema befassen, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt. Ich finde das bedauerlich. Die meisten Kollegen, die vorhin gesprochen haben, sind jetzt nicht da. Jetzt machen wir eine Neuauflage. Deswegen konzentriere ich mich zunächst auf das, was in dem Antrag steht. Herr Kollege Weisskirchen, ich habe dem im Auswärtigen Ausschuss widersprochen, aber nicht, weil ich das für völlig hirnrissig halte. Man muss nämlich schon sagen: Bei dem, was jetzt von der Bundeswehr mit übernommen werden muss - Quick Reaction Force -, kommt es sehr auf die präzise Definition des Auftrages an, um nicht unmittelbar in die OEF hineinzurutschen. ({0}) Hier zeigt sich, dass die Dinge sehr nahe beieinander liegen und dass es im Sinne einer einheitlichen Operationsführung durchaus auch gute Argumente dafür gibt, das zusammenzuführen. Ich will das nicht von vornherein vom Tisch wischen, ich glaube nur, dass wir gegenwärtig ein anderes Problem haben und deshalb mit diesem Antrag jetzt zu kurz springen. Ich glaube aber, dass wir irgendwann darauf zurückkommen werden. Wir haben in München bei der großen verpassten Chance an diesem Wochenende festgestellt, ({1}) dass wir alle im Bündnis und darüber hinaus ganz offensichtlich keine gemeinsame Strategie für Afghanistan haben. Angesichts der Länge dieser Auseinandersetzung, die wir in Afghanistan beobachten, ist das schon ein bisschen verwunderlich. Man versteht unter einer Strategie ein längerfristig ausgerichtetes planvolles Anstreben einer vorteilhaften Lage oder eines Zieles. - Von Clausewitz könnte das noch schöner sagen, aber das ist der Kern dessen, worum es geht. Man muss sagen, dass uns weder durch den Afghanistan Compact - zumindest in der Ausprägung, in der er jetzt entwickelt wurde - noch durch die Vereinten Nationen noch durch die NATO die Zieldefinition an die Hand gegeben wurde, anhand derer wir die Zielerreichung messen können. Ich halte es deswegen für eine ziemliche Bankrotterklärung, dass wir auch in München vorwiegend wieder über militärische Forderungen, über Kontingentzahlen und über Zahlen von Toten geredet und dies aufgerechnet haben. Das kann es nicht sein. ({2}) Es kann nicht sein, dass wir Deutschen den anderen zumindest unterschwellig den Vorwurf machen, dass sie nicht ein solches Konzept wie wir haben, was wir für überlegen halten, weil wir vernetzte Sicherheit organisieren wollen - das heißt, die militärischen Anstrengungen sollen mit den polizeilichen, den justiziellen, den administrativen und den kommunalpolitischen Anstrengungen systematisch verbunden werden; weiß der Himmel, welchen Anstrengungen noch -, um dem dann in der Realität selber nicht gerecht zu werden. Ich freue mich immer über den Begriff „vernetzte Sicherheit“. Ich glaube, dass die Staatssekretäre der verschiedenen Häuser das Thema mit den besten Absichten diskutieren, wenn sie zusammenkommen. Wenn das dann aber auf die ganz konkrete Arbeit auf der mittleren und unteren Ebene heruntergebrochen wird, dann geschieht das nicht. ({3}) Deswegen ist zum Beispiel die Bilanz hinsichtlich der Polizeiarbeit so ernüchternd. ({4}) Uns Obleuten des Innen- und des Auswärtigen Ausschusses wurde heute Morgen seitens der zuständigen Staatssekretäre vom AA und vom BMI eine Information zu diesem Thema gegeben. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin dort ernüchterter herausgekommen, als ich hineingegangen bin. ({5}) - Ich war da schon nüchtern; das kann ich Ihnen sagen. Wir müssen bei diesen Themen den Quantensprung schaffen und mit unseren Partnern im Bündnis auch Vereinbarungen darüber treffen. Ich finde es absurd, dass uns der Generalsekretär der NATO sagt, dass die NATO keine Entwicklungsagentur ist und nicht dem Auftrag nachkommen kann, dem gerecht zu werden, was man einfach folglich als schlichte Logik bezeichnen kann: Wenn das Erreichen des militärischen Ziels, des Erfolges unserer militärischen Anstrengungen, davon abhängt, dass wir auch mit unseren zivilen Anstrengungen Erfolg haben, dann muss man das Anstreben der zivilen Ziele koordinieren. Genau dafür hat unser Bündnis, die NATO, kein Konzept. Wer sich dabei auf den Afghanistan Compact verlässt, der wird verlassen sein. Danach wird nämlich wieder nur eine Pledging-Konferenz durchgeführt, es wird viel Geld gezahlt, und es werden tolle Ideen diskutiert. Nach den Erfahrungen mit dem Afghanistan Compact werden wir aber keinen entscheidenden Schritt vorangehen. Wir müssen das im Rahmen der NATO weiter diskutieren. In diesem Rahmen darf es dann auch keine Berührungsängste zwischen den verschiedenen militärischen und zivilen Autoritäten geben. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Jürgen Herrmann das Wort.

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie Herr Hoyer eben festgestellt hat, diskutieren wir das Thema Afghanistan bereits zum zweiten Mal. Das ist sicherlich auch Ausdruck dafür, wie wichtig dieses Thema in der jetzigen Zeit ist und wie sehr es uns auch in Zukunft beschäftigen wird. Es ist notwendig, dass wir deutlich machen, welche Auswirkungen das Thema Afghanistan für Deutschland hat. Wir müssen in den Diskussionen verdeutlichen, was es bedeutet, wenn wir auf terroristische Anschläge vorbereitet sein müssen, die eben aus diesem Bereich kommen. Dabei sollten wir aber darauf achten, dass wir bei dieser Diskussion auch die Menschen in diesem Land mitnehmen. Ich kritisiere es zutiefst, dass wir heute davon ausgehen müssen, dass mehr als 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht einverstanden sind. Da hat Politik versagt. Wir müssen deutlicher erklären, warum wir in Afghanistan sind und welche Ziele wir dort verfolgen. ({0}) Wenn wir über den Einsatz sprechen, müssen wir auch die guten Ergebnisse der Arbeit der Bundeswehr betonen, die insbesondere im Norden des Landes geleistet wird. Dies ist nicht immer gelungen. Aber die Diskussion in den letzten zwei Wochen hat dazu geführt, dass wir endlich aus der Defensive herausgekommen sind und die Erfolge nach außen tragen konnten, die die Bundeswehr im Norden des Landes zu verzeichnen hat. Es dürfen nicht immer nur die negativen Dinge herausgestellt werden, meine Damen und Herren. Es gibt vieles, wozu wir Ja sagen und wo wir Erfolge aufweisen können. Auch Franz Josef Jung hat dies auf der Münchener Sicherheitskonferenz bei der Tagung der Verteidigungsminister verdeutlicht. Ich bin froh, dass die Parteienvertreter, die auf dem Münchener Gipfel dabei waren, diese Haltung unterstrichen haben. Das ist vor allem im Hinblick auf die Außenwirkung wichtig. Ich komme mit einem an die Fraktion Die Linke gerichteten Einwurf auf die Diskussion zurück, die wir vorhin zu diesem Thema hatten. Ich glaube nicht, dass Ihr Ansatz dazu beiträgt, dass wir Sicherheit in Afghanistan bekommen. Wir haben eben schon gehört, dass die Parlamentarierin aus Afghanistan, die heute hier zu Besuch gewesen ist, niemals die Chance erhalten hätte, hier zu sein, wenn wir wie Sie nur auf zivile Aufbauarbeit gesetzt hätten. Sicherheit bedingt in diesem Fall auch militärisches Vorgehen. ({1}) In Afghanistan sind wir mit zwei Mandaten vertreten, zum einen bei OEF mit einem sehr geringen Einsatz, worauf der Kollege Weisskirchen eben schon hingewiesen hat. In letzter Zeit sind wir dort überhaupt nicht mehr mit Spezialeinheiten vertreten, umso mehr aber bei der ISAF-Truppe, bei der zurzeit circa 3 300 deutsche Soldaten Dienst tun. Beide Mandate - dies sollte man an dieser Stelle auch noch einmal erwähnen - sind mit großer Mehrheit in diesem Hause bestätigt und verlängert worden. Das ist ein wichtiges Zeichen insbesondere für die Soldatinnen und Soldaten, die fern der Heimat ihren Dienst für die Bundesrepublik leisten. Ich bin schon verwundert, dass wir von dem Thema, auf das Sie in Ihrem Antrag abzielen, in den letzten Tagen von Ihnen nichts gehört haben. Herr Trittin hat das Thema der Trennung von OEF und ISAF oder der Aufhebung des OEF-Mandats am heutigen Tage angesprochen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz aber - zumindest ist es mir dort nicht aufgefallen - und im Verteidigungsausschuss, obwohl wir am Mittwoch darüber knapp zwei Stunden lang diskutiert haben, ist dieses Thema nicht aufgegriffen worden. Nichtsdestotrotz macht Ihr Antrag, den wir wie schon in den Ausschüssen ablehnen, weil er einfach nicht weit genug trägt, in einigen Punkten nachdenklich. In der Tat ist einiges zu hinterfragen. Ich denke hier etwa an die zivilen Opfer bei einer OEF-Bodenoffensive. Das ist schlimm, und man darf das nicht verharmlosen. Gleichzeitig muss man aber darauf hinweisen, dass wir es aufgrund der internationalen Intervention im letzten Jahr erreicht haben, dass die Zahl dieser Vorfälle deutlich zurückgegangen ist. ({2}) - Doch, Herr Trittin, das ist so. Man muss auch einmal hinterfragen, warum es zu solchen Kollateralschäden - das ist ein schlimmes Wort für menschliches Leid - kommt. Sie haben es in Ihrem Antrag richtig dargestellt: Die Terroristen, die Taliban, benutzen die afghanischen Bürgerinnen und Bürger, um sich unter sie zu mischen und von dort aus ihre Aktionen zu starten. Das sind schlicht und ergreifend Kriegsverbrechen, die wir bekämpfen müssen. ({3}) Ich glaube nicht, dass OEF und ISAF unkoordiniert nebeneinander herlaufen. Es gibt Absprachen, und die internen Fragen werden miteinander geklärt. Die Kritik an den OEF-Kräften kann man zwar zur Kenntnis nehmen, aber ich frage Sie - die Frage wurde schon angesprochen -, wie es weitergehen soll, wenn wir den OEFBeitrag beenden. Wer übernimmt dann die Kernaufgaben in Afghanistan? Denn die terroristischen Strukturen, die es dort nach wie vor gibt, müssen bekämpft werden. Das wäre wohl die Aufgabe von ISAF. Etwas anderes wäre der Sache sicherlich nicht zuträglich. Denn - auch das muss ehrlicherweise festgestellt werden - wer kann schon unterscheiden, wer in Afghanistan welche Aktion durchführt? Die Einheimischen werden dies nicht können, und selbst Militärbeobachter werden sich schwer tun mit der Zuordnung, wer dort welche Aufgabe wahrnimmt. ({4}) Wir müssen weiter gehende Ansätze in der Politik generell finden. Das ist nicht leicht. Man muss dabei sowohl den zivilen als auch den militärischen Bereich im Blick behalten. Beides gehört zusammen. Der Begriff „vernetzte Sicherheit“ ist sehr dehnbar, Herr Hoyer. Das gilt ohne Wenn und Aber. Die Bundesrepublik hat aber - damit sollten wir nicht hinter dem Berg halten - mit ihren Ansätzen insbesondere im Norden - Umfragen der Freien Universität Berlin belegen eindeutig, dass wir dort erfolgreich sind - erreicht, dass sich die Menschen sicher fühlen. Ich glaube, das sollten wir in den Vordergrund stellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Herrmann, würden Sie mir erstens angesichts der Tatsache, dass jüngst zehn afghanische Polizisten - es waren keine Zivilpersonen - in einer markierten Polizeistation Opfer eines OEF-Einsatzes geworden sind, zustimmen, dass dies keine wirkliche Verbesserung der Situation darstellt? Würden Sie es zweitens nicht auch als problematisch ansehen, dass die afghanische Bevölkerung - wie Sie zu Recht festgestellt haben nicht zwischen den Operationen von OEF und ISAF unterscheiden kann, aber Operationen stattfinden, von denen die für diese Region zuständigen ISAF-Kommandeure nichts wissen? Ist dies nicht auch und gerade für die Erfolgsträchtigkeit von ISAF ein Problem?

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens. Ich glaube, Anschläge bzw. Unfälle, wie Sie sie dargestellt haben ({0}) - wenn Sie von Kollateralschäden sprechen, dann werde ich diesen Begriff aufgreifen; ich wollte ihn eigentlich nicht verwenden, aber wenn das Ihre Sprachregelung ist, dann werde ich sie übernehmen -, werden sich auch in Zukunft, glaube ich, nicht verhindern lassen. Egal wie vorsichtig ein Einsatz erfolgt, wird es sicherlich in allen Einsatzszenarien durch Friendly Fire immer wieder zu Personenschäden kommen. Wenn dort Aktionen parallel verlaufen, die nicht abgestimmt sind, dann sollte dies - da gebe ich Ihnen recht, Herr Trittin - abgestellt werden. Aber Sie werden es auch innerhalb einer einzigen Mission nicht verhindern können, dass es solche Fehlschläge gibt. Daran muss gearbeitet werden, und ich bin der festen Überzeugung, dass sich das mit entsprechenden Absprachen auch bewerkstelligen lässt. Wir müssen also, wie gesagt, einen Ansatz finden, wie es in Afghanistan weitergehen soll, und zwar zum einen auf der militärischen Seite, um Stabilität zu schaffen, und zum anderen beim zivilen Wiederaufbau. Trotz allem sollten wir den Begriff der vernetzten Sicherheit im Blick behalten. Eine wichtige Frage ist aber, wie wir das in ein Gesamtkonzept für Afghanistan umsetzen können. Das ist im Norden mit unserem Konzept der PRTs möglich, die hervorragend und sehr effektiv arbeiten. Im Süden ist vielleicht eine andere Strategie notwendig. Wir sind in den nächsten Konferenzen aufgefordert, eine gemeinsame Strategie zu finden, was nicht ganz leicht sein wird. Das gebe ich ohne Weiteres zu. Wir sollten aber die Fähigkeiten, die die NGOs und die GOs gemeinsam aufbringen, dazu nutzen, die Effektivität deutlich zu erhöhen. Sollte uns das nicht gelingen, dann werden wir auch in Zukunft vor Probleme gestellt, die wir nicht so schnell abstellen können. Wir sind gefordert - das ist das Entscheidende -, in Zukunft eine gute und stabile Regierung in Afghanistan zu ermöglichen. Daher ist es notwendig, die nächste Parlamentswahl - das wird ein Knackpunkt bei der weiteren Arbeit in Afghanistan werden - zu unterstützen. Wir müssen aber auch die in Afghanistan massiv vorhandene Korruption beenden. Ein wirtschaftlicher Aufschwung, aber auch die generelle Sicherheit im Land müssen gewährleistet sein. ({1}) Erste Erfolge sind zu verzeichnen - das wurde schon erwähnt -, zum Beispiel im Bildungssystem. Aber ich gebe den Kritikern durchaus recht: Das ist noch nicht ausreichend. Wir müssen deutlich mehr tun. Wo sind in Zukunft Ansatzpunkte? Auf dem kommenden Gipfel in Bukarest muss man seitens der NATO davon abgehen, nur noch über Truppenstärken zu sprechen. Vielmehr muss man sich Gedanken darüber machen, wie sich die NATO in ein besseres Licht setzen kann und wie man effektiver arbeiten kann. Auf der angekündigten Afghanistan-Konferenz in Paris werden die Uhren neu gestellt werden müssen, wenn wir wesentlich mehr Erfolg in Afghanistan haben wollen. Mit unseren PRTs, wie wir sie im Norden Afghanistans eingerichtet haben, werden wir Erfolg haben. Mein Dank geht daher an alle Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich schwere Arbeit insbesondere im Einsatzgebiet in Afghanistan leisten. Das ist nicht hoch genug zu bewerten. Ohne ihren Einsatz wären wir bei weitem noch nicht so weit, wie wir es heute sind. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich treibt immer die Hoffnung um, dass die von uns geführten Debatten nicht ganz vergebens sind und dass man vielleicht das eine oder andere Argument des anderen aufnimmt, prüft und abwägt. Ich finde, heute sind bemerkenswerte Erkenntnisfortschritte festzustellen. Ich finde es völlig richtig, was Kollege Hoyer gesagt hat: Die NATO hat keine gemeinsame Strategie. Das ist nicht mehr zu leugnen. Das sollten wir öffentlich sagen. Wir ziehen sicherlich unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus. Ich finde es auch richtig, was Kollege Weisskirchen gesagt hat: Der Krieg ist militärisch nicht zu gewinnen. Das kann ich nur unterstreichen. Sagen Sie das aber auch der Bevölkerung, und zwar laut und deutlich! ({0}) Sie ziehen wahrscheinlich eine andere Schlussfolgerung daraus. Ich finde es richtig, dass der Vertreter der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss gesagt hat, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert hat. Auch das ist nicht zu leugnen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat - nur damit lässt sich der Einsatz von mehr Militär begründen -, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist und dass es keine gemeinsame NATO-Strategie gibt, muss man darüber nachdenken, ob nicht andere Strategien - solche sind bislang nicht angewandt worden vernünftiger und erfolgsträchtiger wären. ({1}) Ich will den Antrag der Grünen vor Vereinnahmung schützen. Ich vereinnahme ihn nicht; denn er ist konträr zu meiner Position. Das will ich nicht verschweigen. Aber die Grünen haben gar nicht beantragt, OEF zu beenden. Sie haben nur beantragt, sie mit ISAF zusammenzulegen. Das ist etwas ganz anderes. Kollege Nachtwei, wenn ich euren Antrag überschreiben müsste, dann würde ich die Überschrift „Krieg effektiver und besser führen“ wählen. ({2}) Mein Ziel ist aber, den Krieg zu beenden; denn ohne einen Rückzug aus Afghanistan wird kein Prozess der nationalen Versöhnung in Gang zu bringen sein. In diesem Kernpunkt unterscheiden wir uns. ({3}) Vieles, was euer Antrag enthält, ist bereits gängige Praxis oder wird zunehmend gängige Praxis. Vieles, was OEF übernommen hatte, wird nun von ISAF erledigt. Es ist völlig klar: Die ISAF-Einsätze sind Kampfeinsätze. Das leugnet niemand mehr. ISAF führt Krieg in Afghanistan und bestreitet die Kämpfe dort. Daher kann man das durchaus zusammenlegen. Aber damit hat sich der Charakter von ISAF grundsätzlich verändert. Man muss die Folgen einer solchen Strategie ansprechen. Ich verstehe den Hintergrund eures Antrages. Der Druck bei euch Grünen wächst. Ihr schafft es nicht mehr, auf eurem Parteitag eure Politik zu vermitteln. Deswegen müsst ihr ein bisschen Puderzucker darüber streuen. Das wird auf Dauer nicht helfen. ({4}) Ihr werdet eines nicht aus den Augen verlieren können - und die Frage hat hier keiner beantwortet -: Sind denn 86 Prozent der deutschen Bevölkerung so doof, dass sie nicht begreifen, dass die Truppen dort bleiben müssen, oder sind 86 Prozent der Bevölkerung klüger als die Mehrheit hier im Parlament? ({5}) Ich behaupte, Letzteres ist der Fall. ({6}) - Das sind die bisherigen Angaben. - Es kann Ihnen auch nicht verborgen geblieben sein, dass Sie in der Friedensbewegung nicht mehr auch nur ein müdes Lächeln auslösen; vielmehr hat die Friedensbewegung mit dieser Politik der Grünen nichts zu tun, und sie will damit nichts zu tun haben. Das entwickelt politischen Druck. ({7}) Wir haben noch keine Chance gehabt, ein Konzept des Rückzuges politisch griffig zu machen, weil die Losung immer mehr Soldaten und nicht weniger Soldaten ist. ({8}) Wir können beweisen, dass Ihr Konzept nicht den Erfolg bringt, den Sie wollen. Wir können gute Argumente bringen, warum eine politische Kurswende sinnvoller für die Menschen in Afghanistan wäre. Noch ein letzter Satz: Ich prophezeie Ihnen hier, dass Sie in regelmäßigen Abständen immer mehr Truppen für Afghanistan beantragen werden und beantragen müssen. Kollege Gloser hat das schon sehr deutlich gesagt. Es wird Runde für Runde weitergehen, und es werden mehr Soldaten gefordert werden. Mehr Soldaten bedeuten aber weniger Sicherheit und mehr Opfer. Der Friedensschluss wird immer schwieriger. Deswegen muss man eine Kurswende vornehmen. Das erreicht ihr mit eurem Antrag aber nicht. Danke sehr. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Öffentlichkeit wird das Thema Afghanistan viel zu viel und oft fast nur unter Militärgesichtspunkten diskutiert. Ausschlaggebend ist doch Folgendes: Wenn es in Afghanistan vorangehen soll, dann muss es mit der politischen Konfliktlösung vorangehen. Ich merke auch jetzt wieder, dass die meisten völlig übereinstimmen. Das wird auch immer wieder hier im Haus betont. Allerdings sollten wir über diese richtige Feststellung nicht den heiklen Militärfragen ausweichen. Das ist meine Erfahrung, auch bei den Debatten zu „Enduring Freedom“. Die Mehrheit spricht lieber über ISAF und über die Herausforderungen des Aufbaus, aber nicht über „Enduring Freedom“, welches eine ganz besonders problematische Operation ist. Hier muss man näher hinschauen. Die Bundesregierung leistet dazu nichts. Seit Jahren leistet sie nichts hinsichtlich genauerer Information und praktisch nichts, was Stellungnahmen betrifft. Deshalb muss man selbst versuchen, an Informationen zu kommen. Ich male hier kein Schwarz-Weiß-Bild. Ich weiß sehr wohl, dass „Enduring Freedom“ inzwischen auch große und nützliche Ausbildungsanteile hat. Was aber ist der Kern dabei? Der Kern ist etwas anderes. Bei genauerem Hinsehen stellt sich für uns tatsächlich heraus, dass diese Operation in keiner Weise mehr zu rechtfertigen ist. Sie ist inzwischen ausgesprochen schädlich für den ganzen Aufbauprozess. Sie ist weiterhin eine ausdrücklich national geführte Operation der USA. Sie steht damit im Widerspruch zum Unterstützungsansatz der Staatengemeinschaft für die afghanische Regierung, ({0}) und sie ist eigentlich auch ein Affront gegen die Bündnisloyalität, die in den letzten Wochen so stark von der Bundesrepublik gefordert wurde. Eine solche Separatoperation hat doch mit Bündnisloyalität absolut nichts zu tun. ({1}) Der harte Kern von „Enduring Freedom“ sind mehr als tausend Spezialsoldaten, und diese sind Speerspitze einer offensiven Bekämpfung des Aufstands und Terrors der Taliban. Sie sind praktischer Ausdruck des „War against Terrorism“. Sie sind damit Ausdruck der illusionären Vorstellung, man könnte eine solche Art von Aufstandsbewegung militärisch besiegen. Das ist eine Illusion. Auch hierbei zeigt sich wieder: Die USA bringen eine beispiellose militärtechnologische Überlegenheit zum Ausdruck. ({2}) Ständig werden taktische Siege gemeldet. In Wirklichkeit müssen wir aber feststellen, dass der Einfluss der Taliban am Boden immer mehr zunimmt und dass dabei immer mehr Köpfe und Herzen der Menschen verloren gehen. Diese Art der Kriegsführung ist auch unter Verbündeten im Süden umstritten. Allerdings wird sie im Rahmen der NATO praktisch nicht thematisiert. Die Bundesregierung darf sich nicht länger damit begnügen, auf die eigenen unbestreitbaren Erfolge im Norden zu verweisen. Sie muss diese Strategiedebatte in der NATO offensiv führen, damit es zu einem Strategiewechsel kommt. ({3}) Es reicht auch nicht, dass sich die Bundesrepublik nicht mehr an dieser Operation beteiligt - das ist ja das Mindeste -, sondern die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass diese Separatoperation insgesamt eingestellt wird - sie ist, wie sich beim näheren Hinsehen herausgestellt hat, ein Irrweg - und dass Ausbildungen und sicherheitspolitische Unterstützungen in Afghanistan nur noch unter dem Dach von ISAF und eindeutig im Rahmen von Völkerrecht und Menschenrecht stattfinden. Wenn dieses nicht geschieht, dann ist absehbar, dass die Eskalation gerade im Süden weitergeht und auch den noch relativ sicheren Norden nicht unbeschadet lässt. Deshalb: Aufbauoffensive einerseits, Strategiewechsel andererseits. Beides gehört untrennbar zusammen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Nachtwei, kommen Sie bitte zum Schluss!

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe Sie gehört und höre sofort auf. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Sascha Raabe das Wort. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mit Menschen in Deutschland über den Afghanistan-Einsatz diskutiere, dann werde ich als entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion oft gefragt: Warum zieht ihr eure Soldaten nicht ab und steckt die dafür vorgesehenen Mittel zusätzlich in den Wiederaufbau und die Entwicklungszusammenarbeit? ({0}) So ähnlich argumentiert ja auch die Linkspartei bzw. der Kollege Gehrcke. Als Parlamentarier und Entwicklungspolitiker, der Verantwortung trägt und der natürlich wie alle Kolleginnen und Kollegen äußerst ungern und immer mit einem Unwohlsein das Leben von Soldaten im Ausland riskiert, muss ich auch die Frage stellen: Kann ich es verantworten, Entwicklungshelfer von unseren staatlichen Organisationen, aber auch von Nichtregierungsorganisationen, die wir finanziell unterstützen, mit dem Wissen nach Afghanistan zu schicken, dass sie voraussichtlich mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen, wenn sie dort ohne Schutz tätig sind? Man muss diese Diskussion ehrlich miteinander führen. Wer sagt, dass die deutschen Truppen und das USamerikanische Militär aus dem Nordosten Afghanistans abziehen sollen, der muss dazu sagen, dass das bedeuten würde, dass wir von heute auf morgen alle Entwicklungshelfer abziehen müssten und dass all das gefährdet wird, was wir in den letzten Jahren erreicht haben: Wir haben 3 500 Schulen aufgebaut, und jetzt können 6 Millionen Schülerinnen und Schüler in die Schule gehen; wir haben 2,5 Millionen Menschen mit Strom und fast 1 Million Menschen mit Trinkwasser versorgt. All das würde gefährdet; denn wenn die US-Amerikaner und die Deutschen Afghanistan verlassen, dann werden die Taliban - anzunehmen, dass das anders wäre, ist ein großer Trugschluss - nicht sagen: Schön, es werden weiter Schulen gebaut, und die Frauen können sich weiterhin am Leben beteiligen. - Ganz im Gegenteil: Die Taliban sind doch gegen diese Ziele, die wir mit der Entwicklungszusammenarbeit erreichen wollen. Sie wollen doch gar nicht, dass alle Menschen, also auch Frauen, ein Anrecht auf selbstbestimmte Bildung und freie Meinungsäußerung haben. Deswegen ist es den Menschen gegenüber, denen wir helfen wollen, verantwortungslos, so zu argumentieren wie die Linkspartei. ({1}) Die Wahrnehmung der Regierungsarbeit ist natürlich in jedem Land unterschiedlich. Wenn man die Menschen und Parteien in Deutschland über die Arbeit der Regierung und die Lage in Deutschland befragen würde, ergäben sich ganz verschiedene Bilder. Auch in Afghanistan gibt es natürlich verschiedene Meinungen. Aber Sie von der Linkspartei zitieren immer nur eine afghanische Abgeordnete als Kronzeugin. Im Rahmen einer Untersuchung der Freien Universität Berlin wurden die Menschen im Nordosten Afghanistans gefragt, wie sich aus Ihrer Sicht die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert habe. 99 Prozent der Befragten sagen, dass sich die Sicherheitslage durch die ausländischen Truppen, insbesondere durch die Präsenz der Deutschen, verbessert hat. Zwei Drittel der Menschen, die dort leben - es wurde nur nach den letzten zwei Jahren gefragt -, gaben an, dass sie gespürt haben, dass sich ihre Lebenssituation durch Straßenbau und Trinkwasserversorgung konkret verbessert hat. Immerhin in der Hälfte aller Gemeinden, die über die letzten zwei Jahre befragt wurden, haben die Menschen gesagt: Bei uns können die Kinder jetzt wieder in die Schule gehen. Wir haben gesehen, dass Deutschland Schulen bei uns baut und dass Entwicklungsorganisationen uns helfen. - Diese Menschen finden das also sehr positiv. ({2}) Herr Gehrcke, Sie müssen den Kollegen Weisskirchen richtig zitieren. Er hat nicht gesagt, dass der Krieg militärisch nicht zu führen ist, sondern er hat gesagt: Der Krieg ist nicht allein militärisch zu führen. Da hat Herr Weisskirchen recht. Dieser Unterschied ist wichtig. Das, was wir mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit dort machen - wir geben Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder in die Schule zu schicken, sodass sie nicht in die Koranschulen der Islamisten, der Taliban, gehen müssen -, ist der beste Schutz, die beste Prävention davor, dass Menschen sich diesen Terroristen anschließen. Wir brauchen eben beides: Entwicklungszusammenarbeit und militärische Absicherung. Es muss die Möglichkeit geben, dass unsere Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer diese Arbeit leisten. Wenn das der Fall ist, werden wir relativ schnell, in einigen Jahren, unsere Soldaten abziehen können. Die Afghanen wünschen sich nichts mehr als das: Die Afghanen wollen selbst mit eigener Polizei, mit eigenem Militär, mit ihren eigenen Möglichkeiten und mit ihren eigenen Lehrerinnen und Lehrern, die wir ebenfalls ausbilden, ihr Land gestalten. Sicherlich ist es deshalb wichtig, dass wir ihnen dabei helfen. Ich sage zum Schluss: Wir sollten allen Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern genauso wie unseren Soldaten dafür danken, dass sie diese Arbeit machen. Wir sollten sie nicht gegeneinander ausspielen. Ich glaube, dass unser Engagement in diesem Sinne gut ist. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6497, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5587 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Instrument der Wahlbeobachtungen durch die OSZE darf nicht geschwächt werden - ODIHR muss handlungsfähig und unabhängig bleiben - Drucksache 16/8048 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Meckel für die SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen in dieser Debatte deutlich machen, dass Wahlbeobachtung ein zentrales und wichtiges Instrument ist zur Stärkung von Demokratien, insbesondere in solchen Ländern, in denen Demokratie noch eine Aufgabe ist und in denen es wichtig ist, Prozesse zur Demokratie hin entsprechend zu unterstützen. ({0}) Wahlbeobachtung soll Vertrauen in demokratische Institutionen stärken, durch Transparenz und durch Kontrolle. Wie wir alle wissen, wird in manchen Ländern - ich selber habe in einem solchen Land gelebt, in der DDR manches Wahl genannt, was keine Wahl ist. Aus dieser Erfahrung heraus gab es 1990, das heißt in den Zeiten der großen Umbrüche in Europa, die Initiative, für Wahlbeobachtungen eine eigene Institution zu schaffen. Diese Initiative kam - nicht ganz zufällig - aus Polen. Sie ging von dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten, Tadeusz Mazowiecki, aus. Er hat damals nach Warschau eingeladen. Ich war damals, in dieser kurzen Umbruchzeit, als Außenminister der DDR an den dortigen Diskussionen beteiligt. Es ging darum, wie Wahlbeobachtungen stattfinden und wo die entsprechenden Institutionen angesiedelt werden sollten. Ich glaube, dass es ein ganz wesentlicher Schritt war, dass in jener Umbruchzeit damals diese Initiative gestartet wurde. Heute können wir sagen: ODIHR ist ein Erfolg. ODIHR ist ein europäischer Erfolg. ODIHR ist ein Erfolg für die Demokratie in Europa. ({1}) Der Erfolg dieser Institution - ich beschränke mich in meiner Aussage ganz klar auf diese Institution, die wir in Warschau haben - hängt ganz wesentlich an ihrer Unabhängigkeit; dies ist auch im Antrag mit Recht sehr deutlich ausgesprochen worden. Die Mitgliedstaaten der OSZE und andere Institutionen sollen keine Möglichkeit haben, unmittelbar auf die Beschreibung des Wahlergebnisses einzuwirken. - Das ist das eine, was für die Zukunft unbedingt festgehalten werden muss. Das Zweite, was hier festgehalten werden muss: Es bedarf der langfristigen Wahlbeobachtung. Viele Kollegen, gerade auch von uns, die wir uns mit diesem Thema beschäftigen, haben in der Vergangenheit an Wahlbeobachtungen teilgenommen, an solchen durch die OSZE, durch den Europarat, durch die NATO-Versammlung oder durch andere parlamentarische Versammlungen. Es ist wichtig, dass wir als Parlamentarier an solchen Wahlbeobachtungen teilnehmen. Jeder, der dies getan hat, weiß, dass die Anreise kurz vorher und das Erleben am Wahltag - kurz danach reist man wieder ab dazu dienen, dem, was durch Langzeitbeobachtung festgestellt wurde, Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu verschaffen. Diejenigen, die Langzeitbeobachtung vor Ort machen, haben die eigentliche Erfahrung. Das ist der Kern wirklicher Wahlbeobachtung. ({2}) Wir brauchen eine langfristige Wahlbeobachtung. Es muss beobachtet werden, wie die Kandidatenaufstellung läuft, wie der Zugang zu den Medien ist, ob die Bürger im Vorfeld das Recht haben, wirklich freie Wahlen vorzubereiten, sodass sie wissen, welche Kandidaten es gibt, was bzw. wen sie wählen können. Diese Differenzierung ist dringend notwendig. Sie ist mit einer Kurzzeitbeobachtung nicht zu leisten. ({3}) In diesen Kontext gehört auch die Zahl der Wahlbeobachter. Eine Beschränkung, wie manche sie vorschlagen, ist kontraproduktiv. Das Ergebnis wäre eine Wahlbeobachtung, die nicht wirklich offen ist und die die Dinge nicht entsprechend untersuchen kann. Sie führte zu einer Legitimation von Wahlen, die eben nicht fair abgelaufen sind, was das ganze Instrument diskreditieren würde. Wir brauchen sogar noch einen Fortschritt gegenüber dem, was bisher ist. Wahlbeobachter sollten für die Zeit, in der sie diese Tätigkeit ausüben, den Diplomatenstatus erhalten. Dieser Status ist wichtig für die Akzeptanz im Land. In einem Land, in dem man lieber verhindern würde, dass die Wahlbeobachtung allzu intensiv wird, würde so ein Schutz für die Wahlbeobachter geschaffen. ({4}) In jüngster Zeit sind von Russland und anderen Ländern leider Versuche unternommen worden, die Balance, die wir gerade erreicht haben, zu zerstören, indem man die Unabhängigkeit verhindert. Der Ministerrat sollte entscheiden, Staatengruppen innerhalb der OSZE sollten Einfluss gewinnen, damit ein politischer Streit über die Bewertung einer Wahl stattfinden kann. Solchen Versuchen müssen wir widerstehen. Eher sind die Instrumente zu schärfen, als dass wir politischen Einfluss zulassen dürfen. ({5}) Leider hat es in der Vergangenheit so manche Diskussion und Spannung zwischen der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und ODIHR gegeben. Ich glaube, dass solche Spannungen ausgesprochen kontraproduktiv sind ({6}) und wir als Parlamentarier in aller Klarheit den Wert von ODIHR wie eine Perle hochhalten sollten; denn die Kernkriterien von wirklicher Wahlbeobachtung sind Langfristigkeit, Transparenz und Unabhängigkeit. ({7}) Diese Kriterien sollten wir als Parlamentarier unterstützen und öffentlich immer wieder ihren Wert deutlich machen. Das heißt, Versuche von Parlamentariern, parallel zu den Berichten von ODIHR eigene Berichte zu schreiben, sind kontraproduktiv und helfen uns nicht. Vielmehr schaden sie unserem Image. Von gemeinsamer unabhängiger Wahlbeobachtung kann dann nämlich keine Rede mehr sein. Ich halte es deshalb für ausgesprochen wichtig, dass diese Kriterien beibehalten werden und wir als deutsche Parlamentarier uns gemeinsam innerhalb der Parlamentarischen Versammlung dafür einsetzen, diesen Streit zu beenden, und zwar so, dass die genannten Kriterien nicht angetastet werden. Ein letztes Wort zu früheren Wahlbeobachtungen. Mir bereitete es große Sorge, wie etwa die Wahlbeobachtung in Georgien vonstatten gegangen ist. Wenn Wahlbeobachter, seien es auch Parlamentarier, bei der Vorstellung von Kandidaten auftreten und sehr deutlich machen, dass sie für einen bestimmten Kandidaten besondere freundschaftliche Gefühle hegen, dann wird damit die Neutralität der Wahlbeobachtung, die dringend nötig ist, verletzt. Dies schadet der gemeinsamen Wahlbeobachtung. Ich denke, dass wir darauf achten müssen, dass die Neutralität strikt gewahrt wird. Es muss immer der Grundsatz gelten: Wir als Parlamentarier nehmen an Wahlbeobachtung teil, um die professionelle Wahlbeobachtung von ODIHR entsprechend zu unterstützen. ({8}) Ich bedaure sehr, dass keine Beobachtung bei den jetzt anstehenden Wahlen in Russland möglich ist. Ich begrüße aber, dass ODIHR seinen Prinzipien treu geblieben ist und deutlich gemacht hat, dass man sich nicht erpressen lässt. ({9}) Wenn es nur einer sehr begrenzten Zahl von Wahlbeobachtern von russischer Seite gestattet wird, einige wenige Tage vor der Wahl nach Russland zu reisen, wird die Wahlbeobachtung konterkariert - faktisch mit dem Ziel, eine Legitimation für eine nicht fair durchgeführte Wahl zu bekommen. Das können wir nicht zulassen und müssen in dieser Frage ODIHR den Rücken stärken. Ich hoffe sehr, dass wir dies hier gemeinsam tun. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Löning für die FDP-Fraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir mussten heute Morgen den Spott des lupenreinen Autokraten Wladimir Putin zur Kenntnis nehmen, der über eine Agentur verbreitet hat, die OSZE verzichte in einigen Ländern auf die Entsendung von Wahlbeobachtern, damit diese zu Hause ihren Frauen das Kochen der russischen Kohlsuppe … beibringen könnten. Das ist eine politische Sichtweise gegenüber Wahlbeobachtung, die absolut inakzeptabel ist. ({0}) Das ist eine Herangehensweise, die die Axt an die Wurzel der OSZE legt. Die OSZE basiert auf Zusammenarbeit und Vertrauen. Wer die OSZE und ihre Wahlbeobachtungsmissionen in dieser Art und Weise verspottet, zeigt, wes Geistes Kind er ist und was er von Wahlbeobachtung und von Demokratie hält. Es steht nämlich dem Präsidenten von Russland, das ja Mitglied der OSZE ist, nicht zu, sich so zu äußern. Er muss sich auch die Frage gefallen lassen, welche Wirkung das auf andere Länder hat, wenn er in so spöttischem Ton über die OSZE spricht. Dies stellt die verbale Materialisierung dessen dar, was wir bei dem Drama der Beobachtung der Duma-Wahlen erlebt haben. Sie, Herr Meckel, haben gerade in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen geschildert, wie Russland hier versucht, sich einen schlanken Fuß zu machen und die Wahlbeobachtung durch Hinhaltetaktiken und unmögliche Auflagen zu verhindern und letzten Endes den anderen Ländern dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das ist nicht akzeptabel. ODIHR ist ein absolut wichtiges Mittel für die Vertrauensbildung und die Zusammenarbeit in Europa. Vertrauen braucht Transparenz, und Wahlbeobachtung durch die ODIHR schafft Transparenz und dadurch Vertrauen. ({1}) Lassen Sie mich etwas zum Thema Langfristbeobachtung sagen, weil das hier in Bezug auf Russland eine große Rolle gespielt hat. Jeder von uns hat selber schon Wahlkampf geführt und weiß, dass die korrekte Durchführung im Wahllokal selbstverständlich von entscheidender Bedeutung ist, dass wichtig ist, dass dort nicht betrogen wird. Aber jeder von uns weiß genauso gut, dass es auch auf die vier bis acht Wochen vorher ankommt und auf die Fragen: Welchen Zugang zu den Medien habe ich? Wie kann ich für meine Position Wahlkampf betreiben und auf mich aufmerksam machen? Habe ich Zugang zu den Bürgern? Habe ich Zugang zu den Medien? Kann ich mich in den öffentlichen Medien darstellen? Oder ist diese Darstellung auf die eine oder andere Staatspartei beschränkt, wie wir das in Russland erlebt haben? - Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Langzeitbeobachtung durch ODIHR weiter fortgesetzt wird. Anders werden wir keine Neutralität und keine echte Darstellung dessen bekommen, was in den Wahlkämpfen wirklich geschieht. ({2}) Lassen Sie mich an der Stelle einen Satz einflechten, Herr Meckel, weil Sie Georgien angesprochen haben: Ich kann Ihnen da nur voll beipflichten. Das, was ich dazu gelesen habe, geht nicht; das will ich auch für die Delegation des Europarates sagen. Wir demontieren unsere eigenen Instrumente, wenn wir dort die falschen Leute hinschicken und sich diese so verhalten, wie Sie es gerade hier geschildert haben. Auch wir haben die Pflicht, darauf zu achten, dass Europarat und OSZE die richtigen Leute dort hinschicken und ordentlich beobachten lassen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir senden mit diesem Antrag ein klares Signal für eine vernünftige Fortführung der Arbeit von ODIHR, für eine Stärkung und die Unabhängigkeit von ODIHR aus. Wir können nicht wollen, dass die Minister sich im Ministerrat über die politische Bewertung einer Wahl unterhalten. Die Wahlbeobachtung muss unabhängig erfolgen. Es ist essenziell, dass die ODIHR, auch in der Bewertung, ihren unabhängigen Status behält. Ich glaube, dass es ein gutes, ein starkes Signal des Deutschen Bundestages in Richtung Russland ist, wenn wir das mit vier Fraktionen gemeinsam beschließen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung sich dem anschließt und dieses Signal des Deutschen Bundestages auch im OSZE-Ministerrat weitergibt. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Eckart von Klaeden das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! In unserem interfraktionellen Antrag fordern wir die Kolleginnen und Kollegen in der russischen Staatsduma auf, sich dafür einzusetzen, dass die Zahl internationaler Wahlbeobachter bei kommenden Wahlen in Russland wieder deutlich erhöht wird. Das bezieht sich vor allem auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 2. März. Aber aufgrund des Verhaltens der russischen Regierung muss diese Aufforderung leider als obsolet betrachtet werden. Eine ähnliche Situation, wie wir sie jetzt vor den Präsidentschaftswahlen erleben, haben wir vor zwei Monaten schon einmal erlebt, als es um die Duma-Wahlen gegangen war. Auch jetzt hat die russische Regierung wieder die Beobachtung des Wahlkampfes in den letzten Wochen vor dem Wahltermin unmöglich gemacht und die Anzahl der Wahlbeobachter reduziert. Deswegen war es eine konsequente und richtige Entscheidung sowohl des für Wahlbeobachtungen zuständigen OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte, abgekürzt ODIHR, als auch der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, die jeweils geplanten Missionen abzusagen. Das russische Verhalten ist insbesondere vor dem Hintergrund bedauerlich, dass Russland im Jahre 1994 den Beschluss der OSZE unterstützt hatte, ODIHR eine größere Rolle bei der Beobachtung von Wahlen einzuräumen, und mit dieser Entscheidung auch eine Selbstverpflichtung eingegangen ist. ({0}) Wir sprechen hier und auch in der deutschen Öffentlichkeit viel über die Frage, wie wir unser Verhältnis zu Russland gestalten sollen. Ich will ganz deutlich sagen: Wie sich Russland im Rahmen der OSZE und im Europarat verhält, ist ein Lackmustest dafür, wie europafreundlich Russland ist und ob Russland ein guter Nachbar sein will. ({1}) Unter der Bezeichnung „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ wurde am 1. Januar 1995 die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ institutionalisiert. Die KSZE leistete einen wichtigen und nicht wegzudenkenden Beitrag zum Frieden in Europa. Die Konferenz war die einzige Organisation, die über die Blöcke hinweg Mitgliedstaaten der NATO, des Warschauer Paktes sowie neun weitere neutrale und blockfreie Staaten Europas zusammenführte. In der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 wurden drei Themenbereiche, die sogenannten Körbe, festgelegt: erstens militärisch-politische Fragen, zweitens Fragen der wirtschaftlichen Kooperation sowie drittens die menschliche Dimension, das heißt die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dabei stand die Idee, dass es in Europa nur eine gemeinsame und nicht eine zweigeteilte Sicherheit geben kann, im Mittelpunkt. Deswegen ist diese Idee im Rahmen der OSZE nach wie vor wichtig und aktuell. Wer sich diesem Gedanken verpflichtet fühlt, der muss sich im Rahmen dieser Organisation auch konstruktiv verhalten. Immer wieder gingen von den KSZE-Treffen wichtige Impulse aus. Die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 habe ich schon genannt. Aber auch die Charta von Paris aus dem Jahre 1990 und die Europäische Sicherheitscharta von Istanbul aus dem Jahre 1999 sind wichtige und bedeutende Dokumente dieses europäischen Friedens- und Entspannungsprozesses. In der Charta von Paris verpflichteten sich die KSZEStaaten, „die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“. Demokratie wurde definiert als auf den Volkswillen gegründet, der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet. Demokratie beruht auf Achtung vor der menschlichen Person und Rechtstaatlichkeit. Demokratie ist der beste Schutz für freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit für alle. Menschenrechte und Grundfreiheiten wurden als allen Menschen von Geburt an eigen bezeichnet. Sie seien unveräußerlich und durch das Recht gewährleistet. Die Festlegung dieser gemeinsamen Standards war ein Meilenstein in der Geschichte des Nachkriegseuropas. Doch leider war dem in der Pariser Charta angekündigten Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Freiheit keine allzu lange Dauer beschieden. Nur wenige Jahre später brachen alte Divergenzen wieder auf, die leider nie vollständig ausgeräumt waren. Russland wollte zu den Erklärungen der Schlussakte von Helsinki zurückkehren und damit die „alten Reviere“ wiederbeleben, während die meisten anderen OSZE-Staaten mit der Entwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges aus guten Gründen zufrieden waren und sind. Der Kern dieses Konflikts in der OSZE zwischen den westlichen Staaten und Amerika sowie der Mehrheit der früher zur Sowjetunion gehörenden Staaten einerseits und Russland andererseits besteht in der unterschiedlichen Interpretation der Konvention. Während der Westen und die genannten Staaten die KSZE/OSZE-Dokumente als Basis für die Verbreitung von gemeinsamen Werten betrachten, sieht Russland darin eine Auseinandersetzung um geopolitische Einflusssphären. Es stellt sich daher die Frage, wie vor diesem unterschiedlichen Hintergrund weiter vorzugehen ist. Russland behauptet, am Bestand der OSZE weiterhin ein Interesse zu haben. Diese Aussage muss man angesichts des russischen Verhaltens der letzten Monate allerdings in Zweifel ziehen. Auch für Moskau gelten die Selbstverpflichtungen im Rahmen der OSZE. Die OSZE ist eben nicht nur eine Plattform, die man zur Durchsetzung der eigenen Interessen benutzt. Sie ist ein Forum, in dem alle 56 Mitgliedstaaten gleichrangig und gleichberechtigt Fragen diskutieren können, aber auch Entscheidungen treffen müssen. Dass Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssen, macht die Arbeit der Organisation allerdings nicht einfacher. Wichtig ist jedoch, dass die OSZE glaubwürdig bleibt und an ihren Prinzipien festhält. Das gilt im Übrigen auch für die Parlamentarische Versammlung der OSZE, die das Ziel verfolgt, die parlamentarische Beteiligung an den OSZE-Aktivitäten zu begleiten und zu fördern. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden organisatorisch völlig unabhängig arbeitenden Institutionen ist daher nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig. Es ist somit nur folgerichtig, dass sich nun nach ODIHR auch die OSZE-PV entschlossen hat, keine Beobachter zu den russischen Präsidentschaftswahlen zu entsenden, wie sie dies noch zur Duma-Wahl getan hatte. Wollen wir die Werte und die Interessen, die dem Gedanken der OSZE zugrunde liegen, hochhalten und verbreiten, so müssen deren Institutionen an einem Strang ziehen. Gegenseitige Eitelkeiten sind hier absolut fehl am Platze. Damit würde man nur das Geschäft derjenigen betreiben, die einen Keil zwischen diese beiden Einrichtungen treiben wollen. ({2}) Eine ähnliche Entwicklung wie in der OSZE ist bedauerlicherweise im Europarat festzustellen. Sichtbar wurde das erst vor einigen Wochen bei der anstehenden Wahl des neuen Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Gemäß dem ungeschriebenen Gesetz der Rotation zwischen den fünf politischen Gruppierungen hätte der Vorsitzende eigentlich von Russland gestellt werden müssen. ({3}) - Von der bürgerlichen Gruppe, die dann wiederum den Repräsentanten von Putins Partei „Einiges Russland“ vorgeschlagen hatte. - Die anderen Gruppierungen hielten aber eine solche Wahl zu Recht mit den Prinzipien des Europarates für unvereinbar. ({4}) - Exakt; davon habe ich ja gesprochen, Frau Kollegin. Zu wenig entspricht die politische Situation in Russland - dabei nehme ich nicht nur Bezug auf die keineswegs fair verlaufenen Duma-Wahlen, sondern auch auf die düstere Lage in Tschetschenien, die zunehmende Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte, die Gängelung unabhängiger Journalisten und die Behandlung von Vertretern ausländischer Institutionen, zum Beispiel des British Council usw. - den Standards des Europarates. Hinzu kommt: Das russische Parlament hat bis heute das Abkommen zur Abschaffung der Todesstrafe nicht ratifiziert, obwohl Russland seit 1996 Mitglied des Europarates ist und damit für Russland der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sowie ihrer Zusatzprotokolle verbindlich ist. Bedauerlicherweise blockiert Russland auch die Reform des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, weil Moskau nicht das 14. Zusatzprotokoll ratifiziert, das eine Reform des Gerichtshofes so möglich machen würde, dass er tatsächlich seiner Aufgabe wieder nachkommen und sich auf die wesentlichen Fälle konzentrieren kann. Abschließend will ich betonen: Es gibt in der Frage unseres Verhältnisses zu Russland, in der Energiesicherheit, bei Pipelineprojekten, in der Raketenabwehr und der Nachbarschaftspolitik, sicherlich Punkte, über die man streiten kann und bei denen wir in diesem Haus unterschiedlicher Ansicht sind. Dass uns die OSZE und der Europarat wichtig sind, steht aber außer Zweifel und ist der Lackmustest für die Europafreundlichkeit und die Frage, ob Russland ein guter Nachbar in Europa sein will. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Mit der Gründung der KSZE vor 30 Jahren waren die Vereinbarung über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich und die gegenseitige Zusicherung der territorialen Integrität verbunden, aber auch - daran erinnere ich mich gut und gern - die große Hoffnung auf Anerkennung der Menschenrechte durch die damalige Sowjetunion. Der Geist von Helsinki gab Zuversicht, dass ein gewisses Maß an Demokratie, Weltoffenheit sowie an kulturellen und politischen Freiheiten auch innerhalb des Warschauer Vertragsstaatenbündnisses möglich werden könnte. Es ist schade, dass man mit Blick auf das Russland von heute diese Leistung von Breschnew damals wenig sieht. ({0}) Es ist aber auch schade, dass das heutige Russland seinem historischen Anteil an dieser wichtigen Tradition so wenig Beachtung schenkt. Die OSZE wurde zum Begleiter des Transformationsprozesses, zum Wahlbeobachter in ehemaligen Sowjetrepubliken. Heute stellen wir fest, dass, wenn es um die Beurteilung des demokratischen Prozesses geht, viel zu sehr danach gefragt wird, wie stark die Westausrichtung und die Öffnung zur NATO sind und wie erfolgreich die orangenen Revolutionen waren. Das wird quasi als Demokratiesiegel bewertet. Das kritisieren wir, die Linken. ({1}) Die Absage der Wahlbeobachtung der OSZE anzulasten, wie Russland das derzeit tut, kann die Zustimmung der Linken nicht finden. ({2}) Die Präsidentenwahlen in Russland werden stattfinden, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger eine wirkliche Wahlmöglichkeit haben. Dass der Wahlprozess demokratischen Standards entsprechen oder genügen würde, behauptet noch nicht einmal die KP Russlands. Der zu erwartende Wahlsieg von Medwedew wird aber kaum auf Wahlmanipulation, sondern wohl doch auf überwältigende Zustimmung für Putin und seinen Kandidaten zurückzuführen sein. ({3}) Man möchte meinen, dass es im Eigeninteresse Russlands läge, das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE zu stärken. Angesichts bestimmter Bedrohungen, denen sich Russland durch NATO-Ausdehnung und Raketenstationierungen zurzeit ausgesetzt sieht, versteht man durchaus, dass es Stärke demonstrieren will. ({4}) Die OSZE darf aber nicht Schaden nehmen. Wir halten die rigide Haltung Russlands in der Frage der Wahlbeobachtung für nicht angebracht. ({5}) In Ihrem Antrag wird - ein wenig versteckt - Russland aber doch in gewisser Art und Weise angegriffen. Es wird behauptet, die Kernelemente der KSZE/OSZEVereinbarung würden von Russland nicht mehr verfolgt. Meiner Ansicht nach wird zu stark betont, dass sich Russland außerhalb dieses Bekenntnisses stellt. Auch die Worte von Herrn von Klaeden waren ziemlich gewagt. Er hat sich weit vorgewagt, was die Beurteilung der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland angeht. Ich darf sein Wort „Lackmustest“ in Erinnerung rufen. ({6}) Ich weiß nicht, ob das mit der Politik der strategischen Partnerschaft, die Außenminister Steinmeier betreibt, in Einklang zu bringen ist. Vielleicht sollten Sie sich einmal abstimmen, wie Sie sich zu Russland äußern wollen. ({7}) Sie bilanzieren die Fehlleistungen der OSZE-Wahlbeobachter in Georgien nicht wirklich. ({8}) Ich könnte hier einen Kollegen der CDU zitieren: Die OSZE musste mit ihrer Einschätzung, dass Saakaschwili dort demokratisch gewählt wurde, zurückrudern. ({9}) Wie dem auch sei, Sie hätten bei der Formulierung Ihres gemeinsamen Antrages meines Erachtens etwas mehr maßhalten sollen. So richtig die Forderungen an und für sich sind und so autoritär die Gesten Russlands sind, so reflexartig reagieren Sie in alter Manier auf die aufstrebende Macht Russland. ({10}) Deshalb können wir dem Antrag so nicht zustimmen, wenngleich wir das Anliegen nachdrücklich unterstützen, dass das Instrument der Wahlbeobachtung durch die OSZE zu stärken ist, und auch wir der Auffassung sind, dass die Aktivitäten Russlands dem nicht helfen. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Marieluise Beck das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte unseren Blick einen Moment von der Frage abwenden, wie es Russland mit der Demokratie hält, und ihn stattdessen zurücklenken auf die Institutionen OSZE-Parlamentarierversammlung und ODIHR, diese Perle, wie der Kollege Meckel sie genannt hat. Wir Parlamentarier haben uns bei der Aufgabe, diese beiden Organisationen zusammenzuhalten, was eine Gratwanderung ist, manchmal nicht ausreichend gut verhalten. ({0}) Im Vorfeld der Duma-Wahlen gab es eine klare Entscheidung von ODIHR, nachdem den Wahlbeobachtern in Russland die für eine Langfristbeobachtung und -bewertung notwendige Zeit nicht gegeben worden war. Dann gab es vonseiten der Parlamentarischen Versammlung leider eine abweichende Entscheidung, die in der Konsequenz bedeutet: Russland konnte mit dem Prinzip „divide et impera“ durchkommen und sagen: Ihr Kurzzeitbeobachter, die ihr am Samstag einfliegt, wunderbar geführte Wahlkabinen und frische Räume seht und am Montagmorgen wieder abfliegt, könnt gern einmal einen oberflächlichen Blick nehmen. ({1}) Euch lassen wir gern kommen. Aber die, die wirklich in die Tiefe schauen, sind nicht willkommen. Da, Frau Kollegin Knoche, entscheidet sich die Frage, ob Wahlen fair und frei sind. Tiefe heißt nämlich Medienzugang. Können die Kandidaten überhaupt an die Öffentlichkeit gehen? Können Parteien überhaupt registriert werden? Gibt es die freie Presse? Gibt es das Recht auf das freie Wort? All das können wir Parlamentarier als Kurzzeitbeobachter nicht bewerten. Das kann in der Tat in professioneller Weise nur das ODIHR-Büro in Warschau mit einem harten Benchmarking-System und mit gut ausgebildeten Mitarbeitern. ({2}) Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, dass wir unseren parlamentarischen Vertretern und ODIHR sehr deutlich die Sicherheit vermitteln, dass wir nicht damit einverstanden sind, wenn Entscheidungen dieser beiden Teilorgane, der Parlamentarischen Versammlung und ODIHR, auseinanderfallen. Denn wir wissen, dass selbst in dieser Institution Mitglieder sind, die sie nach dem Prinzip „divide et impera“ von innen aushöhlen wollen. Ich glaube, jetzt ist sehr klar geworden, worum es in der Vergangenheit ging. Mit der OSZE waren große Hoffnungen auf eine Blocküberwindung verbunden. Sie hat unendlich viele Schwächungen und Kränkungen hinnehmen müssen. Ich denke nur an das Ausscheiden unseres Kollegen Duve als Medienbeauftragter. Er hat resigniert, weil die Durchsetzungsfähigkeit der OSZE sehr begrenzt ist. Sie ist begrenzt, weil sie ausschließlich mit Dialog und Konsens arbeitet. Das erfordert eine unendliche Geduld und Zähigkeit. Die Durchsetzungsmittel sind die Kraft der Wahrheit, die Macht der Moral, der Ethik und der Glaubwürdigkeit. Deswegen müssen wir mit diesem Instrument sehr sorgsam umgehen. Glaubwürdigkeit bedeutet niemals Einäugigkeit. Glaubwürdigkeit bedeutet, sich nicht verführen zu lassen, parteilich zu sein, und weiterhin um die Standards zu ringen, auf die wir uns alle gemeinsam verpflichtet haben, und dann die beim Wort zu nehmen, die Teil der Institutionen sind, aber die Standards nicht erfüllen. Schönen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/8048 mit dem Titel „Das Instrument der Wahlbeobachtungen durch die OSZE darf nicht geschwächt werden - ODIHR muss handlungsfähig und unabhängig bleiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Vizepräsidentin Petra Pau Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen einige Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung einiger Mitglieder der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Gisela Piltz, Ina Lenke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Lage der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 16/1457, 16/5032 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre zu dieser Vereinbarung keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({1})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kommunen sind das Fundament unseres Staates. Hier wurzelt die Demokratie. Hier findet das Leben der Menschen jeden Tag statt. Hier arbeiten sie, hier gründen sie Familien, und hier verbringen sie ihren Lebensabend. Kommunen sind aber auch das Fundament von Bürgertum und Gesellschaft, etwas, auf das wir alle Wert legen. Hier sind die Menschen ehrenamtlich engagiert, hier werden Kunst und Kultur geschaffen, und hier ist bürgerschaftliche Hilfe aktuell. Leider bereitet uns die Situation der Kommunen seit Jahren große Sorgen. Die Folgen spüren Sie alle jeden Tag in Ihren Städten und Gemeinden. In Schulen und Kindergärten tropft es hinein, Büchereien und Schwimmbäder werden geschlossen, die Straßen sind holprig und vieles andere. Das heißt - das ist jedem von uns klar -: Den Kommunen fehlt vielerorts der finanzielle Handlungsspielraum, um ihren Aufgaben noch nachkommen zu können. ({0}) Wo selbst für das Nötigste das Geld fehlt, fehlen erst recht die Mittel, um die Grundlage für die Zukunft zu schaffen. Das wäre die Aufgabe der Gemeinden; sie können sie aber nicht erfüllen. Das allein wäre aus meiner Sicht schon Grund genug dafür, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Lage der Kommunen beschäftigt. Was aber hat die Große Koalition gemacht, als wir einen entsprechenden Antrag gestellt haben? Sie hat ihn abgelehnt. Die Kommunen waren Ihnen offensichtlich egal. ({1}) Wir haben deshalb eine Große Anfrage gestellt - die Bundesregierung hat übrigens sehr lange gebraucht, um sie zu beantworten -, über die wir hier und heute debattieren. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass die kommunalpolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen heute nicht zu diesem Thema sprechen; ({2}) das finde ich interessant. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, uns über die Gründe aufzuklären. Ich persönlich finde das enttäuschend, weil ich gedacht habe, dass diejenigen, die sich in der Großen Koalition mit Kommunalpolitik beschäftigen, zu diesem Thema Stellung nehmen. ({3}) Wenn ich das einmal so sagen darf: Was den Bundestag angeht, heißt das für die Kommunen in den nächsten zwei Jahren nichts Gutes. ({4}) Die nächsten Probleme sind bereits am Horizont zu sehen. Der demografische Wandel wird die Kommunen in unterschiedlichem Ausmaß treffen. Keine Kommune wird davon unbeeinflusst bleiben. Die Herausforderungen stellen sich schon jetzt; denn Städte, Gemeinden und Kommunen zu verändern, das ist nicht von heute auf morgen möglich. Schon heute ist abzusehen, dass vom demografischen Wandel in besonderem Maße die Kommunen in den neuen Bundesländern betroffen sein werden. Bis zum Jahre 2050 wird die Gesamtbevölkerung Deutschlands auf circa 68,5 Millionen Bürger sinken. Drei von vier deutschen Kreisstädten werden bereits im Jahr 2020 weniger Einwohner haben als jetzt. Noch stärker fällt diese Entwicklung außerhalb der Städte aus. Zugleich wird der Anteil der Personen, die aktiv am Arbeitsleben teilnehmen, immer geringer. Auch das wird die Kommunen und Städte vor große Probleme stellen und insbesondere Städte und Regionen in strukturschwachen Gebieten treffen. Diese Trends dürften sich durch die zunehmende Abwanderung noch verstärken. Die Kommunen müssen gewappnet sein, um diese Herausforderungen bewältigen zu können. Dabei muss jede Kommune selbst entscheiden, was sie tut. Wir können den Kommunen keine Ratschläge erteilen. Eines können wir allerdings tun: Wir können für ausreichende finanzielle Handlungsspielräume sorgen; ({5}) denn die finanzielle Situation der Kommunen ist nach wie vor dramatisch. Die Bundesregierung hat auf unsere Große Anfrage geantwortet, dass die Kassenkredite weiter steigen. Dabei handelt es sich im Grunde genommen um die eigentliche Verschuldung der Gemeinden. Es ist eben nicht so, wie Sie es gerne darstellen, dass es den Gemeinden besser als Bund oder Land geht. Wenn ich mir die Situation in den Kommunen vor Augen führe, frage ich mich, wo Sie zu Hause sind. Denn den meisten Kommunen geht es nicht besser als Bund oder Land. Damit die Kommunen aus der Schuldenfalle herauskommen können, haben wir vorgeschlagen, die Gewerbesteuer abzuschaffen und sie durch eine sichere Basis zu ersetzen. Sie haben das immer wieder abgelehnt. Im Rahmen Ihrer vermeintlichen Steuerreform haben Sie einen Vorschlag gemacht, der den Kommunen letztlich mehr schadet als nutzt. Ihre Entscheidung, Mieten in Zukunft anders zu behandeln, ({6}) wird mittelfristig zur Folge haben, dass viele mittelständische Betriebe die Innenstädte verlassen. Das ist nicht im Sinne des Erfinders. Letztlich werden die Einnahmen aus der Gewerbesteuer sinken. Kurzfristig werden die Kommunen ein weiteres großes Problem bekommen. Dabei geht es um ein Thema, mit dem wir uns in dieser Woche an vielen Stellen beschäftigen: die Bankenkrise. ({7}) Da die Sparkassen geringere Einnahmen erzielen, zahlen sie weniger Gewerbesteuer. Dieses Problem wird auf die Kommunen zukommen. ({8}) Ich kann nicht erkennen, dass Sie etwas unternehmen, um dieses Problem zu lösen. Im Rahmen der Föderalismusreform I haben wir beschlossen, das Aufgabenübertragungsverbot im Grundgesetz zu verankern. Wir fordern, dass diese Regelung zurückgenommen wird; denn wir haben festgestellt, dass sie sich nicht bewährt hat. Dieses Verbot gilt entgegen dem, was uns versprochen wurde, nicht für bestehende Leistungsgesetze. Zum Beispiel hat der Bundestag - haben Sie - beschlossen, die Weihnachtsbeihilfe zu erhöhen. Wer bezahlt das? Die Kommunen. Das sind bestehende Leistungen, die Sie mal eben ausweiten. Das ist nicht das, was uns in den Anhörungen versprochen worden ist. Deshalb werden wir uns bei der Föderalismusreform II dafür einsetzen, dass das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz verankert wird. Das wäre auch in Ihrem Sinne. Sie suchen ja im Moment nach Hilfskonstruktionen, weil es keine Aufgaben mehr gibt, die Sie an die Kommunen übertragen können. Ich nenne nur die Kinderbetreuung. Wir werden genau darauf achten, dass sich Frau von der Leyen nicht mit etwas brüstet, was letztendlich die Kommunen bezahlen müssen. So kann man mit den Kommunen nicht umgehen. ({9}) Die Kommunen können vieles besser, weil sie näher am Bürger sind. Das zeigt sich zum Beispiel an der Arbeit der Optionskommunen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes werden wir uns dafür einsetzen, dass diese Aufgabe kommunalisiert wird. ({10}) Wir sind sehr gespannt, wie die Große Koalition das sieht. Wir wissen, dass es hier große Unterschiede gibt. Wir sind jedenfalls der Ansicht, dass kommunale Selbstverwaltung keine leere Worthülse mehr sein darf. Wir müssen uns im Deutschen Bundestag öfter mit diesem Thema beschäftigen. Selbstverwaltung heißt aus unserer Sicht Freiheit und Verantwortung. Die Verantwortung wollen und können die Kommunen übernehmen; die Freiheit dazu müssen wir ihnen geben. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Bergner. ({0})

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Piltz! Zunächst einmal zur Behandlung der Großen Anfrage, die bereits am 10. Mai 2006 eingereicht wurde. Die 165 Einzelfragen spiegeln das breite Spektrum der kommunalen Arbeit wider: Finanzlage, Wirtschaftsfragen, demografischer Wandel, Ehrenamt, Städtebau, Kultur und Sport, Integration, Familienpolitik und anderes mehr. An der Beantwortung dieser Großen Anfrage waren fast alle Ressorts der Bundesregierung aktiv beteiligt. Ich finde, derjenige, der die Antwort fair beurteilt, muss feststellen, dass wir uns bemüht haben, auf die Fragen zur Lage der Kommunen in sorgfältiger Weise Antwort zu geben. ({0}) In dieser Antwort bekennt sich die Bundesregierung zu einer kommunalfreundlichen Politik, ({1}) die der nach Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz garantierten Selbstverwaltung Rechnung trägt, nämlich dem Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft … in eigener Verantwortung zu regeln. Dieser Grundsatz zieht sich durch die Antwort der Bundesregierung. Frau Kollegin Piltz, wenn Sie die Situation beurteilen wollen, brauchen Sie nur die Ausgangslage - die Lage, die Sie in der Vorbemerkung zu Ihrer Großen Anfrage zutreffend geschildert haben - mit der Lage zum Zeitpunkt der Beantwortung - das war der Mai 2007 - bzw. mit der Lage zum jetzigen Zeitpunkt zu vergleichen. Dann werden Sie feststellen, dass es bei dem Problem, das Sie angesprochen haben, der Finanzlage der Kommunen, eine Entwicklung gibt, deren positive Tendenz auch aus der Perspektive der Opposition nicht geleugnet werden kann. ({2}) Erinnern wir uns: Sie haben in der Vorbemerkung zu Ihrer Großen Anfrage zu Recht strukturelle Defizite angemahnt: die Höhe der Kassenkredite, die insgesamt negative Finanzierungsbilanz der kommunalen Haushalte. Wenn Sie die jüngsten Zahlen, die uns vorliegen - das ist die Gemeinschaftsprognose der kommunalen Spitzenverbände, die der Deutsche Städtetag am 29. Januar auf einer Pressekonferenz vorgestellt hat -, zu Rate ziehen, so können Sie feststellen, dass die kommunalen Haushalte im Jahr 2007 einen Finanzierungsüberschuss von insgesamt 6,4 Milliarden Euro hatten. ({3}) Wie gesagt: Zu dem Zeitpunkt, als Sie Ihre Große Anfrage gestellt haben, hatten wir noch ein dickes Minus im Gesamtsaldo. Für 2008 erwarten die kommunalen Spitzenverbände weitere Milliardenüberschüsse. Die Investitionsausgaben der Kommunen haben im Jahr 2007 um 7,3 Prozent zugenommen. Für das Jahr 2008 erwarten die kommunalen Spitzenverbände einen Anstieg der Investitionsausgaben der Kommunen von 6,6 Prozent. ({4}) Verehrte Frau Kollegin Piltz, ich nenne die Zahlen nicht, weil ich den Eindruck erwecken will, als sei die Situation völlig problemlos. Wir wissen, dass sich hinter diesen Zahlen ein sehr vielfältiges und sehr differenziertes Bild verbirgt. Wir wissen auch - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist von Ihnen erwähnt worden -, dass sich für die Kommunalpolitik und für die Bundespolitik immer wieder neue Aufgaben mit kommunalpolitischen Auswirkungen stellen. Eines sollten Sie bei der Betrachtung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage aber fairerweise feststellen: Die Handlungsspielräume der Kommunen haben sich während der Regierung von Angela Merkel in dieser Wahlperiode nachweisbar verbessert. ({5}) Diese Entwicklung dürfen wir bei allen Problemen, die niemand leugnen sollte, nicht ignorieren. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe kommunale Mandatsträger der Zukunft in Ingolstadt und Umgebung! ({0}) Mit Verlaub, Herr Dr. Bergner: Die Bundesregierung malt sich die Welt, wie sie ihr gefällt. ({1}) Befragt man die Bundesregierung zur Entwicklung und zu den Problemen im Land, dann bekommt man Antworten, die in der Schule ein „Ungenügend“ wert wären. ({2}) In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage machen Sie durch Ihre Grundsatzpositionen sehr deutlich, dass Sie auch in Zukunft kein verlässlicher Partner mehr für die Kommunen sein werden. Einige Minister und Abgeordnetenkollegen unterstreichen auf wichtigen kommunalpolitischen Veranstaltungen ihre Verbundenheit mit den Kommunen. Wenn es aber hier im Bundestag darum geht, sich für die Kommunen einzusetzen, dann spielt diese Verbundenheit keine Rolle mehr. ({3}) Ich will Ihnen das an drei Beispielen erläutern. Erstes Stichwort: verbindliches Mitwirkungsrecht der Kommunen durch ihre Spitzenverbände bei Gesetzgebungsverfahren. In der Antwort der Bundesregierung wird der gesamte kommunalpolitische Katalog der Leistungen abgehandelt. Auf diese Weise wird die Bedeutung der Leistungen der Kommunen unterstrichen. ({4}) Das Leben findet in den Kommunen statt. Schon aus diesem Grund wäre also eine stärkere Einbeziehung der Kommunen in die Gesetzgebungsverfahren berechtigt. ({5}) Wovor hat die Bundesregierung Angst? Hat sie Angst vor öffentlichen Debatten über ihre Politik und deren Folgen ({6}) oder davor, dass ihre Gesetzentwürfe eventuell besser werden würden? - Wenn Sie Redezeit haben, dann nutzen Sie sie bitte nachher dafür. ({7}) Die Linke fordert: Nutzen Sie die Föderalismusreform II und verankern Sie ein verbindliches Mitwirkungsrecht der Kommunen im Grundgesetz. Zweites Stichwort: Finanzausstattung der Kommunen. Auf die Frage, welche Möglichkeiten die Bundesregierung zur Verbesserung der Einnahmemöglichkeiten für die Kommunen sieht, antwortet sie: … eine von den Kommunen immer wieder geforderte Mittelumverteilung von Bund und Ländern auf die kommunale Ebene scheidet … aus … Wenn man in Betracht zieht, dass der Anteil der Kommunen am Gesamtsteueraufkommen circa 14 Prozent beträgt, und wenn man die Leistungen berücksichtigt, die in den Kommunen erbracht werden, dann muss dieser Anteil aus unserer Sicht auf 40 Prozent erhöht werden. ({8}) Die skandinavischen Länder machen es uns vor; denn dort liegt der Anteil zwischen 40 und 60 Prozent. Nun schwärmen viele hier im Hause von den sprudelnden Gewerbesteuereinnahmen. In einigen Städten und Gemeinden ist das bestimmt auch so. Man muss aber feststellen, dass es auch Kommunen gibt, in denen schon früher kaum Gewerbesteuerzahler lebten und in denen auch heute kaum welche leben. Die Schere zwischen armen und reichen Kommunen geht immer weiter auseinander. Außerdem sind die Sozialausgaben seit der Einführung von Hartz IV stetig gestiegen. Dies können Sie nicht vom Tisch wischen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Problem, das aus unserer Sicht völlig vernachlässigt wird, sind die Landkreise. Außer der Kreisumlage, die - höflich ausgedrückt - sehr unsolidarisch gegenüber den kreisangehörigen Städten und Gemeinden ist, haben sie keine eigene Einnahmequelle. Der Krug der finanziellen Belastung wird also nur weitergereicht. Deshalb brauchen auch die Landkreise einen eigenen Anteil am Gesamtsteueraufkommen. Darüber müssen wir hier reden. Hinsichtlich der Investitionen antwortet die Bundesregierung buchhalterisch mit Tabellen, ohne eine Wertung vorzunehmen. Sie sagt kein Wort zu Entwicklungen und Aussichten, und es gibt erst recht kein Eingeständnis, dass durch die Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent automatisch auch Bauleistungen und Sachsubventionen verteuert wurden. Die Linke fordert ein kommunales Investitionsprogramm des Bundes für strukturschwache Regionen, um die Kommunen im Investitionsbereich nachhaltig zu unterstützen. So manches Sonderprogramm der Ministerien wäre nicht nötig, wenn generell bessere Investitionsmöglichkeiten für die Kommunen geschaffen würden. ({10}) Drittes Stichwort: Aufgabenübertragung. In einer Sammelantwort zu den finanziellen Mehrbelastungen der Kommunen durch Einführung neuer Sozialhilfeleistungen erkennt die Bundesregierung die Kosten für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht als zusätzlich an. Das ist falsch. Der Bund hat die Grundsicherung im Alter den Kommunen 2003 als neue Aufgabe übertragen, und es gab ganz klare Verabredungen zu deren Finanzierung. Die Kosten haben sich seitdem mehr als verdoppelt. Die Ursachen hierfür liegen unter anderem in gravierenden Einschnitten in die Renten- und Sozialversicherungssysteme. Die Linke fordert auch hier, dass sich der Bund mit mindestens 20 Prozent an den Kosten der Grundsicherung im Alter beteiligt. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie sich schon einmal gefragt, warum bei Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung immer nur bei etwa 30 Prozent liegt? Die Menschen vor Ort merken, dass kommunale Mandatsträger zunehmend weniger zu entscheiden haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Kunert, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn nämlich kein Geld für Kultur und Sport zur Verfügung steht, dann ist kommunale Selbstverwaltung de facto nicht mehr möglich. Schönen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Maik Reichel das Wort.

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute nicht zum ersten Mal mit der Lage der Kommunen. Die FDP hat bereits mehrere Anträge zu diesem Thema gestellt, und wir haben mehrfach in diesem Hause darüber diskutiert. Wir haben uns diesem Thema nicht verweigert; denn die Kommunen sind - das steht auch für unsere Fraktion fest ein wichtiges Glied unserer verfassungsmäßigen Organisation. Dies sind die Kommunen nicht nur, weil es in Art. 28 und an anderer Stelle unseres Grundgesetzes steht, sondern auch deswegen, weil sie die eigentlichen Mittler zum Bürger sind, wie heute schon festgestellt wurde. Politik kommt eben bei den Bürgerinnen und Bürgern direkt und konkret an. Viele von uns kommen aus der Kommunalpolitik oder sind noch kommunalpolitisch tätig. Dies ist aus den Reden hervorgegangen, und das ist auch bei mir der Fall. Kommunen leisten viel für die allgemeine Daseinsvorsorge. Feuerwehr, Kultur, Sport, das Ehrenamt in seiner gesamten Breite und Integration sind nur einige wenige kommunale Aufgaben. Deshalb ist es immer wichtig und notwendig, sich mit den Kommunen zu befassen, und zwar auf allen Ebenen, also auch hier im Deutschen Bundestag. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion, haben sich die Mühe gemacht, 165 Fragen in zehn inhaltlichen Kapiteln zu stellen, und die Bundesregierung hat - hier gebe ich dem Herrn Staatssekretär recht - diese Fragen mit noch größerer Sorgfalt beantwortet. Wenn wir dieses umfangreiche Papier mit insgesamt 168 Seiten richtig studieren und bewerten, erkennen wir die verbesserte Gesamtlage der Kommunen, auch wenn davon nicht alle Kommunen profitieren und nicht alle Probleme in diesem Papier gelöst werden. In der mir verbleibenden Redezeit habe ich allerdings nicht die Möglichkeit, auf alle Schwerpunkte Ihrer Fragen einzugehen. Die Finanzen sind wohl immer eines der schwerwiegendsten Themen, die nicht nur die Kommunen drücken. Aber wie sieht es denn nun hinsichtlich der Finanzsituation der Kommunen aus? Sie haben es angesprochen, Frau Kollegin Piltz: Eine der wichtigsten Einnahmequellen bildet noch immer die Gewerbesteuer, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, gern abgeschafft sähen. ({0}) - Ja, aber ohne genau zu sagen, wie es denn aussehen sollte. - Im Jahr vor Ihrer Großen Anfrage, also noch in der 15. Legislaturperiode, haben Sie in einem Antrag davon gesprochen, dass die Gewerbesteuer eine „unzuverlässige Einnahmequelle“ für die Städte und Gemeinden sei, für eine seriöse Haushaltsplanung ungeeignet. Die Zahlen sprechen aber andere Worte. Über 38 Milliarden Euro Einnahmen aus der Gewerbesteuer waren 2006 zu verzeichnen, im vergangenen Jahr mit leichtem Zuwachs. Mit Ihrer Einwilligung, Frau Präsidentin, zitiere ich aus einer Mitteilung des Bundesfinanzministeriums vom 31. Januar dieses Jahres: In den ersten neun Monaten - gemeint ist das Jahr 2007 nahm allein der Anteil der Kommunen an den Gewerbesteuereinnahmen um 5,2 Prozent auf 23,4 Milliarden Euro zu ({1}) so viel, wie im gesamten Jahr 2002 für Bund, Länder und Kommunen gemeinsam anfiel. Die Finanzierungssalden sind - der Staatssekretär hat es bereits erwähnt - bereits seit 2006 wieder mit 3 Milliarden Euro im Plus. 2003 waren es noch minus 8,4 Milliarden Euro. Höhere Gewerbesteuereinnahmen kommen sicherlich nicht allen Gemeinden zugute. Meine Kommune ist davon betroffen, und zwar mit einem stetigen und erfreulich hohen Anstieg seit 2005. Es fällt mir sichtlich schwer, mir vorzustellen - das geht auch anderen so -, wie eine so hohe Summe zu ersetzen wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({2}) Allein durch die Beteiligung über die Gewerbesteuerumlage würden beträchtliche Einnahmen beim Bund und auch bei den Ländern wegbrechen. Mit den höheren Gewerbesteuereinnahmen der vergangenen Jahre ist aber nicht jedes Problem gelöst. Die Gestaltungsspielräume sind teilweise immer noch eng. Nicht jede Gemeinde profitiert in gleichem Maße von dem Anstieg der Gewerbesteuereinnahmen. Die unterschiedlichen Entwicklungen in den Kommunen sind ein Grund dafür. Die kommunale Selbstverwaltung ist ein hoch zu schätzendes Gut. Aber hier - das sage ich deutlich kommen auch die Länder ins Spiel. Diese müssen eine Ausgleichsfunktion erfüllen. Das Grundgesetz kennt, wie Sie wissen, nur den Bund und die Länder; die Kommunen sind ein Teil der Länder. Aus diesem Grund fällt den Ländern eine besondere Aufgabe hinsichtlich der Gemeinden zu. Dies sollte - gerade wenn es um die Finanzierung der Kommunen geht - nicht vergessen werden, wenn man einseitig auf den Bund schaut. Die FDP ist in drei Ländern in der Regierung vertreten - es kann schon bald eine vierte hinzukommen, wenn Sie sich entsprechend entscheiden ({3}) und kann dort ihre kommunalfreundliche Politik direkt und konkret unter Beweis stellen. Ich selbst kenne das noch aus der Zeit zwischen 2002 und 2006, als es in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt einen FDP-Finanzminister gab ({4}) - ja, das war ein guter Mann -, der den Kommunen teilweise sozusagen das Weiße aus den Augen gedrückt hatte. Liebe Kollegin Piltz, werfen wir noch einen Blick in ein anderes Land, das Sie sehr gut kennen, nämlich Nordrhein-Westfalen, wo ein FDP-Innenminister mit am Kabinettstisch sitzt. ({5}) Die FDP hätte dort die Möglichkeit, die Kommunen im Bemühen um die Sanierung der Haushalte deutlich zu unterstützen, ({6}) aber Fehlanzeige. Mein Kollege Bernd Scheelen würde sicherlich noch einiges hinzufügen, was ich nur kurz und knapp ansprechen würde. ({7}) Ich will nur einige Stichpunkte nennen: die Übertragung von Landesaufgaben auf die Kommunen ohne Finanzausgleich, Stichwort Umweltverwaltung. Sie sprachen vorhin vom Konnexitätsprinzip, das Sie gerne im Grundgesetz verankern würden. Auf Landesebene ist das schon möglich. Weitere Stichworte sind die Verschiebung von weiteren Lasten auf die Kommunen seit 2006 in Ihrem Land und die Kürzung der finanziellen Zuweisung durch neue Berechnungsgrundlagen für das GFG. Der Anteil der Grunderwerbsteuer wurde bei der Berechnung für die Kommunen herausgenommen. Fazit ist, dass den Kommunen in Ihrem Land 2007 165 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen. Bei der Krankenhausfinanzierung wurde der Kommunalanteil von 20 Prozent auf 40 Prozent erhöht. Die Mittel für Städtebauförderung wurden rückgeführt. 2006 erfolgte eine Änderung des Kindergartengesetzes zulasten der Träger. So geht es weiter. Ich denke zum Beispiel auch an die 1 Milliarde Euro, die Sie noch für die Jahre 2006 und 2007 zurückzahlen müssen. ({8}) - Sie wissen, worüber ich rede und was Sie Ihren Kommunen noch schuldig sind. Kollege Scheelen würde wohl gerade in Ihrem Fall noch einiges hinzuzufügen, weil Sie vom Bund noch vieles fordern, was Sie in den Ländern ausführen könnten, in denen Sie in der Regierung sind. Ich komme noch einmal auf die Bundesebene zurück, und zwar zunächst auf die Städtebauförderung des Bundes. Seit 1998 ist die dafür bereitgestellte Summe von etwa 307 Millionen Euro auf 546 Millionen Euro, also auf über eine halbe Milliarde Euro, in 2006 gestiegen. Neben dem Programm „Stadtumbau Ost“ verzeichnet auch das Programm „Stadtumbau West“ steigende Zuschüsse durch den Bund. Auch das ist wichtig, wenn es um die kommunalen Investitionen geht, die Sie angesprochen haben. Die Kommunen tätigen mit 60 Prozent die meisten Investitionen der öffentlichen Hand, auch wenn das Investitionsvolumen nicht mehr so hoch ist wie vor zehn Jahren und früher. Ein weiteres Thema, das mir neben vielen anderen am Herzen liegt, ist das Ehrenamt, das auch bereits angesprochen wurde. Das ist vor allen Dingen in den Kommunen stark ausgeprägt, weil es vor Ort sehr gut wirkt. Der Bund hat in den vergangenen Jahren viel Gutes auf den Weg gebracht: Übungsleiterpauschale, Erhöhung der Steuerbefreiung von Aufwandspauschalen, das Projekt „Hilfe für Helfer“ und Mehrgenerationenhäuser. Auch dazu hat Ihnen die Regierung Antwort gegeben. Dabei sind wir von Bundesseite noch nicht am Ende. Das gilt sicherlich auch für die Länder und Kommunen. Wir stehen also nicht am Anfang. Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die Kameradinnen und Kameraden der freiwilligen Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks, die unendlich viel und sehr Kräftezehrendes tun, um zu helfen, zu schützen, zu retten, zu löschen und zu bergen. Dafür brauchen wir aber das gesamtgesellschaftliche Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft. Ein herzliches Dankeschön an alle, die dort ehrenamtlich tätig sind. ({9}) Allen in Sport und Kultur sowie in sozialen, kirchlichen und sonstigen Bereichen ehrenamtlich Tätigen sage ich: Wir brauchen euch und unterstützen euch. - Es ist wichtig, dass wir den Worten Taten folgen lassen. Dies werden wir in den nächsten Jahren auch tun, egal in welcher Regierung wir sind. Ich bedanke mich recht herzlich. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Britta Haßelmann das Wort.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit dem Positiven und Verbindenden. Sicherlich besteht weitgehend Einigkeit in den Fraktionen darüber, dass wir viele politische Herausforderungen ohne die kommunale Ebene nicht bewältigen können. Das gilt für nachhaltiges Wirtschaften ebenso wie für soziale Sicherheit und den demografischen Wandel. Wir brauchen aus meiner Sicht eine föderale Kraftanstrengung, um die Politikfähigkeit der Kommunen zu stärken. Damit hört die Einigkeit aber auf; denn in der Föderalismusreform II sehen Sie die Rolle der Kommunen nicht ausreichend berücksichtigt. Eine nüchterne Bestandsaufnahme wäre als erster Schritt notwendig. Sie ist auch in der Antwort der Bundesregierung vorgesehen. Herr Staatssekretär, anders als Sie, der Sie in Ihren Reden nur darüber philosophieren, wie gut es den Kommunen mittlerweile geht, ist der Blick dort - das ist wohltuend - etwas differenzierter. Ihre Botschaft ist eindeutig: Da die Kommunen enorme Mehreinnahmen haben, geht es allen Kommunen in Deutschland gut. Ich bin froh, dass der Deutsche Städtetag weiter ist. Selbst Herr Ude beklagt, dass die Schere zwischen armen und reichen Städten und Gemeinden immer weiter auseinandergeht. Mit dieser Herausforderung sollten Sie sich einmal befassen. ({0}) Die Bundesregierung stellt fest, dass die kommunalen Investitionen seit 1992 um 40 Prozent gesunken sind. Sie beschreibt einen sprunghaften Anstieg der Kassenkredite. Das ist keine Erfindung der Grünen, sondern die Aussage der Bundesregierung. Sie rechnet vor, dass sich die Kosten der Grundsicherung im Alter in zwei Jahren mehr als verdoppelt haben. Das alles ist richtig. Herr Staatssekretär, einer nüchternen Bestandsaufnahme muss aber auch zielgerichtetes politisches Handeln folgen. Sie müssen sagen, was geschehen soll, was Sie vorhaben. Aber hier haben Sie wenig anzubieten. So zeichnet sich ab, dass die Kommunen nicht länger um 2,5 Milliarden Euro jährlich entlastet werden sollen. Sie kürzen den Zuschuss für die Kosten der Unterkunft. Sie interessieren sich nicht dafür, ob die Länder die eingesparten Mittel beim Wohngeld an die Kommunen weiterleiten. All denjenigen, die gestern nicht in der Fragestunde waren, rate ich: Sehen Sie sich die Ausführung des Finanzstaatssekretärs dazu an! Die gestiegenen KosBritta Haßelmann ten bei der Grundsicherung im Alter werden zu einem rein kommunalen Problem erklärt. Der Höhepunkt Ihrer Antwort ist allerdings der Ratschlag an die Städte und Gemeinden, Vermögen zu veräußern und Privatisierungen vorzunehmen. Die Botschaft lautet also: Tafelsilber verkaufen und Notprivatisierungen vornehmen. Das ist genau die Politik, die aus meiner Sicht Städte und Gemeinden eher ruiniert denn stärkt. Union und SPD haben seit Jahren vor Ort vieles falsch gemacht. ({1}) Es zeigt sich, dass Ihnen ein politischer Kompass und eine klare Linie in der kommunalen Daseinsvorsorge völlig fehlen, einer Daseinsvorsorge, die demokratische Kontrolle vor privaten Profit, aber auch fiskalische Vernunft vor blinde Ideologie stellt. So praktizieren Sie von der FDP, Frau Piltz, das gerade in NRW. Ich erinnere an das, was Sie vorhaben und was Sie in Bezug auf die Kommunalwirtschaft bisher eingeleitet haben. Eine föderale Umschichtung von Finanzmitteln zugunsten der Kommunen schließen Sie in Ihrer Antwort interessanterweise völlig aus. Dabei sind es die Kommunen, die jetzt, wo wir über die Föderalismusreform II beraten, ein klares Signal brauchen und für die wir etwas tun müssen. ({2}) Ich komme aus NRW, ({3}) einem Land mit hochverschuldeten Kommunen, deren Realität eine andere als die des Staatssekretärs ist. Ich dekliniere Ihnen einmal durch, was es heißt, Prioritäten zu setzen: Kürzen wir bei der Wirtschaftsförderung oder kürzen wir bei den Ausgaben für Theater und Kultur? Schließen wir ein Schwimmbad oder was tun wir sonst? ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Haßelmann, das können wir jetzt nicht mehr zu Ende deklinieren.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich komme sofort zum Schluss. Das ist die politische Realität vieler Kommunen. Das wissen Sie, und deshalb jaulen Sie jetzt so auf. In Richtung FDP will ich sagen: Jemand, der in Nordrhein-Westfalen eine so kommunalfeindliche Politik betreibt wie die FDP ({0}) - Frau Piltz, warten Sie! -, sollte nicht auf die Idee kommen, die Konnexität als Lösung vorzuschlagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Haßelmann, die Debatte zu NRW müssen Sie woanders führen. Ich bitte Sie, jetzt wirklich zum Schluss zu kommen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zwei Ihrer Ausführungsgesetze in NRW verstoßen gegen das Konnexitätsgesetz, und Sie haben in Nordrhein-Westfalen Klagen am Hals, weil Sie als Regierung dagegen verstoßen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Klaus Hofbauer das Wort.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich als Bayer möchte mich nicht in den inneren Streit einmischen, möchte aber feststellen, dass wir der FDP-Fraktion sehr dankbar sind, dass sie diese Große Anfrage eingereicht hat, ({0}) weil wir auf diese Art und Weise erneut darstellen können, welche hervorragende Arbeit unsere Bundesregierung und die Große Koalition für die Kommunen leisten. ({1}) Es ist noch nie so gut für die Kommunen gearbeitet worden. Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, wenn Sie in Ihrer Großen Anfrage unter anderem feststellen, dass die Lage der Kommunen besorgniserregend ist, dann muss ich Sie fragen: Wo leben Sie denn eigentlich? Dass es Unterschiede gibt, wollen wir gar nicht bestreiten, aber insgesamt hat sich die Situation der Kommunen verbessert. Ich möchte klar und deutlich feststellen: Die Große Koalition und insbesondere die CDU/CSU-Fraktion sind ein verlässlicher Partner der Kommunen. Ich glaube, das können wir sagen. ({2}) Die finanzielle Situation hat sich auch schon deshalb verbessert, weil es dieser Bundesregierung gelungen ist, die Arbeitsmarktsituation in Deutschland zu verbessern. Wenn wir heute über 1 Million weniger Arbeitslose und fast 800 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr haben, dann spüren die Kommunen das. Zurzeit werden in den Kommunen die Haushalte beraten. Wenn man selber dabei ist und sieht, wie sich die Situation bei der Einkommensteuer verbessert - von der Gewerbesteuer möchte ich gar nicht reden -, dann weiß man, dass sich diese Politik für unsere Kommunen auszahlt. ({3}) Ich möchte klar und deutlich sagen: Mit der Föderalismusreform I sind klare Akzente für die Kommunen gesetzt worden. Das Durchreichen ist nicht mehr möglich. Wir haben uns sehr kommunalfreundlich ver14996 halten, und wir sollten diesen Weg fortsetzen. Ich könnte eine ganze Menge von Beispielen aufzählen, die zeigen, was diese Koalition für die Kommunen getan hat. So wurden bei der Unternehmensteuerreform die Kommunen nicht belastet. ({4}) Ich darf an die Vereinfachung des Bebauungsplanverfahrens erinnern, das der Kollege Götz in hervorragender Form gestaltet hat. Die Gestaltungsmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume in den Kommunen sind gestärkt worden. Wir reden von Subsidiarität nicht nur, sondern wir setzen sie auch um. Der Kollege der SPD-Fraktion hat es schon gesagt: Die Programme Stadtumbau West und Stadtumbau Ost wurden gestärkt. Das alles passiert doch in den Kommunen. Das ist, glaube ich, auch gut so. Die Kommunen werden beim Ausbau der Kinderbetreuung unterstützt, und auch beim Gebäudesanierungsprogramm ist einiges für die Kommunen getan worden. Erlauben Sie mir auch eine Bemerkung zur europäischen und nationalen Strukturpolitik. Diese Mittel gehen doch an die Kommunen. Es gibt Fördermittel für die Unternehmen, die Erschließung von Industriegebieten wird gefördert. Vor Ort werden Netzwerke gebildet. Ich glaube, das ist von entscheidender Bedeutung. Als einen weiteren Punkt der Leistungen der Großen Koalition möchte ich in diesem Zusammenhang den EUVertrag ansprechen. Auf europäischer Ebene ist es zum Beispiel gelungen, im EU-Reformvertrag von Lissabon die kommunalen Rechte in der Europäischen Union zu stärken. Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung wird darin ausdrücklich betont. Es ist auch ein Verdienst unserer Bundeskanzlerin gewesen, dass dieses Recht im Reformvertrag mit aufgenommen wurde. Wir wollen eine durchgängige Politik von der europäischen Ebene bis hinunter zu den Kommunen machen. Die FDP-Fraktion hat zu Recht das Thema „Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände“ angesprochen. Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Dabei geht es nicht nur dann um ein Mitspracherecht, wenn Gesetze verabschiedet werden. ({5}) Auch in der Praxis werden die kommunalen Spitzenverbände gehört. Die Fraktionen hören die Spitzenverbände doch an. Lieber Peter Götz, wir sind ja permanent in unserer AG Kommunalpolitik beisammen. Ohne Anhörung der kommunalen Spitzenverbände wird doch nichts entschieden, was sich in den Kommunen auswirkt. Sie dürfen nicht bloß theoretische Forderungen stellen, sondern Sie müssen auch die praktische Politik beurteilen. Die Fraktionen der Großen Koalition arbeiten in diesem Bereich in hervorragender Art und Weise. Erlauben Sie mir auch eine Bemerkung zum kommunalen Finanzausgleich in Bayern. Ich sage klar und deutlich: In Bayern wird über den kommunalen Finanzausgleich nicht ohne die kommunalen Spitzenverbände entschieden. Die Spitzenverbände werden nicht nur gehört und reden mit, sondern sie entscheiden auch mit. Das ist eine kommunalfreundliche Politik, die sich vom Bund über die Länder weiter nach unten durchzieht. ({6}) - Wir entscheiden ja nicht unmittelbar über Mittel für die Kommunen, sondern im Rahmen des kommunalen Finanzausgleiches. Wir haben die Länder auch gestärkt. In den Ländern können die Kommunen mitentscheiden. So ist es jedenfalls bei uns in Bayern. Wenn das bei Ihnen nicht funktioniert, dann dürfen Sie das nicht mir zum Vorwurf machen. ({7}) - Natürlich reden wir über Bundespolitik. Aber Kommunalpolitik spielt sich nicht alleine in der Bundeshauptstadt ab, sondern auch in den Ländern und Kommunen. Diese Durchgängigkeit, die wir von der CDU/CSU als große Partei praktizieren, gibt es in anderen Parteien vielleicht gar nicht. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zum Schluss noch einmal klar und deutlich feststellen: Die Kommunen spielen eine große Rolle in unserer gesamten Arbeit. Die Kommunen sind eine wichtige Säule der gesamten Zusammenarbeit. Ich kann nur zusammenfassend feststellen: Die Große Koalition, insbesondere die CDU/CSU-Fraktion, ist ein verlässlicher Partner der Kommunen. Das werden wir auch bleiben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Ermäßigung der Visumgebühr für Bürgerinnen und Bürger aus Belarus - Drucksachen 16/5909, 16/7170 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Harald Leibrecht Marieluise Beck ({1}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demokratiebewegung in Belarus unterstützen - Drucksachen 16/1977, 16/3709 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Gert Weisskirchen ({3}) Kerstin Müller ({4}) Dr. Norman Paech c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({6}), Volker Beck ({7}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Michael Link ({8}), Harald Leibrecht, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ermäßigung der Visumgebühr für Menschen aus Belarus - Drucksachen 16/5905, 16/7188 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Harald Leibrecht Marieluise Beck ({9}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen drei Anträge vor; zwei davon - die Anträge zur Visumvergabe - sind bis auf den letzten Satz praktisch wortgleich. Der letzte Satz des einen Antrags ist nicht umsetzbar, weil er gegen europäisches Recht verstößt. Deshalb werden wir - leider nicht gemeinsam - dem Antrag der Koalition zustimmen. Der dritte Antrag ist ein uraltes Relikt vom Juni 2006 und wird wahrscheinlich im Bermudadreieck verschwinden. Ich finde, der Antrag ist nicht einmal abstimmungsfähig, weil wir uns mittlerweile ganz anders mit dem Problem auseinandersetzen müssen. ({0}) Es geht um Erleichterungen bei der Visumerteilung. Wir möchten, dass bestimmten Gruppen - jungen Menschen, Studenten, Künstlern, Journalisten, Menschenrechtlern und Wissenschaftlern - ermöglicht wird, ins europäische Ausland zu reisen, ohne dass hohe Kosten für ein Schengen-Visum anfallen; ({1}) denn wer nur sein eigenes Land kennt und keine Möglichkeit zur Orientierung im restlichen Europa hat, der wird kein richtiges Bild der Welt gewinnen. Darüber haben wir auch im Zusammenhang mit den Balkanstaaten diskutiert. Wir wollen mehr Menschen die Möglichkeit geben, Europa kennenzulernen. Kennenlernen bedeutet auch Dialog; Europa bietet Belarus diesen Dialog an, und zwar im Rahmen der Nachbarschaftspolitik. Im November 2006 ist den Belarussen ein Papier vorgelegt worden. Dieses Papier bietet ihnen eine Verbesserung der Lebensbedingungen, eine Erleichterung der Reisebedingungen, die Unterstützung der ökonomischen Entwicklung, Hilfe bei der Entwicklung des Gesundheitswesens, Unterstützung bei sozialen Problemen, bei Bildung und Ausbildung, bei der Reform der Administration, beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit, bei Transport und Energie und bei der Umweltpolitik an. Dies birgt für Belarus eine enorme Chance zur Integration in europaweite Kooperationsnetze. Finanzhilfen aus Programmen der Europäischen Union würden möglich werden. Die volle Einbindung in das Nachbarschaftskonzept scheitert allerdings an den mangelnden Reformen in Belarus und an dem repressiven Regime, das seinen Bürgern und Bürgerinnen die grundlegenden bürgerlichen Rechte und Freiheiten der Akte von Helsinki verwehrt. Deshalb fordert das Papier freie und demokratische Wahlen, Meinungs- und Informationsfreiheit, freie Medien, Rechtsstaatlichkeit, Koalitionsfreiheit für Gewerkschaften und Parteien und ungehinderte politische Betätigung. ({2}) Der Jahresbericht 2008 von Human Rights Watch stellt fest, dass staatliche Autoritäten in Belarus oppositionelle Aktivitäten praktisch unmöglich machen. Eine weitere Bedingung für die volle Einbindung, die die Europäische Union, zuletzt auch Javier Solana, gestellt hat, ist die Freilassung von politischen Gefangenen. Ich möchte ausdrücklich erwähnen: Ich empfinde es als eine erfreuliche, positive Geste, dass seit November 2007 eine Reihe politischer Gefangener vorzeitig aus der Haft entlassen worden ist. Wir hoffen, dass weitere Gefangene entlassen werden und dass es zu keinen weiteren Verhaftungen und Verurteilungen kommen wird. Wir sollten an dieser Stelle ausdrücklich fordern, dass auch Alexander Kosulin und Andrej Klimov entlassen werden. ({3}) Dies wäre ein wichtiger und gewichtiger Schritt. Europa streckt Belarus in der Tat die Hand entgegen. Die Erklärung der slowenischen Präsidentschaft vom 17. Januar 2008 wiederholt das Angebot, Belarus in die Nachbarschaftspolitik einzubinden. Ich hoffe, dass Belarus diese Hand ergreift; vielleicht kommt es ja so. Es gibt ein paar positive Zeichen, und die sollten wir auch als positiv zur Kenntnis nehmen. Gerade heute war in den Tickermeldungen zu lesen, dass nun endlich die EU-Delegation in Minsk genehmigt ist und das Büro eröffnet werden kann. Der neue OSZEBotschafter ist im Minsker Büro angekommen, ohne dass es darum große Auseinandersetzungen gegeben hat. Der Besuch des Außenministers Martynow auf der Sicherheitskonferenz und die anschließenden Gespräche in Berlin haben durchaus die Dialogbereitschaft des Landes signalisiert. Martynow hat gesagt: It takes two to tango. Richtig, aber im Moment ist das, was zwischen Europa und Belarus stattfindet, eher ein Cha-Cha-Cha oder etwas in der Art der Echternacher Springprozession. ({4}) Belarus muss seine Interessen analysieren. Ich habe den Eindruck, dass es im Moment dabei ist. Warum? Weil es wirtschaftlich ein Erfordernis ist, die Zusammenarbeit mit Europa zu verstärken. Der Handel mit Europa wächst, während der Handel mit Russland schrumpft. Die Probleme mit Öl und Erdgas sind uns allen bekannt. Prodemokratische Reformen würden für Belarus den Zugang zu ökonomischer Entwicklung und Kooperation ermöglichen, zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf vielen Feldern und zum Durchbrechen seiner selbstgewählten Isolation führen. Ich glaube, dass die Parlamentswahl, die im September 2008 stattfindet - wir hatten gerade die Diskussion um die Wahlbeobachtungen -, ein Lackmustest für den Willen der Belarussen ist, sich den Bedingungen, die wir ihnen abverlangen, anzupassen. ({5}) Ich finde es sehr positiv, dass Frau Yermoshina, die für die Wahlen in Belarus zuständig ist, ODIHR und die OSZE bereits zur Wahlbeobachtung eingeladen hat, und zwar mit dem Hinweis, man wolle es besser machen als in Russland, nämlich eine volle Wahlbeobachtung ermöglichen. Auch die Bundesrepublik ist Belarus immer verbunden gewesen. Sie hat sehr frühzeitig diplomatische Beziehungen aufgenommen, eine deutsch-belarussische Parlamentariergruppe gebildet und das Minsk-Forum, das jetzt zum zehnten Mal stattgefunden hat, als ein Dialogforum etabliert. Das sollten wir auch nutzen und uns daran beteiligen. Die Beteiligung war in letzter Zeit sehr erfreulich. Die Zusammenarbeit mit der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ist manchmal etwas konfliktbehaftet. So kann das Büro in Minsk eigentlich eher Projekte im Wirtschafts- und Umweltbereich, also im dritten Korb, durchführen. Die Projekte im Bereich der Menschenrechte sind schwierig. Auch die Working Group on Belarus - ich bin deren Vorsitzende -, die ebenfalls einen Dialog mit den Belarussen führen will, hat Schwierigkeiten gehabt. Wir werden noch einen Anlauf unternehmen. Vielleicht dauert es diesmal nicht drei oder vier Jahre, bis das nächste erfolgreiche Seminar stattfinden kann. Kolleginnen und Kollegen, Deutschland streckt ebenso wie die EU Belarus die Hände entgegen. Der heute vorliegende Antrag zur Visumgebührenerleichterung ist ein Mosaikstein in diesem Prozess. Er ist auch eine Aufforderung zum Dialog, eine Aufforderung zum Tanz. Aber diesmal bitte Tango! ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Link, FDPFraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Zapf, es ist etwas schwierig, die Analogien zum Tanzen fortzusetzen. Wenn überhaupt, würde ich an eine Eisbärenpolka denken; die könnte man mit Lukaschenko noch vollführen. ({0}) Sagen wir es einmal so: Wir sollten uns zunächst einmal an das halten, was tatsächlich auf dem Tisch liegt. ({1}) Auf dem Tisch liegen heute drei Anträge. Aber Sie haben natürlich recht: Natürlich steht der zweite, der etwas ältere Antrag, heute nur der Vollständigkeit halber auf der Tagesordnung. Wichtiger sind die Anträge zur der Reduzierung der Visumgebühren. Die jetzige Debatte ist genauso wie die OSZE-Debatte von vorhin besonders aktuell geworden, weil Herr Lukaschenko vor wenigen Wochen angekündigt hat, dass er im September dieses Jahres in Belarus Parlamentswahlen abhalten lassen wolle. Dabei hat er großzügig angekündigt, dass er Wahlbeobachter einladen will, und zwar „so viele, wie die internationalen Organisationen für sinnvoll halten“. Danke, Herr Lukaschenko, für die Einladung! Wir werden Sie beim Wort nehmen, und zwar insbesondere Ihre Aussage: „so viele, wie die internationalen Organisationen für sinnvoll halten“. Wir wundern uns natürlich schon, dass er nicht gleichzeitig seine Unterschrift unter den russischtadschikisch-weißrussisch-armenisch-kirgisischen Antrag an die OSZE, die Zahl der Wahlbeobachter auf 50 zu reduzieren, zurückzieht. Das passt nicht zusammen, wie so vieles beim Genossen Lukaschenko nicht zusammenpasst. Praxis und Theorie fallen völlig auseinander. Das Michael Link ({2}) ist nicht nur in diesem Punkt der Fall, sondern trifft insgesamt auf seinen Umgang mit den Idealen der OSZE zu, die er als OSZE-Teilnehmerstaat unterschrieben hat, aber dennoch verletzt. Journalisten, Studenten und Oppositionelle werden verhaftet und körperlich misshandelt. Vor allem die sogenannten Wahlen vom März 2006 sind uns in lebhafter Erinnerung. Aus all diesen Gründen nehmen wir gerne die Einladung zur Wahlbeobachtung im September an. Insbesondere vergessen wir nicht - Frau Zapf hat völlig recht - den Fall Kosulin. Kosulin steht aber zugleich für viele Namenlose, die wir hier gar nicht erwähnen können und von denen wir oft gar nichts wissen. Deshalb vergessen wir, wenn wir an den Fall Kosulin erinnern, nicht die vielen anderen; er steht stellvertretend für die vielen anderen. ({3}) Der weißrussische Präsident unternimmt alles, um seine Macht zu zementieren, und lässt sich dabei offensichtlich von anderen „lupenreinen Demokraten“ leiten. Er hat offensichtlich ein mittelasiatisches Demokratieideal, wenn er sich an den von Islam Karimow, aber natürlich auch an den von Wladimir Putin gelenkten Wahlen orientiert. Nicht nur in diesem Punkt gibt es Probleme in Belarus. Belarus hat auch - das ist gerade für Außenpolitiker ein echtes Problem - besondere Beziehungen zu Staaten wie Simbabwe, Iran und Nordkorea. ({4}) Man braucht nicht einmal den Begriff von den Schurkenstaaten zu verwenden, um zu sehen, was hier vor sich geht. ({5}) - Genau, gleich und gleich gesellt sich gern. Das beschreibt das, was hier vor sich geht. - Auch deshalb kann uns Belarus nicht egal sein. Selbst innenpolitisch geht Belarus weiter in Richtung starker autoritärer Staat. Als Beispiel nenne ich nur die neu gegründete „Belaja Rus“-Organisation, die dem Putinschen Ideal dieser sehr nationalistischen Massenorganisation „Naschi“ nacheifert. Auch insofern gibt es neue, besorgniserregende Entwicklungen in Belarus. Ganz aktuell ist auch - das muss man erwähnen - die am 5. Februar vollstreckte Todesstrafe. Da hilft alles nichts, auch nicht, wenn Lukaschenko sagt, das seien Banditen und Gewaltverbrecher gewesen. Nein, Kolleginnen und Kollegen, die Todesstrafe darf in Europa keinen Platz haben. ({6}) Aus all diesen Gründen, den außenpolitischen, den innenpolitischen, und zur Bewahrung unserer europäischen Ideale müssen wir uns um Belarus kümmern, nicht weil wir in dieses Land hineinregieren wollen, sondern weil dieses Land die gemeinsamen europäischen Ideale, die es in der OSZE selbst unterschrieben hat, mit Füßen tritt. Deshalb müssen wir, Kolleginnen und Kollegen, die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Belarus unterstützen. Deshalb müssen wir versuchen, diejenigen zu fördern, die im Lande etwas ändern wollen. Das tun wir am Besten dadurch, dass wir ihnen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erleichtern. Angesichts der selbstgewählten Isolation von Belarus ist das wahrscheinlich die nachhaltigste, die am einfachsten einsetzbare und auch die friedlichste Waffe, die uns zur Verfügung steht, um am autoritären Staat Belarus etwas zu ändern. ({7}) Die Antragsteller von FDP und Bündnis 90/Die Grünen - ein Vertreter von den Grünen wird ja gleich noch reden - begrüßen es, dass auch die Koalitionsfraktionen einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir finden aber, Sie sind dabei sehr kurz gesprungen, und Ihre Aussage, das, was wir fordern, sei europarechtlich nicht haltbar, entspricht nicht unserer Rechtsauffassung. Selbst wenn dem so wäre, wäre doch die Frage: Wie können wir es gemeinsam schaffen, das europarechtlich hinzubekommen? Denn es muss doch unser gemeinsames Ziel sein, dass mehr junge Leute bei uns grundsätzlich ohne Visumgebühren einreisen dürfen. Die Gefahr, dass dabei einzelne Problemfälle mit einreisen, ist doch viel geringer als die Gefahr, dass Belarus insgesamt ein Problemfall bleibt, wenn wir weiterhin nur Lippenbekenntnisse abgeben. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf die heute zu beratenden Anträge näher eingehe, möchte ich etwas zur aktuellen Entwicklung in Belarus sagen. Es ist zwar schon gesagt worden, aber ich möchte das gern wiederholen, weil es für uns wichtig ist. In den letzten Wochen sind einige politische Häftlinge aus belarussischen Gefängnissen entlassen worden. Darunter waren zwei Aktivisten der belarussischen Jugendbewegung, Artur Finkevich und Zmitser Dashkevich, für deren Freilassung sich auch Kollegen aus diesem Hause ganz besonders eingesetzt haben. Wir begrüßen, dass es zu diesen Freilassungen gekommen ist, und hoffen, dass auch andere, von denen hier schon die Rede war, demnächst aus belarussischen Gefängnissen entlassen werden können. ({0}) Belarus hat damit einen Schritt in die richtige Richtung getan. Wir sollten dies anerkennen, gerade weil wir weitere Schritte erwarten. Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen, welche Strategie und vor allem welchen Umgang wir mit dem Regime in Belarus pflegen wollen und welche Form der Kontakte und gegebenenfalls eines Dialoges wir wählen sollten. Darüber müssen wir grundsätzlich nachdenken, und zwar nicht etwa deshalb, weil wir jetzt unsererseits ein Entgegenkommen zeigen sollten, sondern weil mit der Frage, ob und wie wir mit den Vertretern des Regimes reden oder nicht reden, auch unsere Chancen verbunden sind - sie können dadurch erhöht oder auch geschmälert werden -, unsere Intentionen zu vermitteln. Selbstverständlich muss unsere Unterstützung auch weiterhin uneingeschränkt den demokratischen Kräften gelten. Wenn wir zugleich aber die Kontakte gegenüber dem Regime strikt einschränken, birgt das die Gefahr, dieses in seiner repressiven Politik noch zu bestärken. Wir haben auch deshalb Anlass, über die Vermittlung unserer Ziele nachzudenken. Umso weniger Grund haben wir jedoch, unsere Ziele selbst infrage zu stellen. In dieser Hinsicht muss klargestellt werden, dass die Voraussetzungen für politische Konzessionen an Belarus durch die jetzt erlassenen Haftstrafen noch nicht erfüllt sind. ({1}) Das Regime von Präsident Lukaschenko ist nach wie vor das autoritärste in Europa. Die Meinungsfreiheit wird unterdrückt. Unabhängige Medien existieren nicht. Die Zivilgesellschaft hat kaum Entfaltungs- und Entwicklungsspielraum. Nichtregierungsorganisationen unterliegen staatlicher Kontrolle oder werden verboten. Das Regime versucht, sich nach außen abzuschotten, und rechtfertigt dies mit antiwestlicher Propaganda. Einen Eindruck von pluralistischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen können die Bürger von Belarus nur im Ausland erlangen. Umso wichtiger ist es, dass gerade junge Belarussen die Chance erhalten, Reisen in die Europäische Union zu unternehmen. ({2}) Die Erfahrungen, die sie dabei gewinnen, werden über die Zukunft ihres Landes mitbestimmen. Dies ist auch eine Frage von Sicherheit und Stabilität an den heutigen Außengrenzen der Europäischen Union. Aus diesem Grund liegt die Eröffnung von Reisemöglichkeiten vor allem für junge Belarussen auch im Interesse Deutschlands. Hinzu kommt ein weiteres Motiv, das ich nicht unerwähnt lassen möchte. Es betrifft die Besuchs-, Erholungs- und Behandlungsmöglichkeiten für TschernobylKinder in Deutschland. ({3}) - Vielen Dank für den Beifall; denn kaum ein anderes europäisches Land bemüht sich derart intensiv um die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bei Kindern und Heranwachsenden wie unser Land. - Diese Tschernobyl-Kinder und ihre Betreuer werden bislang von Gebühren befreit, und daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. ({4}) Die bisherige Visapolitik hat unserem Interesse Rechnung getragen. So wurden 2006, gemessen an der Einwohnerzahl Belarus’, dreimal so viele Schengen-Visa erteilt wie zum Beispiel in der Ukraine. Allerdings - auch das ist heute Gegenstand der Beratung - wurden zu Beginn des Jahres 2007 die Gebühren für Schengen-Visa von 35 auf 60 Euro deutlich erhöht. Gemessen am durchschnittlichen Monatseinkommen in Belarus ist dies eine erhebliche Hürde. Die beiden Anträge, die wir heute beraten, zielen darauf ab, diese Hürde abzusenken. Mit anderen Ländern Osteuropas wurden oder werden Visaerleichterungsabkommen geschlossen, die entsprechende Gebührenermäßigungen vorsehen. Mit Belarus ist eine solche Vereinbarung auf absehbare Zeit wahrscheinlich nicht zu erreichen. ({5}) Für uns stellt sich damit die Frage, ob wir eine Abschottung von Belarus nicht unfreiwillig unterstützen, wenn wir in diesem Fall nicht auch zu einseitigen Schritten in der Lage sind. Die vorliegenden Anträge sollen eine Antwort auf diese Problematik geben. ({6}) Ihre Formulierungen sind über weite Strecken deckungsgleich, weil sie das Ergebnis interfraktioneller Abstimmungen sind. In der grundsätzlichen Intention stimmen beide Anträge überein. Wenn wir dem Antrag der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP trotzdem nicht zustimmen können, so hat dies rechtliche, europarechtliche Gründe. ({7}) Maßgeblich ist hier nun einmal das Schengen-Recht. Beide Anträge nehmen deshalb Bezug auf eine Entscheidung des Ministerrats, der Gebührenermäßigungen zulässt, dabei aber ausdrücklich von Einzelfällen spricht. Ein Einzelfall ist aber sicher nicht eine generelle Gebührenermäßigung für ganze Personengruppen. Genau das sieht aber der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und FDP vor. Insbesondere ist vorgesehen, die Visumgebühr grundsätzlich zu ermäßigen, wenn Antragsteller nur über ein geringes Einkommen verfügen. ({8}) Was Sie fordern, ist eine pauschale Einzelfallregelung. Doch das ist ein Widerspruch in sich und mit dem Schengen-Recht einfach nicht vereinbar. Daran ändert auch die Vergabepraxis anderer EU-Staaten nichts. Möglicherweise kommt das noch zur Sprache. Deshalb müssen wir Ihrem Antrag die Zustimmung versagen. Kollege Link, ich glaube nicht, dass wir zu kurz gesprungen sind. Denn die Möglichkeiten, die wir zusätzlich eröffnen, bedeuten einen Schritt nach vorne. Zugleich legen wir einen eigenen Antrag vor, der die gemeinsam abgestimmten Formulierungen aufgreift, die Forderungen jedoch an die bestehende Rechtslage anpasst. Aus dem Antrag haben wir erstens die Forderung herausgenommen, pauschal die Gebühren für alle Personen mit niedrigem Einkommen zu ermäßigen. Widersprüchlich ist zweitens die Formulierung, nach der alle unter 26-Jährigen, Künstler und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Einzelfall von Gebühren befreit werden sollen. Dies haben wir in unserem Antrag durch die in unseren Augen rechtskonforme Aufforderung ersetzt, solche Personen besonders zu berücksichtigen. Drittens haben wir auch die Angehörigen kirchlicher Organisationen mit einbezogen. Ich glaube aber, dies wäre kein strittiger Punkt unter uns gewesen. Wir sind uns einig in dem Ziel, großzügige Gebührenerlasse zu gewährleisten. Aber wir müssen dabei Formulierungen finden, die rechtlich Bestand haben. Unser Antrag erfüllt beide Vorgaben. Ich verbinde damit nicht nur die Erwartung, dass die Menschen in Belarus weiterhin wie bisher die Möglichkeit haben, unser Land und die anderen europäischen Länder zu besuchen, sondern auch die Hoffnung, dass sie von dieser Möglichkeit zahlreich Gebrauch machen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es nur vernünftig, dass man Visumgebühren senkt und dann, wenn man kann, gänzlich darauf verzichtet, um die Begegnung insbesondere mit jungen Menschen - in diesem Fall aus Belarus, aber auch aus anderen Ländern - möglich zu machen. Deswegen werden wir dem Antrag der FDP und der Grünen zustimmen. Denn ich halte es für ausgesprochen gut, dass in diesem Antrag bestimmte Personengruppen genannt werden, die man besonders dazu einlädt, Gäste zu sein. Ich halte es auch nicht für unvernünftig, darauf aufmerksam zu machen, dass Geringverdienende eine größere Hilfe erwarten können. Das ist der Vorteil an diesem Antrag. Dass das einmal ausgesprochen wird, ist doch nur vernünftig. ({0}) An diesem Beispiel sieht man aber auch - das hat mich schon ein bisschen geärgert -, dass solche interfraktionellen Anträge eine Fraktion aus dem Dialog ausgrenzen und gar nicht erst mit einbeziehen. Das geschieht nach dem Motto: Wir wollen eure Meinung gar nicht wissen. - Wir sollten angesichts dessen, dass man in diesem Parlament von Dialog redet, den Umgang untereinander in dieser Art und Weise irgendwann einmal überwinden. ({1}) Dazu gibt es dann auch die Reaktion, dass man sagt: Wenn ihr uns so kommt, dann können wir auch einmal gegenhalten. - Nehmen Sie dies zur Kenntnis. In der Sache sind wir uns einig; wir werden dem Antrag der FDP und der Grünen zustimmen. Ich möchte Sie bitten, an diesem Beispiel einmal zwei Dinge zu durchdenken. Für mich steht außer Frage, dass es sich bei dem Regime Lukaschenko um ein autoritäres Regime handelt, das mit den Bürgerrechten im eigenen Land sträflich umgeht. Verunsichern wir solche Regime eher, wenn wir mehr Kontakte schaffen, uns selber öffnen und einen lebendigen Dialog führen, oder glauben wir eher, mit Sanktionen unsererseits gegen solche Regime das richtige Mittel gefunden zu haben, um Veränderungen herbeizuführen? Da plädiere ich für Öffnung, für Dialogfähigkeit, für Gespräche miteinander. Gespräche miteinander zu führen, heißt immer, dass man die streitigen Punkte klar und deutlich von Aug zu Aug - um das einmal so zu formulieren - ansprechen muss. Ich erlebe es viel zu oft - im Rahmen der Außenpolitik ist man ja hin und wieder mit Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen in anderen Teilen der Welt unterwegs -, dass Kollegen, die hier sehr markige Reden halten, dann, wenn man im Ausland um einen runden Tisch herumsitzt, doch keine harte Kante zeigen. Dann kommt immer nur: „Wir sind solidarisch“, „Wir sind freundlich“, „Wir wollen einen guten Umgang miteinander haben“. Ich frage mich manchmal: Sind die Linken die Einzigen - wir sind es mit Sicherheit nicht -, die auch in Gesprächen mit anderen das, was wir hier sagen, ansprechen? ({2}) - Ich habe Sie nicht angeschaut, Herr von Klaeden. Aber ich hätte gerne in diese Richtung gesehen. Ich schaue jetzt einmal absichtlich zur anderen Seite. Es weiß ja jeder, was damit gemeint war. Allzu viel von dem, was hier im Parlament gesagt wird, wird in Gesprächen mit den Partnern aus anderen Ländern nicht angesprochen bzw. nicht klar genug angesprochen. Das halte ich für einen Nachteil; denn sie lesen sowieso, worüber hier diskutiert wird. Außerdem muss man, wenn man eine Auseinandersetzung führt, diese mit eigenen Positionen führen. Man kann den Fall Belarus zum Ausgangspunkt machen, um darüber nachzudenken, ob eine Politik der Isolierung, also eine Politik der Sanktionen, Veränderungen besser fördert oder ob eine Politik der Öffnung, des lebendigen Dialoges nicht sehr viel vernünftiger ist und zu Veränderungen führen kann. Das ist zumindest meine Erfahrung. Dann habe ich eine letzte Bitte - dann ist meine Redezeit zu diesem Tagesordnungspunkt zu Ende -: Ich glaube, das kann man nur machen, wenn man allen gegenüber gleiche Standards an den Tag legt. Ich habe einmal verglichen, wie scharf wir uns bei Wahlen mit Belarus auseinandergesetzt haben und wie weniger scharf wir mit Georgien umgegangen sind. Wenn andere das Gefühl haben, dass unterschiedliche Standards angewandt werden, dann ist man selber nicht glaubwürdig. Bitte durchdenken Sie auch das einmal. Wenn dieses Gefühl aufkommt, haben wir weniger Chancen, als wenn man mit allen gleichermaßen umgeht. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor etwa einem Jahr sind der Kollege Pofalla und ich nach Belarus gefahren und haben dort gelernt, dass die Franzosen allen jungen Belarussen unter 25 Jahren die Visumgebühren vollständig erlassen, weil sie das Interesse haben, dass möglichst viel Austausch stattfindet, Bewegung da ist und gerade die nächste Generation westliche Werte wie Freiheit, Demokratie, Lebendigkeit und kulturelles Leben kennenlernt. Wir fanden, dass das eine gute Idee ist. Wir haben verabredet, dass wir das in Deutschland auch machen. Ab da begannen zehnmonatige, zähe Verhandlungen zwischen den Koalitionsparteien, dem Auswärtigen Amt, den Innenpolitikern und ich weiß nicht wem sonst noch. Herausgekommen ist ein Antrag. Die FDP und wir Grünen haben den Text eingebracht, der von den Koalitionären wortgleich übernommen worden ist. An der Stelle, wo es Ernst wird, wo es darum geht, dass das Parlament eine Vorgabe macht - nach dem Motto: wir wollen, dass von unter 25-Jährigen keine Gebühren und von Beziehern geringer Einkommen ermäßigte Gebühren genommen werden -, hat man die Sache weggedrückt und eine Empfehlung gemacht. Damit ist faktisch nicht mehr übrig geblieben als die Entscheidungs- und Ermessensfreiheit, die die Konsulate schon derzeit haben. Nun haben wir eben gehört, dass das Ganze angeblich nicht gehe. Das würde bedeuten, dass Frankreich als Schengen-Staat gegen das Schengen-Abkommen verstößt. ({0}) Ich habe noch nicht gehört, dass sie dafür gerügt worden sind. ({1}) - Man könnte ja einmal fragen, ob Frankreich in irgendeiner Art und Weise sanktioniert werden müsste. Der zweite Aspekt sind die Visumerleichterungen insgesamt. Wir alle haben am 21. Dezember die Erweiterung des Schengen-Raumes gefeiert. Es ist ja wunderbar, dass er sich nach Osten ausdehnt. Diese Medaille hat aber eine zweite Seite: An der Grenze zu den Menschen in Weißrussland ist eine Mauer hochgezogen worden. Das ist dramatisch. Früher gab es einen kleinen Grenzverkehr. Für 5 Euro bekam man ein Visum. Jetzt müssen die Menschen aus Belarus Schengen-Visa für 60 Euro pro Visum beantragen. Das heißt: Wir sperren die Menschen von unserer Seite aus ein, behaupten aber, wir wollten alles tun, um Dialog, Freiheit und Auseinandersetzung zu ermöglichen und die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken, die versuchen, gegenüber dem Regime Lukaschenko etwas Neues aufzubauen. Das ist ein Widerspruch in sich. ({2}) Nun wird hier behauptet, dass Belarus im Gegensatz zu anderen GUS-Staaten die Absenkung der Visumgebühren auf 35 Euro nicht beantragt hat. Das ist aber nachweislich falsch. Wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage, die uns gestern zugegangen ist, zugibt, hat Belarus in den Jahren 2004 und 2007 die Ermäßigung der Visumgebühren auf 35 Euro beantragt. Von der Europäischen Union ist das aber abgelehnt worden. Jetzt wird es spannend: Was passiert in der Europäischen Union? Sie sagt: Belarus ist kein demokratischer Staat, also müssen wir ihn sanktionieren, also reduzieren wir die Visumgebühren nicht. Damit trifft die Europäische Union aber genau die Falschen. ({3}) Das ist eine so irrwitzige Politik, dass man sich wünscht, dass das Auswärtige Amt und die Bundesregierung dagegen intervenieren. Das haben sie aber nicht vor, wie in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage nachzulesen ist. Liebe Kollegen, lieber Kollege Grund, ich weiß, dass Sie absolut guten Willens sind. Frau Zapf, es gibt da etwas zu tun. Die Europäische Union geht von einer idiotischen Logik aus. Sie meint zwar, dass sie das Regime trifft, aber sie trifft die kleinen Leute. Das ist ein Unsinn, den wir nicht mittragen können. ({4}) Marieluise Beck ({5}) Krempeln Sie also die Ärmel hoch und seien Sie so mutig wie Frankreich. Setzen Sie sich innerhalb der EU dafür ein, dass die Gebühren reduziert werden, wie es bei der Ukraine und anderen Staaten der Fall ist. Lassen Sie uns weiterhin im Auge behalten, ob sich Belarus wirklich bewegt. Nächste Woche steht der Prozess gegen fünf junge Menschen von der Malady-Front an. Der Staatsanwalt hat eine zweijährige Haftstrafe beantragt, nur weil sie Mitglied einer nicht registrierten Organisation sind. Herr Klimov und Herr Kasulin sind bereits erwähnt worden; es gibt noch viele andere. Es gibt noch sehr viel zu tun, ehe wir das Gefühl haben können, dass es in Belarus ein winziges Zeichen des Frühlings gibt. Wir alle wünschen uns das. Die falschen Menschen dafür zu bestrafen, dass sie in ihrem Land ein autoritäres Regime haben, das passt nun wirklich nicht zu unserer Logik und unseren demokratischen Vorstellungen. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Ermäßigung der Visumgebühr für Bürgerinnen und Bürger aus Belarus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7170, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5909 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Demokratiebewegung in Belarus unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3709, den Antrag der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1977 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit dem Titel „Ermäßigung der Visumgebühr für Menschen aus Belarus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7188, den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf Drucksache 16/5905 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beratungsqualität für Erwerbslose verbessern Personal der Grundsicherungsträger qualifizieren und ihm Zukunftsperspektiven geben - Drucksache 16/8045 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. ({1})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr ist die Zahl der Sanktionen in den Jobcentern um 60 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass der ohnehin niedrige Hartz-IV-Regelsatz um mindestens 30 Prozent gekürzt wird bis hin zur kompletten Streichung. Nach Aussage einer Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit liegt das daran, dass - jetzt zitiere ich - die Ämter zunehmend professioneller arbeiten. Das nenne ich ein sehr eigenartiges Verständnis von Professionalität, das an der Spitze der Bundesagentur herrscht. Dieses Verständnis von Professionalität würde bedeuten, die Arbeit der Jobcenter bestünde darin, Erwerbslose besonders hart abzustrafen. Dieses Verständnis von Professionalität kann ich nicht teilen. Denn ich meine: Die Aufgabe der Jobcenter besteht nicht im Bestrafen, sondern darin, Arbeitsuchenden zu helfen. Da gibt es noch viel zu tun. ({0}) Zum Beispiel mangelt es in vielen Jobcentern an einer qualifizierten Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. Vor einigen Wochen kam in meine Sprechstunde eine behinderte Frau mit Rückenproblemen, in der Sprache der Behörde: mit einer anerkannten Teilerwerbsunfähigkeit. Trotz ihrer Behinderung wurde diese Frau in eine Wäscherei vermittelt, wo sie schwer heben und tragen musste. So sieht doch keine sinnvolle Arbeitsvermittlung aus. Glauben Sie nicht, dass das ein Einzelfall ist! Deswegen fordern wir, die Linke, eine gezielte Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern gerade für die Probleme von Menschen mit Behinderungen. ({1}) Zu einer professionellen Beratung der Jobcenter würde auch gehören, dass die Menschen umfassend über ihre Rechte aufgeklärt werden. Doch viel zu oft wird in den Jobcentern die Inanspruchnahme der Rechte nicht befördert, sondern sogar noch behindert. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus einer Fallsammlung einer Fraueninitiative vortragen. Einer schwangeren Alleinerziehenden wird nach ihrer Ausbildung gekündigt. Sie ist also auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Sie möchte in eine kleine Zweizimmerwohnung in die Nähe einer Kindertagesstätte umziehen, damit sie sich nach der Geburt wieder auf Jobsuche begeben kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, der Kollege Straubinger hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit Vergnügen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kipping, Sie haben gerade gefordert, dass im Interesse der Beratung der Erwerbslosen besser qualifiziert werden muss. Soll diese Beratung dann so praktiziert werden, wie es jüngst in einer ZDF-Sendung zum Ausdruck kam: dass Beratungsstellen, die Ihrer Partei nahestehen, den Betroffenen zum Missbrauch der Sozialleistungen ({0}) bzw. zum Abschluss von Scheinverträgen geraten haben, um auf diesem Wege sicherzustellen, dass sie soziale Unterstützung erhalten? ({1})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Straubinger, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir Gelegenheit geben, außerhalb meiner Redezeit auf dieses Thema einzugehen. Denn hinter all dem steht ein elementares Problem, dem wir uns stellen müssen. ({0}) Die Leute bekommen in den Argen überhaupt keine qualifizierte Beratung, sodass sie darauf angewiesen sind, sich bei anderen Stellen zu informieren. In ihrer Not suchen sie nach Unterstützung. Die Fälle, die Sie genannt haben, zeigen doch, wie wichtig es ist, unabhängige Beratungsstellen mit qualifiziertem Personal zu unterstützen. ({1}) Ich möchte noch ein Zweites sagen - ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben -: Wenn es um ein Gesetz geht, das so schlecht ist wie dieses, und wenn gerade von Ihrer Partei eine Ideologie verfolgt wird, die darauf abzielt, dass Erwerbslose mit Füßen getreten werden, ist unser Platz an der Seite der Erwerbslosen. In diesem Fall unterstützen wir sie. Das gebe ich gerne zu. ({2}) - Herr Straubinger, wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne meine Rede fortsetzen. ({3}) - Ich glaube, dass sehr häufig Rechtsbruch stattfindet, gerade dann, wenn es um die Rechte derjenigen geht, die besonders wenig haben. Diesen Leuten muss man helfen, damit sie ihre Rechte durchsetzen können. ({4}) Zurück zu dem Beispiel, das ich angeführt habe. Die schwangere Frau, von der ich sprach, wollte in eine kleine Wohnung neben einer Kita ziehen, um ihre Jobsuche nach der Geburt fortsetzen zu können. Eigentlich müsste man meinen, dass ein Amt einen solchen Umzug nach besten Kräften unterstützt. Doch anstatt Unterstützung zu erfahren, hat diese Frau von einem Mitarbeiter des Jobcenters zu hören bekommen, sie hätte doch abtreiben können, dann wäre sie nach ihrer Ausbildung übernommen worden. Meine Damen und Herren, das ist Verhöhnung und Beleidigung von Menschen, die ein Recht auf Unterstützung haben. Nun können Sie einwenden, die Bundesregierung dürfe nicht für die Fehler einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Haft genommen werden. Ich allerdings meine, dass sie für den Einspardruck, der auf jedem einzelnen Mitarbeiter lastet, mitverantwortlich ist. Deswegen darf sich die Bundesregierung nicht hinter den Beschäftigten der Jobcenter verstecken. Wie sieht es denn in der Praxis aus? Die regionalen Jobcenter müssen mit der Spitze der Bundesagentur für Arbeit eine Leistungsvereinbarung treffen. Dadurch verpflichten sich die regionalen Jobcenter zu Einsparungen, und zwar um mindestens 8 Prozent. ({5}) Genau dieser Vorgang wird von der Bundesregierung abgesegnet. Das, meine Damen und Herren, muss sich ändern. ({6}) Ich habe noch eine Minute Redezeit, die ich gerne nutzen würde, um die Zwischenfrage zu beantworten. ({7}) Da sie aber nicht zugelassen wird, kann ich nicht auf Ihre Frage eingehen. Ich fasse zusammen: Ich habe zwei Beispiele genannt, die verdeutlicht haben, dass die Qualität der Beratung in den Argen, in den staatlichen bzw. amtlichen Stellen, deutlich verbessert werden muss. Dazu unterbreiten wir Ihnen eine ganze Reihe von Vorschlägen. Ich möchte drei unserer Vorschläge erwähnen: Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass es einen ausreichenden Personalstamm von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, die nicht befristet, sondern unbefristet beschäftigt sind. Zweitens. Die Trennung in zwei Regelkreise, nach dem Sozialgesetzbuch II und nach dem Sozialgesetzbuch III, muss beendet werden. Bei der Vermittlung von Erwerbslosen darf es kein Zweiklassensystem geben. Drittens. Wir müssen unabhängige Beratung, die von unten gewachsen und aus der Selbstorganisation und Selbstvernetzung der Erwerbslosen entstanden ist, unterstützen. Da in den letzten Tagen das Wort von der kooperativen Arge, die sich der Minister wünscht, die Runde machte, sage ich Ihnen: Meine Fraktion streitet für Argen, in denen eine wirkliche Kooperation mit den Erwerbslosen praktiziert wird, und zwar eine Kooperation auf Augenhöhe. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Kipping, ich habe die Zwischenfrage deshalb nicht zugelassen, weil die Kollegin Pothmer noch zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen wird. Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kipping, um es vorwegzunehmen: Die Antwort, die Sie auf die Frage des Kollegen Straubinger gegeben haben, war im doppelten Sinne entlarvend. Sie haben zu Rechtsbruch aufgerufen. ({0}) Sie heißen diesen Rechtsbruch gut, solange er den Menschen dient. Dahinter steht ein Menschenbild, demzufolge es nur darauf ankommt, jemanden als Benachteiligten zu definieren, und dann kommt - im Falle Ihrer Person - Robina Hood und kämpft für die Entrechteten, die im schwarzen Wald leben, und sagt: Leute, wir tun alles, wir brechen Recht, um euch zu schützen. Ein höchst spannendes Bild! Sie sollten lieber zusehen, dass die Leute aus dem Wald herausfinden, damit sie eine Perspektive für eine ordentliche Zukunft bekommen. ({1}) Kaum eine Sitzungswoche vergeht, ohne dass der Deutsche Bundestag über Detailregelungen des SGB II diskutiert. Mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende - lassen Sie mich das noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, weil es immer wieder angesprochen wird - ist 2005 eine völlig neue Regelung eingeführt worden, bei der die Prinzipien von Fordern und Fördern gelten, mit dem Ziel, die Menschen wieder in Erwerbsarbeit zu bringen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Hände Arbeit verdienen können. Das ist die arbeitsmarktpolitische Komponente dieses Gesetzes. Gleichzeitig hat dieses Gesetz einen sozialpolitischen Teil: die Grundsicherung aus der alten Sozialhilfe. Das macht das Neue aus. Genau daraus - das will ich nicht verheimlichen - ergeben sich an der einen oder anderen Stelle Probleme. Wenn nämlich Personen mit mehreren Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten sie so viel Leistungen nach dem SGB II, dass es manchem schwer einsichtig zu machen ist, dass es, selbst wenn er aufstocken muss, selbst wenn er nicht wesentlich mehr hat als vorher, in jedem Falle besser ist, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, schon deswegen, weil man leichter wieder eine reguläre Beschäftigung findet. Wir tun bei dieser Diskussion immer so, als sei das SGB II ein statisches Gebilde und als bliebe, wer einmal drin ist im dunklen Wald, für immer dort. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt gewaltige Bewegungen in diesem Bereich. Zwar gibt es Menschen, die reingehen; aber es kommen deutlich mehr heraus. Dank der Konjunktur haben wir deutlich weniger Arbeitslose als in der Zeit vor 2005, bevor das SGB II geschaffen wurde. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wir haben zurzeit 3,66 Millionen Arbeitslose. Eigentlich müssten wir noch die dazuzählen, die in der Zeit vor 2005 in der alten Sozialhilfe waren. In der heutigen Arbeitslosenzahl sind nämlich diejenigen, die früher in der Sozialhilfe steckten, enthalten. Wenn man also die Arbeitslosenzahl von heute mit der von früher vergleicht, fällt die Bilanz noch deutlich günstiger aus. Ich glaube, das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist und bleibt ein lernendes System. Das betrifft natürlich besonders diejenigen - jetzt komme ich auf den Antrag der Linken zu sprechen -, die unmittelbar mit den von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen zu tun haben: Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen. Die Behauptung in Ihrem Antrag, die Einführung des Arbeitslosengeldes II habe zu einer „Spaltung der Erwerbslosen“ geführt, ist falsch und in seiner Diktion verräterisch, und zwar deswegen, weil Sie so tun, als ob Sie es bei den Arbeitslosen mit einem Block zu tun hätten und alle diejenigen, die sich differenziert um sie kümmern, Spalter wären. Das ist eine Denkweise, das ist eine Herange15006 hensweise des Kalten Krieges. Ich dachte, die hätten wir überwunden. Ihren Antrag unter diesem Gesichtspunkt zu lesen, ist höchst spannend; dann wird einem deutlich, welche Intention Sie haben. Meine Damen und Herren, die Erwerbslosen bewegen sich in unterschiedlichen Rechtskreisen. Erwerbslose in unterschiedlichen Situationen müssen auch unterschiedliche Antworten bekommen. An die Berater, die im Bereich des Arbeitslosengeldes I arbeiten, werden andere Anforderungen gestellt als an die Berater, die im Bereich des Arbeitslosengeldes II arbeiten. ({2}) Die im Bereich des Arbeitslosengeldes II Tätigen müssen verschiedene Probleme beachten. Sie brauchen Kompetenzen für die Bereiche Verschuldung, Suchtberatung, Jugendhilfe und Wohnungshilfe. Dies müssen sie in Hilfeplänen zusammenbringen, die sie dem Einzelnen angedeihen lassen, der über einen längeren Zeitraum - viele Jahre lang - keinem Erwerb mehr nachgegangen ist. Ich will Ihnen in aller Deutlichkeit sagen - und das müssen wir auch hier im Haus akzeptieren -: Das erfordert eine andere Herangehensweise. Der im Antrag unterschwellig geäußerte Vorwurf, qualifiziertes Personal finde man nur unter den Mitarbeitern, die im Bereich des SGB III, also im Bereich des Arbeitslosengeldes I arbeiten, weise ich ausdrücklich zurück. Dieser Vorwurf ist falsch und für all diejenigen diffamierend, die sich seit vielen Jahren in diese Dinge einarbeiten. ({3}) Richtig ist sicherlich, dass es 2005 beim Beginn der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Anfangsschwierigkeiten gegeben hat. Das lag primär daran, dass viele Mitarbeiter übernommen wurden, die vorher im Bereich der Sozialhilfe tätig waren. Diese hatten zunächst keine Erfahrung im Bereich der Berufsberatung und der Berufsvermittlung. Sicherlich arbeitete man in den Kommunen mental auch anders als in der Bundesagentur für Arbeit. Ich sage Ihnen aber: Durch meine vielen Besuche in den Argen habe ich festgestellt, dass sich hier vieles zu einem Guten gewendet hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Arbeitsgemeinschaften tätig sind, sind gut und geben sich alle erdenkliche Mühe, den Menschen weiterzuhelfen. Ich finde es ebenfalls frappierend, dass in Ihrem Antrag detailliert beschrieben ist, wie die Argen und die Optionskommunen die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter zu organisieren haben, so als müsste der Bund vorschreiben, wie die Weiterbildung vor Ort erfolgt. Das wissen die Leute vor Ort wesentlich besser. Wir brauchen keinen Gleichschritt von der Bundesebene hinunter bis in die letzte Arge zu verordnen. Sie sollen ihre Verantwortung vor Ort wahrnehmen. ({4}) Richtig ist, dass seit der Einführung der Grundsicherung viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsgemeinschaften nur befristete Verträge erhalten haben. Daran hat sich viel verändert. Im letzten Haushaltsjahr haben wir 4 000 neue Stellen geschaffen. Für dieses Jahr sind 3 000 weitere Dauerstellen vorgesehen. Gemäß einem Haushaltsvermerk ist vorgesehen, dass dort bis 2010 weitere 5 000 Kräfte tätig werden. Auch hier erwähne ich allerdings wieder, dass wir es mit einem System zu tun haben, das in Bewegung ist. Die Langzeitarbeitslosigkeit wird abgebaut. Deswegen brauchen wir auch nicht alle Mitarbeiter an den alten Stellen. Dank der guten Konjunktur und des Abbaus der Arbeitslosigkeit gehen wir mittlerweile auch an die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit heran. Hier müssen wir mit anderer Kraft und Intensität arbeiten, um auch den davon betroffenen Menschen eine Perspektive zu geben. ({5}) Wir haben 3,66 Millionen Arbeitslose. 625 000 Menschen haben im letzten Jahr eine Beschäftigung gefunden. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist auf 27,4 Millionen angestiegen. Die Zahl der offenen Stellen - das halte ich für wesentlich - ist vom letzten Monat bis jetzt um 131 000 gestiegen. Das halte ich für ein wichtiges Indiz und ein hoffnungsvolles Zeichen. Es gibt 933 000 offene Stellen, die wir besetzen können. Ich wünsche mir für die Zukunft mehr Mut vor Ort und mehr Eigenverantwortung. Das bedeutet aber auch, dass der Bund akzeptieren muss, dass vor Ort bei allem guten Willen auch einmal Fehlentscheidungen getroffen werden können. Das müssen auch der Bundesrechnungshof und die internen Prüfer in Rechnung stellen. Ich möchte gerne, dass die Sachbearbeiter vor Ort angstfrei eine Entscheidung treffen können, ohne dass ihnen möglicherweise jedes Mal gesagt wird, dass sie einen Fehler gemacht haben, und ohne dass sie zitiert werden. Jeder, der das nicht darf und der keine Initiativen ergreifen kann, hat hinterher keine Lust mehr, Eigeninitiative zu zeigen. ({6}) Ich komme zum Schluss. Wenn das deutsche Recht und die Europagesetze dagegen sprechen und wenn die nötige Flexibilität nicht gegeben ist, dann müssen wir überprüfen, inwieweit wir im Gesetzgebungsverfahren mehr Flexibilität ermöglichen können. Ich glaube nämlich, dass wir ohne diesen Ansatzpunkt die eigentlichen Probleme nicht lösen werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Gleichzeitig sind wir dabei - das ist keine Frage -, aus der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20. Dezember die Konsequenzen zu ziehen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen: Von welcher Motivation auch immer getragen, schnelle Entscheidungen dürfen nicht wieder unter Macht- und Zuständigkeitsgesichtspunkten zu Ergebnissen führen, die den Menschen nicht dienen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Kipping. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist soeben behauptet worden, in unserem Antrag sei die Rede davon, dass man nur im Rahmen von SGB III qualifizierte Mitarbeiter findet. Diese Unterstellung muss ich zurückweisen; dies ergibt sich einfach nicht aus dem Text unseres Antrags. Im Gegenteil, unser Antrag spricht zum einen das Problem an, dass es von den arbeitsmarktrechtlichen Instrumenten her zwei Regelkreise gibt, die wir auflösen wollen. Das ist keine absurde Forderung, sondern das ist eine Forderung, die in Gewerkschaften, Sozialverbänden usw. breit diskutiert wird. Zum anderen geht es uns in unserem Antrag eben nicht darum, mit dem Finger auf die einzelnen Mitarbeiter zu zeigen, wenn bei der Beratung Mängel auftreten, sondern darum, die Lösung der strukturellen Probleme anzugehen. Wir dürfen hier nicht bloß so schön von Angstfreiheit reden, sondern müssen den Beschäftigten die Sicherheit geben, Beratung im Interesse der Betroffenen anstatt unter dem Dogma des Einspardrucks durchführen zu können. Danke.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schiewerling.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kipping, Sie sprechen in Ihrem Antrag dezidiert davon, dass es unterschiedliche Beratungsqualifikationen und -qualitäten gibt, und Sie sprechen in Ihrem Antrag bewusst von Spaltung. Sie weisen darauf hin, dass es unterschiedliche Beratungen im Bereich SGB II und SGB III gibt. Das steht in Ihrem Antrag; ich habe ihn tatsächlich gründlich gelesen. Aber dies ist eine Position, die so nicht durchzuhalten ist. Ich weiß, dass Fachleute es für eine Achillesferse der Arbeitsmarktpolitik halten, dass es im Bereich SGB III und SGB II unterschiedliche Beratungen gibt. Dies mag man so sehen. Aber ich sage Ihnen, dass man auch mit einer Achillesferse, die nicht verwundet ist, gut laufen kann. Daher werden wir weiterhin die detaillierte und auf die Problemgruppen abgestimmte Beratung durchführen. Ich glaube nicht, dass dies das eigentlich Anliegen Ihres Antrags war. Ihr Antrag lief eher darauf hinaus, eine Qualifikation so zu gestalten, dass nur die Mitarbeiter qualifiziert sind, die die Menschen, die Sie als Ihr Wählerpotenzial im Blick haben, so beraten, dass sie im System weiter gut leben können. Das ist nicht unsere Intention. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Deshalb gebe ich das Wort Katja Mast von der SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die hier sind, um Gesetze zu verabschieden, die auch eingehalten werden sollen! Das ist wieder einmal ein typischer Antrag der sogenannten Linken: Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit kleinreden, skandalisieren und dann auch noch einen Antrag vorlegen, der mit schneller Hand gestrickt ist. Keine Überraschung also! ({0}) Natürlich sind wir beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit noch nicht am Ziel. Dies behauptet auch niemand. Wir haben einiges erreicht. Allein, dass wir es tatsächlich geschafft haben - Kollege Schiewerling hat es eben gerade gesagt -, Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern, ist ein Erfolg. Die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit ging von 2006 auf 2007 um 192 000 Langzeitarbeitslose zurück. Das sind stolze 16 Prozent. ({1}) Für jeden Einzelnen heißt das, morgens wieder aufzustehen, einen Job zu haben, dazuzugehören und Anerkennung zu bekommen - 192 000-mal. ({2}) Das reicht nicht, aber es zu verschweigen wird 192 000 Menschen nicht gerecht. ({3}) Wodurch wurde der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit erreicht? Erstens. Seit den Reformen am Arbeitsmarkt und der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe 2005 haben sich die Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen in den Argen Schritt für Schritt verbessert. ({4}) 1) Anlage 3 Der Start verlief holprig - das wissen wir alle -, aber nachdem sich alle zusammengerauft hatten, waren es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Leistungen, die die Angebote für Langzeitarbeitslose zur Aktivierung gesteuert haben. Allein im Jahr 2007 befand sich jeder fünfte zu aktivierende Arbeitslosengeld-II-Empfänger in einer Eingliederungsmaßnahme; 2005 war es nur jeder achte. Zweitens. Auch die Angebotsmöglichkeiten, Langzeitarbeitslosen wieder einen Job zu vermitteln, sind treffsicherer geworden. Dazu hat unser jüngst in Kraft getretenes Gesetz zu den Jobperspektiven beigetragen. Aber auch die Zahl der Förderungen im Bereich der beruflichen Weiterbildung - auch der beruflichen Weiterbildung von Menschen mit Behinderungen - hat stark zugenommen. Drittens. Die weiteren Leistungen, die oft ergänzend und auf den Einzelfall abgestimmt erbracht werden, sind 2007 immens gestiegen. Als wichtige Schritte sind beispielsweise die verbesserte Schuldnerberatung, die psychosoziale Betreuung, das Einstiegsgeld und die Suchtberatung zu nennen. Viertens. Fakt ist auch, dass wir besonders für Jugendliche sehr viel erreicht und sie überdurchschnittlich gefördert haben. Denken Sie nur an den neuen Qualifizierungskombilohn oder die Einstiegsqualifizierung. Keine Frage: Wir können noch besser werden. Aber Sie sollten nicht immer so eine miese Stimmung verbreiten. ({5}) Bei der Stellenbefristung der Mitarbeiter der Argen muss zunächst einmal der Istzustand festgehalten werden. Selbstverständlich ist es unser Ziel, möglichst vielen Beschäftigten eine verlässliche Perspektive zu bieten. Zeitverträge haben nur dort ihre Berechtigung, wo dies für die Flexibilität vor Ort notwendig ist. Bei den festen Stellen gehen wir Jahr für Jahr einen Schritt weiter. 2007 standen 4 000 Stellen zusätzlich zur Verfügung. 2008 werden es weitere 3 000 sein. Das reicht zwar nicht, aber es zu verschweigen, wird 7 000 Menschen nicht gerecht. Tun Sie bitte nicht immer so, als hätten wir es bei den Mitarbeitern in den Jobcentern mit Amateuren zu tun! Jeder Einzelne hat viel erreicht und verdient nicht nur unseren Respekt, sondern auch unser Vertrauen. ({6}) Sie sind qualifiziert, und es ist Aufgabe der Träger vor Ort, zu entscheiden, wie sie ihre Mitarbeiter aufgrund der spezifischen Bedürfnisse weiter qualifizieren. Was im internationalen, großstädtischen Mannheim mit vielen Migranten richtig ist, muss in Isny im Allgäu noch lange nicht richtig sein. Die Akteure vor Ort wissen schon selbst, was zu tun ist. Übrigens sollten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht als nebensächlich abtun. Denn danach ist die Zusammenarbeit in den Argen nicht mit der Verfassung vereinbar. Der Übergang muss bis 2010 erfolgen. ({7}) Wir brauchen Planungssicherheit und haben diese für die Leistungen der Arbeitslosengeldempfänger bereits gewährleistet. Auch das ist das Verdienst der engagierten Mitarbeiter in den Argen und der Bundesagentur. Wir brauchen aber auch Planungssicherheit für die qualifizierten Mitarbeiter der Argen. Sie wollen wissen, wohin die Reise geht. Klar ist: Je länger der Zeitraum der Unsicherheiten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anhält, desto stärker werden die Mitarbeiter und insbesondere auch die Hilfeempfänger - im Übrigen auch durch solche Anträge - verunsichert. ({8}) Je länger die Debatte dauert, desto weniger Planungssicherheit gibt es. Deshalb kann es nur eine Lösung geben, die ohne eine erneute Gesetzesänderung auskommt. Wir wollen keine Situation wie 2003, als ein endloses Vermittlungsverfahren zwischen Bundesrat und Bundestag sowie Städten und Landkreisen alle - nicht zu vergessen die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit - über das erträgliche Maß hinaus belastet hat. ({9}) Fazit ist: Politische Polarisierung nutzt nicht den Langzeitarbeitslosen, sondern nur den Demagogen. ({10}) Weder eine reine Bundeslösung noch eine vollständige Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung ist sinnvoll. ({11}) Die Arbeitsvermittlung muss in den Händen des Bundes liegen. Eine Kommunalisierung des Risikos Arbeitslosigkeit kann ich mir nicht vorstellen. Die Solidarität zwischen wirtschaftlich schwachen und starken Kommunen wollen wir nicht zerstören. Im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik findet schon heute der stärkste Finanzausgleich zwischen den Kommunen statt. Jene mit höherer Arbeitslosigkeit, die von Krisen stärker betroffen sind, bekommen mehr. Nimmt man nur die Ausgaben für die Grundsicherung, dann stellt man fest, dass es um 35 Milliarden Euro geht. Wollen wir zurück zum Flickenteppich der alten Sozialhilfe? Das lehnt zum Glück die Mehrheit der Städte und Kommunen ab. Eine Kommunalisierung bedeutet einen neuen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sowie endlose Verhandlungen zwischen den Ebenen. Das ist das genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Doch darum allein geht es nicht. Für die Überwindung der Hürde einer Grundgesetzänderung gibt es ebenfalls keine Mehrheit. ({12}) Unser Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat in dieser Situation das einzig Sinnvolle gemacht. Er hat zügig einen ersten Vorschlag für ein neues kooperatives JobKatja Mast center vorgelegt. Das sorgt für Planungssicherheit. Auf der Basis einer freiwilligen Kooperationsvereinbarung arbeiten Kommunen und die Agentur für Arbeit weiterhin zusammen. Alles kann wie bisher unter einem Dach erfolgen. Die geleistete Aufbauarbeit war nicht umsonst. Die Arbeitsvermittlung bleibt beim Bund. Die örtliche Ebene spielt eine tragende Rolle. Das ist gut und richtig. Nur so können Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik reibungsfrei und in hoher Qualität betrieben werden. Konkret heißt das, die Zusammenarbeit von Kommunen und der Agentur für Arbeit wird fortentwickelt. Die Arbeitsuchenden haben möglichst eine Anlaufstelle sowie eine abgestimmte Bescheiderteilung und Auszahlung. Im Kooperationsausschuss arbeiten Kommunen und Agentur zusammen. Dort wird das Arbeitsmarktund Integrationsprogramm für Langzeitarbeitslose vor Ort festgelegt. Die Entscheidungen über die lokale Arbeitsmarktpolitik, die Gestaltung der Geschäftsprozesse, die Kommunikation und die Abstimmung mit den Handelnden vor Ort erfolgen dezentral. Es wird nicht vorgegeben, was gemacht wird. Leitlinien sind vereinbarte Ziele. Jedes Jobcenter ist nur so gut wie seine Mitarbeiter. Die kommunalen Beschäftigten in den Argen, die schon heute Aufgaben der Agentur für Arbeit erledigen, erhalten daher ein Beschäftigungsangebot der Bundesagentur für Arbeit. Auch die Kompetenz der kommunalen Geschäftsführer der Argen muss erhalten bleiben. Sie werden ebenfalls ein Weiterbeschäftigungsangebot erhalten. Die Mitarbeiter haben eine verlässliche Perspektive. Ich hätte mir hierzu mehr von Ihrem Antrag erwartet. Er bietet keine Überraschung, auch nicht am Valentinstag. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kipping, sind Sie sicher und wissen Sie ganz genau, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin eines Jobcenters zu einer schwangeren Frau gesagt hat, sie hätte doch abtreiben können? ({0}) - Dann sagen Sie uns bitte, um welches Jobcenter es sich handelt. Ich bin sehr dafür, dass wir dem nachgehen. Ich finde es ungeheuerlich, wenn so etwas stattgefunden hat. ({1}) Wenn Sie sich aber auf Hörensagen verlassen haben, ohne es nachzuprüfen, dann finde ich das gleichfalls ungeheuerlich. ({2}) Denn auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Jobcenters sind Menschen und haben ein Anrecht darauf, vor Verleumdungen geschützt zu werden. Ich bitte Sie, hier nachzuarbeiten. ({3}) Falls das, was Sie sagen, stimmt, sind wir alle aufgefordert, alles zu tun, damit das für den betreffenden Mitarbeiter oder die betreffende Mitarbeiterin nicht ohne Folgen bleibt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Um auf Ihre direkte Ansprache mit einer Frage zu antworten - ich kann Ihnen jetzt nur in dieser Form antworten -: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das von mir genannte Beispiel aus einer Fallzusammenstellung einer Rechtsanwältin stammt, die eine sehr anerkannte Fraueninitiative berät und die sich mit der Bitte an mich gewandt hat, Öffentlichkeit für solche Probleme herzustellen? Aber diese Rechtsanwältin hat im Interesse ihrer Mandantin und in Rücksprache mit ihrer Mandantin den Namen anonymisiert. Es handelt sich aber um eine ordentliche, offizielle Zusammenstellung.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kipping, ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber dann wird es umso eher möglich sein, mindestens herauszubekommen, um welches Jobcenter es sich handelt. ({0}) Ich bin gerne bereit, mit dieser Rechtsanwältin Kontakt aufzunehmen. ({1}) Das kann diese Rechtsanwältin nur wollen; denn das Ziel der Rechtsanwältin kann doch nur sein, dass solche Missstände - um das ganz deutlich zu sagen - abgestellt werden. Frau Kipping, ich erwarte von Ihnen, dass ich dazu Material bekomme. ({2}) Ich verspreche Ihnen meinerseits, dass ich das nicht auf sich beruhen lassen werde. - Ich danke Ihnen. Lassen Sie mich jetzt kurz zu dem Antrag kommen. Ich will doch sagen, Frau Mast, Herr Schiewerling: Es ist nicht ganz falsch, was in diesem Antrag steht. Da nützt auch kein Gesundbeten. Sie kennen doch alle eine ganze Reihe von Beispielen, die zeigen, dass die Beratungsqualität in den Jobcentern zu wünschen übrig lässt. ({3}) Wir wissen seit langem, dass der Schlüssel, den wir den Menschen versprochen haben, als dieses Gesetz gemacht wurde, nämlich dass ein Berater bzw. eine Beraterin nur eine bestimmte Anzahl von Klienten zu betreuen und zu beraten hat, bei weitem noch nicht eingehalten wird. ({4}) Insoweit gibt es da tatsächlich Handlungsbedarf. Das Verhältnis zwischen Fordern und Fördern ist seit Regierungsantritt dieser Großen Koalition leider nicht besser geworden; im Gegenteil: Sie haben die Schraube des Forderns angezogen, und das Fördern haben Sie vernachlässigt. ({5}) Das hat etwas mit der Personalsituation in den Jobcentern zu tun. Wenn diejenigen, die Arbeitslose beraten sollen, selber permanent um ihren Job fürchten müssen, weil sie einen befristeten Arbeitsvertrag haben, dann ist das eine ungute Situation, die sich selbstverständlich auf die Beratungsqualität auswirkt. Ein Viertel aller Beschäftigten der Argen arbeitet nach wie vor auf befristeten Stellen. Die Fluktuationsrate - die ist ein Hinweis darauf, wie es in einem Laden läuft - liegt bei 20 Prozent. Dass es Handlungsbedarf gibt, die Situation zu verbessern, werden Sie nicht leugnen können. Ich will kurz auf das eingehen, was Frau Mast gesagt hat. Die Situation in den Jobcentern ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts natürlich nicht besser geworden. Die Verunsicherung ist noch größer geworden. Da ist die Befristung von Stellen richtig Gift. Frau Mast, Sie sagen, der Vorschlag von Olaf Scholz habe zur Folge, dass dort Sicherheit eintritt. Sagen Sie einmal, Frau Mast, lesen Sie eigentlich keine Zeitung? Erstens. Dieser Vorschlag ist vor allem eines: Er ist in Wirklichkeit eine astreine Bundeslösung. Wer kooperieren will, der darf, und es wird ihm nicht verboten. ({6}) Aber da, wo es Schwierigkeiten gibt - und dafür gibt es eine Menge Beispiele -, wird das natürlich so überhaupt nicht funktionieren. Zweitens. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass diese Lösung Wirklichkeit werden wird; denn Ihr Koalitionspartner hat doch schon lautstark verkündet, dass er auf keinen Fall mitziehen wird. Mit anderen Worten: Die Unsicherheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter ist keineswegs vom Tisch. Da kann ich nur sagen: Da sind befristete Jobs und hohe Fluktuationsraten Gift für die Beschäftigten und damit leider auch für die, die sie beraten sollen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Ilse Aigner, Katherina Reiche ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nichtkommerzielle klinische Studien in Deutschland voranbringen - Drucksachen 16/6775, 16/8061 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Kretschmer Patrick Meinhardt Priska Hinz ({2}) Die Kollegen Michael Kretschmer, Dr. Rolf Koschorrek, René Röspel und die Kolleginnen Dr. Marlies Volkmer, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und Priska Hinz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8061, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6775 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Omid Nouripour, Claudia Roth ({4}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Für eine Initiative der Bundesregierung mit dem Ziel einer humanitären, kohärenten 1) Anlage 4 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner und nachhaltigen Ausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für eine grundlegende Wende der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik nutzen - Drucksachen 16/3541, 16/5109, 16/6910 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({5}) Ulla Jelpke Josef Philip Winkler Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle- ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Florian Toncar, Sevim Dağdelen und Omid Nouripour.1) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 16/6910. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3541. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion FDP und gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5109. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Aufsichtsstruktur der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({6}) - Drucksache 16/7078 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7}) - Drucksache 16/8083 - Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Nina Hauer Frank Schäffler 1) Anlage 5 Es ist vereinbart, die Reden der folgenden Kollegin- nen und Kollegen zu Protokoll zu geben: Leo Dautzenberg, Nina Hauer, Frank Schäffler, Dr. Axel Troost, Dr. Gerhard Schick.2) Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8083, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7078 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Stimmenthaltung der Fraktionen Die Linke und der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({9}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP Mehr Park- und Stellplätze für Lkw auf Bun- desautobahnen - Drucksachen 16/5278, 16/7146 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär Achim Großmann.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit seiner zentralen Lage ist Deutschland das größte Transitland in Europa. Das zeigt sich auch in der Infra- struktur: Wir haben ein Netz von 12 600 Kilometern Bundesautobahn aufgebaut. Was ist in den letzten Jahren passiert, und was wird in den kommenden Jahren passieren? Es gibt neue Entwick- lungen in den Logistik- und Produktionsketten - Stich- wort „Just-in-Time“ und „Just-in-Sequence“ -, es gibt die EU-Osterweiterung. Der Güterverkehr auf den Bun- desautobahnen nimmt zu, die Zahl der Lkw nimmt zu. Im Jahr 2007 wurden zudem neue Lenk- und Ruhezeiten 2) Anlage 6 eingeführt. Das bedeutet, dass wir mehr Rast- und Parkplätze für Lkw und Lkw-Fahrer brauchen. ({0}) Das hat etwas mit Verkehrssicherheit zu tun: Wir müssen dafür sorgen, dass die Lkw-Fahrer ihre Ruhezeiten einhalten können, weil das zu mehr Sicherheit auch für den gesamten Pkw-Verkehr führt. ({1}) Derzeit gibt es an den Autobahnen ungefähr 430 bewirtschaftete und 1 520 unbewirtschaftete Rastanlagen. Dort stehen 21 000 Parkplätze für Lkw zur Verfügung. Zudem stehen an den Autohöfen 18 500 Parkplätze zur Verfügung. Derzeit sind dies also ungefähr 39 500 Parkplätze; das ist schon eine ganze Menge. Wir wissen dennoch, dass das nicht ausreicht. Die Gründe dafür habe ich eben genannt. Bereits in den 90er-Jahren wurde ein mit 250 Millionen Euro unterlegtes Zehnjahresprogramm für den Bau neuer Parkplätze aufgelegt. Wir haben dieses Programm fortgeschrieben: Seit 2005 stehen für die darauffolgenden Jahre insgesamt 250 Millionen Euro - 25 Millionen Euro pro Jahr - zur Verfügung. Der Haushaltsausschuss hat mit Unterstützung des Finanzministers die Tranche für 2008 von 25 Millionen Euro auf 35 Millionen Euro aufgestockt. Das heißt, wir können in diesem Jahr noch mehr Rastanlagen ausbauen. Eine weitere positive Entscheidung ist getroffen worden: Wir werden nicht nur die bewirtschafteten, sondern auch die unbewirtschafteten Rastanlagen ausbauen. Grund dafür ist das Verhalten vieler Lkw-Fahrer: Während ein Teil der Lkw-Fahrer gerne Raststätten anfährt, weil sie die dortigen Einrichtungen in Anspruch nehmen wollen, ist ein anderer Teil mit einem Parkplatz auf den unbewirtschafteten Rastplätzen sehr zufrieden, weil sie im Grunde genommen alles an Bord haben und sich selbst verpflegen können. Was ist nun geplant? Was ist in der Mache? Derzeit sind 125 Neu- und Ausbaumaßnahmen in Planung. Dabei sollen rund 11 000 zusätzliche Parkplätze auf den Rastanlagen des Bundes entstehen. Damit erhöht sich die Zahl um über 50 Prozent; das kann sich sehen lassen. Um der entsprechenden Kritik der Opposition zu begegnen - wir werden sie gleich hören -, möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, welches Verfahren wir zu bewältigen haben. Die Planung ist gemäß der föderalen Struktur unseres Landes Aufgabe der Länder. Das heißt, wir können nur das bauen, was in den Ländern geplant wird. Damit wir das, was von den Ländern kommt, schnell abarbeiten können, haben wir eine Projektgruppe eingerichtet, die auch die Aufgabe hat, weitere Innovationen - beispielsweise den Einsatz von Telematiksystemen, die den Lkw-Fahrern signalisieren, wo freier Parkraum zur Verfügung steht - voranzubringen. Wir setzen also auch hier auf Innovationen. Im Moment müssen viele Lkw-Fahrer ihre Pause auf Rastplätzen verbringen, die der Autobahn zugewandt sind. Dort kommt man, wenn man schlafen will, schlichtweg nicht zur Ruhe. Deshalb versuchen wir, wenn Rastanlagen neu- oder umgebaut werden, dafür zu sorgen, dass die Stellplätze für Lkw-Fahrer hinten angelegt werden, damit die Fahrer etwas mehr Ruhe haben. Dank einer Initiative unseres Hauses, die vom Parlament dankbar aufgenommen und vom Finanzministerium unterstützt worden ist, haben wir ab 2008 erstmals die Gelegenheit, Lärmschutzwände zwischen der Fahrbahn und den Rastplätzen zu bauen. ({2}) Wir bringen damit eine weitere Innovation voran. Bis jetzt gab es Lärmschutz für Wohngebäude; jetzt gibt es einen Lärmschutz, der mit Arbeitsschutz zu tun hat. ({3}) Ich glaube, das ist ganz wichtig. Sie sehen also: Wir sind dabei, den vorliegenden Mangel an Parkplätzen auszugleichen. Ich komme zu einem letzten Appell an die Kolleginnen und Kollegen. Es werden heute wieder Reden gehalten, in denen es heißt: Wir brauchen mehr Parkplätze. Viele Kolleginnen und Kollegen kommen aber zu mir und sagen, dass sie einen Ausbau des Rastplatzes in ihrem Wahlkreis nicht wollen. Wir müssen dafür werben, dass die Widerstände in den Regionen weniger werden, ({4}) und wir müssen deutlich machen, dass Verkehrssicherheit für Lkw-Fahrer und damit auch für Pkw-Fahrer unverzichtbar ist. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie haben vieles Richtige gesagt. Allerdings hat man den Eindruck: Die Osterweiterung, die Zunahme des Lkw-Verkehrs, die nicht ausreichenden Parkplätze, alles das ist über Nacht und völlig überraschend gekommen. Die Auswirkungen der gesetzlichen Maßnahmen, der Verschärfung der Lenk- und Ruhezeiten, die Konsequenzen aus dem Einsatz von digitalen Tachografen, die Zunahme des Verkehrs waren langfristig vorhersehbar und prognostizierbar. Wir haben rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass die ausgewiesenen Parkplätze an der Autobahn bei weitem nicht ausreichen, wenn die von Ihnen beschlossenen gesetzlichen Vorgaben, die unter Sicherheitsgesichtspunkten richtig sind, erfüllt werden sollen. Diese Vorgaben müssen auch sozial abgefedert werden. Das Problem hat sich noch dadurch verschärft, dass Autohöfe, die außerhalb des Systems an der Autobahn errichtet worden sind und kurzfristig für eine gewisse Entspannung sorgen konnten, jetzt zum Teil dazu überHorst Friedrich ({0}) gehen, ihre Parkplätze zu bemauten, was dazu führt, dass man auf die Systeme an der Autobahn zurückkommt. Wer nachts mit offenen Augen durch die Gegend fährt oder sich einmal, wie ich es getan habe, die Zeit nimmt, mit der Verkehrspolizei nachts unterwegs zu sein, wird feststellen, dass Lkws an allen möglichen und auch unmöglichen Stellen parken, teilweise bis in die Fahrbahn der Autobahn hinein, weil sie keinen anderen Platz mehr finden. Das schwächste Glied in der Kette ist der Lkw-Fahrer. Den haben Sie völlig alleingelassen. ({1}) Er hat nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn seine Lenkzeit abgelaufen ist und er halten muss, aber an der Stelle keinen Parkplatz findet, kann er entweder stehen bleiben - dann hat er ein Problem mit der Polizei, weil er dort nicht halten darf - oder weiterfahren; dann hat er ein Problem mit den nachgeordneten Behörden, weil er die Lenkzeit überschreitet. Nach der Verschärfung der Bestimmungen zu den Lenk- und Ruhezeiten - insbesondere ist hier die maximale Lenkzeit von 56 Stunden in der Woche zu nennen - kann nicht sichergestellt werden - das ist völlig offensichtlich -, dass jeder, der im Fernverkehr unterwegs ist, immer seinen Zielort, also sein Zuhause oder seinen Arbeitsplatz, erreicht. Sie zwingen die Lkw-Fahrer geradezu, ihre neun Stunden Ruhezeit auf Rastanlagen zu verbringen - in aller Regel unter aus meiner Sicht nicht gerade hervorragenden hygienischen Bedingungen. Das Ganze wird noch dadurch begleitet, dass man die Spesensätze für Kraftfahrer und die Absetzbarkeit derselben für die Unternehmer noch stärker begrenzt hat. Das alles trägt nicht dazu bei, dass ein Kraftfahrer mit großer Verve Umsatz auf Rastanlagen macht. Ein Konflikt ist in der Tat wegen der Länder nicht gelöst worden - da stimme ich Ihnen völlig zu, Herr Großmann -, nämlich die Zuständigkeit für die Errichtung von Parkplätzen. Es wäre aus unserer Sicht sehr viel sinnvoller - einen entsprechenden Antrag haben wir damals in Zusammenhang mit der Privatisierung von Tank & Rast gestellt -, wenn die ganze Anlage von einer Hand geplant werden könnte. Es ist ein völliger Anachronismus, dass der Bund als Eigentümer des Grundes in aller Regel mit Tank & Rast als Erbauerin und Betreiberin der Anlage noch das jeweilige Land braucht, um die Parkplätze zu errichten. ({2}) Das kann in aller Regel nicht funktionieren. Das ist am Egoismus der Länder gescheitert. Das sollte man ändern. Die FDP hat mit ihrem Antrag, der immerhin schon vom Mai letzten Jahres stammt, wenigstens erreicht, dass das Thema diskutiert worden ist. Nun werden Sie sagen: Es ist alles in trockenen Tüchern; wir haben das Ganze erledigt. Okay, wir alle freuen uns darüber, dass es im Verkehrshaushalt mehr Geld gibt. Wenn ein Teil des Programms dazu führt, dass an den Autobahnen mehr Parkplätze entstehen, sollte uns das nur recht sein. Das Problem aber wird sein, lieber Herr Staatssekretär: Wie zügig kann das Ganze umgesetzt? Wir zweifeln daran, dass das bei 11 Millionen Lkw-Fahrten täglich 21 000 Parkplätze - das ist der Istzustand - ausreichen. Ob der Zielwert von 32 000 irgendwann den zusätzlichen Zuwachs auf den Autobahnen überhaupt abdeckt, ist mit Sicherheit mit einem Fragezeichen zu versehen ganz zu schweigen davon, dass Sie die Planfeststellungsverfahren durchführen und auch das Problem, das Sie schon angesprochen haben, bewältigen müssen, damit überhaupt gebaut werden kann. Die Zeit muss auch noch dazugerechnet werden. Der eigentliche Hauptvorwurf, den wir Ihnen machen, lautet: Sie wussten lange Zeit vorher, dass die Regelungen für die Lenk- und Ruhezeiten verschärft werden. Ihnen liegen schon lange Zeit Prognosen vor, aus denen hervorgeht, dass der Verkehr zunimmt. Sie haben lange Zeit vorher gewusst, dass die EU-Osterweiterung kommt. Es ist seit langer Zeit völlig klar, dass Deutschland dadurch immer mehr zu einem Haupttransitland wird. Aber erst als das Kind in den Brunnen gefallen war, begann das Nachdenken, dass man für die LkwFahrer, um ihnen die Einhaltung der verschärften Sicherheitsvorschriften zu ermöglichen, noch weitere Parkplätze schaffen muss. Aus unserer Sicht ist es problematisch, in welcher zeitlichen Reihenfolge all dies abgelaufen ist. Wir sind nun gespannt, wie Sie Ihr Programm umsetzen. Wir werden Sie in dieser Hinsicht weiterhin kritisch beobachten. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Renate Blank, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Kollegen von der FDP, es ist schon das gute Recht der Opposition, über einen Tagesordnungspunkt zu diskutieren und das Angebot, die Reden zu Protokoll zu geben, auszuschlagen. So reden wir jetzt vor einer riesigen Öffentlichkeit. ({0}) Es besteht natürlich die Notwendigkeit, das Thema zu beachten. Ich glaube, schon dadurch, dass im Verkehrshaushalt 10 Millionen Euro mehr für die Schaffung von Parkplätzen an Autobahnen zur Verfügung stehen werden, wird es ernst genommen. Das Anliegen, Herr Kollege Friedrich, ist also berechtigt; aber man kann Geld nur einmal ausgeben. ({1}) Gerade die FDP fordert aber in vielen verschiedenen Anträgen immer etwas Neues. Ich denke da zum Beispiel an Forderungen, Geld für die Sanierung von Eisenbahnbrücken zur Verfügung zu stellen usw. Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden, wofür Sie das vorhandene Geld ausgeben wollen. Wir besitzen keine Geldvermehrungsmaschine. ({2}) - Gut. Nun zu dem Antrag der FDP, Kollege Friedrich. Ich habe ihn extra dabei. ({3}) Der Titel lautet: „Mehr Park- und Stellplätze für Lkw auf Bundesautobahnen“. ({4}) Die Grünen würden sich wahrscheinlich darüber freuen, wenn die Parkplätze auf den Autobahnen und nicht an den Autobahnen errichtet würden. Wir wollen aber keine Parkplätze auf den Autobahnen, sondern an den Autobahnen. ({5}) Dementsprechend sollte man auch auf richtige Wortwahl achten. ({6}) - Gut, aber man steht dann nicht auf Parkplätzen, sondern im Stau. ({7}) Dieser löst sich dann ja auch irgendwann auf. ({8}) Auch das Thema Sicherheit, Herr Kollege Friedrich, ist natürlich ein wichtiges Thema. Es wurde ja schon erwähnt - damit komme ich wieder zum Antrag -, dass aufgrund der Parksituation die Sicherheit durch parkende Lkws gefährdet wird und es auch schon zu Unfällen gekommen ist. Das ist bedauerlicherweise der Fall. Nun frage ich mich: Wenn die von der FDP so stark favorisierten Gigaliner zugelassen werden, wo sollen die dann noch parken? ({9}) - Vielleicht auf den Autobahnen. - Hier ergibt sich also ein gewisses Problem. Man muss sich also, wenn man etwas anleiert und kritisiert, dass zu wenig Parkplätze da sind, schon vorher überlegen, wie das Ganze weitergeht. ({10}) Wir geben ja zu, dass 21 000 Parkplätze zu wenig sind. Es ist aber nicht so, dass nur die FDP darauf hingewiesen hat. Es gab auch - vielleicht erinnern Sie sich noch daran, Kolleginnen und Kollegen - eine Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu der Situation auf den Autobahnraststätten. ({11}) - Sie stammt aus dem Jahre 2004 und ist 2005 beantwortet worden. ({12}) Da ist die ganze Situation eindeutig beschrieben worden. Es konnten leider keine Konsequenzen mehr gezogen werden. ({13}) - Kollege Friedrich, wir könnten auch gemeinsam dazu beitragen und dafür werben - Staatssekretär Großmann hat das ja erwähnt -, dass die Akzeptanz für den Ausbau von Autobahnraststätten und -parkplätzen bei den Bürgerinnen und Bürgern wächst. Allein in Mittelfranken gibt es zwei entsprechende Fälle von Bürgereingaben; Sie kennen beide, Herr Staatssekretär. Im einen Fall konnte deswegen keine ausreichend große Anlage gebaut werden, und im anderen Fall wurde der Bau einer Anlage sogar ganz verhindert. Hier müssen wir etwas unternehmen, im Interesse nicht nur der Lkw-Fahrer, sondern zum Beispiel auch der Caravan- und Pkw-Fahrer, die einen Rastplatz anfahren wollen. Warum muss eigentlich immer der Bund die Rastanlagen bauen? Es gibt private Autohöfe, und es muss auch Raum für private Investoren geben. ({14}) - Außerhalb. - Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Unlängst hat ein US-Rastplatz- und Mineralölmulti - ich sage den Namen jetzt nicht - ein Grundstück an der A 7 bei Egestorf-Evendorf, 50 Kilometer vor Hamburg, gekauft. Auf der Fläche von zwölf Fußballfeldern soll dort die erste europäische Travel-Plaza des Unternehmens mit 300 Lkw-Stellplätzen, Restaurant und Kasino entstehen. Ich gehe davon aus, dass dieser Mineralölmulti dort auch seinen eigenen Sprit verkaufen wird. Dieser US-Mischkonzern, zu dessen Kerngeschäft mehr als 170 Lkw-Autohöfe in den USA und Kanada gehören, will - so ist auch den Medien zu entnehmen auf dem europäischen Markt Fuß fassen. Der Konzern plant den Bau von 8 bis 10 Lkw-Rastanlagen der Superlative in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen. ({15}) Es gibt natürlich Befürchtungen, dass sich das Unternehmen über den Preiswettbewerb Marktmacht verschafft. Diese Befürchtungen sind durchaus ernst zu nehmen; denn die deutschen Autohof- und Raststättenpächter sind durchweg Mittelstandsbetriebe. Dafür haben wir bei der Privatisierung mit gesorgt. Meine Bitte an das Bundesverkehrsministerium ist, dass man diese Dinge einmal genau prüft. ({16}) - Natürlich ist das etwas anderes, Kollege Friedrich. Denn ich bin der Überzeugung, dass man bei Autohöfen und Rastanlagen, die an oder auch jenseits der Autobahn, in der Nähe von Abfahrten, entstehen, durchaus private Investoren einspannen könnte, um dem Ganzen etwas mehr Schwung zu geben ({17}) und mehr Lkw- und Pkw-Parkplätze zur Verfügung stellen zu können. Im Übrigen, Herr Staatssekretär, warten wir auf den Bericht, den Sie dem Verkehrsausschuss vorlegen wollen. Ich gehe davon aus, dass in diesem Bericht die besonders gravierenden Punkte dargestellt werden. Dann kann, eventuell auch unter Einsatz von privaten Investoren, gehandelt werden. Den Antrag der FDP werden wir, weil er teilweise überholt ist und sich als Schaufensterantrag herausgestellt hat, ablehnen. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner, Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut debattieren wir über eine Fleißarbeit der FDP in Sachen Verkehrspolitik. Auf den ersten Blick sieht das alles ganz gut aus; bei näherem Hinsehen allerdings entpuppt sich das Ganze streckenweise als Nebelkerze. Uns soll hier die Medizin „mehr Autobahnparkplätze“ verordnet werden. Dass die Autobahn leidet, dass es zu viel Verkehr und zu wenig Stellplätze auf den Autobahnen gibt, wissen wir alle. Aber es gibt auch eine Statistik, die ein Bild zu dieser Krankheit liefert. 1991 wurden im Güterverkehr 246 Milliarden Tonnenkilometer auf der Straße erbracht. Im Bahnverkehr waren es 82 Milliarden, ein Drittel. 2006 rollten auf den Straßen 432 Milliarden Tonnenkilometer, und die Bahn brachte es auf 107 Milliarden - nur noch ein Viertel. Der Anteil der Bahn hat sich also verringert. Mehr Lkw-Fahrten bedeuten natürlich mehr Bedarf an Parkplätzen. Wir haben eben schon über die zu Recht verschärften Lenk- und Ruhezeiten geredet. Kein Mensch will, dass diese Ruhezeiten auf Standstreifen verbracht werden. Da haben wir eine Fürsorgepflicht im Rahmen des Arbeitsschutzes und müssen uns den bestehenden Problemen stellen. Staatssekretär Großmann hat bereits vorhin auf die erfolgte Mittelaufstockung hingewiesen. Aber ein Herumdoktern am Parkplatzbau hat nun einmal Nebenwirkungen. Kommunen und Anwohner sind berechtigterweise nicht unbedingt begeistert, wenn Land am Autobahnrand weiter für Verkehr geopfert werden soll, selbst wenn sie einsehen, dass diese Stellplätze unter Umständen nötig sind - aber bitte nicht bei ihnen vor der Haustür! Das alles ist nur ein Laborieren an Symptomen. ({0}) 1994 wurde eine Bahnreform auf den Weg gebracht. Seitdem wird fraktionsübergreifend postuliert: Mehr Verkehr auf die Schiene! Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. ({1}) Der Anteil der Gütertransporte auf der Straße ist um 75 Prozent gewachsen, der auf der Schiene jedoch nur um 30 Prozent. Die Lkw-Flut wächst, die Straßen sind verstopft. Aber mehr Parkplätze lösen das Problem nicht. ({2}) Wir müssen auch die Kapazitäten von Tankstellen und von Rastplätzen erhöhen. Aber nachdem Tank & Rast, die ehemalige Gesellschaft für Nebenbetriebe an Autobahnen, privatisiert worden ist, werden die Betreiber einen Teufel tun, ihre Anlagen zu erweitern; denn das könnte ihren Profit schmälern. ({3}) - Es ist aber sehr wohl nötig, weil der Ausbau der Parkplätze allein nur ein Teil der Medizin ist. Es war ein Fehler, Tank & Rast zu verhökern. Das wird hier deutlich. Genauso wird es ein Fehler sein, wenn man die Bahn kapitalprivatisiert. ({4}) Eine Bahn, die Profitinteressen unterliegt, wird nicht dafür sorgen, dass die Verkehrsprobleme gelöst werden, sondern sie wird nur noch das machen, was ihr selber Profit verspricht. Wir brauchen die Eisenbahn, um die Autobahnen wirksam von dem zu entlasten, was auf der Schiene besser aufgehoben ist. Das würde den Bedarf an Parkplätzen und damit die Kosten für den Steuerzahler mindern. Insgesamt würde ein verringerter Straßenverkehr oder zumindest einer, der nicht mehr so ungebremst wächst, der Umwelt und dem Menschen zugutekommen. ({5}) Deshalb gilt: Fürsorgepflicht für Lkw-Fahrer geht vollkommen in Ordnung. Wir wissen alle, wie übel die Arbeitsbedingungen für viele dieser Menschen sind. Es werden teilweise Löhne gezahlt, die jeder Beschreibung spotten. Daher haben wir natürlich Verständnis dafür, dass mehr Parkplätze benötigt werden - aber bitte nur an den Strecken, an denen es wirklich nötig ist. Da geht der Antrag der FDP zu weit. Deswegen können wir ihm keine Zustimmung geben. Danke. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Renate, Deine Rede war amüsant; sie hat mir in weiten Teilen gefallen. ({0}) Es ist immer wieder lustig, dir zuzuhören. Wir haben ein reales Problem, nämlich eine teilweise Überlastung der Autobahnen. Das wurde bereits erwähnt. Es gibt Sicherheitsprobleme, wenn die Standstreifen genutzt werden usw. Darüber brauchen wir uns nicht groß zu streiten. Es stellt sich die Frage, wie man diese Probleme am geschicktesten löst. Man könnte beispielsweise die Autobahnen ausbauen. Aber dafür ist kein Geld vorhanden. Inzwischen gibt es auch Ideen, wie man diese Probleme auf technische Weise lösen kann. Man kann zum Beispiel durch den Einsatz der Telematik die vorhandene Infrastruktur weitaus besser auslasten. Man kann - auch das ist schon gesagt worden - auf Autohöfe ausweichen. Bezeichnend ist aber, wie das Bundesverkehrsministerium mit dem Problem des stark wachsenden Güterverkehrs umgeht. Wir wissen seit vielen Jahren, dass die vorhandenen Bahntrassen und die Autobahnen nicht ausreichen. Aber was macht das Ministerium? Es laboriert herum - manches hat der Staatssekretär dargestellt -, duckt sich weg und gibt keine Antworten beispielsweise im Zusammenhang mit dem Hafenhinterlandverkehr. Es weiß nicht genau, wie es mit dem Problem umgehen soll. Wir sind Exportweltmeister und Transitland. Was passiert? Es wird nichts Vernünftiges in die Wege geleitet. Man baut an dieser und jener Stelle. Man belastet die Bürger, aber man hat kein Entlastungs- und Umsteuerungskonzept. Wunderschön sieht man das am Beispiel des Güterverkehrs. Der Güterverkehr auf der Schiene müsste eigentlich stark wachsen. Aber was passiert? Inzwischen gibt es einen Stau auf der Schiene. Warum haben wir diesen Stau auf der Schiene? Weil die entsprechenden Maßnahmen nicht ergriffen worden sind. Eigentlich gäbe es ein schönes Konzept zur Entlastung der Bürger ({1}) durch die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Aber was passiert? Man hält sich bei lustigen, unsinnigen Projekten auf, wie zum Beispiel bei der Y-Trasse, wie hier zugerufen wurde. Vor kurzem war im Infrastrukturausschuss ein Professor, der uns die Situation dargestellt hat. Das Ergebnis war - dies haben auch andere Teilnehmer zugestanden -, dass die Y-Trasse kein einziges Problem löst. ({2}) Dann hat der Staatssekretär gesagt: Das wissen wir eigentlich auch; sie löst kein einziges Problem. Aber mit der Planung sind wir schon sehr weit; jetzt machen wir einfach weiter, weil wir nichts Besseres wissen. - Das heißt, Sie haben keine Lösungen. Sie belasten die Bürger; Sie belasten die Lkw-Fahrer. Auch der Antrag der FDP hilft uns nicht groß weiter. Wie soll es weitergehen? Wir hätten eine Lösung: einen vernünftigen Ausbau der Schiene - ({3}) - Einen vernünftigen Ausbau der Schiene! ({4}) Das sollten Sie wissen. Schienen irgendwohin zu bauen, wo sie kein Problem lösen, darum geht es nicht. Das hat die Verkehrswissenschaft ganz klar bestätigt. Deshalb noch einmal: Wir sind für einen vernünftigen Ausbau der Schiene, für die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene und den Einsatz moderner Technik, wie zum Beispiel für das Parken mithilfe der Telematik. Da, wo es unbedingt nötig ist, muss ausgebaut werden. Es muss Rücksicht auf die Bürger genommen werden. Mit all dem hätten wir ein Gesamtkonzept. Aber, wie gesagt, was macht das Bundesverkehrsministerium? Schienenverkehrsträgerübergreifende Planungen - Fehlanzeige! Die Straße wird einzeln geplant; die Schiene wird einzeln geplant; die Häfen werden einzeln geplant. Wer ist das Opfer des Ganzen? Opfer ist der Bürger durch Lärmbelastung und Schadstoffe. Opfer ist die Umwelt. Opfer sind die Lkw-Fahrer, die davon betroffen sind. Opfer ist die Wirtschaft. Opfer sind die Spediteure, die nicht mehr sauber planen können. Was soll das Ganze? Die Lösung ist ganz einfach: Wir brauchen endlich ein Verkehrsministerium, das vernünftig planen kann. Oder sagen wir es ganz einfach: Wir brauchen dringend einen anderen Verkehrsminister. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Fraktion. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hofreiter, wir brauchen eine vernünftige Planung. ({0}) Ich denke, das Ministerium hat sich mit dem Masterplan Logistik auf einen guten Weg gemacht; denn damit erhält die Lösung dieser Probleme genau den Stellenwert, den sie verdient - auch heute Abend. Herr Friedrich, der Bedarf, den Sie hier so salopp ermittelt haben, ist doch Kaffeesatzleserei. ({1}) Ich finde es schon wichtig, dass die Mittel, die man einsetzt, effizient verwandt werden. Dazu braucht man erst einmal die Feststellung des Istzustandes und eine Bedarfsermittlung. Man plant nicht einfach so ins Grüne. ({2}) Im Übrigen haben wir mit dem Modal Split einen sehr guten Erfolg. Mehr Güterverkehr wird über die Schiene abgewickelt; das sollten wir festhalten. Natürlich wird auch in Zukunft der Güterverkehr auf der Straße von Bedeutung sein, und natürlich brauchen wir aufgrund der neuen Lenk- und Ruhezeiten für unsere Lkw-Fahrer mehr Parkplätze. Vorhin wurde gesagt: Wir haben 21 000 Parkplätze, und zwar nicht auf der Autobahn, sondern an der Autobahn. Wenn man etwas abseits der Autobahn fährt, stellt man fest, dass es eine Menge Autohöfe gibt. Diese stellen 20 000 Stellplätze zur Verfügung. Der eine oder andere Autohof wäre froh, würden Lkws dort tatsächlich parken. Aber am liebsten parkt man natürlich fast auf der Autobahn. Vor diesem Hintergrund ist der Schwerpunkt der zuständigen Arbeitsgruppe richtig gesetzt. Man muss die Mittel effizient einplanen. Man muss die Baumaßnahmen koordinieren. Es wurde schon angesprochen: Die Länder sind für die Planung mit zuständig. Einige haben sich schon auf den Weg gemacht. Niedersachsen plant, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, 2 000 zusätzliche Stellplätze. Das Ganze läuft also richtig gut an. Auch in der Telematik gibt es einen Ansatz. Dies ist der richtige Weg. Der Lkw-Fahrer weiß damit genau, wo es freie Plätze gibt und wie er seine Lenk- und Ruhezeiten einhalten kann. Im Übrigen gibt es an der A 3 bei Montabaur einen Modellversuch, ein sogenanntes Kolonnenparken, zu dem man sich anmeldet. Anschließend sagt man, wann man wieder startet. Das Ganze wird dann so arrangiert, dass möglichst wenig Rangierfläche benötigt wird und ein zügiges Abfahren möglich ist. Auch das ist ein kleiner, aber sinnvoller Beitrag. Herr Friedrich, es ist wieder einmal typisch: Sie unterhalten sich und hören gar nicht zu, was die Redner sagen. Darum sind Sie auch nie ausgeschlafen. Nehmen Sie sich einmal ein Beispiel an einem Lkw-Fahrer. ({3}) - Darüber wollen wir uns nicht streiten. Wir kennen die Ausgangssituation. Dem Ministerium kann nicht vorgeworfen werden, dass es erst jetzt handelt. Seit 1995 gibt es das Ausbauprogramm, das um zehn Jahre verlängert wird. Die Mittel wurden aufgestockt. Ich denke, die Arbeitsgruppe und der Masterplan Logistik sind die richtigen Ansätze. Wir sind ausgeschlafen und bringen das zu einem guten Ende. Danke. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Mehr Parkund Stellplätze für Lkw auf Bundesautobahnen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7146, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5278 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften - Drucksache 16/7686 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Haushaltsausschuss Finanzausschuss Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle- ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Michael Stübgen, Hans Eichel, Michael Link, Alexander Ulrich und Rainder Steenblock.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/7686 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage federführend beim Ausschuss für die Angele- genheiten der Europäischen Union beraten werden soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 7 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Herbert Schui, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für ein Europäisches Kartellamt - Drucksachen 16/5360, 16/7239 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer Die Kollegen Dr. Georg Nüßlein, Reinhard Schultz, Martin Zeil, Dr. Herbert Schui und Kerstin Andreae ha- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7239, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5360 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu der Verordnung der Bundesregierung Siebenunddreißigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({3}) - Drucksachen 16/7605, 16/7793 Nr. 2.2, 16/7942 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({4}) Detlef Müller ({5}) Michael Kauch Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle- ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Andreas Jung, Detlef Müller, Michael Kauch, Lutz Heilmann, Sylvia Kotting-Uhl sowie der Parlamentari- schen Staatssekretärin Astrid Klug.2) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/7942, der Verordnung auf Drucksache 16/7605 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- 1) Anlage 8 2) Anlage 9 men von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak- tion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitslosengeld II unbürokratisch berech- nen und auszahlen - Rechts- und Planungs- sicherheit für Leistungsbeziehende schaffen - Drucksache 16/7838 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Kollegen Stefan Müller, Angelika Krüger- Leißner, Dirk Niebel, Katja Kipping und Markus Kurth haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7838 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Katherina Reiche ({6}), Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht durch europäische Vorgaben für einen Zertifi- katehandel unterlaufen werden - Drucksache 16/8047 - Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Maria Flachsbarth, Dirk Becker, Michael Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans- Josef Fell haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8047 mit dem Titel „Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht durch europäische Vorgaben für einen Zertifikatehandel unterlaufen werden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen des Rests des Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, 3) Anlage 10 4) Anlage 11 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitsplatzabbau bei Airbus verhindern - Staatliche Sperrminorität bei EADS herstellen - Drucksachen 16/4308, 16/4879 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt Die Kollegen Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Ditmar Staffelt, die Kolleginnen Ulrike Flach und Dr. Thea Dückert sowie der Kollege Dr. Herbert Schui haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- 1) Anlage 12 schlussempfehlung auf Drucksache 16/4879, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4308 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. Februar 2008, 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.