Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/28/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Zunächst eine ganze Reihe von Mitteilungen: Der Kollege Jochen Welt hat am 22. Oktober 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete Hildegard Wester am 25. Oktober 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die Kollegin, die uns bereits aus früheren Wahlperioden bekannt ist, sehr herzlich. ({0}) Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass die Kollegin Antje Hermenau als ordentliches Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Kerstin Andreae, die bisher stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Anja Hajduk werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Andreae als ordentliches Mitglied und die Kollegin Hajduk als stellvertretendes Mitglied für den Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht benannt. Sodann teile ich mit, dass die Fraktion der SPD als Nachfolger für den ehemaligen Kollegen Ernst Küchler den Kollegen Dr. Hans-Ulrich Krüger als Schriftführer benannt hat. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre auch hier keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger als Schriftführer gewählt. Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zur Einhaltung des europäischen Stabilitätspakts und des Grundgesetzes angesichts neuer Finanzlöcher im Bundeshaushalt und in der Rentenkasse sowie berichtete Begehrlichkeiten von Minister Eichel auf die höheren Einnahmen der Krankenkassen infolge der Gesundheitsreform ({1}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzpro- tokoll vom 4. Juni 2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete - Drucksache 15/4026 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern - Patentierung von Computerprogrammen effektiv begrenzen - Drucksache 15/4034 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: EU-Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China - Drucksache 15/4035 ZP 4 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes - Drucksache 15/3923 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Redetext Präsident Wolfgang Thierse ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({6}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards in Deutschland sachgerecht und transparent fortentwickeln - Drucksache 15/4036 ({7}) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ferner soll auch noch der Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/4064 aufgesetzt und mit der Türkeidebatte aufgerufen werden. Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Des Weiteren sind folgende Änderungen vorgesehen: Tagesordnungspunkt 7 soll mit Tagesordnungspunkt 11, Tagesordnungspunkt 24 mit 26 sowie Tagesordnungspunkt 16 mit 17 getauscht werden. Nach Tagesordnungspunkt 15 soll der bisher ohne Debatte vorgesehene Punkt 28 f - Anhörungsrügengesetz - mit 30 Minuten beraten werden. Bei Tagesordnungspunkt 10 wird statt des vorgesehenen Berichts gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung die nunmehr vorliegende Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit beraten. Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden. Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. November 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Chile andererseits - Drucksache 15/3881 ({9}) überwiesen: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Der in der 133. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Dr. Herta Däubler-Gmelin und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Volker Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ernährung als Menschenrecht - Drucksache 15/3956 überwiesen: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ({13}) - Drucksachen 15/3676, 15/3986 ({14}) Erste Beschlussempfehlung und erster Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15}) - Drucksache 15/4045 Berichterstattung: Abgeordnete Caren Marks Marlene Rupprecht ({16}) Ekin Deligöz Jutta Dümpe-Krüger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({17}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Gerda Hasselfeldt, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Elternhaus, Bildung und Betreuung verzahnen - zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus Haupt, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Solides Finanzierungskonzept für den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten für unter Dreijährige - Drucksachen 15/3488, 15/3512, 15/4045 Berichterstattung: Abgeordnete Caren Marks Marlene Rupprecht ({18}) Ekin Deligöz c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({19}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe- Präsident Wolfgang Thierse Krüger, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausbau von Förderungsangeboten für Kin- der in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern - zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Ausbau und Förderung der Tagespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundes- republik Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tagespflege als Baustein zum bedarfsge- rechten Kinderbetreuungsangebot - Bes- sere Rahmenbedingungen für Tagesmütter und -väter, Eltern und Kinder - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Faire Chancen für jedes Kind - Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreu- ung von Anfang an - Drucksachen 15/2580, 15/2651, 15/1590, 15/2697, 15/3036 - Berichterstattung: Abgeordnete Caren Marks Ekin Deligöz d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern - Drucksachen 15/1983, 15/3035 Berichterstattung: Abgeordnete Christel Humme Irmingard Schewe-Gerigk Zu dem Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. - Wieso heißt das eigentlich nicht Gesetz zum Ausbau der Tagesbetreuung? Es wäre schöner, wenn wir es so nennen würden; das könnte jeder sofort verstehen. ({21}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Renate Schmidt das Wort. ({22})

Renate Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002016

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehr geehrten Damen! Wir wollen den Ausbau der Tagesbetreuung nicht weiter verzögern. Deshalb haben wir den Teil der Reform des SGB VIII vorgezogen, der den Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen sicherstellt, der die Tagesmütter besser absichert, ausbildet und damit aufwertet, der Kleinstkinder auch unterhalb des dritten Lebensjahres ergänzend zur Familie besser fördert und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert. ({0}) Wir haben diesen Teil vorgezogen, damit die Kommunen Planungssicherheit haben und dieses Gesetz gleichzeitig mit Hartz IV in Kraft treten kann. Im Bundesrat standen und stehen die Signale auf Verhinderung. Wir wollen den Bundesrat nicht umgehen. Aber wir können auch nicht zulassen, dass die Familien in Westdeutschland in puncto Kinderbetreuung weiterhin in einem Entwicklungsland leben. ({1}) Das sind wir nämlich mit einer Versorgungsquote von 2,7 Prozent bei Plätzen in Einrichtungen und von rund 4,5 Prozent in Tagespflege. Der Versorgungsgrad hat sich im Zeitraum von 1994 bis 2002, also in acht Jahren, um 1,5 Prozent verbessert. Wenn wir keinen gesetzlichen Druck machen, würde es 120 Jahre dauern, um den französischen, 160 Jahre, um den ostdeutschen, und 304 Jahre, um den dänischen Versorgungsgrad in den alten Ländern zu erreichen. ({2}) Einer der Sachverständigen fand, dass das im TAG zum Ausdruck gebrachte Misstrauen, dass ein bedarfsgerechter Ausbau von selbst vonstatten gehe, mehr als berechtigt sei. In Westdeutschland wurden drei Jahrzehnte lang Prioritäten zugunsten von Mehrzweckhallen und nicht zugunsten von Infrastrukturen für Kinder ge12282 setzt. Dies rächt sich heute in den auch für Kommunen finanziell angespannten Zeiten. Dennoch kann und darf das Thema nicht wieder vertagt werden. In der Expertenanhörung wurde ein eventuelles Scheitern als fatal bezeichnet. Deshalb bitte ich herzlich darum, den Ausbau der Tagesbetreuung nicht zu einer reinen Finanzfrage verkommen zu lassen. ({3}) Es geht nämlich um weitaus mehr: Es ist eine wichtige gesellschaftspolitische, eine zentrale familienpolitische, eine wichtige gleichstellungs- und bildungspolitische und nicht zuletzt eine ökonomische Frage. Denn niedrige Geburtenraten bedeuten schon heute ein geringeres Wirtschaftswachstum. Das jüngste Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung macht den wirtschaftlichen Nutzen des TAG für Kommunen und die öffentliche Hand deutlich. Es ist ein wichtiges bildungspolitisches Thema; denn eine unterbliebene frühe Förderung von Kindern, ergänzend zur Familie, bedeutet, dass bei uns weiterhin die Herkunft eines Kindes mehr als irgendwo sonst in Europa über seine künftigen Bildungschancen entscheidet. Ich will natürlich auch etwas zu den Finanzen sagen. Bitte strapazieren Sie ein klein wenig Ihre Erinnerung, wenn es um diesen Bereich geht. Beim Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz hat die damalige Regierung auf die Anfrage der damaligen Opposition, wie sie die Kosten, die daraus entstehen, ausgleichen wolle, geantwortet - ich zitiere -: Die Mehrbelastung der Kommunen muss nach der Kostenaussage im Gesetzentwurf in die Neuregelung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern einfließen. Ich betone: muss. ({4}) Bis heute behaupten die Kommunen, damals nicht einen Pfennig davon und auch weitestgehend nicht von dem vorher beschlossenen höheren Mehrwertsteueranteil gesehen zu haben. Sie behaupten nun, das sei heute genauso wie zu Ihrer Regierungszeit. Ich sage: Das stimmt nicht. Es stimmt dann nicht, wenn die Länder ihre Zusage einhalten, ihre Einsparungen durch Hartz IV, insbesondere beim Wohngeld, an die Kommunen weiterzugeben. Von dieser Zusage wollen sie jetzt nichts mehr wissen. ({5}) Man kann doch nicht dem Bund anlasten, dass Absprachen auf der Länderseite nicht eingehalten werden. ({6}) Die Kosten sind im Übrigen seriös berechnet. Sie werden nach einem Gutachten der TU Dresden, bezogen auf Westdeutschland, wahrscheinlich sogar noch ein wenig niedriger ausfallen, als von uns berechnet. Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Union, sagen in Ihrem Entschließungsantrag, die Investitionskosten für einen neuen Krippenplatz beliefen sich auf 42 000 Euro. Das stimmt für eine neue Kinderkrippe mit einer Gruppe. Bei zwei Gruppen betragen sie 36 000 Euro, bei der Erweiterung um eine Gruppe in einer bestehenden Einrichtung 30 000 Euro. Wir haben einen vernünftigen Mittelwert von 36 750 Euro angesetzt. Sie werden doch nicht ernsthaft behaupten, dass westdeutschlandweit nur noch eingruppige neue Krippen geschaffen werden. Das ist ein absoluter Unsinn. ({7}) So viel zur Seriosität Ihrer Berechnungen. Die gesetzlichen Änderungen zur Weiterentwicklung der Jugendhilfe, die wir nicht auf die lange Bank schieben wollen, ({8}) werden den Kommunen noch einmal rund 220 Millionen Euro bringen. Insgesamt werden sie ab dem nächsten Jahr durch bundesgesetzliche Maßnahmen um 7 Milliarden Euro entlastet - und dies mit steigender Tendenz in den Folgejahren. Hätten Sie bei unserer Gemeindefinanzreform mitgemacht, dann wäre diese Entlastung deutlich höher. ({9}) Deshalb ist die Forderung nach einer umfassenden Gemeindefinanzreform in Ihrem Antrag schlicht und einfach scheinheilig. Den Entlastungen von 7 Milliarden Euro stehen im ersten Jahr 620 Millionen Euro für den Ausbau der Betreuung der unter dreijährigen Kinder gegenüber. Das müsste doch wirklich zu schaffen sein - auch vor dem Hintergrund, dass wir zwar bis zum Jahr 2010 230 000 zusätzliche Plätze für die unter Dreijährigen erreichen wollen, gleichzeitig aber bis 2010 aufgrund der niedrigen Geburtenrate 320 000 Plätze für die Drei- bis Sechsjährigen entfallen. Es ist doch absolut unseriös, die Entlastung durch die entfallenden Plätze nicht zu berücksichtigen und sich dann darüber zu beklagen, dass das TAG unfinanzierbar sei. ({10}) Ich bin überzeugt: Wir werden es schaffen, dass Westdeutschland nicht Entwicklungsland in Sachen Kinderbetreuung bleibt, und den guten Versorgungsstand in Ostdeutschland erhalten. An erster Stelle ist das TAG aber für die Kinder wichtig. Die dort verankerten Mindestbedarfe werden dazu führen, dass Kinder, deren Wohl es erfordert, eine bessere Förderung erhalten werden. Wir geben in Deutschland nicht nur zu wenig für Bildung aus, sondern wir geben das Wenige auch noch falsch aus, nämlich vor allen Dingen für die Oberstufen der Gymnasien und am wenigsten für den vorschulischen Bereich. ({11}) Aber in diesem Alter sind die Kinder am bildungsfähigsten. Das ist kein Plädoyer - da sind wir uns fraktionsübergreifend einig - für eine Verschulung des Alltags von Kleinstkindern. ({12}) Wir wollen, wie es im TAG verankert ist, die Trias Betreuung, Bildung und Erziehung zum Nutzen der Kinder und der Familien praktizieren und mit Leben erfüllen. Ich möchte heute einmal mehr den Vorwurf zurückweisen, wir sähen das Allheilmittel der Familienpolitik in der Kleinstkinderbetreuung. Diese schlichten Strickmuster haben wir doch eigentlich nicht mehr nötig. ({13}) Wir sollten in Deutschland endlich mit der Diskussion über die einerseits angeblich verantwortungslose erwerbstätige Rabenmutter und andererseits die angeblich etwas depperte Nur-Hausfrau Schluss machen. Dies dient den Betroffenen nicht, sondern nur denjenigen, die mit Familie nichts im Sinn haben. ({14}) Für uns gilt: Die Politik hat den Menschen nicht vorzuschreiben, wie sie leben sollen, sondern hat ihnen zu ermöglichen, dass sie so leben können, wie sie es wollen. Deshalb nehmen wir die Wünsche junger Menschen ernst, die in ihrer erdrückenden Mehrheit eines wollen: Sie möchten Erfolg im Beruf haben und sie möchten Kinder haben. Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Deshalb ist das TAG ein wichtiger - aber nicht der einzige - Baustein, um diesen Wunsch zu erfüllen. Er ist nicht der einzige, weil kein Elternpaar der Welt sein Kind nach der Geburt in einer Krippe oder bei einer Tagesmutter abgeben will, um es dann mit 18 Jahren mit den vorher vereinbarten Qualitätsmerkmalen aus einer Ganztagsschule abzuholen. ({15}) Eltern wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen und Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern. ({16}) Deshalb gibt es die von mir gegründete Allianz für die Familie mit der Zielsetzung einer besseren Balance von Beruf und Familie. Deshalb gibt es meine Initiative „Lokale Bündnisse für Familien“. Das 100. Bündnis wird im November gegründet werden. Diese 100 repräsentieren mehr als 15 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen in Deutschland. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen und mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit vor Ort, das ist der zweite Baustein für eine erfolgreiche Familienpolitik. Sie, meine sehr geehrten Herren und meine sehr geehrten Damen von der Union, glauben aber nach wie vor an das Allheilmittel Geld. Natürlich sind weiterhin gezielte finanzielle bzw. materielle Leistungen notwendig, zum Beispiel unser Kinderzuschlag für Geringverdiener. Solche gezielten materiellen Leistungen sind der dritte Baustein für eine erfolgreiche Familienpolitik. Bei den materiellen Leistungen sehen wir aber im europäischen Vergleich im Gegensatz zu den Kinderbetreuungseinrichtungen, bei denen wir Schlusslicht sind, gar nicht so schlecht aus; wir befinden uns im europäischen Vergleich im oberen Drittel. Wir geben mehr Geld als andere aus und sind dennoch weniger erfolgreich, weil wir zu sehr auf materielle Leistungen und zu wenig auf den Ausbau der Infrastrukturen gesetzt haben. ({17}) Dass Kinderbetreuung hilft, Kinderwünsche zu erfüllen, belegen diverse Umfragen, unter anderem die repräsentative Onlineumfrage „Perspektive Deutschland“ mit 450 000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. All diese Umfragen kommen mit Zweidrittelmehrheiten der Befragten zu dem Ergebnis, dass Deutschland mehr Betreuungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen brauche und dies die Entscheidung für Kinder erleichtern würde. Ihre Aussage, Sie stimmten unserem Anliegen zu, könnten aber - ohne eine Alternative aufzuzeigen - unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen, stellt Sie zu allen gesellschaftlich relevanten Gruppen in einen Gegensatz. Sie ist nicht nur fantasielos, sondern sie widerspricht auch den Interessen von Kindern und Familien. Wir werden Schritt für Schritt - das TAG ist ein wichtiger und großer Schritt - erreichen, dass sich auch bei uns junge Menschen ihre vorhandenen Kinderwünsche erfüllen. Zum Schluss meiner Rede mache ich eines deutlich: Unabhängig von all dem, was wir uns in der Familienpolitik vornehmen, bedarf es im Hinblick auf Kinder der Zuversicht und des Optimismus. Wenn im Zusammenhang mit Kindern auch in der Politik nahezu ausschließlich von materieller Last, von Armutsrisiko sowie von Mühsal und Plage geredet wird, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn vernünftige Menschen diese Lasten und Risiken nicht auf sich laden wollen. ({18}) Daher appelliere ich an uns alle, die wir Kinder haben, ein bisschen häufiger von Kindern als denen zu reden, die sie für mich und für uns alle an erster Stelle sind: eine Freude, für die es sich lohnt, zu leben, zu arbeiten und Politik zu machen. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihr Umgang mit der Opposition ist unerträglich, meine Damen und Herren von Rot-Grün. In einer Nachtund Nebelaktion haben Sie das ursprüngliche Gesetz in zwei Teile aufgeteilt, um das Verfassungsorgan Bundesrat auszuhebeln. ({0}) Sie, Frau Ministerin, haben bereits am Dienstagnachmittag Interviews gegeben. Der Opposition, die am Mittwoch im Ausschuss darüber beraten sollte, ist die veränderte Sachlage jedoch erst nach 20 Uhr über einen Änderungsantrag per E-Mail mitgeteilt worden. So kann man mit uns nicht umgehen; unter Demokraten ist so etwas nicht üblich. ({1}) Frau Ministerin, dies ist keine Basis für eine gute Zusammenarbeit. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits im Jahre 1996 hat die unionsgeführte Bundesregierung den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt. Für uns war und ist wichtig, allen Kindern ab drei Jahren einen Platz in einer Kinderbetreuungseinrichtung zu sichern. Bereits damals hatten wir zusätzlich formuliert, dass ein bedarfsbezogenes Angebot an Plätzen für Kinder unter drei Jahren und für Kinder im schulpflichtigen Alter in Tageseinrichtungen vorzuhalten sei. Im Familienkonzept von CDU und CSU, das wir 2001 verabschiedet haben, heißt es: Um Familie und Erwerbsleben besser miteinander zu harmonisieren, wollen wir ein bedarfsgerechtes, flexibles, qualitativ hochwertiges und bezahlbares Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen für alle Altersstufen … Dieses Angebot soll nach unserer Auffassung bis hin zu Ganztagsangeboten gehen. Dabei ist uns der Bildungsund Erziehungsaspekt ganz besonders wichtig. Großen Wert legt unser Konzept auf die Ausweitung von Betreuungsangeboten durch Tagesmütter sowie auf deren Qualifikation und soziale Absicherung. PISA hat bestätigt, wie wichtig die frühkindliche Förderung ist. Daher ist neben dem quantitativen Ausbau der Tagesbetreuung ein Ausbau qualifizierter Angebote dringend erforderlich. Dies hat nicht nur die Anhörung Ende September gezeigt, sondern auch zahlreiche Gespräche mit Fachkräften aus Einrichtungen der Kindertagespflege und der Kindertagesstätten bestätigen das. Unionsregierte Bundesländer wie Bayern, Hessen und Niedersachsen haben im Bildungsbereich eine Vorreiterrolle eingenommen. Sie haben zum Teil bereits vor den Ergebnissen von PISA Bildungs- und Erziehungspläne entwickelt, die derzeit in der Erprobung sind. Auch beim Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind unionsregierte Länder vorbildlich. Wir wollen Paaren die Entscheidung für Kinder erleichtern. Deshalb unterstützt die Union Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben und fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit kann dem Wunsch insbesondere von Müttern nach Erwerbstätigkeit besser entsprochen werden. Wir haben mit der Einführung des Erziehungsgeldes, der Erziehungszeit und der Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung bereits 1986 neue Weichen gestellt und diese Leistungen 1992 erheblich ausgebaut. Auch die finanziellen Leistungen in unserer Regierungszeit können sich sehen lassen. Wir haben sie in diesen Jahren auf rund 77 Milliarden DM verdreifacht. Sie haben, als Sie an die Regierung kamen, das Kindergeld abgeschafft. ({2}) Der Ausbau von Betreuungsangeboten ist notwendig und richtig. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass der Beruf, wenn man kleine Kinder hat, nur dann unbesorgt ausgeübt werden kann, wenn man die Kinder in guten Händen weiß. Ich habe immer Beruf, Familie und Politik miteinander verbinden können und mich nie als Rabenmutter gefühlt. Ich hatte dabei allerdings das Glück, auf Großeltern zurückgreifen zu können, die sogar zu mir ins Haus kamen. Heute können sich die Eltern nicht von vornherein auf ein familiäres Netz verlassen. Daher ist ein vielfältiges flexibles Angebot an Kinderbetreuungen vom Kleinstkindalter an erforderlich. Dafür stehen wir als Union. Wir stehen für Kinderbetreuung, wir wollen sie. ({3}) Die Betreuung durch Tagesmütter hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Gerade für die ganz Kleinen ist dies die ideale Form der Betreuung. Sie ist flexibel und kann individuell nach den Wünschen der Eltern gestaltet werden. Zur Verwirklichung des Kinderwunsches sind jedoch neben dem Ausbau der Kinderbetreuung auch die finanzielle Förderung von Familien sowie die Stärkung der Elternkompetenz unverzichtbar. Diese drei Säulen - Vereinbarkeit von Familie und Beruf, finanzielle Förderung und Stärkung der Elternkompetenz - haben wir in dem bereits erwähnten Familienkonzept von 2001 festgelegt. Dieses Familienkonzept ist nach wie vor aktuell und gültig. Eine aktuelle Studie von Allensbach belegt: Fast die Hälfte der Kinderlosen gibt die hohen Kosten als Grund für ihren Verzicht auf Kinder an. Genauso viele haben das Gefühl, dass sie den Anforderungen als Vater oder Mutter nicht gewachsen sind. Deshalb dürfen wir nicht beim Ausbau von Betreuungsangeboten stehen bleiben. ({4}) Die Unterstützung von Frauen und Männern bei der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit muss weitergehen. Dabei müssen wir die Eltern im Blick haben, die wegen der Kinder zunächst einige Zeit aus dem Beruf aussteigen, später aber an ihre berufliche Karriere anschließen wollen. Dafür müssen wir genauso viel tun; das dürfen wir nicht vergessen. ({5}) Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel kann man auf die gut ausgebildeten Frauen nicht verzichten. Wir sind auf sie angewiesen. ({6}) Notwendig sind daher nicht nur flexible Arbeitszeiten, sondern auch die Möglichkeiten für Arbeitnehmer, während der Elternzeit Kontakt zum Betrieb zu halten. Eltern brauchen individuelle Zeitsouveränität. Daher müssen innovative, maßgeschneiderte Konzepte in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern entwickelt und gefördert werden, damit der Wiedereinstieg gelingt. Wir warten auf Vorschläge von Ihnen, wie Sie Eltern beim Wiedereinstieg helfen wollen. Wir haben Ihnen unsere Vorschläge dazu in unserem Antrag vorgelegt. Sie brauchen sie nur umzusetzen. ({7}) Kernpunkt unserer Familienpolitik ist die Wahlfreiheit. In der Begründung des Gesetzentwurfes reden Sie viel davon und verweisen auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Im Gesetzentwurf selber jedoch richten Sie den Betreuungsbedarf einseitig auf Erwerbstätigkeit aus. ({8}) Aus unserer Sicht ist dies zu eng ausgelegt und schränkt die Wahlfreiheit in erheblichem Maße ein. Ein Ehepaar - er Arzt, sie Architektin - mit einem Kind hat nach Ihrem Gesetzentwurf einen Anspruch auf ein Angebot zur Kinderbetreuung. So weit, so gut. Das Facharbeiterehepaar jedoch mit fünf kleinen Kindern, bei dem die Frau zu Hause die Erziehungsarbeit leistet und natürlich sehr belastet ist, hat nach Ihrem Gesetzentwurf keinen entsprechenden Anspruch. Das ist keine Verwirklichung des Anspruchs auf Wahlfreiheit. ({9}) Deswegen haben wir im Ausschuss einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, den Sie jedoch abgelehnt haben. Wir wollen eine quantitativ und qualitativ bessere Betreuung, die Eltern nicht über Gebühr finanziell belastet. Voraussetzung hierfür ist eine verlässliche Finanzierungsgrundlage, die Sie, Frau Ministerin, im Ausschuss zwar versprochen, aber nicht sichergestellt haben. Auch wenn Sie es noch so oft sagen: Es wird nicht wahrer. Die Finanzierung ist nicht gesichert. Sie sagen jedes Mal, sie sei gesichert. Der Kollege Götz wird Ihnen nachher genau vorrechnen, dass dem nicht so ist. ({10}) Sie haben Ihr Wort gebrochen. Letztlich geht Ihr Finanzierungsdefizit zulasten der Eltern; denn diese müssen dann über höhere Beiträge die Zeche zahlen. Wir wollen den Ausbau der Kinderbetreuung. Sie ist notwendig. Deswegen fordern wir Sie, Frau Ministerin, auf, ein solides Finanzierungskonzept vorzulegen; denn Kinder sind die nachhaltigste Zukunftsinvestition, die es überhaupt gibt ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Eichhorn, ich habe mir gerade vorgestellt, wie sich wohl Mütter und Väter, die am Fernseher oder hier oben auf der Tribüne Ihre Rede gehört haben, gefühlt haben. ({0}) Sie haben gesagt, was Sie alles schon gemacht haben. Sie haben ein bisschen kleinkrämerisch darüber geredet, was wir getan haben, damit dieses Gesetz besonders schnell in Kraft tritt. ({1}) Sie haben hier heute eine der üblichen Sonntagsreden gehalten. Sie hatte mit der Lebensrealität derjenigen in unserem Land, die Kinder und insbesondere kleine Kinder haben, überhaupt nichts zu tun. ({2}) Ich meine, wir sollten eines ganz klar sagen: Heute ist ein guter Tag für die Eltern und Familien, für die Kinder in Deutschland. ({3}) Daran gibt es nichts zu deuteln. Das ist ein Tag, auf den ich lange gewartet habe und auf den viele viel zu lange warten mussten. ({4}) - Ja, auch unter unserer Regierung. Das ist völlig richtig, Frau Lenke. Sonst wäre es nämlich wieder nichts geworden; sonst hätten wir uns wieder Jahr für Jahr die Sätze von Frau Eichhorn anhören müssen. ({5}) Das ist ein Tag, der in eine Reihe von anderen Tagen passt, an denen wir wichtige Dinge gemacht haben. Seit 1998 geben wir 20 Milliarden Euro mehr als 1980 für Kinder aus. ({6}) Das bedeutet durchschnittlich etwa 1 000 Euro mehr pro Kind im Jahr. Das ist auch unter Berücksichtigung der finanziellen Transferleistungen eine große Leistung. Deswegen lassen wir uns in dieser Hinsicht auch keine Vorwürfe von Ihnen machen; ({7}) es wird auch nicht dabei bleiben. Warum haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht? Was ist eigentlich das Problem? Die Geburtenrate in Deutschland ist eine der niedrigsten. Die Erwerbsquote von Frauen ist extrem niedrig. 1 Million Kinder lebt in Deutschland immer noch von der Sozialhilfe. Schauen wir uns nur die Situation in Berlin an: Dort ist im letzten Jahr ein Schultest durchgeführt worden. Dabei kam heraus, dass ein Viertel der Kinder aufgrund mangelnder Sprachkompetenz nicht fähig war, die Schule zu besuchen und dem Unterricht zu folgen. ({8}) Die Betreuungsquote von unter Dreijährigen stagniert in Westdeutschland bei 2,7 Prozent. In Ostdeutschland ist sie von 50 Prozent auf 37 Prozent gesunken. Um diese Situation zu ändern, haben wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet. Sie sagen zwar, dass er nicht helfen wird. Aber ich sage Ihnen: Doch, er wird helfen. ({9}) Wir wollen, dass jedes Kind eine Chance hat, egal woher es kommt und wie dick das Portemonnaie der Eltern ist. ({10}) Es kann nicht sein - ich finde, das muss man wiederholen -, dass in Deutschland nur 10 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien, aber 70 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien Abitur machen können. Dieser Zustand muss beendet werden. Dabei müssen wir bei den ganz kleinen Kindern ansetzen. ({11}) Wir wissen längst, dass bereits ganz kleine Kinder Sprachkompetenz, motorische Kompetenz und Sozialkompetenz sehr früh einüben müssen. Natürlich - in diesem Punkt stimme ich vielem, was hier gesagt wurde, zu - geschieht dies am allerbesten innerhalb einer Familie. Aber das Leben ist leider nicht so, dass das in allen Familien funktioniert. Deswegen ist es für meine Begriffe eine zutiefst soziale Aufgabe, diese Chancen auch denen zu geben, die sie von zu Hause nicht mitbekommen. Daher ist die Betreuung der unter Dreijährigen so wichtig. Dass viele bzw. immer mehr Kinder in Deutschland von Armut betroffen sind, hat auch damit zu tun, dass wir ihnen zu wenig Bildungschancen geben. Wir müssen aus dem Teufelskreislauf „Armut, zu wenig Bildung, Entstehung neuer Armut“ heraus. Mit diesem Gesetz zum Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen wollen wir ihn durchbrechen. ({12}) Nun zum lieben Geld. ({13}) Es ist richtig, dass die Opposition dieses Thema anspricht. Seit 1991 ist das Recht auf Betreuung von unter Dreijährigen Bestandteil des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Wir haben sehr lange darauf gewartet, dass dieses Recht in die Realität umgesetzt wird. Sie haben es damals eingeführt und die entsprechende Kompetenz den Kommunen und Ländern zugewiesen. Was passiert ist, wissen wir. Die Realität zeigt uns: In Westdeutschland beträgt die Betreuungsquote 2,7 Prozent. Renate Schmidt hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass es beim gegenwärtigen Tempo 175 Jahre dauern würde, bis wir eine bedarfsgerechte Betreuung erreicht hätten. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das dauert mir zu lange. ({14}) So lange, bis das erreicht ist, können auch wir weiß Gott nicht regieren. ({15}) Gemäß der Verabredung im Bundesrat sind 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen zur Verfügung gestellt worden. Dieser Betrag von 1,5 Milliarden Euro steht allerdings nicht auf dem Papier. ({16}) Vielmehr heißt es in der Revisionsklausel, dass der Bund, wenn es zu höheren Ausgaben kommt, mehr Mittel bereitstellen muss. ({17}) Das ist gerade in diesem Fall auch richtig. ({18}) 300 000 Kindergartenplätze werden frei. Schauen Sie sich einmal an, was die Länder tatsächlich unternehmen. Ich muss Ihnen sagen: Wir können wirklich nicht auch noch dafür verantwortlich sein, dass dieses Geld in vielen Ländern nicht weitergegeben wird. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Frau Eichhorn, kümmern Sie sich darum, dass dieses Geld in den Ländern weitergegeben wird; ({19}) denn in Thüringen und vielen anderen Ländern geschieht das bisher nicht. Wenn die Länder das Geld weitergeben, wird es auch bei den Kommunen ankommen. Eines muss ich direkt an die Adresse der Kommunen sagen: Ich glaube, es geht auch um Prioritätensetzung. Das DIW hat ausgerechnet, dass es sich für die Kommunen auch in finanzieller Hinsicht lohnt, in die Kinderbetreuung zu investieren, weil dann in vielen anderen Bereichen weniger Geld ausgegeben werden muss. Im Grunde genommen wissen wir das. Auch in den Kommunen sollte man das wissen. Man sieht zwar landauf, landab überall neue Feuerwehrhäuser. Aber es wäre ganz schön, wenn nebenan auch einmal ein neuer Kindergarten oder eine neue Kinderkrippe entstehen würde. ({20}) Der dritte Grund, aus dem wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet haben, ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es geht doch vor allen Dingen um die Wahlfreiheit. Niemand möchte den Eltern vorschreiben, was sie tun sollen und wie sie leben sollen. ({21}) 90 Prozent der Mütter sagen: Wir wollen berufstätig sein. Bei den Vätern sind es 100 Prozent. Die Wahlfreiheit, das tun zu können, was man möchte, und Beruf und Familie tatsächlich zu verbinden, sollten wir endlich herstellen. Deswegen ist dieses Gesetz so wichtig. ({22}) Sie haben von der Ungleichbehandlung geredet und die Facharbeiterfamilie mit fünf Kindern erwähnt. Sie müssen das Gesetz noch einmal lesen, den Passus, in dem es um das Kindeswohl geht. ({23}) Selbstverständlich sollen auch Familien mit fünf Kindern und einer Mutter, die nicht berufstätig ist, Plätze in einer Kinderbetreuungseinrichtung zustehen. Es geht uns ja gerade darum, dass alle diese Möglichkeit bekommen. Wir haben so hart gearbeitet und das Geld bereitgestellt, damit im Jahr 2010 bedarfsgerecht Plätze für die Betreuung unter Dreijähriger vorhanden sind. ({24}) Man kann es auch ganz ökonomisch sehen. Schauen Sie sich die Länder an, in denen die Quote der Frauen, die erwerbstätig sind, höher ist als bei uns: Dort gibt es ein höheres Wachstum. Sie sagen ja immer, wir bräuchten Wachstum, damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Wenn die Quote der Frauen, die erwerbstätig sind, steigt und Arbeitsplätze geschaffen werden, steigt auch das Wachstum. Auch deswegen rechnet es sich. In Ostdeutschland steuern Frauen 50 Prozent zum Familieneinkommen bei, in Westdeutschland sind es 30 Prozent. Ich finde, da könnte sich der Westen einmal dem Osten angleichen. ({25}) Zum Schluss: Auch wenn sie ein bisschen nach Zukunftsmusik klingt, möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich neulich in Bielefeld gehört habe. Da hat eine berufstätige Mutter in der Kindertagesstätte angerufen und gesagt: Entschuldigung, ich werde mich etwas verspäten. Ich habe hier noch Stress und muss noch ein paar wichtige Telefonate führen. Aber ich komme in einer Viertelstunde. - Die Erzieherin am anderen Ende der Leitung sagte zu der Mutter: Wissen Sie was? Gehen Sie noch in Ruhe einkaufen und kommen Sie dann ungehetzt hierher. Ich lese Ihrem Sohn so lange noch etwas vor. Sie fand die beiden in trauter Eintracht auf dem Sofa beim Vorlesen. Mutter und Sohn hatten noch einen sehr schönen, sehr entspannten Abend. ({26}) Ich glaube, das ist keine Zukunftsmusik, sondern das, was wir anstreben sollten, nämlich dass es unseren Kindern tatsächlich gut geht - in der Familie und in der Kinderbetreuungseinrichtung. Sie sollten aufhören, hier geschäftsmäßig darüber zu reden, ob die Finanzierung stimmt oder nicht, sondern sich mit uns anstrengen und vor allen Dingen eines klar machen: Kinderbetreuung ist wichtig für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, sie ist eine der zentralen Zukunftsaufgaben. Machen Sie mit und hören Sie auf, herumzumäkeln und vergangenheitsgerichtete Reden zu halten! Vielen Dank. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Göring-Eckardt, seit 1998 sind Sie an der Regierung, doch erst heute, im Jahr 2004, legen Sie diesen Gesetzentwurf vor. Von daher haben Sie das verzögert und niemand anders. Sie haben die Mehrheit hier im Haus. ({0}) Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion will mehr Bildung, Betreuung und Erziehung von Anfang an. Zustimmen werden wir dem Gesetz von Rot-Grün nicht, weil die Finanzierung fehlt. Wir alle wissen, der Bedarf an Betreuung unter Dreijähriger in den Städten und Gemeinden hätte nach dem KJHG, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, gedeckt werden müssen. Aber noch ist Bedarf vorhanden, er ist nicht gedeckt. Wer hat heute als Mutter oder Vater schon das Glück - sei es in Schleswig-Holstein, sei es in Hamburg oder Bayern -, einen Krippenplatz zu ergattern? ({1}) Die Chancen dafür stehen ziemlich schlecht. Dies zu ändern ist Aufgabe von CDU- und SPD-geführten Bundesländern; das muss man ganz deutlich sagen. ({2}) Viele Eltern, insbesondere Alleinerziehende und Akademikerinnen, die ihren Kinderwunsch realisieren wollen, erwarten von uns eine bessere Infrastruktur. Kinderbetreuungsangebote - das wissen wir alle, darüber sind wir uns einig - sind der Schlüssel für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein gezielter Ausbau der Kinderbetreuung bringt langfristig ökonomisch mehr ein, als er kostet. Er bringt Vorteile für Mütter und Väter, hinsichtlich der demographischen Entwicklung, für die Unternehmen und für den Staat, der Mehreinnahmen an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen hat, wenn Mütter berufstätig sind. Diese Mittel fehlen heute in unseren Kassen. Die FDP will ganz besonders viele allein erziehende Frauen mit Kindern, die bisher auf Sozialhilfe angewiesen waren, dabei unterstützen, ihren Lebensunterhalt für sich und ihr Kind eigenverantwortlich zu verdienen, damit sie nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig sind. Das Ministerium hat errechnet, dass 230 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige fehlen. 160 000 Krippenplätze sollen entstehen und 68 500 Plätze sollen durch Tagesmütter und -väter angeboten werden. Frau Ministerin, diese Aufteilung ist sehr vernünftig; denn im ländlichen Raum werden wir kaum viele Krippengruppen einrichten können. Sie binden die Tagesmütter zwar in ihr Konzept ein, haben es aber bis heute nicht geschafft, verlässliche Rahmenbedingungen für Tagesmütter, -väter und -eltern vorzulegen. ({3}) Die FDP hat hier und heute einen Antrag vorgelegt. Ich bitte Sie - das habe ich im Ausschuss schon gesagt -, sich den Antrag noch einmal sehr genau anzuschauen und in Ihrem Ministerium mit ihm etwas anzufangen. Erstens wollen wir für die Tagesmütter klare, einfache, unbürokratische und bundeseinheitliche steuer- und sozialversicherungsrechtliche Regelungen. Zweitens wollen wir die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht, aber eine Pflicht zur Versicherung. Frau Ministerin, drittens wollen wir, dass Sie die Förderlücke zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr schließen. Weder von den Grünen noch von der SPD habe ich irgendetwas dazu gehört. ({4}) Bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes gibt es Erziehungsgeld. Einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt es aber erst ab dem dritten Lebensjahr. ({5}) - Nein, das tun Sie nicht. - Viertens wollen wir - davon habe ich heute auch nichts gehört - die Anerkennung der Kinderbetreuungskosten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Werbungskosten, wenn die Frauen bzw. Männer berufstätig sind. Schreiben Sie von uns ab und übernehmen Sie die guten Vorschläge der FDP! ({6}) Meine Damen und Herren, die Bildung im vorschulischen Bereich hat für die FDP eine große Bedeutung. Mein Kollege Klaus Haupt wird gleich noch darüber reden. Auch Kinder, die zu Hause gut gefördert werden, profitieren nachweislich von einer qualitativ hochwertigen außerfamiliären Betreuung. Ich habe selbst drei Enkelkinder und kann sehr gut nachvollziehen, dass das so ist. Die FDP will deshalb bundesweit Mindeststandards für Bildung und Betreuung. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass wir das nicht den Ländern und Kommunen überlassen sollten. Wir wollen, dass die Kinder beim Schuleintritt die gleichen Bildungschancen haben. Warum stimmen wir dem TAG nicht zu, obwohl es inhaltlich von uns sehr begrüßt wird und wir in vielen Teilen Gemeinsamkeiten haben? ({7}) - Ich erkläre es Ihnen, da Sie es noch nicht wissen. - Die von der Regierung konstruierte Finanzierung der durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz anfallenden Kosten über die erwarteten Einsparungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen von Hartz IV ist für uns unseriös und unglaubwürdig. ({8}) Die erforderlichen 1,5 Milliarden Euro werden nämlich nicht aus dem Bundeshaushalt bezahlt, sondern über Hartz IV; viele Bürgerinnen und Bürger wissen das nicht. Heute weiß aber niemand, ob den Kommunen Geld in der Höhe übrig bleibt, die Sie errechnet haben. Das ist so, auch wenn Sie von der Regierungsbank sich noch so sehr weigern, das anzuerkennen. Erinnern wir uns: SPD und Grüne haben vor der Bundestagswahl 2002 wie 1998 auch mit dem Versprechen Hunderttausender neuer Betreuungsplätze geglänzt. Hier reden Sie die Frage der Finanzierung herunter. Das finde ich nicht in Ordnung. ({9}) Wer den Kommunen hier aus dem Bundestag konkrete Aufgaben zuweist, der muss auch dafür sorgen, dass die Finanzierung sichergestellt ist. Das ist der große Pferdefuß des Gesetzes. Diese Milchmädchenrechnung geht nicht auf. Deshalb machen wir nicht mit. Obwohl ich die Ministerin wirklich bei jeder Ausschusssitzung und bei jedem Gespräch gefragt habe, wo die nachprüfbaren Berechnungen sind, hat sie sie bisher nicht vorgelegt. Sie hat immer nur gesagt, sie könne die Kosten quantifizieren, sie könne mir ganz genau sagen, wie viel es kostet. Nun, das eine ist die Kostenseite und das andere ist die Seite, wie die Kosten bezahlt werden. Ich fasse zusammen: Inhaltlich stimmt die FDP dem TAG zu. Da die Finanzierung nicht gesichert ist, werden wir uns bei der Abstimmung aber enthalten. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Nicolette Kressl, SPDFraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir entscheiden heute darüber, ob Eltern in Zukunft endlich Wahlfreiheit haben werden, ob sie Berufstätigkeit und Familie miteinander vereinbaren oder für eine gewisse Zeit zu Hause bleiben wollen. Frau Eichhorn, Sie haben in Ihrem Redebeitrag behauptet, wir täten das Gegenteil. Was für eine veraltete Vorstellung von Wahlfreiheit haben Sie denn? ({0}) Wahlfreiheit heißt, dass Eltern, wenn sie sich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheiden, ein entsprechendes Angebot erhalten. Für uns heißt das, dass wir für die Bereitstellung des Angebots sorgen müssen. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Eltern die Entscheidung aus der Hand nehmen. Für mich ist es die Aufgabe der Politik, ein Angebot zu machen. Behaupten Sie nicht, wir würden uns nicht um die Wahlfreiheit kümmern. ({1}) Ich will Ihnen noch etwas zu dem sagen, was mir bei Ihrer Rede aufgefallen ist. Sie haben sich hier hingestellt und erklärt, Wahlfreiheit würde vor allem durch materielle Leistungen geschaffen, die Sie in Ihrer Regierungszeit auf den Weg gebracht hätten. Habe ich mich verhört oder verlesen? Hat es nicht mehrere Urteile des Verfassungsgerichtes gegeben, die sich auf die materiellen Defizite in Ihrer Regierungszeit bezogen und die wir jetzt umsetzen müssen? Wo bin ich eigentlich? ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Kressl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber natürlich. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kressl, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es in meiner Rede beim Thema Wahlfreiheit überhaupt keine Unterschiede zu dem gibt, was Sie gesagt haben? Sie unterstellen mir, dass es unterschiedliche Ansichten gibt. Lesen Sie bitte unsere Konzepte nach! Wir gehen von der Wahlfreiheit für alle Familien aus. Das bedeutet, dass diejenigen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, diese Möglichkeit auch erhalten sollen. Daher setzen wir uns für eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung ein. Aber wir wollen auch, dass diejenigen, die sich dafür entscheiden, eine gewisse Zeit zu Hause zu bleiben, ähnliche Möglichkeiten haben und dafür die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Daher brauchen wir den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und finanzielle Förderung. Genau das ist unser Konzept. Dem können Sie nicht widersprechen; denn das können Sie jederzeit nachlesen.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Eichhorn, lassen Sie mich zu Ihrer Frage einige Bemerkungen machen: Erstens. Wahlfreiheit für Eltern entsteht dann, wenn wirklich etwas getan wird und es nicht nur in Konzepten steht. Das aber erleben wir bei Ihnen nicht. ({0}) Zweitens. Sie haben in Ihrer Rede behauptet, mit unserem Konzept würden wir die Wahlfreiheit einschränken. Ich habe nur klargestellt, dass für uns die Wahlfreiheit nur dann gegeben ist, wenn beides vorhanden ist: die materielle Unterstützung, die wir in unserer Regierungszeit von 1998 bis 2002 in einem Maße ausgebaut haben, an das Sie nie gedacht haben, und die Infrastruktur. ({1}) Wahlfreiheit entsteht dann, wenn wir Eltern tatsächlich beide Alternativen anbieten. Seien Sie so gut und reden Sie nicht immer nur von Ihren Parteitagsbeschlüssen, sondern sagen Sie Ihren Kollegen in den Ländern, dass sie dem Ausbaukonzept zustimmen sollen! ({2}) Dann können wir miteinander darüber reden, wer wirklich etwas für Familien tut. ({3}) Wir wissen, dass frühkindliche Förderung ein ganz wichtiger Bestandteil von Kinder- und Jugendhilfe sowie von Betreuungskonzepten ist. Auch da, Frau Eichhorn, will ich auf einen Punkt eingehen, den Sie vorhin angesprochen haben. Sie haben behauptet, mit unserem Konzept sei es nicht möglich, dass Eltern von fünf Kindern Tagesbetreuungsangebote für unter Dreijährige in Anspruch nehmen können. ({4}) Haben Sie vielleicht übersehen, dass als drittes Bedarfskriterium das Kindeswohl im Vordergrund steht? Selbstverständlich wollen wir den Kommunen diesen Freiraum geben. Ich bin davon überzeugt, dass in ganz vielen Kommunen in diesem Fall für das Kindeswohl entschieden wird. Ich habe sehr viel Vertrauen in das, was die Kommunen tun werden. Wenn Sie das nicht haben, ist das Ihr Problem. Diese Freiheit wollen wir den Kommunen geben; das Kindeswohl steht im Mittelpunkt. ({5}) Drittens. Wir entscheiden heute auch darüber, dass in Zukunft Alleinerziehende eine echte Chance haben werden, einen Arbeitsplatz anzunehmen, weil sie die Kinderbetreuung erhalten. ({6}) Schauen Sie sich den Armuts- und Reichtumsbericht an! Dort wird deutlich, dass die Armutsfalle, in der Alleinerziehende häufig sind, nicht darauf beruht, dass wir zu wenig soziale Transferleistungen haben, sondern darauf, dass die Alleinerziehenden keine Erwerbstätigkeit aufnehmen können. Wir müssen einen entscheidenden Schritt in diese Richtung tun. Auch darüber entscheiden wir heute mit den Bedarfskriterien des Gesetzes. ({7}) Für uns bedeutet dieser Weg einen gesellschaftlichen Fortschritt. Lassen Sie uns ehrlich sein: Es ist nicht so, dass wir vorneweg marschieren, sondern wir erkennen die gesellschaftlichen Veränderungen bei uns und bewegen uns endlich politisch. ({8}) - Frau Lenke, wenn Sie „endlich“ sagen, dann muss ich darauf hinweisen, dass wir vier Jahre lang Ihre materiellen Defizite ausgleichen mussten. ({9}) Es gab ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aufgrund dessen wir das Kindergeld erhöhen mussten. Wir mussten auch bei den Freibeträgen nachbessern. Wir müssen dies Schritt für Schritt abarbeiten. Wir entscheiden im Übrigen heute auch darüber, dass wir nicht immer nur über Vereinbarkeit von Familie und Beruf reden, sondern dass endlich auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. ({10}) Frau Ministerin Schmidt hat schon darauf hingewiesen, wie langsam sich ohne gesetzlichen Druck die Rahmenbedingungen zum Positiven verändern. Weil wir nicht immer nur reden wollen, haben wir uns für die Aufteilung des Gesetzes entschieden. ({11}) - Was erstaunt Sie eigentlich daran? Was erstaunt Sie daran, wenn uns in Meldungen angekündigt wird, dass die Union im Bundesrat verzögern und blockieren wird? ({12}) Wir sind verpflichtet, uns darum zu kümmern, dass die Eltern die gesetzlichen Rahmenbedingungen bekommen. Das ist Verpflichtung und keine Trickserei. ({13}) Hätten Sie die Ablehnung nicht angekündigt, dann hätten wir dieses Gesetz nicht aufteilen müssen. ({14}) Ich will den Kommunen deutlich sagen: Es war nicht unser Wunsch, das Gesetz aufzuteilen. Wir hätten das Zusammenfügen der beiden Teile für sinnvoll gehalten, weil darin auch die Entlastung der Kommunen im Bereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes enthalten ist. Der zweite Teil des Gesetzes, der den Bereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes betrifft, wird von uns weiter verfolgt werden. Sowohl die Weiterentwicklung in dem Bereich als auch die finanzielle Entlastung der Kommunen ist uns wichtig. Wir werden das nicht liegen lassen, sondern nach ausführlicher Beratung weiter daran arbeiten. Wir hoffen, die Zustimmung des Bundesrates zu erhalten. Lassen Sie mich noch die Finanzierung ansprechen. Die Entlastung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro steht nicht nur auf dem Papier; vielmehr hat der Vermittlungsausschuss eine Revisionsklausel beschlossen, mit deren Hilfe sichergestellt wird, dass die Nettoentlastung tatsächlich bei den Ländern ankommt. Die Länder müssen diese Entlastung an die Kommunen weitergeben. Wir legen Wert darauf, dass das geschieht; denn die Länder haben sich im Vermittlungsausschuss dazu verpflichtet. ({15}) Besonders interessant ist, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter der Union hier hinstellen und uns etwas von unseriöser Finanzierung erzählen. ({16}) Ich erwarte von allen, dass sie sich einmal das Gesamtkonzept der CDU/CSU anschauen: ({17}) Steuerentlastung, Streichung der Gewerbesteuer, Finanzierung der geplanten Kopfpauschale im Gesundheitsbereich über Steuern in Höhe von 30 Milliarden Euro. ({18}) Ich erwarte, dass sich Ihre Familienpolitiker und Familienpolitikerinnen, statt Insellösungen zu fordern, vor Augen führen, was Ihr Gesamtkonzept für die Kommunen bedeutet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Herr Götz - er ist der nächste Redner - den Kommunen die massiven milliardenhohen Steuerausfälle erklären will, zumal gleichzeitig die Kinderbetreuung ausgebaut werden soll. ({19}) Sie sollten an dieser Stelle nicht heucheln. Wir wollen wissen, wie Ihr Gesamtkonzept aussehen soll. Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Hinsichtlich der Gewerbesteuer und der Finanzierung der Kommunen wird deutlich, welche Entlastungen unsere Reformen in diesem Bereich auf den Weg bringen. ({20}) In meinem Wahlkreis habe ich kürzlich eine Zeitungsmeldung über eine Stadt gelesen, die deutlich steigende Gewerbesteuereinnahmen zu verzeichnen hat. Die Meldung trug die Überschrift: Wir dürfen nicht zu schnell euphorisch werden. Das ist sicherlich richtig - wir müssen das in der Tat beobachten -, aber die Behauptung, dass hier alles den Bach heruntergeht, ist absolut unwahr. Ich bitte Sie, im Interesse der Familien bei der Wahrheit zu bleiben, um diese nicht zu verunsichern. ({21}) Wir reden schon sehr lange über die Notwendigkeit der Kinderbetreuung; einige von Ihnen haben es auch schon angesprochen. Für mich ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf den Weg zu bringen. ({22}) Wir haben vier Jahre lang dem Kindergeld Priorität eingeräumt; jetzt gilt unsere Priorität der Infrastruktur. Sie müssen uns erklären, wie sich Folgendes miteinander vereinbaren lässt: Sie stellen auf der einen Seite fest, dass Sie die Kinderbetreuung ausbauen wollen, kündigen aber auf der anderen Seite an, dass Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Heute Morgen konnten wir verfolgen, wie Frau Böhmer den Hasenpreis fürs Hakenschlagen verdient hat, als sie erklärte, warum ihre Fraktion unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen kann. Das ist völlig absurd. ({23}) Wenn wir wissen, dass der Ausbau der Kinderbetreuung notwendig ist, dann sollten wir auch das Nötige tun und dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich denke, Deutschland hat eine solche Haltung nach dem Motto „Eigentlich wollen wir ja, aber wir können trotzdem nicht!“ nicht verdient. Das haben die Familien nicht verdient. Bringen Sie die von Ihnen regierten Länder dazu, dem Gesetzentwurf zuzustimmen! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie ebenfalls zu! Alle werden es Ihnen danken. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Peter Götz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach sechs Jahren Regierung hat Rot-Grün jetzt auch die Kinder entdeckt. ({0}) Der gesellschaftliche Wandel hat das Leben der Familien in Deutschland geändert. Das hat auch Einfluss auf die Familienpolitik. Es ist unstrittig, dass in Deutschland auf vielen Gebieten Handlungsbedarf besteht. Das gilt auch für den wichtigen Bereich der Erziehung, Bildung und Betreuung unserer Kinder. ({1}) Wie wir alle wissen, ist eine gute Erziehung im Elternhaus die beste Grundlage für eine positive Entwicklung unserer Kinder. ({2}) Sie ist durch nichts zu ersetzen. Durch eine frühzeitige gute Erziehung und Bildung wird der Grundstein für das spätere Leben gelegt. Unstrittig ist auch, dass in einigen Bundesländern beim Ausbau der Kinderbetreuungsangebote Nachholbedarf besteht. Die Anhörung im zuständigen Fachausschuss des Deutschen Bundestags hat aber deutlich gezeigt, dass einige Länder der Meinung sind, keine bundeseinheitliche Regelung zu brauchen, da sie bereits eigene Programme aufgelegt haben. ({3}) Wir sollten in der Diskussion berücksichtigen, welche Unterschiede zwischen Ihrem Gesetzentwurf und unserem Ansatz bestehen. ({4}) Sie setzen auf eine institutionelle Lösung, die auf Bundesebene organisiert und dann von den Kommunen umgesetzt werden soll. Wir hingegen wollen individuelle Lösungen mit einer großen Wahlfreiheit für die Menschen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen. ({5}) Wir wollen aber auch die Familien stärken, die ihre kleinen Kinder zu Hause erziehen wollen. Für uns steht ohne Frage das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. ({6}) Sie versuchen, mit dem Gesetzentwurf auf untaugliche Weise Symptome zu kurieren, ({7}) ohne die Ursache für die fehlenden Betreuungsangebote anzugehen. Frau Ministerin, die Fragen, die wir uns vorab stellen müssen, lauten deshalb: Welches ist die Ursache? Wo liegt die Wurzel für den unbefriedigenden Zustand der Kinderbetreuung? Viele Städte und Gemeinden engagieren sich seit Jahren im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten für eine bessere Kinderbetreuung. ({8}) Dort ist schon sehr viel geschehen, aber ohne Zweifel noch lange nicht genug. Wir wollen familienfreundliche Kommunen. Aber die Kommunen stehen finanziell mit dem Rücken an der Wand. Durch Ihre kommunalfeindliche Politik seit sechs Jahren ({9}) befinden sich die Kommunen in ihrer schwersten Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Das können Sie nicht leugnen. ({10}) Die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, die viel enger und direkter mit den Bürgerinnen und Bürgern im Austausch stehen, würden gerne eine qualitätsorientierte Betreuung der Kinder anbieten. Aber sie können es einfach nicht mehr. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben innerhalb von sechs Jahren den Kommunen durch Ihre Politik die Luft zum Atmen genommen. ({11}) Seit sechs Jahren verteilt die Bundesregierung Wahlgeschenke im sozialen Bereich und lässt andere dafür bezahlen. ({12}) Das ist unanständig, um mit den Worten Ihres Bundeskanzlers zu reden. ({13}) Wir wollen, dass der Grundsatz, der im „normalen“ Leben gilt, auch in der Politik gilt: Wer bestellt, der bezahlt. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Humme?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Humme, bitte.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Götz, da Sie kommunalpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion sind, verwundert mich besonders Ihre Aussage, wir hätten sechs Jahre lang nichts für die Kommunen getan. Ich nenne Ihnen einmal ein paar Zahlen. Warum verschweigen Sie, dass wir die Kommunen durch die Reform der Gewerbesteuer um 3 Milliarden Euro entlasten? Warum verschweigen Sie, dass wir die Kommunen durch Hartz IV um 2,5 Milliarden Euro entlasten? ({0}) Warum verschweigen Sie, dass die Kommunen im nächsten Jahr insgesamt um 7 Milliarden Euro entlastet werden? Warum verschweigen Sie - das scheint mir viel wichtiger zu sein -, dass Sie es waren, die im Vermittlungsausschuss verhindert haben, dass den Kommunen durch eine Mindestgewinnbesteuerung mehr Geld zugeChristel Humme führt wird? Last, not least: Wenn wir zusammen mit Ihnen das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Vermittlungsausschuss durchbekommen hätten, hätten Bund, Länder und Kommunen 25 Milliarden Euro mehr. Warum sollen wir es sein, die die Kommunen mit unserer Politik alleine lassen? Wie sieht denn Ihre Politik aus? ({1})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe Ihnen gerne eine Antwort. Die Kommunen sind im Augenblick dabei, ihre Haushalte für das Jahr 2005 aufzustellen. Die Ausgaben für soziale Leistungen steigen im kommunalen Bereich dramatisch, ({0}) und zwar auf ein Niveau, das es in Deutschland noch nie gegeben hat, nämlich auf 30 Milliarden Euro in diesem Jahr, Tendenz weiter steigend. In diesem Jahr haben die kommunalen Kassenkredite das Rekordniveau von 18 Milliarden Euro erreicht, das heißt also, dass die Kommunen in diesem Jahr ihr Konto um diesen Betrag überziehen. Wenn Sie angesichts dessen behaupten, dass das eine Ihrer tollen Leistungen sei, dann kann zumindest ich das nicht nachvollziehen. Das ist die erste Bemerkung. ({1}) - Frau Humme, bitte bleiben Sie stehen. Ich möchte Ihre Frage vollständig beantworten. Sie müssen Geduld haben. ({2}) Zweite Bemerkung, zu der von Ihnen angesprochenen Gewerbesteuer. Es ist richtig, dass wir nicht wollen, dass diejenigen Unternehmen, die Probleme haben, die Kredite aufnehmen müssen, weil sie kurz vor der Insolvenz stehen, die Zinsen für diese Kredite bei der Gewerbesteuerschuld zusätzlich versteuern müssen. Das wollten Sie, aber nicht wir. Deshalb haben wir das abgelehnt. ({3}) Wir wollten auch nicht - deshalb haben wir das ebenfalls abgelehnt -, dass Freiberufler zur Gewerbesteuerzahlung herangezogen werden. Das hätte nur dazu geführt, dass die Freiberufler Steuerberater beauftragt hätten, um dafür zu sorgen, dass keine Gewerbesteuer gezahlt werden muss. ({4}) Das wäre ein Nullsummenspiel bzw. ein Beschäftigungsprogramm für Steuerberater gewesen. Sie haben sich in diesem Bereich oft selbst widersprochen. ({5}) Ich gehe nun auf eine Bemerkung von Frau Kressl ein - vielleicht ist das eine Ergänzung meiner Antwort auf Ihre Frage, Frau Humme -, die die Stadt Gaggenau als Beispiel genannt hat. Zufälligerweise kenne ich die Situation dieser Stadt. Das hängt auch damit zusammen, dass ich vor meiner Zeit im Deutschen Bundestag dort Bürgermeister war und insofern die Details ein bisschen kenne. ({6}) Sie haben in Ihrem Beispiel verschwiegen, dass ein großes Unternehmen dieser Stadt über viele Jahre Verlustvorträge in Anspruch nehmen konnte und dass das nun beendet ist. Jetzt bekommt diese Stadt wieder Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Viele Jahre gab es von diesem Unternehmen keine Gewerbesteuer. Das zeigt eines der Kernprobleme der Gewerbesteuer: Wir brauchen im Bereich der Kommunalfinanzen Veränderungen, die eine nachhaltige, verlässliche Finanzierung der Kommunen ermöglichen. Wenn das der Fall ist, haben die Kommunen eine Chance, die Kinderbetreuung auf den Weg zu bringen. ({7}) Die Grenze zur Handlungsfähigkeit ist in vielen Städten und Gemeinden schon lange überschritten: Schäden an Schulen werden nicht mehr repariert - ich weiß nicht, wo Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind -, Schwimmbäder werden geschlossen, das mittelständische Handwerk bricht weg. Es ist für Wirtschaftsentwicklung unseres Landes dringend notwendig, dass sich hier etwas verändert, damit die Kommunen wieder in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen. ({8}) Das ist die Realität vor Ort, mit der wir uns auseinander setzen. ({9}) Die Union will die Kinderbetreuung verbessern. Das ist die einhellige Meinung unserer Fraktion, in unseren Parteien, in CDU und CSU, ({10}) und auf allen politischen Ebenen, angefangen im kleinsten Rathaussaal über die Landtage bis in dieses Hohe Haus. Nur: Die kommunalen Haushalte müssen die kommunalen Aufwendungen und Aufgaben bewältigen können. Ein erneuerter Verschiebebahnhof zulasten der Kommunen löst das Problem nicht. ({11}) Die Folge der Umsetzung Ihrer unseriösen Finanzierungsangebote wäre, dass die Kommunen gezwungen wären, die Betreuungskosten auf die Eltern abzuwälzen, weil sie das nötige Geld nicht haben. ({12}) Die Konsequenz wäre: Kinderbetreuung würde zu einem Luxusgut privilegierter Besserverdiener. Wenn das Ihre Politik ist, kann ich dies in keiner Weise nachvollziehen, Frau Ministerin. Wir von CDU und CSU wollen das nicht. Wir wollen einen Ausbau der Kinderbetreuung für alle und nicht nur für Besserverdiener. ({13}) Die Menschen in unserem Land erwarten von uns allen zu Recht, dass wir ihre Bedürfnisse erkennen und diese Erkenntnisse in politisches Handeln umsetzen. Sie erwarten auch seriöse Berechnungen und sie erwarten keine Tricksereien. Mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Zahlen, aber auch im Umgang untereinander schadet niemandem in diesem Hause. Ihr Gesetzentwurf gaukelt den Menschen eine Problemlösung bei der Kinderbetreuung vor. Ohne eine seriöse Finanzierung machen Sie die Rechnung allerdings ohne den Wirt. Die Kommunen, die Eltern und die allein erziehenden Frauen zahlen letztlich die Zeche. Wir haben eine andere Vorstellung von Politik. ({14}) Wir wollen starke Städte und Gemeinden, die in der Lage sind, eigenverantwortlich zu entscheiden. Wir wollen eine starke kommunale Selbstverwaltung, und zwar ohne bürokratische Vorgaben aus Berlin. Wir setzen auf die Menschen, die vor Ort kommunalpolitische Verantwortung tragen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Marks von der SPD-Fraktion?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich würde meinen Gedanken gern noch zu Ende bringen. Die Menschen vor Ort sind sehr wohl in der Lage, die Prioritäten richtig zu setzen und bei Bedarf Tagesbetreuung für Kinder anzubieten. Sie tun es schon heute. ({0}) Jetzt bitte ich um die Zwischenfrage.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Marks, bitte. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Götz, Sie verfehlen das Thema der heutigen Debatte: Es geht um die Kinder in unserem Land. ({0}) Bei diesem so wichtigen Thema versuchen Sie, sich ausschließlich hinter der Finanzfrage zu verstecken, ({1}) und Sie schlagen mehr Haken, als es jemals ein Hase getan hat. Nachdem Sie hier ausschließlich die Finanzfrage angesprochen haben, möchte ich einmal wissen, warum Sie nicht von Studien berichten - auch Sie kennen sie sicherlich -, wonach sich jeder in den Ausbau der Kinderbetreuung investierte Euro drei- bis vierfach rentiert, und zwar durch höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen, durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere für Frauen, und durch eine bessere Integration der Kinder und Jugendlichen in diesem Land. Ich denke, Sie sollten auch dieses Thema einmal behandeln. Danke. ({2})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich bin für Ihre Frage dankbar. ({0}) Ich weiß sehr wohl, dass Finanzierung bei Ihnen nicht zum Thema gehört. ({1}) Ihr Kernproblem ist, dass Sie über Finanzierung nicht reden wollen. Ich teile Ihre Einschätzung; die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind so, wie sie sind. Auch ich sehe die Auswirkungen dieses Verhältnisses von eins zu drei. Deshalb sind wir ja für den Ausbau der Kinderbetreuung. Aber Sie müssen denjenigen, die den Ausbau der Kinderbetreuung vorantreiben sollen, zunächst einmal die Chance geben, diesen einen Euro in die Hand zu nehmen, damit er 3 Euro auslöst. ({2}) Sie haben die Kommunen so weit gebracht, dass sie heute dazu nicht mehr in der Lage sind. Deshalb ist unser politischer Ansatz - das gehört sehr wohl zum Thema -: Ja zur Kinderbetreuung, aber auch Ja zur Verbesserung der kommunalen Finanzausstattung, damit die Kommunen wieder in die Lage kommen, diese Aufgabe eigenverantwortlich vernünftig und angemessen wahrzunehmen. Das ist unsere Zielvorgabe. Wenn Sie es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ernst und ehrlich meinen, dann sollten Sie auf unsere Vorschläge eingehen. ({3}) - Doch. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, die Kommunalfinanzen zu verbessern. Sie müssen zuhören und dürfen nicht weghören. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam die Situation der Städte und Gemeinden verbessern! Dann verbessern wir - die Prognose wage ich - auch die Kinderbetreuung in unserem Land. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Götz, Sie waren in der Anhörung im Fachausschuss leider nicht dabei. Wären Sie dabei gewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen können, ({0}) dass sowohl Bürgermeister Schimke als auch die Vertreter der Kommunalverbände sehr wohl gesagt haben, sie wollten die Kinderbetreuung, ({1}) sie wollten alles tun, damit das Kinderbetreuungsgesetz in Kraft tritt. Sie sehen es als einen Standortfaktor. Es ist wichtiger denn je, dass dieses Gesetz so schnell wie möglich in Kraft tritt. ({2}) Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass die Gewerbesteuereinnahmen in Deutschland im ersten Halbjahr 2004 um 1,5 Milliarden Euro gestiegen sind. Damit sind wir voll im Plan. Das ist die Wahrheit. ({3}) Die Eltern wollen, dass wir die Kinderbetreuung ausbauen. Sie wollen es für sich. Sie wollen es für ihre Kinder und es geht auch um Hartz IV. Wir wollen Armut in diesem Land bekämpfen. Wir wollen, dass auch Mütter und Väter arbeiten können. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Betreuung der unter Dreijährigen. Wir können nicht von den Menschen verlangen, erwerbstätig zu sein, ohne ihnen die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu bieten. ({4}) Es geht um Förderung und um Bildung von Kindern. Es geht auch um Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es geht um Integration von sozial Schwachen. Es geht schließlich um Menschen in der Ausbildungssituation. Dazu gab es einen Vorschlag von der Opposition, den wir aufgenommen haben. Heute sind Sie nicht einmal in der Lage zuzustimmen. Es geht selbstverständlich auch um Verbindlichkeit für Eltern. Wenn ich mir Ihre heutigen Debattenbeiträge vor Augen führe, dann muss ich feststellen, dass Sie immer wieder die Finanzen ansprechen, aber in Wirklichkeit meinen, dass der Bund in diesem Bereich eigentlich keinerlei Kompetenzen hat und nichts tun sollte. Sie wissen, dass es kein reguläres Verfahren gibt, nach dem der Bund direkt Mittel auf die Kommunen übertragen kann. Finanzzuweisungen gehen nur über die Länder. Die Länder, gerade die, in denen Sie regieren, wehren sich aber mit Händen und Füßen dagegen, überhaupt irgendetwas zu tun. Das ist die Realität. ({5}) - Bitte schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin nimmt mir die Arbeit ab. - Bitte schön, Frau Kollegin Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Deligöz, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass gerade in meinem Heimatland Bayern - die Situation dort kennen Sie vielleicht auch - seit dem Jahr 2002 313 Millionen Euro ausgegeben werden, um jährlich 1 000 Krippenplätze und 5 000 Betreuungsplätze im Schulbereich neu zu schaffen? Und da sagen Sie, in den unionsregierten Ländern geschehe nichts! Sie werden gleich auf die Ausgangssituation hinweisen. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass in Bayern die Betreuungsquote der unter Dreijährigen um 2 Prozentpunkte höher ist als in Nordrhein-Westfalen, Frau Deligöz. ({0})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, Ihr Heimatland Bayern ist auch mein Heimatland; ich komme aus Bayern. Ich muss aber feststellen, dass die Realität wohl doch eine andere ist. Ich sehe jeden Samstag in München und Nürnberg die Elternverbände auf der Straße demonstrieren, weil die Ausgaben für die Jugendhilfe und für die Schulen ({0}) immer weiter gekürzt werden. ({1}) Es ist bei dem bayerischen Modell der Kinderbetreuung davon die Rede, dass mehr Betriebswirtschaftlichkeit in die Strukturen muss. ({2}) Es ist davon die Rede, dass in Bayern innerhalb der nächsten zehn Jahre 9 000 Plätze in der Kinderbetreuung eingespart werden sollen, weil es sich nicht mehr betriebswirtschaftlich rechnet. ({3}) Das ist doch die Realität: Die Eltern in Bayern gehen auf die Straße! ({4}) Sie wollen in Bayern die Lehrmittelfreiheit abschaffen. Sie wollen die Eltern zur Kasse bitten. Sie sagen, die Eltern sollen es selber finanzieren, wenn sie Geld haben. All das läuft gerade in Bayern ab. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({5}) Gehen Sie einmal nach München, gehen Sie einmal nach Nürnberg! Dann werden Sie sehen: Die Eltern in Bayern gehen auf die Straße für die Rechte ihrer Kinder. Bezüglich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung möchte ich festhalten: Die Länder hatten die Kompetenz dazu; sie hätten schon längst etwas tun können. Es ist aber nichts passiert. Weil nichts passiert ist, bringen wir jetzt dieses Gesetz ein. Weil die Quote im Westen nur bei 2,7 Prozent liegt - das ist verdammt wenig, meine Damen und Herren -, bringen wir das Gesetz ein. Wir wollen für Verbindlichkeit sorgen, indem es eine gesetzlichen Verpflichtung, öffentliche Debatten und regelmäßige Berichterstattung darüber gibt. Für uns ist es wichtig, dass dabei am Ende Kinderbetreuungsplätze herauskommen. Das ist unsere Botschaft. ({6}) Wenn der Bund keine Kompetenzen in diesem Bereich hätte, gäbe es kein Recht auf einen Kindergartenplatz. Mit dem TAG haben wir unseren Willen demonstriert, dass mehr Krippenplätze eingerichtet werden sollen. Sie sollten hier keine Krokodilstränen über das Verfahren oder Ähnliches vergießen; das ist gar nicht notwendig. In Wahrheit wissen Sie doch, wie notwendig das TAG ist. Es stellt einen wichtigen Bestandteil der Familienpolitik dar. Sie selbst sprechen sich ja für mehr Kinderbetreuungsplätze aus. Sobald es aber darum geht, das Ganze anzupacken, ducken Sie sich weg; dabei wollen Sie nicht mitmachen und schieben irgendwelche Argumente vor. ({7}) Ich halte das nicht für ehrlich von Ihnen. Ich kann dazu nur sagen: Sie sollten aufhören, darüber zu reden. Sie sollten es zusammen mit uns anpacken. Darauf kommt es nämlich an. Sie sollten etwas tun, um die Chancen von Kindern in diesem Land zu verbessern. ({8}) Sie tun damit eher etwas für die Eltern in diesem Land, als wenn Sie auf irgendwelche fiktiven Konzepte verweisen, die ich Ihnen nicht abnehmen kann. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion. ({0})

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erhöhe die Männerquote. ({0}) Bildung von Anfang an muss das Motto sein, wenn wir die Zukunftsfähigkeit der hier in Deutschland aufwachsenden Kinder sichern wollen. Die wichtigste Botschaft der Expertenanhörung lautete für mich: Wir sind es unseren Kindern schuldig, endlich die frühkindliche Förderung in unserem Land zu verbessern. ({1}) Faire Chancen für jedes Kind - darum geht es in erster Linie. Das Thema ist vor allem und zuallererst aus der Sicht des Kindes zu sehen. Es geht um einen umfassenden Prozess der Entwicklung und Entfaltung der dem Kind eigenen Fähigkeiten. Die Weichen für den Bildungs- und Berufsweg werden früh gestellt, das Fundament für Lernmotivation und -fähigkeit wird in den ersten Lebensjahren gelegt. Kindliches Lernen beginnt nicht mit vier Jahren und auch nicht mit drei, sondern sofort ab der Geburt. ({2}) Eines der dramatischsten Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien der jüngsten Vergangenheit ist für mich die Tatsache, dass in Deutschland wie in keinem anderen Land Europas die soziale Herkunft über die Lebens- und Zukunftschancen eines Kindes entscheidet. Wir vernachlässigen frühkindliche Bildung, zementieren so soziale Ungleichheiten und verengen damit die Zukunftsperspektiven unserer Kinder. ({3}) Kinder, die schon durch die Hypothek schlechterer Startchancen belastet sind, dürfen nicht durch die Schwerpunktsetzung staatlicher Bildungspolitik noch mehr belastet werden. Hier geht es um die Grundkompetenz gesellschaftlicher Teilhabe. Alle Kinder müssen die Chance haben, sich zu einer eigenständigen, selbstverantwortlichen und autonomen Persönlichkeit zu entwickeln. ({4}) Dazu bedarf es neben dem liebevoll fördernden Elternhaus gerade angesichts der zunehmenden Zahl von EinKind-Familien auch der Sozialerfahrung im Kreis anderer Kinder in Tagespflegegruppen, Krippen oder Kindergärten. In diesem Zusammenhang gilt der Satz, den auch Professor Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut in der Anhörung zitierte und den ich zum goldenen Satz der Anhörung erkläre: Vom Osten lernen heißt siegen lernen. ({5}) Bei der Tagesbetreuung für unter Dreijährige müssen wir im ganzen Land die quantitativen Ausstattungsstandards erreichen, die wir im Osten früher einmal hatten und zum Teil auch noch haben. In Europa einmalig ist die Betreuungssituation in Sachsen-Anhalt, wo ein entsprechender Rechtsanspruch für Kinder von null bis 14 Jahren besteht. ({6}) Dieser ist vor 14 Jahren auf Initiative der FDP entstanden. ({7}) Das heißt, das TAG könnte ein Startschuss für die westlichen Bundesländer sein, ohne den östlichen Ländern zu schaden. ({8}) Den mit dem TAG angestrebten quantitativen Ausbau und die qualitative Verbesserung der Kindertagesbetreuung unterstützen wir; das hat meine Kollegin Lenke sehr ausführlich und charmant dargestellt. Dass die FDP dennoch nicht zustimmt, liegt allein an der aus unserer Sicht ungelöst scheinenden Finanzierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle hätte ich gern auch etwas Freundliches zu den übrigen vorgesehenen Änderungen des KJHG gesagt. Leider haben Sie, Frau Ministerin, das ursprüngliche Gesetzespaket jetzt über Nacht aufgeschnürt. Das erweckt den Eindruck, als hätten diese Gesetzesteile nur als taktische Manövriermasse gedient. ({9}) Ich sage ganz deutlich: Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der Thematik bedaure ich dieses Vorgehen zutiefst. ({10}) Denn es bleibt dabei: Faire Chancen für jedes Kind, insbesondere durch Bildung von Anfang an, sind entscheidend für die Lösung der Zukunftsfragen unserer Gesellschaft. Danke. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen haben alle zumindest verbal bestätigt: Kinderbetreuung ist notwendig. Ich finde, das ist schon ein Fortschritt. ({0}) Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts konnte man da noch ganz andere Töne hören. ({1}) Deshalb ist das ein Fortschritt. Ich denke, einige von Ihnen haben § 1 des SGB VIII gelesen: Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. So weit haben Sie gelesen; das waren die Aussagen heute Morgen. Weiter haben Sie allerdings nicht gelesen. Durchhalten beim Lesen scheint nicht mehr modern zu sein; das zeigen auch die PISA-Ergebnisse. In § 80 SGB VIII, der sich mit der Jugendhilfeplanung befasst, heißt es nämlich: Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben im Rahmen ihrer Planungsverantwortung … den Bestand an Einrichtungen und Diensten festzustellen, … den Bedarf unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten für einen mittelfristigen Zeitraum zu ermitteln … Und so fort. Marlene Rupprecht ({2}) Dafür hat es anscheinend nicht mehr gereicht; denn sonst müssten wir heute nicht über Kinderbetreuung reden, sondern würden uns auf diesen Paragraphen über die Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII beziehen - das ein sehr modernes Gesetz ist. ({3}) - Das ist unter Ihrer Regierung entstanden. Meine Hochachtung; da ist Ihnen ausnahmsweise einmal etwas wirklich gut gelungen. Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Ich bin inzwischen so weit, dass ich das Gesetz adoptiert habe und es als meines ansehe. Deswegen kämpfe ich auch dafür. Aber dieser Paragraph zur Kinderbetreuung wird eben nicht umgesetzt. Wir wissen, dass Kinderbetreuung für die Familien, die Wirtschaft und den Standort Deutschland von Bedeutung ist; das ist bereits gesagt worden. Wichtig ist die Kinderbetreuung aber vor allem für die Kinder. Als Kinderbeauftragte meiner Fraktion muss ich das ganz deutlich herausstellen. Kinder brauchen Kinder. Denn unsere Familienstrukturen und auch die gesellschaftlichen Strukturen haben sich verändert. Kinder müssen unter Kindern aufwachsen, um sprechen zu lernen und soziale Kompetenz zu bekommen. ({4}) Sie sollten einerseits nicht so wie Erwachsene reden; sie kommen nämlich nicht mit dem Abitur zur Welt. Wenn sie andererseits nur vor die Glotze gesetzt werden, können sie das Sprechen nicht lernen. Kinder müssen also mit anderen Kindern aufwachsen, damit sie emotional reifen und damit sie, wie es in § 1 SGB VIII heißt, gemeinschaftsfähige Persönlichkeiten werden. Studien aus den USA, von denen wir in letzter Zeit Kenntnis bekommen haben, haben bestätigt, dass sich die Folgen der Betreuung noch nach drei Jahrzehnten nachweisen lassen. Kinder, die eine qualitativ gute Betreuung erfahren hatten, hatten bessere Schulchancen, haben weniger in der Schule versagt, sind im Jugendalter weniger strafanfällig geworden, hatten eine bessere Berufsausbildung und eine größere Kontinuität in der Erwerbstätigkeit, waren seltener Bezieher von Transferleistungen und - wenn wir schon über Geld reden stellten damit einen geringeren Kostenfaktor für die Kommunen dar.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer von der CDU/CSU-Fraktion? (Nicolette Kressl [SPD]: Die vorherigen Zwischenfragen von Ihrer Seite waren nicht so erfolgreich! Ich würde es unterlassen!

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja natürlich.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Kollegin, herzlichen Dank, dass Sie mir diese Möglichkeit geben. Sie reden gerade über die Kinder- und Jugendhilfe, einen Bereich, den Sie selber durch Tricksen, Tarnen und Täuschen von dem TAG abgespalten haben. ({0}) Aus meiner Sicht haben Sie somit in Ihrer Rede das Thema völlig verfehlt. Würden Sie mir also zustimmen, dass Sie in den letzten Minuten über ein Thema reden, das gar nicht Gegenstand dieser Debatte ist? ({1})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Scheuer, ich finde Ihre Frage wunderbar. Ich wollte nämlich gerade auf den Punkt zu sprechen kommen, dass Sie mit Zahlen, die Sie nicht nachweisen können, argumentieren. Sie müssen private Unternehmen, die Statistiken erstellen, fragen, wie es mit der Intensivpädagogik in Bayern aussieht; denn bis jetzt liegen keine entsprechenden Zahlen vor. Sowohl das betreffende Ministerium als auch das Landesjugendamt haben sich von irgendwoher irgendwelche Zahlen beschaffen müssen, weil sie nicht genau wissen, was Fakt ist. ({0}) Weil wir diese Krux sehen - das Gesetz, das Sie damals gemacht haben, ist in diesem Punkt nachbesserungsbedürftig und muss präzisiert werden -, müssen wir die Fälle statistisch genau erfassen. Dann können wir zielgenau handeln. In Bayern darf keine polemische Politik auf Kosten derer betrieben werden, die entsprechende Leistungen brauchen. Aus dem Grund - aus keinem anderen - haben wir das Thema Kinder- und Jugendhilfe abgespalten. ({1}) Alle Untersuchungen zeigen: Starke Eltern werden starke Kinder haben und starke Kinder werden starke Erwachsene werden. Das trägt sehr zur Stabilität der Kommunen und der gesamten Gesellschaft bei. Es ist die beste Investition, die man machen kann. Dazu müssen wir nach intelligenten Lösungen suchen. Es muss ein Umdenken stattfinden. Die Kommunen müssen vom angebotsorientierten Handeln weg und hin zum nachfrageorientierten Handeln kommen. Wir müssen überlegen, was Kinder und Eltern brauchen. Man darf aber nicht einfach irgendein Angebot unterbreiten, egal ob es passt oder nicht. Das ist eine Herausforderung an die kommunale Ebene. Ich denke aber, dass es sehr viele intelligente Kommunalpolitiker gibt, die diese Herausforderung meistern können. Weil wir die finanziellen Belastungen der Kommunen sehen, haben wir eine Aufteilung des Gesetzes vorgenommen. Genau das war der Grund. Sie könnten endlich einmal aufhören, das Schauermärchen im Lande zu erzählen, die Kinder und Jugendlichen würden dank der Kinder- und Jugendhilfe nur auf Kosten anderer leben Marlene Rupprecht ({2}) und die Betreuung sei ein Luxus. Kehren Sie zu einer sachlichen Diskussion zurück! ({3}) Darüber werden wir uns, nachdem dieses Kinderbetreuungsgesetz verabschiedet worden ist, noch heftig auseinander setzen. ({4}) Was machen Sie denn, Herr Scheuer? Im Bundesrat wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, das „KEG“ - das ist wirklich keck -, ({5}) „Kommunales Entlastungsgesetz“, heißt. Was steht darin? Dass Sie nur noch dann Leistungen gewähren wollen, wenn das die jeweilige Kommune bezahlen kann. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn in einer Kommune, in der es viele soziale Probleme gibt, kein Geld vorhanden ist, bekommen die Betroffenen nichts und werden dahinvegetieren. Genauso läuft es bei Ihnen. Dieser Gesetzentwurf ist übrigens von der Bayerischen Staatsregierung und nicht vom bayerischen Volk in den Bundesrat eingebracht worden. ({6}) Der Herr Präsident hat vorhin unseren Gesetzentwurf vom Titel her als umfangreich bezeichnet. Es gibt in Bayern seit September einen Entwurf, der folgendermaßen lautet: „Bayerisches Gesetz zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen ({7}) und in Tagespflege und zur Änderung anderer Gesetze Bayerisches Gesetz für Kindertageseinrichtungen und Tagespflege und Änderungsgesetz ({8})“. Ich kürze diesen Gesetzentwurf im Folgenden wie vorgesehen ab. Was haben Sie denn im BayKiTaG vor? Im BayKiTaG haben Sie das vor, was wir mit dem TAG, dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, umsetzen wollen. Ich finde es schön, dass Sie in diesem Punkt lernfähig sind. Als ich dann aber zu Punkt D „Kosten und Nutzen“ kam, fand ich folgenden Satz: „Die Umstellung des Fördersystems erfolgt kostenneutral.“ ({9}) Da habe ich mir gedacht: Menschenskind, die Bayern sind intelligent. Wie machen die das? Die wollen das umsetzen, ohne einen Cent auszugeben, während wir 1,5 Milliarden Euro dazugeben und es Ihnen hier immer noch nicht reicht. Ich verstehe das nicht. ({10}) Dann habe ich weitergelesen - denn Lesen habe ich gelernt -: 2. Entlastung. Die Einschränkung der Förderpflicht auf bedarfsnotwendige Kindergärten führt zu Entlastungen bei den Gemeinden. - Aha. Der Ausbau integrativer Kindergartenplätze führt zu einer Reduzierung der Nachfrage nach teuren Plätzen in heilpädagogischen Tagesstätten und dem Wegfall der Fahrtkostenerstattung. Zuerst habe ich mir gedacht: Mensch, „integrativ“ ist bestimmt etwas Tolles. Aber dann habe ich festgestellt: So intelligent sind sie auch wieder nicht; sie haben es nur besser verklausuliert, dass sie eigentlich den Kommunen ans Leder wollen und denjenigen, die Hilfe bräuchten, nichts geben. Dass es Sie jetzt ärgert, dass wir etwas machen, was Sie nicht zusammengebracht haben, verstehe ich. ({11}) Sie können dem ja fachlich nichts dagegenhalten, sondern sprechen nur von den Finanzen. Wenn ich kein Argument mehr habe, dann führe ich das Totschlagargument der Finanzen an. ({12}) Dazu sage ich Ihnen: Die Leute sind nicht so blöd, dass sie Ihren Gesetzentwurf in Bayern nicht durchschauen und sehen, was dahintersteckt: Diejenigen, die Hilfe bräuchten, werden nicht entlastet und diejenigen, die dies bezahlen müssen, werden belastet. Aber uns werfen Sie vor, wir würden die Kommunen belasten, obwohl wir 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Das ist heuchlerisch. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin gleich am Schluss meiner Rede, danach gern. Die Menschen glauben Ihnen nicht, wenn Sie sagen: Kinder sind unsere Zukunft. Im Abschlussdokument des Weltkindergipfels haben die Kinder gesagt: Ihr sagt immer, wir sind eure Zukunft. Aber wir sind auch eure Gegenwart. Schreibt euch das ins Stammbuch! Ich denke, das ist heute das Wichtigste. ({0}) - Die haben wir von euch übernommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, wollen Sie zum Schluss Ihre Redezeit verlängern, indem Sie in diesem Fall eine Nachfrage zulassen?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich muss etwas richtig stellen; denn offensichtlich haben Sie diesen Gesetzentwurf aus Bayern nicht richtig gelesen. ({0}) Tatsache ist, dass Bayern gerade im Rahmen des von Ihnen zitierten Gesetzes 313 Millionen Euro zusätzlich aufwenden will. Die dargestellte Kostenneutralität bezieht sich lediglich auf die Berechnung des für die neue kindbezogene Förderung maßgebenden Basiswerts. Dabei geht es also um die Betriebskosten. Nur dies ist kostenneutral und nicht die Auswirkungen des Gesetzes als solche. Bayern gibt 313 Millionen Euro zusätzlich aus. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis! ({1})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Eichhorn, diese Mehrkosten sind für die Bildung und Fortbildung derer vorgesehen, die unterrichten und für Bildung, Erziehung und Betreuung sorgen, nicht aber für Betreuungsplätze und für Kommunen. Deswegen kann man diese Summe in diesem Zusammenhang vernachlässigen. Wenn Sie den Kommunen nichts geben, dann ist Ihre „intelligente Lösung“ für uns nicht geeignet. Wir spielen gern mit offenen Karten, nicht mit gezinkten Karten. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Maria Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eines der brennendsten Probleme unserer Zeit. Dies gilt zum einen vor dem Hintergrund, dass Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier stehen darf, zumal wir gerade den zehnten Jahrestag der Festschreibung der Gleichberechtigung als Staatsziel im Grundgesetz begehen. Nach wie vor ist die tatsächliche Beteiligung von Frauen, zudem von Frauen mit Kindern, bei der Besetzung von Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Forschung noch völlig unzureichend. Zum anderen gibt die demographische Entwicklung Anlass zu ernster Sorge: 52 Prozent der Akademikerinnen und 59 Prozent der Akademiker zwischen 30 und 35 Jahren haben keine eigenen Kinder. Bei einem Vergleich der Geburtenraten durch die Weltbank belegt Deutschland den 185. Platz unter 190 Staaten, obwohl die 14. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 aufzeigt, dass es für eine Mehrheit der Jugendlichen erstrebenswert sei, sowohl erwerbstätig zu sein als auch eigene Kinder zu haben. Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Umfrage des Allensbach-Institutes belegt, dass bei der Lebensplanung der jungen Menschen in Deutschland heute ein Dreistufenmodell vorherrschend ist. Die erste Phase beinhaltet die Lebens- und Berufsplanung sowie die Ausbildung, die zweite Phase den Einstieg ins Berufsleben; erst die dritte Phase ist die Familienphase. 85 Prozent der Befragten geben an, man solle zunächst die Ausbildung abschließen, danach einige Jahre Berufserfahrung sammeln und sodann Kinder bekommen. Die Familienphase kommt hierbei oft deutlich zu kurz. Das Zeitfenster für eigene Kinder wird immer kleiner und die biologische Uhr ist insbesondere bei uns Frauen oftmals schon weit fortgeschritten. Die Studie ergab aber zugleich, dass die Frage der Kinderbetreuung trotz ihrer Wichtigkeit nicht allentscheidend ist. ({0}) - Frau Kollegin, ich danke Ihnen für diese Zwischenfrage. Wir leiden in diesem Hohen Hause nicht an einem Überangebot von Frauen und vor allem nicht an einem Überangebot von Frauen mit Kindern, die noch in der Schule sind bzw. die ganz klein sind. ({1}) Deshalb hat mich meine Fraktion gebeten, in dieser Debatte Stellung zu nehmen. Ich bitte Sie, den parlamentarischen Anstand aufzubringen, anzuhören, was ich Ihnen aus Sicht einer Frau sage, die weiß, was sie dazu zu sagen hat. ({2}) Die von mir eben genannte Studie zeigte im Einzelnen, dass nur für 14 Prozent der kinderlosen Frauen die unzureichenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten der Grund sind, auf eigene Kinder zu verzichten. Zudem gaben 61 Prozent der Eltern an, dass sie das derzeitige Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten für ausreichend hielten. Was sind nun laut Allensbach-Studie die Gründe für eine Kinderlosigkeit? Die Mehrheit gab an, dass man sich für Kinder zu jung fühle, dass Kinder mit den beruflichen Plänen unvereinbar seien und dass Kinder einfach zu teuer seien. Erlauben Sie mir dazu eine persönliche Bemerkung: ({3}) Wir brauchen neben vielen sinnvollen Lenkungsversuchen durch die Politik auch in unserer Gesellschaft wieder eine neue Einstellung zum Kind. Kinder sind nicht nur künftige Beitragszahler in die sozialen Sicherungssysteme. Ich kenne keinen Vater und keine Mutter, die sich aus diesem Grunde zu ihrem Kind entschlossen hätten. Kinder und Jugendliche sind - weit über die materiellen Aspekte hinaus - unsere Zukunft. ({4}) Kinder geben dem eigenen Leben eine neue Perspektive, Kinder öffnen die Augen für Fragen, die eigentlich schon längst beantwortet waren, und Kinder stecken mit ihrem Wissensdurst und ihrer Lust auf Zukunft an. Genau dies brauchen wir in unserer Gesellschaft. ({5}) Die Diskussion über den Geburtenrückgang darf daher, wie die Studie zeigt, nicht nur auf das Thema Kinderbetreuung verengt werden. Vielmehr geht es auch um eine wirtschaftliche Besserstellung von Familien im Rahmen des Familienlastenausgleichs. Daher sieht die von uns vorgeschlagene Steuerreform die Einführung eines Grundfreibetrags von 8 000 Euro pro Person - also auch für jedes Kind - vor. ({6}) Es geht ferner um die Erleichterung des Wiedereinstiegs von Männern und Frauen in den Beruf durch bessere Teilzeitangebote, flexible Arbeitszeiten oder betriebsspezifische Weiterbildungsangebote. Dazu haben wir einen Antrag vorgelegt. Kernstück unserer Familienpolitik ist die Wahlfreiheit der Eltern. Wir müssen aufhören, den Eltern vorschreiben zu wollen, wie sie ihr Familienleben zu gestalten haben. ({7}) Weder die Vollzeitarbeit von Berufstätigen noch die sich ganz ihrer Familie widmenden Mütter und Väter sollten zum Idealbild erhoben werden. Wir sollten aufhören, die Lebensentscheidung von Eltern mit Ausdrücken wie „Rabenmutter“ oder „Nur-Hausfrau“ oder „Hausmann“ zu diskreditieren. Aufgabe des Staates ist es, den Eltern möglichst viele Handlungsoptionen für ihre Lebensgestaltung und für die Erziehung ihrer Kinder zu eröffnen. Dabei steht es für uns außer Zweifel, dass Eltern die Erst- und Hauptverantwortung für die Erziehung, Betreuung und Bildung ihrer Kinder haben. ({8}) Wir wollen keine „Lufthoheit des Staates über den Kinderbetten“, sondern wir sehen den Staat in der Pflicht, Eltern zu beraten und bedarfsgerechte und bezahlbare Angebote in der Kinderbetreuung zu bieten. Die Kinderbetreuung darf nicht eine bloße Verwahrung von Kindern sein. Zahlreiche Studien wie TIMSS, PISA und IGLU sowie neue Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften, der Hirnforschung und der Lernpsychologie belegen die große Bedeutung früher Lernund Bildungsprozesse. Deshalb haben wir in unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, dazu aufgefordert, eine Gesamtstrategie vorzulegen, die die Bereiche Bildung und Erziehung stärker verzahnt, Kinder früher und intensiver fördert und fordert. Die B-Länder kommen dieser Aufforderung nach. Unter dem Motto „Auf den Anfang kommt es an“ erarbeitet zum Beispiel Niedersachsen derzeit einen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich für spielerisches Lernen und lernendes Spielen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Förderung der Sprachkompetenz. Niedersachsen hat die Vorreiterrolle bei der Sprachförderung ausländischer Kinder übernommen. ({9}) Das Land fördert mit fast 8 Millionen Euro die Sprachförderung in Kindertagesstätten mit hohem Migrantenanteil. Besonders geeignet für die Betreuung von Kleinkindern ist nach unserer Auffassung die Tagespflege. Sie kommt der familiären Betreuung am nächsten. Es gibt konstante Betreuungspersonen und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten für die Eltern. Wir haben unsere konkreten Vorstellungen dazu ebenfalls in einem eigenen Antrag vorgelegt. Bayern hat als unionsgeführtes Bundesland ein Modellprojekt mit Tagespflegestützpunkten aufgelegt. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir sind inhaltlich eigentlich gar nicht so weit auseinander, sondern eher nahe beisammen, aber wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil wir auf gar keinen Fall die völlig unseriöse Finanzierung akzeptieren können. Das ist bereits mehrfach gesagt worden. Sie versprechen eine Entlastung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro, davon sollen 1,5 Milliarden Euro in den Ausbau der Kinderbetreuung fließen. Nach übereinstimmenden Schätzungen der kommunalen Spitzenverbände und der Konferenz der Landesjugendminister ist die Summe von 1,5 Milliarden Euro völlig unzureichend. Das hat auch die Anhörung im Ausschuss gezeigt. ({10}) - Ich kann aber lesen. - Die Revisionsklausel, die Sie mehrfach genannt haben, gilt ausdrücklich nicht für den Bereich Kinderbetreuung. Selbst das SPD-regierte Schleswig-Holstein hat gemeinsam mit NRW in seinem Antrag im Bundesrat die fehlende verlässliche Finanzierung kritisiert und betont, dass Länder und Kommunen angesichts der angespannten Haushaltslage keine weiteren Mehrbelastungen verkraften könnten. ({11}) Was wir unseren Kindern nun wirklich nicht weiter antun dürfen, sind noch größere Schuldenberge für die Steuerzahler von morgen. Ein solches Vorgehen ist überhaupt nicht nachhaltig, es ist in keinem Fall generationengerecht. ({12}) Wenn Sie schon unseren Warnungen keinen Glauben schenken, dann setzen Sie sich doch mit den Bedenken der SPD-geführten Bundesländer auseinander, damit Kinderbetreuung nicht ausschließlich eine Sache für Reiche wird. So ist es beispielsweise in Berlin, wo ein Kita-Platz schon bis zu 460 Euro kostet und die Gefahr besteht, dass Eltern aus Kostengründen ihre Kinder aus der Betreuung abmelden. ({13}) Damit allerdings stünde die Regierung vor einem wirklichen Fiasko. Ein solches Verfahren auf dem Rücken der Familien auszutragen ist schlechterdings ein Skandal. Insgesamt stellt der vorliegende Gesetzentwurf keine seriöse Basis für eine Verbesserung der Kinderbetreuung in Deutschland dar. Die Chance hierfür wurde vertan. Wir können dem Gesetzentwurf daher nicht zustimmen und werden uns aufgrund der Vielzahl gemeinsamer Ziele und respektabler Handlungsansätze - wenn man von der Finanzierung absieht - bei der Abstimmung enthalten. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wer die heutige Debatte verfolgt hat, muss eigentlich ratlos sein und feststellen, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, auf keinen Fall in der Lage sind, die Zukunftsaufgaben unseres Landes zu lösen. ({0}) Sie sind offensichtlich nicht regierungsfähig; denn klar Farbe zu bekennen ist nicht Ihre Stärke. Bei Hartz IV haben Sie sich in die Büsche geschlagen und jetzt, beim Ausbau der Tagesbetreuung, schlagen Sie sich ebenfalls in die Büsche. Bei der Gesundheitsreform schlagen Sie sich die Köpfe ein. Ich denke, das ist keine zukunftsweisende Politik. ({1}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir handeln und geben die richtigen Antworten für mehr Bildung und Betreuung von Anfang an - das haben wir heute gehört -, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Herr Götz, das alles ist solide finanziert. Ich freue mich auf das Ende des Monats. Dann nämlich wird eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung - sicherlich nicht SPDnah - veröffentlicht. Dort wird belegt, dass Investitionen in den Ausbau der Kinderbetreuung Gewinn für die Kommunen bringen. Jeder Cent, den die Kommune investiert, wird drei- bis viermal zurückkommen. ({2}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der Opposition, an anderer Stelle engagieren Sie sich zum Beispiel stark für einen flexiblen Ladenschluss. Ihre Devise lautet: Einkaufen am besten rund um die Uhr. ({3}) Aber was sagen Sie den Frauen und Männern, die während ihrer Arbeitszeit verlässliche Kinderbetreuung brauchen? ({4}) Ist etwa die von der baden-württembergischen CDU-geführten Landesregierung in Auftrag gegebene Umfrage Ihre Antwort darauf? Frau Eichhorn und auch Frau Flachsbarth, Sie haben diese Studie zitiert. Dort wird suggeriert, Eltern bräuchten persönliche, berufliche und finanzielle Sicherheit, um sich für ein Kind zu entscheiden. Betreuung spielt dort kaum eine Rolle. Ich sage Ihnen: Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Erst wenn die Betreuung gesichert ist, bedeutet das berufliche und daraus folgend finanzielle Sicherheit für die Familien. ({5}) Ich glaube, dass Sie eine solche Umfrage benutzen, um Ihr eigentliches Ziel, nämlich die Betreuungsangebote nicht auszubauen, zu verstecken. ({6}) Was eindeutig fehlt - das haben wir heute von allen Seiten gehört -, sind familienfreundliche Strukturen vor Ort. Da könnten wir in der Tat, Herr Götz, schon viel weiter sein; denn das KJHG schreibt seit 1991 vor, dass Kommunen zum bedarfsgerechten Ausbau verpflichtet sind. In Westdeutschland hat sich da - das wissen wir und das haben wir heute Morgen gehört - leider viel zu wenig getan. Im Interesse der Kinder und jungen Familien müssen wir und werden wir daher handeln. Das ist der eigentliche Grund, warum wir das TAG geteilt haben. Der Beratungsbedarf, den wir bei der Jugendhilfe haben, darf nicht zu einer Verzögerung des Ausbaus des Betreuungsangebotes führen. Ich habe kein Verständnis dafür, meine Kollegen und Kolleginnen von der Opposition, wenn Sie das als ein unseriöses parlamentarisches Verfahren bezeichnen. Wir haben das Bundesverfassungsgericht voll auf unserer Seite; ({7}) denn im Falle des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht die Trennung ausdrücklich begrüßt und festgestellt - hören Sie an dieser Stelle genau zu -: Der Bundesgesetzgeber soll Gesetze trennen, wenn er Regelungen in eigener Zuständigkeit umsetzen kann und ansonsten befürchten muss, dass aufgrund einer Blockade im Bundesrat nichts passiert. Ich denke, wir haben hier die richtige Entscheidung getroffen. ({8}) Sie haben bisher nur Widersprüchliches von sich gegeben. Herr Kauder sagt: ablehnen. ({9}) Frau Böhmer sagt: Enthaltung, aber eigentlich doch Zustimmung. ({10}) Glauben Sie denn wirklich, meine Kollegen und Kolleginnen von der Opposition, dass Ihre Politik von den jungen Menschen noch verstanden wird? - Mit Sicherheit nicht. Die jungen Männer und Frauen wollen Lösungen sehen und wissen, dass sie von Ihnen, der CDU/ CSU, nichts erhalten. Im Gegenteil. Von Ihnen, Frau Eichhorn, hören wir wirre Vorwürfe, von Ihnen, Frau Flachsbarth, „Nacht-und-Nebel-Aktion“, von Ihnen, Herr Götz, „unseriöse Trickserei“. Wiederholt unterstellen Sie unseriöse Kostenrechnung. ({11}) Gebetsmühlenartig kritisieren Sie die Finanzierung, obwohl Sie es besser wissen müssten. Ich sage Ihnen: Der Ausbau der Betreuungsangebote kann nicht länger warten. Tragen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, unser Projekt mit und schlagen Sie sich an dieser Stelle nicht wieder in die Büsche! Schönen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Frau Ministerin Schmidt möchte die Länder und Kommunen im Westen der Bundesrepublik dazu bewegen, mehr Krippenplätze für Kinder unter drei Jahren anzubieten. Das ist gut und richtig. Denn alle, wirklich alle Bundesregierungen haben die Kinderbetreuung in den letzten 55 Jahren sträflich vernachlässigt. Ein Frauenbild, das von den drei K - Kirche, Küche, Kinder - geprägt war, trug zu dieser Situation bei. Seit 1990 steht die Bundesrepublik etwas besser da, da es im Osten eine sehr gute Ausstattung mit Krippenund Kindergartenplätzen gab und gibt. Das soll auch so bleiben. Meine Heimatstadt, das rot-rot regierte Berlin, kann in diesem Jahr fast jedem zweiten Kind unter drei Jahren einen Krippenplatz anbieten. Das ist in Anbetracht der katastrophalen Finanzlage der Stadt Berlin eine wirklich bemerkenswerte Leistung. ({0}) Schade ist allerdings, dass die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf hinter ihrer eigenen Koalitionsvereinbarung zurückbleibt. Sie hatten sich doch eigentlich vorgenommen, Quoten hinsichtlich der Versorgung mit Krippenplätzen gesetzlich zu fixieren. Jetzt verzichten Sie darauf, weil Versorgungsquoten angeblich den unterschiedlichen regionalen Verhältnissen nicht gerecht werden. Wir finden es schade, dass Sie sich nicht für Versorgungsquoten entschlossen haben. Ebenso hätten wir höhere Erwartungen gehabt, was die Qualität der Bildungsangebote betrifft. So wurde zum Beispiel in Berlin ein Bildungsprogramm für Kindergärten entwickelt, das durch eine Qualitätsentwicklungsvereinbarung mit den freien Trägern in allen Berliner Kindergärten verbindlich eingeführt werden soll. Dieses Programm, das bundesweit Anerkennung findet, legt einen besonderen Schwerpunkt auf die so bitter nötige Sprachförderung. ({1}) Meine Damen und Herren, der Bundesrat wollte diesen Gesetzentwurf ablehnen. Daraufhin haben Sie ihn geteilt und den zustimmungspflichtigen Teil zurückgestellt. Das ist zwar keine besonders elegante, aus unserer Sicht aber eine akzeptable Lösung, um ein vernünftiges Ziel zu erreichen. Allerdings hatten Sie, Frau Ministerin, dem Bundesrat wirklich eine Steilvorlage für eine Ablehnung geliefert. Denn Sie forderten in Ihrem Gesetzentwurf, dass die Finanzierung der fehlenden Krippenplätze aus den Einsparungen erbracht werden soll, die sich aus der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ergeben. Auf einen solchen Kuhhandel kann man sich, glaube ich, nicht einlassen. Wer weiß denn, ob aus der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wirklich 2,5 Milliarden Euro jährlich in die Kassen der Länder fließen werden? Ich erinnere mich noch gut an die Einnahmeerwartungen, die mit der Erhöhung der Tabaksteuer verbunden waren: Diese Gelder hatte man bei der Gesundheitsreform vereinnahmt; die Erwartungen sind bekanntlich in blauem Dunst aufgegangen. Darüber hinaus riecht die Verknüpfung von Krippenplätzen und Hartz IV nach Wahlkampf. So entstand der fatale Eindruck, dass es Ihnen nicht nur um die Schaffung von Krippenplätzen, was ein gutes und richtiges Ziel ist, ging, sondern auch darum, die CDU/CSU als kinderunfreundlich vorzuführen. Mit diesem Verkettungskonzept sind Sie schon bei der Eigenheimzulage gescheitert. Hier wollten Sie das eingesparte Geld in die Forschung stecken. ({2}) - Bleiben Sie doch ruhig und warten Sie auf das Ende meiner Rede, Herr Schmidt. ({3}) Wenn wir als PDS Vorschläge machen, zum Beispiel die Friedensdividende für die Bildung zu nutzen, dann erklären Sie uns gerne und oft, dass solche Verknüpfungen haushaltstechnisch nicht möglich seien und dass unser Vorschlag ohnehin populistisch sei. Ich würde vorschlagen, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Messen wir mit gleicher Elle. Unterstützen Sie unseren Vorschlag, das Geld, das zum Beispiel für die nicht flugtauglichen Eurofighter bereitgestellt wird, lieber in die Bildung unserer Kinder zu stecken. Die Eurofighter sind bekanntlich nicht einsatztauglich. Sie sind vielleicht gerade noch gut genug, um terroristische Schläfer aus dem Schlaf zu schrecken. Dafür sind diese Geräte allerdings wirklich zu teuer. ({4}) Das Geld wäre, wenn wir es in Bildung investierten, wesentlich besser angelegt. Meine Damen und Herren, trotz unserer Kritik werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung nicht verweigern und Ja sagen. Diese Zustimmung verbinde ich allerdings mit der Hoffnung, dass die Regierungsfraktionen bald unsere Konversions- bzw. Abrüstungsvorschläge aufgreifen werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als Letzte in einer so enorm langen Liste von Rednern das Wort bekommt, hat man einen Vorteil: Man hat alle Reden gehört. Ich hätte mich gefreut, jetzt sagen zu können: Es ist alles gesagt worden. ({0}) - Dumme Zwischenrufe kommen von Ihnen immer, Herr Kollege Dreßen; das weiß ich, damit kann ich leben. Wenn wir in Ihren Redebeiträgen wenigstens hören würden, welche Antworten Sie geben, wenn es um die notwendigen Bedürfnisse, die Familien heute haben, die Frauen heute haben, geht, dann würde ich es noch verstehen. Aber wir haben keine Antworten gehört. ({1}) Sie haben leider - das macht mich betroffen - in allen Ihren Redebeiträgen nur versucht, schwarz-weiß zu malen. Frau Humme, wie oft haben allein Sie gesagt, wir hätten uns in die Büsche geschlagen! Ich muss es verpasst haben, als Sie sagten, wann wir wieder herausgekommen sein sollen. ({2}) - Geht doch nicht: Ich kann doch nur einmal hineinspringen, ohne wieder herauszukommen. Sie versuchen eine Aufteilung in Gut und Böse: Die einen sind für Kinderbetreuung, die anderen sind dagegen. Das ist absolut falsch. ({3}) Die familien- und kinderfreundlichen Entscheidungen bisher sind unter der CDU/CSU/FDP-Regierung eingeführt worden. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen; Sie können es abstreiten, aber es ist so. Wir haben diese Politik nicht kontinuierlich fortgeschrieben, da gebe ich Ihnen Recht. Aber die gute gesetzliche Grundlage etwa für den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz geht auf uns zurück, nicht auf Sie. ({4}) Frau Ministerin, ich hätte mich gefreut, wenn wir uns wirklich einmal in der Sache auseinander gesetzt und geschaut hätten, wo wir zusammenkommen, wo wir den Problemen der Frauen und der Familien gerecht werden und uns zusammenfinden können; denn das wäre wichtig gewesen. Die Leute draußen, die Zuschauer und Zuhörer in diesem Raum wollen nicht hören, was Sie uns vorwerfen und was wir Ihnen vorwerfen. Sie wollen wissen, welche Vorteile ihnen das bringt, die wollen Lösungen sehen. ({5}) - Dann gehe ich jetzt im Folgenden einmal auf eine Ihrer angeblichen Lösungen ein. Sie sagen: Wir streben - das ist heute mein Hauptthema - einen Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder an. Frau Humme, ich weiß nicht, wie Sie durchs Leben laufen, durch Ihren Wahlkreis, aber wie stellen Sie sich denn die Realisierung des Ausbaus und die Weiterentwicklung der Tagespflege ohne finanzielle Grundlagen vor? ({6}) Mein Wahlkreis liegt in einer Kommune, in der man schon ziemlich weit ist, aber trotzdem brauchen wir zur Akquirierung, zur Begleitung und zur Ausbildung der Tagesmütter und zur Weiterentwicklung der Tagespflege finanzielle Grundlagen. Die sind nötig. Deswegen ist es unseriös, so zu tun, als würden wir nur auf die Finanzen schauen. Es ist unseriös, den Leuten etwas zu versprechen, was gar nicht finanziert ist; das muss man ehrlich sagen können. ({7}) Es besteht doch allseits Konsens darüber, dass die frühkindliche Förderung wichtig ist; darüber sind wir uns einig. Wir wissen auch, dass wir mehr Betreuungsangebote brauchen; darüber sind wir uns ebenfalls einig. Denn es nützt nichts, den Eltern ein paar Mark mehr zu geben, wenn entsprechende Angebote nicht vorhanden sind. Genauso nützt es nichts, Frau Ministerin, zu sagen, man wolle jetzt Infrastrukturangebote schaffen, wenn man diese nicht bezahlen kann; das ist genauso unseriös. ({8}) Deswegen gehört beides zusammen: die Finanzen und die Angebote. Das müssen wir hier ganz deutlich artikulieren. ({9}) Wenn wir den Schwerpunkt auf Tagesmütter setzen, darf ich an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen: Tagesmütter sind nicht zum Nulltarif zu haben. Tagesmütter leisten eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen der Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern. Diese drei Dinge gehören zusammen. Es geht nicht um das reine Verwahren, es geht darum, Kinder zu bilden, sie zu erziehen, sie sich zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln zu lassen. Da klaffen in Ihrem Gesetz, Frau Ministerin, Anspruch und Wirklichkeit leider auseinander. ({10}) Sie wollen mit Ihrem Gesetz die Ausbildung von Tagesmüttern fördern. Dafür bedarf es aber natürlich entsprechender Angebote. Das heißt, das, was Sie zu den Tageseinrichtungen schreiben, § 22 a - „Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen die Qualität der Förderung in ihren Einrichtungen durch geeignete Maßnahmen sicherstellen und weiterentwickeln“ -, müsste auch für die Kindertagespflege, § 23, gelten. Hier sagen Sie über die Tagespflegepersonen aber nur - ich zitiere jetzt Ihren Gesetzentwurf -: Sie sollen über vertiefte Kenntnisse hinsichtlich der Anforderungen der Kindertagespflege verfügen, die sie in qualifizierten Lehrgängen erworben oder in anderer Weise nachgewiesen haben. Was heißt denn „vertiefte Kenntnisse“? Das kann alles und nichts heißen. Wenn man die Ausbildung wirklich verbessern will, dann braucht man Standards, dann muss man über Qualität, Angebote und Geeignetheit reden. ({11}) Die Tagespflege kann nur dann gleichwertig sein, wenn dort auch Standards ähnlich denen der öffentlichen Einrichtungen eingeführt werden. Die Tagespflege ist - ich sage es zum zweiten Mal - keine Billigversion des Kinderbetreuungsangebots. ({12}) - Frau Streb-Hesse, davon steht doch nichts drin. ({13}) - Sie werden doch gar nicht konkret. „Vertiefte Kenntnisse“ - das kann alles und nichts heißen. Werden Sie doch konkret! Ich gehe auf den nächsten Punkt ein, bei dem Sie nicht konkret werden, nämlich auf die Sozialversicherungs- und Steuerpflicht. Sie kennen die unterschiedliche Behandlung der Tagesmütter, die davon abhängig ist, ob sie im öffentlichen Auftrag oder privat arbeiten. Wo ist denn hier Ihr Angebot? Wo gehen Sie denn auf die Bedürfnisse der arbeitenden Tagesmütter vor Ort ein? Dies wird unterschiedlich gehandhabt. Die Tagesmütter sind nicht alle sozialversicherungspflichtig. Sie können doch nicht von einem gleichwertigen Angebot sprechen und gleichzeitig sagen: Das interessiert uns nicht, das sollen die klären, die es tun, das ist nicht unsere Aufgabe. - Hier muss Tacheles geredet werden. Das Problem muss gelöst werden. Hier erwarte ich von Ihnen detaillierte Lösungen für die Probleme, die es vor Ort gibt. ({14}) Frau Ministerin, es reicht nicht, dass Sie sagen, bei der Unfallversicherung werde ein bestimmter Betrag erstattet. Sie wissen doch, dass man heute mit einem Jahresbeitrag von 75 Euro dabei ist. Die Übernahme dieser Kosten nützt wenig. Wenn wir wollen, dass Frauen die Tagespflege nicht nur in Anspruch nehmen, um die Familie und ihre Erwerbsarbeit besser vereinbaren zu können, sondern dass sie dies auch als Berufsangebot ansehen, dann müssen wir natürlich auch dafür sorgen, dass ihre Altersversorgung gesichert wird. Hier müssen wir wirklich Antworten auf die Fragen vor Ort finden. Sie haben davon gesprochen, dass von den Vorsorgebeiträgen für die Rente, die die Tagesmütter privat zahlen, die Hälfte erstattet wird. Das ist ein richtiger Schritt, er reicht aber nicht aus. In den Ausschusssitzungen hätte ich mir eine intensive Diskussion über diese Sachfragen gewünscht. Stattdessen wurde nur gesagt, dass die einen was wollen und die anderen nicht. Es ist ganz wichtig: Wir beide wollen qualifizierte und ergänzende Angebote. ({15}) - Frau Humme, ich gehe jetzt auf Ihren Zuruf, dass wir doch zustimmen sollen, ein. Vielleicht unterscheiden wir beide uns in der Auffassung darüber, wie wir hier Politik machen und mit welcher Verantwortung wir politische Entscheidungen nach außen hin zu vertreten haben. Ich unterschreibe keine Gesetzesvorlage, von der ich weiß, dass deren Umsetzung schon jetzt gefährdet ist. Frau Humme, lassen Sie uns jetzt doch einmal über Nordrhein-Westfalen reden. Sie haben im Ausschuss doch selbst schon vor Wochen mitbekommen, dass unser beider Bundesland bezüglich der Herunterbrechung der Finanzen, das heißt bei der Weitergabe des Geldes an die Kommunen, im Moment ganz anders argumentiert als früher. Nur dadurch, dass wir beide wach waren und uns in die Gespräche eingemischt haben - ich habe gehört, dass Sie das genauso wie ich getan haben -, überlegen die Länder, wie sie das Geld an die Kommunen weitergeben. Ich kann dem Kollegen Götz wirklich nur Recht geben: Es kann nicht sein, dass wir Gesetze verabschieden und den Kommunen sagen, dass sie zusehen sollen, wie sie umgesetzt werden. Das geht nicht. Sie wissen, dass das eine Totgeburt ist. Frau Ministerin, Sie wollen das nicht und die CDU/CSU-Fraktion will das auch nicht. Wir wollen Lösungen und Angebote für die Menschen. Diese müssen seriös finanziert sein. Das sind sie nicht. Deswegen können und werden wir nicht zustimmen. ({16}) Frau Lenke hat es Ihnen bei dem qualifizierten Antrag der FDP zur Tagespflege angeboten und wir bieten es Ihnen auch an: Sie dürfen ruhig aus unseren Vorlagen abkupfern. Schreiben Sie ab, übernehmen Sie unsere Vorschläge! Sie tun Ihnen gut. Wir werden keine Plagiatsklage einreichen. Wir würden uns freuen und wären zufrieden, wenn Sie das anwenden würden; denn bereits Neil Postman sagte: Kinder sind die lebenden Botschaften, die wir einer Zeit übermitteln, an der wir selbst nicht mehr teilhaben werden. Lassen Sie uns die bestmöglichen Botschaften übermitteln! Tun Sie es für uns, unsere Kinder und die Zukunft unserer Kinder! Dann haben Sie uns im Boot. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes, Drucksachen 15/3676 und 15/3986. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4045, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der neuen Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder“ anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Abgeordneten bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen. ({0}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4063. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der CDU/ CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion abge- lehnt. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfeh- lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/4045 fort. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss den übri- gen, heute nicht abgestimmten Teil des Gesetzentwurfs einer späteren Beschlussfassung vorzubehalten. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 3 b: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3488 mit dem Titel „Elternhaus, Bildung und Betreuung verzahnen“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- sache 15/3512 mit dem Titel „Solides Finanzierungs- konzept für den Ausbau von Kinderbetreuungsange- boten für unter Dreijährige“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenom- men. Tagesordnungspunkt 3 c: Wir kommen nun zur Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/3036. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- fehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 15/2580 mit dem Titel „Ausbau von Förderungs- angeboten für Kinder in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 15/2651 mit dem Titel „Ausbau und Förderung der Ta- gespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundes- republik Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend unter Nr. 3 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/3036 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1590 mit dem Titel „Tagespflege als Baustein zum bedarfsge- rechten Kinderbetreuungsangebot - Bessere Rahmenbe- dingungen für Tagesmütter und -väter, Eltern und Kin- der“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der FDP auf Drucksache 15/2697 mit dem Titel „Faire Chancen für jedes Kind - Für eine bessere Bil- dung, Erziehung und Betreuung von Anfang an“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/ CSU-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 3 d: Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/3035 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1983 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei - Drucksache 15/3949 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortführen und den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei frei machen - Drucksache 15/4031 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zu der Empfehlung der EU-Kommission über Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei - Drucksache 15/4064 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenstand unserer heutigen Debatte ist in erster Linie eigentlich nicht die Türkei, sondern die Europäische Union oder genauer die Vorstellung, die wir mit der politischen Einigung Europas verbinden. Die europäische Einigung befindet sich in einer schwierigen Phase. Das Ringen um die institutionelle Vertiefung, die Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten, der Bruch des beim Start der europäischen Währung gegebenen Stabilitätsversprechens, die tief greifenden Meinungsunterschiede in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen - dies alles und vieles mehr hat die Einstellung weiter Teile der Bevölkerung in den meisten Mitgliedstaaten zur europäischen Integration nicht eben gestärkt. Ich fürchte, dass auch die Auseinandersetzungen um die Bestätigung der Kommission im Europäischen Parlament in diesen Tagen daran wohl nichts verbessern werden. Das europäische Einigungswerk bleibt aber auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Wenn die Europäische Union eine handlungsfähige politische Einheit werden soll, dann geht das nicht ohne das Vertrauen der Menschen. Sie müssen sich dieser neuen, allmählich entstehenden Einheit anvertrauen. Das setzt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit zu Europa voraus, eine europäische Identität. ({0}) Europäische Identität entsteht aus Gemeinsamkeit in Geschichte und Kultur wie auch aus gemeinsamer Verantwortung in einer Welt der Globalisierung. Wer das vernachlässigt, der gefährdet die Vision eines politisch geeinten und handlungsfähigen Europas. ({1}) Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass ein Europa, bei dem die Erweiterung so eindeutig den Vorrang vor der Vertiefung bekomme und bei dem die Frage nach dem Verhältnis von kulturellen Orientierungen zu politischen Mechanismen nicht mehr gestellt werde, die Menschen nicht erreichen könne. Die Türkei ist seit langem verlässlicher Partner des Westens und sie ist mit Europa eng verbunden. Die Mitbürger türkischer Abstammung in unserem Land sind zu einem großen Teil gut integriert und sie bereichern uns vielfältig. Die Türkei hat große Fortschritte in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, als demokratischer Rechtsstaat und in der Wahrung der Menschenrechte gemacht. Auch wenn vor allem beim Schutz der Minderheiten noch nicht alle Probleme gelöst sind, sollten wir die erreichten Fortschritte und die Ernsthaftigkeit der Bemühungen nicht in Zweifel ziehen. Zutreffend ist auch, dass die Türkei seit den 60erJahren nach der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften strebt und dass solchen Erwartungen vonseiten Europas nicht wirklich widersprochen wurde. Es wurde aber auch immer gesagt, dass es keinen Automatismus gebe, dass also die endgültige Entscheidung offen bleibe. Auch jetzt übrigens werden unterschiedliche Botschaften ausgesandt. In die Türkei wird vermittelt, dass beim Europäischen Rat im Dezember die endgültige Entscheidung falle, auch wenn es bis zum Vollzug noch dauern werde, ({2}) wenn man nicht schon die Empfehlung der Kommission als die eigentliche Entscheidung ausgegeben hat. Aber genau dieser Kommissionsbericht legt dar, dass es sich gerade nicht um Beitrittsverhandlungen in der bisherigen Routine handeln könne, dass viele Fragen offen und Probleme noch nicht gelöst seien und dass das Ergebnis der Verhandlungen offen bleiben müsse. ({3}) Klaus Hänsch, Sozialdemokrat und vor wenigen Jahren allseits geschätzter Präsident des Europäischen Parlaments, hat Ende August in einem Vortrag in Schloss Neuhardenberg ausgeführt: Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt … einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar, hat der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen festgelegt. Dieses Kriterium hat 1997 beim Beschluss über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten noch eine Rolle gespielt. Aus den Beschlüssen der Regierungschefs 1999 und 2002 zur Türkei ist es jedoch verschwunden. Das ist ein Fehler. ({4}) Wir sollten diesen Fehler nicht fortsetzen, ({5}) nämlich den Fehler, in der Türkei den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass die Frage einer EU-Mitgliedschaft nur in der Türkei zu entscheiden sei, als ob es nicht auch auf die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union selbst entscheidend ankäme. ({6}) Man sollte das übrigens auch in Frankreich bedenken. Die französische Bevölkerung äußert sich mit noch viel größerer Mehrheit als die deutsche gegen eine Mitgliedschaft der Türkei. In der französischen Nationalversammlung plädieren Regierung wie Opposition für unser Modell einer privilegierten Partnerschaft. Der Präsident der Französischen Republik hat angekündigt, dass er der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmen werde, dass aber am Ende der Verhandlungen eine Volksabstimmung in Frankreich über eine Mitgliedschaft der Türkei entscheiden werde. Ob es für die Türkei wirklich besser sein wird, wenn nach weiteren zehn, 15 Jahren ein Verhandlungsergebnis plötzlich abgelehnt würde? ({7}) Wäre dann nicht die Gefahr eines Bruchs viel größer, den zu vermeiden im Interesse der Türkei genauso wie im Interesse Europas liegt? ({8}) - Frau Kollegin Sager, ich finde, wir schulden der Türkei Offenheit. Dies heißt, dass wir unsere Überzeugung nicht verschweigen, dass eine privilegierte Partnerschaft die richtige Lösung ist. ({9}) Denn eine solche Partnerschaft gefährdet nicht die Chancen einer politischen Einheit durch Überdehnung der Grenzen und ermöglicht zugleich eine enge Verbindung der Türkei mit Europa. Das ist unsere Überzeugung. Auch darüber muss verhandelt werden, nicht nur über den Wunsch der Türkei nach voller Mitgliedschaft. Natürlich gehört die Türkei zu einem Teil zu Europa, aber zu einem weitaus größeren Teil eindeutig nicht. Europa reicht nicht bis an die Grenzen des Irans oder des Iraks. Keiner von uns würde sich dort in Europa fühlen. Auch die Menschen in diesem Teil der Türkei glauben selbst nicht, dass sie in Europa sind. Russland gehört übrigens zu einem größeren Teil zu Europa und gewiss in einem größeren Maße zur europäischen Geschichte. Dennoch ist wohl eine Europäische Union, die bis Wladiwostok reicht, als gelingende politische Einheit nicht vorstellbar. Ich denke, die Antwort, die wir heute für die Türkei finden, muss auch halten, wenn eines Tages Russland einen entsprechenden Wunsch äußern sollte. ({10}) Deshalb müssen wir für Staaten, die nur teilweise zu Europa gehören und teilweise eben nicht, andere Lösungen einer institutionellen Verbindung mit Europa finden als die volle Mitgliedschaft. Das so oft angeführte Argument der Brücke, die die Türkei zwischen Europa und der islamischen Welt bilden soll, spricht ebenfalls für eine privilegierte Partnerschaft. Eine Brücke gehört eben nicht nur zu einem Ufer. Wer auf die Wirkung der Türkei in der islamischen Welt als Vorbild auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, zur Achtung der Menschenrechte, zum Aufbau von Zivilgesellschaften und dergleichen mehr setzen möchte, sollte einmal darüber überlegen, ob durch eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union eine solche Wirkung in der islamischen Welt nicht eher geschwächt als gefördert wird; denn wenn die Türkei Teil Europas ist, wird sie in der islamischen Welt weniger als Vorbild angesehen werden, als wenn sie es nicht ist. ({11}) Im Übrigen muss man bei diesem Argument zwischendurch daran erinnern, dass die Türkei dies alles - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung von Menschenrechten, Aufbau von Zivilgesellschaften - im wohlverstandenen Eigeninteresse leistet und eben nicht nur, um sich die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu verdienen. Das gilt genauso für alle anderen Staaten, auch in der islamischen Welt: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Aufbau von Zivilgesellschaften sind aus Eigeninteresse richtig und nicht nur, um dadurch Mitglied in der Europäischen Union werden zu können. Übrigens, wenn auch die anderen Staaten der islamischen Welt dem Vorbild der Türkei folgten, könnten sie deswegen wohl nicht Mitglied der Europäischen Union werden. Die Argumente sollten also ein bisschen genauer auf ihren logischen Gehalt überprüft werden. ({12}) Nun wird gesagt, in Zeiten der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus könne die Europäische Union aus strategischen Gründen gar nicht groß genug sein. Der Außenminister hat von seiner europapolitischen Rede an der Humboldt-Universität sogar ausdrücklich Abstand genommen. Damals, als Herr Fischer diese Rede hielt, war er noch eher gegen eine Mitgliedschaft der Türkei. Das war übrigens ausdrücklich auch Herr Verheugen noch im November 2002. Wie unsicher unser Außenminister in Wahrheit noch immer ist, hat er in einem Gespräch, das in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 7. September 2004 wiedergegeben wurde, verraten. Ich zitiere: Er - Fischer beteuerte ein weiteres Mal, die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sei nicht gleichbedeutend mit der Entscheidung über den Beitritt selbst. ({13}) - Hören Sie genau zu! In jedem Falle werde eines Tages eine europareife Türkei leichter mit der Entscheidung umgehen können, ob ein Beitritt vollzogen werden könne oder nicht. Ihr Kollege Cohn-Bendit, Mitglied der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament, nennt dies - allerdings bezogen auf Frankreich - eine „demagogische Haltung“. Wo er Recht hat, hat er Recht. ({14}) Dialog der Kulturen und Religionen, Partnerschaft mit den verantwortlichen Kräften in der islamischen Welt, Stärkung multilateraler Entscheidungsstrukturen, all das ist richtig und wichtig; aber es kann doch nicht die Einverleibung in Europa zur Voraussetzung haben. Nein, von strategischer Bedeutung in Europa ist das Gelingen der politischen Einigung. Sie wird durch eine Überdehnung der Grenzen eher gefährdet als gefördert. Die Entwicklung einer einigen und handlungsfähigen Europäischen Union ist für uns Europäer unser entscheidender Beitrag zu mehr Stabilität, mehr Frieden und mehr Entwicklung in dieser enger zusammenwachsenden und vernetzten Welt. Daran hat die Türkei ein wohlverstandenes Eigeninteresse. Besser ist, wenn die Türkei mit einem politisch geeinten Europa eng verbunden ist, als dass sie Mitglied in einer politisch handlungsunfähigen Europäischen Union ist. Ich zitiere noch einmal Klaus Hänsch: Wenn die Mitgliedschaft der Türkei mit der Erosion der Union bezahlt würde, wäre das ein zu hoher Preis - übrigens nicht nur für die Union, sondern auch für die Türkei - und der darf nicht gezahlt werden. ({15}) „Abschied von Europa“ hat Stefan Ulrich in der „Süddeutschen Zeitung“ am Dienstag seinen Leitartikel zu diesem Thema überschrieben. Die Europäische Union wächst in der Fläche und schrumpft in der Tiefe. Egon Bahr schrieb vor kurzem im „Spiegel“: Bayern Ministerpräsident Edmund Stoiber hat Recht, wenn er erklärt: Nimmt man die Türkei auf, dann ist das das Ende der Vision von der politischen Union Europas. ({16}) - Das hat Egon Bahr geschrieben. ({17}) - Ja, gut, ist ja in Ordnung. Frau Kollegin Roth, ich glaube, Sie machen einen schweren Fehler, wenn Sie Vertiefung gegen Erweiterung austauschen. ({18}) Eine handlungsunfähige Europäische Union dient der Türkei nicht, dient Europa nicht und dient der Stabilität in der globalisierten Welt nicht. Deswegen ist das der falsche Weg. ({19}) Aus all diesen Gründen stellen wir, die CDU/CSUFraktion, heute erneut, wie schon am 2. Dezember 2002 vor dem Kopenhagener Gipfel, den Antrag, sich bei Verhandlungen mit der Türkei nicht auf die Frage einer Vollmitgliedschaft zu beschränken, sondern auch die bessere Lösung einer privilegierten Partnerschaft einzubeziehen. Nur ein solches Verhandlungsmandat ist wirklich ergebnisoffen. Ein solches Verhandlungsmandat weist die Türkei nicht ab, beschädigt die Türkei nicht, bewahrt aber Europa zugleich die Chance, sich zu einer wirklichen politischen Einheit zu entwickeln. Darum geht es. Es geht um die Zukunftsfähigkeit Europas und es geht um die Zustimmung der Menschen zu diesem europäischen Projekt. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPDFraktion. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Absicht des Bundeskanzlers, am 17. Dezember in Brüssel für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen, und sie tut dies einmütig. ({0}) Wir wünschen uns, dass diese Verhandlungen, die lange dauern werden, erfolgreich sind. Ziel der Verhandlungen kann nur der Beitritt der Türkei zur EU sein. Über etwas anderes, Herr Kollege Schäuble, wird am 17. Dezember nicht entschieden. Eine Automatik auf dem Weg zu diesem Ziel - auch das steht im Bericht der Kommission - kann es in der Tat nicht geben. Der Entscheidung der europäischen Staatsund Regierungschefs am 17. Dezember werden Tausende von Einzelentscheidungen sowohl in der Türkei als auch in der EU folgen. Jetzt wird ein langer Prozess der Abwägung und der Vorbereitung abgeschlossen, zugleich aber ein langer und anstrengender Prozess von Reform und Transformation eröffnet. Er birgt nicht unerhebliche Risiken, aber auch große Chancen für die EU und für Deutschland. Wir wollen, dass der Weg für diese Beitrittsverhandlungen frei gemacht wird, weil diese Entscheidung im Interesse Deutschlands und im Interesse der EU liegt. ({1}) Es liegt in unserem Interesse, dass die EU glaubwürdig bleibt. Es liegt in unserem Interesse, dass der Veränderungsprozess in der Türkei unumkehrbar gemacht und im Zuge des Verhandlungsprozesses konsequent fortgesetzt wird. Es liegt in unserem Interesse, dass die gesicherte Beitrittsperspektive den wirtschaftlichen Aufschwung dieses für Deutschland so wichtigen Wirtschaftspartners verstetigt und beschleunigt. Es liegt in unserem Interesse, dass die 4 Millionen Türken in der EU, von denen 2,5 Millionen in Deutschland leben, mit der Beitrittsperspektive ihre Integrationsbemühungen vertiefen und verstärken. ({2}) Es liegt in unserem Interesse - Herr Kollege Schäuble, ich glaube, da haben Sie mit dieser Brücke etwas falsch verstanden -, dass die Türkei als eine große islamisch geprägte Gesellschaft vor aller Welt den Beweis dafür erbringt, dass Islam und westliche Werte miteinander vereinbar sind, weil dies die denkbar beste und wirksamste Antwort auf jene blutigen Strategen des Terrorismus ist, die den Kampf der Kulturen predigen. ({3}) Ich möchte etwas zum Stichwort Glaubwürdigkeit sagen. Seit 81 Jahren gibt es die moderne, von Kemal Atatürk gegründete Türkei. Ich möchte schon jetzt von dieser Stelle aus der türkischen Republik zum morgigen Nationalfeiertag, der in Berlin bereits heute gefeiert wird, im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren. ({4}) Seit 41 Jahren hat die Türkei ein Assoziationsabkommen mit Beitrittsperspektive. Seit neun Jahren hat die Türkei eine Zollunion mit der EU. Seit fünf Jahren ist die Türkei offizielle Beitrittskandidatin. Vor zwei Jahren hat der Europäische Rat klare Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen formuliert. Das hat eindrucksvolle Reformbemühungen in Ankara ausgelöst. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Schäuble, dass auch Sie das anerkennen. Die Türkei hat in kürzester Zeit acht Reformpakete auf den Weg gebracht. Sie hat die Todesstrafe abgeschafft. Sie hat Folter und andere Menschenrechtsverletzungen verboten und verfolgt Verstöße dagegen, die es nach wie vor gibt. Die Türkei hat die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Die Türkei hat den Einfluss des Militärs auf Politik und Gesellschaft spürbar reduziert. Sie hat angefangen, Kurden und anderen Minderheiten kulturelle Rechte zu geben, und sie hat Beschränkungen bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgehoben. ({5}) Natürlich kann man sagen: Das reicht alles nicht. Natürlich kann man sagen: Da fehlt noch etwas. Natürlich kann man sagen: Erlass eines Gesetzes bedeutet nicht gleich Umsetzung. All das ist zulässig. So ist die Europäische Kommission auch an die Sache herangegangen; sie hat all das berücksichtigt und sorgfältig abgewogen. Das Ergebnis ist in dem einen entscheidenden Satz der Kommissionsempfehlung festgehalten, den ich hier zitieren möchte. Da heißt es: In Anbetracht der allgemeinen Fortschritte im Reformprozess und unter der Voraussetzung, dass die Türkei die oben genannten, noch ausstehenden Gesetze in Kraft setzt, ist die Kommission der Auffassung, dass die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maß erfüllt, und empfiehlt die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. ({6}) Wir sagen: Ja, das überzeugt uns. Das ist eine verantwortungsvolle und faire Empfehlung am Ende einer Vorbereitungszeit von 41 Jahren. Deswegen wollen und werden wir dieser Empfehlung folgen. Wenn die EU nach dieser endlosen Reihe des Aufzeigens von Perspektiven, der Unterbreitung von Zusagen und des Erhebens von Forderungen und nach den eindrucksvollen Bemühungen von türkischer Seite, diesen langen Weg mitzugehen und alle Forderungen zu erfüllen, im letzten Moment sagen würde: „Nein, Entschuldigung, jetzt treffen wir eine grundsätzlich völlig andere Entscheidung“, dann stellt sich doch die Frage, wer künftig dieser EU noch trauen und vertrauen soll. ({7}) Ich denke dabei nicht nur an die Türkei, deren Empörung dann alle verstehen würden, sondern an alle Länder, denen die EU in der letzten Zeit Zusagen gemacht hat: an die zehn neuen Beitrittsländer, an Bulgarien und Rumänien, denen schon ein Beitrittstermin genannt wurde, an Kroatien, mit dem ab 2005 verhandelt werden soll, an die vier anderen Westbalkanstaaten, denen eine Perspektive eröffnet wurde, sowie an die Ukraine und 13 andere Staaten, denen mit dem neuen Nachbarschaftskonzept auch bestimmte Zusagen gemacht, wenn auch keine Beitrittsperspektiven eröffnet wurden. Wer also sollte bei so einem Nein in letzter Minute nach 41 Jahren Vorbereitung der EU überhaupt noch etwas glauben? Aber genau das, einen solchen Schwenk in letzter Minute, Herr Kollege Schäuble, empfiehlt die CDU/CSU der EU. Da gibt es ein neues Zauberwort - auch Sie haben es hier mehrfach bemüht -: privilegierte Partnerschaft. Im Antrag der CDU/CSU, der ausgerechnet den Titel „Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei“ trägt, sucht man vergeblich nach einer Definition oder wenigstens einer Beschreibung von privilegierter Partnerschaft. Soll sie das umfassen, was die Türkei mit dem Assoziationsabkommen seit 41 Jahren hat? Soll sie das umfassen, was mit der Zollunion ausgedrückt wird, die mit der Türkei seit neun Jahren besteht? Soll es das sein, was im Rahmen des neuen Nachbarschaftskonzeptes angeboten wird? In Ihrem Antrag findet man dazu keinerlei Auskunft. Stattdessen machen Sie es sich ganz leicht. In Ihrem Antrag für ein glaubwürdiges Angebot heißt es dazu - ich darf das zitieren -: Seitens der EU sollte … auf dem Gipfel im Dezember der Türkei das Angebot einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union gemacht werden. Der Europäische Rat sollte der Europäischen Kommission den Auftrag erteilen, in Kürze Möglichkeiten und Wege zu präsentieren, wie ein solches besonderes Verhältnis der Türkei und anderer Länder zu Europa in eine angemessene Form gebracht werden kann. Dabei können konzeptionelle Vorarbeiten aus den Reihen der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments entsprechend berücksichtigt werden. Was heißt das? ({8}) Das heißt auf Deutsch: Die CDU/CSU sagt, sie wolle keine Beitrittsverhandlungen und keinen Beitritt der Türkei, sondern stattdessen die privilegierte Partnerschaft. Man wisse zwar nicht, was das ist, aber es soll gefälligst die Europäische Kommission definieren, was das eigentlich ist. ({9}) Also etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist, sollen die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember der Türkei empfehlen. ({10}) Meine Damen und Herren, der Volksmund hat für ein solches Angebot einen trefflichen Begriff: Mogelpackung. ({11}) Das Hantieren mit einer Mogelpackung passt zu allem, was Sie in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Türkeifrage tun. ({12}) Am vorletzten Wochenende war dem Kollegen Glos - was manchmal passiert - wohl langweilig. Deshalb hat er eine Kugel ins Rollen gebracht: das Thema Unterschriftenaktion gegen den Türkeibeitritt. Parteichefin Merkel traute sich nicht, dieses Spiel mit dem Feuer gleich zu unterbinden, und erklärte es erst einmal für eine ganz gute Idee. Dann brach quer durch die Republik, auch in Ihren Reihen, ein Sturm der Entrüstung los und nach drei Tagen war der ganze Spuk vorbei. Das ist wahrlich Führungsfähigkeit, auf die Deutschland und Europa warten. ({13}) Das ist ein wirklich verantwortungsvoller Umgang mit einer Schicksalsfrage, wie Sie es neuerdings nennen. Man kann ja mal etwas andeuten, ins Rohr schieben, um zu testen, wie die Reaktionen sind. Weltpolitik als Überraschungsei, das ist Ihr Umgang mit der Europäischen Union. ({14}) Jetzt hat sich Herr Glos etwas Neues ausgedacht, gestern nachzulesen in der „FAZ“. Die neue Parole heißt: Bei einem EU-Beitritt der Türkei wird Deutschland von Türken überschwemmt und dabei untergehen, allerdings nicht aus Versehen, sondern ganz absichtsvoll, weil die Linken, die jetzt Deutschland führen, das so wollen. Wörtlich, Herr Kollege Glos, werden Sie so zitiert - ich darf das hier vortragen; Sie werden ja gern zitiert -: Diejenigen, die derzeit Deutschland führen, haben mit Deutschland überhaupt nichts am Hut. Man macht Deutschland für einmalige Verbrechen in der Vergangenheit als Land verantwortlich. Daher rührt auch so eine Art Deutschenhaß in manchen Kreisen, weshalb man in Teilen der Linken hofft, daß es Deutschland nicht mehr gibt. ({15}) Wenn schon keine Unterschriftenaktion, dann malt man wenigstens die Pantürkisierung ganz Europas und den Untergang Deutschlands als Folge des Selbsthasses der linken Verhandlungsbefürworter an die Wand. Das ist auch für Ihre Verhältnisse, Herr Glos, eine unglaubliche Entgleisung, die eigentlich Klärung fordert. ({16}) Sonst müssen Sie sich nicht wundern, wenn man Sie demnächst fragt, ob mit Ihnen noch alles in Ordnung ist. Oder, Herr Glos, liegt das etwa daran, dass Sie Ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten müssen? Manchmal hilft ja ein gutes Archiv, um etwas zu erklären. Jedenfalls haben Sie am 17. Dezember 1997, direkt nach dem Europäischen Rat von Helsinki, eine interessante Presseerklärung herausgegeben. Aus dieser möchte ich drei Sätze zitieren. Erster Satz: Es ist nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Interesse, die Türkei an Europa zu binden. ({17}) Zweiter Satz: Es dient nicht europäischen Interessen, wenn die Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Übertaktieren vor den Kopf gestoßen wird. ({18}) Dritter Satz: Am Ziel darf es keinen Zweifel geben: Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen! ({19}) Sie waren also offenbar schon einmal weiter als heute. Sie brauchten bloß Ihren eigenen Empfehlungen zu folgen. Lassen Sie das Übertaktieren mit der privilegierten Partnerschaft, machen Sie sich Ihren eigenen Rat zu Eigen, dann sind Sie unterwegs und wir können noch Hoffnung haben! Auf jeden Fall, meine Damen und Herren, gehen wir mit den unbestreitbaren Risiken dieses Integrationsprozesses und den daraus abgeleiteten Sorgen und Bedenken vieler Menschen anders um. Wir und auch die EUKommission nehmen sie ernst. Das ist der Grund dafür, dass die Kommission für eine neue Konzeption der Verhandlungen eintritt, mit einer viel strengeren Überprüfung der Reformfortschritte als bisher, mit Sonderregelungen bis hin zu eventuellen unbefristeten Schutzklauseln etwa bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ja sogar mit der Perspektive einer Aussetzung der Verhandlungen bei ernsthaften Rückschritten bei den Zielen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Das ist die seriöse Antwort auf die Fragen besorgter Menschen in unserem Land. Das sind genügend Leitplanken, um zu verhindern, dass der Integrationsgeleitzug vom Wege abkommt. Wir werden dafür sorgen, dass diese Empfehlungen auch Beachtung finden. ({20}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir teilen auch die Meinung der Kommission: Bei aller Schwierigkeit des Weges, den wir die nächsten anderthalb Jahrzehnte gemeinsam mit der Türkei gehen werden - die Chancen und Vorteile für die EU und für unser Land überwiegen. Das muss den Ausschlag geben, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember ihre Entscheidung treffen werden. Wir unterstützen mit allem Nachdruck ein Ja für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die EU-Kommission hat für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei plädiert und sie im Charakter als ergebnisoffen beschrieben. Diesem Vorschlag sollte sich der Deutsche Bundestag aus Sicht der Freien Demokraten anschließen. Wir sollten die Kommission beim Wort nehmen. ({0}) Es geht gegenwärtig um eine Entscheidung über Beitrittsverhandlungen und nicht - diesen Eindruck konnte man nach den beiden vorherigen Reden bekommen - um einen Beitritt selbst. Erst am Ende der Verhandlungen kann die Entscheidung über die Aufnahme, die Ablehnung oder auch eine differenzierte Position stehen. Wir sind mit beiden Haltungen, die bisher in den Reden zum Ausdruck gebracht worden sind, nicht einverstanden. Der Antrag der Koalitionsfraktionen gibt letztendlich eine Tendenz vor. Nach diesem Antrag sind die Beitrittsverhandlungen quasi eine Übergangsstufe zu einem Ergebnis, das - politisch gewollt - schon jetzt formuliert wird. Die Unionsfraktion spricht sich in ihrem Antrag gegen Beitrittsverhandlungen aus und unterstützt von vornherein ein anderes Modell. Auch sie hat sich schon ihre politische Meinung gebildet und das Ergebnis vorweggenommen. Wir Freien Demokraten sind der Überzeugung, dass wir nur dann dem Votum der Europäischen Kommission gerecht werden, wenn wir sie beim Wort nehmen. Ergebnisoffen heißt, dass am Ende eines Verhandlungsprozesses ein Ja, ein Nein oder auch eine differenzierte Position, also vielleicht eine privilegierte Partnerschaft, stehen kann. Aber niemand ist heute in der Lage, seriöserweise vorauszusagen, wie die Türkei in 15 Jahren aussehen wird oder wie die Europäische Union in 15 Jahren aussehen wird. ({1}) Wir haben von Ihnen, Herr Kollege Schäuble, eine bemerkenswerte Rede gehört. Auch das, was Sie, Herr Kollege Erler, gesagt haben, ist in weiten Teilen, was die Analyse angeht - das ist oft so -, mit dem Wertekompass, den wir gemeinsam in diesem Hause haben, deckungsgleich. Letzten Endes geht es um die politischen Schlussfolgerungen an dieser Stelle. Es wird niemanden in diesem Hause geben, der beispielsweise die Menschenrechte in der Türkei nicht genauso einfordern würde wie Verbesserungen hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung. Selbstverständlich wird auch die Lösung der Zypernfrage eine Rolle spielen. Das alles sind Punkte, die wir gemeinsam in diesem Hause besprechen. Wir Freien Demokraten warnen aber vor Folgendem. Herr Kollege Schäuble, wenn Sie sagen, die Erweiterung dürfe nicht gegen die Vertiefung ausgetauscht werden, dann haben Sie nach unserer Auffassung Recht. Wir fügen aber hinzu: Die Erweiterung darf auch nicht gegen die Vertiefung ausgespielt werden. ({2}) Beides muss uns gelingen, wenn wir den europäischen Weg erfolgreich weitergehen wollen. Die Europäische Union ist in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht aufnahmefähig. Die Türkei ist in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht beitrittsfähig. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir wollen aber fairerweise festhalten, dass ein sofortiger Beitritt nicht die Erwartungshaltung der türkischen Regierung ist. Wir haben Gelegenheiten gehabt, das Gespräch mit der türkischen Seite - zuletzt in der vergangenen Woche mit dem türkischen Außenminister - zu führen. Niemand in der Türkei, aber auch niemand in der Europäischen Union geht davon aus, dass es um eine Beitrittsentscheidung geht, die heute getroffen werden müsste. Es geht auch nicht darum, dass die Türkei in ihrer gegenwärtigen Verfassung schon beitrittsfähig wäre. Die Türkei, wie sie heute ist, könnte nicht beitreten. Müssten wir heute über den Beitritt abstimmen, würden wir als Freie Demokraten mit Nein votieren. Aber es geht heute eben nicht um den Beitritt der Türkei zum jetzigen Zeitpunkt, sondern um einen ergebnisoffenen Verhandlungsprozess. Deswegen ist es aus Sicht der Freien Demokraten ein Fehler, dass das Wort der Ergebnisoffenheit im Antrag der Koalitionsfraktionen überhaupt nicht mehr vorkommt. ({3}) Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Türkei entsprechende politische Entwicklungen und Reformen eingeleitet und durchgesetzt hat. Wer wollte denn die Fortschritte der Türkei ernsthaft bestreiten? Die eingeleiteten Reformen dürfen aber nicht nur auf dem Papier stehen, sondern müssen auch gesellschaftliche Realität werden. ({4}) Es ist zwar gut, wenn das Parlament der Türkei ein Verbot der Diskriminierung von Minderheiten verabschiedet und dies formale Rechtslage ist. Es ist zwar gut, wenn das Folterverbot formale Rechtslage in der Türkei ist. Aber das reicht nicht aus. Nicht die formale Rechtslage ist das Kriterium. Vielmehr muss die gesellschaftliche Realität das Kriterium für eine Überprüfung der Beitrittsentscheidung in zehn oder 15 Jahren sein. ({5}) Deswegen legen wir Wert darauf, dass die Ausgestaltung eines Verhandlungsmandates die Ergebnisoffenheit betont, so wie es übrigens ausdrücklich auch in den Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission vorgesehen ist. Dass dies so ist, wird ja regelmäßig unter den Teppich gekehrt. Es wird nachinterpretiert, was die Europäische Kommission gemacht hat, um der eigenen Tendenz Vorschub und Nachdruck zu verleihen. Tatsächlich hat die Europäische Kommission eine sehr differenzierte Position bezogen und ausdrücklich den ergebnisoffenen Charakter von Beitrittsverhandlungen unterstrichen. Das ist auch aus unserer Sicht richtig und notwendig. Ich will noch auf das zu sprechen kommen, was im Vorfeld dieser Debatte gesagt worden ist. Ich will niemanden darüber im Unklaren lassen, dass wir Freien Demokraten es ausdrücklich begrüßen, dass die Unionsparteien von den Überlegungen einer Unterschriftenaktion Abstand genommen haben. ({6}) Ich will hier aber genauso klar sagen: Heute wird auch eine Debatte darüber geführt - sie wird in Wahrheit geführt, um die Innenpolitik zu prägen, und nicht, um über den europa- und außenpolitisch richtigen Weg zu diskutieren -, ob ein Referendum bzw. Volksabstimmungen beschlossen werden sollten. Wenn dies heute die konkrete Forderung ist, dann sagen wir Freien Demokraten dazu: Das ist aus unserer Sicht nicht möglich und in Wahrheit nur der innenpolitischen Auseinandersetzung geschuldet. Niemand ist heute seriöserweise in der Lage, die Entscheidung, die in zehn oder 15 Jahren ansteht, vorwegzunehmen. Niemand kann heute sagen, wie der konkrete Entscheidungsvorgang verfassungsrechtlich in zehn oder 15 Jahren stattfinden soll. Hier findet also in Wahrheit eine innenpolitische Auseinandersetzung und nicht eine Betrachtung der europäischen Materie statt, um die es hier tatsächlich geht. ({7}) Sie als Regierung werden - auch das müssen wir hier festhalten - dem Antrag der Koalitionsfraktionen folgen; Sie haben sich dazu erklärt und festgelegt. Dies ist Regierungshandeln. Sie als demokratisch legitimierte Bundesregierung werden im Dezember - daran gibt es keinen ernsthaften Zweifel - der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmen. Eines will ich dazu klar sagen: Ganz egal wie man dann zu dieser Entscheidung steht, diese Entscheidung bindet jede nachfolgende Regierung. ({8}) Das sage ich deshalb, weil ich es für völlig falsch hielte, wenn in Wahlkämpfen Nachhutgefechte stattfinden würden. Wenn Europa entschieden hat, dass es Beitrittsverhandlungen gibt, dann ist jede nachfolgende Regierung daran gebunden und dann können noch so viele Unterschriften gesammelt oder Proteste organisiert werden. Dann gilt die Zuverlässigkeit der deutschen Außenpolitik, für die die Freie Demokratische Partei steht. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkeidebatte, die wir gegenwärtig führen, ist im Kern - hier gebe ich Herrn Schäuble Recht - eine Debatte über die Frage, in welchem Europa wir leben wollen und auf welche gemeinsamen Werte dieses Europa gründet. Sie ist eine Debatte über die Frage, in welchem Deutschland wir leben und ob wir unsere multikulturelle und multireligiöse Realität akzeptieren oder uns ihr verweigern. Sie ist in der Tat eine Debatte über die Glaubwürdigkeit deutscher und europäischer Außenpolitik. Außerdem ist sie - dies sage ich gerade vor dem Hintergrund von populistischer Stimmungsmache und Brandstifterei - eine Debatte über die politische Kultur und den politischen Anstand in unserem Land. ({0}) Ich zitiere: Die Türkei gehört zu Europa. Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. Dies sagte nicht Romano Prodi vor zwei Wochen, sondern Walter Hallstein, der damalige Kommissionspräsident, anlässlich der Unterzeichnung des Ankara-Abkommens am 12. September 1963. Damit war Europa klar definiert. Gernot Erlers Zitaten, mit denen er in Erinnerung gerufen hat, was Herr Glos dereinst sagte, füge ich einen Satz hinzu, nämlich die Überschrift seiner Presseerklärung vom 17. Dezember 1997: Die Türkei darf auf dem Weg nach Europa nicht diskriminiert werden. Herr Hintze, dazu müssten Sie jetzt auch klatschen. Aber genau dies tun Sie jetzt: Sie diskriminieren die Türkei. ({1}) Herr Glos, erlauben Sie mir folgenden Satz - ich komme ja auch aus Bayern -: Sie machen Politik nach dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?“. ({2}) Heute hört sich nämlich alles, was Sie sagen, ganz anders an. Die CDU/CSU definiert die EU geographisch und kulturell ausgrenzend. Sie spricht von der nicht kompatiblen Türkei. Aber die politischen Werte der Europäischen Union sind nicht an eine bestimmte Religion oder Kultur gebunden, sondern an die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte und der Minderheitenrechte. Im EU-Verfassungsvertrag, Herr Glos und Herr Schäuble - Herr Schäuble weiß dies, er hat es heute nur nicht zitiert -, heißt es: Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die diese genannten Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen. Claudia Roth ({3}) ({4}) Also muss die Union auch einer demokratischen Türkei offen stehen. Genau dies wollen und unterstützen wir. ({5}) Über 40 Jahre dauert der lange Weg der Türkei in die EU. Immer wieder wurde versichert, bestätigt, beschlossen und bekräftigt, dass das Ziel die Vollmitgliedschaft sei. Was aber ist heute? War alles nicht so gemeint? War es etwa nur so lange gemeint, wie die konkrete Perspektive in weiter Ferne lag? Ihre privilegierte Partnerschaft, Frau Merkel und Herr Bosbach, ist kein Angebot an die Türkei, sondern eine Worthülse, wie Herr Rühe zu Recht gesagt hat. Sie bedeutet Stillstand und die Festschreibung des Status quo. Aus diesem Grunde kann die Türkei diese Perspektive nicht ernsthaft akzeptieren. ({6}) Die Empfehlung der Kommission, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, ist dagegen ein historisches Signal, dem der Europäische Rat am 17. Dezember hoffentlich zustimmen wird. Sie ist das wichtige Signal, dass die EU der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen und die ungeheure Dynamik der Veränderung nicht abbrechen darf. Dies riskieren Sie mit Ihrer privilegierten Partnerschaft ganz bewusst. Wir wollen diese Dynamik fortsetzen, die natürlich vor allem etwas mit einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive zu tun hat. Die Aufnahme von Verhandlungen, die zum Erfolg geführt werden sollen, ist ein wichtiger Schritt; dies wissen Sie ganz genau. Aber es gibt keinen Beitrittsautomatismus. Das haben wir immer gesagt und dabei bleiben wir auch. Lassen Sie uns wirklich von unseren deutschen Interessen sprechen. ({7}) - Ja, Herr Glos, Pawlow; wir reden jetzt von deutschen Interessen. - Wir haben ein ganz vitales Interesse an einer demokratischen Türkei. Wenn wir dieses Interesse haben, dann dürfen wir den Reformprozess doch nicht abbrechen, wir dürfen kein Risiko eingehen, ({8}) sondern wir müssen die Dynamik fortsetzen. ({9}) Vor kurzem - nicht heute -, Herr Schäuble, haben Sie im Fernsehen von den Reformen in der Türkei als reine Show gesprochen. Ich halte das für Zynismus, Herr Schäuble. Ich finde es zynisch, davon zu sprechen, dass die Abschaffung der Todesstrafe, das Folterverbot, das Zurückdrängen des Militärs, der Beginn der Anerkennung der kurdischen Realität - all das, wovon Gernot Erler gesprochen hat - Show sein soll.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Würden Sie mir bitte eine Stelle nennen, die belegt, wo ich in irgendeiner Weise etwas von dem gesagt habe, was Sie mir unterstellen? Nach meinem sicheren Wissen habe ich nie etwas Derartiges gesagt.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann Ihnen das gern sagen. Es ist eine Agenturmeldung nach einer Fernsehsendung bei Frau Illner, in der Sie über die Türkei gesprochen haben. ({0}) - Wenn es nicht stimmt, Herr Schäuble, können Sie es gern dementieren. ({1}) - Ich kann es Ihnen belegen. Ich reiche es Ihnen unmittelbar nach der Debatte nach, Herr Schäuble. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kolleginnen und Kollegen, bitte, Frau Kollegin Roth hat das Wort. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was ist daran schlimm? Was regen Sie sich auf? Ich werde es belegen. Es ist umso besser, wenn Herr Schäuble sagt, es ist keine Show. Dann muss man aber auch diesen Prozess fortsetzen. Genau das wollen wir auch, ({0}) und zwar in dem Sinne, wie es Guido Westerwelle gesagt hat. Nicht die Papierform der Gesetze entscheidet, sondern das, was implementiert wird. Weil wir implementieren wollen, unterstützen wir die Empfehlung der Claudia Roth ({1}) Kommission, in der gesagt wird, der Verhandlungsprozess verstärkt den Reformprozess und sichert die Demokratisierung der Türkei ab. Es liegt genau in unserem Interesse, den Demokratisierungsprozess unumkehrbar zu gestalten. Wir sprechen von unseren Interessen. Ein fundamentales deutsches Interesse ist gerade nach dem 11. September der Dialog der Kulturen und Religionen. Eine demokratische, säkulare, pluralistische Türkei mit einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung, die in die Europäische Union integriert ist, ist natürlich ein weltweites Signal, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch sind. Sie wäre damit auch für uns ein enormer Sicherheitszugewinn. ({2}) Jetzt möchte ich noch etwas zum Wirtschaftsflügel in der Union sagen. Die Heranführung der Türkei an die Europäische Union liegt im unmittelbaren Interesse auch und gerade der deutschen Wirtschaft. Es ist die deutsche Wirtschaft, die einen weiteren Ausbau der Beziehungen, strategische Partnerschaften und die Öffnung von neuen Märkten erwartet. Die deutsche Wirtschaft sagt: Eine integrierte Türkei ist ein stabiler und sicherer Ort für Investitionen. Hier liegt das Interesse der deutschen Wirtschaft. Ihre Ablehnung, werte Kollegen von der Union, ist ein dramatischer politischer Fehler. Ich halte Ihre Position nicht nur für außenpolitisch ignorant, sondern auch für innenpolitisch polarisierend. Sie bringt nicht ein Mehr an Sicherheit, sondern sie gefährdet im Kern Ihre eigenen ökonomischen Interessen. ({3}) Ich sage ihnen noch eines zum Abschluss: Herr Glos von heute verbreitet den Mythos von der Andersartigkeit und benutzt das bitterböse Bild der Überschwemmung. Herr Schäuble, wenn Herr Glos solche Positionen äußert, ({4}) ist das nicht das Ernstnehmen der Ängste der Menschen, ({5}) sondern das bewusste Schüren von Ängsten und Sorgen. ({6}) Das ist das Gegenteil von verantwortlicher Politik. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie betreiben nicht Integration, sondern Ausgrenzung. Sie können noch so viel hier herumschreien, das macht Ihre Politik keinen Deut besser. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Schreien, Kreischen und Verleumden, Frau Kollegin Roth, ({0}) werden wir der historischen Bedeutung der Entscheidung nicht gerecht, die hier zu treffen ist. Ich würde Ihnen zurufen: Mehr Kompetenz und weniger Emotionen! ({1}) Hans-Ulrich Wehler, ein Historiker aus Bielefeld, schreibt in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ unter der Überschrift „Verblendetes Harakiri“: „Der Türkei-Beitritt zerstört die EU“. Professor Heinrich August Winkler spricht von „Selbstzerstörung durch Überdehnung“. ({2}) Jochen Hoenig ruft im „Handelsblatt“ dazu auf, das Angebot zu widerrufen, den Beschluss zu korrigieren. ({3}) Stefan Ulrich spricht vom „Abschied von Europa“. Wir lassen uns nicht in eine Ecke drängen, in die wir nicht gehören, wie Sie das eben versucht haben, Frau Kollegin Roth. ({4}) CDU und CSU sind gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union; denn ein solcher Beitritt würde Europa und die Türkei überfordern. Nicht nur wir, sondern auch Egon Bahr, Helmut Schmidt und viele andere prominente Sozialdemokraten im Land, in Europa und in der Welt warnen vor dieser Entwicklung. ({5}) Ihr Eintreten für den EU-Beitritt der Türkei, Herr Kollege Fischer, ist der Ausstieg aus der Integration, ist der Abschied von der Humboldt-Rede: Humboldt ade. ({6}) Welche Auswirkungen oder Folgen hat die Aufnahme der Türkei für die Europäische Union? Vertiefung und Erweiterung, wie Sie es hier verkündet haben, gemeinsam voranzutreiben, ist eine politische Lebenslüge. Sie können nicht beides haben: die Erweiterung der Europäischen Union bis nach Kleinasien und die Vertiefung der politischen Strukturen hin zu einer politischen Union, zu einer politischen Regierung, zu einem politischen System, wie wir uns das vorstellen. Professor Heinrich August Winkler bringt dies in einem Aufsatz auf den Punkt - Sie wissen, er ist der Lieblingshistoriker von Bundeskanzler Schröder und seit 40 Jahren SPD-Mitglied -: Wer glaubt, die EU könne neben dieser historischen Herausforderung - gemeint ist die Integration der neuen mittelosteuropäischen Beitrittsstaaten auch noch die Integration der Türkei bewältigen, gibt sich einer Illusion hin. Ein Großeuropa von Lappland bis zu Euphrat und Tigris wäre ein Koloss auf tönernen Füßen, räumlich groß, aber politisch handlungsunfähig. ({7}) Sie sehen, international ist Ihr Kurs in Politik und Wissenschaft höchst umstritten und umkämpft. Die Türkei ist unser Freund und Partner. Wir wollen diese Freundschaft zu einer privilegierten Partnerschaft weiterentwickeln. Wir wollen den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, den kulturellen Dialog, wir wollen den Ausbau der Sicherheitspartnerschaft. Mit der Türkei als NATO-Partner gibt es überhaupt keine Probleme. Herr Außenminister, Sie haben ein neues Hilfsargument, den D-Day. Ich denke bei D-Day an etwas anderes. Nach dem 11. September nehmen Sie jetzt den D-Day als Sicherheitsargument. Es gibt überhaupt keine Probleme bei der Zusammenarbeit mit der Türkei bezüglich der Bekämpfung des Terrorismus im Inneren und Äußeren. Dazu ist eine Vollmitgliedschaft nicht notwendig. ({8}) Die Türkei erfüllt weder heute noch morgen die politischen Kriterien, ({9}) die in Kopenhagen festgelegt worden sind. Wir haben uns eigentlich vorgegeben, dass es erst nach Erfüllen dieser Kriterien zu Beitrittsverhandlungen kommen wird. Die für die Währungsunion vorgegebenen Kriterien brechen Sie im Nachhinein. Hier brechen Sie die Kriterien bereits im Vorhinein. ({10}) Die Türkei gehört weder geographisch noch kulturell zur Europäischen Union. ({11}) Frau Roth, Ankara missachtet die Menschenrechte. ({12}) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei diese Woche in drei Fällen verurteilt. Liebe Frau Kollegin Roth, ich erinnere mich noch daran, wie Sie vor einigen Jahren vor türkischen Gefängnissen geweint haben. ({13}) Angesichts der Berichte von Amnesty International wäre diese Empörung jetzt angemessen. ({14}) Lesen Sie das Interview, das die Generalsekretärin von Amnesty International, Frau Lochbihler, in dieser Woche gegeben hat. Darin wurde Sie gefragt, in welchem Ausmaß in türkischen Gefängnissen gefoltert wird. Herr Außenminister, dazu haben Sie gesagt, dass es in diesem Bereich wirklich große Erfolge gegeben habe; denn es sei keine Systematik der Folter mehr erkennbar. Die Antwort von Frau Lochbihler allerdings lautete: ({15}) „Da gibt es nur Schätzungen. Aber wir von Amnesty International wissen von 600 Fällen allein im vergangenen Jahr.“ Meine sehr verehrten Damen und Herren, über diese Zustände sollten Sie sich empören! ({16}) Nun komme ich auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Seit dem Jahr 2003 kommen die meisten Asylbewerber in Deutschland aus der Türkei. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums haben vom Jahr 2003 bis zum August dieses Jahres 12 000 Menschen aus der Türkei Asyl in Deutschland beantragt. Ich frage Sie: Warum ist das so? Lehnen Sie diese Asylanträge ab? Schicken Sie die türkischen Asylbewerber ab Dezember zurück? ({17}) Wenn es die von mir angesprochenen Verhältnisse nicht gibt, dann bedarf es hier in Deutschland auch keiner Asylgewährung. ({18}) Herr Außenminister, Sie haben nicht verhindert, dass es durch die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft dazu kam, dass heute 50 000 Türken illegal einen deutschen Pass besitzen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, einen Moment bitte. Frau Kollegin Roth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Roth. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir kennen uns ja schon lange. Herr Kollege Müller, haben Sie gehört, dass ich gesagt habe, dass es zwar große Reformen gibt, dass sie aber nicht ausreichen, wenn sie nur auf dem Papier stehen? Jetzt geht es darum, sie auch zu implementieren. Das Folterverbot muss bis in die letzte kleine Polizeistation mit null Toleranz umgesetzt werden. Ist Ihnen, Herr Kollege Müller, bekannt, dass sämtliche Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen - die Menschenrechtsstiftung, der Menschenrechtsverein, Amnesty International und andere - der Auffassung sind, dass der weitere Prozess der Integration der Türkei in die Europäische Union im Sinne einer Verbesserung der Menschenrechtssituation dringend notwendig ist, dass sie also genau das Gegenteil von dem sagen, was Sie hier behauptet haben? ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Roth, ich habe Sie an Ihre Vergangenheit erinnert, ({0}) als Sie vor türkischen Gefängnissen zu Recht geweint haben. ({1}) Ich würde mir wünschen, dass Sie auf die Wirklichkeit in der Türkei, die ich beschrieben habe, auch heute aufmerksam machen. ({2}) Eines der Kopenhagener Kriterien ist die Einhaltung der Standards der in der Europäischen Union gültigen Menschenrechte. Dieses Kriterium ist eindeutig und nachhaltig verletzt. Der Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen kann somit schon deshalb nicht im Dezember erfolgen, weil das Kriterium der Einhaltung der Menschenrechte nicht erfüllt ist. ({3}) Es ist der SPD zu trivial, über die Kosten des Beitritts zu sprechen, die auf 30 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt werden. Aber die Menschen in unserem Land erwarten eine Antwort auf die Frage: Wer soll einen möglichen Beitritt der Türkei bezahlen? ({4}) Darüber hinaus müssen wir auch die Migrationsängste der Menschen berücksichtigen. Zum Schluss möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen. Herr Außenminister, es ist eine Legende - an der Sie bereits heute im zuständigen Ausschuss stricken und an der Sie auch in Zukunft stricken werden -, wenn Sie vor die deutsche Bevölkerung treten und sagen, dass lediglich ein Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen getroffen worden sei. Meine Damen und Herren, im Jahre 1999 hat der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs innerhalb von nur drei Minuten - das stelle man sich einmal vor, Herr Bundeskanzler - den Beschluss gefasst, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. ({5}) Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen. Im Dezember wird man nun den nächsten Schritt machen und dem deutschen Volk verkünden: Es wird fünf, es wird zehn, es wird 15, es wird 20 Jahre dauern, bis wir diesen Wechsel einlösen wollen und müssen. Sie stricken da an einer Legende! Wenn wir den nächsten Schritt gehen, dann müssen wir auch glaubwürdig gegenüber der Türkei bleiben; Herr Westerwelle hat dies angesprochen. ({6}) Dann steht in fünf oder in acht Jahren der Beitritt bevor. Sie können diesen Irrweg jetzt im Dezember noch stoppen. Gehen Sie diesen Weg nicht! Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Angelica SchwallDüren. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen begrüßen die Absicht der Bundesregierung, am 17. Dezember 2004 im EuroDr. Angelica Schwall-Düren päischen Rat für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen, Beitrittsverhandlungen mit dem eindeutigen Ziel, sie zum Erfolg zu führen. Wie ist die Haltung der CDU/CSU in dieser Frage? Sie bieten ein beschämendes Bild: widersprüchlich, populistisch, unverantwortlich. ({0}) Trotz weitgehender Übereinstimmung in der strategischen Begründung für einen möglichen Beitritt der Türkei hat die CDU/CSU aus innen- und parteipolitischen Gründen den gemeinsamen Weg verlassen. Der entscheidende Dissens besteht zwischen Vollmitgliedschaft und dieser nebulösen „privilegierten Partnerschaft“. Dieser Meinungswandel seitens der CDU/CSU ist nicht nur bedauerlich, er bedeutet auch die Aufkündigung des innerhalb der Bundesrepublik bislang herrschenden europapolitischen Grundkonsenses. Die CDU/CSU untergräbt die Glaubwürdigkeit deutscher und europäischer Politik, und das in einer Zeit, in der der wirtschafts- und gesellschaftspolitische Wandel der Türkei so stark ist wie nie seit der Gründung der modernen Türkei durch Kemal Atatürk. ({1}) Die CDU/CSU verabschiedet sich endgültig von der überzeugenden europapolitischen Argumentation des ehemaligen Bundeskanzlers Kohl, der 1997 zum Abschluss des Sondergipfels des Europäischen Rates in Luxemburg ausführte - ich darf zitieren -, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance hat, der Europäischen Union beizutreten. Heute stößt die CDU/CSU ausgerechnet die türkische Partei zurück, die die größten Reformschritte innerhalb kürzester Zeit vollzogen hat und die als konservative Partei der CDU/CSU nahe steht. Ich will nicht verhehlen, dass die CDU/CSU in ihrem Antrag auch auf Risiken aufmerksam gemacht und durchaus berechtigte Sorgen ausgedrückt hat. Bei näherer Betrachtung können sie aber ausgeräumt werden. Denn wenn man Risiken zu sehr betont, verhindert man, dass man die Chancen nutzt. Die CDU/CSU vergisst die Chancen. Der Antrag der CDU/CSU weist zudem Widersprüche auf. Aus Sicht der Opposition ist die Türkei ein bedeutender und verlässlicher Partner des Westens, ein wichtiges Mitglied der NATO und bereits heute eng mit der EU verbunden, gleichzeitig eine wichtige Brücke zur islamischen Welt und zum Nahen und Mittleren Osten. Es scheint die CDU/CSU gar nicht zu interessieren, was sie in ihrem eigenen Antrag geschrieben hat. Sie fordert, dass die Türkei anstelle der Vollmitgliedschaft diese „privilegierte Partnerschaft“ bekommen soll. Wo ist da die Logik? „Für den Fall, dass der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen dennoch beschließen sollte“ - so die CDU/CSU -, sollen „diese Verhandlungen im Sinne der Empfehlung der EU-Kommission ausdrücklich ergebnisoffen geführt werden“. Genau das ist doch der Punkt. Deswegen ist das, was Sie vorschlagen, nämlich von vornherein eine Alternative anzubieten, ein billiger Trick, den die Türkei durchschaut und was Sie mit diesem unausgefüllten Begriff ja auch zum Ausdruck bringen. ({2}) Meine Kollegen und Kolleginnen, ich muss noch einmal auf Herrn Glos zurückkommen. Herr Glos hält eine Volksabstimmung zu diesem Thema für nötig, ({3}) weil er meint, es handele sich um die Preisgabe dessen, was wir unter Deutschland verstanden haben und verstehen. ({4}) Deutschtümelnd malt er eine riesige Einwanderungswelle an die Wand und prophezeit eine noch raschere Verlagerung von Arbeitsplätzen in die Türkei. ({5}) Das ist eine Politik, die zur Verunsicherung führt und die mit der Angst der Menschen arbeitet. Herr Glos, das müssen wir ganz entschieden zurückweisen. ({6}) Der Kollege Erler ist auf diese Passage ja schon eingegangen. In diesen Minuten ging eine Ticker-Meldung über den Äther, in der sich Herr Glos zur morgigen Unterzeichnung des Verfassungsvertrages äußert. ({7}) Auch hier formuliert er: Es ist beschämend, dass die Bundesregierung praktisch keinerlei deutsche Interessen in die Verhandlungen eingebracht hat. ({8}) Sie behaupten, der größte Mangel dieses Verfassungsvertrages bestehe darin, dass unklar sei, für wen er gelten solle. ({9}) Herr Glos sagte weiter: Wenn die Türkei … tatsächlich Mitglied der EU wird, würde der Grundgedanke Europas verraten … ({10}) Ein EU-Beitritt der Türkei wäre der Untergang der Europäischen Union, wie wir sie bisher kennen. ({11}) Herr Glos, das was Sie hier machen, ist unanständig und schürt die Fremdenfeindlichkeit. Das ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen. ({12}) Was hat dagegen die Kommission getan? Die Kommission hat genau das getan, wozu sie beauftragt war. Ich glaube, wir sollten dem Kommissar Verheugen für seine intensive Arbeit danken. Er hat den Fortschrittsprozess in der Türkei mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sorgfältig überprüft und ein sehr differenziertes und abgewogenes Urteil zum Ausdruck gebracht. Deswegen ist der qualifizierte Ja-Vorschlag der EUKommission zu begrüßen, der drei Säulen beinhaltet. Ich meine, dass insbesondere die dritte Säule sehr wichtig ist, nämlich die Einbeziehung der türkischen und der europäischen Gesellschaft in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dialog; denn die bevorstehende Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bringt auch die Frage nach den Konturen und der Substanz der Europäischen Union auf die politische Agenda. Herr Schäuble, die Kommission trägt mit ihrer Vorlage den Bedenken einer Überforderung seitens der EU Rechnung. Worauf kommt es nämlich an? Es kommt in der Tat nicht nur darauf an, dass die Türkei ihre Reformen durchführt, sondern es geht auch darum, dass die EU unverzichtbare Veränderungen durchlaufen muss. Die Kopenhagen-Kriterien schließen ja die Stoßkraft der europäischen Integration ebenfalls mit ein. Es ist aber auch wichtig, zu sagen: Die Verstärkung der Integration der Europäischen Union ist zunächst völlig unabhängig von einem möglichen Beitritt der Türkei zu sehen; denn die Handlungsfähigkeit nach innen und nach außen muss auch im Rahmen der jetzigen 25 Mitglieder gestärkt werden. ({13}) Deshalb brauchen wir die Ratifizierung des Verfassungsvertrages unbedingt. ({14}) Die Verfassung ist aber nur die Grundvoraussetzung. Sie allein entscheidet nicht darüber, ob es zu einer weiteren Integration kommt, geschweige denn, ob sich die EU zu einer politischen Union weiterentwickelt. Wir stehen nach 50 Jahren vor der Aufgabe, auf dem Weg zu einer erneuten Erweiterung wieder eine Vertiefung zustande zu bringen. Das wird uns sehr viel Kraft abverlangen. Wir werden diesen Weg im klugen Handeln Schritt für Schritt gehen müssen. Dazu braucht es die ungeteilte Kraft der Europäischen Union und eines jeden Mitgliedstaates. Die Bundesregierung handelt hier in hohem Maße verantwortungsbewusst und zukunftsorientiert. ({15}) Die von der CDU/CSU anfänglich zögerlich, mittlerweile aber brutal vorgetragene Ablehnung eines Türkeibeitritts verhindert mehr und mehr die Herausbildung eines politischen Wir-Gefühls. Dies kann aber nur entstehen, wenn große Herausforderungen gemeinsam angenommen werden. Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Glos: Stehlen Sie sich nicht aus dieser Verantwortung! ({16}) Auf das große deutsche und europäische Interesse an einem Türkeibeitritt haben verschiedene Kollegen und Kolleginnen schon hingewiesen. Ich will noch einige wenige Punkte nennen. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen würde durch seine inklusive und nachbarschaftliche Symbolik auch den politischen Extremismus schwächen, sowohl bei uns wie in der Türkei. Er würde durch die ökonomische und soziale Entwicklung an Ort und Stelle den Migrationsdruck senken; denn bisher haben alle Beitrittsperspektiven regelmäßig eher zu Rückwanderungs- als zu weiteren Zuwanderungstendenzen geführt. Diese Entwicklung würde dem Entwestlichungstrend in Gestalt des neoosmanischen Islamismus durch Stärkung des laizistischen Staates entgegenwirken. ({17}) In diesem Zusammenhang ist Dan Diner zuzustimmen, der 2002 formuliert hat: Zudem würden mit dem Beitritt der Türkei jene Elemente miteinander verwoben, für die das föderierte Europa einmal stehen dürfte: Für die Säkularisierung historischer, einer kulturellen Tradition verpflichteter Gemeinwesen auf der Grundlage universeller Menschenrechte, Pluralismus und Demokratie; für eine sich zunehmend als unteilbar erweisende Sicherheit; und natürlich für den alles miteinander verknüpfenden Wohlstand. Unsere Bevölkerung fragt sich, ob die Probleme mit der Größe der Türkei, ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und ihrer Fremdheit größer sind als die, die es im Umgang mit den jetzt beigetretenen Staaten zu lösen gilt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Das ist natürlich heute noch nicht zu sagen. Aber die Mitgliedstaaten entscheiden entgegen dem, was Sie immer wieder behaupten, gemeinsam, wie viele Finanzmittel sie zur Verfügung stellen können und wollen, um die Türkei weiter an die EU heranzuführen und die Unterschiede im Lebensstandard abzubauen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, ich hatte Sie gebeten, zum Schluss zu kommen.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin wirklich bei meinem letzten Satz, Herr Präsident. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sagen wir einmal, dem auf der vorletzten Seite.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Türkei ihrerseits springt auf einen fahrenden Zug auf. Am 17. Dezember wird zwar nicht die Entscheidung über einen Beitritt fallen. Aber wir wollen, dass die Beitrittsverhandlungen erfolgsorientiert geführt werden. Auf diesem Weg muss viel geleistet werden, in der Türkei und in der EU. ({0}) Machen wir uns an die Arbeit! ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Wenn überhaupt, dann steht er real irgendwann zwischen 2015 und 2020 auf der Tagesordnung, also in 15 Jahren. In 15 Jahren kann sehr viel passieren. Wer das nicht glaubt, schaue doch einfach einmal 15 Jahre zurück. Damals entfaltete die so genannte Wende im Osten Deutschlands ihre Wirkung. Das war kaum vorhersehbar und somit auch schwer kalkulierbar. Ein Beitritt der Türkei zur EU aber wäre kalkulierbar und er wäre auch gestaltbar. ({0}) Deshalb verstehe ich auch gar nicht die künstliche Aufregung, die von der CDU/CSU derzeit verbreitet wird. ({1}) Ich bin erleichtert, dass Sie von der Union wenigstens die Unterschriftenaktion gegen den Beitritt der Türkei abgeblasen haben. Aber wir wissen auch alle: Die CDU gehört zu den Rückfalltätern, wenn es darum geht, gegen Ausländer Stimmung zu machen. Insofern stehen Sie unter Bewährung. ({2}) Hinzu kommt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Man kann nicht einerseits Volksabstimmungen in der Bundesrepublik ablehnen und zugleich andererseits eine Volksabstimmung über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union fordern. ({3}) Die PDS im Bundestag fordert seit langem mehr Demokratie. Insofern sind wir allerdings auch gespannt, ob Rot-Grün mit seinen jüngsten Ankündigungen zu diesem Thema diesmal Ernst machen wird. Nun zurück zum Thema der heutigen Debatte: Es ist politisch legitim und auch üblich, dass die einen für einen EU-Beitritt der Türkei plädieren - jedenfalls unter bestimmten Bedingungen - und dass andere - ebenfalls begründet - dagegen sind. Nur eines geht nicht: Man kann nicht alle Vierteljahre die Argumente wechseln, mit denen man dagegen ist. Genau das aber machen CDU und CSU. Einmal ist die Türkei nicht europäisch genug, dann ist sie nicht christlich; einmal sind die türkischen Werte falsch, ein anderes Mal die Geschichte. So verheddern Sie von der Union sich immer wieder in Widersprüche. Erinnern wir uns: Als die Bundesrepublik schnell billige Arbeitskräfte brauchte, da konnten die Türken nicht schnell genug kommen. Als aber später die Ostdeutschen dazukamen, wurden die hier lebenden Kurden und Türken in die dritte Reihe geschickt. Wenn es um die NATO geht, dann ist die deutsch-türkische Wertegemeinschaft so groß und so inniglich, dass es völlig egal ist, nach welcher Konfession die jeweiligen Militärseelsorger predigen. ({4}) Wenn es aber um die EU geht, dann scheinen die kulturellen Differenzen unüberwindbar. ({5}) Diese Doppelzüngigkeit der CDU/CSU schafft nicht nur außenpolitische Verstimmungen. Sie belastet auch das Miteinander hierzulande. Sie signalisiert Millionen türkischen Bürgern - mit deutschem oder ohne deutschen Pass -: Ihr gehört eigentlich nicht dazu. Genau das findet bei jenen Beifall, die Deutschland ohnehin über allen und allem wähnen, schon wieder oder immer noch. Natürlich gibt es handfeste Gründe, mit Skepsis auf die Türkei zu schauen. Die Missachtung von Bürgerrechten gehört nach wie vor dazu, ebenso die vielfache Geringschätzung von Frauenrechten oder ungelöste Konflikte mit dem kurdischen Volk. Ich finde, wir alle, auch Rot-Grün, müssen uns davor hüten, diese Probleme kleinzureden. ({6}) Aber man darf nicht mit zwei Maßstäben wägen. Wenn es hierzulande um Bürger- und Frauenrechte geht, dann sieht man die CDU/CSU ganz selten vorantraben, übrigens auch in der EU nicht. Im Gegenteil! Im Übrigen hatte die Bundesrepublik einen CDU-Kanzler, als vor nunmehr 40 Jahren der Türkei eine mögliche Mitgliedschaft in der EU zugesagt wurde. Auch damals lag Istanbul am Bosporus und nicht irgendwo. ({7}) Wenn die Opposition zur Rechten nun sagt „Nicht mit uns!“, dann wird sie wortbrüchig und schlägt ohne Not eine historische Tür zu. Das will die PDS im Bundestag nicht. Bleibt noch das Angebot der privilegierten Partnerschaft. Die CDU bietet sie der Türkei als Ersatz für eine EU-Mitgliedschaft an. Seit sie damit hausieren geht, stelle ich mir allerdings die simple Frage: Für welches Land haben eigentlich CDU und CSU eine unprivilegierte Partnerschaft in petto? Wie soll es also in den Beziehungen zu den Nachbarn weitergehen, ganz egal, ob sie in der EU sind, hineinstreben oder auch nicht? ({8}) Außerdem hätte ich heute gern einmal gehört, wie die privilegierte Partnerschaft eigentlich aussehen soll. ({9}) Frau Merkel, wenn dieses Modell wirklich so gut ist, warum probieren Sie es nicht einfach aus und leben es uns vor, zum Beispiel mit Herrn Stoiber oder Ihrer Schwesterpartei CSU? ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt den Bericht und die Empfehlung der EU-Kommission, zu klar definierten Bedingungen die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union aufzunehmen. Die Bundesregierung wird auf dem Europäischen Rat im Dezember der Aufnahme der Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zustimmen. Wer den Bericht gelesen hat, weiß, dass dieser Bericht allen Bedenken - vor allen Dingen, was die Schlussfolgerungen über das weitere Verfahren betrifft - Rechnung trägt. ({0}) Ich meine, dass die Kommission damit hervorragende Arbeit geleistet hat, und möchte dem verantwortlichen Kommissar, Günter Verheugen, auch namens der Bundesregierung nochmals unsere Hochachtung und unseren Dank aussprechen. ({1}) Wenn man der Debatte sorgfältig folgt und die Polemik beiseite lässt - auch wenn sich dazu vieles anmerken ließe -, wird deutlich, dass es einen Konsens über die Bedeutung des Themas, unbeschadet der Frage nach möglichen Konsequenzen, gibt. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass es auch mit der CDU/CSU einen Konsens über die Bedeutung der Türkei für Europa und die europäische Sicherheit gibt. ({2}) Diese Bedeutung war die Grundlage für die 1963 in der Regierungszeit von Konrad Adenauer getroffene Entscheidung von Walter Hallstein - sie wurde damals in einer beeindruckenden Rede dargelegt -, der Türkei langfristig auch die Vollmitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu versprechen. Es war Michael Glos, der 1997 darauf hingewiesen hat, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges nichts an dieser strategischen Bedeutung geändert hat. ({3}) Nach dem 11. September 2001 bin ich davon ausgegangen, dass wir gemeinsam die Position vertreten, dass im Kampf gegen den Terrorismus nicht nur die Zerstörung seiner Netzwerke im Zentrum stehen sollte, sondern dass es vor allem um die Transformation der muslimisch-arabischen Welt geht, damit sie an den Grundwerten der Moderne und an der sich globalisierenden Weltwirtschaft teilhat und - statt sie als von außen übergestülpt zu empfinden - einen eigenen Modernisierungsweg einschlagen kann. ({4}) Ich war auch der Meinung, dass wir unbeschadet der Entscheidung über die Vollmitgliedschaft hinsichtlich der Bedeutung der zukünftigen Entwicklung der Türkei eine gemeinsame strategische Position vertreten haben. Wenn dies aber der Fall ist, dann müssen Sie sich fragen lassen, meine Damen und Herren von der Union und Frau Vorsitzende Merkel, warum Sie jetzt, nach 40 Jahren, in dem Wissen um die Konsequenzen eines Nein - ungeachtet dessen, wie Sie dieses Nein verpacken werden; ob als privilegierte Partnerschaft oder wie auch immer - diese Wende vornehmen, nachdem Ihre Partei vier Jahrzehnte lang eine ganz andere Politik verfolgt hat. ({5}) Lassen Sie mich auf die Konsequenzen dieser Haltung eingehen. Kollege Schäuble hat sinngemäß ausgeführt - ich teile diese Auffassung nicht, aber ich akzeptiere, dass sie durchaus ernst gemeint ist -: Die Türkei gehört nicht zu Europa; sie gehört weder kulturell noch politisch und historisch zu Europa. ({6}) - Meinetwegen auch geographisch. - Das ist doch der Kern Ihrer Position. Ich teile sie nicht, aber sie muss ernsthaft diskutiert werden. ({7}) Herr Kollege Schäuble, Sie wissen doch genau, welche Konsequenz es hätte, wenn wir Ihnen folgen würden: Wir würden die Verhandlungen nicht aufnehmen. Deswegen frage ich Sie noch einmal: Warum vertreten Sie diese Position jetzt, nach 40 Jahren? Sie sprechen davon, dass es jetzt ein glaubwürdiges Angebot geben sollte. Haben denn Konrad Adenauer und Helmut Kohl keine glaubwürdigen Angebote vorgelegt? ({8}) Lassen Sie mich noch einmal auf die Geschichte zurückkommen. Gerade die politische Geschichte, die im Wesentlichen durch die Kontinuität der Haltung der Bundesregierungen geprägt wurde, spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Walter Hallstein hat am 12. September 1963 gesagt: Getragen von den gleichen Vorstellungen, werden sie - die beiden Parteien, nämlich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Türkei gemeinsam überlegen, wie sie diese im Rahmen der Assoziation verwirklichen können. Und eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, daß wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. Nun kommt das Argument, die heutige Europäische Union sei eine andere. So wurde das von der Kollegin Merkel vorgetragen, wenn ich mich richtig entsinne. Kollegin Merkel, ich weiß zwar im Moment nicht, ob Sie damals ad personam in der Regierung waren - das kann durchaus sein -, aber es war die Regierung Kohl, in deren 16 Jahren der Übergang von der EWG zur EU Gestalt angenommen hat und wesentlich geprägt wurde. Herr Schäuble war dabei in wechselnden Funktionen tätig. Hat dieser Übergang zu einer Änderung Ihrer Haltung geführt? Definitiv: Nein. ({9}) - Nein, das ist keine Rabulistik. ({10}) Nach Aufforderung durch den Europäischen Rat von Luxemburg vom Dezember 1997 - das fällt also noch in die Zeit der Regierung Kohl - verabschiedete die Kommission die Mitteilung über eine „Europäische Strategie für die Türkei“, in der nochmals unterstrichen wird, was letztendlich in der Kontinuität aller Bundesregierungen steht. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates heißt es: Der Europäische Rat bekräftigt, daß die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt. Das Beitrittsersuchen der Türkei wird auf der Grundlage derselben Kriterien untersucht wie im Falle anderer Bewerberstaaten. Obwohl die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, auf Grund deren Beitrittsverhandlungen in Betracht gezogen werden können, nicht gegeben sind, hält es der Europäische Rat für wichtig, eine Strategie zur Vorbereitung der Türkei auf den Beitritt festzulegen, und zwar durch eine Annäherung an die Europäische Union in allen Bereichen. Daraufhin verfasste Herr Glos eine nun wirklich historisch zu nennende Presseerklärung: Die Türkei darf auf dem Weg nach Europa nicht diskriminiert werden. ({11}) Wortwörtlich heißt es in der Presseerklärung von Michael Glos: Es ist nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Interesse, die Türkei an Europa zu binden. An der Schwelle Europas, im Schnittpunkt der Krisenregionen des Nahen und Mittleren Ostens, war die Türkei über Jahrzehnte ein verlässlicher Partner und Freund der Deutschen. ({12}) - Sehr gut! Klatschen Sie ruhig weiter. Weiter heißt es: Die Bedeutung der Türkei für die Sicherheit Europas besteht über das Ende des Ost-West-Konflikts hinaus. Es dient nicht europäischen Interessen, wenn die Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Übertaktieren vor den Kopf gestoßen wird. ({13}) Gleich werden Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, hoffentlich wieder klatschen, wenn es heißt: Für Europa und die Türkei muss klar sein, dass ein türkischer Beitrittsantrag grundsätzlich an den gleichen Kriterien gemessen wird wie der jedes anderen europäischen Staates. ({14}) Weiter heißt es: Angesichts der Dimensionen ist die Heranführung der Türkei an Europa sicher eine größere und schwierigere Aufgabe als in jedem anderen Fall. Das kann aber nur bedeuten, dass die Anstrengungen größer, die Fristen großzügiger bemessen sein müssen. Am Ziel darf es keinen Zweifel geben. ({15}) Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister Fischer, darf ich Sie darauf hinweisen, dass die vereinbarte Redezeit abgelaufen ist? Nach der Verfassung und der Geschäftsordnung dürfen Sie natürlich länger reden. Dann haben aber die Fraktionen das Recht, die Debatte wieder zu eröffnen.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident, ich weiß das.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich wollte Sie nur darauf hinweisen.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident, vielen Dank für diesen Hinweis. Es geht aber weiter, ({0}) weil die Geschichte wichtig ist. Die „FAZ“ hat Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl in einem Interview am 22. Januar 2004 gefragt: Die eigentliche Frage aber bleibt die geographische Grenze. Sie sagen, die Türkei könne Mitglied der EU werden, vorausgesetzt, sie erfüllt die Kriterien. ({1}) Antwort: Das haben wir immer gesagt. ({2}) - Ich sehe, dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, unruhig sind. Es bleibt aber dabei: Das sind vier Jahrzehnte kontinuierlicher Türkeipolitik von CDU/ CSU und den von ihr gestellten Bundesregierungen. Herr Kollege Schäuble, das ist keine Rabulistik. Vielmehr haben Sie die Voraussetzungen dafür geschaffen - das ist wichtig -, dass die Türkei zu Recht die Frage stellt: Wenn wir alle Bedingungen - die beiden Teile der Kopenhagener Kriterien - erfüllen, haben wir dann einen Anspruch auf Vollmitgliedschaft oder nicht? Die Zusagen, die Sie gemacht haben, können Sie nicht einfach zurücknehmen. Das geht vielleicht in der Opposition. Wenn aber die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit dies machen würden, dann würde das Nein bedeuten. Das hätte - das wissen Sie auch - fatale sicherheitspolitische und strategische Konsequenzen. Das ist der entscheidende Punkt. ({3}) Frau Merkel, Sie könnten mit dem Vorschlag, den die Kommission gemacht hat, eigentlich leben. ({4}) Sie können lediglich nicht damit leben, dass, was das Ziel angeht, nicht ergebnisoffen verhandelt werden soll. Dass der Entscheidung kein Automatismus zugrunde liegt, steht im Kommissionsbericht. Es sind genügend Safeguards eingebaut. Sie wissen: Es geht nicht nur um das Verhandeln, sondern auch um das Umsetzen, das Implementieren, das heißt um reale Veränderungen in den Köpfen und in der gesellschaftlichen Realität. ({5}) Sie wissen: Es sind genügend Benchmarks eingebaut. Das heißt in Bezug auf die Finanzfragen: Es ist doch völlig klar, dass man keine Eins-zu-eins-Übertragung vornehmen kann, und das weiß die türkische Seite angesichts der Größe der Herausforderung. Es wird jährlich einen Bericht zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien geben. Durch diesen Bericht wird bei der Umsetzung ein permanenter Druck, vor allen Dingen was die Bereiche Menschenrechte, Gleichstellung der Frauen, Justiz und gesellschaftliche Praxis angeht, ausgeübt. Es gibt also, was das Ergebnis angeht, keinen Automatismus; aber im Hinblick auf das Ziel sind wir einig: Die Verhandlungen werden in Richtung Beitritt und nicht in Richtung privilegierte Partnerschaft geführt. So steht es im Bericht der Kommission. Wir haben diese Debatte oft genug geführt. Ich verstehe, dass es ernsthafte Einwände gibt. Ich teile diese Einwände zwar nicht; aber man muss sich mit ihnen auseinander setzen. Sie können es sich allerdings nicht so einfach machen. Wenn ich die „FAZ“ heute richtig gelesen habe, dann sehe ich ein neues Problem auf Sie zukommen. ({6}) - Nicht auf uns. ({7}) Wir werden für die Ratifizierung der EU-Verfassung eine Zweidrittelmehrheit brauchen. Die Kollegin Merkel hat diese Verfassung und vor allen Dingen den Beitrag, den Ministerpräsident Teufel und Herr Altmaier dazu geleistet haben, hier in verschiedenen Reden sehr gelobt. ({8}) Auch Sie - auch Herr Altmeier - haben diese Verfassung gelobt. Heute hören wir plötzlich, dass ein weiterer Kurswechsel - sozusagen aus dem Überraschungsei bevorsteht. Das werden wir uns in Ruhe anschauen. Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Vertiefung und Erweiterung, das ist keine Frage des EntweBundesminister Joseph Fischer der-oder. Die Tatsache, dass sich die gesellschaftliche Realität im internationalen Staatensystem mit dem 11. September 2001 grundsätzlich verändert hat, ist jetzt offensichtlich geworden. Wir stehen vor einer großen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Nimmt man sämtliche Faktoren wie die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten - im Iran droht eine neue Krise - und die Entwicklung des Terrorismus im Irak zusammen, erkennt man, dass ein Nein zum Beitritt der Türkei in dieser Situation extrem kurzsichtig und gegen die Interessen, auch die Sicherheitsinteressen, unseres Landes und Europas gerichtet wäre. Die Frage, ob Europa dies aushalten wird, werden wir dann zu entscheiden haben, wenn wir die Integrationsfortschritte Europas tatsächlich sehen. Eines ist aber klar: Wenn Sie der Verfassung nicht zustimmen, dann werden Sie sich schon von einer Perspektive der Integration der EU der 25 verabschieden. Deswegen glaube ich nicht, dass Sie dieser Verfassung nicht zustimmen werden. Die Fragen, die Sie hier aufwerfen, betreffen nicht die Türkei, sondern die EU der 25. Sie müssen in diesem Rahmen beantwortet werden. Wie eine europafähige Türkei aussieht, ob die Ängste von Herrn Glos, die er in maßloser Überziehung darstellt, noch vorhanden sein werden, ob die Türkei zu Europa passen wird und wie dieses Europa aussehen wird, diese Fragen sind genau dann zu beantworten, wenn sie sich stellen. Es gibt keinen Automatismus. Wir reden hier über eine Perspektive von zehn bis 15 Jahren. Man wird dann mit kühler Vernunft und auch auf der Grundlage der europäischen Zusagen zu entscheiden haben. Ich persönlich bin mir sicher - das ist meine Überzeugung -: Wenn die Türkei diese Reformfortschritte macht, dann wird es am Ende ein Ja geben. Wenn der Prozess stagniert, dann kann die Kommission mit Mehrheit beschließen, die Verhandlungen zu unterbrechen. Wenn der Prozess in die Gegenrichtung läuft, dann können die Verhandlungen sogar abgebrochen werden. Frau Merkel, unterm Strich könnten Sie diesem Beschluss doch klar zustimmen. Allerdings würde dann Ihr Laden auseinander fliegen und deswegen tun Sie es nicht. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat soeben Herr Parlamentspräsident Kosmo aus Norwegen mit seiner Delegation Platz genommen. ({0}) Herr Präsident Kosmo, wir begrüßen Sie und Ihre Delegation sehr herzlich, wünschen Ihnen einen aufschlussreichen Besuch im Deutschen Bundestag, auch wenn dieser nur kurz sein wird, darüber hinaus einen schönen Aufenthalt in Berlin und alles Gute für Ihr parlamentarisches Wirken in der Zukunft. Vielen Dank für Ihren Besuch. ({1}) Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen nun mitteilen, dass von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP beantragt worden ist, die Debatte noch einmal aufzunehmen. Ich schlage vor, dass jede Fraktion zusätzlich einen Redner mit fünf Minuten Redezeit stellen kann. ({2}) - Ich höre gerade, dass dies nicht auf die Zustimmung der Geschäftsführer trifft. Dann bitte ich die Geschäftsführer, eine Redezeitvereinbarung zu treffen. ({3}) Ich kann das nicht von mir aus tun. Ich habe einen Vorschlag gemacht. Er wurde nicht akzeptiert. Wir fahren dann zunächst in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSUFraktion. Bitte schön, Herr Hintze. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede des Herrn Bundesaußenministers war heute in jeder Hinsicht aufschlussreich. ({0}) Am interessantesten fand ich die Zitate über unseren Kollegen Michael Glos; ({1}) denn das, was Sie uns hier heute ausführlich vorgelesen haben, lieber Herr Bundesaußenminister, dokumentiert nichts anderes als die Europa- und Türkeifreundlichkeit unseres Kollegen Michael Glos; die haben Sie damit nachgewiesen. ({2}) Es geht also in der Debatte nicht um die Frage, ob jemand europafreundlich ist oder nicht, es geht nicht um die Frage, ob jemand türkeifreundlich ist oder nicht, sondern es geht um die Frage: Wie können wir für die Türkei und für Europa den besten Weg zu einer guten Zusammenarbeit, zu einer guten Partnerschaft finden? Darüber streiten wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Nun hat der Kollege Westerwelle eine interessante Einschätzung gegeben, die ich Ihrer Aufmerksamkeit anempfehle. Er hat hier vorgetragen, die Türkei sei heute nicht beitrittsfähig und die EU sei heute nicht aufnahmefähig, aber man solle Beitrittsverhandlungen eröffnen. Er hat damit die Hoffnung verbunden, dass sich das zum Positiven ändern werde. Habe ich Sie da richtig verstanden, Herr Kollege? ({4}) - Gut. Wenn aber die Türkei heute nicht beitrittsfähig ist und wenn die Europäische Union heute nicht aufnahmefähig ist, ({5}) dann fehlt nach Geist und Buchstaben des EU-Vertrags jede, aber auch jede Begründung dafür, sich in dieser Situation in Beitrittsverhandlungen hineinzustürzen; ({6}) denn, verehrte Zwischenruferinnen Roth und Sager, die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ist absolut Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Es wäre ein gefährliches politisches Experiment mit den Gefühlen der Türken und mit der realen Situation der Europäischen Union, wenn man sich in eine Verhandlung hineinbegäbe, an deren Anfang noch nicht einmal die Grundvoraussetzung, nämlich die prinzipielle Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, stünde. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hintze, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hintze, Sie waren so freundlich, auf meine Ausführungen Bezug zu nehmen. Sie haben gesagt, wenn heute die Beitrittsfähigkeit nicht gegeben sei, so dürften auch die Beitrittsverhandlungen nicht aufgenommen werden. Da Sie das in einen Zusammenhang mit meinen Ausführungen gestellt haben, erlaube ich mir, in einer Frage einen Widerspruch anzumelden. Können Sie mir irgendein Land nennen, das der EU beigetreten ist, zum Beispiel in diesem Jahr, das bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen beitrittsfähig war? ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr jubelt zu früh, bleibt einmal ganz entspannt. ({0}) Der Kollege Westerwelle hat sich nämlich leider verhört. Ich habe gesagt, die Aufnahmefähigkeit ist die Grundvoraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Als wir mit Polen, Estland, Lettland, Slowenien und Ungarn verhandelt haben, war die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union für diese Länder voll gegeben. ({1}) Heute sagen selbst Sie mit Blick auf die Türkei, die Aufnahmefähigkeit sei noch nicht gegeben. Genau da liegt der Unterschied, Herr Kollege Westerwelle. ({2}) Jetzt kommt der Bundesaußenminister und beschwört die Kontinuität. Er hat uns dazu viel vorgelesen und sagt in Richtung unserer Vorsitzenden, wir hätten eine Wende vollzogen. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn eine politische Kraft in diesem Hause in der Türkeifrage eine Wende vollzogen hat, dann ist das Rot-Grün, niemand anders. Das will ich jetzt erläutern. ({4}) Es wurden Adenauer und Kohl zitiert und es wurde auf jahrzehntelange Kontinuität der Bundespolitik verwiesen. Herr Schäuble, Frau Merkel und andere sind genannt worden. ({5}) Was haben denn alle früheren Regierungen gemacht? All diese Regierungen haben erkannt, dass wir gute und freundschaftliche Beziehungen zur Türkei benötigen, dass aber eine Vollmitgliedschaft eine Überdehnung darstellen würde. ({6}) Deswegen gilt von Adenauer bis Kohl und von Merkel bis Schäuble - ({7}) - Ehe Sie hier schreien „Wo denn?“, lassen Sie mich erst einmal die Frage beantworten. In all den Jahrzehnten, die Sie für Ihre These der Kontinuität anführen, sind andere Formen der ZusammenarPeter Hintze beit gewählt worden, nämlich von der Assoziierung bis zur Zollunion, ({8}) und eben nicht die Vollmitgliedschaft. Die Ergebnisse des Luxemburger Gipfels, die Herr Fischer zitiert hat, hat er, wie bei ihm üblich, unvollständig zitiert. In Luxemburg wurde 1997 ein Aufnahmeantrag in die Europäische Union aus dem Jahre 1987 ablehnend beschieden, genau wie im Jahre 1963 der Mitgliedsantrag aus dem Jahre 1957 abgelehnt wurde. ({9}) - Frau Roth, zu Ihnen komme ich auch noch. - Die Kontinuität deutscher Politik bestand darin, dass alle Regierungen - Bundeskanzler Helmut Schmidt hat uns ja noch einmal daran erinnert, ihr Lieben ({10}) erkannt haben, dass eine Vollmitgliedschaft Europa überfordert und dass eine gute Partnerschaft auf anderem Wege zu suchen ist. Das Modell einer privilegierten Partnerschaft - die Kollegen von der SPD und den Grünen wollten ja wissen, wie das aussieht; diesen Wissensdurst will ich gerne stillen - liegt von uns übrigens ausbuchstabiert bis ins Letzte vor, Herr Kollege Erler. ({11}) - Da brauchen Sie doch nicht zu schreien. Erst zitiert Frau Roth Herrn Schäuble falsch, ({12}) dann schreien Sie, wenn ich es Ihnen richtig darstelle. ({13}) Wir haben in unserem Antrag die privilegierte Partnerschaft als Verhandlungsziel genannt, aber darauf verzichtet, dem Europäischen Rat ein bestimmtes Modell vorzuschreiben, dass er eins zu eins übernehmen muss. Sie können doch nicht übersehen, dass in vielen Staaten Europas mittlerweile sogar Teile der politischen Linken sagen: Das, was die CDU/CSU in Deutschland vorgeschlagen hat, ist für Europa und für die Türkei gut. Wenn sich der Herr Bundeskanzler beim Besuch von Herrn Erdogan hinstellt und ausdrücklich jede andere Form der politischen Zusammenarbeit ausschließt und beschwörungshaft formuliert, es dürfe nur um den Beitritt und um nichts anderes gehen, dann handelt er unverantwortlich und schadet Deutschland. ({14}) Wenn man nämlich die Brücken hinter sich abreißt, muss man sich fragen, wer in den Graben fällt, falls doch ein Rückzug fällig ist. ({15}) Ihre Rede, Frau Kollegin Roth, fand ich übrigens sehr interessant. In früheren Zeiten haben Sie in diesem Hause, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Gesellschaft, die uns in der Türkei gegenübertritt, und die Gesellschaft, die wir in Europa kennen, grundlegend voneinander unterscheiden. ({16}) Ich bin auch sehr erstaunt darüber, dass heute über all das, worüber immerhin die Medien in Deutschland noch dankenswerterweise berichten, also über Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde, über die Situation und die Stellung der Frau, die Zahl der Folterungen auf Polizeistationen und andere Dinge - Kollege Müller hat hierzu interessante Ausführungen gemacht -, praktisch gar nicht mehr gesprochen wird. ({17}) Noch ein kurzer Hinweis zu dem Missverständnis des Kollegen Westerwelle: Die Beitrittsfähigkeit im wirtschaftlichen Sinne muss nach den vertraglichen Grundlagen natürlich erst am Ende da sein; aber die Demokratiefähigkeit muss schon am Anfang vorhanden sein. ({18}) In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, dass es bei uns Tausende von Anträgen türkischer Staatsbürger auf Asyl gibt. ({19}) Für die, die sich nicht ständig damit beschäftigen: Asyl wird als Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt. Außerdem gibt es andere Punkte, die in anderen Debatten in diesem Haus angesprochen werden. Wir befinden uns zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union in der Situation, dass ein Staat Mitglied der Europäischen Union werden will, der mit seinen Soldaten und seinen Truppen völkerrechtswidrig einen Teil eines anderen Staates der Europäischen Union besetzt hält. ({20}) Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, müsste das erste Kooperationszeichen der Abzug der Truppen aus Nordzypern sein. ({21}) - Ich freue mich, dass auch der Kollege Gerhardt im Namen der FDP diesen Gedanken unterstützt. ({22}) Meine Damen und Herren, vielleicht kann ich ja im zweiten Teil der Debatte den zweiten Teil meiner Rede vortragen. ({23}) - Die SPD hat es offenbar noch nicht verstanden. Das ist auch nicht verwunderlich. - Aber ich hoffe, schon im ersten Teil meiner Rede ist deutlich geworden, dass wir -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist aber abgelaufen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann, Herr Präsident, danke ich denen, die mir zugehört haben, ({0}) und den anderen empfehle ich dringend, meine Rede nachzulesen. Schönen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zunächst weise ich Sie darauf hin, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Debatte um eine halbe Stunde verlängert wird, wobei die Redezeitverteilung wie üblich ist. Allerdings verzichtet die Union auf zwei Minuten zugunsten der FDP, die dann fünf Minuten Redezeit hat. ({0}) Zweitens muss ich aufgrund des Protokolls feststellen, dass der Kollege Michael Glos die Kollegin Claudia Roth während ihres Debattenbeitrages als „Verleumderin“ bezeichnet hat. ({1}) Ich sehe mich gezwungen, darauf hinzuweisen, dass es unparlamentarisch ist, eine Kollegin oder einen Kollegen des Hauses direkt herabzusetzen. ({2}) Auch in einer emotionalisierten Debatte sollte man sich an den parlamentarischen Sprachgebrauch halten. ({3}) Das gehört nun einmal zu der Disziplin, der wir uns alle zu unterwerfen haben. Ich bitte, das damit zu beenden. Jetzt setzen wir die Debatte fort. Der nächste Redner ist der Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Hintze, wie hoch muss Ihnen das Wasser stehen, dass Sie eine solche Debatte nutzen, um derartige Drohszenarien zu entwerfen und mit Verunglimpfungen und Unterstellungen zu arbeiten! Ich kann das einfach nicht nachvollziehen. ({0}) Wenn ich die Vorsitzende Ihrer Partei und Fraktion sehe, wie sie da neben ihren Männern sitzt, habe ich manchmal den Eindruck, dass sie denkt: Was soll ich da eigentlich? Was geht da für ein Spiel ab? Das möchten wir heute demaskieren. Ich möchte hier namens der SPD noch einmal Folgendes deutlich machen. Wir haben - wie bei allen anderen Prozessen der EU-Erweiterung in der Vergangenheit - gesagt: Am Anfang können noch nicht alle Bedingungen erfüllt sein; es ist ein Prozess, in dem sich die Dinge entwickeln. So war es auch bei den osteuropäischen Ländern. In der Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle ist das vorhin erwähnt worden. Sie erinnern sich, glaube ich, nicht mehr an Nizza. In Nizza wollten wir eine nicht nur graduelle, sondern eine sehr intensive Vertiefung erreichen. Zu dem damaligen Zeitpunkt haben wir das leider nicht geschafft. Trotzdem haben wir den osteuropäischen Ländern, um sie nicht länger hinzuhalten, eine Perspektive aufgezeigt und ihnen als Datum das Jahr 2004 genannt. Dadurch ist der Prozess beschleunigt worden. Das war die richtige Strategie. ({1}) Alle hier im Hause - zumindest wir von der Koalition - warten auf die Vorstellung des Modells einer privilegierten Partnerschaft. ({2}) Was ist das eigentlich? Sie reden immer nur in Versatzstücken. In einem Autohaus kann ich mir Modelle anschauen. Sie aber stellen uns Ihr Modell nicht vor. Sie reden nur über den Begriff „privilegierte Partnerschaft“. Die Kollegin Pau hat vorhin zutreffend gesagt, dass Sie mit diesem Ausdruck vielleicht nur Ihre Beziehung untereinander beschreiben wollen, aber nicht das, was Sie in Bezug auf die Türkei konkret vorhaben. ({3}) Ich wiederhole die Frage: Warum gab es während der 16-jährigen Regierungszeit von Herrn Kohl zu keinem Zeitpunkt eine Veränderung Ihrer Position? All das, was wir heute diskutieren, hat es damals in ähnlicher Form gegeben. Plötzlich - aufgrund einer für Sie anderen Situation - greifen Sie dieses Thema auf. ({4}) Wir sagen ganz bewusst - ich will das deutlich herausstreichen -: Wir wollen, dass die Türkei auf dem eingeschlagenen Weg vorangeht und den Prozess der Demokratisierung fortführt. Es kann von Ihnen doch in keiner Weise geleugnet werden, dass sich im politischen und im gesellschaftlichen Bereich vieles verändert hat. Wenn Herr Müller immer davon spricht - Herr Müller beschreibt sozusagen von der Alm aus bestimmte Szenarien; so kennen wir ihn mittlerweile ({5}) - nein, nichts gegen die Alm im Allgemeinen, aber gegen seine Alm -, was da alles noch passieren kann, dann muss ich Sie fragen: Haben Sie nicht einmal zur Kenntnis genommen, wie viele positiven Veränderungen es etwa im Bereich des Strafrechts in der Türkei gegeben hat? ({6}) Es hat in den letzten Monaten auch positive Veränderungen hinsichtlich der Rolle der Frau und der Sanktionen bei Ehrenmorden gegeben. Wir sind uns doch alle darin einig, dass es in diesen Bereichen eine Nachhaltigkeit geben muss. Es kann nicht sein, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Gesetz beschließt und vielleicht auch kommentiert, es aber nicht in die Praxis umsetzt. Ich denke, die Türkei wird daran gemessen werden. Wir setzen die Hoffnung darauf, dass es einen nachhaltigen Prozess gibt. Ich kann Ihnen auch aufgrund von Gesprächen mit türkischen Kolleginnen und Kollegen berichten - auch mit Kolleginnen und Kollegen Ihrer vielleicht künftigen Schwesterpartei AKP -, dass sie immer wieder betonen: Wir gestalten den Prozess in Richtung mehr Menschenrechte für die Menschen in unserem Land und nicht in erster Linie deswegen, um gewisse Kriterien der Europäischen Union zu erfüllen. Denn auch die Bürgerinnen und Bürger in der Türkei sollen Grundrechte besitzen. - Das ist ein ganz wichtiger Fortschritt. ({7}) Ich möchte noch auf einen Bereich zu sprechen kommen, der nicht nur bei uns, sondern auch in benachbarten Ländern eine Rolle spielt. Wir verbinden mit diesem Prozess eben auch die Hoffnung - das ist seit Helsinki und Kopenhagen deutlich geworden -, dass die Regierung der Türkei auch im Hinblick auf die Zypernfrage weiterhin eine aktive Rolle einnimmt. Dass sie das bisher getan hat, kann von keiner Seite geleugnet werden. Wir hoffen, dass das weiterhin so bleibt. Es sind sicherlich noch weitere Zeichen der türkischen Regierung möglich. Ich denke, die Türkei ist flexibel genug, dies zu tun. Es besteht weiterhin die Notwendigkeit, über die türkischen Truppen auf Nordzypern zu sprechen. Ich will an dieser Stelle auch die Frage aufgreifen - diese Frage spielt weniger bei uns eine Rolle als bei unserem Partner Frankreich -, wie sich die Türkei bezüglich der Verfolgung der Armenier und des Genozids an den Armeniern verhält. Dies ist ein wichtiges Thema. Angesichts der Tatsache, dass sich in Kürze Vertreter der Türkei mit Gruppen von Armeniern treffen werden, um über dieses Thema zu sprechen, muss ich fragen: Was wollen wir eigentlich mehr, als dass man sich zusammensetzt und sich der historischen Verantwortung bewusst wird? ({8}) Ich möchte in diesem Haus für das werben - man muss die betreffende Stelle im Protokoll einmal nachlesen, weil sie im Beifall vielleicht untergegangen ist -, was Herr Schäuble vorhin gesagt hat. Ich habe seine Äußerung so verstanden, dass auch er eine Beitrittsperspektive sieht. Er hat nur die Schlussfolgerung gezogen, dass es möglicherweise eine wie auch immer ausgestaltete privilegierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der Europäischen Union geben kann, wenn diese Verhandlungen nicht zum Erfolg führen. Diese Haltung, den ergebnisoffenen Prozess mitzugestalten, unterscheidet sich meines Erachtens wohltuend von den Äußerungen, die von der CSU verbreitet worden sind. Herr Glos, abgesehen von Ihrem Ausrutscher und der Verleumdung in der gestrigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ frage ich mich manchmal: Warum haben Sie denn heute nicht das Wort ergriffen und verkündet: „Ich stehe zu dem, was ich 1997 gesagt habe“? Das ist nämlich genau die Politik, die heute von dieser Koalition auf den verschiedensten Ebenen gemacht wird. Sie aber wollen vergessen machen, was Sie vor wenigen Jahren gesagt haben. Es wäre natürlich ein Zeichen von Führung, wenn die Fraktionsvorsitzende sagen würde: Ich will, dass meine Fraktion bei diesem Thema einmütig ist und sich zu einem solchen Prozess bekennt, wie ihn die Europäische Union begonnen hat. Aber dazu ist Frau Merkel nicht in der Lage. ({9}) Ich glaube, der Prozess, den die Europäische Union der 25 am 17. Dezember dieses Jahres eröffnen wird, ist ein wichtiges Zeichen für die Türkei. Wir sollten, wie wir das auch bei der letzten Erweiterung um zehn Länder getan haben, innenpolitische Ängste - diese gibt es natürlich - und Hinweise auf Risiken ernst nehmen. Aber es ist Aufgabe der Politik, diese Ängste nicht noch durch nicht vorhandene Argumente zu verstärken, sondern klar zu sagen, was durch die Politik leistbar ist. ({10}) Herr Müller, Sie können noch so häufig in diesem Parlament von Mehrbelastungen des EU-Haushaltes in Höhe von 40 Milliarden bzw. 50 Milliarden Euro sprechen. Eindeutig ist - das wird immer wieder gefordert -, dass sich die finanzielle Vorausschau der Europäischen Union für die Zeit nach 2006 verändern wird, dass die Sachpolitiken, zum Beispiel die Landwirtschafts- und die Strukturpolitik, überprüft und andere Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Die Zahlen, die vorhin von der CDU/CSU genannt worden sind, werden dann nicht zutreffen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Sicherlich müssen wir auch unseren türkischen Freunden sagen - denn Sie schüren hier Zuwanderungsangst -: ({11}) Ihr müsst die Binnenwanderung im eigenen Land in den Griff bekommen und genauso, wie wir es getan haben, bestimmte Regionen, die heute unterentwickelt sind, fördern, damit die Wanderung innerhalb der Türkei nicht nur in Richtung Westen, nach Ankara und Istanbul, vonstatten geht. Das ist eine wichtige Aufgabe. Dem ist nicht mit Drohszenarien, Verleumdungen, Unwahrheiten und Unterstellungen zu begegnen, sondern mit Information und Aufklärung. Dazu wollen die SPD und die Koalition auf jeden Fall ihren entscheidenden Beitrag leisten. ({12}) - Sie, Herr Glos, haben nur eines im Sinn: zu vernebeln. Das liegt Ihnen besonders. Danke. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wissen vom dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen, dass auch Joschka Fischer lange Zeit gegen eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU war. ({0}) Ohne die übrigen EU-Partner zu informieren, hatte Rasmussen während der dänischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2002 einem Fernsehteam erlaubt, bei allen Gelegenheiten zu filmen. Fast immer trug er ein kleines Mikrofon an seinem Revers. ({1}) Es war versteckt; niemand wusste davon. Die Gespräche wurden aufgezeichnet. ({2}) Als der Beitrag darüber 2003 im dänischen Fernsehen lief, war die Aufregung groß. Denn in dieser Fernsehsendung fragt der dänische Außenminister Møller seinen Chef Rasmussen: Habe ich dir schon gesagt, dass Joschka Fischer innerhalb von zwölf Stunden zum Thema Türkei/EU drei verschiedene Meinungen verkündet hat? ({3}) Weiter erfuhr die Öffentlichkeit, dass Fischer - jedenfalls zeitweise - die Auffassung vertreten habe, dass unbedingt die eine oder andere Form der Angliederung unterhalb der EU-Mitgliedschaft - wir nennen das privilegierte Partnerschaft - gefunden werden müsse. ({4}) Herr Fischer, wenn wir heute eine privilegierte Partnerschaft verkünden, Sie aber ausweislich des Mikrofons ({5}) diese Aussagen damals gemacht haben, dann kann das, was wir heute in dieser Debatte vertreten, nicht so ganz dumm sein. ({6}) Meine Damen und Herren, es ist doch eindeutig - darüber besteht nirgendwo im Haus Streit; wir sollten gegenüber der Türkei auch nicht so tun, als gäbe es darüber Streit -: Wir alle wollen, dass die Türkei unser Freund und Partner ist. Wir alle würdigen, was sie für uns in der Zeit des Kalten Krieges, aber auch jetzt bei der Stabilisierung des Südostens von Europa geleistet hat. Wir alle wollen und müssen hier mit den Türken friedlich zusammenleben. Sie bereichern uns auf vielfältige Weise. Wir wollen nicht polarisieren, ({7}) wir wollen die Türkei nicht wegstoßen, sondern wir wollen sie im Gegenteil an uns, an Europa, anbinden, weil die geopolitische Stabilität, die von einer solchen Anbindung ausgeht, für uns alle wichtig ist. Darüber besteht in diesem Hause Einigkeit. Versuchen Sie nicht, hier einen künstlichen Streit über Dinge vom Zaun zu brechen, bei denen wir alle einer Meinung sind! Diesen Eindruck der Türkei zu vermitteln ist eine falsche Politik. ({8}) Wir alle wollen freundschaftliche Beziehungen mit der Türkei. Die Frage ist nur, ob es der Maßstab einer ehrlichen Freundschaft ist, ({9}) dass man möglichst bald für Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft der Türkei eintritt. Dies scheint mir nicht der Fall zu sein. Vielmehr heißt der Maßstab, ob man der Türkei ehrliche, überschaubare und präzise Angebote für die nächsten Jahre macht. Jetzt anzubieten, dass man verhandelt und abwartet, wie es in 15 Jahren aussehen wird, ist keine faire Politik gegenüber der Türkei. Dann werden nämlich 15 Jahre lang Erwartungen aufgebaut. ({10}) Anschließend gibt es in Frankreich ein Referendum und die ganze Sache stürzt ab. Wir haben demgegenüber ein Modell entwickelt, das neben dem Scheitern und der von Ihnen angestrebten Vollmitgliedschaft auch das Angebot einer privilegierten Partnerschaft enthält. Warum nehmen Sie dieses Modell nicht an? Nur, weil es von der CDU/CSU kommt? ({11}) Inzwischen wird doch in ganz Europa darüber diskutiert. Die gesamte französische Nationalversammlung ist dafür. Schreiben Sie diesen Vorschlag doch in das Papier hinein und machen Sie ihn sich zu Eigen. ({12}) Es ist wichtig, dass wir die Türkei nicht irgendwann scheitern lassen. Vielmehr müssen wir sie auffangen. Dafür brauchen wir Institutionen. Hierfür ist der Gedanke der privilegierten Partnerschaft genau der richtige. Warum sind denn die französischen Sozialisten dafür? Warum können nicht auch Sie dafür sein? Diese Politik, die Türkei nicht ins Leere stürzen zu lassen, wird vielleicht einmal sehr wichtig sein, wenn wir nicht wollen, dass sie sich den Islamisten zu- und von Europa abwendet. Daher sollten Sie die privilegierte Partnerschaft in den Beschluss des Rates hineinschreiben. Meine Damen und Herren, nicht nur wir von der Union stellen kritische Fragen im Hinblick auf den baldigen Verhandlungsbeginn. Giscard, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Hänsch sowie aus Ihrer Fraktion Klose und Meckel haben völlig legitime und wichtige Fragen gestellt: Überfordern wir die EU mit dem, was wir hier tun? Wolfgang Schäuble, Peter Hintze und Gerd Müller haben dies vorhin schon zum Ausdruck gebracht. Die EU muss in der globalisierten Welt handlungsfähig sein. Wir wollen und müssen doch mit einer Stimme sprechen, wenn wir in der internationalen Politik Gewicht haben wollen. Tun wir dies? Wir tun es schon jetzt kaum. ({13}) Schon jetzt gibt es in der EU überall Desintegrationsund Überdehnungstendenzen. Der Stabilitätspakt wird nicht mehr eingehalten. Es ist fraglich, ob wir den Verfassungsvertrag in Europa unter Dach und Fach bekommen. So vieles ist inzwischen in der EU fragil geworden! Wir haben noch überhaupt keine Erfahrungswerte, wie sich die Aufnahme der zehn neuen Länder auf den Integrationsprozess auswirkt. ({14}) In einer so unklaren Situation nicht einem Land wie Litauen oder Luxemburg, sondern einem riesigen, stolzen Land wie der Türkei ein immerhin sehr weit reichendes Angebot zu machen scheint mir eine nicht verantwortbare Politik und ein schwerer Fehler zu sein. ({15}) Wahrscheinlich helfen Sie damit Herrn Erdogan in den nächsten ein, zwei Jahren. Es ist ein gutes Motiv, ihm bei seinem Reformprozess zu helfen. Aber wir haben die Sorge, dass sich die Türken langfristig enttäuscht fühlen werden - spätestens nach dem französischen Referendum - und wir damit islamistischen Tendenzen in der Türkei Vorschub leisten werden. Der gesamte gut gemeinte Prozess würde kontraproduktiv, wenn die Islamisten in der Türkei gestärkt und nicht geschwächt werden sollten. ({16}) Sie wollen mit dem Prozess der Integration in die EU den Reformprozess in der Türkei stabilisieren. Das ist für sich genommen ein gutes Argument, natürlich wollen wir das alle. Ist es aber auch ein ausreichendes Argument für die Vollmitgliedschaft? Müssen wir nicht auch an unsere Interessen und an die Handlungsfähigkeit der Union denken? Haben Sie vielleicht einmal darüber nachgedacht, ob der Integrationsprozess auch dazu führen kann, Destabilisierungstendenzen in der Türkei zu fördern? Ich habe bei meinem Besuch in der Türkei im Mai auch mit Islamisten gesprochen. ({17}) Die Islamisten in der Türkei haben sehr klar gesagt: Wir wollen alle, dass die Türkei in die EU kommt, damit wir endlich den Kemalismus und das Kopftuchverbot in der Türkei überwinden können. Herr Gül, der Außenminister, verkündet das im türkischen Fernsehen und führt aus: Wenn wir Verhandlungen mit der EU führen, kann uns niemand mehr eine islamistische Partei in der Türkei verbieten. Das heißt, es könnte - natürlich ungewollt - umgekehrt ablaufen. Der EU-Integrationsprozess könnte in der Türkei Auswirkungen haben, die wir nicht wollen, er könnte den alten Laizismus in der Türkei, die Trennung von Staat und Religion, erst infrage stellen. Deswegen, glaube ich, ist es völlig legitim, dass wir besorgte und kritische Fragen an Sie richten und nicht einfach sagen: Wir sind gute Menschen, wir wollen die Türkei und wir wollen Stabilität, deswegen nehmen wir sie auf. Wir müssen sehr vorsichtig und verantwortungsvoll mit dieser äußerst wichtigen Sache umgehen. ({18}) Das tut meine Fraktion und ich denke, das ist eine Aufgabe für uns alle in diesem Parlament. Die Türkei ist unser Freund; daran wird nicht gerüttelt. Deshalb sollten Sie in Ihrem eigenen Interesse oder in dem Interesse, das Sie zu haben vorgeben, ({19}) nicht die Mär verbreiten, dass wir irgendjemanden wegstoßen und in Europa nicht dabeihaben wollen. ({20}) Das ist Unsinn, dagegen verwahren wir uns. Wir wollen eine stabile, gute und europaorientierte Türkei. Deswegen machen wir das Angebot der privilegierten Partnerschaft. ({21}) Schreiben Sie es doch einfach hinein und tun Sie das, was die Europäische Kommission sagt. Die Europäische Kommission gibt Ihnen in ihrem Bericht eine gute Vorlage. ({22}) Sie schreibt: Selbst wenn die Verhandlungen mit der Türkei scheitern sollten, muss die Türkei in europäischen Strukturen aufgefangen werden. Diese Aussage kann man ebenfalls in privilegierte Partnerschaft übersetzen. Die Türkei muss aufgefangen werden. Tun wir das doch! Bereiten wir das jetzt schon für den Fall des Scheiterns vor, sodass wir in diesem Fall ein eigenes Modell haben. In diesem Sinne bitten wir Sie herzlich darum, nicht zu polarisieren, ({23}) sondern ganz vernünftig und sachlich das Thema zu beraten. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir, SPD und Grüne, haben in den 80er- und 90er-Jahren alles daran gesetzt, die Regierung Helmut Kohl abzulösen. Wir wollten Helmut Kohl ablösen, weil er reformunfähig war, ({0}) weil er Probleme ausgesessen hat und weil er eine riesige Staatsverschuldung aufgehäuft hat. ({1}) Wir freuen uns darüber, dass wir dies 1998 geschafft haben. ({2}) Wir haben trotz der Fehler, die Helmut Kohl aus unserer Sicht gemacht hat - die Ablösung der Regierung Kohl war historisch überfällig -, eines immer anerkannt: Er war ein großer Europäer. ({3}) Wir haben die Leistungen Helmut Kohls für Europa als historische Leistungen anerkannt. Die Türkeipolitik, über die wir heute sprechen, war Teil der europäischen Politik Helmut Kohls. ({4}) Deshalb reden wir heute auch über das Vermächtnis von Helmut Kohl und ich kann die heutige Debatte nur in einem Sinne begreifen: Die CDU/CSU erbt den negativen Anteil der Ära Kohl, nämlich die Reformfeindlichkeit, und Rot-Grün erbt den positiven Anteil, nämlich die vorwärts weisende Europapolitik. ({5}) Dies ist eine der Lehren dieser Debatte. Ich frage mich, warum es jetzt zu diesem Kurswechsel innerhalb der Union kommt. Er ist angesichts der Intensität, mit der die Union 40 Jahre lang die richtige Politik betrieben hat, eigentlich gar nicht zu begreifen. Ich kann mir das nur psychologisch erklären, ({6}) nämlich in dem Sinne, dass der Übervater in jeder Hinsicht in den Hintergrund gedrängt werden und man sich damit auch krampfhaft von den Politiken absetzen muss, die eigentlich richtig gewesen sind. Warum geben Sie das positive historische Vermächtnis von Helmut Kohl preis und betreiben diese - letztlich auch innenpolitisch motivierte - Politik gegen die Türkei? Das ist völlig unverständlich. ({7}) Sie geben sie preis unter dem Scheinargument, mehr Optionen und mehr Verhandlungsoffenheit haben zu wollen. Es mag ja sein - wir wissen um die Risiken des Verhandlungsprozesses -, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt herausstellt, dass es nicht geht. Dann sind vielleicht Notlösungen gefragt. Wenn man aber bereits heute über Notlösungen und Trostpreise redet, ist das nichts anderes, als dass man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang setzt, und zwar mit dem heimlichen Willen, dass die Verhandlungen scheitern. Ich unterstelle Ihnen: Sie wollen, dass der Verhandlungsprozess scheitert. Deshalb reden Sie sein Scheitern heute herbei. Deshalb reden Sie heute über Notlösungen und Trostpreise und tun so, als seien dies positive Perspektiven. ({8}) Wir werden uns dieser sich selbst erfüllenden Prophezeiung entgegenstellen. Wir sind für einen hinsichtlich des Ergebnisses festgelegten Prozess. Wir wollen, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Wir wissen aber um all die Risiken. Darüber braucht uns niemand zu belehren. Gerade wir Grünen haben uns mit der Menschenrechtslage in der Türkei in den letzten 20 Jahren, seit wir im Bundestag sind, sehr intensiv und kritisch auseinander gesetzt. Wir haben aber auch gelernt: Es bringt nichts, ein solches Land in die Isolation zu treiben. Es ist das Ergebnis einer integrativen Außenpolitik, dass die Türkei dabei ist, sich mit außerordentlich bemerkenswerten Schritten in Richtung Demokratie zu entwickeln. Diese Tendenz wollen wir weiter unterstützen. Wir wollen dies auch im Hinblick auf Sicherheitsinteressen, die nach dem 11. September 2001 stärker geworden sind. Dies ist nicht das prioritäre Motiv für den Beitritt der Türkei; aber es ist eine zusätzliche Motivation. Wir können doch nicht über die desaströse Lage im Irak, über die Gefährdungen, die vom Iran ausgehen, über den immer noch ungelösten Nahostkonflikt reden, ohne uns Gedanken darüber zu machen, ob nicht die Europäische Union endlich eine dritte Dimension, eine strategische Dimension braucht, die sie in die Lage versetzt, als strategisch handelnder Akteur Einfluss auf diese Regionalkonflikte zu nehmen. Wenn man über diese dritte Dimension der europäischen Politik nachdenkt, über die strategische Dimension, begreift man sofort, dass der Türkei dabei eine Schlüsselrolle zukommt. Deshalb gehört es zu den Schlüsselprojekten auch der deutschen Sicherheitspolitik, die Türkei so weit in den europäischen Kontext bis hin zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union zu integrieren, dass sie ihre Scharnierfunktion, nämlich ein laizistischer, gleichwohl islamisch geprägter Staat und eine entsprechende Gesellschaft zu sein, zwischen dem so genannten Westen und der arabisch-islamischen Welt wahrnehmen kann. Eine Türkei an unserer Seite, eine Türkei eng verzahnt mit uns, hat für uns unschätzbare sicherheitspolitische Vorteile. Wenn wir die Türkei heute brüskieren, wie die Union das mit ihrem Nein machen will, treiben wir sie ins Niemandsland. Wir Rot-Grünen werden verhindern, dass die Ängste, die hier geschürt werden, dazu führen, dass man die Chancen aus dem Auge verliert. Wir finden, gerade angesichts des internationalen Terrorismus ist es höchste Zeit, dass wir die Chancen ergreifen, die zum Dialog der Kulturen wirklich bestehen. Das ist der Fall und dafür setzt sich Rot-Grün ein. Danke. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, da wir schon die Gelegenheit haben, einige Minuten länger darüber zu diskutieren, auf einige Punkte eingehen, die in dieser Debatte eine Rolle gespielt haben. Es ist über die Beitritt- und Aufnahmefähigkeit gesprochen worden. Wer würde behaupten wollen, dass die Türkei heute beitrittsfähig wäre? Das ist weder unter politischen noch unter wirtschaftlichen Kriterien der Fall. Betrachten wir die letzte Erweiterungsrunde, als zehn Länder der Europäischen Union beitraten, und seien wir ehrlich: Waren wir uns, aus heutiger Perspektive, zu Beginn der Verhandlungen immer sicher, dass die Beitrittskandidaten alle politischen und wirtschaftlichen Kriterien erfüllen? Die wirtschaftlichen Kriterien waren sowieso nicht immer erfüllt, die politischen allerdings auch nicht immer. Zur Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union - auf dieses Kriterium hat auch mein Kollege Westerwelle aufmerksam gemacht - ist zu sagen, dass die Europäische Union heute insbesondere aus zwei Gründen zweifellos nicht aufnahmefähig ist: Erstens. Wir arbeiten noch immer auf der Basis des Vertrages von Nizza. Auf dieser Basis ist eine Mitgliedschaft der Türkei eindeutig nicht möglich. Deswegen - nicht nur, aber auch deswegen - brauchen wir die Verfassung. Zweitens. Ohne eine Reform der Europäischen Union an Haupt und Gliedern, insbesondere hinsichtlich der Gemeinschaftspolitiken, ist die Europäische Union nicht aufnahmefähig. ({0}) Daher müssen wir diese Reform der Europäischen Union mit Engagement, Kraft und Ambition angehen. Meine Damen und Herren, wenn man Beitrittsverhandlungen aufnimmt, muss man ehrlich sein. Wenn die Bedingungen, die man selbst stellt, erfüllt sind, und wenn die Verhandlungskapitel erfolgreich abgeschlossen werden können - es mag viel Skepsis geben, ob das gelingen wird -, dann darf man nicht die mentale Reservation haben, dass man den Beitritt trotzdem nicht will. Aus diesem Grunde heißen die Verhandlungen Beitrittsverhandlungen und nicht etwa Sondierungsverhandlungen über die zukünftige Zusammenarbeit. ({1}) Jetzt ist es entscheidend, wie das Verhandlungsmandat ausgestaltet wird. Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung könnte uns dazu schon etwas mehr sagen, denn das Verhandlungsmandat wird diesen Prozess in den nächsten 15 Jahren bestimmen. Wir werden uns daran orientieren müssen, wenn wir diesen Prozess begleiten. In diesem Zusammenhang sind mir folgende Aspekte wichtig: Es müssen einige Bedingungen erfüllt sein, die selbst dann relevant sind, wenn alle Verhandlungskapitel abgeschlossen sind. Die Themen Verfassung und Gemeinschaftspolitiken habe ich bereits genannt. Ausdrücklich nenne ich auch das Thema Zypern; denn es ist völlig undenkbar, dass ein Land Mitglied der Europäischen Union wird, das in einem anderen Mitgliedsland gegen dessen Willen militärisch präsent ist. ({2}) Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns völlig einig. Das müssen die Türken wissen. Die Türkei kann sich noch so demokratisch und marktwirtschaftlich entwickeln, aber solange sie die völkerrechtswidrige Besetzung Nordzyperns nicht aufgibt, wird es keinen Beitritt zur Europäischen Union geben. ({3}) Zusätzlich zur Erfüllung dieser Bedingungen brauchen wir einen Prozess des Monitoring. Mir reichen die Fortschrittsberichte der Kommission, die eher ein Routineprozess sind, nicht aus. Das hat nichts mit ungleicher Behandlung zu tun; denn der Gleichheitsgrundsatz besagt, dass Ungleiches auch ungleich behandelt werden muss. Ich wünsche mir, dass das Europäische Parlament und die Parlamente der Mitgliedstaaten in einen solchen Monitoringprozess einbezogen werden, damit wir am Ende der Verhandlungen nicht plötzlich vor unangenehmen Überraschungen stehen. Lassen Sie mich noch etwas zur Ergebnisoffenheit sagen. Auf die Türkei kommen, wie auf jeden Beitrittskandidaten, erhebliche Herausforderungen zu. Diese Herausforderungen sind auch dann noch vorhanden, wenn man eines Tages Mitglied der Europäischen Union ist. Ich glaube, darauf müssen wir die Beitrittsländer besser vorbereiten. Das ist auch beim Beitritt der letzten zehn neuen Mitgliedstaaten nicht immer gut gelungen; das haben wir im letzten Jahr, als es um die Verfassung ging, gemerkt. Meine Damen und Herren, die Europäische Union definiert sich nicht als ein Endzustand, in den man eintritt, sondern als ein Prozess, der weitergeht. Ein neues Mitgliedsland darf sich selbst daher nicht als Garantie zur Blockade der Vertiefung der Integration in der Europäischen Union verstehen. ({4}) Ich glaube, wir müssen unseren türkischen Freunden klar machen, dass sie, wenn sie Mitglied der Europäischen Union werden, wenn also alle Bedingungen erfüllt sind und wenn wir glauben, einen Beitritt der Türkei verantworten zu können, Mitglied in einem Prozess sind, der seit den Römischen Verträgen als „ever closer union“ beschrieben wird. Wir wollen nicht, dass dieser Prozess aufgrund der Aufnahme eines einzelnen Mitglieds abbricht. Diese Erwartung sollten wir gegenüber unseren türkischen Freunden, mit denen wir ergebnisoffen verhandeln sollten, klar zum Ausdruck bringen, damit es nicht eines Tages auf der türkischen Seite unangenehme Überraschungen gibt. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 15/3949 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Interfraktionell wird auch Überweisung der Vorlagen auf den Druck- sachen 15/4031 und 15/4064 an dieselben Ausschüsse wie bei Tagesordnungspunkt 4 a vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 n sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 27 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373 ({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen - Drucksache 15/4032 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von wegerechtlichen Vorschriften - Drucksache 15/3982 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Rechtsausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht - Drucksache 15/3423 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Rechtsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- derungsurkunden vom 18. Oktober 2002 zur Konstitution und zur Konvention der Interna- tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember - Drucksache 15/3879 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten und der schweren Kriminalität - Drucksache 15/3880 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtsausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indonesien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/3882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Auswärtiger Ausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 26. August 2003 zu dem Vertrag vom 28. Februar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Moldau über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/3883 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7}) Auswärtiger Ausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juli 2000 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Palästinensischen Befreiungsorganisation zugunsten der Palästinensischen Behörde über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/3884 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8}) Auswärtiger Ausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungs- und Ergänzungsprotokoll vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zu dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/3885 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({9}) Auswärtiger Ausschuss j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Tadschikistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/3886 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10}) Auswärtiger Ausschuss k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts - Drucksache 15/3979 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familienrecht - Drucksache 15/3981 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({12}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Angleichung der Ost-Besoldung an Westniveau - Drucksache 15/589 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({13}) Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss n) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Daniel Bahr ({14}), Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Horst Friedrich ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen - Drucksache 15/3725 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16}) Innenausschuss Rechtsausschuss ZP 2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni 2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König- reich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete - Drucksache 15/4026 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag, Volker Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern - Patentierung von Computerprogrammen effektiv begrenzen - Drucksache 15/4034 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({18}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Die Kolleginnen Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch haben zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Drucksache 15/4032 gemäß § 80 Abs. 4 der Geschäftsordnung beantragt, vor der Ausschussüberweisung eine Aussprache durchzuführen. Zu diesem Antrag erteile ich der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gestern in ihrer Kabinettsitzung beschlossen, dem Bundestag einen Antrag über die Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA vorzulegen; die Präsidentin hat es ja schon vorgetragen. Wir, die PDS im Bundestag, beantragen eine Debatte über die Verlängerung dieses Mandats. Ich gehe davon aus, dass gestern im Bundeskabinett eine sehr gründliche und ausführliche Debatte über diese Angelegenheit stattgefunden hat. Allerdings war diese Debatte nicht öffentlich. Ich denke, es ist die Pflicht des Deutschen Bundestages, diese Debatte auch hier, vor der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, zu führen; denn es geht schließlich darum, Menschen in sehr gefährliche Situationen zu schicken mit einem Auftrag, dessen Ende nicht abzusehen ist. ({0}) Erinnern Sie sich bitte mit mir gemeinsam: Als im Jahr 2001 auf Antrag der Bundesregierung zum ersten Mal über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Mandates, das jetzt verlängert werden soll, abgestimmt wurde, gab es eine breite öffentliche Debatte in Funk, Fernsehen und vor allen Dingen selbstverständlich im Deutschen Bundestag, in den Fraktionen. In der SPDFraktion gab es Widerstände. Der Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sah sich gezwungen, diese Abstimmung sogar mit einer Vertrauensfrage zu verbinden. Nach Meinung der PDS im Bundestag ist es erforderlich, über die Mandatsverlängerung wiederum öffentlich zu debattieren, damit sich in dieser Angelegenheit keine Abstimmungsroutine einschleicht. ({1}) Nun werden vielleicht einige Kolleginnen und Kollegen einwenden, dass der Bundesminister der Verteidigung, Herr Dr. Peter Struck, gestern im Rahmen der Regierungsbefragung über die Kabinettsitzung berichtet habe. Ich denke, zumindest diejenigen, die sich an der Sitzung gestern beteiligt haben, werden mir aber zustimmen können, dass die Fragen und die spärlichen Antworten darauf gerade die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte deutlich gemacht haben. Insbesondere die Kollegen von der CDU/CSU, die ja zahlreiche Fragen hatten, müssten unserem Antrag auf Debatte zustimmen. ({2}) Übrigens: Selbst die Fragerunde gestern blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Sie wurde wegen der Unstimmigkeiten in Brüssel nicht auf Phoenix übertragen - das nur nebenbei, sozusagen als Klammerbemerkung. Ich bitte Sie also herzlich: Stimmen Sie unserem Antrag auf Durchführung einer Debatte zu, damit sich bezüglich der Einsätze der Bundeswehr im Ausland keine Abstimmungsroutine einschleicht! Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Antwort auf diese Antragstellung erteile ich dem Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin, Sie haben gestern an der Fragestunde teilgenommen und mit dem Verteidigungsminister diskutiert. Im Namen des Hauses kann ich sagen: Natürlich werden wir eine solche Debatte führen, und zwar in der übernächsten Sitzungswoche, auch im Ausschuss. Wir laden noch einmal ausdrücklich dazu ein. Sie haben für Ihre Gruppe im Ausschuss teilnehmen können. Ich bin überzeugt: Wenn Sie es möchten, werden wir Sie sicher im Auswärtigen Ausschuss und auch im Verteidigungsausschuss anhören. Hier findet also nichts im Geheimen statt und es gibt keinen Schleier, der vor Enduring Freedom gezogen wird. Wir werden diese Debatte führen, aber nicht heute. Darauf haben wir uns verständigt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag auf Aussprache. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? Gibt es Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der Abgeordneten Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch abgelehnt worden. Somit können die Vorlagen wie interfraktionell vorgeschlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 e und 28 g bis 28 m auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({0}) - Drucksache 15/3281 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/4057 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4057, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss der im Rat der Europäischen Union vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 28. April 2004 betreffend die Vorrechte und Immunitäten von ATHENA - Drucksache 15/3787 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({4}) - Drucksache 15/4058 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Meckel Dr. Andreas Schockenhoff Marianne Tritz Dr. Rainer Stinner Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4058, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum EU-Truppenstatut vom 17. November 2003 - Drucksache 15/3786 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({6}) - Drucksache 15/4059 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Marianne Tritz Dr. Rainer Stinner Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4059, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? 12338 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts - Drucksache 15/3653 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8}) - Drucksache 15/4060 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/ 4060, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschluss von Dienst-, Amts- und Versorgungsbezügen von den Einkommensanpassungen 2003/2004 ({9}) - Drucksachen 15/3783, 15/3985 ({10}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({11}) - Drucksache 15/4044 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Clemens Binninger Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4044, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({12}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entwurf Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften für das Haushaltsjahr Ratsdok. 11445/04 - Drucksachen 15/3779 Nr. 1.57, 15/3874 Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Heinz Köhler Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Weis, Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer ({14}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({16}), Horst Friedrich ({17}), Eberhard Otto ({18}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallbrücke und Weidendammer Brücke vorlegen - zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer ({19}), Eduard Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallbrücke und Weidendammer Brücke vorlegen - Drucksachen 15/2981, 15/2157, 15/3939 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Weis Günter Nooke Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/2981 mit dem Titel „Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallbrücke und Weidendammer Brücke vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 15/2157, der den gleichen Titel trägt wie der Antrag, über den zuvor abgestimmt wurde, für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 28 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 153 zu Petitionen - Drucksache 15/3961 Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 154 zu Petitionen - Drucksache 15/3962 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 154 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 155 zu Petitionen - Drucksache 15/3963 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 155 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 156 zu Petitionen - Drucksache 15/3964 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkt 28 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 157 zu Petitionen - Drucksache 15/3965 - Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der beruflichen Bildung ({25}) - Drucksache 15/3980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2004 - Drucksache 15/3299 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({27}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für die Bundesregierung die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn. ({28})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Heute debattieren wir die umfassendste Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes seit mehr als 30 Jahren. Wir stellen damit die berufliche Bildung auf eine neue Grundlage, die die Berufsausbildung qualitativ verbessert und sie zukunftssicher macht. ({0}) Eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben ist es, jungen Menschen eine qualifizierte Erstausbildung zu ermöglichen. ({1}) Nur so sichern wir Jugendlichen gute Beschäftigungschancen und eine Teilhabe am Arbeitsleben. Eine qualifizierte Berufsausbildung ist aber auch deshalb so wichtig, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im internationalen Wettbewerb behaupten können. Wir müssen schon heute aufgrund der demographischen Kerndaten davon ausgehen, dass uns in zehn bis 15 Jahren bis zu 3,5 Millionen Fachkräfte fehlen werden, wenn wir nicht gegensteuern. Das heißt, die Jugendlichen, über die wir heute sprechen, spielen für den Erhalt der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft eine ganz besonders wichtige Rolle. ({2}) Daher haben sich die Bundesregierung und die Wirtschaft im nationalen Ausbildungspakt verpflichtet, zusätzliche Ausbildungsplätze für junge Menschen in Deutschland bereitzustellen und ihnen damit die Chance zu eröffnen, eine gute Ausbildung zu erhalten. Angesichts der zum 30. September dieses Jahres noch fehlenden 31 000 Ausbildungsplätze steht der Pakt jetzt vor der entscheidenden Bewährungsprobe. Es müssen nun alle Potenziale für die Nachvermittlung genutzt werden, ({3}) damit es uns bis zum Jahresende gelingt, wirklich allen Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot machen zu können, ihnen so eine qualifizierte Ausbildungschance zu ermöglichen. Die Wirtschaft - ich will das noch einmal ausdrücklich sagen - ist auch in ihrem eigenen Interesse gefordert, alles dafür zu tun, damit dieses Ziel erreicht wird. ({4}) Die Bundesregierung hat ihrerseits erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Ausbildungschancen der Jugendlichen zu erhöhen. Speziell für die neuen Länder haben wir gemeinsam mit den Ländern das Ausbildungsplatzprogramm Ost 2004 auf 14 000 Ausbildungsplätze erhöht. Dafür stellt mein Haus rund 95 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bundesministerien und die Bundesbehörden werden ihre Ausbildungsleistung um circa 20 Prozent ausbauen. ({5}) Auch die Bundesagentur für Arbeit bietet 500 Ausbildungsplätze mehr an. Die Bundesregierung unterstützt das neue Instrument der Einstiegsqualifizierung durch einen Zuschuss zum Lebensunterhalt der Jugendlichen und die Übernahme des pauschalierten Gesamtsozialversicherungsbeitrages mit rund 270 Millionen Euro während der dreijährigen Ausbildungszeit. Darüber hinaus verdoppeln wir die Förderung des Programms „STARegio“, mit dem wir regionale Initiativen zur Verbesserung der Ausbildungsstrukturen und des Angebots betrieblicher Ausbildungsplätze in den besonders schwierigen Regionen unterstützen. Dafür stellt mein Haus eine ganze Menge Mittel zur Verfügung. ({6}) Die Kammern - hier geht es um die beiden großen Ausbildungsbereiche Industrie und Handel, aber auch um das Handwerk - haben im Vergleich zum September 2003 rund 13 200 Ausbildungsverträge mehr registriert. Das ist ein Plus von 3,1 Prozent. ({7}) Das zeigt, dass der Ausbildungspakt bereits in diesem Jahr eine erhebliche Dynamik entfaltet hat und erste wichtige Erfolge erzielt werden konnten. ({8}) Ich will an dieser Stelle ausdrücklich das außergewöhnliche Engagement der Wirtschaftsverbände, insbesondere der Kammern, und der Unternehmen sowie der Ausbildungsverantwortlichen vor Ort anerkennen. ({9}) Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, einen negativen Trend umzukehren und deutlich mehr Ausbildungsplätze zu mobilisieren, wenn wirklich alle engagiert mitmachen und an einem Strang ziehen. ({10}) Die aktuellen Probleme auf dem Ausbildungsmarkt bedeuten nicht, dass sich das System der dualen beruflichen Ausbildung überlebt hat. Ganz im Gegenteil. ({11}) Das System der dualen beruflichen Bildung ist weltweit zu Recht anerkannt. Es bietet im Kern allen jungen Menschen die Chance, eine qualifizierte Beschäftigung aufzunehmen und damit ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Gleichzeitig sichert das System der dualen Berufsausbildung der Wirtschaft die Fachkräfte der Zukunft und trägt damit wiederum entscheidend zur WettBundesministerin Edelgard Bulmahn bewerbsfähigkeit und zum Wohlstand Deutschlands bei. Damit das so bleibt, muss sich die duale Berufsausbildung den neuen Herausforderungen stellen. Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, tut genau dieses. ({12}) Ziel der Reform ist es, die Verbesserung der Ausbildungschancen der Jugendlichen sicherzustellen sowie eine hohe Qualität der beruflichen Ausbildung für alle Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen oder regionalen Herkunft zu gewährleisten. ({13}) Wir geben mit diesem Gesetzentwurf keine Königswege vor, sondern wir bauen Flexibilität aus und verstärken sie. Diesem Leitgedanken folgt der von uns vorgelegte Entwurf. In Zukunft können die Akteure vor Ort eine stärkere Kooperation der betrieblichen und der schulischen Systeme vereinbaren, um die Ausbildungsqualität zu steigern, alle Ausbildungskapazitäten optimal zu nutzen und damit auch strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft besser gerecht zu werden. Durch die neue Kombination von betrieblicher und schulischer Ausbildung kann sowohl ein regionaler Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen besser ausgeglichen werden als auch auf den in vielen Ausbildungsberufen steigenden Theorieanteil angemessener reagiert werden. Dies wird dadurch möglich, dass das neue Gesetz den Ländern die Möglichkeit eröffnet, sicherzustellen, dass schulische Berufsausbildungszeiten in anerkannten Ausbildungsberufen genauso zählen wie betriebliche Ausbildungszeiten. ({14}) Das entspricht im Übrigen auch dem Wunsch der Landesregierungen, und zwar unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Von einem Paradigmenwechsel weg von der betrieblichen hin zur schulischen Ausbildung, wie es einige von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, gelegentlich unterstellen, kann hier nicht die Rede sein. ({15}) Ein solcher Paradigmenwechsel findet nicht statt. ({16}) Rund 500 000 Jugendliche befinden sich in schulischen Berufsausbildungsmaßnahmen, davon rund 200 000 in vollzeitschulischen Berufsbildungsgängen, die zu einem beruflichen Abschluss führen. Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes eröffnen wir den Ländern die Option, diesen Jugendlichen über Vereinbarungen mit den Kammern die Zulassung zur Kammerprüfung zu erleichtern. Denn die Kammerprüfung ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Die Länder haben diese Überlegungen im Bundesrat ausdrücklich begrüßt. Die zügige Modernisierung der Ausbildungsberufe ist ein Herzstück der Berufsbildungspolitik der Bundesregierung. Wir haben seit 1999 rund 160 Berufsbilder modernisiert bzw. neu geschaffen. Allein 2004 sind mehr als 30 neue Berufsbilder entstanden; im Jahr 2005 werden es 21 sein. Die Hälfte aller Jugendlichen wird mittlerweile in modernisierten oder neu geschaffenen Berufsbildern ausgebildet. Ich denke, das zeigt nachdrücklich, wie aktuell und modern eine berufliche Ausbildung ist und wie wichtig und erfolgreich sie sowohl für Unternehmen als auch für Jugendliche ist. ({17}) Das neue Berufsbildungsgesetz unterstützt die rasche Modernisierung durch die Verringerung der Zahl der gesetzlichen Beratungsgremien. Zudem wird mit einer modifizierten Stufenausbildungsregelung zum Beispiel die Fortsetzung einer zweijährigen Berufsausbildung in anspruchsvolleren Ausbildungsberufen ohne Zeitverlust erleichtert. Diesem Ziel dient auch die in dem Gesetz ausdrücklich verankerte Möglichkeit, einschlägige Vorqualifikationen berufsspezifisch anzurechnen. Wir wollen Ausbildungschancen für alle schaffen. Mit neuen Förderstrukturen und einer stufenweisen Qualifizierung in anschlussfähigen Ausbildungsangeboten verbessern wir aus diesem Grund gezielt die Chancen auch für benachteiligte Jugendliche. Mit der letzten Novelle haben wir bereits vor eineinhalb Jahren die Möglichkeit geschaffen, Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen beispielsweise über Praktika oder sechsmonatige Qualifikationsbausteine auch unterschiedliche Einstiegswege in eine erfolgreiche berufliche Ausbildung zu eröffnen. Wir verbessern zudem die Chancen für differenzierte Wege in der Berufsausbildung durch klarere Regelungen zur Stufenausbildung und zur Anrechnung einer zweijährigen Berufsausbildung auf eine anschließende Ausbildung in einem Beruf mit dreijähriger Ausbildung. Inzwischen gibt es vier neue Berufe mit zweijähriger Ausbildung, die diesem Modell bereits entsprechen. Dieser von uns beschrittene Weg wird sowohl den Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Anforderungen als auch der Wirtschaft gerecht. ({18}) Das neue Berufsbildungsgesetz sieht außerdem vor, dass Ausbildungsabschnitte, die im Ausland absolviert werden, zu einem integralen Bestandteil der Berufsausbildung im dualen System werden. ({19}) Das ist die logische Konsequenz der Entwicklung Europas zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Deshalb müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass die Anteile der Berufsausbildung, die im Ausland absolviert werden, in vollem Umfang anerkannt werden. Ebenfalls neu ist die Möglichkeit, Zusatz- oder Aufstiegsqualifikationen in Zukunft bereits während der Erstausbildung zu erwerben. Damit eröffnen wir leistungsstarken jungen Menschen neue Perspektiven für ihr berufliches Fortkommen und reagieren zugleich auf die steigenden Qualifikationsanforderungen in einer globalisierten Welt. Die Neuerungen im Bereich des Prüfungswesens ermöglichen nunmehr die Durchführung von Abschlussprüfungen in zwei Teilen. Prüfungsleistungen aus der Berufsschule können in die Bewertung der Prüfung mit einfließen. ({20}) Die neu gestaltete Erprobungsklausel eröffnet außerdem Wege, Ausbildungsberufe an aktuelle Entwicklungen zügiger anzupassen. Das neue Berufsbildungsgesetz knüpft an die bewährten Strukturen des Berufsbildungsgesetzes von 1969 an. Es integriert aber auch die neuen und modernen Erkenntnisse der Berufsbildungsforschung und passt den ordnungsrechtlichen Rahmen an die Entwicklung der Berufsausbildung in den letzten Jahren an. Kurz gesagt: Die gesetzliche Grundlage stimmt also endlich mit den Anforderungen und Zielstellungen in der beruflichen Ausbildung vollständig überein. ({21}) Wir haben zudem die Regelungen zur fachlichen Eignung in einem einheitlichen und transparenten System für alle zusammengefasst. Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Sicherung einer hochwertigen beruflichen Bildung eine wichtige Aufgabe bleibt. Mit der heute von uns vorgelegten Novelle machen wir in diesem Sinne einen weiteren wichtigen Schritt. Ich möchte alle - die Betriebe, die Regionen, aber auch die Länder sowie die jungen Frauen und Männer - auffordern, sich dieser Aufgabe, dieser Herausforderung kreativ und mit Mut zur Verantwortung zu stellen. Das gilt natürlich genauso für den Deutschen Bundestag. Vielen Dank. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die duale Ausbildung ist ein Standortvorteil Deutschlands. Sie ist eng an der betrieblichen Praxis orientiert und ein idealer Einstieg in die Arbeitswelt. So ist die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland um etwa 6 Prozent geringer als in den Ländern der Europäischen Union, die eine verschulte Berufsausbildung haben. Das bedeutet, die praktische Ausbildung ist von großem Vorteil. ({0}) Fast 70 Prozent aller Schulabgänger wünschen sich eine duale Ausbildung. Die Union hat - um sie zu stärken im Frühjahr 2003 als erste Fraktion Eckpunkte für eine Modernisierung der Berufsausbildung in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben im März dieses Jahres eine entsprechende Gesetzesnovelle nachgereicht. Ich begrüße, dass Sie heute nachkommen. ({1}) Über das Thema können wir sicherlich streitig diskutieren, aber Sie haben ein halbes Jahr durch die unsinnige Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe vertan. ({2}) - Was Sie umlegen wollen, müssen Sie den Betrieben erst einmal abnehmen. Deshalb handelt es sich um eine Abgabe. Die Zeit, die Sie vertan haben, hätten wir mit einer schnelleren Berufsbildungsreform besser genutzt. Die 31 200 Schulabgänger, die momentan unversorgt sind, also keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, sind die Leidtragenden einer Politik der langen Bank, auf die Sie die Novelle zum Berufsbildungsgesetz erst einmal geschoben haben. ({3}) Bereits 1998 kündigte Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung eine Initiative zur Flexibilisierung und Modernisierung der Berufsausbildung an. ({4}) Sechs Jahre ist nichts passiert. Nachdem wir mit unseren Initiativen das Tempo beschleunigt haben, können wir nun produktiv diskutieren. Doch der Ausbildungspakt bedarf der Ergänzung durch ein modernisiertes Berufsbildungsgesetz. Das ist die andere Seite der Medaille. Die Reform muss vor allem die weitere Verschulung stoppen und stattdessen die betriebliche Ausbildung stärken. Die Erosion der betrieblichen Ausbildung muss beendet werden. ({5}) Selbst ein mäßiger betrieblicher Ausbildungsplatz ist besser als die schönste Ersatzmaßnahme. ({6}) Das Berufsbildungsgesetz war 1969 - Herr Tauss, Sie wissen das sicherlich aus Ihrem reichhaltigen Leben eines der letzten Projekte der großen Koalition von Union und SPD. Wir haben in letzter Zeit oft eine parteiübergreifende Regelung angeboten. Sie wäre auch in der Tradition des Berufsbildungsgesetzes. Wir wollen sehr sachlich eine gemeinsame Linie herstellen. Aber Sie müssen sich erst einmal bewegen und vor allem Widersprüche in Ihrem Gesetzentwurf beseitigen. So fordern Sie in Ihrem Gesetzentwurf die Verschlankung von Gremien und Bürokratieabbau. Gleichzeitig fordern Sie jedoch die flächendeckende Gründung regionaler Berufsbildungskonferenzen ein. Wie Sie beide Ziele - Entbürokratisierung und neue Strukturen - gleichzeitig erreichen wollen, bleibt ein Mysterium Ihrer Politik. ({7}) Erst gestern schrieb Ihnen der Hauptausschuss des Bundesinstitutes für Berufsbildung folgenden Beschluss ins Stammbuch - ich zitiere -: Die im Gesetzentwurf vorgesehenen regionalen Bildungskonferenzen sind nicht erforderlich, da deren Aufgaben von bestehenden Gremien und Institutionen … wahrgenommen werden können. Auch das Stimmrecht der Lehrerseite in den Berufsbildungsausschüssen lehnt der Hauptausschuss, bestehend aus Vertretern des Bundes, der Länder, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Gewerkschaften, mit dem gestrigen Beschluss eindeutig und klar ab. Es würde die Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zu einer Drittelparität verändern. ({8}) Wenn 50 Prozent von Politik und Wirtschaft Psychologie ist, dann frage ich, ob es klug ist, dass bei der betrieblichen Ausbildung die Arbeitgeberseite - zumindest theoretisch - weitgehend ausgehebelt werden kann. Die Motivation zur Ausbildung wird hierdurch in den Betrieben sicher nicht steigen. ({9}) Es macht Sinn, die Berufsschulergebnisse beim theoretischen Teil der Kammerprüfung zu berücksichtigen ({10}) oder zu überlegen, ob die Berufsschule den Theorieteil ganz übernimmt. Nötig ist eine Langzeitbewertung, die nicht nur die dreitägige Kammerprüfung, sondern auch die drei Jahre in der Berufsschule berücksichtigt. Ob und wie dies geschehen kann, das sollten wir nach der Expertenanhörung besprechen. ({11}) Baden-Württemberg hat dank seiner Abstimmung mit den Kammern die größte gemeinsame Prüfungserfahrung. Generell gilt, dass die Prüfungen insgesamt verschlankt und auch entrümpelt werden müssen. Frau Bulmahn, bei der Stufenausbildung haben Sie sich bewegt, aber leider zu wenig. ({12}) Vor dem Hintergrund von 1,2 Millionen Schulabgängern bis 29 Jahre, die keine berufliche Ausbildung haben, ist eine Zwischenzertifizierung überfällig. Wir, die Union, sagen ein klares Ja zum Berufskonzept und zur dafür notwendigen Breitenausbildung. Wer sagt: „Drei Jahre oder kein Abschluss, alles oder nichts“, der lässt zu, dass jährlich 100 000 junge Menschen vor dem beruflichen Nichts stehen. Das ist nicht nur eine Vergeudung von wirtschaftlichen Ressourcen, sondern auch zutiefst unmenschlich. So grenzen Sie praktisch Begabte systematisch aus. ({13}) Wir wollen deshalb, dass die Stufenausbildung von der Ausnahme zur Regel wird. In der Bauwirtschaft hat sie nicht zur Schmalspurausbildung geführt, sondern dazu, dass ein Einstiegskorridor für praktisch Begabte geschaffen wurde. Das saarländische Beispiel der Stufenausbildung im Pflegebereich zeigt ebenso, dass über 90 Prozent der Auszubildenden auch die zweite Stufe erfolgreich abschließen. Wer die erste Stufe schafft, der kommt automatisch in die zweite Stufe und hat am Ende seinen Vollabschluss. Hauptschüler würden auch dort wieder zugelassen, wo heute die mittlere Reife oder das Abitur zwingend gefordert werden. Uns geht es hier um Differenzierung und Flexibilisierung. ({14}) Nötig ist, eine stärkere Betrachtung des Menschen so, wie er ist, und nicht, wie er nach Ihrem Bild sein sollte. Über Ausbildungsmodule könnte die zweite Stufe - das ist ein weiteres Charakteristikum - auch zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Eine stärkere Vernetzung von Aus- und Weiterbildung ist überfällig. Im Zusammenhang mit dem europäischen Ausbildungspass, der ab 2005 in den Staaten der Europäischen Union eingeführt werden soll, würden diese Module auch die gegenseitige Anerkennung der Berufsausbildung in der Europäischen Union erleichtern. Ihr Entwurf hat die berufliche Weiterbildung kaum gestreift. Frau Bulmahn, ich habe das Gefühl, Sie haben in diesem Punkt vor Herrn Clement, der im Kabinett für die Weiterbildung zuständig ist, kapituliert. Wir sind gern bereit, Sie zu unterstützen, wenn auch bei der Weiterbildung endlich neue Prioritäten gesetzt werden sollen. Beraten Sie ruhig weiter; auch im Kabinett muss Einigkeit erzielt werden. Wir sind ebenfalls dafür, die Probezeit auf sechs Monate zu verlängern, wenn es gewünscht wird. Das wäre ein gegenseitiger Schutz vor den Folgen einer Fehlentscheidung. Nach dem Berufsbildungsbericht gibt es 25 Prozent Ausbildungsabbrecher. Ein Drittel dieser Personen nennt für den Abbruch persönliche Gründe: Man habe den falschen Beruf oder den falschen Betrieb gewählt. Der Zeitraum der Probezeit von drei Monaten - wobei in dieser Zeit noch ein sechswöchiger Blockunterricht absolviert werden muss - kann für beide Seiten zu kurz sein, um zu entscheiden, ob die Ausbildung bzw. der Auszubildende richtig ist. Zwei Drittel der Betriebe, die nicht ausbilden, tun dies aus Kostengründen. Der größte Kostenfaktor sind die Ausbildungsvergütungen. ({15}) Es gibt eine große Spannweite: Während beim Friseurhandwerk in Sachsen monatlich 250 Euro Ausbildungsvergütung gezahlt werden, werden beim Bankgewerbe in Hessen 900 Euro Ausbildungsvergütung gezahlt. Die durchschnittliche Ausbildungsvergütung im Monat liegt bei 600 Euro. ({16}) Das zeigt, dass der größte Teil der Ausbildungsvergütungen im oberen Segment liegt. Die Definition einer „angemessenen Ausbildungsvergütung“ soll den Gestaltungsspielraum für Tarif- und Betriebsparteien vergrößern, Bündnisse für mehr Ausbildung einzugehen; Abweichungen von einem Drittel nach unten sollen möglich sein. Richterrecht erlaubt den Tarifpartnern und Betriebsparteien heute schon, um bis zu 20 Prozent abzusenken. Wir wollen den Tarif- und Betriebsparteien letztlich mehr Spielraum geben. Es gibt ähnliche Tarifverträge in der Chemieindustrie, im Bauhauptgewerbe sowie im Metall- und Elektrobereich, die die Schaffung von weit über 1 500 neuen Ausbildungsplätzen angereizt haben. Wer an die Kosten herangeht, sorgt also letztlich dafür, dass mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. ({17}) Wir wollen den Tarif- und Betriebsparteien etwas mehr Spielraum einräumen, als Sie das derzeit wollen. ({18}) Letztlich nehmen wir an den Tarifen Maß - das ist entscheidend -, aber Spielraum muss auch sein, damit verstärkt betriebliche Bündnisse für Ausbildung geschaffen werden. ({19}) Der Regierungsentwurf macht aus der Not eine Tugend. Sie setzen damit im Kern auf eine stärkere Verschulung der Berufsausbildung. ({20}) Das Gegenteil ist notwendig. Wir brauchen eine stärkere Konzentration, um neue betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Hier müssen Sie nacharbeiten. ({21}) Wenn Sie nicht auf uns hören wollen oder dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann hören Sie zumindest auf den Hauptausschuss des Berufsbildungsinstituts. Das Institut hat in ähnlicher Form wie wir argumentiert. Gestern hat man einen Beschluss im Hauptausschuss herbeigeführt. Die Vertreter von Wissenschaft, Gewerkschaften, Wirtschaft, Bund und Ländern in diesem Institut haben den richtigen Weg gewiesen. Wir sind bereit, parteiübergreifend mit Ihnen etwas zu bewegen, aber dafür müssen Sie sich bewegen. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach den langen und hitzigen Debatten über die Ausbildungsplatzumlage bin ich ganz froh darüber, dass wir mit der Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes und dem vorliegenden Berufsbildungsbericht heute zumindest zwei politisch weniger umstrittene Punkte zum Thema Ausbildung auf der Tagesordnung haben. ({0}) Das geschieht allerdings in einer Zeit, in der sich das Kompetenzgerangel um Bildungszuständigkeiten auf einem Höhepunkt befindet. Ich hoffe, dass die Machtkämpfe um Kompetenzen in diesem Bereich nicht zulasten der Jugendlichen in unserem Land gehen. ({1}) Genauso wenig dürfen Partikularinteressen der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgeberseite für unsere Reform ausschlaggebend sein. Deswegen begrüße ich, dass die rot-grüne Bundesregierung an dem politischen Ziel festgehalten hat, das Berufsbildungsgesetz zu modernisieren. Ich appelliere an die Länder, Jugendliche und Betriebe nicht als Faustpfand zu benutzen, wie sie es derzeit mit den Hochschulen machen. ({2}) Sie von der Opposition wollen den Hochschulen lieber Investitionen vorenthalten, als die Eigenheimzulage abzuschaffen. Diese Blockadepolitik kann ich beim besten Willen nicht verstehen. ({3}) Wie dringend Reformen sind, zeigt die Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Der Ausbildungsbericht weist eindeutig darauf hin, dass immer weniger Jugendliche einen Platz in der dualen Berufsausbildung, einen Platz in einem Betrieb mit begleitendem Berufsschulunterricht, finden. Ein modernisiertes Berufsbildungsgesetz soll hier Entlastung und mehr Flexibilität bringen. Auch benachteiligte Jugendliche - sie sind mir in dieser Diskussion ganz besonders wichtig - sollen durch die Reform eine Chance erhalten. Sie sollen mit Teilqualifikationen Schritt für Schritt in ihrem individuellen Tempo einen vollen Beruf erlernen können. ({4}) Eine weitere Leitfrage ist dabei für uns: Wie kann die schleichende Auswanderung aus dem dualen System beendet werden? Der freiwillige Pakt könnte ein Baustein dazu sein. Er muss aber erst noch Erfolg zeigen. Daher bleibt für uns Grüne weiterhin die „Stiftung Betriebliche Bildungschance“, kurz „StiBB“ genannt, ein wichtiges Angebot, das kreative und unbürokratische Lösungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ermöglichen soll. Wir wollen eine solche Stiftung im Rahmen des Pakts gründen. Sie soll nach unserer Auffassung besonders regionale und branchenspezifische Initiativen unterstützen und in einem modernisierten Berufsbildungsgesetz integrieren. ({5}) Unsere Ziele dabei sind für die Auszubildenden nicht nur mehr, sondern auch bessere Ausbildung. Für die Ausbilder und Ausbilderinnen an beiden Lernorten wollen wir Unterstützung bieten. Wir wollen sie praktisch unterstützen, ihnen Fortbildungsmöglichkeiten eröffnen und damit ihren Beruf grundsätzlich attraktiver machen. Unser Ziel für die Arbeitgeber ist ganz klar: Sie sollen geschulte und motivierte Auszubildende bekommen. Auch dem Standort hilft es: Wir wollen alle motivierten und fähigen Menschen in Bildung und Beruf bringen. Ein weiteres wichtiges Element für uns Grüne ist - das war ein Problem beim Umlagegesetz - die Kooperation zwischen den Lernorten Betrieb und Schule. Diese Zusammenarbeit muss gerade auf regionaler Ebene erleichtert und verbessert werden. Auch Berufsschulen müssen die notwendige Autonomie erhalten, um mit den Betrieben und den Jugendlichen vor Ort möglichst optimale Lernbedingungen schaffen zu können. ({6}) Wie auch in allen anderen Bildungsbereichen wollen wir für die Berufsschulen Erfolgsorientierung statt Inputsteuerung. Bildungsstandards müssen in diesem Bildungsbereich eingeführt, genauso muss eine Qualitätssicherung etabliert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen außerdem eine stärkere Einbindung der Lehrerinnen und Lehrer als Ausbildungsbegleiter. Der Übergang von der Schule in Betrieb und Berufsschule oder schulische Ausbildung muss, auch im Interesse der jungen Menschen, fließender gestaltet werden. Eine positive Grundeinstellung zum Lernen, eine Bereitschaft, sich mit verändernden Arbeitsbedingungen permanent weiterzuentwickeln das ist das, was unser Bildungs- und Ausbildungssystem der jüngeren Generation unbedingt vermitteln muss. ({7}) Bedingung dafür ist für uns, dass gleiche Qualität und bundesweite Einheitlichkeit der Qualifikationen gesichert bleiben. Es spricht hier einiges dafür, eine nationale Qualitätsagentur einzurichten, aber bitte nicht an den Parlamenten vorbei. Diese Aufgabe per Staatsvertrag der KMK, die sich doch gerade verschlanken will, aufs Auge zu drücken, halten wir für keine gute Idee. ({8}) Auch dürfen wir auf keinen Fall einen Rückfall in die Kleinstaaterei zulassen. ({9}) Das würde der Qualität der Ausbildungen massiv schaden und die Mobilität einschränken. Auf mittlere Sicht wäre dies das sichere Aus für die duale Ausbildung. Um es zu klar zu sagen: Ich finde es gut, wenn sich die Spielräume der Länderparlamente vergrößern. Schulische Modellversuche zum Beispiel sollten nicht mehr von der KMK abgesegnet werden müssen. Auch die Ausgestaltung der Ausbildung zwischen Betrieb und Schule kann in den Ländern geregelt werden. Unabdingbar sind für mich nur bundeseinheitlich gestaltete Berufsbilder. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne wollen in Sachen Ausbildungsplatzlücke endlich eine dauerhafte Lösung finden. Der Vorschlag, nur vorübergehend schulische Ausbildungsgänge zu stärken, indem man die Kammerprüfung befristet zulässt, ist meiner Meinung nach nicht zielführend. Es ist nicht etwa so, dass es nur vorübergehend einen Berg von Ausbildungswilligen gibt, den wir in den nächsten Jahren mit besonderen Maßnahmen untertunneln könnten, um danach wieder in den alten Trott zu verfallen. Die Geburtenrate allein ist nämlich kein Maßstab für den Bedarf an Ausbildung in Deutschland. Wir müssen umgekehrt schauen, wie viele gut ausgebildete Menschen uns fehlen. Da müssen wir nacharbeiten und sowohl die Weiterbildung im Beruf stärken, als auch junge Menschen aus den unsäglichen Warteschleifen holen. In den letzten Jahren - wenn nicht Jahrzehnten - haben Zehntausende von Jugendlichen keine qualifizierte Berufsausbildung bekommen. Das müssen wir jetzt so schnell wie möglich nachholen - ohne Abstriche bei der Qualität. Deswegen halten wir die im Gesetzentwurf vorgesehene dauerhafte Zulassung vollzeitschulischer Bildungsgänge zur Kammerprüfung für einen wichtigen und richtigen Schritt, der vor allem auch der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems dient. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen von Anfang an unsere Reform einer strengen Überprüfung unterziehen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung soll nach unserer Vorstellung die Folgen für Jugendliche, Betriebe und das gesamte System kritisch bewerten, am besten noch unterstützt durch eine internationale Institution. Wir als Grüne wollen die Akzeptanz des dualen Systems in Deutschland dadurch bewahren und europatauglich machen, dass wir - wie ich schon gesagt habe Berufsbilder auch zukünftig bundesweit einheitlich regeln. Neue Berufsbilder müssen schneller als bisher entwickelt werden. Daher muss das bisherige Anerkennungsverfahren verschlankt werden. Gleichzeitig darf es nach unserer Vorstellung nicht zu einer schleichenden Entschulung der Ausbildung kommen. Die Forderung nach mehr Flexibilität und Eingehen auf betriebliche Erfordernisse darf nicht zu Schmalspurausbildungen führen. Auch die Unternehmen profitieren doch von einer soliden betrieblichen und schulischen Berufsausbildung. Das kann man, wie ich finde, gar nicht oft genug wiederholen. ({10}) Wir hoffen, dass die guten Ansätze des Entwurfs nun nicht durch Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern ausgebremst werden, ({11}) sondern dass sich alle miteinander in einen konstruktiven Wettbewerb zur Verbesserung der betrieblichen Bildung stürzen, sodass mehr Jugendliche eine bessere Ausbildung bekommen. Danke schön. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Hartmann, und zwar zu seiner vorerst letzten Rede hier, weil er ins Saarland zurückgeht. ({0})

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, heute hier über ein Thema reden zu können, bei dem weitgehend Einigkeit herrscht: die Notwendigkeit der Modernisierung des Berufsbildungsrechts. Deswegen bin ich dankbar, dass es diesen Gesetzentwurf gibt. Er ist angesichts einer Lehrstellenlücke von über 31 000 notwendiger denn je. Es ist richtig, dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf vorlegt. ({0}) Teile des Gesetzentwurfes gehen folglich in die richtige Richtung. Erleichterung von Teilen der Ausbildung im Ausland, Möglichkeit gestreckter Abschlussprüfungen, verbesserte Verwertbarkeit von erreichten Teilqualifikationen und nicht zuletzt die Ermöglichung, die Ausbildung in aufbauenden Stufen zu absolvieren - all das sind richtige und überfällige Schritte. ({1}) Aber, lieber Herr Tauss, Sie müssen sich ins Stammbuch schreiben lassen, dass dieser Gesetzentwurf zu spät kommt und dass er nicht weit gehend genug ist. ({2}) Bereits vor Monaten hat es einen Entwurf der CDU/CSU und einen Entwurf der FDP gegeben, aber Sie bringen Ihren Gesetzentwurf erst jetzt ein, und zwar deswegen, weil Sie sich im ersten Halbjahr lieber mit der Ausbildungsplatzabgabe als mit der Modernisierung des Berufsbildungsrechts beschäftigt haben. ({3}) Der Weg war falsch; das wussten Sie damals schon. Sie sind nach dem Motto vorgegangen: Der Weg ist zwar falsch, aber wir gehen ihn konsequent bis zum Ende. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich wirklich um die Modernisierung des Berufsbildungsrechts gekümmert, statt Populismus zu betreiben. ({4}) Der Gesetzentwurf ist nicht ausreichend, weil er zu kurz greift. Er erlaubt richtigerweise die Stufenausbildung. ({5}) Er erlaubt; es ist eine Kannbestimmung. Warum machen Sie die Stufenausbildung, wenn sie richtig ist, nicht zur Regel? ({6}) - Herr Tauss, nun hören Sie doch wenigstens ein einziges Mal zu, und wenn es bei meiner letzten Rede ist! ({7}) Die regionalen Berufsbildungskonferenzen führen zu mehr Bürokratie statt zu weniger. Sie führen theoriegeminderte Berufe ein, aber das sind bisher nur Trippelschritte, denn das betrifft nur etwas mehr als 10 Prozent der Berufe. Das ist zu wenig. Gerade schwächere Jugendliche brauchen eine Chance. Da müsste die Bundesregierung schneller und konsequenter vorgehen als bisher. Wir brauchen einen Bildungspass für jeden Auszubildenden, in dem lebenslang die Berufsbildung und die Weiterbildung erfasst werden. Diesen Bildungspass fordern übrigens nicht nur wir Liberale, sondern auch das Bundesinstitut für Berufsbildung. Es fehlt der eindeutige Vorrang der betrieblichen Ausbildung. Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass Absolventen vollzeitschulischer Ausbildung sogar einen Rechtsanspruch auf die Zulassung zur Kammerprüfung erhalten sollen. Das ist äußerst bedenklich, auch im Hinblick auf die mögliche Abwertung der dualen Ausbildung. Unsere Meinung wird auch in diesem Fall vom Bundesinstitut für Berufsbildung geteilt. ({8}) Es gibt Ausbildungshemmnisse, an die Sie nicht herangehen. Ein Beispiel ist die Angemessenheit der Ausbildungsvergütung. Tarifungebundene Betriebe und Christoph Hartmann ({9}) Auszubildende sollen die Vergütung doch, bitte, frei vereinbaren können. Denn - ich bleibe bei meiner Meinung - es ist besser, für 500 Euro ausgebildet zu werden, als für 700 Euro nicht ausgebildet zu werden. ({10}) Es gibt auch Ausbildungshemmnisse außerhalb des Berufsbildungsrechts, an die wir heranmüssen: die Pflicht zur Übernahme von Angehörigen der Jugendund Auszubildendenvertretung, die mangelnde Flexibilisierung der Beschäftigungszeiten, insbesondere im Hinblick auf das Hotel- und Gaststättengewerbe. ({11}) Die Bildungspolitik, lieber Herr Tauss, muss verbessert werden. Jedes Jahr gibt es 90 000 Schüler ohne Abschluss, selbstverständlich auch im Saarland. Nach Aussage des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks sind 15 Prozent eines Jahrgangs nicht in der Lage, die Grundvoraussetzungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erfüllen. ({12}) Nicht zuletzt muss auch die Wirtschaftspolitik verbessert werden, vor allem angesichts des drohenden Rekords bei den Insolvenzen im dritten Jahr hintereinander. Da kann ich nur sagen: Wer pleite ist, kann nicht ausbilden. ({13}) Es wäre fatal, wenn man der Meinung wäre, mit der Modernisierung des Berufsbildungsrechtes hätte man seine Hausaufgaben gemacht und den Jugendlichen bzw. den Auszubildenden geholfen. Nein, das reicht nicht. Die Modernisierung des Berufsbildungsrechts kann nur ein Schritt sein, jedem Jugendlichen in Deutschland eine Ausbildungsstelle zu verschaffen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Mängel Ihres Gesetzentwurfs behebt und in dem weitere Vorschläge gemacht werden. Wir werden am 22. November eine Expertenanhörung haben. Die Experten werden Ihnen sagen, dass es gut ist, dass Ihr Gesetzentwurf vorliegt, dass es aber deutliche Nachbesserungen im Sinne und im Interesse der Auszubildenden und der Ausbildung geben muss. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau Präsidentin hat es bereits gesagt: Dies ist heute meine vorerst letzte Rede im Deutschen Bundestag. Am 5. September gab es Landtagswahlen im Saarland. Die FDP hat den Wiedereinzug in den Landtag geschafft. ({15}) - An dieser Stelle brauchen Sie auch nicht zu klatschen. - Wenn man gewählt ist, dann muss man den nächsten Schritt gehen. Deswegen nehme ich das Mandat an, auch wenn es mir - das gebe ich gerne zu schwer fällt. ({16}) Ich bin gerne Bundestagsabgeordneter gewesen. Ich bedanke mich herzlich für die gute Zusammenarbeit, insbesondere bei den Mitgliedern des Ausschusses. Obwohl wir teilweise große inhaltliche Differenzen gehabt haben, ist es immer fair zugegangen. Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei meiner Fraktion, die mir zwei Jahre lang politische Heimat gewesen ist. Jetzt will ich im Saarland mit meinen Kolleginnen und Kollegen dafür sorgen, dass es etwas mehr Farbe und eine etwas bessere Politik gibt. Herr Tauss, jetzt dürfen Sie klatschen. ({17}) - Danke schön. ({18}) Ich habe jetzt die Aufgabe, eine Drei-Mann-Landtagsfraktion zu führen. Ich drohe hiermit eines an: Wenn mir das zu unübersichtlich oder zu schwierig wird, dann komme ich wieder. Ihnen alles Gute. Vielen Dank. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich wünsche Ihnen auch im Namen des Hauses alles Gute für Ihre Zukunft. Wir wissen, dass drei Liberale schwieriger zu regieren sind als andere. ({0}) Alles Gute für Sie. ({1}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dieter Grasedieck. ({2})

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hartmann, auch ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit in der Dreierfraktion. Herr Schummer, Sie haben in Ihrer Rede viele Bereiche aufgezeigt, in denen wir mit Ihnen übereinstimmen und in denen die großen Fraktionen den gleichen Weg gehen. Aber man muss doch feststellen, dass Sie etwas schwarz gemalt haben. Zum einen lehnen Sie das Stimmrecht der Berufsschullehrer im Berufsbildungsausschuss ab. Sprechen Sie einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat, die bekanntlich dort die Mehrheit haben! Sie unterstützen diesen Vorschlag ausdrücklich und haben Ja dazu gesagt. Zum anderen fordern Sie bei der Festlegung der Ausbildungsvergütung mehr Spielraum für die Tarifpartner. Herr Schummer, die Tarifpartner haben bei uns den größten Spielraum. Sie bestimmen das ganz alleine. ({0}) Wir wollen die Tarifhoheit natürlich nicht abbauen. Jeffrey Immelt, der Chef-Manager von General Electric, sagte in der Fernsehsendung „Christiansen“: Unsere Firma ist nach Deutschland gekommen, weil die Deutschen sehr gut ausgebildet und innovativ sind. Ferner sagte er, dass er hier gut ausgebildete IT-Fachleute findet. Deshalb sei seine Firma nach Deutschland gekommen. ({1}) Das sind natürlich positive Aussagen. Das ist eine Reklame von einem Amerikaner. Auch die Opposition sollte das einmal zur Kenntnis nehmen. ({2}) Das Institut der deutschen Wirtschaft ergänzt diese Aussage. Das duale Ausbildungssystem ist absolute Spitze, so schreibt es. Betrachten Sie einmal die Unterschiede: 70 Prozent in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen haben entweder eine Berufsausbildung abgeschlossen oder das Abitur. In Amerika sind es 47 und in Spanien 28 Prozent. Das sind natürlich enorme Unterschiede. Genau deshalb sieht bei uns die Lehrstellenund Arbeitsmarktsituation der Jugendlichen besser aus als die in anderen europäischen Staaten. Herr Schummer, genau darauf haben Sie hingewiesen. Bei uns ist die Jugendarbeitslosigkeit am geringsten. Man muss zudem feststellen: Seit 1998 wird sie geringer. Die Situation heute ist besser als die vor 1998. ({3}) Diesen Standortvorteil will die Frau Ministerin mit ihrem Gesetzentwurf ausbauen. Denn jeder von uns weiß: Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens. Gerade deshalb brauchen wir in einer globalisierten Welt gute Angebote sowohl für leistungsschwächere Jugendliche als auch für leistungsstärkere Auszubildende. Daran sollte die Industrie ein starkes Interesse haben. ({4}) Wir brauchen die Facharbeiter, heute und in der Zukunft. Die Industrie müsste das begleiten und weiter unterstützen; denn der demographische Wandel - die Frau Ministerin hat es vorhin angesprochen - wird sich auch in diesem Bereich auswirken. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nimmt dramatisch ab. Das muss gesehen werden. Genau deshalb ist unsere duale Ausbildung eine Zukunftsinvestition in die Industrie, aber natürlich auch in unsere Gesellschaft. ({5}) Ich sagte es vorhin schon: Angesichts steigender Qualifikationserfordernisse - nicht jeder Jugendliche schafft das - brauchen wir ein gutes Angebot auch für die leistungsschwachen Auszubildenden. Schon in den 70erJahren gab es eine zweijährige Ausbildung; Teilezurichter war zum Beispiel ein solcher Ausbildungsberuf. Damit haben wir eigentlich eine gute Erfahrung gemacht. Die Menschen, die in diesen Berufen arbeiten, haben eine gute Basis, um sich weiterzubilden. Ich begrüße es deshalb, dass wir neue Ansätze schaffen. Fachlagerist, Maschinenführer und Änderungsschneiderin sind einige Beispiele für interessante Berufe. Wir brauchen eben auch Angebote für leistungsschwächere Jugendliche. ({6}) Schon heute haben wir hier einige Veränderungen. Zum anderen brauchen wir natürlich auch für Leistungsstärkere gute Angebote. Vieles haben wir im Laufe der letzten Jahre verändert; Herr Tauss hat vorhin darauf hingewiesen. Neue Ausbildungsberufe wie Elektroniker, Systeminformatiker und IT-Kauffrau bzw. -Kaufmann sind in der letzten Zeit hinzugekommen. Hier haben Abiturienten sowie gute Realschüler und Gesamtschüler eine Chance. ({7}) Aber eines ist ganz sicher interessant: Auch der Übergang zur zweiten Schwelle ist hier bei uns in Deutschland äußerst günstig. Fast 80 Prozent der Auszubildenden erhalten im Ausbildungsbetrieb eine Chance und arbeiten dort weiter. Das gibt es natürlich in ganz Europa nicht. 80 Prozent sind eigentlich der beste Beweis dafür, dass wir ein gutes Ausbildungssystem haben. Dieses Ausbildungssystem soll durch den vorliegenden Gesetzentwurf gestärkt und verbessert werden. Wie flexibel wir arbeiten, um Ausbildungsplätze zu schaffen, macht die Verschiebung der Ausbildungseignungsprüfung besonders deutlich. Denn viele Kleinunternehmer haben sich beklagt und gesagt: Es ist auf der einen Seite zu teuer und auf der anderen Seite zu problematisch und zu aufwendig, eine solche Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer oder der Handwerkskammer machen zu lassen. Die Bundesregierung hat ganz flexibel reagiert und den Nachweis der Ausbildungseignungsprüfung für fünf Jahre ausgesetzt. Durch all diese Maßnahmen der Bundesregierung soll der Standort Deutschland gestärkt werden. Die Menschen in Deutschland sind innovativ und sehr gut ausgebildet, sagte der von mir bereits zitierte amerikanische Unternehmer. Unser Gesetz fördert und unterstützt diese Aussage. Lasst uns gemeinsam zu einer guten Lösung kommen! ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Ausführungen, die heute gemacht worden sind, beginne ich mit einer persönlichen Bemerkung. Frau Ministerin Bulmahn - entschuldigen Sie, dass ich Ihren Dialog störe -, es wird Sie vermutlich nicht treffen, aber es trifft und betrifft mich: Ich bin traurig. ({0}) Jawohl, ich bin traurig über das, was Sie heute in Ihrem Gesetzentwurf nach unserer Vorgabe vorgelegt und mündlich dargestellt haben. ({1}) Es reicht einfach nicht, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. ({2}) Die Novellierungsvorschläge von CDU/CSU und FDP boten Ihnen Anlass, unser gutes Gedankengut in den Gesetzentwurf einzubringen. Was jetzt allerdings im Detail daraus geworden ist, reicht - zumindest zum Teil - nicht aus. Ich nenne einen weiteren Grund, warum ich unter dieser Situation leide: Bereits vor 2 200 Tagen haben wir erfahren, dass die SPD „in einer Ausbildungsoffensive die Modernisierung und Verbesserung der Attraktivität der beruflichen Bildung vorantreiben“ will. Zuvor wollte Kanzlerkandidat Schröder sogar ein „Deutschland als Ideenfabrik durch Verdoppelung der Investitionen in Bildung, Forschung und Wissenschaft“. ({3}) Was ist daraus geworden? Gerade so viel, dass ein Mitglied des Bundestages, das die wesentlichen Aussagen meistens nicht versteht, an dieser Stelle noch klatscht. ({4}) Es gibt keine ausreichende Handlungsoption, lediglich viel Gejammer in hoher Tonlage und immer wiederkehrende Versuche, eigene Verantwortung auf andere abzuschieben. Dokument dieses augenscheinlichen Versagens, meine Damen und Herren, ist der jährlich wiederkehrende und uns gerade vorgelegte Berufsbildungsbericht, der auf entlarvende Weise dokumentiert, dass aufgrund der inzwischen sechs Jahre andauernden Politikpleite der rot-grünen Bundesregierung die Wirtschaft - hier vor allem der Mittelstand - trotz größter Anstrengungen nicht mehr in der Lage ist, eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen für die Jugend zur Verfügung zu stellen. Dies ist nicht allein eine Frage guten Willens. ({5}) Der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung hat nicht von ungefähr dies in aller Deutlichkeit in einer Stellungnahme formuliert. Ich zitiere aus ihr jetzt nicht im Einzelnen, zumal Herr Kollege Schummer darauf verwiesen hat. Für besonders wichtig halte ich es aber, die „Empfehlung zur Schaffung neuer anerkannter Ausbildungsberufe mit weniger komplexen Anforderungen für qualifizierte Fachkräfte“ dieses Instituts aufzugreifen. Hierbei handelt es sich um eine Forderung, die die Union schon seit Jahren stellt und mit dem eigenen Gesetzentwurf zur Reform der Berufsbildung bereits vor längerer Zeit in den Bundestag eingebracht hat. Von Ihnen, meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, kam, wie Sie zugeben müssen, jahrelang nichts. ({6}) Dies nenne ich einen Dornröschenschlaf im traumatisch bestimmten Märchenland rot-grüner Bildungspolitik. Falls der heute von Ihnen eingebrachte Entwurf Ihre tatsächliche Auffassung zu einer Ausbildungsoffensive darstellen sollte, werden wir die vermeintlichen Früchte der von Ihnen propagierten Innovationsoffensive vermutlich erst mit den Kindern unserer Enkel genießen können. ({7}) Zu unserem eigenen Entwurf möchte ich Folgendes sagen: Wenn dieser Entwurf, der bei der ersten Lesung so manchen Zuspruch gefunden hat, Einfluss auf Gespräche zwischen unseren Fraktionen nehmen kann und wenn das, was Frau Bettin soeben im Sinne der Annäherung ({8}) verdeutlich hat, ebenfalls Niederschlag findet, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir vor oder nach der Anhörung zu einem bestimmten Abgleich zwischen den Entwürfen kommen könnten. Für uns ist aber wichtig, dass folgende Punkte aus unserem eigenen Antrag anerkannt werden: Erstens. Schnellere Berufsbildung durch ein Schlichtermodell. Zweitens. Gestreckte Abschlussprüfung als Regel bei dreijährigen Ausbildungen. Drittens. Ausbildungsverordnungen auf dem Boden des Hauptschulabschlusses, deswegen - viertens - die Stufenausbildung als Regelausbildung. Fünftens. Unmittelbare Aufnahme der Berufsschulleistungen in das Abschlusszeugnis. Dies sind allesamt Punkte, die seit langem bekannt sind und den ausbildenden Betrieben, aber auch den Schulen weiterhin auf den Nägeln brennen. Eines ist sonnenklar: Die Verzögerungstaktik von Rot-Grün verhinderte während der letzten Jahre die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ({9}) und verbaute so vielen jungen Menschen den Zugang zu einer ordentlichen Ausbildung. Ich nenne das unverantwortlich und traurig. ({10}) Ich gebe Dieter Grasedieck, dem Kollegen der SPD, Recht, der gesagt hat, dass eine solide Ausbildung die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am Arbeitsmarkt darstellt. ({11}) Sie, Frau Ministerin Bulmahn, haben seinerzeit erklärt, unser Gesetzentwurf sei zu „schlicht“. Das mag aus Ihrer Perspektive so richtig sein, gleichwohl ist es falsch, und zwar total falsch; denn wer wie Rot-Grün alles nur von oben regeln will, dem ist unser kompakter, auf Eigenverantwortung gestützter und an der konkreten Basis orientierter Entwurf natürlich zu schlicht. Welche Überregulierung hingegen der Regierungsentwurf betreibt, kann ich Ihnen mindestens anhand von drei Punkten nachweisen. Ich mache das aber in aller Kürze, weil wir auf diese Themen schon im Laufe dieser Debatte zwangsläufig eingegangen sind. Es geht zum Ersten um die Kammerprüfung. Dazu will ich nur zitieren, was der Hauptausschuss des Bundesinstitutes für Berufsbildung gestern in einer gemeinsamen Stellungnahme von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Vertretern der Länderseite formuliert hat - der Kollege Schummer hat bereits darauf hingewiesen -: Entscheidungen über die Gleichstellung von Bildungsgängen müssen im Einvernehmen mit den zuständigen Stellen und Sozialpartnern getroffen werden. Entscheidend sind die inhaltliche und zeitliche Gleichwertigkeit des schulischen Bildungsganges mit einem anerkannten Beruf und die Einbeziehung der betrieblichen Praxis. Wenn das keine neutrale Stellungnahme ist! Genau das war auch immer unsere Auffassung. Ein zweites Thema ist der Gestaltungsspielraum bei der Vergütung. Dieses Thema taucht wiederholt auf, weil es existenziell notwendig ist. Dazu möchte ich sagen, dass der meist verehrte - nicht: der am meisten verehrte, sondern: der ab und zu verehrte - Kollege Brase das letzte Mal erklärt hat: Er glaube nicht daran, dass die Ausbildungsvergütungen einen Einfluss auf die Anzahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze hätten. ({12}) Das ist ein Irrtum. ({13}) Das ist deswegen ein Irrtum, weil sich nach der Befragung vieler Betriebe dieses herausgestellt hat: Grund für die rückläufigen Ausbildungsstellenangebote sind für 73 Prozent der Betriebe die hohen Ausbildungskosten. Deswegen müssen wir an dieser Stelle etwas machen. ({14}) Das gilt natürlich, drittens, auch für die regionalen Bildungskonferenzen. Warum eigentlich? Diese sind unsinnig, weil sich die jeweils relevanten Akteure in den Regionen bereits kennen und ohnehin seit langem erfolgreich zusammenarbeiten. Darüber hinaus kann konstruktive Zusammenarbeit nicht staatlich verordnet werden. Deswegen bleiben wir auch hier bei unserer Kritik, die wir aber im Einzelnen gerne bereit sind, im Rahmen der Anhörung, vor allen Dingen aber in den Ausschussberatungen zu aktualisieren. Einen bestehenden Konsens möchte ich auch nicht leugnen. Ich gestehe Ihnen zu, dass wir in einigen Punkten nicht total auseinander liegen. Drei nenne ich exemplarisch: zum Ersten die Anrechnung beruflicher Qualifizierung auf die Ausbildungszeit, zum Zweiten die gesetzlichen Grundlagen verschiedener Verbundausbildungen und zum Dritten die Zertifizierung von Teilqualifikationen. Meine Herren und Damen von der Koalition, wenn das alles so bleiben sollte, wie Sie glauben, dass es aufgrund Ihrer Gesetzesvorlage bleiben könnte, muss ich allerdings feststellen: Wieder einmal haben Sie sich von Umverteilungsgedanken leiten lassen, wo Werteschöpfung hingehört. Wieder einmal verordneten Sie staatliche Kontrolle und verhindern damit sinnvolle Eigenverantwortung. Wieder einmal setzten Sie auf Meinungsbildung im Kollektiv, statt persönlichen Initiativen zu vertrauen. ({15}) Das Ergebnis liegt auf der Hand: mehr Staat, weniger Ausbildung. Ich bedauere das. Das ist traurig. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über ein Berufsbildungsreformgesetz. Es geht um Jugend und Bildung, also um die Zukunft der Gesellschaft insgesamt. Das Gesetz war überfällig, denn das alte hat 35 Jahre auf dem Buckel. Die Reform war übrigens auch schon lange versprochen und die Versprechen waren sehr anspruchsvoll. Die PDS im Bundestag begrüßt, dass es nun endlich konkret wird, und wir bedauern, dass die Reformen nicht weiter gehen als von Rot-Grün beschrieben. Bevor ich über einige Pro und Kontra spreche, nenne ich einen zentralen Punkt in diesem Zusammenhang: das duale Ausbildungssystem. Alle Beteiligten gehen davon aus, dass es eine bewährte Marke made in Germany ist. Es soll gestärkt werden. So steht es auch als Ziel im Gesetzentwurf. Praktisch erleben wir seit Jahren jedoch eine andere Entwicklung: Immer mehr Betriebe, insbesondere große, bilden immer weniger aus. Immer mehr Jugendliche weichen auf schulische Ausbildungsgänge, oft ohne vollwertigen Berufsabschluss, aus ({0}) - müssen, weil eben nicht ausgebildet wird -, werden in berufsvorbereitende Maßnahmen gedrängt, die für viele nur Warteschleifen sind, oder werden gar nicht ausgebilPetra Pau det. Deshalb bleiben wir dabei: Wer das duale System stärken will, muss es vor dem weiteren Verfall retten. ({1}) Auch deshalb waren wir übrigens für eine gesetzliche Ausbildungsumlage und nicht für einen fragwürdigen Ausbildungspakt. ({2}) Wenn wir nun den gesetzlichen Rahmen für die Berufsausbildung erneuern, dann natürlich mit klaren Ansprüchen. Wir wollen Chancengleichheit für alle Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Konfession oder ihrer sozialen Lage. Wir wollen eine qualifizierte Grundausbildung, die gute Arbeitschancen und Weiterbildungswege eröffnet. Wir wollen Fachleute, die im Leben bewandert, sozial kompetent und demokratisch engagiert sind. Wir wollen schließlich Abschlüsse, die in allen Regionen - daheim, aber auch in anderen Ländern Europas - anerkannt werden. ({3}) Davon sind wir in der Bundesrepublik bisher weit entfernt. Der DGB spricht sogar von einer Ausbildungskrise. Er meint damit nicht nur die fehlenden Ausbildungsplätze und die damit fehlende Chancengleichheit für viel zu viele Jugendliche. Er meint auch die inhaltlichen Seiten der Berufsausbildung. Ich finde, zu Recht. Das führt uns zwangsläufig zu der Frage, ob die vorgeschlagenen Reformen gut und weit reichend genug sind, um aus der Krise herauszukommen. Die PDS im Bundestag glaubt, dass das nicht der Fall ist. Das will ich zum Schluss an einem Streit illustrieren, der im Bundesrat stattgefunden hat. So reklamieren die Bundesländer mehr Kompetenzen für sich. Zugleich wollen sie die Koordinierungsrechte des Bundes beschneiden. Vielfalt kann gut und förderlich sein. Sie kann aber auch zu einem babylonischen Sprachgewirr verkommen, das niemand mehr versteht. Ich will, dass ein Ausbildungsabschluss aus Mecklenburg-Vorpommern auch in Bayern gilt und dass ein Zeugnis aus Bremen auch „sachsentauglich“ ist. Das gehört zur angestrebten Chancengleichheit. ({4}) Derselbe Anspruch hat auch seine internationale Entsprechung. Es ist gut, wenn Ausbildungsabschlüsse wechselseitig anerkannt werden und wenn Jugendliche Teile ihrer Berufsausbildung auch im Ausland absolvieren können. Aber die Angleichung internationaler Standards darf nicht nach unten erfolgen. Sie muss modernen Anforderungen genügen. Ausbildungsabschnitte sollen künftig als Module angeboten werden, die sich zu einer Komplettausbildung summieren. Das kann gut sein und Jugendlichen, denen ihre Ausbildung schwerer als anderen fällt, zusätzliche Anreize schaffen. Es darf aber nicht dazu führen, dass Generationen von Teilgebildeten ausgebildet werden, die zwar zwei oder drei Module absolviert, aber keine vollständige Berufsausbildung erhalten haben. ({5}) Das betrifft übrigens auch die praxisnahe Vorbereitung auf die Berufsausbildung. Auch hier wünschen sich die Bildungspolitikerinnen und -politiker der PDS weiter gehende Reformen. Das betrifft übrigens auch die Gleichbehandlung spezifischer und dennoch beachtlicher Gruppen. Ich nenne nur Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Jugendliche mit Behinderungen. Der DGB hat den Gesetzentwurf in diesen Fragen als enttäuschend bezeichnet. Es bleibt also noch viel zu tun; denn, wie eingangs gesagt, mit der Umsetzung dieses Gesetzentwurfs geht es um die Jugend, um Bildung und damit um Zukunft. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Berufsbildungsgesetz, über das wir heute reden, ist 35 Jahre alt. Alle Redner haben betont, dass seitdem einiges passiert ist. Wir begrüßen ausdrücklich die Novellierung des BBiG. Ebenso ausdrücklich begrüßen wir, dass die Bundesregierung dies zu einem bildungspolitischen Schwerpunkt gemacht hat. ({0}) Das duale System ist immer noch eine Erfolgsstory. Alle EU-Länder mit dualer Berufsausbildung können auf eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit verweisen. Deutschland ist hier durchaus Vorbild. Ganz kurz sei erwähnt: In Ländern mit dualer Ausbildung gibt es weniger arbeitslose Jugendliche und diese sind zudem wesentlich kürzer arbeitslos. ({1}) Trotzdem führen wir eine Debatte, in der von einer Krise und von Symptomen der negativen Veränderung des dualen Systems gesprochen wird. Seine Attraktivität hat teilweise gelitten. Welche Symptome sind also zu beobachten? Nur noch 25 Prozent aller Unternehmen bilden aus. Vor 20 Jahren waren es noch 35 Prozent. Gestatten Sie mir die Randbemerkung: Es war durchaus richtig, dass wir über diese Frage im Frühjahr an anderer Stelle intensiver diskutiert haben. ({2}) Die Ausbildungsquote ist auf 5 Prozent gesunken. Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2004 ansehen, können wir das nachlesen. Das Durchschnittsalter der Jugendlichen im dualen System hat sich von 16 auf 19 Jahre erhöht. Die Konjunkturabhängigkeit der beruflichen Bildung ist in den letzten Jahren ständig gestiegen. Das, was man als „Krise der dualen Ausbildung“ beschreibt, hat also konjunkturelle und strukturelle Ursachen. Lassen Sie mich etwas zu den strukturellen Ursachen sagen: Erstens. Es findet eine Spezialisierung der Berufe statt. Die Folge ist, dass die Breite der Ausbildungsberufe abnimmt. Es gibt immer mehr überspezialisierte Ausbildungsberufe. Ich glaube, dass solche Berufe nicht die Zukunft haben, die wir dringend brauchen. In einem für das Bundeswirtschaftsministerium erstellten Gutachten wurde eine Liste von 30 neuen Berufen dargestellt, zum Beispiel der Beruf der Fachkraft für Sonnenstudios. Ich halte dies nicht für zielführend und meine, wir müssen die Vielzahl von Ausbildungsberufen reduzieren und schrittweise moderne - weil flexible und dynamische - Kernmodule schaffen, mit einer hinlänglichen Bandbreite der Kompetenzen. Ich glaube, das ist wichtig für die Wirtschaft und für die Jugendlichen. Zweitens. Nicht zuletzt aufgrund des internationalen Konkurrenzdrucks konnten vor allem kleine und mittelständische Betriebe immer häufiger das notwendige Ausbildungsspektrum nicht mehr vollständig anbieten. Das ist der tiefere Grund, warum wir viel stärker als bisher Verbundausbildung und Ausbildungspartnerschaften fördern müssen. Ich plädiere dafür, diesen kooperativen Formen der Ausbildung im BBiG einen eigenen Stellenwert beizumessen. Wir brauchen eine Offensive für Verbundausbildung, für Ausbildungsmanagement und Ausbildungspartnerschaften, und zwar über die gesamte Breite der Akteure, nicht nur aufseiten des Bundes, der ja mit dem STARegio-Programm den Startschuss dazu gegeben hat. ({3}) Drittens. Der große Vorteil des dualen Systems, die Nähe zum Arbeitsprozess, wird in doppelter Weise gefährdet. Einerseits durch stärker verschulte Elemente in der betrieblichen Ausbildung selbst: Das Lernen im Arbeitsprozess ist auch im Betrieb in der Defensive. Ich verweise hier nur auf die wachsende Kritik an den Ausbildungs- und Lehrwerkstätten, die von den konkreten Arbeits- und Geschäftsprozessen weitgehend losgelöst sind. Andererseits durch die wachsende Konkurrenz vollzeitschulischer Ausbildung: Die staatliche Form der Berufsausbildung hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen. ({4}) Dies ist meist nur eine Reaktion auf fehlende Ausbildungsplätze in den Betrieben ({5}) und - ich will es deutlich sagen - auf eine mangelnde Ausbildungsleistung der Unternehmen. Sie können im Berufsbildungsbericht nachlesen, dass wir wesentlich mehr Unternehmen haben, die ausbilden könnten, dies aber nicht tun. Das rechtfertigt unser Handeln vom Frühjahr. ({6}) Zur Funktion der vollzeitschulischen Ausbildungsgänge findet nun eine durchaus heftige Debatte statt. Dazu einige Bemerkungen: Peter Glotz hat den Spruch formuliert - ich zitiere -: 5 Prozent Wissensarbeiter sind die, die den Kapitalismus am Laufen halten. Im Gegensatz zu diesem Elitenkonzept hat Horst Neumann, Personalvorstand bei Audi, vor wenigen Tagen berichtet, dass in seinem Unternehmen in den letzten 20 Jahren der Facharbeiteranteil von 20 auf 70 Prozent angestiegen ist; dies sei zugleich mit einem starken Anstieg ihres Qualifikationsniveaus verbunden. ({7}) Damit berühre ich die Grundsatzfrage bezüglich der Zukunft des dualen Systems: Ist der Übergang zur so genannten postindustriellen Gesellschaft, zur Wissensgesellschaft, zwangsläufig mit einem Rückgang der Zahl der dual ausgebildeten Facharbeiter, Fachangestellten, Meister und Techniker zugunsten der Beschäftigten mit schulischem oder akademischem Abschluss verbunden? Mit dem IAB halte ich dagegen, dass sich der Anteil der dual ausgebildeten Mittelqualifizierten bis 2010 stärker erhöhen wird als der Anteil der Hochqualifizierten. In der wissenschaftlichen Debatte über die Berufsbildung ist die Rede vom notwendigen Paradigmenwechsel vom dualen zu einem pluralen Berufsbildungssystem, von einem Trend zur Modernisierung der Berufsbildung durch Akademisierung und Verschulung. Ich kann vor einem solchen Systemwechsel nur warnen. Wer diesen Systemwechsel will, betreibt nach meiner Auffassung Standortschädigung. ({8}) Er gefährdet außerdem die berufliche Zukunft des wichtigsten Teils unserer Arbeitnehmerschaft. Wenn man heute richtig zugehört hat, kann man, glaube ich, festhalten: Er wird keine Mehrheit im Deutschen Bundestag finden. ({9}) Die Alternative kann nur gehen einerseits in Richtung der arbeitsorientierten Wende, in Richtung der Stärkung des Arbeitsprozesswissens der Ausbildung und entlang konkreter Arbeits- und Geschäftsprozesse, sowie andererseits in Richtung dynamischer Kernberufe, also der Reduzierung der Zahl der Ausbildungsberufe; darüber haben wir hier in der Vergangenheit schon debattiert. Duale Berufsausbildung zeichnet sich, im Unterschied zur schulischen Berufsbildung, wesentlich dadurch aus, dass sie zur Berufsfähigkeit führt. Bewirkt wird dies durch das Zusammenspiel reflektierter Arbeitserfahrung in beruflichen Arbeitszusammenhängen und einer darauf bezogenen systematischen Vertiefung und Verallgemeinerung des beruflichen Arbeitsprozesswissens in der Berufsschule. Ich glaube, dass die Vorschläge der KMK für den Ausbau der dynamischen Kernberufe und gegen noch mehr Spezialberufe, gegen die weitere Verstaatlichung des dualen Systems richtig sind und dass wir zukünftig diese Berufsfähigkeit der jungen Menschen brauchen. ({10}) In diesem Zusammenhang will ich den schon mehrfach zitierten Beschluss des Hauptausschusses des Bundesinstitutes für Berufsbildung noch einmal bemühen. Darin sprechen sich die Sozialpartner und eine klare Mehrheit der Länder im Verhältnis von 38 zu 22 Stimmen für eine sehr restriktive Ausdehnung der Verschulung aus, die im Übrigen im Einvernehmen mit den zuständigen Stellen und den Sozialpartnern zu regeln ist. ({11}) Ich fürchte auch, dass durch die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltene Öffnung des dualen Systems für vollzeitschulische Ausbildungsgänge und seine beabsichtigte gleichberechtigte Stellung neben der dualen Ausbildung die strukturellen Probleme noch verschärft werden könnten. Ich wünsche mir, dass wir im Gesetzgebungsverfahren hierüber gemeinsam zu einer Vertiefung der Diskussion gelangen. Richtig ist das Bemühen der Bundesregierung, eine Lösung für die Jugendlichen in den Warteschleifen zu finden. Für mich macht ein anderer Weg allerdings ebenfalls Sinn, um diesen Jugendlichen zu helfen, nämlich die stärkere Dualisierung der vollzeitschulischen Ausbildungsgänge. Hier sollten noch weitere Ideen entwickelt werden, nicht zuletzt mit Blick auf die dazu notwendigen Ressourcen aufseiten der Länder. Das sollten wir nicht vergessen. ({12}) - Und der Wirtschaft. Lassen Sie mich noch drei kurze Bemerkungen machen. Zum Stichwort Föderalismus nur dies: Wer die Zuständigkeit für die berufliche Bildung sozusagen auf dem Basar den Ländern übergeben will, muss mit entschiedenem Widerstand der Koalitionsfraktionen rechnen. ({13}) Man kann nicht auf der einen Seite bei den Bundeskompetenzen in Bildungsfragen nichts abgeben wollen und auf der anderen Seite den Ländern die Regelung der vollzeitschulischen Ausbildung übertragen. Ich finde, es würde Sinn machen, nach der Anhörung in Ruhe darüber zu diskutieren, wie wir damit umgehen. ({14}) Zur Berufsausbildungsvorbereitung und damit zum Thema Warteschleifen. Hier haben wir ebenfalls Diskussionsbedarf. Manche stehen kritisch zum Ausbildungspakt. Es scheint sich aber doch abzuzeichnen, dass bei der Einstiegsqualifizierung - so eine Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vor zwei Tagen - einiges bewegt wurde. Ich glaube, dass wir mit den Einstiegsqualifizierungen den richtigen Weg in die zukünftige betriebliche Berufsausbildungsvorbereitung gehen. Das wollten die Koalitionsfraktionen ebenso wie die Bundesregierung ausdrücklich. ({15}) Mit Blick auf die Attraktivität des Berufsbildungssystems für die Jugendlichen geht es schließlich auch um eine wesentlich verbesserte Durchlässigkeit des Systems nach oben. Hier sind wir ganz originär auch auf die Länder angewiesen. Herr Schummer, wenn wir es schaffen, hier im Bundestag gemeinsam zu beschließen, dass diese Durchlässigkeit des dualen Systems gerade auch für die Facharbeiterinnen und Facharbeiter und für die ausgebildeten jungen Menschen gilt, dann müssen wir auch Druck auf die Länder machen, dass sie das entsprechend umsetzen. Bildung und Forschung sind die zentralen Standortqualitäten im Hochlohnland Deutschland. Deshalb muss die Auszehrung des dualen Systems gestoppt werden. Das duale System ist kein Relikt der Industriegesellschaft und schon gar nicht der korporatistischen Interessen der Sozialpartner. Bei allen notwendigen Anstrengungen im Bereich Hochschulen und Forschung: Wenn wir der weiteren Verlagerung von Betriebsstandorten ins Ausland begegnen wollen, dann müssen wir die Qualifikation der so genannten Mittelqualifizierten kräftig ausbauen und der Ausbildung im Arbeitsprozesswissen sowie der Durchlässigkeit des dualen Systems nach oben eine viel größere Bedeutung zuweisen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich denke daran. - Die Modernisierung der beruflichen Bildung muss zentrales Moment der Innovationsoffensive der Bundesregierung werden. Ich hoffe, dass wir uns in der kommenden Anhörung im Ausschuss und mit dem Bundesrat darüber austauschen können und dass wir zu einem Gesetz kommen, das den Innovationsanforderungen in unserem Lande gerecht wird und den Jugendlichen eine vernünftige Zukunftsperspektive bietet. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bulmahn, lassen Sie mich Ihnen erst einmal dafür danken, dass Sie heute die richtigen Worte gewählt und der Wirtschaft sowie den Unternehmen für die Ausbildungsleistung und die Nachbesetzung der Ausbildungsplätze gedankt haben. ({0}) Diese wichtige Leistung müssen wir hier immer wieder hervorheben. Als wir vor einiger Zeit über die Ausbildungsplatzabgabe diskutiert haben, ({1}) hat es sich noch etwas anders angehört. Wir sind daher auf einem halbwegs guten Weg. ({2}) - Ich hoffe, dass auch Sie froh sind, Herr Tauss, dass die Wirtschaft ({3}) unter großen Anstrengungen noch immer bereit ist, Ausbildungsplätze bereitzustellen. ({4}) Hätten Sie sich schon vor Monaten mehr an das gehalten, was wir Ihnen gesagt haben, dann wären wir einen großen Schritt weiter. Das wäre auch für die Wirtschaft und die Ausbildungsplätze in Deutschland gut gewesen. ({5}) Wir haben Ihnen schon vor Monaten gesagt, dass die Schaffung von Ausbildungsplätzen allein nicht ausreichen wird. Wir müssen die Rahmenbedingungen entsprechend gestalten, das Berufsausbildungsgesetz ändern und es an die Anforderungen der Wirtschaft anpassen. Mehr Ausbildungsplätze für die jungen Menschen in Deutschland zu schaffen ist die Aufgabe, die wir erledigen müssen. Das heißt in erster Linie: Die Ausbildung muss in hohem Maß flexibler und kostengünstiger werden. Neue Berufsbilder müssen schneller entwickelt werden. Auch muss die Anzahl der ausbildungsfähigen Betriebe gesteigert werden. Das sind die richtigen Lösungsansätze, um aus der Ausbildungsmisere herauszukommen. Die Forderung, die die IG Metall und Verdi heute wieder vertreten, die Ausbildungsumlage einzuführen, hilft uns nicht weiter. ({6}) Anstatt die von uns dargelegten Maßnahmen zu prüfen, legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der zu nachhaltigen Qualitätsverlusten in der Berufsausbildung, zusätzlicher Bürokratie, zusätzlichen Kosten, einer Verschulung der Berufsausbildung und zwangsläufig zu steigender Jugendarbeitslosigkeit führen wird. Das sind die Realitäten der Politik, die Sie vertreten und die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Das eigentlich ausschlaggebende Qualitätsmerkmal des deutschen Bildungssystems und der entscheidende Vorteil gegenüber anderen Systemen ist die Integration in die berufliche Praxis. Die duale Ausbildung lebt davon, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet, also praxisbezogen und anwendungsorientiert ist. Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene Gleichstellung zwischen der dualen und der schulischen Berufsausbildung wird die Qualität der Ausbildung in Deutschland dauerhaft gefährden. Sie beklagen in diesem Hause regelmäßig, dass zu wenig Betriebe ausbilden. Sie machen den Unternehmern und Handwerkern pauschale Vorhaltungen, dass diese zu wenig Ausbildungsplätze bereitstellen. Stattdessen sollten Sie sich die spezielle Situation dieser Betriebe einmal ansehen. ({7}) Jetzt wollen Sie den Weg gehen, die schulische Berufsausbildung zur Kammerprüfung zuzulassen. Ich sage Ihnen: Das ist der Anfang vom Ende des dualen Bildungssystems. Das führt zu einer fortlaufenden Aushöhlung dieses Systems. Im Ergebnis machen Sie es den Betrieben leicht, ihre Verantwortung, die die Betriebe in Deutschland zweifelsohne in hohem Maße für unsere jungen Menschen haben und der sie auch nachkommen wollen, Zug um Zug an den Staat abzugeben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Dobrindt, der Kollege Tauss möchte Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage gerne verlängern.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darüber freue ich mich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Herr Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie tun gerade so, als ob es für den Staat ein Vergnügen wäre, 200 000 Jugendliche in überbetrieblichen Ausbildungsgängen zu schulen. Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass es mir und, wie ich hoffe, allen hier im Raum am allerliebsten wäre, wenn der Staat überhaupt keine schulische Ausbildung anbieten müsste, aber dass denjenigen, die aufgrund der Verantwortungslosigkeit von Teilen der Wirtschaft - ich rede nicht von denen, die ihrer Verantwortung nachkommen - keinen Ausbildungsplatz haben und in solchen Ausbildungsgängen sind, keine Steine in den Weg gelegt werden sollten? Würden Sie nicht auch die Auffassung teilen, dass wir uns gemeinsam bemühen sollten, für diese Jugendlichen etwas zu tun?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Tauss, Sie machen nicht das, was Sie hier fordern. Sie fördern die schulische Berufsausbildung und weigern sich, festzustellen, dass Sie dadurch eine klare Fehlsteuerung innerhalb des Wirtschaftssystems verursachen. ({0}) Die Menschen werden nach einer solchen Ausbildung keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben und müssen danach von der Bundesagentur für Arbeit für viel Geld weitergebildet oder umgeschult werden. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darf nun auch der Kollege Niebel eine Zwischenfrage stellen?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Nachdem der Kollege Tauss, der früher hauptamtlich bei der IG Metall gearbeitet hat, über Anspruch und Wirklichkeit gesprochen hat, ({0}) frage ich Sie: Wenn Sie die Ausbildungsquote des DGB von 0,3 Prozent, von Verdi von 0,4 Prozent und IG Metall von 0,9 Prozent zur Kenntnis nehmen, sind Sie dann mit mir der Meinung, dass Anspruch und Wirklichkeit zwischen der Forderung und der praktischen Wahrnehmung der Ausbildungsverpflichtung etwas auseinander klaffen, selbst wenn wir uns nicht unbedingt wünschen sollten, dass die jungen Menschen bei den Gewerkschaften ausgebildet werden? ({1})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Niebel, das klafft nicht nur etwas auseinander, sondern eklatant. Sie haben ebenso wie ich die Gewerkschaftsfunktionäre in der Diskussion über die Ausbildungsplatzabgabe gehört. Damals hieß es: Wir sind keine Unternehmen, wir müssen uns daran nicht beteiligen. Für uns gilt das alles nicht. - Das ist die Wirklichkeit derer, die dort drüben sitzen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ab sofort hat hauptsächlich der Kollege Dobrindt das Wort. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ausbildung muss für unsere Unternehmen wieder attraktiver werden. Das heißt im Besonderen, dass wir die Bedingungen für die Ausbildung deutlich verbessern müssen. Es muss auch möglich sein, dass eine Abweichung vom Ausbildungsplan erfolgen kann, wenn die zuständigen Stellen zustimmen und wenn es für den Betrieb notwendig ist. Das heißt auch, dass die Ausbildung kostengünstiger werden muss. Wir haben das mehrmals angesprochen. Bei der Ausbildungsvergütung müssen Einschränkungen vorgenommen werden können. Sie ist heute ein entscheidender Kostenfaktor. ({0}) Frau Ministerin Bulmahn, bei der letzten Debatte über unseren Vorschlag zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes haben Sie uns vorgeworfen, dass unser Gesetzentwurf viel zu bürokratisch ist. Ich darf Sie wörtlich zitieren: „Wir brauchen nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Flexibilität in der beruflichen Bildung.“ Darüber sind wir uns relativ einig. Über Entbürokratisierung können wir uns jederzeit verständigen. Besser wäre es allerdings gewesen, Sie hätten Ihre Ratschläge selber in Ihrem Gesetzentwurf befolgt. Ich darf aus dem Entwurf des Berufsbildungsreformgesetzes zitieren. Dort heißt es in § 82 - Herr Tauss, es rentiert sich zuzuhören -: In jedem Bezirk der Agentur für Arbeit wird eine regionale Berufsbildungskonferenz … errichtet … ({1}) In § 83 heißt es: Der regionalen Berufsbildungskonferenz gehören an: 1. acht Beauftragte der Arbeitgeber, acht Beauftragte der Arbeitnehmer und acht Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen … ({2}) 2. vier Beauftragte der Gemeinden …, vier Beauftragte sonstiger Berufsbildungseinrichtungen … sowie ein Beauftragter … der Agentur für Arbeit … Ich erspare mir jetzt das weitere Zitieren. Man muss sich direkt wundern, dass es berufliche Bildung in Deutschland überhaupt gegeben hat, bevor Sie die gesetzlichen Regelungen zur regionalen Bildungskonferenz geschaffen haben. ({3}) Sie schaffen überflüssige Bürokratie. Die Betroffenen arbeiten in aller Regel hervorragend zusammen, und zwar besser, als wenn Sie dies gesetzlich verordnen. Ich fordere Sie deswegen auf: Prüfen Sie doch einmal, ob Sie wirklich das wollen, was in diesem Gesetzentwurf steht. Herr Tauss, ein Wunsch an Sie persönlich: Holen Sie doch die Ministerin aus diesem Bürokratiedschungel heraus! ({4}) Es reicht schlichtweg nicht, immer wieder zu sagen, dass die nicht vorhandenen Ausbildungsplätze von heute die nicht vorhandenen Fachkräfte von morgen sind. Die Bundesregierung hat die Verantwortung dafür, dass die jungen Menschen in Deutschland eine Zukunft und eine Chance auf Ausbildung und Arbeit haben. Dazu gehört der Ausbildungspakt. Das ist richtig. Dazu gehören aber vor allem ausreichende Rahmenbedingungen. Die Änderung des Berufsbildungsgesetzes ist eine der notwendigen Rahmenbedingungen. Gehen Sie einen gemeinsamen Weg mit uns! Dann haben wir eine echte Chance, Flexibilisierung, weniger Bürokratie und mehr Lehrstellen in Deutschland zu schaffen. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3980 und 15/3299 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Reibungslose Umsetzung von Hartz IV im Interesse der Betroffenen sicherstellen - Drucksache 15/3803 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Nach einer Vereinbarung der Fraktionen ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu gibt es offensichtlich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer für die CDU/CSUFraktion. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir, die Union, wünschen dem Großprojekt der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe viel Erfolg. Deshalb haben wir dieser Reform zugestimmt. ({0}) Für die pünktliche und gerechte Umsetzung dieses Vorhabens trägt allerdings alleine die Bundesregierung die Verantwortung. ({1}) Nicht nur von den Spitzen der Bundesagentur und von Verbänden, sondern auch von den Aufsichtsgremien werden zunehmend Zweifel daran geäußert, ob alle rotgrünen Zeitpläne eingehalten werden können. Ich zitiere beispielsweise den Chef des Aufsichtsgremiums der BA, des Verwaltungsrates, Herrn Clever ({2}) - hören Sie zu, Frau Dückert! -, der vor zwei Wochen erklärt hat, ({3}) über die Software sei eine richtige Ausrechnung der Ansprüche auf das Arbeitslosengeld II derzeit nicht möglich. Andere Mitglieder dieses Aufsichtsgremiums äußern sich ähnlich. Selbst der Chef der Bundesagentur, Herr Weise, räumt mittlerweile nicht nur ein, dass andere Reformbaustellen - er meint beispielsweise Hartz III - erst einmal zu kurz kommen, sondern auch, dass die Vermittlungsquoten Anfang nächsten Jahres zurückgehen werden. In diesen Zusammenhang passt eine Agenturmeldung, die uns vor wenigen Stunden erreicht hat. Danach sagte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit am heutigen Donnerstag, die Hälfte der 180 Arbeitsagenturen habe am Mittwoch nicht mehr auf die Datenbank zugreifen können. Das Computerprogramm sei erstmals abgestürzt. Die Computerexperten der Bundesagentur hätten den Fehler allerdings in einer Nachtschicht beheben können. ({4}) Von Sozialamtschefs werden bereits Notfallpläne diskutiert. In Berlin beispielsweise spricht der Neuköllner Sozialstadtrat Michael Böge von Notfallplänen, nach denen die künftigen Hilfeempfänger möglicherweise Abschlagszahlungen bekommen könnten. Fast 3,5 Millionen Menschen sind in Sorge, ob sie tatsächlich zum 1. Januar Arbeitslosengeld II erhalten werden. Viele verzweifeln beim Ausfüllen des 16-seitigen Fragebogens, der völlig missglückt ist. Zudem hat die unsägliche Diskussion zwischen Rot und Grün darüber, ob im Januar kommenden Jahres bei der Auszahlung ein Monat übersprungen werden soll, das Vertrauen mancher in die Umsetzung des Programms erschüttert. Vor diesem Hintergrund frage ich die Bundesregierung, Herr Staatssekretär - die Menschen in Deutschland wollen das wissen -: Erstens. Besteht die Gefahr einer Bruchlandung, ja oder nein? Ich fordere Sie auf, heute hier im Deutschen Bundestag eine Garantieerklärung abzugeben: Können die 3,5 Millionen betroffenen Menschen und ihre Familienangehörigen damit rechnen, dass sie zum 2. Januar kommenden Jahres die Auszahlungen erhalten? Welche Einschätzungen lassen die ErfahrunJohannes Singhammer gen mit dem neuen Computerprogramm zum gegenwärtigen Zeitpunkt - Ende Oktober - zu? Trifft es beispielsweise zu, dass statt der 40 000 Mitarbeiter der Bundesagentur, die eigentlich Zugriff auf das neue System haben sollten, derzeit nur 16 000 darauf Zugriff haben, weil das Programm immer noch nicht in der Lage ist, größere Kapazitäten zu bewältigen? Wie viele Anträge sind derzeit gestellt worden? Wie viele Anträge müssten in der verbleibenden Zeit - das sind 47 Arbeitstage - bis zum Januar kommenden Jahres täglich bearbeitet und beschieden werden, um alle Anträge abzuarbeiten? Zweitens. Kann die Bundesregierung garantieren, dass den Kommunen und den Landkreisen alle zugesagten Finanzmittel auch tatsächlich zur Verfügung gestellt werden? ({5}) Drittens. Hat die Bundesregierung alles getan, damit die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, Landkreisen und der Arbeitsverwaltung reibungslos funktionieren kann? Es gibt zunehmend Meldungen, dass es um die Zusammenarbeit nicht zum Besten bestellt ist. Zum einen sollen die Landkreise unter Druck gesetzt werden, sich den von den Arbeitsagenturen zentral gesteuerten Arbeitsgemeinschaften zu unterwerfen. Zum anderen erreichen uns Meldungen, dass die Zugriffsmöglichkeiten der Sozialverwaltungen auf die Datensätze der Arbeitsagenturen nicht gegeben seien, dass Stellungnahmen der Datenschutzbeauftragten geltend gemacht würden, dass dies alles zu einer Verzögerung des Abgleichs der Datensätze führe und dass letztlich die Arbeit nicht in dem gewünschten Maße vorankomme. An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsagenturen, der Arbeitsgemeinschaften und der Sozialbehörden, die mit der Umsetzung von Hartz IV, diesem gewaltigen Programm, beschäftigt sind, ein großes Kompliment für ihre Einsatzbereitschaft, für den Verzicht auf Urlaub und für viele Überstunden aussprechen. An den Mitarbeitern all dieser Ämter und ihrer Einsatzbereitschaft liegt es nicht, wenn es zu Problemen bei der Umsetzung kommt. Nun komme ich zum entscheidenden Punkt. ({6}) - Es gibt viele Punkte. - Können den erwerbsfähigen Anspruchsberechtigten tatsächlich Jobangebote unterbreitet werden? Das ist das eigentliche Anliegen von Hartz IV und der Ausgangspunkt der ganzen Reform. Es soll ja besser werden. Mehr Menschen sollen die Chance haben, wieder in Arbeit zu kommen. ({7}) Hartz IV kann nur gelingen, wenn es auch Jobs gibt, in die Arbeitslose vermittelt werden können. Wenn zwar die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen künftig wie die Weltmeister vermitteln, aber die politischen Akteure der Bundesregierung amateurhaft vorgehen und die Jobmaschine nicht in Gang bringen, dann wird Hartz IV kein Erfolg. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In der Arbeitsagentur Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern wird derzeit mit rund 21 000 Arbeitslosengeld-II-Empfängern allein aus der bisherigen Arbeitslosenhilfe gerechnet. Hinzu kommen die Empfänger von Arbeitslosengeld I. Voraussichtlich wird es im Januar kommenden Jahres insgesamt rund 55 000 Arbeitsuchende im Bereich der Arbeitsagentur Stralsund geben. Dem stehen derzeit etwa 1 200 offene Stellen gegenüber. Das heißt, auf jede offene Stelle kommen mittlerweile fast 44 Arbeitsuchende. Das ist die Realität. Solange jeden Tag in Deutschland 1 000 Arbeitsplätze abgebaut anstatt neue geschaffen werden, werden die mit dem gesamten Programm Hartz IV verbundenen Erwartungen kaum zu erfüllen sein; denn die Haupterwartung der Arbeitsuchenden ist, dass die Arbeitsagentur sie an die Hand nimmt, betreut und hilft, einen Job zu bekommen. Aber wo es keine Jobs gibt, wo die Zahl der Jobs Tag für Tag abnimmt, kann die Rechnung nicht aufgehen. ({8}) Herr Bundesminister Clement hat wiederholt sein politisches Schicksal mit der erfolgreichen Einführung des Arbeitslosengeldes II verknüpft. Er hat gesagt: Ich habe dafür den Kopf hinzuhalten, dass am 2. Januar die Auszahlung fristgerecht erfolgt. ({9}) Ich fordere die Bundesregierung auf: Sorgen Sie dafür, dass das Arbeitslosengeld II pünktlich im Januar kommenden Jahres ausgezahlt wird! Stellen Sie den Kommunen und den Kreisen die zugesagten Finanzmittel zur Verfügung! Sorgen Sie für eine reibungslose Kooperation der Arbeitsagenturen mit den Kommunen und den Kreisen! Kümmern Sie sich vor allem darum, dass die Arbeitslosen endlich wieder eine Chance auf einen Job haben! ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung hat nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Singhammer, der von Ihnen vorgelegte Antrag „Reibungslose Umsetzung von Hartz IV im Interesse der Betroffenen sicherstellen“ stellt eines klar - das finde ich gut -: Die größte Oppositionsfraktion steht ohne jeden Vorbehalt hinter dieser Reform. Es ist wichtig, das festzuhalten, weil es im Sommer schon einmal anders klang. ({0}) Zu Ihrer Rede möchte ich Ihnen noch sagen: Wir werden am 2. Januar keine Leistungen auszahlen, weil das ein Sonntag ist. Ich möchte noch etwas klarstellen - dazu brauchen wir weder diese Debatte noch eine Aktuelle Stunde noch Ihre, wie ich persönlich finde, etwas dürftige Rede -: Die Bundesregierung wird sicherstellen, dass jeder seine Leistung erhält. Ich sage es ganz drastisch - ich habe es schon gestern in einer anderen Veranstaltung so gesagt -: Notfalls zahlen wir die Leistungen per Hand oder mit dem Hammer aus. ({1}) Jeder bekommt seine Leistung. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich halte es für angemessen, mich mit einigen Positionen dieses Antrages auseinander zu setzen. Dieser Antrag ist eigentlich überholt. Wenn man sich ihn einmal genauer anschaut, erkennt man, dass er außerordentlich dürftig ist. Erstens: der Zeitdruck. Für den von Ihnen angeführten Zeitdruck trägt nicht allein die Bundesregierung die Verantwortung. Wir sitzen hier alle im gleichen Boot. Letztlich waren zwei Vermittlungsverfahren notwendig, um die gesetzlichen Voraussetzungen für die von Ihnen gewünschte kommunale Option zu schaffen. Deshalb lag die Einigung erst Ende Juni, Anfang Juli vor. Seitdem ist die Umsetzung in vollem Gang. Sie haben gesagt, bei uns liege die alleinige Verantwortung. Daher will ich gleich hinzufügen: Auch das ist Unsinn. ({2}) Manche Kommunen - es sind genau 69 - haben sich entschieden, dieses Vorhaben allein zu schultern. Dementsprechend liegt die Verantwortung nur bei ihnen. Gerade weil ich weiß, was das im Einzelnen bedeutet und was das mit sich bringt, nötigt mir diese Entscheidung großen Respekt ab. Ich wiederhole: Ich habe großen Respekt vor denen, die optiert haben. Anerkennen möchte ich auch den Einsatz von Kommunen und von den örtlichen Arbeitsagenturen zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften. Sie alle wissen, dass im Regelfall örtliche Arbeitsagenturen und die Kommunen in Form von so genannten Arbeitsgemeinschaften kooperieren. Vielleicht ist dieses Vorhaben sogar noch schwieriger als die Option; denn es geht hier um die Fusion zweier völlig unterschiedlicher Kulturen. Zur reibungslosen Umsetzung sind wir also alle aufeinander angewiesen. Wir alle stehen in der Verantwortung. Gerade Sie, die Unionsparteien, waren es doch, die für eine eigene Verantwortung der Kommunen gestritten haben: eine eigene Verantwortung, die wir jetzt in Form von Arbeitsgemeinschaften und zugelassenen kommunalen Trägern verwirklichen. Damit das - Zitat aus Ihrem Antrag - „enorm wichtige Reformprojekt“ gelingt, sollten wir alle Kraft auf die Umsetzung konzentrieren und nicht in SchwarzerPeter-Spielen und Schuldzuweisungen verharren. Herr Singhammer, wenn Sie meinen, Sie könnten hier mit Wasserstandsmeldungen, die sich auf irgendwelche Pressemeldungen beziehen, Stimmung machen, dann entgegne ich Ihnen: Auch das gehört dazu. Sie tragen eine ähnliche Verantwortung wie wir und die sollten Sie auch wahrnehmen. Angesichts der Größe dieses Projektes kann ich aufkommende Sorgen darüber verstehen, dass die Umstellungsphase ungewünschte Nachteile für die Betroffenen mit sich bringt. Wir nehmen das ernst und wir wollen so etwas ausschließen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Bergner?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident, wenn Sie meine Redezeit anhalten, gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wie immer.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Gut, allerdings lief die Uhr weiter, während Sie fragten. Es ging also schon etwas von meiner Redezeit ab.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Bergner, bitte.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie unterstellen uns, dass wir Ihnen den schwarzen Peter zuspielen wollen. Außerdem werfen sie uns vor, dass wir uns vor der Übernahme von Verantwortung drücken. Das verführt mich dazu, Ihnen eine Frage zu stellen, die mir von vielen, die vor Ort mit der Umsetzung beschäftigt sind, gestellt wird. In § 13 SGB II wird der Bundesregierung hinsichtlich der Kostenberechnung und der Kostenerstattung eine umfängliche Verordnungsermächtigung erteilt. Ich werde immer wieder mit der Frage konfrontiert: Wann wird die Bundesregierung diese Verordnungsermächtigung endlich wahrnehmen und wann ist damit zu rechnen, dass wir mit verbindlichen Verordnungen rechnen können? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter, ich war gerade dabei, klarzustellen, dass das ein enorm wichtiges und gewaltiges Reformprojekt ist. Wir arbeiten eine Position nach der anderen ab. Ich kann Ihnen hier ganz verbindlich sagen - wir haben mit den Kommunen lange verhandelt -: Die Kosten, die der Bund zu tragen hat, wird er tragen. Die Kosten, die die Kommunen zu tragen haben, werden sie tragen. Wir arbeiten die Verordnung gegenwärtig Punkt für Punkt ab. Auch diese Verordnung wird kommen. Natürlich wird es knirschen im Gebälk. Das ist im Übrigen nicht anders als bei jeder derartigen Umstellung in der freien Wirtschaft. Schon jetzt aber das Scheitern an die Wand zu malen, wie es Herr Singhammer - er telefoniert gerade interessiert - eben getan hat, ist eher ein Beispiel für Wankelmütigkeit als für Standfestigkeit. ({0}) - Er schaut gerade im Kalender nach, ob der 2. Januar wirklich ein Sonntag ist. Ich traue ihm auch das zu. Zum Punkt 2: Zusammenarbeit mit den Kommunen. Viele notwendige Dinge sind auf den Weg gebracht. Ich habe bei der Beantwortung der Zwischenfrage gerade einiges genannt. Für die zugelassenen kommunalen Träger haben wir verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen, um eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Arbeitsverwaltung sicherzustellen. Per Rechtsverordnung wurden Ende September die kommunalen Träger zugelassen. Im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der vorigen Woche in unserem Ministerium wurde mit ihnen über alle offenen Fragen diskutiert. Wir leisten alle Unterstützung. 77 Prozent der Kommunen wollen eine Arbeitsgemeinschaft gründen und 25 Prozent haben dies zusammen mit der Bundesagentur bereits schriftlich fixiert. Punkt 3. Das ist auch Gegenstand Ihres Antrags und war ebenfalls Gegenstand der Rede vorhin. Wir sind bei der Bereitstellung der zugesagten Sach- und Verwaltungskosten auf einem guten Weg. Die notwendige Verordnung soll nach Verabschiedung des Haushalts endgültig in Kraft treten. Auch was die Kosten der Unterkunft angeht, ist gewährleistet, dass sich der Bund mit mindestens 29,1 Prozent beteiligt. Wohlgemerkt: Die Kommunen bleiben hierfür selbst zuständig. Über die Beteiligung wollen wir aber sicherstellen, dass die Kommunen die zugesagte Entlastung von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr auch wirklich erhalten. Wir haben zwei Revisions- oder Überprüfungstermine für das kommende Jahr vorgesehen. Ich will gleich hinzufügen: Auch die Länder sind verpflichtet, ihre Entlastungen beim Wohngeld an die Kommunen weiterzugeben. Sie hier können sich darum kümmern, dass das auch in den von Ihnen regierten Ländern geschieht. ({1}) Die Mittel stehen bereit. Gleiches gilt auch für das Personal. Es gibt keine Defizite bei der Personalbereitstellung zur Organisation der Datenerhebung, wie im Antrag behauptet wird. ({2}) Uns liegen keine Anfragen nach zusätzlichem Personal vor. Die seit langem eingeplanten Zusatzkräfte sowie das Stammpersonal sind längst mit der Dateneingabe beschäftigt, seit dem 18. Oktober unter Einsatz der neuen Software A2LL. Damit bin ich beim nächsten Punkt - dazu haben Sie auch die Wasserstandsmeldung bemüht, Herr Singhammer -: A2LL ist nicht mehr und nicht weniger als das bisher größte E-Government-Projekt in Europa. Natürlich wird dabei wie bei der Einführung jeder neuen Software nicht alles glattlaufen können. Systemausfälle müssen einkalkuliert werden und dürfen nicht für Panikmache und Verunsicherung benutzt werden. Ich will hier einmal klarstellen, dass die Umsetzung eines solchen Vorhabens Mut braucht, Mut nämlich, in kalkuliertem Rahmen den Fachleuten etwas zuzutrauen. Diese Bereitschaft der öffentlichen Verwaltung zum kalkulierten Risiko entspricht modernen unternehmerischen Führungsmethoden. Angesichts der Verantwortung, die wir gemeinsam tragen, gehört dazu natürlich auch das Vorhalten von Rückfallpositionen. Bisher jedoch war das Vertrauen in die Fachleute gerechtfertigt. Auch wenn es gestern gehakelt hat - Sie haben darauf hingewiesen -, läuft die Software allen Unkenrufen zum Trotz relativ geräuschlos, übrigens auch bei der Eingabe von komplexeren Fällen. Dieses Vertrauen in die Fachleute würde ich mir manchmal von einigen Vertretern von Verbänden der deutschen Wirtschaft erhoffen, auch etwas deutlicher, und ganz besonders von denen - Herr Singhammer, das will ich Ihnen sagen -, die im Verwaltungsrat der BA sitzen. Sie haben Herrn Clever angesprochen, der Ihr Parteibuch hat und früher Mitarbeiter von Herrn Blüm war. Was er und einige Mitglieder der Verwaltungsorgane öffentlich bekunden, um gegen die eigene Institution Stimmung zu machen, ({3}) halte ich für unter aller Würde; das sage ich Ihnen hier ganz offen. ({4}) Zur rechtzeitigen Auszahlung habe ich schon etwas gesagt. Jetzt komme ich zum letzten Punkt, weil ich nur noch eine Minute Zeit habe. - Ihren Antrag müsste man in allen Zeitungen abdrucken. ({5}) Er ist so was von dürftig! Er ist von Frau Merkel, Herrn Glos und anderen unterschrieben. Man muss sich ihn genau anschauen. Er ist sozusagen nicht mehr up to date. Man benutzt ihn, um hier eine Debatte zu veranstalten. Ich kann Ihnen sagen: Vorhin waren der Vorstand, der Minister, eine ganze Riege von Leuten im Haushaltsausschuss und haben über alles berichtet, was mit der Umsetzung zusammenhängt. ({6}) Wir berichten regelmäßig, wir berichten immer, wenn Sie das möchten. ({7}) Wir führen hier auch jeden Tag eine Parlamentsdebatte. Ich würde Ihnen nur empfehlen, das mit besseren Argumenten als denen zu tun, die Sie hier vorgetragen haben und die, wie ich finde, außerordentlich dürftig waren. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel für die FDPFraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Staatssekretär Andres, Sie hätten gestern von den Vorgängen im Europäischen Parlament lernen können, dass nur ein begrenztes Maß an Arroganz gegenüber einem Parlament sinnvoll und hilfreich ist, um zum Ziel zu kommen. ({0}) Die Freien Demokraten haben bereits vor vier Jahren hier in diesem Hause die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beantragt, weil es aus vielen guten Gründen, über die wir oftmals diskutiert haben, sinnvoll ist, diese beiden steuerfinanzierten Leistungen zusammenzulegen. Das Entscheidende an dieser notwendigen Reform ist aber, dass sie funktioniert. Deswegen sage ich mit gutem Recht: Alle Risiken, die im Antrag der Union aufgeführt werden, sind durchaus realistisch und ernst zu nehmen. ({1}) Ich sage dazu aber auch: Die Einzigen, die sich hier darüber aufregen könnten, sind die Freien Demokraten. Dass die Union versucht, sich klammheimlich aus der Verantwortung zu stehlen, ist nämlich überdeutlich. ({2}) Die einzige Partei, die dem Optionsgesetz in diesem Hause nicht zugestimmt hat, ist die Freie Demokratische Partei gewesen. Wir waren und sind nämlich überzeugt, dass dieses so genannte Kommunale Optionsgesetz in der jetzigen Form nicht greifen kann. Genau dieses Problem werden die Menschen im nächsten Jahr ausbaden müssen. ({3}) Die Zeitverzögerung hat in erster Linie diese Bundesregierung zu vertreten. Wir haben im Dezember 2003 einen klassischen Kompromiss im Vermittlungsverfahren gefunden: Grundsätzlich ist die Bundesagentur zuständig und es sollen dazu Arbeitsgemeinschaften gebildet werden; die Kommunen jedoch, die es möchten und es sich zutrauen, bekommen die Möglichkeit, diese Aufgabe eigenständig durchzuführen. Dann kam ein Satz - ich werde in keinem Vermittlungsverfahren mehr zulassen, dass so etwas durchgeht -, der da lautete: Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Das entsprechende Bundesgesetz, das erst im Mai - Herr Staatssekretär Andres, ich bitte um Aufmerksamkeit ({4}) - ich traue Ihnen nicht zu, Herr Andres, dass Sie multitaskingfähig sind; Ihnen nicht, dem Rest der Regierung vielleicht - von der Bundesregierung diesem Hause vorgelegt wurde, hat kein Optionsgesetz beinhaltet. Es handelte sich um ein Organleihegesetz, auf dessen Grundlage die Kommunen, die optieren wollen, als Organ, also als Bestandteil der Bundesagentur, diese Aufgabe hätten durchführen sollen. Als kommunaler Mandatsträger, der ein bisschen was auf sich hält, sage ich Ihnen: Kein kommunaler Mandatsträger, der ein bisschen was auf sich hält, würde sich freiwillig in die Fänge der Bundesagentur begeben und sich von ihr sagen lassen, wann der Laden auf- bzw. zugemacht werden müsste. Deswegen hatte dieses Bundesgesetz im parlamentarischen Verfahren keine Chance. Es kam ein neues Vermittlungsverfahren, für das Sie die Verantwortung tragen, weil Sie den Vermittlungsspruch nicht umgesetzt hatten. In diesem neuen Vermittlungsverfahren hat die Union - deswegen sagte ich zu Beginn, sie stiehlt sich klammheimlich aus der Verantwortung für dieses Optionsgesetz - wider besseres Wissen einem billigen Kompromiss zugestimmt. Wir alle, auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wissen, dass die Bundesagentur nicht geeignet und nicht kompetent genug ist, um Aufgaben für Sozialhilfeempfänger wahrzunehmen - das hat selbst der ehemalige Vorstandsvorsitzende Herr Gerster im Vermittlungsverfahren gesagt -, nicht etwa, weil die Mitarbeiter dumm wären, sondern weil sie noch nie zuvor diesen Personenkreis betreuten. Hierbei sind nämlich Dinge zu beachten, die über Fragen des Verlustes des Arbeitsplatzes hinausgehen. Sie von der Union haben diesen Kompromiss mitgemacht. Jetzt haben wir ein Sammelsurium: auf der einen Seite Arbeitsgemeinschaften und auf der anderen Seite Kommunen, die im Rahmen einer Experimentierlösung dafür optiert haben, in alleiniger Trägerschaft ihre eigenen Aufgaben wahrzunehmen. Es gibt ein EDV-Programm, Herr Staatssekretär, bei dem von den geplanten 40 000 Zugriffen gerade nur maximal 16 000 gleichzeitig möglich sind. Ich bin Stadtrat in Heidelberg. Wir streben eine Arbeitsgemeinschaft an. Wir wollen, dass diese notwendige Reform umgesetzt wird. Wenn wir aber von 35 beantragten Zugriffsberechtigungen, um die Daten einzupflegen, nur acht aus der Angst heraus genehmigt bekommen, dass das System abstürzen könnte, dann bekommen wir allein aufgrund der Zahlen bis zum 31. Dezember die Daten nicht in die EDV eingepflegt, selbst wenn wir im Zweischichtverfahren und am Wochenende arbeiten. Deswegen wird unser Sozialamt wie auch andere Sozialämter nach einem Notplan vorgehen. Auch die Bundesagentur wird nach Notplänen vorgehen müssen. Der Staatssekretär sagt dazu: Zur Not zahlen wir bar aus oder mit dem Hammer. Ich würde gerne einmal sehen, wie Sie, Herr Staatssekretär, mit dem Hammer auszahlen. Auf solche Weise ist kein geordnetes Verfahren mehr möglich. ({5}) Es geht hier um die Existenz von Millionen von Menschen. Das Problem ist doch nicht, dass der politische Wille zu dieser Reform fehlt; das Problem ist, dass diese Regierung die Menschen von Anfang an nicht anständig informiert hat, obwohl sie in anderen Fragen die Propagandamaschine sofort anwirft. Das Problem ist, dass ein Wust an Anträgen, die eine Vielzahl von Menschen aus dem betroffenen Personenkreis gar nicht verstehen konnten, viel zu spät verschickt wurde. Sie haben auch andere Fragen nicht geklärt. Ich bekam vom Wirtschaftsministerium die Auskunft, ich solle in zwei Wochen noch einmal anrufen, weil man sich bis dahin vielleicht eine Meinung gebildet habe. Wie verhält es sich denn mit den über 58-Jährigen, mit denen Sie einen Vertrag geschlossen haben, dass sie nicht mehr arbeiten müssen und ihre Arbeitslosenhilfe bis zum Renteneintritt bekommen? Sie müssen zwar auch in Zukunft nicht mehr arbeiten, bekommen aber dann nur das ALG II. Als sie den Vertrag geschlossen haben, sind sie von einem Betrag in Höhe der Arbeitslosenhilfe ausgegangen. Das Bundeswirtschaftsministerium sagt, dazu habe man sich abschließend noch keine Meinung gebildet; rufen Sie doch in zwei Wochen noch einmal an. So kann ich in diesen schwierigen Fragen doch nicht mit den Menschen umgehen. ({6}) Die Menschen haben Angst, was ich auch verstehe. Wir haben die Aufgabe, ihnen diese Angst zu nehmen. Das können wir nur, indem wir den Verfahrensablauf vernünftig gestalten und zumindest alle möglichen technischen Fehler und Gefahrenpunkte von vornherein ausmerzen. Deshalb glaube ich immer noch: Wenn Sie es nicht schaffen, Herr Staatssekretär, dafür zu sorgen, dass das Ganze reibungslos funktioniert - es wird irgendwo haken, das ist klar, aber zumindest im Großen und Ganzen reibungslos funktioniert -, sollten Sie überlegen, ob es nicht gefährlicher und auch demokratiegefährdender ist, ein schlechtes System einzuführen, das die Reformbereitschaft breiter Bevölkerungsschichten auf lange Zeit gen null tendieren lässt, als drei oder sechs Monate zu warten, bis alle personellen, technischen und rechtlichen Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Reform geschaffen sind. ({7}) Sie sollten darüber nachdenken, ob Sie Ihrer Verantwortung damit nicht eher gerecht werden würden. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es hier mit einem Unionsantrag zu tun. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nur der Respekt vor diesem Hause nötigt uns, uns mit diesem Antrag eine Weile zu beschäftigen. Ihr Antrag ist schlichtweg inhaltsleer und auch die Rede, die Herr Singhammer hier abgeliefert hat, ist im Grunde nicht der Auseinandersetzung wert. Ich finde, Sie hätten sich das sparen können. Stattdessen hätten Sie sich an eine Ratschlag von Weihbischof Hengsbach - der Ihnen näher stand als mir - orientieren sollen, der Folgendes kundgetan hat - ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten -: Habe ich ohne wichtigen Grund durch eine Wortmeldung - man könnte auch sagen: einen Antrag eine Sitzung verlängert und somit mich und andere von der Familie ferngehalten? Lieber Gott, hilf mir, meinen Mund zu halten, bis ich weiß, worüber ich rede! ({0}) Das trifft genau auf Ihren Antrag zu.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, darf ich nur der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass es sich bei dem zitierten Herrn Hengsbach nicht um einen Weihbischof, sondern einen leibhaftigen Kardinal gehandelt hat, was man an der Qualität des Zitats auch mühelos erkennen kann. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke, Herr Präsident. Ich weiß, dass ich Ihnen nicht widersprechen darf, obwohl es natürlich darauf ankommt, wann er diese Worte gesagt hat. ({0}) Ich will aber zu dem Antrag kommen, denn wir müssen uns damit auseinander setzen. Was wird dort festgestellt? Erste Feststellung: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist ein notwendiger Schritt. - Das ist richtig. Guten Morgen, meine Damen und Herren von der Union! Dass dieses Hartz-Gesetz, diese Zusammenlegung eine der größten Sozialreformen und Arbeitsmarktreformen ist, das wissen wir doch alle. Wir haben lange darüber diskutiert. Es war notwendig - das haben wir über Jahre gesagt -, die Betreuung der Langzeitarbeitslosen in eine Hand zu legen, es ist wichtig, dass die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht weiterhin außen vor bleiben, und viele andere Dinge. Auch das ist richtig. Ich bin froh, dass Sie das merken. Sie stellen zweitens fest, dass eine große Mehrheit diesem Gesetz zugestimmt habe. Auch das ist richtig; es musste ja im Bundesrat und im Bundestag verabschiedet werden. Der Zwang, es mit Ihnen zusammen zu verabschieden, hatte allerdings seinen Preis für die Langzeitarbeitslosen. Zum Beispiel wurden die Zumutbarkeitsregelung und die Zuverdienstmöglichkeiten verschlechtert. Davon liest man in Ihrem Antrag nichts. Ich denke, dass der Hinweis auf die große Mehrheit etwas ganz anderes bedeuten soll: Er soll wieder einmal verschleiern und einen schwarzen Mantel des Schweigens über die Tatsache decken, dass Ihre Ministerpräsidenten, zum Beispiel Herr Milbradt oder auch Herr Böhmer, im Sommer durch die Lande gezogen sind und glauben machen wollten, dass sie nicht zugestimmt hätten. ({1}) - Sehen Sie, da bekommen wir diese Fehlmitteilung schon wieder! ({2}) Sie haben im Dezember, als es um die Verabschiedung der Zumutbarkeitsregelung, der Zuverdienstregelung usw. ging, zugestimmt. Im Juli, als es um die Finanzverteilung ging, haben sie allerdings dagegen gestimmt. Genau das ist Ihre Politik und das machen Sie auch in Ihrem Antrag: Sie stehlen sich aus der Verantwortung. ({3}) Schlimmer noch: In Ihrem Antrag unterstellen Sie zum Beispiel - lesen Sie es einmal nach; man glaubt es kaum -, dass die Wahlerfolge der Rechtsextremisten direkt von der Informationspolitik der Bundesregierung abzuleiten seien. Angesichts der Wahlergebnisse für die Rechtsextremisten - 9,2 Prozent für die NPD in Sachsen und 6,1 Prozent für die DVU in Brandenburg - frage ich Sie: Wo waren Ihre Oberwahlkämpfer, Herr Milbradt und Herr Schönbohm, als es darum ging, gegen die Parolen „Hartz muss weg“ und „Hartz ist ein Griff in die Tasche von jedem“ Stellung zu beziehen? ({4}) Ich frage Sie: Wo waren Sie, als den Menschen Angst gemacht wurde, indem ihnen beispielsweise gesagt wurde, ihnen würde ihre Wohnung weggenommen werden und sie müssten in ihre alten Wohnblocks zurückkehren? ({5}) Herr Milbradt wollte sogar noch an diesen Demonstrationen teilnehmen. Sie machen sich einen schlanken Fuß.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. Bitte schön.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ehe Sie sich jetzt in Ihrer Schelte gegen die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, die bekanntermaßen ein unterschiedliches Parteibuch haben Dr. Thea Dückert ({0}): Herr Platzeck hat es anders gemacht.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und die im Bundesrat aus guten Gründen dem Kommunalen Optionsgesetz nicht zugestimmt haben, weiter ereifern, möchte ich Sie fragen: Wie gehen Sie eigentlich mit den Gegnern der Hartz-IV-Reform in Ihren eigenen Reihen um? Der Kollege Ströbele hat an der Montagsdemonstration in meinem Wahlkreis in Halle nicht teilgenommen. Ich weiß zwar nicht, warum das so gewesen ist. Aber der Slogan „Hartz IV muss weg“ ist verglichen mit seinen Äußerungen, die im Vorfeld kolportiert wurden und die eine fundamentale Kritik an der Hartz-IV-Reform waren, ein zahmer Ausdruck. Da Sie sich in Ihrer Kritik an den gewählten Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer so ereifern, würde mich einfach einmal interessieren, wie Sie mit den Leuten in Ihren eigenen Reihen umgehen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie gesagt, Herr Platzeck hat sich anders verhalten, was sich übrigens im Wahlergebnis niedergeschlagen hat. ({0}) - Gemach, gemach. Ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Frage. Ich will Ihnen gerne schildern, wie ich zum Beispiel mit meinem Kollegen Christian Ströbele oder auch mit Montagsdemonstranten umgehe. Ich habe mit ihnen geredet und diskutiert. ({1}) - Hören Sie zu! Seien Sie nicht so aufgeregt! - Christian Ströbele hat mir versichert, dass er erstens mit den Menschen auf den Montagsdemonstrationen darüber geredet hat, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe kommen muss. Er hat ihnen zweitens dargelegt, dass sich unsere gesamte Fraktion und auch der Koalitionspartner mit Schwierigkeiten und Problemen bei der Umsetzung auseinander zu setzen haben. Wir mussten beispielsweise auf die verschärften Zumutbarkeitsregeln, die Ihre Partei und Ihre Fraktion ins Gesetz hineingebracht haben, Antworten finden, damit die Langzeitarbeitslosen darunter nicht leiden müssen. ({2}) Ich möchte noch auf andere Punkte Ihres Antrages eingehen. Sie haben zum Beispiel die Verunsicherung der Menschen beklagt. Es ist richtig, dass dies ein großes Problem gewesen ist. Aber wir haben eine sehr intensive Informationsarbeit geleistet. Was Herr Singhammer eben gesagt hat und was man in Ihrem Antrag nachlesen kann, ist nichts anderes als eine Fortsetzung der Verunsicherung der Menschen. ({3}) Sie, Herr Singhammer, sprechen hier und heute davon, dass Millionen von Menschen damit rechnen müssen, im Januar ihre Leistungen nicht zu bekommen. Sie wissen, dass das falsch ist. ({4}) Sie wissen auch, dass nur Menschen, die ihre Anträge nicht rechtzeitig abgeben, Probleme bekommen können. An dieser Stelle möchte ich Sie, Herr Singhammer und viele andere Kollegen von der CDU/CSU, fragen: Wo waren Sie in den letzten Monaten, als Initiativen Sozialhilfeempfänger aufgefordert haben, ihre Anträge nicht abzugeben, obwohl es sich um Menschen handelt, die bedürftig sind und die ihr Geld brauchen? Wir müssen diese Menschen informieren. Da sind Sie aber nicht hervorgetreten, Herr Singhammer. Sie setzen nur die Politik der Verunsicherung fort. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das sehe ich genauso. Ich habe aber den Eindruck, dass Herr Singhammer das anders sieht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Den Eindruck habe ich zwar auch. Aber da ich die Verlängerung angemeldeter Redezeiten nach abgelaufener Redezeit nicht durch Zwischenfragen mutwillig befördern will, kann ich diese Zwischenfrage selbst dann nicht zulassen, wenn Sie sie gerne beantworten würden. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident. Das ist sehr geschickt. Ich komme zum Schluss. Auf eines möchte ich noch hinweisen: Wenn Sie von uns fordern, dafür zu sorgen, dass die Kommunen ihr Geld bekommen, ({0}) dann kann ich dazu nur sagen: Wir haben eine Revisionsklausel eingebaut. Sie ist sicher; das haben Ihre eigenen Leute gesagt. Bitte sorgen Sie dafür, dass die von der Union geführten Landesregierungen in BadenWürttemberg, Niedersachsen und Sachsen - und wo sie sonst noch alle sind - nicht ihre klebrigen Finger auf das Wohngeld halten und es den Kommunen nicht zukommen lassen! ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bergner, erstens bestätige ich, dass die Kollegin Thea Dückert weder gesagt noch gemeint hat, dass in unserer Fraktion Auseinandersetzungen per Backenstreich ausgetragen werden. ({0}) Zweitens möchte ich mich noch einmal beim DGB Halle dafür bedanken, dass ich zur Montagsdemonstration eingeladen war. Ich bin deshalb nicht hingegangen, weil ich als Abgeordneter leider Pflichten hier im Hause hatte - es war ja eine Sitzungswoche - und nicht fehlen konnte. Aber ich kann Sie drittens darüber informieren, was ich dort gesagt hätte; das hätten Sie sich dann in Halle auf der Straße anhören können. Es trifft zu, dass ich zu fast allen Montagsdemonstrationen, die bisher in Berlin stattgefunden haben, gegangen bin und dass ich den Demonstranten das gesagt habe, was ich auch in meiner Fraktion im Deutschen Bundestag immer wieder erkläre: Ich halte die Hartz-IV-Reform, insbesondere die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, so wie sie gestaltet worden ist, grundsätzlich für notwendig und richtig. Daran kommen wir nicht vorbei. Ich habe allerdings auf den Demonstrationen auch erklärt, dass es in den Hartz-IV-Gesetzen einige Punkte gibt, die unter anderem durch die Union in der Auseinandersetzung im Vermittlungsausschuss bzw. über den Bundesrat in diese Gesetze hineingezwungen worden sind, und dass ich deshalb im Deutschen Bundestag mit einigen anderen meiner Kollegen gegen diese Gesetze gestimmt habe. Das heißt, ich stehe für Wahrheit und Klarheit und für die direkte Auseinandersetzung mit der Bevölkerung auf der Straße. Ich bedauere es außerordentlich, dass keine Vertreter Ihrer Fraktion auf den Montagsdemonstrationen waren und sich dieser Auseinandersetzung gestellt haben. Insbesondere haben Sie den Menschen auf der Straße nicht erklärt, wie es kommen kann, dass Sie im Deutschen Bundestag und im Vermittlungsausschuss, der zwischen Bundestag und Bundesrat vermittelt, mit erheblichem Druck und zum Teil nach Mitternacht dafür sorgen, dass diese Gesetze zulasten vieler sozial schwach gestellter Personen erheblich verschärft worden sind, und dass Sie sich dann in der Öffentlichkeit erdreisten, dagegen vorzugehen und zu versuchen, auf eine allgemeine, populäre Meinung in der Bevölkerung zu setzen. Sie drücken sich vor der Verantwortung, scheuen die Verantwortung und tun dann noch so, als seien Sie gegen diese Gesetze gewesen. Das ist nicht hinnehmbar und unanständig. Das ist unparlamentarisch und unverantwortlich. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Bergner, wenn Sie antworten wollen, haben Sie sofort die Möglichkeit dazu. Dann hat der Kollege Singhammer um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte darum, insgesamt ein bisschen zu berücksichtigen, dass, wann immer in einer Debatte irgendjemand persönlich angesprochen wird, was für parlamentarische Debatten nicht völlig unüblich ist, das nicht gleich zur Inanspruchnahme des gesamten Instrumentariums der Geschäftsordnung genutzt werden muss. ({0}) Den Präsidenten beschwert dies eigentlich am allerwenigsten. Nur, anschließend kommen die Kollegen und beklagen sich über das maßlose Überziehen der vorher angemeldeten Redezeiten. Bitte schön, Herr Kollege Bergner.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, wenn die Betroffenen eine Debatte, wie wir sie hier führen, beobachten würden, würde es sie zunächst einmal wenig interessieren, ob Sie den Vorwurf, es sei im Vermittlungsausschuss durch die Union zu einer Verschärfung gekommen, oder wir den Vorwurf machen, Sie würden sich davonschleichen und würden den Eindruck erwecken, als ob die Grünen gewissermaßen frontal gegen Hartz IV gewesen seien. Ich habe übrigens nach Demonstrationen - bewusst nicht in Demonstrationen - auf einer großen Veranstaltung im Magdeburger Dom zusammen mit SPD-Kollegen den Demonstranten zur Verfügung gestanden. Dort hatte ich den Eindruck, dass man für meine Position, die sich gar nicht an der Frage der Zumutbarkeit festmacht, wie Sie uns immer vorwerfen, Verständnis hatte. Vor dem Hintergrund des ostdeutschen Arbeitsmarktes ist Ihr Vorwurf geradezu irrelevant; denn es ist mit großer Geschwindigkeit und mit großem Zeitdruck eine Operation durchgezogen worden, die sehr viel mehr Sorgfalt erfordert hätte. Diese Kritik hat auch in dem Antrag, der heute diskutiert wird, ihren Niederschlag gefunden. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben in Ihrem Beitrag behauptet, ich erwartete, dass die Bezieher von Arbeitslosengeld II die ihnen zustehenden Leistungen nicht bekämen. Dies ist völlig falsch. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dass 3,5 Millionen Menschen in Sorge darüber sind, ob sie diese Leistungen bekommen. Weil wir diese Sorgen aufgreifen, führen wir diese Debatte. Wenn Sie sich hier als die Sauberfrau des Deutschen Bundestages, als die Deutsche im weißen Kleid, gebärden, sollten Sie zumindest das Erinnerungsvermögen der Beteiligten nicht allzu sehr strapazieren. Ihre Darstellung war jedenfalls schlichtweg falsch.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Singhammer, ich halte es für einen Ihrer sophistischen Tricks, die Sie offenbar auf Ihrer Parteiredeschule lernen, wenn Sie zitieren, dass sich andere Leute Sorgen machten, ob sie die ihnen zustehenden Leistungen auch ausgezahlt bekämen. Damit stehlen Sie sich sogar für dieses Argument aus der Verantwortung. Wenn nach Ihrer Ansicht Schwierigkeiten für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II zu erwarten sind, dann sollten Sie, Herr Singhammer, bitte dabei helfen, die Menschen dahin gehend zu beraten, dass sie die Anträge gut ausfüllen können, die Sie in Ihrer Rede vorhin als völlig unausfüllbar klassifiziert haben. So, wie Sie gerade auf die Debatte geantwortet haben, haben Sie wiederum Nebelkerzen geworfen. Hilfreich wäre es, wenn Sie zu Ihrer Verantwortung stünden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/ CSU-Fraktion.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst gehe ich auf die Ausführungen von Frau Dückert ein. Klebrige Finger haben unsere Landesregierungen ganz bestimmt nicht. Beispielsweise gibt es in Sachsen bereits Vereinbarungen mit dem Städte- und Gemeindetag und mit dem Landkreistag im Hinblick auf die Weitergabe der entsprechenden Gelder. Dies kann man von der Bundesregierung ganz und gar nicht sagen; denn der Entwurf des § 13 SGB II wurde mitnichten mit den kommunalen Spitzenverbänden abgesprochen. Dann sind Sie wieder mit Ihrer alten Leier von Argumenten und Inhalten gekommen. Heute reden wir aber über die Umsetzung, die viele Fragen aufwirft, wie wir alle wissen. ({0}) Wahrscheinlich hat man sich in den Kreisen der Bundesregierung schon an Umsetzungsprobleme gewöhnt, da es seit dem Antritt der rot-grünen Regierung an der Tagesordnung ist, dass die Umsetzung von Gesetzen ziemlich mangelhaft abläuft. Ich stelle klar, dass die Union die Arbeitsmarktreform mitgetragen und damit konstruktive Oppositionsarbeit geleistet hat. Auch wenn viele Abgeordnete Bedenken gegen die Reform hatten und haben, war uns bewusst, dass dieser Schritt prinzipiell notwendig ist. Für die konkrete Umsetzung sind aber nicht wir Parlamentarier verantwortlich - gleichwohl helfen wir den Menschen beim Ausfüllen ihrer Anträge -, sondern einzig und allein die Bundesregierung und die beauftragten Behörden. ({1}) - Hätten Sie richtig zugehört, meine liebe Kollegin, hätten Sie bemerkt, dass ich gesagt habe: und die beauftragten Behörden. Neben Kommunikationsfehlern gab und gibt es auch faustdicke handwerkliche Fehler, mit denen zum einen die Hilfeempfänger, zum anderen aber auch die Mitarbeiter der Bundesagentur und der betroffenen Kommunen zurechtkommen müssen. Sie müssen die Versäumnisse der Regierung ausbaden, und zwar innerhalb kürzester Zeit. Die zentralistische Führung der BA ist manchmal fast unerträglich. Über sämtliche Arbeitsschritte muss Nürnberg informiert werden. Alle Vereinbarungen der Arbeitsgemeinschaften müssen mit Nürnberg abgeglichen werden, was die Zusammenarbeit unendlich verzögert. Laut Städtetag scheint die BA zwar ihre bisherige Blockadehaltung, vor allem den optierenden Kommunen gegenüber, etwas aufzuweichen; aber eine reibungslose Zusammenarbeit im Sinne der Hilfe für Langzeitarbeitslose ist das leider noch lange nicht. Die Kooperation der Bundesagentur für Arbeit mit den Kommunen ob in der Option oder in einer so genannten Arge, also einer Arbeitsgemeinschaft - ist aber unerlässlich. So stellt denn auch der Landrat des Kreises Düren zu Recht fest, dass mangelnde Zusammenarbeit „Chaos für die Betroffenen“ bedeutet. Die Bundesagentur sollte sich nicht zum Handlanger der Regierung aufschwingen. Dass die Regierung die Option nicht will und schon gar nicht deren Erfolg, zeigt sich deutlich beim Thema „Datenerhebung und -vermittlung“. Unter dem Vorwand des Datenschutzes war die Bundesagentur bisher nur sehr zögerlich bereit, den optierenden Kommunen mehr Informationen zuzugestehen. Das Programm A2LL, das heute schon angesprochen wurde, ist zwar seit dem 18. Oktober hochgefahren. Aber selbst BA-Chef Weise gibt zu, dass die Zeit für die Einführung der Software eigentlich zu kurz ist, dass wir Tests, die man üblicherweise macht, nicht machen konnten. Es sei mit mehr Fehlern als üblich zu rechnen. Nun könnte ich sagen: Auf die Tests können wir getrost verzichten; die hatten wir bei der Maut schon - mit dem entsprechenden Erfolg. Aber es handelt sich hier eben nicht um LKWs oder Dosenpfand, sondern um Menschen. Gleiches gilt für den Personaleinsatz. Es fehlt Personal, das gezielt zur besseren Vermittlung der Arbeitslosen eingesetzt werden sollte. Deshalb gibt es den großspurig versprochenen Betreuerschlüssel von 1 : 75 nicht mehr, sondern nur einen von 1 : 150, und den auch erst ab April 2005. Nur bei der Betreuung Jugendlicher wollen Sie etwas intensiver zur Sache gehen. Aber auch das können Sie getrost vergessen; denn der Schwindel mit Ihren semantischen Spielchen fällt den jungen Leuten längst auf. Geschickt gewählte, positiv belegte Begriffe wie „Bürgerversicherung“ oder „Jeder Jugendliche erhält ein Angebot“ führen die Leute in die Irre und halten längst nicht das, was sie versprechen. Sie suggerieren den jungen Leuten, dass sie garantiert irgendwo unterkommen. Was Sie für die Jugendlichen haben, ist aber nur ein Angebot. Das können sie sich auch getrost aus dem Internet holen und sich dann in die Schar der 250 plus x Bewerber einreihen. Zurück zum Personal. Weil die Daten manuell eingegeben werden müssen, wird zusätzliches Personal gebraucht. Berlin vermeldet zum Beispiel 70 zusätzliche Mitarbeiter. Die Kommunen fragen sich nun, ob sie die Kosten dafür tatsächlich vom Bund erstattet bekommen. Sie müssen dafür in Vorleistung treten. Wie verhält es sich mit der Erstattung beim Eingliederungsbudget? Der Bund hat hier auf der Basis des Datenmaterials aus dem Vermittlungsausschuss 9,65 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Zahlen vom Dezember 2003 treffen aber längst nicht mehr zu. Denn in dieser Republik steigt dank der rot-grünen Regierung nicht das Wirtschaftswachstum, sondern nur die Arbeitslosigkeit. ({2}) Deshalb ist die Fallzahl um mindestens 200 000 Arbeitslosenhilfeempfänger zu gering bemessen. Das heißt, der durchschnittliche Betrag für aktive Eingliederungsmaßnahmen von bislang 160 Euro pro Kopf und Monat reduziert sich auf 132 Euro, die Verwaltungspauschale von 103 Euro auf 70 Euro. Der vorgesehene Betreuerschlüssel kann so nicht gewährleistet werden. So ist das Kernziel der verbesserten Vermittlung und Förderung nicht zu erreichen. Die Bundesregierung muss den Kommunen endlich Planungssicherheit geben und die Budgets für 2005 nachhaltig erhöhen, und zwar nicht erst mit Beschlussfassung über den Bundeshaushalt. ({3}) Die so genannte Revisionsklausel, die noch zu erarbeiten ist und die sich auf den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft bezieht, damit zu überfrachten wäre meines Erachtens nicht sachgemäß, ganz zu schweigen von den noch zu liefernden Rechtsverordnungen zu dem berühmten § 13 SGB II. Ich habe hier nur einige Probleme ansprechen können, die sich jedoch nicht auf den Inhalt, sondern auf die Umsetzung beziehen. Aber selbst dieser kurze Überblick zeigt, dass es trotz der kurzen Zeit noch ein langer Weg bis zur praktischen Einführung des Arbeitslosengeldes II ist. Diesen Weg können wir als Parlamentarier allenfalls begleiten. Für die Ausführung und Umsetzung können wir uns nicht in Haftung nehmen lassen, ({4}) was aber nicht heißt, dass wir den ganzen Prozess unkontrolliert und unkommentiert lassen; wir im Osten ohnehin nicht, da Probleme bei der Umsetzung der Reform in Regionen mit hoher Langzeitarbeitslosigkeit besonders schwerwiegende Konsequenzen haben. Wir müssen also in den neuen Bundesländern bei den laufenden Verfahren besondere Sorgfalt aufwenden, um einen gesellschaftlichen Kollaps zu vermeiden. Deshalb fordern wir in unserem Antrag neben der pünktlichen Auszahlung der Hilfen im Januar 2005, der Sicherstellung der Finanzierung gegenüber den Kommunen, den angemessenen Kooperationen zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen unter anderem einen umfassenden Bericht der Bundesregierung zum Stand der Umsetzung von Hartz IV, und zwar nicht nur im Haushaltsausschuss, sondern vor dem gesamten Parlament; denn das sind Sie der Demokratie schuldig. ({5}) - Sie nehmen das so leicht und sagen „Oh, là, là“. Das ist sehr wichtig. Ich hoffe, dass die Bundesregierung diesen Bericht nicht etwa zurückhält, weil er möglicherweise ähnlich unangenehme Wahrheiten wie der Bericht des Rechnungshofes zur LKW-Maut enthält. Eine dieser unangenehmen Wahrheiten könnte zum Beispiel sein, dass Sie mit den 400 000 bis 600 000 1-Euro-Jobs nur die Arbeitslosenstatistik bereinigen. Wenn Ihnen in diesem Bericht Fehler, Fahrlässigkeiten oder gar Vorsätzlichkeiten nachgewiesen werden, haben Sie auch dafür geradezustehen, nicht die Opposition und schon gar nicht die Hilfebezieher, die auf Gedeih und Verderb Ihrem Regierungshandeln ausgeliefert sind. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieser Debatte erhält die Kollegin Karin Roth für die SPD-Fraktion das Wort.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon sehr merkwürdig, Frau Bellmann, dass Sie, bevor das Gesetz in Kraft getreten ist, prognostizieren, wie wir mit diesem Gesetz umgehen werden. Ich halte das für anmaßend und einer sachlichen Auseinandersetzung nicht würdig. ({0}) Wir alle wissen ganz genau, dass die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe nicht einfach ist. Das steht auch in Ihrem Antrag. Wir wissen auch, dass sehr viele Menschen davon betroffen sind, nämlich mehr als 4 Millionen. Dass das eine große Verantwortung für uns alle bedeutet, ist auch klar. Es geht aber nicht, Herr Singhammer, dass Sie hier den Eindruck erwecken - auch mit Ihrem Antrag -, dass die Regierung nicht in der Lage ist, Hartz IV umzusetzen. Wir haben im Ausschuss und auch hier im Parlament dargelegt, in welchen Schritten und in welcher Weise wir dies tun werden. Deshalb wird es nicht besser, wenn Sie immer wieder sagen: Die Reform ist gut, aber die Umsetzung ist schlecht. ({1}) Die Umsetzung funktioniert und - was wichtig ist - auf allen Ebenen wird mit Hochdruck gearbeitet. All die Menschen, die zurzeit an der Umsetzung beteiligt sind, geben ihr Bestes. ({2}) Es ist nicht angemessen, diesen Menschen zu unterstellen, dass sie nicht in der Lage sind, mit komplexen Materien umzugehen. ({3}) - Ja, das war die Variante nach dem Motto „Da war noch was“. Deshalb habe ich ein wenig Zweifel daran, ob Sie in der Lage sind, nachzuvollziehen, was in diesem Gesetz wirklich verankert worden ist. Sie haben offensichtlich in der Zwischenzeit erkannt, dass das, was wir vorbereitet haben, auch funktioniert. Denn es kann doch wohl nicht wahr sein, dass wir in diesem Parlament das Gesetz gemeinsam beschließen, im Vermittlungsausschuss einiges zu unseren Lasten umformuliert wurde, wir aber trotzdem nicht abtauchen, wenn es so weit ist, und Sie sich dann kurz vor In-Kraft-Treten des Umsetzungsplans hier hinstellen und sagen: Wir haben die große Befürchtung, dass das alles nicht klappt. Das ist scheinheilig ({4}) und verunsichert die Menschen. Außerdem wird dadurch das nötige Vertrauen in die Umsetzung der Reformen, das wir brauchen, unterlaufen. ({5}) Ich mahne Sie also auch ein Stück weit, Herr Singhammer, Ihren Populismus, den Sie hier gerne verKarin Roth ({6}) breiten, ein wenig zurückzunehmen; denn am Ende schadet das der Glaubwürdigkeit des ganzen Hauses und nicht nur der Opposition. ({7}) Ich bin froh, dass die Bundesregierung in der Zwischenzeit im Rahmen einer sehr sachlichen Informationskampagne deutlich gemacht hat, welche Leistungen die Menschen bekommen. Sie hat die Fehlinformationen ausgeräumt, die auch von Ihrer Seite verbreitet worden waren. Ich freue mich auch, dass nun das geschieht, was geschehen muss: Die Menschen geben ihre Anträge bei der Agentur für Arbeit ab, weil sie wissen, dass sie, wenn sie das nicht tun, am 1. Januar nächsten Jahres kein Geld bekommen. Das ist, wie ich meine, eine gute Botschaft. 1,8 Millionen Menschen haben ihre Anträge inzwischen abgegeben. Das entspricht 73 Prozent aller verschickten Anträge. Jetzt können sie bearbeitet werden. Ich bin davon überzeugt, dass in den nächsten Tagen ein Großteil der noch nicht abgegebenen Anträge eingehen wird. Aber wir müssen vor Ort dafür werben, dass die Menschen ihre Anträge abgeben. Wir dürfen diese Reform nicht durch überflüssige Bedenken blockieren. ({8}) Um es auch in diesem Haus klar zu sagen: Wer seinen Antrag nicht oder nicht rechtzeitig abgibt, der wird am Ende auch keine Leistung bekommen und schneidet sich sozusagen ins eigene Fleisch. Das wollen wir nicht. Aber wir müssen damit aufhören, die Menschen zu verunsichern. Deshalb ist es notwendig, den Betroffenen von hier aus zu sagen: Geben Sie Ihre Anträge rechtzeitig ab, damit Sie am 1. Januar 2005 Ihre Leistung bekommen! Das liegt in der Verantwortung der betroffenen Menschen. Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften ist ein großes Thema. Immer wieder haben sich von allen Seiten Bedenkenträger geäußert. Heute kann man feststellen: Auch hier gibt es Fortschritte. Allerdings weiß ich, dass viele Landesregierungen auch in diesem Bereich Sand ins Getriebe gestreut haben. Immerhin haben sich 77 Prozent aller Kommunen für Arbeitsgemeinschaften ausgesprochen. Darüber hinaus gibt es 79 so genannte optierende Kommunen. ({9}) Die Vorbereitungen sind also in vollem Gange. Ich habe den Eindruck, dass das Thema Anträge inzwischen geklärt ist. Hinzu kommt - das ist für uns wichtig -, dass wir die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten vorziehen und bereits jetzt über 100 000 Eingliederungsmaßnahmen für die Menschen realisiert haben. Wir machen mit dieser Sache Ernst. Indem wir in diesem Jahr diese zusätzlichen Arbeitsgelegenheiten schaffen, geben wir den Menschen die Chance, wieder in Arbeit zu kommen. Herr Singhammer, für mich ist es gar kein Wunder, dass Sie im Zusammenhang mit den Stellen die Stralsunder Arbeitsmarktstatistik angeführt haben. Wenn Sie die Zahlen aus Bayern genannt hätten, hätten Sie schlecht ausgesehen. Denn es ist zu lesen, dass die Zahl der gemeldeten Stellen in Bayern in diesem Monat um 20,1 Prozent gesunken ist, während sie bundesweit nur um 16,1 Prozent zurückgegangen ist. Sie haben in Bayern ein viel größeres Problem, als dass Sie sagen könnten, dass Bayern Spitze ist. Im Gegenteil, auch in Bayern gibt es ein Strukturproblem. ({10}) Lassen Sie mich noch ganz kurz etwas zur Finanzierung sagen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir rund 6,35 Millionen Euro für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung stellen. Für Personal werden wir 3,3 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um, Frau Bellmann - sie redet gerade ganz intensiv mit ihrem Nachbarn -, auch die notwendige Betreuung zu gewährleisten. ({11}) Das versuchen wir. Wichtig ist dabei Folgendes: Wir müssen jetzt das Ziel erreichen, das wir auch mit Hartz IV verbunden haben: die Umverteilung der Mittel hin zu den Kommunen. Es kann nicht sein, dass der Bund die kommunale Ebene um 2,5 Millionen Euro entlastet und die Landesregierungen dieses Geld einstecken, um damit ihre Haushalte zu sanieren. Das geht nicht. Das kann nicht sein. ({12}) Das bedeutet, bezogen auf die Revisionsklausel, ohne Frage, dass der Bund verantwortlich ist. Beim Bund weiß man, was Sache ist. In Baden-Württemberg wird beispielsweise Ministerpräsident Teufel um 132 Millionen Euro entlastet. Davon leitet er aber nur 33 Millionen Euro an die Kommunen weiter. 99 Millionen Euro verwendet er für seinen Haushalt. Das ist nicht in Ordnung. Dieses Geld brauchen wir für Betreuung und Kindererziehung. Dieses Geld ist notwendig, um auch dieses Gesetz, das wir heute im Bundestag verabschiedet haben, zu realisieren. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zu?

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, klar. Von Herrn Niebel immer, der ist ja für Vermischtes zuständig.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin. Das heißt wohl, dass ich ziemlich vielseitig einsetzbar bin. Frau Kollegin, Sie haben gerade die baden-württembergische Situation angesprochen. Tatsächlich werden Baden-Württemberg vom Bund 133 Millionen Euro zugeordnet, weil die Regelungen des Bundesgesetzgebers - ({0}) - Die Frage kommt gleich. Ganz locker bleiben! Baden-Württemberg bekommt also 133 Millionen Euro vom Bund.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

132 Millionen Euro, aber das macht nichts.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Weil der Bundesgesetzgeber mit seinem Gesetz die ostdeutschen Bundesländer aufgrund der Erwerbsbiographien der Menschen mehr belastet hat als die westdeutschen, haben sich die Bundesländer entschieden, dies dadurch zu kompensieren, dass 1 Milliarde Euro zusätzlich an die ostdeutschen Länder geht. Würden Sie mir zugestehen, dass gemäß dem Schlüssel des Bund-Länder-Finanzausgleiches 100 Millionen Euro von dieser Zuweisung nicht im baden-württembergischen Haushalt verbleiben, sondern den ostdeutschen Ländern zugeführt werden, weil der Bund dieser Verpflichtung nicht nachkommt? ({0})

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Niebel, es ist ganz einfach: Im Vermittlungsausschuss sind die so genannten A- und B-Länder - in dem Fall Baden-Württemberg auf der einen Seite und Sachsen und die anderen auf der anderen Seite - vertreten. Im Rahmen des Vermittlungsausschusses wurde von allen Ministerpräsidenten akzeptiert, dass eine solche Lösung hinsichtlich der Verteilung vorgenommen wird. Die Ministerpräsidenten wussten also, dass damit der Transfer von 1 Milliarde Euro von Westen nach Osten verbunden ist. Wenn nun Solidarität eingefordert wird - die ostdeutschen Ministerpräsidenten haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation im Osten anders ist -, dann kann man als westliches B-Land im Vermittlungsausschuss zu diesem Vorschlag entweder Nein sagen oder aber man steht zur Solidarität mit dem Osten. ({0}) Aber man kann in dieser Republik nicht auf der einen Seite ständig die Solidarität mit den neuen Bundesländern proklamieren, wenn es Ernst wird, aber sagen: Das interessiert uns nicht, das holen wir uns von unseren Kommunen zurück. So geht es nicht. ({1}) Die Ministerpräsidenten wissen, wie der Finanzausgleich funktioniert. Baden-Württemberg - wahrlich kein armes Land, aber arm an Kinderbetreuungsmöglichkeiten: nur 3,5 Prozent - ist offensichtlich nicht in der Lage, dieses Geld weiterzugeben. Ich kann Ihnen sagen: Der Erfolg von Hartz IV und die Antwort auf die Frage, ob wir die Frauen, die arbeitslos sind, in den Arbeitsmarkt integrieren können, hängen davon ab, ob genügend Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind. Das steht übrigens im Gesetz. Auch das ist unser politischer Anspruch: Wir wollen von den Menschen etwas fordern, aber wir wollen sie auch fördern. Zum Fördern gehört, genügend Betreuungseinrichtungen für Kinder bereitzustellen, auch im Rahmen von Hartz IV. ({2}) Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Kreise und Kommunen diese Mittel bei ihren Ländern einfordern werden. Ich gehe davon aus, dass die Länder und die Landkreise und Kommunen auf der Hut sind und dieses Geld auch einsetzen werden. Ich hoffe und wünsche, dass es uns gelingt, in den ersten Monaten nach dem 1. Januar 2005 mit Hartz IV eine bessere und positivere Stimmung im Land zu erzeugen, und dass die Miesmacher, die heute gesprochen haben, dann verstummen werden. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3803 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Jerzy Montag, HansChristian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 180 b, 181 StGB ({0}) - Drucksache 15/3045 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/4048 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder ({3}) Jörg van Essen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst für die Bundesregierung die Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs, am 7. Mai dieses Jahres, haben die Vertreter aller Parteien in diesem Haus deutlich gemacht, wie wichtig die Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution ist. Ich möchte in Anbetracht der knappen Zeit gerne darauf Bezug nehmen und das alles nicht noch einmal ausführen. Wir leisten mit diesem Gesetzentwurf einen Beitrag dazu, diesen internationalen Verbrecherringen - in der Regel auch Bordellbesitzern und dem Zuhältermilieu - Einhalt zu gebieten. Zum einen enthält dieser Gesetzentwurf neue Strafvorschriften, vor allen Dingen gegen den Menschenhandel, durch den die Arbeitskraft ausgebeutet wird; zum anderen setzen wir damit den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels des Rates der Europäischen Union um. Auch darüber war schon in der ersten Lesung die Rede. Das ist nämlich auch der Grund dafür, weshalb dieser Gesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen eingebracht wurde. Die Zeit läuft uns davon. Wir haben die gesamten Strafvorschriften sehr viel übersichtlicher gestaltet und hoffen, dass sie auch deshalb in Zukunft für die Praxis sehr viel leichter handhabbar sein werden. Die verschiedenen Strafrahmen sind ebenfalls neu geordnet worden. In Zukunft gibt es nur noch zwei Strafrahmen: Bei Grundfällen beträgt er zwischen sechs Monaten und zehn Jahren und bei schweren Fällen haben wir die Verbrechenstatbestände mit einem Jahr bis zu zehn Jahren belegt. Mit diesen Verbrechenstatbeständen werden vor allem die Fälle erfasst, in denen der Täter das Opfer nicht nur zur Prostitution zwingt, sondern es auch noch schwer misshandelt oder in Todesgefahr bringt oder wenn er auch noch im Rahmen der organisierten Kriminalität handelt. Zu diesen Verbrechenstatbeständen gehören aber auch die leider nicht seltenen Fälle, in denen ein Kind das Opfer ist, mit anderen Worten: wenn es sich bei den Opfern um Personen unter 14 Jahren handelt. Es liegt uns ganz besonders am Herzen, gerade die Kinder und die jungen Frauen zu schützen. Deswegen haben wir auch das allgemeine Schutzalter bei 21 Jahren belassen. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf fassen wir auch die Zwangsheirat strafrechtlich eindeutiger. Das Strafgesetzbuch wird so erweitert, dass in Zukunft eine Strafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren droht, wenn man einen anderen zur Eheschließung nötigt. Das ist gerade auch bei uns erforderlich; denn wir alle wissen, dass es auch in Deutschland noch zahlreiche Fälle von Zwangsheiraten gibt. Es ist keineswegs so, dass das etwas mit Tradition zu tun hat und deshalb zu schützen ist. Das ist eine Straftat und muss auch als solche geahndet werden. ({0}) Der Gesetzentwurf liegt Ihnen heute in einer Fassung vor, die das Ergebnis der Sachverständigenanhörung berücksichtigt. Ich möchte das gerne deutlich sagen, weil wir mit den zahlreichen Änderungen aufgrund der Sachverständigenanhörung auch den häufig geäußerten Vorwurf widerlegen können, dass Sachverständigenanhörungen immer nur l’art pour l’art sind und dass nichts dabei herauskommt. Ganz im Gegenteil: Hier hat sie wirklich etwas gebracht. ({1}) Das möchte ich gerne positiv hervorheben. Zum einen haben wir einen noch besseren Aufbau der Strafvorschriften erreicht, zum anderen haben wir beim Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung auf das einschränkende Tatbestandsmerkmal „seines Vermögensvorteils wegen“ verzichten können. Das heißt, es fällt künftig weg. Das bedeutet, dass sich jemand nicht nur strafbar macht, wenn er sich einen materiellen Gewinn davon verspricht, sondern auch dann, wenn er beispielsweise nur eine billige Haushaltshilfe sucht. Schließlich werden Handlungen, mit denen der Menschenhandel gefördert wird, aufgrund der Vorgaben, die im Rahmenbeschluss gemacht werden, künftig in einer gesonderten Vorschrift erfasst. Das heißt, dass man nicht erst dann, wenn ein Werbeversuch erfolgreich war und die Person nach Deutschland transportiert wurde, bestraft werden kann, sondern bereits dann, wenn man Anwerbeversuche unternimmt, ohne am Ende erfolgreich zu sein. Zunächst nicht aufgegriffen haben wir den Antrag der CDU/CSU, auch für Freier, die vorsätzlich oder leichtfertig ein Opfer des Menschenhandels sexuell missbrauchen, einen Straftatbestand einzuführen. Dazu muss natürlich auch etwas gesagt werden. Ich halte das für einen wichtigen Ansatz, den wir unbedingt weiter diskutieren müssen. Dem will ich mich überhaupt nicht verschließen. Ich meine jedoch, dass wir sorgfältig diskutieren müssen. Damit würden wir nämlich zum ersten Mal so etwas wie eine Fahrlässigkeit bei den Sexualdelikten einführen. Das kennen wir derzeit nicht. Wir müssen darüber mit den Sachverständigen sorgfältig diskutieren. Das ist der eine Gesichtspunkt. Der andere Gesichtspunkt ist der: Ich meine, dass wir unbedingt die Praxis dazu anhören müssen; denn es macht überhaupt keinen Sinn, Straftatbestände einzuführen, die man hinterher nicht verfolgen kann. Damit würde man das Strafsystem diskreditieren. Aus diesem Grund haben wir so etwas auch an anderer Stelle nicht getan. Ich meine, das gilt hier ebenfalls. Wir sollten das also weiter besprechen und uns überlegen, wie wir das sinnvoll tun können. Das heißt nicht, dass wir uns diesem Antrag als solchem vollständig verweigern. Lassen Sie mich noch einen Aspekt kurz ansprechen. Das Strafrecht ist ein wichtiger Punkt, um den Menschenhandel zu bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage. Es ist aber eben nur ein Punkt, um Menschenhandel, Zwangsprostitution, sexuelle Ausbeutung und Heiratstourismus in den Griff zu bekommen. Wir müssen insbesondere ausländische Mädchen und Frauen wirksam schützen. Dafür ist es vor allen Dingen erforderlich, dass wir die Prävention und den Opferschutz stärken, die internationale Strafverfolgung verbessern, die internationale Zusammenarbeit sicherstellen und die Hilfs- und Beratungsangebote für betroffene Frauen in einem ausreichenden Maße bereitstellen. Ich meine, dass wir gerade in diesem Bereich weiter zusammenarbeiten sollten, und zwar interdisziplinär. Das machen wir in dieser Art und Weise auch in den Gremien der Europäischen Union, ein Aspekt, der gerade durch die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Osteuropas ganz besonders wichtig geworden ist. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal oder, besser gesagt, wie immer behandeln wir ein wichtiges rechtspolitisches Thema unter Zeitdruck. Ein Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 19. Juli 2002 ist umzusetzen und die Umsetzungsfrist ist seit August 2004 abgelaufen. Wir wissen aus den Verhandlungen im Rechtsausschuss, dass wir in dem einen oder anderen Punkt durchaus noch Diskussionsbedarf gehabt hätten. Ich erwähne hierzu die Vorschrift des neuen § 233 a StGB, in dem Beihilfehandlungen zu einem eigenständigen Straftatbestand erhoben worden sind. Ich glaube, nicht nur wir von der CDU/CSU sind der Auffassung, dass damit die Tür für die Strafbarkeit viel zu weit aufgemacht wird. Hinzu kommt, dass die Versuchsstrafbarkeit eingeführt wurde. Uns wurde entgegengehalten, dass man daran nichts ändern kann, weil wir europäisches Recht umzusetzen haben. So einfach ist das nicht. Es geht nicht darum, europäisches Recht umzusetzen, das gottgewollt von oben kommt. An diesen europäischen Richtlinien und Rahmenbeschlüssen hat die Regierung im Rat Teilhabe. Beschlüsse im Rat sind einstimmig zu fassen. Nicht Sie, Frau Ministerin, sondern Ihre Vorgängerin war bei der Diskussion in Brüssel dabei, als diese Richtlinie verabschiedet worden ist. Das heißt, wir haben nun auf nationaler Ebene das auszubaden, was die Regierung auf europäischer Ebene nicht richtig gemacht hat. ({0}) Dass Diskussionsbedarf besteht, wissen wir aus einer weiteren Richtlinie auf europäischer Ebene, die aus dem Jahr 2004 stammt und bis zum Jahr 2006 umgesetzt sein muss, nämlich die Richtlinie, dass man Opfern von Menschenhandel die Möglichkeit geben muss, dann ein Bleiberecht zu erhalten, wenn sie mit der Polizei kooperieren und Angaben machen. Sie sehen also: Diskussionsbedarf ist noch genügend gegeben. Der Themenkomplex ist wichtig genug, um auch inhaltlich noch einmal darüber zu diskutieren. Ich möchte Ihnen das an einem kleinen Beispiel vorstellen. Wenn ein über 21-jähriger Drogenhändler einen unter 18-Jährigen dazu bringt, Drogenhandel zu betreiben, beträgt die Mindeststrafe nach § 30 a Betäubungsmittelgesetz - hören Sie bitte genau zu - fünf Jahre. Bringt ein über 21-Jähriger eine unter 21-jährige ausländische Frau unter Druck dazu, in Deutschland der Prostitution nachzugehen, beträgt die Mindeststrafe nicht fünf Jahre, sondern gerade einmal sechs Monate. Ist dieses junge Mädchen 14 Jahre alt, beträgt die Mindeststrafe ein Jahr. Auch darüber muss man einmal sprechen. So ganz gesetzestechnisch sauber sind die Vorschriften, die wir jetzt zum Menschenhandel verabschieden werden, nicht. Da gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen § 232 Abs. 4 Nr. 1 StGB und § 240 Abs. 4 StGB, dem Nötigungstatbestand. Keiner kann mir erklären, wie diese Konkurrenzverhältnisse gelöst werden sollen. Soweit es um die Ausnutzung der Arbeitskraft geht, besteht ein Konkurrenzverhältnis zu § 406 Sozialgesetzbuch IV. Auch dazu kann mir keiner etwas sagen. Deswegen ist die Forderung, die alle Rechtspolitiker beim Deutschen Juristentag in Bonn gestellt haben, dass wir Abgeordnete eine eigene Interessenvertretung in Brüssel brauchen, gerechtfertigt. Dieses Beispiel belegt es wieder einmal sehr gut. ({1}) Es gibt nach groben Schätzungen - exakte Zahlen liegen nicht vor - in Europa etwa 500 000 junge Frauen, die der Zwangsprostitution zugeführt worden sind, 500 000 menschliche Schicksale, die es zu beachten gilt. Es existiert ein Markt, der zu erheblichen Einnahmen führt, die nicht abgeschöpft werden können. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind der Meinung, dass man die Strafbarkeit auf dem Nachfragesektor einführen muss. Das bedeutet, dass man auch den Freier, der eine durch Menschenhandel herbeigeführte Situation ausnutzt, bestrafen muss. Es wird eingewendet, das lasse sich alles gar nicht kontrollieren und es werde zu wenige Beweismöglichkeiten geben. Nein, meine Damen und Herren, Menschenhandel ist ohnehin ein Kontrolldelikt. Wir haben im Jahre 1993 mit dem 27. Strafrechtsänderungsgesetz einen Paragraphen eingeführt, nämlich den über den Besitz von kinderpornographischen Schriften, der auch schwer nachzuweisen ist. Auch da wurde gesagt, das sei ein Kontrolldelikt und nur schwer nachweisbar, aber - da schließt sich der Kreis - das sei genau der Grund, warum man den Besitz strafbar mache; denn man müsse auch auf der Nachfrageseite eingreifen und nicht nur auf der Angebotsseite. Siegfried Kauder ({2}) Also der, der kinderpornographische Schriften für sich verwende, müsse bestraft werden und nicht nur der, der sie herstelle. Deswegen bin ich der Meinung, dass wir das Thema Freierstrafbarkeit noch einmal ernsthaft diskutieren müssen und dass wir die Frage der Umsetzung der Richtlinie zum Bleiberecht von jungen Mädchen, die bei der Polizei Angaben machen, diskutieren müssen. Ich lade Sie dazu ein, mitzumachen. Sie haben bereits angezeigt, dass Sie bereit sind, mit uns darüber zu diskutieren. Wir werden diesem Gesetzentwurf zum Menschenhandel zustimmen, weil wir sonst eine Situation in Europa hätten, die unerträglich wäre, aber optimal ist die Lösung nicht. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, es ist bekannt, dass die CDU/CSU immer etwas langsamer ist. Sie sprechen von Zeitdruck, aber es liegt ein halbes Jahr zwischen der ersten und der dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs. Ich glaube schon, dass ein halbes Jahr eine ausreichende Zeit ist. ({0}) Allen bayerischen Unkenrufen zum Trotz liegt der Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes im Bereich des Menschenhandels und der Zwangsverheiratung heute vor. Insbesondere durch die Änderungsanträge, die Rot-Grün als Folge der Sachverständigenanhörung formuliert hat, wird der EU-Rahmenbeschluss umfassend in deutsches Recht umgesetzt. Die Zahlen sind hinlänglich bekannt - Sie haben sie gerade erwähnt -: Bis zu 500 000 Frauen werden jährlich aus Osteuropa nach Westeuropa verbracht. Das Geschäft ist lukrativ, das Risiko, als Täter verurteilt zu werden, ist gering. Menschenhandel ist ein Ermittlungsdelikt. Dort, wo wegen Personalmangels nicht ermittelt wird, kann auch nicht angeklagt und nicht verurteilt werden. Hinzu kommt, dass vielfach Verfahren eingestellt werden mussten, oft aufgrund von mangelnden Beweisen, aber auch weil Opferzeuginnen aus Angst die Aussage verweigerten, häufig aber auch wegen der bisherigen Definition. Mit dem heutigen Strafrechtsänderungsgesetz verbessern wir den strafrechtlichen Schutz der Opfer von Menschenhandel, wir erleichtern die Strafverfolgung und schließen Strafbarkeitslücken. Wir geben auch eine Antwort auf die Tatsache, dass der Menschenhandel facettenreicher ist, als er vom Gesetz bisher erfasst wurde. Zwar stellt die Zwangsprostitution das häufigste Delikt dar, aber die Ausbeutung findet auch in anderen Bereichen statt, etwa in Peepshows, zur Herstellung pornographischer Darstellungen, bei der Zwangsverheiratung und bei der Zwangsarbeit. Daher haben wir die Tatbestände erweitert und in den Abschnitt über die Straftaten gegen die persönliche Freiheit gestellt. Ein Tatbestand des Menschenhandels zur Ausbeutung der Arbeitskraft wurde neu geschaffen. Die Idee, den Zwang zur Ehe ausdrücklich in das Strafgesetzbuch aufzunehmen und damit ein wirksames Signal gegen Zwangsverheiratung zu setzen, haben wir längst in unseren Gesetzentwurf aufgenommen, bevor Baden-Württemberg die Bundesratsinitiative gestartet hat, die jetzt erst einmal vom Bundesrat gestoppt wurde. Künftig gilt die Zwangsverheiratung als besonders schwerer Fall der Nötigung und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden. Wer aber den Opfern wirklich helfen will, muss vor allem dafür sorgen, dass sie im Falle einer Rückkehr ihren Aufenthaltsstatus nicht nach sechs Monaten verlieren. Das ist mit Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, offensichtlich nicht möglich; es ist aber praktizierter Opferschutz, für den Sie sich sonst immer sehr intensiv einsetzen, Herr Kauder. ({1}) Doch zurück zum Menschenhandel: In der Sachverständigenanhörung wurde eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht, die sich in den Änderungsanträgen wiederfinden. Durch den neuen Tatbestand „Förderung des Menschenhandels“ werden nun auch beihilfeartige Handlungen wie das Beherbergen oder Befördern von Opfern erfasst. Erst dadurch können wirtschaftlich profitierende Hintermänner bzw. Personen aus dem kriminellen Umfeld bestraft werden, denen bisher kein Menschenhandel im engeren Sinne nachzuweisen war. Ich halte das für einen sehr wichtigen Schritt. Ich bin auch sehr froh darüber, dass für den Tatbestand der sexuellen Ausbeutung nicht länger die Voraussetzung gelten soll, dass der Täter durch die Tat einen Vermögensvorteil erlangt. Wie wir wissen, muss das Täterverhalten nicht immer durch Vermögenswerte motiviert sein. Das Schutzalter, bei dem Menschenhandel auch ohne das Ausnutzen einer Zwangslage strafbar ist, wird weiterhin bei 21 Jahren liegen, auch wenn dies in rechtssystematischer Hinsicht vielleicht keine saubere Lösung ist. Wir meinen aber, dass dadurch ein wirksamerer Schutz der Opfer gegeben ist, die überwiegend der Altersgruppe der 18- bis 21-Jährigen angehören und deren Unerfahrenheit ausgenutzt wird. ({2}) Diese Änderungen werden den strafrechtlichen Schutz der Opfer stärken und die Täter und Täterinnen - vereinzelt handelt es sich auch um Frauen - zur Verantwortung ziehen. Um aber eine effiziente Verbesserung zu erzielen, sind weitere Schritte nötig. Dabei spielt das Zeugnisverweigerungsrecht für Fachberatungsstellen eine zentrale Rolle. Das werden wir im Rahmen der Strafprozessordnungsreform regeln. Ich glaube, wir wären gut beraten, eine prozentuale Beteiligung an den eingezogenen Gewinnen als Unterstützung für die Arbeit der Fachberatungsstellen vorzusehen. Auch aufenthaltsrechtliche Änderungen trügen im gleichen Maße zum Opferschutz und zur Ermittlung der Täter bei. Dabei handelt es sich um einen Knackpunkt, über den wir gerne mit der CDU/CSU diskutieren würden. Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen geforderten Freierbestrafung anmerken, Herr Kauder. Es ist wirklich sehr schade, dass die Union ihre Zusage aus dem ansonsten sehr guten Berichterstattergespräch nicht eingehalten und den Antrag jetzt doch zur Abstimmung gestellt hat. Wir waren uns darin einig, eine genaue Prüfung möglicher Strafbarkeitslücken vornehmen zu wollen. Wir wollen auch verhindern, dass Freier die Hilflosigkeit der Opfer von Menschenhandel ungestraft ausnutzen können. Der Antrag der Union hat sich aber nicht ausreichend mit den praktischen und juristischen Schwierigkeiten dieses Vorhabens auseinander gesetzt. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für diesen Wunsch nach einer Zwischenfrage gilt leider das Gleiche, das ich vorhin schon angeführt habe: Da Ihre Redezeit bereits überschritten ist, kann ich sie nicht zulassen. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann werde ich mich nach meiner Rede à deux mit dem Kollegen Kauder zusammensetzen, um diese Frage zu besprechen. Gestatten Sie mir einen letzten Satz: Wir werden juristisch, aber auch mithilfe von Fachleuten aus der Praxis prüfen, ob und wo es noch Lücken gibt und wie wir sie schließen können. Daneben müssen wir aber die Gesellschaft und insbesondere die Männer weiter sensibilisieren. Denn Gesetze alleine helfen nicht weiter. Wir als Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen wollen das Unsere dazu tun. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich nehme den Vorschlag zur bilateralen Beilegung vermeintlicher Meinungsverschiedenheiten als innovativen Beitrag zur Verkürzung unserer Parlamentsdebatten dankbar auf ({0}) und rege an, dass die Parlamentarischen Geschäftsführer gelegentlich die Einbeziehung dieses Instruments in unsere Geschäftsordnung prüfen. Nun hat der Kollege Jörg van Essen für die FDPFraktion das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich glaube, dass wir dafür keine geschäftsordnungsrechtliche Regelung brauchen; denn der gesunde Menschenverstand sagt einem schon, dass man das kann. Wir Liberale sind selbstverständlich immer gegen Bürokratie und werden dafür sorgen, dass es hier keine zusätzliche Bürokratie gibt. ({0}) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Kauder hat sehr viele - wie ich finde: berechtigte - kritische Bemerkungen zu dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf gemacht. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, er hat auch berechtigte Kritik daran geäußert, dass die zeitliche Frist zur Umsetzung überschritten worden ist. Das Parlament hat zwar schnell beraten. Aber die Bundesregierung hat einen entsprechenden Gesetzentwurf viel zu spät eingebracht. ({1}) Trotzdem denke ich, dass heute ein außerordentlich positiver Tag ist, und zwar deshalb, weil sich gezeigt hat, dass die parlamentarischen Beratungen zu einer erheblichen Verbesserung geführt haben. Ich bin wie die Kollegin Schewe-Gerigk der Meinung, dass das Schutzalter von 21 Jahren genau richtig ist; denn wir wissen aus der Praxis, dass die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen besonders häufig Opfer von Menschenhändlern ist. In der Debatte ist bereits mehrfach - zu Recht - darauf hingewiesen worden, dass es nicht allein bei strafrechtlichen Vorschriften bleiben darf, sondern dass viele andere, zusätzliche Anstrengungen notwendig sind. Ich möchte einen Aspekt ansprechen, der mir besonders wichtig ist. Wir alle wissen, dass es insbesondere einen Menschenhandel mit jungen Frauen von Osteuropa nach Westeuropa gibt. Durch den Wegfall von Grenzen ist das Ganze zusätzlich erleichtert worden. Mir bereitet dabei erhebliche Sorge, dass in vielen osteuropäischen Staaten noch immer Korruption in der politischen Elite, aber auch in der Polizei ganz wesentlich dazu beiträgt, dass solche Machenschaften möglich sind. Wir sollten - das gehört für mich zum Thema der heutigen Debatte dazu - die Regierungen insbesondere der Staaten, die der Europäischen Union vor kurzem beigetreten sind, auffordern, hier durchzugreifen und dafür zu sorgen, dass diese schrecklichen Praktiken nicht länger mit staatlicher und insbesondere nicht mit polizeilicher Unterstützung möglich sind. ({2}) Ich bin sehr froh, dass wir in den letzten Wochen und Monaten sehr viel intensiver über das Thema „Zwangsverheiratung“ sprechen. Die Diskussion hat gezeigt, dass sie gerade in unserem Land sehr viel häufiger üblich ist, als es von uns akzeptiert werden kann. Wir haben heute Vormittag über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gesprochen. Ich denke, dass eine Beendigung der unerträglichen Praxis der Zwangsverheiratung zu den Forderungen gehört, die wir an diejenigen Staaten stellen müssen, die Mitglied der Europäischen Union werden wollen. Auch das ist nach meiner Auffassung ein ganz wichtiges Signal, das von der heutigen Debatte ausgeht. ({3}) Herr Präsident, ich glaube, ich habe gerade eine Punktlandung hingelegt und meine Redezeit genau eingehalten. Es gäbe zwar noch viele Punkte anzusprechen. Aber ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen des Bundestages dem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Erika Simm, SPDFraktion.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Laufe des Beratungsverfahrens hat sich - darauf ist schon hingewiesen worden - eine Reihe von Änderungen an dem Gesetzentwurf ergeben, den wir heute, wie ich hoffe, gemeinsam verabschieden werden. Sie folgten aus dem Ergebnis der Sachverständigenanhörung. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den Sie, Herr Kauder, heute schon angesprochen haben und auf den ich in den Beratungen des Rechtsausschusses auch bereits hingewiesen habe. Wir hatten ein gewisses Problem mit der Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union; denn dieser ist so detailliert und geradezu perfektionistisch formuliert, dass wir von Sachverständigen mahnend darauf hingewiesen wurden, an der einen oder anderen Stelle hätten wir diesen Beschluss nicht zu 100 Prozent - ich erlaube mir zu sagen: zu 150 Prozent - umgesetzt. Das hat die Sache nicht gerade leichter gemacht. Ich erwähne das nur, um meinem Wunsch einen gewissen Nachdruck zu geben, dass man in Zukunft den nationalen Gesetzgebern etwas mehr Spielraum einräumt. Man sollte sich von dem Misstrauen gegenüber den nationalen Gesetzgebern frei machen, wenn es um die ordnungsgemäße Umsetzung europäischer Beschlüsse geht. Dieses Misstrauen kommt für mich in dem Versuch zum Ausdruck, möglichst alles auf europäischer Ebene zu regeln. ({0}) Ich sehe ein großes Problem, wenn man so perfektionistisch ins Detail gehende Regelungen in ein gewachsenes nationales Strafrecht mit seiner gewachsenen Systematik, Dogmatik und vor allem seiner eigenen Begrifflichkeit umsetzen soll. ({1}) Wir diskutieren noch darüber, aber ich hoffe, dass wir unsere Vertretung auf europäischer Ebene verbessern - ich meine die Vertretung und Präsenz des Parlamentes -, damit wir eine Chance haben, in dieser Richtung früher wirksam zu werden. ({2}) Das Problem der Zwangsheirat ist mehrfach angesprochen worden. Herr van Essen, vielleicht vermitteln Sie dies Ihren Parteifreunden in Berlin. Ich habe heute im Berliner „Tagesspiegel“ gelesen, dass es eine Initiative im Abgeordnetenhaus gibt, die Initiative von BadenWürttemberg im Bundesrat zu unterstützen. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf in § 240 Abs. 4 die Zwangsheirat als besonders schweren Fall der Nötigung unter Strafe gestellt. Dadurch erübrigt sich diese Initiative. ({3}) - Das ist natürlich etwas anderes. Man muss es an der richtigen Stelle tun. ({4}) Noch ein Wort zur Freierbestrafung: Auch wenn die CDU/CSU ihren Änderungsantrag formal nicht zurückgenommen hat - ich habe ein gewisses Verständnis dafür, weil ein Berichterstatter so etwas nicht immer allein entscheiden kann -, so hat es doch eine Verständigung darüber gegeben, dass sich daran in den Beratungen im Ausschuss kein Konflikt entzünden soll, weil wir uns mehr oder weniger stillschweigend darüber einig sind, dass wir es mit einem schwierigen Vorhaben zu tun haben, wenn wir versuchen, die Freier strafrechtlich zu fassen. Im Prinzip bin ich der Meinung, dass die Ausnutzung der Zwangslage von Opfern des Menschenhandels ein strafwürdiges Verhalten ist. Ich weiß aber auch, dass wir ein Legalitätsprinzip im Bereich der Strafverfolgung haben mit dem Ergebnis: Wenn wir Strafgesetze machen, muss die Polizei verfolgen, muss umsetzen und versuchen, der Täter habhaft zu werden. Wir befinden uns hier in einem schwierigen Bereich hinsichtlich der Beweisführung. Denn natürlich werden die Täter bestreiten, gewusst zu haben oder eine Möglichkeit gehabt zu haben, zu erkennen, dass die Prostituierte, mit der sie es zu tun hatten oder zu tun haben wollten, Opfer eines Menschenhandels ist. Von daher ist uns nicht sehr geholfen, wenn wir auf den Leichtfertigkeitstatbestand ausweichen, zumal dieser - Frau Ministerin hat das schon gesagt - unserem Sexualstrafrecht fremd ist. Dennoch bin ich der Meinung, dass wir uns die Mühe machen sollten, dies sorgfältig zu prüfen. Wir sind bereit - für die Kollegen von der SPDFraktion kann ich dies sagen -, an dem Versuch, eine adäquate Lösung zu finden, mitzuwirken.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Simm, darf der Kollege Kauder Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Simm, sind wir uns darüber einig, dass die Menschenhandelsvorschriften nicht in die Sexualdelikte eingegliedert sind, sondern dass Menschenhandel, so, wie die Regierung ihn formuliert hat, auch die Ausnutzung der Arbeitskraft bedingt und somit eher ein Gewaltdelikt und weniger ein Sexualdelikt ist, sodass sich die Frage nach einer fahrlässigen Bestrafung unter dem Gesichtspunkt eines Sexualdeliktes so nicht stellt?

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben Recht. Wir haben es jetzt in den Bereich des 18. Abschnittes eingeordnet. Dieser beinhaltet die Straftaten gegen den freien Willen. Aber durch die Anknüpfung bei der Prostitution besteht schon ein doppelter Bezug. Ganz außerhalb des Bezuges zu den Sexualstraftaten bewegen wir uns also nicht. Für mich ist das auch nicht das Entscheidende. Für mich ist entscheidend, eine Strafvorschrift zu formulieren, die für die Polizei und für die Strafverfolgungsbehörden handhabbar ist und tatsächlich zu Verurteilungen führen kann, wenn es mit der nötigen Sorgfalt und mit Nachdruck verfolgt wird. ({0}) Ich komme zum Schluss. - Als ostbayerische Abgeordnete, die relativ nah an der tschechischen Grenze wohnt, weiß ich aus eigener Anschauung, was dort in Grenznähe im Bereich der Prostitution passiert. Ich würde mir ganz dringend wünschen, dass die tschechischen Behörden nachdrücklicher versuchen würden, die Vorgänge dort, jedenfalls soweit sie kriminellen Bezug haben, zu unterbinden. Dann täten wir uns bei Diskussionen, wie wir sie zum Beispiel über die Bestrafung der Freier führen, ein Stück leichter. Ich bedanke mich. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-Fraktion.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen einmal festhalten, dass der Rahmenbeschluss, der hiermit umgesetzt werden soll, bereits vom Juli 2002 stammt und dass seitdem lange nichts getan wurde. Erst im Mai dieses Jahres wurde ein Entwurf vorgelegt, der dann im Schnellverfahren beraten werden sollte und nun zur Verabschiedung ansteht. Insofern kann ich nicht ganz nachvollziehen, dass ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden haben soll. Was die Anhörung ergeben hat - es war eine sehr gute Anhörung -, wurde umgesetzt. Als wichtigen Punkt nenne ich das Schutzalter bei der sexuellen Ausbeutung, das bei 21 Jahren geblieben ist. Es war das Verdienst der Union, dass das erreicht wurde. ({0}) - Der FDP auch. - In diesem ganz wichtigen Punkt konnte der Entwurf also noch verbessert werden. ({1}) Meine Kollegen und ich hätten uns gewünscht, dass die Koalitionsvorlage auch etwas zu der von uns geforderten Freierbestrafung enthalten hätte. Wir haben das im Rahmen der Anhörung im Rechtsausschuss eingebracht und zu diskutieren versucht. Leider wurde eine ganze Reihe von Gründen dagegen vorgetragen. Es wurde auf die Beweisproblematik hingewiesen und darauf, dass der Vorschlag nicht ausreichend ausgearbeitet ist. Man hat sich nicht mit dem Inhalt befasst, sondern offenbar versucht, das, was von der Union eingebracht worden war, nicht weiter zu verfolgen, obwohl wir uns in späteren Gesprächen in der Bewertung, dass hier eine Strafbarkeitslücke besteht, die geschlossen werden sollte, relativ nahe waren. Wir haben auch darüber gesprochen, dass der Freistaat Bayern im Bundesrat selbst einen Entschließungsantrag eingebracht hat, um die Vorschriften zum Menschenhandel, die in der Vorlage unzureichend waren, zu verbessern und die Freierbestrafung bei Zwangsprostitution auf den Weg zu bringen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben angeboten, mit uns zusammen ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir nehmen dieses Angebot auch dankbar an. Ich möchte hier zwei Sachverständige zitieren, die im Rahmen der bereits durchgeführten Anhörung zur Freierbestrafung Stellung bezogen haben, nämlich Professor Dr. Renzikowski, der von der SPD benannt worden war, und den Generalstaatsanwalt beim OLG Bamberg. Beide haben gesagt: Es besteht eine Strafbarkeitslücke. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, diese Lücke zu schließen. Die Freier, die zwar nicht selbst auf das Opfer einwirken, aber die Zwangslage und die auslandsspezifische Hilflosigkeit ausnutzen, müssen bestraft werden. Warum besteht diese Situation? Weil es eine Nachfrage gibt. Deshalb meinen wir, dass wir bei der Nachfrage anknüpfen und dafür sorgen müssen, dass die Freier, die Kunden, die die Frauen nachfragen - das sind die wahren Ausbeuter; sie tragen durch ihr Verhalten dazu bei, dass Frauen in dieser Zwangslage unsägliches Leid erfahren -, bestraft werden und die Opfer geschützt werden. Insofern ist hier doch eine andere Situation gegeben. Es wird immer eingewandt, wir hätten mit dem Prostitutionsgesetz eine Entpönalisierung erreicht und wollten nun die Freier bestrafen. Da muss man doch unterscheiden. Beim Prostitutionsgesetz geht es um diejenigen, die freiwillig in der Prostitution tätig sind. Bei der Freierbestrafung geht es um die Kunden, die Frauen ausnutzen, die in einer Zwangslage sind. Insofern ist hier auch kein Wertungswiderspruch festzustellen. Man muss im Übrigen sagen, dass die Freier, wenn sie ihre Augen und ihre Ohren aufmachen, sehr wohl bemerken können, ob sich eine Frau in einer Zwangslage befindet oder nicht. Ich habe mich sehr gefreut, als ich vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken und vom Verein der evangelischen Frauenarbeit gehört habe, dass sich beide Kirchen in die Diskussion über die Änderung der Menschenhandelsvorschriften eingebracht und dem Grunde nach gefordert haben, dass die Freierbestrafung bei Zwangsprostitution auf den Weg gebracht wird. Meine Damen und Herren Kollegen aus den Regierungsfraktionen, wir haben uns bei dem Vorschlag, den wir eingebracht haben, sehr wohl Gedanken gemacht und auch die Beweisproblematik gesehen. Wir haben im Vorfeld mit Betroffenen, mit der Polizei, mit Staatsanwaltschaften und mit Hilfsorganisationen wie SOLWODI gesprochen; Frau Simm, wir waren an der tschechischen Grenze und haben dort mit JANA gesprochen, ebenfalls eine Opferschutzeinrichtung. Sie alle haben uns ermutigt, diesen Gesetzesvorschlag auf den Weg zu bringen. Wir meinen, dass wir die Probleme, die jetzt diskutiert werden, lösen könnten. Wir haben schon Mitte der 90er-Jahre etwas auf den Weg gebracht, indem wir das Sexualstrafrecht geändert und die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt haben. Wir wissen, dass der Menschenhandel eine Form der Sklaverei im 21. Jahrhundert - dabei geht es insbesondere um Sex- und Arbeitssklaverei - und mittlerweile das weltweit profitabelste Geschäft mit einem jährlichen Umsatz von 60 Milliarden Euro ist. Wir sind uns einig, dass die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen in den Herkunftsländern dringend geändert werden müssen und dafür auch unsere Unterstützung nötig ist. Wir sollten aber auch den Frauen helfen, die sich in Deutschland aufhalten - Sie haben gehört, von den 500 000 bis 600 000 Menschen in Europa leben eine ganze Menge in Deutschland; es gibt keine gesicherten Zahlen, deshalb möchte ich auch keine nennen - und zum größten Teil durch Gewalt oder Repressalien ihnen persönlich oder ihren Familien gegenüber zur Prostitution in Deutschland gezwungen werden. Auch viele Minderjährige erleiden dabei unsägliches Leid. Wer heute die Zeitung aufschlug, konnte lesen, dass in Brasilien ein Deutscher zusammen mit seiner Ehefrau verhaftet wurde, der in großem Umfang Mädchen der Zwangsprostitution in Deutschland zugeführt hat. Dieser Mädchenhändlerring, der jetzt zerschlagen wurde, ist nur einer von vielen. Daran sehen wir, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Ich würde mich freuen - Frau Justizministerin, Sie haben schon gesagt, dass Sie froh darüber wären -, wenn auch die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen mit uns im Sinne der Sache an einem Anti-Freier-Gesetz arbeiten und es auf den Weg bringen würden. Wir können den Vorschlag, den die CDU/CSU hier unterbreitet hat, gerne in einer weiteren Anhörung diskutieren. Wir sollten uns dann aber auch gemeinsam darum bemühen, ein Gesetz auf den Weg zu bringen und umzusetzen, damit den Frauen, die viel Leid erfahren, geholfen werden kann. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 180 b und 181 Strafgesetzbuch - auf Drucksache 15/3045. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4048, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Volker Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Projekt des Umweltbundesamtes zur so genannten verdeckten Feldbeobachtung stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta Connemann, Peter H. Carstensen ({1}), Dr. Peter Jahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken - Drucksachen 15/2668, 15/2969, 15/3545 Berichterstattung: Abgeordnete Gustav Herzog Friedrich Ostendorff Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Vizepräsident Dr. Norbert Lammert die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Jäger für die SPD-Fraktion.

Renate Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001003, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über zwei Anträge der Opposition zu befinden, die sich mit dem Thema der so genannten verdeckten Feldbeobachtung beschäftigen. Da die meisten Erscheinungen in der Gesellschaft in eine Kette von Ursache und Wirkung eingebettet sind, stellt sich hier natürlich die Frage, wie es dazu kommt, dass die beiden Oppositionsparteien Anträge solcher Art stellen. ({0}) Wir Umweltpolitiker haben über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg ein gemeinsames Ziel, das kurz gesagt darin besteht, die uns umgebende Natur in all ihren Facetten, in Form von Pflanzen und Tieren, Landschaft, Wasser und Luft, für uns und unsere Nachkommen sauber, gesund und lebenswert zu erhalten. Es ist ein Stück Verantwortung vor Gott und den Menschen, wie es in unserem Grundgesetz heißt. Auf den Wegen hin zu diesem Ziel kommen wir allerdings recht schnell zu unterschiedlichen Auffassungen. Wir müssen die Wege in das demokratische System einpassen und sie in Abwägung und Relation zu Wirtschaftlichkeit, Effektivität, Kosten usw. umsetzen. Die Hauptfrage aber entscheidet sich in der Regel an dem Parameterpaar Ökonomie und Ökologie. Diese kann man zum einen als eng verbundene Einheit sehen oder zum anderen als weit auseinander liegende gegensätzliche Pole. Zwischen den beiden gibt es einen breiten Spielraum unterschiedlicher Nähe zur Ökologie auf der einen Seite bzw. zu den ökonomischen Wirkungen auf der anderen Seite. Bei der Beratung der Oppositionsanträge ist zunächst zu erwähnen, dass das Pflanzenschutzgesetz mit all seinen Auflagen unter der Ägide der CDU/CSU im Mai 1998 im Bundestag beschlossen wurde. Es ist ein Bundesgesetz und für die Kontrolle seiner Einhaltung sind die Pflanzenschutzämter der Länder zuständig. ({1}) Bundesseitig haben wir das Umweltbundesamt, das unter anderem auch für die Weiterentwicklung des Umweltschutzes zuständig ist, das Wege für die Lösung von Umweltproblemen aufzeigen und dem BMU und auch anderen Ministerien diesbezügliche fachliche Konzepte vorschlagen soll. Im Rahmen dieser Aufgaben sah es das Umweltbundesamt als notwendig an, Daten zu sammeln, um die Praktikabilität der Anwendung des Pflanzenschutzgesetzes zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern. Da die Daten der Pflanzenschutzämter der Länder dem Umweltbundesamt nicht vorlagen, griff das UBA auf den Weg der verdeckten Feldbeobachtung zurück, der vielleicht besser als Ausweg zu bezeichnen ist. Gedacht sind die Kontrollen zur Datenerhebung, aber nicht, um den Landwirt mit Sanktionen zu belegen, ({2}) sondern, um ihm Hilfe zu geben. In ihrem Antrag macht die FDP den destruktiven Vorschlag, das Projekt der Feldbeobachtung sofort und ganz zu stoppen. ({3}) Konnte man das Pferd nicht auch von der anderen Seite aufzäumen? Konnte man das nicht konstruktiv angehen, zum Beispiel indem Sie über den Bundesrat - Sie sind ja an einigen Regierungen beteiligt - die Länder aufgefordert hätten, dem UBA die gesammelten Daten der Pflanzenschutzämter zur Verfügung zu stellen? ({4}) Es kann doch wohl nicht sein, dass die Länder die Daten auch nach Aufforderung nicht herausgeben, obwohl der Bund für die Lebensmittelsicherheit verantwortlich ist. ({5}) Liegen dem UBA ausreichend Daten vor, braucht keine verdeckte Feldbeobachtung durchgeführt zu werden. Bis vergangenen Montag lagen weder dem Umweltministerium noch dem Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft gelieferte Daten vor. Besonders kess geht die CDU/CSU in ihrem Antrag vor. Sie nimmt die Feldbeobachtung zum Anlass, wirksame Kontrollen gleich ganz auszuhebeln. Das Pflanzenschutzgesetz soll ihrer Meinung nach dahin gehend geändert werden, dass eine Kontrolle nur nach vorheriger rechtzeitiger schriftlicher Ankündigung in angemessener Frist durchgeführt werden darf. Was hier „angemessen“ heißt, lassen Sie aber offen. Auf alle Fälle wollen Sie dem Landwirt reichlich Zeit geben, alles, was eine Erkenntnis über ein eventuelles ungesetzliches Ausbringen von Pestiziden und Düngemitteln bringen könnte, wegzuräumen und zu sortieren. ({6}) Da Sie auch die Wohnräume zum Tabu erklären wollen, ist das noch leichter zu bewerkstelligen. Dort, wo Geschäfts- und Wohnräume zusammenliegen, dürfte gar nicht kontrolliert werden. Für wen betreiben Sie eigentlich Lobbypolitik? ({7}) Den Landwirten, die ihren Grund und Boden gesetzestreu, kostenbewusst und ökologisch vernünftig bewirtschaften, dienen Sie mit diesem Antrag bestimmt nicht, im Gegenteil. ({8}) Sie schüren dadurch Misstrauen im gesamten Berufsstand, als ob es hier eine ganze Menge zu verbergen gäbe. Wir lehnen diese beiden Anträge ab. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich einmal vor: Sie sind zu Hause, vor sich eine Tasse Ostfriesentee - so wäre es jedenfalls bei uns -, sicher in dem Gefühl „My home is my castle“. Plötzlich steht ein Team von Ermittlern vor Ihrer Tür und verlangt den Zutritt zu Ihrer Wohnung, um zu überprüfen, ob Sie Ihren Blumendünger vorschriftsmäßig verwahrt haben. Sie sind natürlich aufgebracht und pochen - „Meine Wohnung ist unverletzlich“ - auf Art. 13 Grundgesetz. Die Ermittler weisen darauf hin, dass dieses Grundrecht für Sie nicht greift. Also: Türen auf, Schränke auf. Unmöglich, sagen Sie? Weit gefehlt, meine Damen und Herren. Genau diese Szene kann für unsere Landwirte jeden Tag Wirklichkeit werden. ({0}) - Ich komme noch darauf zu sprechen, Herr Kollege Herzog. - Denn § 38 Pflanzenschutzgesetz macht es möglich. Die zuständigen Behörden dürfen die Räume besichtigen und untersuchen, und zwar ohne dringenden Tatverdacht. Dabei handelt es sich nicht nur um die Betriebsräume, nein, auch um die Privaträume. Denn für landwirtschaftliche Betriebe ist das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt. Diese Regelung - das ist richtig - wurde 1986 eingeführt. ({1}) Zielrichtung war der Betriebsinhaber, der gegen das Gesetz verstößt. Denn niemand von uns will einen Missetäter schützen. Die damalige Bundesregierung konnte aber sicher sein, dass die zuständigen Landesbehörden von dieser Ermächtigung nur im Verdachtsfall Gebrauch machen würden. ({2}) Wer aber hätte ahnen können, dass es jemals einen Minister Trittin geben würde? Sein Klimabeitrag besteht darin, immer wieder Eiszeiten zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft auszulösen. Das letzte - wirklich allerletzte - Beispiel ist das Projekt, das in der Öffentlichkeit den Titel „Bauernspione“ erhalten hat. Dieser Titel macht deutlich, dass hier ein ganzer Berufsstand unter Generalverdacht gestellt wird. ({3}) Im Oktober 2003 schrieb das dem Umweltministerium unterstellte Umweltbundesamt diese Leistung aus: „Mittels verdeckter Feldbeobachtung“ - Ende des Zitats ({4}) soll die Einhaltung der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln erfasst, Landwirte und Gärtner beobachtet werden. Mittel und Ziel des Vorhabens lassen an einen Film im Geheimdienstmilieu eines John le Carré etwa nach dem Motto „Der Spion, der aus der Uni kommt“ denken. ({5}) Denn mit der Beobachtung sind Studenten beauftragt. Kenntnisse über Pflanzenschutzmittel und Geräte, die Landwirte und Gärtner in sehr zeitintensiven Pflichtlehrgängen erlernen, sollen den Studenten der Kunstgeschichte, der Jurisprudenz etc. im Crashkurs vermittelt werden. Dann auf zur Feldbeobachtung! Es ist nicht so, dass es dafür keine Experten geben würde, Frau Jäger. Aber wen interessiert schon, dass es dafür Mitarbeiter bei Landesbehörden gibt, die die notwendige fachliche Qualifikation und Eignung haben? Wen interessiert schon, dass der Bund gar nicht zuständig ist? Jedenfalls nicht diese Bundesregierung. Da macht es dann auch nichts, dass Planung und Vorbereitung des Projekts bereits 300 000 Euro verschlungen haben. ({6}) Wir haben’s ja! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diese Posse beinahe lachen. ({7}) Aber sie trifft einen ganzen Berufsstand ins Mark. Landwirte und Gärtner werden kriminalisiert. Denn ihnen wird per Generalverdacht unterstellt, Vorschriften zu missachten. Dabei sollte dieser Berufsstand eigentlich hohes Ansehen genießen. Die deutschen Bauern und Gärtner versorgen uns mit hochwertigen gesunden Lebensmitteln. Sie pflegen und umsorgen unsere Kulturlandschaft. Dabei stehen sie mit dem Rücken an der Wand. Wenn der Herr Minister, die Frau Ministerin und auch Sie, Herr Kollege Herzog und Frau Kollegin Jäger, sich heute die Mühe gemacht hätten, die Demonstration der hessischen Milchbauern vor dem Brandenburger Tor zu besuchen, hätten Sie einmal bemerkt, wie verzweifelt die Lage unserer Bauern ist. ({8}) 14 Betriebe sterben pro Tag in Deutschland. Anstatt den Bauern Hilfe zuteil werden zu lassen, werden ihnen Beobachter aufs Feld geschickt. ({9}) Das finde ich unerträglich. ({10}) Wir, die Opposition, und die Öffentlichkeit stehen mit dieser Kritik nicht allein. Ich zitiere aus der „Bild am Sonntag“ vom 13. Juni 2004 den Kollegen Friedrich Ostendorff, einen Parteifreund des Ministers: Welcher Teufel reitet die Verantwortlichen eigentlich? Das Projekt gehört schleunigst abgeblasen! Der Kollege Wilhelm Priesmeier, übrigens ein Mitglied der SPD-Fraktion, stellt fest: Trittin muss das ganze Verfahren sofort stoppen. Wie wahr, meine Damen und Herren von der Koalition. Beenden Sie endgültig dieses Drama! Nehmen Sie zur Kenntnis: Unsere Landwirte leben von der Natur. Die Vorstellung, jeder Bauer verfahre beim Pflanzenschutzmitteleinsatz nach der Methode „Viel hilft viel“, ist völlig absurd. ({11}) Wenn Sie schon den Landwirten jede Moral absprechen, lassen Sie sich vielleicht von Kostenargumenten überzeugen. Mein Bruder hat einen Hof. Der Pflanzenschutzmitteleinsatz bei Getreide kostet ihn aktuell circa 170 Euro pro Hektar. Er kann 6 bis 10 Tonnen pro Hektar bei einem Preis von circa 100 Euro pro Tonne ernten. Glauben Sie denn im Ernst, dass er es sich bei diesen Margen überhaupt leisten könnte, Pflanzenschutzmittel über Bedarf einzusetzen? Das weiß auch das Umweltbundesamt und fühlt sich offensichtlich nicht wohl bei diesem Projekt. So erklärte Präsident Troge vor dem Bauernverband vor zwei Wochen, am 11. Oktober 2004 - ich zitiere -: Die Landwirtschaft hat im Umweltschutz bei Luft, Wasser und Boden in den vergangenen Jahren eine Menge getan und viel erreicht … Der Zustand der Gewässer habe sich dank des Einsatzes der Landwirtschaft enorm verbessert. Weitere Anstrengungen müssten gemeinsam angegangen werden. Gemeinsam, das ist das Zauberwort. Selbst Ministerin Künast hat das inzwischen erkannt. Morgen wird ihr Ministerium ein Reduktionsprogramm zum chemischen Pflanzenschutz vorstellen. Diese Reduktion ist - um es hier ganz klar zu sagen - im Interesse aller, insbesondere auch im Interesse der Bauern. Für dieses Programm wurde der Dialog mit allen Beteiligten, also mit den Landwirten, den Behörden auf Landesebene und den Herstellern von Pflanzenschutzmitteln, gesucht. Offenbar waren die Gespräche auf dieser Ebene durchaus positiv. Allerdings bleibt abzuwarten - das ist dann der Überraschungseffekt -, ob sich die am Dialog Beteiligten tatsächlich in dem Programm wiederfinden werden. In diesen Dialog muss auch Minister Trittin eintreten. Wir wollen keinen Überwachungsstaat. ({12}) Wir wollen keine Bauernstasi. Stellen Sie Ihre Jagd ein! Beenden Sie die verdeckte Feldbeobachtung! Ändern Sie das Pflanzenschutzgesetz für eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Umweltschutz! Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem Antrag der CDU/CSU mit dem Titel „Vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken“ möchte ich sagen: Dieser Titel ist gut; der Rest ist Mist. ({0}) Sie wissen, dass ich mich zu dem in dem Projekt der verdeckten Feldbeobachtung des Umweltbundesamtes geplanten Verfahren sehr ablehnend geäußert habe. Denn ich halte es für den Dialog, den wir mit der Landwirtschaft im Rahmen des Pflanzenschutzreduktionsprogrammes führen wollen, für nicht dienlich. Deshalb fände ich ein Verfahren falsch, das Heckenschützenmentalität und Denunziation möglicherweise fördern könnte. ({1}) Aber Sie wissen auch, dass das Umweltbundesamt nach längerem Streit bereit ist, auf die eigene Erhebung zu verzichten, ({2}) wenn die Länder die Ergebnisse der Anwendungskontrollen liefern. Die Pflanzenschutzämter sind jetzt gefordert. Mögliche wissentliche oder unwissentliche Anwendungsfehler beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln müssen untersucht werden. Ich weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre. ({3}) Frau Connemann, man muss zwischen dem Ziel des Vorhabens und dem Verfahren differenzieren. Das tun Sie leider nicht. An dem Ziel kann man nichts aussetzen. Oder wollen Sie den Menschen allen Ernstes erklären, dass es der Landwirtschaft leider nicht zuzumuten sei, dass der Umgang mit immerhin giftigen Substanzen genau kontrolliert werde, weil das, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, „den Leistungen und Verdiensten der Landwirtschaft in Deutschland in keiner Weise gerecht wird“? Sie behaupten, schon die Überprüfung der Einhaltung von Gesetzen sei eine Kriminalisierung des gesamten Berufsstandes. Meine Damen und Herren, was ist denn das für ein Rechtsverständnis? Sie plädieren dafür, gar nicht zu kontrollieren, ({4}) und begründen das damit, dass ein deutscher Bauer weder wissentlich noch unwissentlich etwas tun würde, was nicht erlaubt ist. ({5}) Kollegin Connemann hat in der ersten Lesung dieses Antrages wörtlich gesagt: Niemand will denjenigen schützen, der wissentlich gegen Gesetze verstößt. ({6}) Aber gerade die Landwirte tun dies nicht und haben deshalb unser Vertrauen verdient. ({7}) Woher, Frau Connemann, wissen Sie das? ({8}) Haben Sie vielleicht eigene, heimliche Kontrollen durchgeführt? Gerade weil es um Vertrauen geht, ist es doch wichtig, mögliche Anwendungsfehler einzugrenzen. Das schwächt das Vertrauen nicht, sondern stärkt es. Eine Kriminalisierung stellte es dar, mögliche Fehler unter den Tisch zu kehren oder gegen alle wenden zu wollen. Es ist kein Angriff auf alle Berufskollegen, wenn man offen ausspricht, dass es Verstöße gibt. Warum sollte es ausgerechnet unter uns Landwirten keine schwarzen Schafe geben? Auch wenn Ihr Weltbild damit zusammenbricht, Frau Connemann: Natürlich gibt es Verstöße, wissentlich wie unwissentlich begangene. ({9}) Wir haben nach wie vor Probleme mit der richtigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Allein im Regierungsbezirk Unterfranken mussten in diesem Jahr 20 Verfahren im Zusammenhang mit der Nutzung von Pflanzenschutzmitteln eingeleitet werden. Daran müssen wir arbeiten. ({10}) Dies tun wir bereits, zum Beispiel mit dem Pflanzenschutzreduktionsprogramm, das die Ministerin morgen vorstellen wird. Hier geht es um einen konstruktiven und sachlichen Dialog, der von Anwendern, Kontrollinstanzen, Naturschützern und anderen kritischen Gruppen geführt wird. Sie hingegen tragen mit Ihrem Antrag die Diskussion in eine falsche und, wie ich meine, schädliche Richtung. Sie reden wie kein anderer unentwegt von Misstrauen, Diskreditierung und Kriminalisierung. ({11}) Wissen Sie, was Sie damit herbeireden, Frau Connemann? Nichts als Misstrauen, Diskreditierung und Kriminalisierung. Ich kenne außer Ihnen niemanden, der das Pflanzenschutzgesetz, das übrigens in der Dienstzeit der Ex-Umweltministerin Angela Merkel entstanden ist, für einen Ausdruck tiefen Misstrauens gegenüber der Landwirtschaft hält. Aber ich kann Sie beruhigen: Nicht jede Kontrolle in diesem Land ist Ausdruck eines schlechten Charakters des Kontrolleurs. Vielmehr ist eine Kontrolle in der Regel ein ganz normaler Vorgang. Dieser Antrag der CDU/CSU ist ein typisches Beispiel Ihrer bekannten Politik der großen Allgemeinplätze, die wörtlich so klingen: Dies wird den Leistungen und Verdiensten der Landwirtschaft in Deutschland in keiner Weise gerecht. Können Sie mir dies erklären? Ich bin gern bereit, die wirklichen Leistungen und Verdienste der Landwirtschaft gebührend zu würdigen. Wir von Rot-Grün tun dies im Übrigen in einer Art und Weise, von der die Bäuerinnen und Bauern viel mehr als von Ihren Sprüchen haben: durch aktive Förderung der besonderen Leistungen der Landwirtschaft, etwa beim Erhalt der Kulturlandschaft. Aber ich bin nicht bereit, die Kollegen der Opposition hier wegen jeden Kleinkrams im Kostüm des Rächers der unterdrückten Bauern und Bäuerinnen zu ertragen, der mit gespielter Entrüstung gegen den bösen Wolf zu Felde zieht. ({12}) - Frau Mortler, ich muss Ihnen sagen: Das ist albernes Theater, das bei den Zuschauern nur Kopfschütteln auslöst. ({13}) Meine Damen und Herren, wir befinden uns beim Thema Pflanzenschutzmittel auf einem sehr vernünftigen Weg. Sie sind herzlich eingeladen, diesen Weg mitzugehen. Wenn Sie ihn nicht mitgehen, werden wir ihn allein gehen; auch dies werden wir aushalten. Aber belästigen Sie uns bitte nicht weiter mit Anträgen wie diesem. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Ostendorff, das Projekt „Bauernspione“ oder „Verdeckte Feldbeobachtung“, wie es in der Ausschreibung hieß, ist kein Kleinkram gewesen. Es war gerechtfertigt, dass die FDP sich dagegen gewandt hat, und ich bin stolz darauf, dass wir damit insoweit Erfolg gehabt haben, als dieses Projekt nicht in der ursprünglich geplanten Form durchgeführt wird. Dies ist ebenso gut für die Bauern wie für das Umweltbundesamt, das damit gezeigt hat, dass es einsichtsfähig ist, was die Voraussetzung dafür ist, dass es weiterhin gute Arbeit leisten kann. In einem Gespräch mit Hans-Michael Goldmann und mir hat Herr Troge zugesichert, dass keine Bauernspione über die Felder der Landwirte streifen werden. Ich setze darauf, dass das Wort des UBA-Präsidenten gilt. Zugleich fordert die FDP die Bundesregierung auf, das Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Minister Trittin, Ministerin Künast und UBA-Präsidenten Troge zu beenden und die politische Verantwortung zu übernehmen. Ministerin Künast ist gefordert, sich endlich einmal vor die Bauern zu stellen und die weit überwiegende Mehrheit, die in hoher Verantwortlichkeit ihre Felder bewirtschaftet, vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen. ({0}) Erinnern wir uns: Als die Ausschreibung des Umweltbundesamtes bekannt wurde, waren wir alle schockiert. Heute bin ich dankbar, feststellen zu können, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen im Agrarausschuss davon distanziert haben. Dies gilt sowohl für Herrn Ostendorff, der diesen Vorgang eben noch einmal öffentlich gemacht hat, als auch für den inzwischen verstorbenen Matthias Weisheit und für Peter Harry Carstensen. Aber es ist ein Trauerspiel, dass Rot-Grün offensichtlich von Februar bis heute gebraucht hat, um diesen Skandal zu beenden, und dass sich keiner der Verantwortlichen bis jetzt von dem Projekt distanziert hat. Die Reputation des Umweltbundesamtes und seines Präsidenten hat erheblich gelitten. Wir von der FDP-Bundestagsfraktion fordern ihn auf, sich zu entschuldigen. Es gibt nur wenige Alternativen zur Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Eine Alternative sind krankheitsresistente Pflanzen. Rot-Grün hat gerade mögliche Fortschritte bei der Züchtung resistenter Sorten durch Anwendung gentechnischer Methoden per Gesetz verhindert. Sie haben damit die Verminderung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln verhindert. Die Züchtung resistenter Sorten wäre das beste Programm gewesen. ({1}) Die Methoden des Ökolandbaus sind nicht flächendeckend umsetzbar. Denn es gibt keinen Markt für die Produkte. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass die Verwendung von Kupferhydroxiden anstelle von modernen, schnell abbaubaren Fungiziden, die von Betrieben des Ökolandbaus praktiziert wird, zum Eintrag von Schwermetallen ins Grundwasser führt. Auch das ist bekannt; die Umwelt wird geschädigt - nichts öko. ({2}) - Nein, Kupferhydroxid ist ein klassisches Mittel des ökologischen Pflanzenbaus. Konventionelle Betriebe haben es nicht nötig, sich auf solche vorsintflutlichen Mittel zurückzuziehen. Fazit: Chemischer Pflanzenschutz ist unverzichtbar. Aber der sachgerechte Umgang mit Pflanzenschutzmitteln liegt im Interesse aller: im Interesse der Landwirte, die Kosten sparen; im Interesse des Naturschutzes, weil Belastungen vermieden werden; im Interesse einer hohen Qualität der Lebensmittel. Aufgrund des Lebensmittelmonitorings wissen wir, dass unsere Lebensmittel gut und sicher sind. Im Statusbericht des Senats der Bundesforschungsanstalten wird festgestellt: Bis heute gibt es damit letztlich keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass der ausschließliche oder überwiegende Verzehr von ökologisch erzeugten Lebensmitteln direkt die Gesundheit des Menschen fördert. Sagen Sie doch einmal, was in Ihren wissenschaftlichen Studien festgestellt wurde! Oder sind Sie der Meinung, dass sie alle für den Papierkorb sind? ({3}) Gleichwohl werden, wenn auch mit rückläufiger Tendenz, Rückstände von Pflanzenschutzmitteln im Grundwasser gefunden. Das muss abgestellt werden. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Nach mündlicher Mitteilung von Präsident Troge sind zwei Ursachen dafür verantwortlich: unzureichende Vorschriften zur Anwendung von Pflanzenschutzmitteln und falsche Anwendung durch die Landwirte. In Beantwortung einer Anfrage hat mir die Bundesregierung gesagt, im Wesentlichen sei nur die Verantwortung der Landwirte zu überprüfen. Ich meine, die aufgeworfene Fragestellung muss untersucht werden. Man sieht jedoch sehr leicht, dass mit der Methode der Bauernspione eine solche Untersuchung überhaupt nicht getätigt werden kann. So können gar nicht die Daten erhoben werden, die gebraucht werden, um tatsächlich etwas herauszufinden. Wir brauchen nämlich Daten, die die notwendige Differenzierung nach Regionen und nach Kulturarten erlauben. Das ist mit der Methode der Bauernspione nicht möglich. Das heißt, mit einer die Landwirte pauschal kriminalisierenden Methode sollten Daten erhoben werden, die zur Beantwortung der angegebenen Fragen völlig ungeeignet sind. Das ist unverantwortlich: Geld herausschmeißen und einen Berufsstand in den Dreck ziehen. ({4}) Inzwischen hat das Umweltbundesamt festgestellt, dass es doch auf die Daten des Pflanzenschutzmitteldienstes der Länder zurückgreifen kann. Nach Aussage von Präsident Troge gibt es eine Vereinbarung zwischen den Ländern. Ich bin zuversichtlich, dass die Länder der Bundesregierung diese Daten zur Verfügung stellen werden. ({5}) - Sie hätten sich einmal durchsetzen können! Sie können doch nicht verlangen, dass ich von der Opposition Ihre Regierungsgeschäfte betreibe. Was soll das denn? Das hätten Sie doch endlich einmal machen können. Warum machen Sie das denn nicht? Sie sind doch wohl Manns genug, so etwas in die Wege zu leiten. Das müssen Sie nicht von einer einzelnen Oppositionsabgeordneten verlangen. Das ist doch wohl Blödsinn. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Ihnen ist wahrscheinlich entgangen, dass Ihre Redezeit inzwischen zu Ende ist.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Damit können wir festhalten: Erst der massive Einspruch der FDP hat das Anliegen des Umweltbundesamtes auf einen Erfolg versprechenden Weg gewiesen, nämlich die Daten der Länder heranzuziehen. Ich habe Präsident Troge vorgeschlagen, uns zu loben. Ich finde, Sie könnten das auch tun. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Um das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Probst gebeten. Bitte schön.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag der Kollegin Happach-Kasan war dazu angetan, dass Missverständnisse im Raum stehen bleiben. Deshalb möchte ich richtig stellen, dass es bisher wirklich keinen Grund gibt, von der Konzeption dieses Projektes abzuweichen. Es ist richtig, dass wir ein großes Interesse daran haben, Doppelarbeiten zu vermeiden und qualifizierte Daten, die den Ländern vorliegen, mit auszuwerten. Bis heute aber hat kein einziges Land Daten geliefert. Jetzt sind die Länder - das hat Herr Ostendorff richtig gesagt - am Zuge. Solange keine qualifizierten Daten bzw. überhaupt keine Daten vorliegen, werden wir an unserem Vorhaben festhalten. Es geht uns nicht darum, die Landwirte in irgendeiner Weise zu kriminalisieren oder in die Ecke zu stellen, wie Sie das in den Raum gestellt haben. Es geht vielmehr um eine vernünftige Anwendung der Pflanzenschutzmittel im Sinne des Gewässer- und des Umweltschutzes. An diesem Ziel werden wir festhalten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Beantwortung, Frau Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Probst, Präsident Troge hat uns gestern in dem Gespräch mitgeteilt, dass es eine Vereinbarung zwischen dem Umweltbundesamt und den Ländern dahin gehend gibt, diese Daten zur Verfügung zu stellen. Ich darf Sie daran erinnern, dass es nach Aussage des Umweltbundesamtes eine solche Vereinbarung zum Zeitpunkt der Ausschreibung noch gar nicht gegeben hat und die Länder somit damals gar nicht verpflichtet waren, solche Daten zu übermitteln. Ich möchte gleichzeitig noch einmal herausstellen, dass es sich nicht um vergleichbare Daten handelt. Die Daten, die den Pflanzenschutzämtern flächendeckend bundesweit vorliegen, sind wesentlich besser geeignet, das Vorhaben, das Sie uns geschildert haben, umzusetzen, als die Daten, die dadurch ermittelt werden, dass Spione auf die Felder geschickt werden, wie Sie das vorgehabt haben, die nachschauen sollen, ob sie hier oder da etwas finden. Ich glaube, mit der Methode können wir unser Grundwasser nicht vor Einträgen durch Pflanzenschutzmittel schützen. Die Methode, die sich der Daten der Pflanzenschutzämter bedient, ist die deutlich bessere.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion das Wort.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vordergründig geht es in dieser Debatte um zwei Anträge der Opposition, tatsächlich aber geht es um Ihren Beißreflex, wenn Sie die Begriffe UBA oder Öko hören. Deswegen diese ganze Aufregung. ({0}) Es ist schon interessant zu hören, wie Sie das immer ganz geschickt verknüpfen können. Der Antrag der FDP beinhaltet ein Verbot der Untersuchung von Defiziten bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Der Antrag der CDU/CSU beinhaltet ein Verbot von unangekündigten und damit effektiven Kontrollen. Der Ausschuss empfiehlt in beiden Fällen eindeutig Ablehnung und das ist eine gute Empfehlung. Eigentlich haben wir bereits in der Debatte vom 7. Mai dieses Jahres alles Wesentliche gesagt. Die Opposition hat es aber offenbar nicht geschafft, sich in dieser Zeit etwas mehr mit den Fakten auseinander zu setzen, noch einmal nachzulesen und endlich aufzuhören, ihren Unsinn zu verbreiten. Da Sie das heute wieder gemacht haben, Frau Kollegin Connemann, will ich einmal aus Ihrem Antrag zitieren: Durch diese Maßnahme scheint das Umweltbundesamt die Einhaltung der guten fachlichen Praxis der Land- und Forstwirte grundsätzlich infrage stellen zu wollen. Denn nur wer glaubt, dass Recht und Gesetz unterlaufen werden … Frau Kollegin Connemann, das ist keine Frage des Glaubens. Wir wissen, dass es Verstöße gibt, sei es beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Das werden Sie wohl nicht in Abrede stellen. ({1}) Wir wissen, dass die gute fachliche Praxis hinsichtlich der Abstandsregelungen, der Wartezeit, der Indikation und zum Beispiel auch der Reinigung der Feldspritze auf dem Acker - das wird noch zu häufig auf dem Hof gemacht - nicht immer eingehalten wird. Es gibt sogar eine gemeinsame Initiative von Umweltbundesamt und Bauernverband, die versucht, das Problem durch Information und Beratung zu beseitigen. Das sind keine Erfindungen von Rot-Grün. Sie alle wissen, dass es Fälle von Überschreitungen der Höchstmengen gibt. Sie wissen auch, dass nicht zugelassene Mittel verwendet werden. Sie kennen auch die Ergebnisse der Analysen von Proben aus Oberflächengewässern und Grundwasser. Manchmal reicht auch ein einfacher Spaziergang, um festzustellen, dass nicht immer am Ackerrand Schluss war, sondern der Bauer noch ein Stückchen weiter gefahren ist. Wir wissen auch, dass unser Bemühen um mehr Einzelfallgerechtigkeit zu einem nahezu unanwendbaren Regelwerk geführt hat. Darin stimmen wir, glaube ich, überein. Deswegen sollte es unser gemeinsames Ziel sein, das Regelwerk einfacher zu gestalten und es dadurch besser zu machen. Für die SPD-Fraktion sage ich noch einmal sehr deutlich: Nach unserer Auffassung kann der Großteil der deutschen Landwirtschaft nicht auf chemischen Pflanzenschutz verzichten. Ein Motiv des UBA war, die Landwirte bei der Beobachtung zu fragen, warum sie eventuell gegen die eine oder andere Regelung verstoßen haben. Es ist einfach fortgesetzte Böswilligkeit, wenn hier von einer Kriminalisierung gesprochen wird. Es wird kein Acker betreten, ohne zu fragen. Das ist kein Hausfriedensbruch. Es werden keine Stasimethoden angewendet. Das UBA hetzt keine Nachbarn gegeneinander auf und es findet keine Denunziation statt. Frau Kollegin Connemann, Sie haben aus der Ausschreibung zitiert. Daher werde auch ich daraus zitieren, was das Betreten eines Ackers betrifft: Dies kann nur nach Absprache mit dem Landwirt erfolgen. - Sie sollten in Kürschners Volkshandbuch über den Deutschen Bundestag eine zusätzliche Angabe zu Ihrer Person aufnehmen lassen: Märchenerzählerin. Für eine Partei, von der ich es gewohnt bin, dass sie in der Regel jeden Bahnhof und jede Straßenecke per Videoüberwachung kontrollieren will, ist es schon verwunderlich, dass Sie hier solch eine Aufregung verursachen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mehrfach angesprochen worden, dass die Länder jetzt in der Pflicht sind. Nach meiner Kenntnis ist es in Niedersachsen leider so, dass dort nicht mehr Rot-Grün das Sagen hat, sondern, Frau Connemann und Frau Happach-Kasan, dass Ihre Parteifreunde dort regieren. Sorgen Sie also auch dafür, dass die benötigten Daten geliefert werden; denn entgegen Ihrer Vorstellung hat Herr Trittin keinen Zugriff auf die Daten der Länderbehörden. Ich glaube nicht, dass die KoMbO daran etwas ändern wird. Ich möchte diese Debatte nutzen, um einen weiteren Aspekt aufzugreifen. Lassen Sie mich etwas zu dem vermeintlichen Skandal sagen, über den wir in dieser Woche auch im Ausschuss diskutiert haben und der mit dieser Thematik durchaus etwas zu tun hat: die Greenpeace-Studie „Pestizide am Limit“. Diese Studie halte ich für wissenschaftlich schlecht bis untauglich. Sie ist eine unglückliche und unsachliche Verknüpfung von Messergebnissen und gesetzlichen Vorschriften, im Grunde genommen ein giftiges Gebräu von Halbwahrheiten. ({3}) Es ist bedauerlich, dass eine solche Studie in unserer Medienlandschaft eine derartige Aufregung verursachen kann. Konstruktive Kritik ist zwar immer willkommen. Aber diese Studie ist nicht geeignet, die Verbraucher aufzuklären oder das Verhalten der Landwirte zu verbessern. ({4}) Im schlimmsten Fall können solche Schlagzeilen sogar dazu führen, dass es dem Verbraucher letztendlich egal ist, was er isst, weil er denkt, dass sowieso alle Nahrungsmittel versaut sind. Dieser Fatalismus ist eine Bestrafung all jener Landwirte, die verantwortungsvoll hochwertige Nahrungsmittel in einer ökologisch intakten Umwelt produzieren. Mehrfach angesprochen wurde bereits das Reduktionsprogramm, das die Frau Ministerin morgen vorstellen wird. Dabei handelt es sich um einen umfassenden Katalog von Vorschlägen und Maßnahmen. Ich kann mir die Kritikpunkte, die vonseiten der Umweltverbände dagegen vorgebracht werden, schon vorstellen. Diesen Verbänden sage ich: Liebe Freunde, es kommt nicht darauf an, die radikalsten Forderungen und die schärfsten Auflagen in die Welt zu setzen, sondern es geht darum, für uns alle auf breiter Front konkrete Erfolge zu erwirken. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich von der Ausschreibung des Umweltbundesamtes gehört habe, war ich praktizierender Landwirt. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch kein Mitglied dieses Hohen Hauses. Als es um die so genannte verdeckte Feldbeobachtung ging - ich finde den Begriff „Bauernspionage“ wirklich treffend -, habe ich mich gefragt: Bin ich eigentlich Landwirt oder Mitglied einer kriminellen Vereinigung? ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht das in der Praxis aus? Im kommenden Frühjahr werde ich Pflanzenschutzmaßnahmen durchführen und meine Weizen- und Braugerstenbestände mit Pflanzenschutzmitteln behandeln, wie ich es seit Jahrzehnten mache. ({1}) - Sie werden es nicht glauben, verehrte Kollegin, aber ich betreibe den Beruf des Landwirts seit meinem 15. Lebensjahr. ({2}) Sehen Sie, das ist eben der Unterschied: Es reden hier viele mit, die von der Praxis keine Ahnung haben. Jetzt redet einer, der aus der Praxis kommt. ({3}) Wenn ich die Pflanzenschutzmaßnahmen dann durchführe, fahre ich mit meinem Schlepper über das Feld - in Zukunft wahrscheinlich mit noch teurerem Agrardiesel und muss befürchten, dass hinter jeder Hecke, hinter jedem Baum ein kleiner Trittin sitzt, der mich mit dem Feldstecher bei der Arbeit beobachtet und beim geringsten Verdacht eines Fehlverhaltens mit aller Härte des Gesetzes durchgreift. „Verdeckte Feldbeobachtung“ nennen Sie das ({4}) - wird diese Vorgehensweise in der Fachsprache genannt -, für mich ist und bleibt es Bauernspionage. ({5}) Mit dieser Ausschreibung des Umweltbundesamtes dokumentiert die Bundesregierung, welches Vertrauen sie in unsere Landwirtschaft hat: nämlich überhaupt keins. Mich als Landwirt und all meine Berufskollegen - auch die Berufskolleginnen und -kollegen aus Hessen, die heute um Mitternacht zur Demonstration vor dem Brandenburger Tor losgefahren sind - betrifft es sehr, wie diese Bundesregierung mit uns umgeht, auch wenn bereits von einer Rücknahme gesprochen worden ist. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; denn der Gedanke sitzt tief und fest. Wen wundert es, dass mehr als 50 000 Landwirte in unserem Land von heute auf morgen ihren Betrieb schließen würden, wenn sie einen außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplatz fänden? Über die arbeitsmarktpolitische Situation in unserem Land brauche ich mich hier nicht näher zu äußern. Die Konsequenz ist, dass Arbeitsplätze - auch wenn Sie es nicht glauben: die Landwirtschaft bietet Arbeitsplätze - ins Ausland verlagert werden. Der Verbraucher wird nicht danach gehen, woher die Nahrungsmittel kommen; er entscheidet nach dem Preis. Ob Landwirtschaft in Deutschland betrieben wird, entscheidet die Bundesregierung. Solche Maßnahmen führen dazu, dass Arbeitsplätze abgebaut und die Bauern zur Aufgabe ihrer Betriebe gezwungen werden. ({6}) Ich frage mich: Wenn wir auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen sind, wo bleiben dann die Kontrollmaßnahmen von Frau Künast und Herrn Trittin? ({7}) Dann ist wahrscheinlich alles erlaubt, Hauptsache, der Preis stimmt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutschen Bäuerinnen und Bauern gehen verantwortungsbewusst mit der Natur um, auch beim Umgang mit Pflanzenschutzmitteln. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist in Deutschland nach den strengsten Vorschriften geregelt. Anwender, sprich Landwirte - auch ich -, müssen ihre Sachkenntnis nachweisen. Pflanzenschutzgeräte werden regelmäßig einer TÜV-Untersuchung unterzogen. Die Landwirtschaftsämter führen Kontrollen durch. Ich habe den Eindruck, in der Landwirtschaft wird schon mehr kontrolliert und überwacht als produktiv gearbeitet. Ich finde, wir sollten uns in Deutschland wieder etwas mehr auf das Produzieren zurückbesinnen und nicht nur kontrollieren und überwachen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Auernhammer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. Alle guten Wünsche für Ihre weitere Arbeit! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft auf Drucksache 15/3545. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2668 mit dem Titel „Projekt des Um- weltbundesamtes zur so genannten verdeckten Feldbe- oachtung stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom- men. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2969 mit dem Titel „Vertrauensvolle und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfeh- lung ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutsche-Welle-Gesetzes - Drucksache 15/3278 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1}) - Drucksache 15/4046 Berichterstattung: Abgeordnete Monika Griefahn Bernd Neumann ({2}) Hans-Joachim Otto ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Griefahn, Eckhardt Barthel ({5}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth ({6}), Volker Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 50 Jahre Deutsche Welle - Zukunft und Modernisierung des deutschen Auslandsrundfunks - zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd Neumann ({8}), Günter Nooke, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU 50 Jahre Deutsche Welle - Perspektiven für die Zukunft - Drucksachen 15/1214, 15/1208, 15/4046 Berichterstattung: Abgeordnete Monika Griefahn Bernd Neumann ({9}) Hans-Joachim Otto ({10}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Staatsministerin für Kultur und Medien, Frau Dr. Weiss, das Wort.

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Novalis verdanken wir eine Erkenntnis, die gut das Motto für das Gesetz sein könnte, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten: Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehen lernen. Wir haben viele Jahre gebraucht, um nunmehr diejenige Fassung des Deutsche-Welle-Gesetzes zu erhalten, die dem deutschen Auslandssender zu Beginn des dritten Jahrtausends wirklich entspricht. Eines der modernsten Mediengesetze Europas und sicherlich das modernste in Deutschland liegt dem Bundestag heute zur Beschlussfassung vor. Darüber bin ich sehr froh; denn für mich ist die Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes nicht irgendein Vorhaben, sondern ein fundamentales Anliegen, das Auskunft gibt über das Selbstbewusstsein, mit dem wir in der Bundesrepublik Deutschland Rundfunk organisieren, und über die Leitideen, die wir damit befolgen. ({0}) Die Deutsche Welle soll die Stimme Deutschlands in der Welt sein, eines modernen Deutschlands, eines Deutschlands, das wir als europäische Kulturnation ebenso verstehen wie als freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Ich bin den Fraktionen des Deutschen Bundestages sehr dankbar, dass sie sich insbesondere auf diesen wichtigen Passus der Generalklausel des Gesetzes verständigt haben; denn die Angebote der Deutschen Welle, also Hörfunk, Fernsehen und Internet, sind kein Selbstzweck und die Deutsche Welle ist kein bloßer Nachrichtensender. Sie soll die Kulturnation Deutschland in all ihren Facetten abbilden. Das wollen wir mit diesem Bundesgesetz bewirken. Dies ist ein Novum mit medien- und kulturpolitischer Bedeutung. ({1}) Lassen Sie mich auch sagen, dass es sehr gut zum Auftakt des Schiller-Jahres 2005 passt. Vor wenigen Wochen hat sich die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ dafür ausgesprochen, Kultur als Staatszielbestimmung ins Grundgesetz aufzunehmen. Dieses Bekenntnis zur Kultur erfordert ein Selbstbewusstwerden im Sinne von Novalis, auch im Sinne der deutschen Aufklärung. Wir müssen in unserem Land einen neuen Dialog darüber beginnen, was uns als Deutsche eigentlich ausmacht und wie weit der ideengeschichtliche Bogen reicht. Dieser Dialog muss jedoch die Geschichte unseres Landes genauso im Blick behalten wie unsere Gegenwart im vereinten Europa. Das Deutsche-Welle-Gesetz hat also für die geistige und demokratische Verfasstheit unseres Gemeinwesens eine besondere Bedeutung, auch wenn der Sender in erster Linie im Ausland zu hören ist. Meine Damen und Herren, mit dem neuen Gesetz präzisieren und befestigen wir die Autonomie des Senders als staatsunabhängiger Sendeanstalt. Wir haben uns dieser Frage gemeinsam besonders zugewandt; denn das neue Gesetz ist Ausdruck unseres freiheitlichen Staates und somit unseres kulturellen Selbstverständnisses. Der Sender ist aber nicht auf sich selbst gestellt. Er wird verpflichtet, seine Vierjahresplanungen transparent zu machen und von Jahr zu Jahr zu präzisieren. Im Dialog mit den beiden Verfassungsorganen Bundestag und Bundesregierung wird der Intendant gemeinsam mit dem Rundfunkrat und dem Verwaltungsrat die Zielgebiete, die Zielgruppen, die Verbreitungswege und die Angebotsformen darstellen und mit einer Kalkulation der Betriebs- und Investitionskosten verbinden. In einem darf es allerdings keine Kompromisse geben - da sind wir uns sicherlich einig -: in der Unabhängigkeit und in der Freiheit des Journalismus, der dem Impetus der Generalklausel vorangeht. Das Innovative an dem neuen Gesetz ist, dass die Selbstverpflichtung des Senders vor der Öffentlichkeit jedem Einblick in seine Relevanz und Arbeitsweise gibt. Vor allem ist die Öffentlichkeit in den Sendegebieten auf allen Kontinenten aufgefordert, sich an der Diskussion der Aufgabenplanung des Gesetzes und dessen Effektivität zu beteiligen. Ich bin sicher, dass der Bundeszuschuss, der vom Parlament im jährlichen Haushaltsgesetz zur Verfügung gestellt wird, den globalen Anforderungen dieses modernen und weltweit geschätzten Senders zunehmend präziser entsprechen wird. Die Probleme bei der Finanzierung der Deutschen Welle sind bekannt. Für Bundesregierung und Bundestag geht es einmal mehr darum, die Kunst des Möglichen zu praktizieren und die Horizonte des Wünschbaren nicht aus dem Blick zu verlieren. Im Haushaltsausschuss wurde ein Antrag der CDU/ CSU, die Finanzausstattung um 5,1 Millionen Euro zu senken, zum Glück abgelehnt. ({2}) Ich bin allen Fraktionen im Deutschen Bundestag dankbar, dass sie noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, die seit 1999 praktizierte Bereitstellung der Bundesmittel zur Selbstbewirtschaftung fortsetzen zu wollen. Dies entspricht der besonderen rundfunkrechtlichen Stellung des deutschen Auslandssenders. Zu danken habe ich auch dem Intendanten der Deutschen Welle, der hier der Debatte folgt, und seinen Aufsichtsgremien, dass es möglich war, in einer langen Periode der Abstimmungen und der Kooperationen ein Gesetz zu entwickeln, das im Wesentlichen im Konsens mit dem Sender entstanden ist. Die Deutsche Welle ist eine Angelegenheit aller Fraktionen im Deutschen Bundestag und aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Uns kann nicht gleichgültig sein, wie diese wichtige ARD-Sendeanstalt aus Bonn und aus Berlin berichtet. Der Sender bedarf der weiteren politischen und auch finanziellen Unterstützung. Er bedarf der Ermutigung und der konstruktiven Begleitung seines Sendeauftrages. Im Kosovo, in Afghanistan und in anderen Brennpunkten der Welt ist die Deutsche Welle eine wichtige Stimme der Freiheit. Der Sender macht deutlich, für was Deutschland steht, für welche Kultur als Medienanstalt und von welchem Freiheitsund Humanitätsideal es sich leiten lässt, nämlich von den besten Geistestraditionen aus Europas Mitte, von Schiller, Goethe, Herder und Heine, wie es in der Begründung des Gesetzes heißt. In diesem Sinne danke ich dem Deutschen Bundestag für die konstruktive Beratung dieses Gesetzes. Ich freue mich, dass es zum 1. Januar 2005 in Kraft treten kann und dass es damit dem deutschen Auslandssender ermöglicht wird, in eine neue Phase des medien- und kulturpolitischen Interesses zu gelangen, in das Interesse von uns allen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Bernd Neumann, CDU/ CSU-Fraktion.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Legislaturperiode findet nun zum dritten Mal eine Debatte über die Deutsche Welle statt. Heute wird zum zweiten Mal über den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf debattiert. Ich hatte bereits in der Debatte zur ersten Lesung am 17. Juni unsere Position dargestellt, eine insgesamt positive Bewertung der Zielsetzung des Gesetzentwurfs vorgenommen und gleichzeitig vier Änderungsvorschläge unterbreitet. Ich möchte heute Wiederholungen weitgehend vermeiden und deshalb zum Abschluss eines langen Diskussionsprozesses - Sie haben diese Novellierung schon 1998 in Ihrer Regierungserklärung versprochen; sie ist jetzt nach sechs Jahren vollzogen - noch einige grundsätzliche Bemerkungen zum Stellenwert der Deutschen Welle generell und zu ihrem Stellenwert in der rot-grünen Regierungskoalition machen. Die Deutsche Welle ist die einzige wahrnehmbare mediale Stimme Deutschlands in allen Teilen der Welt. Die Einzigartigkeit dieser Rolle begründet gleichzeitig die Unverzichtbarkeit der Deutschen Welle, insbesondere wenn man bedenkt, dass Deutschland die zweitgrößte Industrienation in der Welt und das bedeutendste Land in der EU ist. Die Frage lautet: Wird die Politik der Bundesregierung diesem Stellenwert der Deutschen Welle gerecht? Sie, Frau Staatsministerin Weiss, wird nicht verwundern, dass wir diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Ich komme gleich auf Ihre Einlassung zum Antrag der CDU/CSU zurück. Dass nun gerade Sie, die Sie diese Bundesregierung, wenn auch erst seit zwei Jahren, vertreten, eine mögliche Reduzierung von Mitteln für die Deutsche Welle in einer Größenordnung von 5,1 Millionen Euro beklagen, andererseits aber den Etat der Deutschen Welle seit 1999 um 17 Prozent - das sind Bernd Neumann ({0}) 75 Mil-lionen Euro - ohne Aufgabenveränderung reduziert haben, ist in der Tat ein Stück Scheinheiligkeit. ({1}) Wie sehen andere den Stellenwert, den die Deutsche Welle bei der rot-grünen Bundesregierung hat? Ich könnte mehrere Zitate bringen, beziehe mich aber auf einen Artikel aus der „FAZ“ vom Juli dieses Jahres. Dort heißt es: Ihre erste Regierungszeit verbrachten SPD und Grüne damit, die Deutsche Welle schlechtzureden … Das diente nicht zuletzt dem Kampf mit und gegen einen der CDU angehörenden Intendanten, … Nun, da dieses „Problem“ durch die Neubesetzung des Intendantenpostens „gelöst“ ist, geht die Politik mit der Deutschen Welle freundlicher um … Aber man könnte meinen, die Bundesregierung wisse Prioritäten zu setzen. In der Außenpolitik hat sie in den vergangenen … zwei Jahren so getan, als erfinde sie die Rolle Deutschlands in der Welt gerade neu. Heute ist sie „wild entschlossen“, für Deutschland einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erreichen: Dieses Vorhaben unterstreiche die gewachsene internationale Bedeutung unseres Landes. Sie merken da indirekt den Ton von Außenminister Fischer. Es heißt weiter in diesem Artikel mit der Überschrift „Deutschlands Stimme flüstert“: Die deutsche und die mit ihr verwobene europäische Politik der übrigen Welt zu erklären ist jedoch die vornehmste Aufgabe der Deutschen Welle. Das sieht die Bundesregierung genauso … Die Deutsche Welle solle also viel tun, heißt es immerzu. Doch mit welchen Mitteln soll sie das tun? Wie die Entwicklung der Mittel ist, habe ich eben gesagt. ({2}) Deswegen auch die zusammenfassende Bewertung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Substanz wird in dem Sender jetzt zerstört, ist in den vergangenen Jahren schon zerstört worden, vor allem bei den Kernkompetenzen eines Auslandssenders, den Fremdsprachenprogrammen. ({3}) - Hören Sie ganz ruhig zu! Die Bundesregierung scheint dies nicht begriffen zu haben. Man kann nicht einerseits von wachsender Bedeutung und Verantwortung reden, andererseits aber Instrumente deutscher Außenpolitik systematisch schwächen. Das haben Sie seit der Regierungsübernahme systematisch getan. ({4}) Jetzt komme ich zu dem Punkt, den Frau Weiss wahrscheinlich meinte. Er betrifft die Diskussion über ein Projekt, welches im Jahr 2002 gestartet wurde. ({5}) Ich meine den von der Bundesregierung mit bisher 15 Millionen Euro unterstützten zusätzlichen Auslandskanal German TV, den Deutsche Welle, ARD und ZDF gemeinsam betreiben. Leider ist dies kein Erfolg geworden. Die Abonnentenzahlen kommen nicht annähernd in den Bereich, in dem sich - wie geplant - das Programm finanziell selbst tragen kann. Deshalb ist es nicht vertretbar, weitere Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, vor allem wenn man weiß, dass es beendet wird. Das gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass die Deutsche Welle schon jetzt unterfinanziert ist und ihre originären Aufgaben reduzieren muss. Mir liegt der von Ihnen zitierte Antrag vor. Ich kann verstehen, wenn Haushälter, die mit unseren Ausgaben kritisch umgehen müssen, für ein Projekt, das als gescheitert gilt, keine weiteren Mittel bewilligen wollen. Der Antrag, der im Haushaltsausschuss eingebracht worden ist, bezieht sich ausschließlich auf diesen Sachverhalt. ({6}) Darüber hinaus wird in der Begründung des Antrags Anerkennung für die Arbeit der Deutschen Welle ausgedrückt und festgestellt, dass die finanziellen Mittel für die Deutsche Welle in ihrem originären Auftrag nicht zu beeinträchtigen sind. Das kann ich verstehen. Wer sonst, wenn nicht die Haushälter, soll die kritische Messlatte anlegen, um misslungene Experimente zu erkennen? ({7}) Insofern ist in dem Punkt keine Kritik vorzubringen. Ich möchte abschließend noch etwas zu dem Gesetzentwurf anmerken. Ich habe bereits ausgeführt, dass wir die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, der sich übrigens angenehm von den vielfältigen Entwürfen abhebt, die in den vergangenen Jahren aus Ihrem Hause vorgelegt wurden, positiv bewerten. Ich hatte in der letzten Debatte angekündigt, dass wir zu vier Punkten Änderungsanträge stellen werden. Dies ist inzwischen geschehen. Drei dieser Anträge schienen nach den Debattenbeiträgen insbesondere der Kollegin Griefahn konsensfähig zu sein, zumal sie sich auf den Referentenentwurf aus dem BKM bezogen, also die eigentliche Meinung der Staatsministerin Weiss darstellten. Die Kollegen von SPD und Grünen - insofern war dies die Konsequenz Ihres Debattenbeitrags - verschickten vor der betreffenden Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien Änderungsanträge zur Unterzeichnung an CDU, CSU und FDP. Entscheidende Inhalte waren die Anträge, die ich in der Tendenz auch angekünBernd Neumann ({8}) digt hatte. Darin ging es um folgende Punkte: erstens Verankerung des Prinzips der Selbstbewirtschaftung für die Deutsche Welle, also flexible Wirtschaftsführung und überjährige Verfügbarkeit der Mittel, und zweitens finanzielle Planungssicherheit über mehrere Jahre. Das ist in Anbetracht der Erfahrungen aus zurückliegenden Legislaturperioden fürwahr ein wichtiger Punkt. Unmittelbar vor der Sitzung zogen die rot-grünen Abgeordneten ihre eigenen Anträge zurück; das ist schon bemerkenswert. Aber als wir dann seitens der CDU/CSU genau die gleichen Anträge einbrachten, stimmten sie sogar dagegen. ({9}) Das war peinlich und wirft ein bezeichnendes Bild auf Ihre Courage und Standfestigkeit beim Einsatz für die Deutsche Welle. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Neumann, darf der Kollege Barthel eine Zwischenfrage stellen?

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, mit dem üblichen Zusatz, dass sie nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dieser Zusatz ist ebenso üblich wie unnötig. ({0}) Bitte schön, Herr Kollege Barthel.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Neumann, Sie haben vorhin die Haushälter dafür gelobt, dass sie aus ihrer Sicht Streichungen vorgenommen haben, die wir als Kultur- und Medienpolitiker nicht wollten. Stimmen Sie mir zu, dass in der Frage der Selbstbewirtschaftung die Punkte, über die wir diskutieren und in denen es in der Tat einen Konsens zwischen den Kultur- und Medienpolitikern gab, von den Haushaltspolitikern - und zwar nicht nur vonseiten der Regierungskoalition, sondern auch von Ihrer Fraktion - teilweise sozusagen mit Schaum vor dem Mund abgelehnt wurden? Stimmen Sie mir zu, dass Sie ein falsches Spiel spielen, indem Sie feststellen, dass wir dies abgelehnt haben, obwohl Ihre Haushälter, wie Sie wissen, dasselbe getan haben? Insofern ist es keine Angelegenheit zwischen den Regierungsfraktionen und der Opposition, sondern eine Entscheidung der jeweiligen Ausschussmitglieder. ({0})

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Barthel, Sie kommen den nächsten Sätzen meines Redebeitrages zuvor; denn darauf wollte ich eingehen. Aber zunächst stellt sich die Frage, was Sie eigentlich wollen. Was wollen wir als Kultur- und Medienpolitiker? Wenn wir selbst schon vorzeitig kneifen, dann brauchen wir uns gar nicht zu wundern, dass sich die Position der Haushälter in den Fraktionen durchsetzt. ({0}) Ich fahre mit meiner Rede fort, die genau die von Ihnen gestellte Frage beantwortet, Herr Barthel. Natürlich weiß ich - deswegen haben Sie erst einmal abgelehnt -, dass Ihnen in diesem Fall die Haushälter im Nacken saßen. Ich sage offen - hören Sie genau zu! -, dass es auch in meiner Fraktion Kollegen gibt, die permanent der Versuchung ausgesetzt sind, sich mit Ihren Haushältern zu verbünden. ({1}) Aber warum versuchen wir, die wir Mitglieder des Kulturausschusses sind und von der Sache mehr verstehen, nicht, den Oberbuchhaltern eine ebenso geschlossene Front entgegenzusetzen und gleichzeitig unsere Fraktionen von unseren Positionen zu überzeugen? ({2}) Wir dürfen die Argumente, die Sie in die Knie gezwungen und die Ihnen sämtlichen Mut genommen haben, nicht akzeptieren. Das gängige Argument der Haushälter ist, mit solchen Regelungen werde ein Präjudiz für alle anderen Zuwendungsempfänger im öffentlichen Bereich geschaffen. Dieses Argument ist nicht tragfähig und lässt auf Unkenntnis der Aufgabe und der Funktion einer Rundfunkanstalt schließen. ({3}) Eine Rundfunkanstalt wie die Deutsche Welle ist nicht mit einer „normalen“ Behörde oder einer anderen öffentlichen Einrichtung gleichzusetzen, wie zum Beispiel dem Bundesamt für Karthographie und Geodäsie oder dem Ausgleichsamt. Eine Rundfunkanstalt arbeitet unter ganz anderen, journalistischen Kriterien, die Meinungsfreiheit und Staatsferne als oberstes Gebot beinhalten. Verfassungsrechtlich ist entschieden, dass diese natürlich auch für die Deutsche Welle gelten. Den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ist Planungssicherheit in Form einer Bestands- und Entwicklungsgarantie sogar vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zuerkannt worden. ({4}) Wenn man die Maßstäbe, die für ARD und ZDF gelten - einschließlich ihrer finanziellen Entwicklung in den letzten Jahren -, mit denen für die Deutsche Welle vergleicht - Frau Griefahn, hierfür hat die rot-grüne Koalition Verantwortung -, ({5}) Bernd Neumann ({6}) kommt man leider zu dem Ergebnis, dass der deutsche Auslandsfunk von Rot-Grün in den letzten Jahren mehr als stiefmütterlich behandelt wurde. Von der rot-grünen Mehrheit wurden, wie gesagt, Ihre Anträge abgelehnt, weil Sie sozusagen kein Stehvermögen in der eigenen Fraktion hatten. Positiv bewerte ich, dass wir, die Abgeordneten, in dem Bericht des Ausschusses, der auch Gegenstand der Debatte ist, interfraktionell unsere Überzeugung zum Ausdruck gebracht haben - das ist schon etwas -, dass die Selbstbewirtschaftung auch in Zukunft unverzichtbar ist und dass die Deutsche Welle Planungssicherheit braucht. ({7}) Ich gehe davon aus, dass das auch alle anderen Abgeordneten des Parlaments nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch befürworten. Letzter Satz: Nach Abwägung aller Argumente pro und kontra haben wir uns entschlossen, dem Regierungsentwurf zuzustimmen. Das soll weniger eine Geste an die Regierungskoalition sein, die sich in diesen Fragen in der Vergangenheit weiß Gott nicht mit Ruhm bekleckert hat, als an die Deutsche Welle und ihre Mitarbeiter,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, letzter Satz!

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- die trotz widriger Umstände, mit denen sie in der Vergangenheit zu kämpfen hatten, ihre Arbeit vorbildlich geleistet haben und für die es im Prinzip eine Unterstützung ist,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, ein Satz, bitte!

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- wenn dieses Haus mit breiter Mehrheit ein sie betreffendes Gesetz beschließt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Ich frage Sie, ob Sie damit einver- standen sind, dass wir die Rede der Abgeordneten Antje Vollmer zu Protokoll nehmen.1) ({0}) Ich denke, Sie sind damit einverstanden. Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Hans-Joachim Otto. 1) Anlage 2

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, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin, ich bedaure es zutiefst, dass die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer nicht sprechen wird; denn ich streite mich mit Ihnen - das haben wir heute schon getan - in der Sache so gerne. Ich möchte auf folgenden Punkt eingehen - das muss ich jetzt leider tun, ohne Ihre Rede gehört zu haben -: Ich erinnere mich sehr wohl daran, dass wir alle, die wir die Deutsche Welle stärken wollen, in zahlreichen Podiumsdiskussionen unter anderem bei der Friedrich-Ebert-Stiftung betont haben, wie wichtig Selbstbewirtschaftung und finanzielle Planungssicherheit für die Deutsche Welle sind. Wir waren uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig, ({0}) dass das ein Kernelement der Reform sein sollte. Ferner waren wir uns darüber einig, liebe Frau Griefahn - das hat Kollege Neumann gerade völlig zu Recht dargestellt -, dass wir dies auch im Gesetz festschreiben wollen. Deswegen gab es gemeinsame Anträge aller vier Fraktionen. Sie sind von diesen Vorstellungen abgerückt, obwohl es nach wie vor mutmaßlich - hierbei spreche ich auch die Frau Vorsitzende als Abgeordnete an - in der Sache bei den Kulturpolitikern bis zum heutigen Tage Übereinstimmung gibt. Das wäre ein wirksamer Beitrag gewesen, um die Deutsche Welle zu stärken. ({1}) Darum geht es. Es nützt nichts, wenn wir große deutsche Denker und Dichter zitieren und einen riesigen Anspruch formulieren. Die nüchternen Zahlen und der Umgang mit der Deutschen Welle sprechen eine andere Sprache. Im Jahr 1999 gab es noch einen Etat von umgerechnet 325 Millionen Euro für die Deutsche Welle. Für das Haushaltsjahr 2005 sind es nur noch 261 Millionen Euro. In einer Zeit, in der ARD und ZDF rund 8 Milliarden Euro Einnahmen erhalten und diese fast verdoppelt haben, ist der Etat der Deutschen Welle von 325 auf 261 Millionen Euro zurückgegangen. An diesen Zahlen sollte man es messen. Weil die Deutsche Welle so hat bluten müssen - sie hat auch unter dem Privatkrieg von Herrn Naumann gegen den damaligen Intendanten Weirich gelitten -, haben wir es für notwendig angesehen, dass jetzt mit diesem Gesetz ein Beitrag zur Stärkung des deutschen Auslandsrundfunks geleistet wird. Deswegen kann ich mich Kollegen Neumann nur anschließen. Ich bedaure es zutiefst, dass die Kulturpolitiker trotz besseren Wissens keine Auseinandersetzung mit den Haushaltspolitikern gewagt haben und nicht gesagt haben: In diesem einen Punkt ist es notwendig, dass man die finanzielle Unabhängigkeit und Flexibilität des Senders steigert. ({2}) Hans-Joachim Otto ({3}) - Lieber Herr Kollege Barthel, Sie wollen doch nicht die Zustimmung der FDP-Fraktion zu diesem Gesetzentwurf riskieren. Ich muss Ihnen sagen: Ich persönlich habe mich wirklich sehr schwer getan, diesem Gesetzentwurf die Zustimmung zu erteilen, weil das, was von uns gemeinsam als Kern der Reform angesehen wurde, herausgestrichen wurde. Ich will ganz deutlich in Anwesenheit des Intendanten sagen - er möge das an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitergeben -: Wir stimmen einem amputierten Gesetzentwurf zu. Wir tun es, weil es uns um die wichtige Funktion der Deutschen Welle geht und weil ein mit allen Stimmen des Hauses angenommener Gesetzentwurf einen Beitrag dazu liefern soll, die Stimme Deutschlands in der Welt und die Deutsche Welle zu stärken. Einen letzten Satz möchte ich noch zu German TV anfügen. Es wäre von der Natur der Sache sehr viel besser und überzeugender, wenn es nicht dieses Nebeneinander eines gebührenfinanzierten Inlandrundfunks und eines steuerfinanzierten Auslandrundfunks geben würde. Das Nebeneinander zeigt sich darin, dass das, was für viel Geld und hohe Gebühren für den Inlandsrundfunk produziert wird, aus urheberrechtlichen und sonstigen Gründen für den Auslandsrundfunk praktisch nicht verwendet werden kann. Die Idee von German TV war gut und wir haben sie am Anfang getragen. Da dies jetzt nachhaltig gescheitert ist - die Anzahl der Abonnenten ist desaströs -, sehen auch wir keine andere Möglichkeit, als dieses Experiment einzustellen. Folgende Perspektive nenne ich: Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie die aufwendig produzierten Sendungen für ARD und ZDF in höherem Maße als bisher genutzt werden können, um sie im Programm von Deutsche Welle TV zeigen zu können. Wir haben bisher geglaubt, dass wir das nur über das Projekt German TV machen können. Das ist jetzt gescheitert. Auch wir sind der Auffassung, dass wir das Projekt beenden sollten. Das heißt, ein neuer Reformschritt ist notwendig. Ich appelliere an Sie, die Kolleginnen und Kollegen von den Fraktionen der SPD und der Grünen, dass wir uns jetzt Gedanken darüber machen, wie wir der Deutschen Welle helfen und die Programme von ARD und ZDF leichter und in höherem Umfang als bisher im regulären Programm von Deutsche Welle TV zeigen können. ({4}) Das wäre, glaube ich, ein guter Beitrag. Wir sind uns im Ziel einig. Wir wollen die Deutsche Welle stärken. Aber dieses Gesetz können wir wirklich nur mit sehr großen Bauchschmerzen, mit sehr großen Bedenken mittragen. Wir tun dies allein zugunsten der Deutschen Welle. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Griefahn.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich erstens über einige der Beiträge, die wir hier gehört haben, ein bisschen wundern. ({0}) Wider besseres Wissen behaupten Sie, wir hätten die Selbstbewirtschaftung nicht hinbekommen. ({1}) Wir haben sie eingeführt. Seit 1999 wird sie de facto durchgeführt. ({2}) Sie bleibt erhalten. Wir haben im Ausschuss zum Ausdruck gebracht, dass das auch unser gemeinsamer Wunsch ist. Der Ehrlichkeit halber sollte man hier doch einmal zugeben, dass das bei uns eingeführt wurde. ({3}) Zweiter Punkt. Wenn 5,1 Millionen Euro gestrichen werden sollen, lieber Herr Neumann, dann müssen Sie, wenn Sie Ihrer Systematik folgen, gleichzeitig den Antrag stellen, diese 5,1 Millionen Euro zusätzlich für die Deutsche Welle bereitzustellen. ({4}) Den Antrag habe ich nicht gesehen. Was Sie sagen, ist also ein bisschen scheinheilig, wenn gleichzeitig ein Antrag auf Kürzung gestellt wird. ({5}) - Ich bin ja freundlich, lieber Eckhardt. Dritter Punkt. Wenn wir uns über German TV und die Kooperation mit ZDF und ARD unterhalten, dann kann ich nur sagen: Gott sei Dank haben wir durch das Projekt German TV jetzt endlich die Kooperation mit ARD und ZDF. ({6}) Wie ist denn die Situation? Die Deutsche Welle hat vorher für Produktionen von ARD und ZDF, weil diese gebührenfinanziert sind, Lizenzgebühren zahlen müssen - das ist zum Teil auch jetzt noch so -, und das nicht zu knapp, nämlich über 600 Euro die Minute. ({7}) Wie ist es in der Kooperation mit German TV? Weil ARD und ZDF mit dabei sind und man das gemeinsam macht, zahlt man nur 2,20 Euro die Minute. Da kann man doch nicht einfach sagen, das sei nichts. Das ist doch ein tolles Ergebnis. ({8}) Natürlich ist die Frage: Wie bekommt man es hin, das eine auf das andere zu übertragen? Jedes Geschäft - das ist doch ganz klar - ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Natürlich haben ARD und ZDF ein Interesse daran gehabt, auch im Ausland präsent zu sein. Das sind sie mit German TV. Da muss man natürlich schauen, wie die Interessen von beiden zu verwirklichen sind, und da kann man nicht einfach sagen: Wir schaffen das jetzt ab; es wird sich schon ergeben, dass wir von ARD und ZDF auch weiterhin Programme für 2,20 Euro die Minute kaufen können. - So einfach, denke ich, wird das nicht sein. ({9}) Wir müssen damit natürlich sehr sorgfältig umgehen. ({10}) Wir müssen sehen, dass wir da nicht irgendwelches Porzellan zerschlagen. Ich bin wirklich dafür, dass wir es versuchen. ({11}) Zu sagen: „Jetzt schaffen wir das ab und es wird schon so weitergehen“ - so einfach wird das nicht gehen. Wir müssen ein bisschen schauen, wie sich die Zusammenarbeit in Zukunft gestaltet.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich, gern.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Griefahn, wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir alle gemeinsam, alle Fraktionen dieses Hauses, German TV nur zeitlich begrenzt zugelassen haben und dass die Frist jetzt ausläuft? Wie können Sie uns da sagen, wir wollten dieses Projekt zerschlagen? Das Projekt ist von vornherein nur zeitlich begrenzt gewesen. Die Frist läuft jetzt aus. Es wäre also ein Beschluss notwendig, um das Projekt zu verlängern. Diesen Beschluss wollen wir nicht fassen.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe den Antrag der CDU/CSU so verstanden, dass man es sofort, auf der Stelle, beenden will. Dann wäre es nicht möglich, einen Übergang zu schaffen, um das hinzubekommen, was alle wollen, nämlich dass die Kooperation mit ZDF und ARD tatsächlich weiterläuft, und zwar in einer anständigen Form der Zusammenarbeit. Da muss man nämlich wirklich gedeihlich miteinander umgehen. ({0}) - Nein, die CDU/CSU will es vorzeitig beenden. ({1}) - Wir müssen das doch jetzt auswerten, wie wir es uns vorgenommen haben. Das machen wir zu dem Zeitpunkt, zu dem wir es uns vorgenommen haben, nämlich vor Ablauf der Frist. Wir sollten noch einmal auf das Gesetz eingehen. Wir haben wirklich ein tolles Gesetz hinbekommen, finde ich. Es ist ein modernes Gesetz. Es ist ein großer Wurf. Es hat sich gelohnt, dass wir lange darüber diskutiert haben. Die Arbeit des Intendanten und aller rund 1 500 Mitarbeiter aus der ganzen Welt trägt dazu bei, dass zu verschiedenen Zeiten in rund 30 verschiedenen Sprachen Informationen aus Deutschland und aus Europa, eben aus einer europäischen Kulturnation, in die Welt gebracht werden. Mit dem neuen Gesetz kommen wir darüber hinaus - wie in der auswärtigen Kulturpolitik - viel stärker zu dem Modell der Zweibahnstraße, indem wir in ihm zum Beispiel die Telemedien verankert haben. Durch sie wird es möglich, tatsächlich auch in einen Dialog mit den Menschen zu treten. Die Deutsche Welle hat es darüber hinaus bewerkstelligt, in Afghanistan einen Fernsehsender aufzubauen und im Kosovo Familien zusammenzuführen. Das heißt, durch sie wird wirklich Informationsfreiheit in vielen Ländern garantiert, also ein Stück Demokratie und Menschenrechte durch Informationsmöglichkeiten gesichert, die in diesen Ländern ansonsten nicht existieren. Das ist das Positive, was wir gemeinsam feststellen können. Darum werden wir - dafür bin ich sehr dankbar - das Gesetz hier gemeinsam verabschieden. Es leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich Deutschland in veränderter Form in der Welt präsentiert. Ich bin sehr glücklich darüber, dass nicht wie im alten Gesetz nur die Präsenz Deutschlands in der Welt als Aufgabe definiert ist, sondern dass wir jetzt auch in den Dialog mit den Menschen treten können. Auch dass die seit 1999 praktizierte Mittelzuweisung zur Selbstbewirtschaftung weiterhin durchgeführt wird, wird der rundfunkrechtlichen Stellung der Deutschen Welle gerecht und schafft Planungssicherheit. Das war ja unser gemeinsames Anliegen. Wir setzen dieses am besten um, wenn wir das Gesamtpaket, also das Gesetz zusammen mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht, verabschieden; denn das, was alle angemahnt haben, ist darin enthalten. Für wichtig halte ich auch, dass es dank des neuen Gesetzes möglich wird, dass wir auch die Ansichten der anderen erfahren und gleichzeitig unsere Sichtweise im Dialog vermitteln können. So stelle ich mir modernen Auslandsrundfunk vor. Hierzu trägt insbesondere die Verankerung der Telemedien bei. Dieses Vorgehen ist auch wegweisend für die öffentlich-rechtlichen Medien, die ja sehr darum ringen müssen, um über Telemedien mit ihrem Publikum in Kontakt zu treten. Indem wir das in diesem Gesetz realisieren, geben wir der Rundfunkanstalt ein zeitgemäßes, der Lebenswirklichkeit nahe kommendes Image; alles andere wäre nur ein verstaubtes Image, mit dem wir junge Leute nicht erreichen. Gerade mit ihnen und auch mit Multiplikatoren in den Ländern müssen wir in Kontakt treten. Hierfür ist der Auftritt in Telemedien wie dem Internet sehr wichtig. Das ist nämlich die Informationsquelle und das Dialogmedium vieler junger Leute, und zwar in allen Ländern der Welt. Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Welt umgeschaut haben, konnten das sehen. Selbst im Iran strömen junge Frauen in Internetcafés, um sich dort zu informieren. Hier eröffnen sich uns also ganz neue Perspektiven. Für die krisenpräventive Arbeit der Deutschen Welle ist nicht nur der Hörfunk von Bedeutung, sondern auch das Internet, denn darüber ist der direkte Austausch möglich. So können Informationen aus einer Region für eine Region, aber verbunden mit deutscher oder europäischer Sichtweise, vermittelt werden. Auch das ist, wie ich finde, eine ganz wichtige Sache, weil das die starre Berichterstattung der nationalen Sender in vielen Ländern aufbricht. Von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Arbeit der Welle - dieser Punkt betrifft insbesondere uns hier - ist die engere Zusammenarbeit mit den Verfassungsorganen. Das Beteiligungsverfahren wird neu geordnet. Bisher war es so, dass die Deutsche Welle ihre Aufgabenplanung dem Deutschen Bundestag zukommen ließ. Damit war der Prozess auch schon beendet. Jetzt wird dieser Prozess transparenter: Wir erhalten einen Vorschlag bezüglich Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Vertriebswege und unterbreiten dazu nach Konsultationen im Bundestag und mit der Bundesregierung unsere Anregungen. So kann ein Diskussionsprozess in der Öffentlichkeit stattfinden. Ich halte das für zielführend und wünschte mir, dass woanders ähnlich verfahren würde. Ich bin sehr froh, dass wir so etwas Innovatives mit der Deutschen Welle praktizieren. Die Deutsche Welle soll die notwendigen Mittel bekommen. Das Parlament wird ihre Arbeit weiter wohlwollend begleiten und noch stärker in die politische Diskussion mit dem Sender einsteigen. Es steht außer Frage, dass wir einen leistungsfähigen Auslandsrundfunk brauchen. Dessen Aufgaben werden nicht weniger, sondern, wenn wir die Krisenregionen in den Blick nehmen, eher mehr. Da sind die Vermittlung von Demokratie und Menschenrechten und die praktische Umsetzung gerade in medialer Hinsicht ganz besonders wichtig. Bei den Wahlen in Afghanistan zum Beispiel war es wichtig, dass überhaupt über die Wahlen und die Kandidaten informiert wurde. Dazu braucht man die Medien. Mit der Umstellung auf die digitale Kurzwelle wird ein ganz neues Feld eröffnet. Der Empfang wird nicht immer unterbrochen und man kann vielleicht sogar das Autoradio benutzen, um sich zu informieren. Auch das ist sicherlich ein wichtiger Punkt, der in Zukunft eine Rolle spielt. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle, auch in den Beteiligungsverfahren. Ich finde das sehr spannend. Ich glaube, dass wir die Diskussion in der Zukunft fortsetzen müssen, gerade bezüglich der Zukunft von German TV und der Frage, wie wir den Auftritt von Deutsche Welle TV in diesem Sinne optimieren können. Ich denke, das finanzielle Engagement hat sich gelohnt, wenn die angesprochene Verflechtung dabei herauskommen sollte. Wenn wir es hinbekommen, dass die Deutsche Welle aufgrund der Selbstbewirtschaftung und der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten - diese Entwicklung ist in den letzten fünf Jahren eingeleitet worden; unter Ihrer Regierung war das noch nicht möglich - flexibel und adäquat auf Krisen reagieren kann, wird sich das Ganze positiv entwickeln.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin!

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und darüber, dass wir im Parlament eine so gute und konstruktive Debatte hatten, dass wir das Gesetz heute gemeinsam verabschieden und auch in Zukunft gemeinsam für die Deutsche Welle streiten werden. Das ist sehr positiv. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Rose. ({0})

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir bleibt zum Schluss nur eine Redezeit von fünf Minuten, die ich auch ohne Manuskript bewältigen kann. Ich möchte vor allen Dingen noch einmal betonen, dass wir wirklich darum bemüht waren, eine gemeinsame Verabschiedung des Gesetzentwurfes zustande zu bringen, und zwar nicht um der Bundesregierung bei ihren zum Teil schwierigen Versuchen zu helfen, sondern weil wir Respekt vor der Arbeit der Deutschen Welle und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben und weil uns ihre Aufgabe wichtig und richtig erscheint. Deshalb wollten wir die Deutsche Welle stärken. ({0}) Ich erinnere daran, dass es vor gut 50 Jahren - wir haben ja im vergangenen Jahr den 50. Geburtstag der Deutschen Welle gefeiert - eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung war, die sich um die Auslandskulturarbeit bemüht und diese in die Tat umgesetzt hat. ({1}) - Die FDP nehme ich noch hinzu. Ich habe gesagt: CDU/CSU-geführte Bundesregierung, lieber Herr Kollege von der FDP. - Wenn man ein Kind in die Welt setzt, dann sollte man sich anschließend nicht von ihm distanzieren. Wir haben die Deutsche Welle über die Jahrzehnte auf ihrem Weg begleitet. Wir haben mit Schmerzen festgestellt, dass die rot-grüne Bundesregierung in ihrer ersten Legislaturperiode der Deutschen Welle und vor allen Dingen ihrem Intendanten gegenüber nicht immer vornehm aufgetreten ist. Weil Herr Bettermann da ist, möchte ich ihm sagen: Sie haben Glück; da wir uns schon sehr lange kennen, haben Sie die Unterstützung der Opposition. Geben Sie unseren Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter! Wir möchten der Deutschen Welle helfen, damit sie eine gute Zukunft hat. ({2}) Was im Gesetzentwurf steht, führt allerdings - das hat die Debatte gezeigt - doch zu gewissen streitigen Überlegungen, auch wenn wir alle zustimmen werden. Vor dem Hintergrund der Beratungen des Auswärtigen Ausschusses möchte ich sagen: Wir haben zwar am Schluss insgesamt zugestimmt, aber uns auch über die Kürzungen informiert, sowohl bei den Stellen wie auch beim Geld; die 17 Prozent sind heute schon einmal erwähnt worden, aber es sind auch zahlreiche Stellen eingespart worden. Wir haben uns über die neue Zielrichtung der Deutschen Welle, vor allen Dingen die notwendige Konzentration auf gewisse Regionen der Welt, unterhalten. Wir haben uns natürlich auch über die Veränderung in der modernen Medienwelt unterhalten, wo es nicht nur um Radio und Fernsehen geht, sondern auch das Internet eingesetzt wird. Dabei spielt auch die sprachliche Umsetzung deutscher Sendungen eine Rolle. Wir haben Wert darauf gelegt - das möchte ich noch einmal betonen, weil es sonst vielleicht nicht beachtet wird -, dass in diesem Gesetzentwurf zum ersten Mal der Begriff der Kulturnation auftaucht. ({3}) Das ist gegen große Widerstände erfolgt. Wir sind der Meinung, dass wir Deutschen nicht schlechter dastehen sollten als die Briten oder die Franzosen, die sich auf für sie charakteristische Weise in der Welt darstellen. Das sollten auch wir tun. Ich könnte als ehemaliger langjähriger Haushälter natürlich Verständnis für Haushaltskollegen zeigen, die Geld für ein Projekt streichen wollen, wenn sie entdecken, dass es gescheitert ist. Wenn es kein neues Projekt gibt, dann muss man dieses Geld zunächst einmal wegnehmen. Ich könnte sarkastisch hinzufügen: Man kann nicht ohne weiteres gutes Geld einer schlechten Sache nachwerfen. Im Übrigen trifft das auf die Inhalte der Bundespolitik insgesamt zu. Die Deutsche Welle soll die Bundesrepublik Deutschland im Ausland gut verkaufen. Das tut sie mit ihren Mitteln. Aber wenn die Politik in Deutschland nicht stimmt, dann ist es natürlich sehr schwierig, ein positives Deutschlandbild in der Welt zu zeichnen. Auch das muss einmal gesagt werden. ({4}) Weil von der Frau Kollegin Griefahn stolz erwähnt wurde, dass die Selbstbewirtschaftung bzw. die flexible Budgetierung von Ihnen eingeführt wurde, will ich sagen: Ja, es ist richtig, dass sie 1999, als wir nicht mehr regiert haben, eingeführt worden ist. Aber das Instrument der flexiblen Budgetierung war Jahre vorher schon in verschiedenen anderen Ministerien von uns eingeführt worden. Ich kann das aus eigener Erfahrung von dem Ministerium sagen, in dem ich gearbeitet habe. Das ist also nichts Neues. Lassen wir diesen Streit aus zurückliegenden Zeiten und schauen wir lieber in die Zukunft! Wir brauchen die Deutsche Welle. Es gibt eine große Konkurrenz in der Welt. Wir können mit neuen Instrumenten und mit vielen Menschen, die uns positiv gewogen sind, etwas Gutes für unser Land erreichen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Deutsche-Welle-Gesetzes. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4046, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen worden. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/4046 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1214 mit dem Titel „50 Jahre Deutsche Welle - Zukunft und Modernisierung des deutschen Auslandsrundfunks“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1208 mit dem Titel „50 Jahre Deutsche Welle - Perspektiven für die Zukunft“ ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die BeschlussempfehVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer lung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China - Drucksachen 15/2169, 15/4047 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Michael Fuchs ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN EU-Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China - Drucksache 15/4035 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Christian Müller.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will vorausschicken: Die Ereignisse von Peking vom 4. Juni 1989, die letztendlich zu dem bekannten Embargo führten, waren natürlich auch für unsere ostdeutsche Demokratiebewegung besonders im Herbst 1989 ziemlich bedeutsam. Aber nicht nur deshalb war die Verhängung eines Waffenembargos in der Folge des EURatsbeschlusses vom 26./27. Juni 1989 eine notwendige Reaktion. Es gab in dieser Zeit vor 15 Jahren Tage, an denen zu befürchten war, interessierte Kreise könnten auch in der im Aufbruch befindlichen DDR eine Art chinesische Lösung bevorzugen. Aber das ist eine andere Geschichte. 15 Jahre danach ist es sicher angemessen, dass die Maßnahme gegenüber China in der Europäischen Union einer Überprüfung unterzogen wird; denn China befindet sich seit einiger Zeit in einem tief greifenden Prozess der wirtschaftlichen Umgestaltung und bestimmt auch in einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess, bei dem ebenfalls Anzeichen für politische Reformen sichtbar sind. Inwiefern dies zu einer durchgreifend verbesserten Menschenrechtssituation führt oder bereits geführt hat, muss beurteilt und an den in Europa gültigen Kriterien gemessen werden, die unter anderem im EU-Verhaltenskodex festgehalten werden. Die Situation ethnischer Minderheiten oder die politischen Verhaltensmuster im Umgang mit Taiwan sind darin eingeschlossen. Daher ist unsere Aufforderung an die Bundesregierung, nachlesbar im vorliegenden Antrag der Koalition, die Aufhebung des Embargos an Fortschritten in diesen Bereichen und bei der friedlichen Konfliktbewältigung zu messen, der richtige Weg. Dies gilt ebenso für die Fortentwicklung des EU-Verhaltenskodex, der durchaus vergleichbar restriktive Maßstäbe für Waffenexporte setzt. Allerdings darf bei dieser gesamten Diskussion nicht übersehen werden, dass die Aufhebung des Embargos ohnehin nur in der Folge eines einstimmigen Beschlusses aller EU-Mitgliedstaaten erfolgen kann. Dies wird derzeit in und zwischen den Ländern erörtert, wobei das Ergebnis noch offen ist. Daher hat es wenig Sinn, diesen Prozess zu sehr auf einer politisch-spekulativen Ebene auszuloten. In diesem Zusammenhang will ich jedoch deutlich unterstreichen: Die eventuelle Aufhebung des Waffenembargos würde in der Bundesrepublik keineswegs dazu führen, dass automatisch jede Lieferung von Rüstungsgütern oder Waffen in die Volksrepublik China genehmigungsfähig wäre. Dieses zum Teil auch öffentliche Missverständnis will ich hiermit eindeutig ausräumen. Alle Bestimmungen des EU-Verhaltenskodex - auch in einer weiterentwickelten Qualität - und die politischen Grundsätze der Bundesregierung für die Genehmigung derartiger Exporte gelten selbstverständlich, ob mit oder ohne Embargo. Daher gibt es auch keinen in Antragsform auszudrückenden Zweifel daran, dass sich die Bundesregierung etwa nicht an diese Grundsätze und die geltenden gesetzlichen Bestimmungen halten würde. Übrigens sind die politischen Grundsätze jederzeit nachlesbar. Mit ihnen wird das von uns allen als vernünftig erkannte Ziel verfolgt, den Frieden zu sichern, Konflikten möglichst im Ansatz vorzubeugen und zu verhindern, dass aus Deutschland stammende Waffen etwa im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen angewendet werden. Ich weise also nochmals darauf hin: Die Ausfuhr von Waffen und Rüstungsgütern unterliegt nach den geltenden gesetzlichen Ausfuhrbestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes generell einem umfassenden Genehmigungsvorbehalt. Dabei wird besonders hinsichtlich der Lieferung von Rüstungsgütern an Drittländer, also an Länder jenseits von EU und NATO und an gleichgestellte Länder wie Australien, Japan, Neuseeland oder die Schweiz, eine restriktive Genehmigungspolitik verfolgt. Also würden auch im irgendwann eintretenden Fall der Aufhebung des Embargos eventuelle Exportgenehmigungsanträge deutscher Rüstungsunternehmen unter strenger Beachtung dieser gesetzlichen und politischen Bestimmungen und Richtlinien geprüft und entschieden. Ausfuhrvorhaben, deren Relevanz in Menschenrechtsfragen bedeutsam wäre oder die das militärische Kräfteverhältnis zwischen der Volksrepublik China und Taiwan berührten, würden folglich besonders sorgfältig geprüft werden. Gegebenenfalls wäre dies auf der Ebene des Bundessicherheitsrates zu entscheiden. Über den vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion haben wir bereits im Ausschuss entschieden; wir haben ihn Christian Müller ({0}) abgelehnt. Wir haben heute einen eigenen Antrag eingebracht und werden diesen im Zuge der weiteren parlamentarischen Behandlung durchbringen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Uhl.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1989 haben sich die Staaten der heutigen Europäischen Union auf ein striktes Waffenembargo gegenüber China verständigt. Jetzt scheint ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung entschlossen zu sein, dieses Waffenembargo auf europäischer Ebene anzutasten. Bundeskanzler Schröder hat im Dezember vergangenen Jahres bei seinem Staatsbesuch in China sogar offen erklärt, er trete für eine Aufhebung dieses Embargos ein. Dieses Embargo sei ein „Relikt des Kalten Krieges“ und heute „nicht mehr zu rechtfertigen“. China habe sich die Aufhebung „verdient“. Dies ist wirklich verwunderlich, zumal es zuvor keinerlei erkennbare Abstimmung mit den Partnern der Europäischen Union gegeben hat. An dieser Stelle erinnere ich nur an die schrillen Angriffe, die hochmoralische Politiker von Rot-Grün auf Bundeskanzler Kohl gerichtet haben, als dieser 1995 einen Staatsbesuch in China abhielt. Zum Protokoll gehörte damals auch ein Besuch bei einem Infanterieregiment. Angelika Beer warf ihm daraufhin unter anderem vor, „zur Imagepflege einer Unterdrückungsarmee“ beigetragen zu haben. Auch kann ich Ihnen in Erinnerung rufen, wie sich der Oppositionsabgeordnete Joschka Fischer 1996 zu diesem Thema geäußert hat: Wir werden eine friedliche Entwicklung Chinas nicht bekommen, wenn wir vor allen Dingen auf das Geschäft setzen. … Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte, über tibetische Kultur und über den Schutz von Minderheiten in China sprechen. Wenn das Aufträge kostet, dann kostet es eben Aufträge. So sprach 1996 der stramme Menschenrechtler Joschka Fischer. Zugegeben, es ist acht Jahre her. Wer will schon gern an Reden von vor acht Jahren erinnert werden, vor allem dann, wenn er solche Wandlungen durchgemacht hat, wie es bei Joschka Fischer der Fall ist? ({0}) Meine Damen und Herren, nach einem zunächst peinlichen Schweigen im rot-grünen Lager in Bezug auf die Auftritte von Bundeskanzler Schröder im Dezember hat man sich jetzt wohl formiert. Einzelne Politiker von SPD und Grünen drohten sogar, dem FDP-Antrag zuzustimmen. ({1}) Um dieses Unglück in letzter Minute abzuwenden, haben nun die Koalitionsfraktionen gemeinsam einen Antrag zum selben Thema eingebracht. Die Überzeugungskraft dieses Antrags verfehlt jedoch möglicherweise ihre Wirkung auf die Bundesregierung; jedenfalls haben wir daran erhebliche Zweifel. Der Bundeskanzler ließ den rot-grünen Antrag nämlich über seinen Regierungssprecher Anda bereits kommentieren: Einerseits soll der Antrag in die Meinungsbildung der Regierung einfließen. Andererseits wird der Bundeskanzler jedoch bei seiner einmal geäußerten Meinung bleiben. Basta! ({2}) - Ich gebe zu, das Wort „basta“ stammt nicht von Anda, sondern von Schröder und wurde von mir in diesen Zusammenhang gestellt. Das Verfallsdatum dieses Antrags ist vorhersehbar. Es wird mit dem 5. Dezember anzusetzen sein, denn dann wird Schröder erneut nach China reisen und wiederum die Aufhebung des Waffenembargos - in welcher Form auch immer - fordern. Dann wird er sich möglicherweise an diesen Antrag nicht mehr erinnern können. ({3}) Doch lassen Sie mich kurz auf die Sache eingehen. In der Tat ist China eine Weltmacht, die auch in der Weltwirtschaft eine immer bedeutendere Rolle einnimmt und für Deutschland ein wichtiger Handelspartner ist. Wir sollten natürlich die Wirtschafts- und Wissenschaftskooperation mit China fortsetzen. Wir sollten auch anerkennen, welche Entwicklung China durchgemacht hat. Auch sollten wir als Europäer mit einer gewissen Offenheit feststellen, dass es im Rahmen der universellen Menschenrechte verschiedene Wege zur Demokratie gibt und dass auch China seinen eigenen Weg dorthin finden muss. Wir sollten uns aber davor hüten, mit ausgestrecktem Zeigefinger die chinesische Politik sozusagen auf dem Marktplatz an den Pranger zu stellen. Wir sollten also ganz klar sagen, dass wir in der Europäischen Union einen Verhaltenskodex zum Umgang mit Waffenexporten beschlossen haben, und hinzufügen, dass wir neben diesem europäischen Kodex auch eine nationale Regelung haben, die zu dem gleichen Ergebnis führt. Bei diesen beiden Entscheidungsparametern wollen wir bleiben. Aus diesem Grunde passt es überhaupt nicht in die jetzige Zeit - in der die Taiwan-Frage wieder auf gefährliche Weise eskaliert -, durch Waffenexporte einen deutschen Beitrag zu leisten. Ich halte dies für falsch. ({4}) Ich meine, wir sollten bei unserer Linie bleiben. Wir sollten auch unter den europäischen Partnern keine falschen Signale aussenden und keinen falschen Wettlauf bei Rüstungsexporten nach China auslösen. Wir meinen, dass der Antrag von SPD und Grünen durch seine bewusst weichen und schwammigen Formulierungen eher irritiert. Deswegen wollen wir diesen Antrag ablehnen. Wir müssen uns vor falschen Signalen hüten: gegenüber dem Bundeskanzler, gegenüber den europäischen Freunden, aber auch gegenüber China. Als Helmut Kohl 1995 aus China zurückkam, sagte Rudolf Scharping - Sie erinnern sich an ihn -, ({5}) bei dem Truppenbesuch in China sei Kohl erneut zum „Meister der falschen Symbole“ geworden. Ich meine, wenn jemand zum „Meister der falschen Symbole“ geworden ist, dann ist es der amtierende Bundeskanzler mit seiner Äußerung zu Rüstungsexporten. Diese lehnen wir ab. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer. ({0})

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Anlass für das EU-Waffenembargo war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. ({0}) Das ist lange Zeit her, aber damit nicht vorbei. Man kann keinen Schlussstrich ziehen. Wir sind auch nicht der Meinung, dass Argumente, wie man sie manchmal aus China hört, nämlich dass die Angelegenheit verjährt sei, akzeptabel sind. Dennoch muss es erlaubt sein, hin und wieder zu überprüfen, ob dieses Embargo noch Sinn macht. Die heutige Führung in China zumindest trägt keine unmittelbare Verantwortung mehr für das Massaker vor 15 Jahren. Aber sie trägt Verantwortung dafür, dass China ab sofort und in aller Zukunft eine demokratische Entwicklung nimmt, die die Menschenrechte berücksichtigt. ({1}) Wenn man die chinesische Führung mit dieser Frage der Menschenrechte konfrontiert, hält sie sofort umfangreiche Referate darüber, dass sie es geschafft hat, die sozialen Menschenrechte zu erfüllen, und zwar vielleicht besser als so manches andere Land. Dieses Argument kann man nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Man muss anerkennen, dass China es geschafft hat, ein Sechstel der Weltbevölkerung aus dem absoluten Elend, aus der absoluten Armut herauszuführen und dem größten Teil dieses Riesenvolkes zumindest das Existenzminimum zu sichern. Das ist eine Erfüllung von sozialen Menschenrechtsstandards. Das muss man einmal anerkennend aussprechen. Allerdings kann man sich mit der Erfüllung der sozialen Menschenrechte nicht dafür entschuldigen, dass es immer noch massive Defizite bei den politischen Menschenrechten gibt. Auch in unserem Sicherheitsinteresse sagen wir: Wir haben großes Interesse daran, dass China, das wirtschaftlich immer stärker wachsen und in der globalen Politik eine immer größere Rolle spielen wird, auch immer demokratischer wird. Nur dann kann es für uns langfristig ein Partner sein, mit dem gemeinsam wir nicht nur Handel treiben, sondern auch versuchen, globale und regionale Probleme zu lösen. ({2}) In diesem Sinne ist es nicht besserwisserisch, sondern einfach der Ausdruck unseres eigenen Interesses, dass wir einen intensiven Dialog über die Menschenrechtsfragen mit China begonnen haben. Wir begrüßen und möchten daran erinnern, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die den Rechtsstaatsdialog mit China aufgenommen hat, einen Dialog, der viele positive Ergebnisse gebracht hat. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rose?

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Immer.

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da Sie gerade von der - von uns sehr gewünschten - demokratischen Entwicklung in China gesprochen haben: Bezeichnen auch Sie es als unverständlich bzw. als unter Demokraten sogar nicht akzeptabel, dass an der Südküste des chinesischen Festlandes 600 Raketen gegen Taiwan - zweifellos ein friedlicher Nachbar, denn Taiwan greift nicht an - gerichtet sind? Im Sinne der von uns vertretenen Ein-China-Politik müssen wir konstatieren, dass diese Raketen sogar gegen ein eigenes Land gerichtet sind. Wie stellen Sie sich dazu, dass man dort eine solche Drohkulisse aufbaut?

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Rose, genau darum geht es in der Schlusspassage meiner Rede. Ich möchte Sie bitten, sich noch etwas zu gedulden. Ich bin mir sicher, wir sind uns in der Frage völlig einig. ({0}) - Gut, nehmen wir die Taiwan-Frage vorweg. Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht: Bevor es zu einer Aufhebung aller Restriktionen und zu einer völligen Normalisierung der Beziehungen kommen kann, müssen mehrere Kriterien erfüllt sein, und zwar auch auf europäischer Ebene, nicht nur auf der Ebene der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Ein wesentliches Kriterium ist die Taiwan-Frage. Erinnern wir uns zurück an die Zeit vor dem 11. September 2001: Im ersten Jahr der Amtszeit von Präsident Bush - ich will das jetzt aber nicht Präsident Bush zuschreiben - hatten wir hier öfters Debatten über sich steigernde transpazifische Dispute. Wir alle hatten Angst, dass diese Dispute zu einem massiven Konflikt eskalieren könnten. Im Zentrum der Dispute stand die Taiwan Frage. Von daher ist es auch in unserem Sicherheitsinteresse, dass keine Waffen an China geliefert werden, erstens damit der transpazifische Konflikt nicht eskaliert und zweitens damit wir uns nicht durch europäische Waffenlieferungen in eine Gegend, die möglicherweise wieder spannungsgeladen sein könnte, in einen Interessengegensatz zu unserem Partner und NATO-Freund USA begeben. Das ist für uns ein ganz wesentlicher Punkt, den wir auch in unserem Antrag so formuliert haben. ({1}) - Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns auch einig. Ich hoffe, wir sind uns auch in den anderen Punkten einig. Kollege Müller hat schon darauf hingewiesen, dass wir jetzt natürlich nicht einen riesigen Katalog von Einzelforderungen, die wir an die chinesische Politik stellen, zur Voraussetzung für eine Normalisierung machen können. Es gibt viele Punkte, die uns nach wie vor Sorgen machen: die extensive Anwendung der Todesstrafe, die Lagerhaft, die Administrativhaft, das Fehlen von Parteiendemokratie. Was wir aber von der chinesischen Seite fordern können, ist, dass endlich der VNPakt für die politischen und bürgerlichen Rechte gezeichnet und ratifiziert wird. Vor allen Dingen dies steht aus. Darüber werden wir mit der chinesischen Seite noch reden wollen. ({2}) Genauso werden wir mit der chinesischen Seite noch darüber reden wollen, dass die weit reichenden Verfassungsänderungen, die vorgenommen worden sind und die wir sehr begrüßen, auch in Verwaltungshandeln umgesetzt werden. Das betrifft etwa die Einführung demokratischer Strukturen und des Privateigentums. Der dritte wesentliche Prüfungspunkt ist der Umgang mit den ethnischen und regionalen Minderheiten in China selber. Die Stichworte kennen Sie: Tibet, Xinjiang. Es muss darauf hingewirkt werden, dass diese Ethnien, dass diese Völker ein Großmaß an substanzieller Autonomie bekommen. Modernisierungsstrategien, die von Peking aus dort vorangetrieben werden, mögen, was die Infrastruktur usw. angeht, ihren Sinn machen; wenn diese Strategien aber dazu führen, dass diese traditionellen Kulturen, die mit zum Beeindruckendsten gehören, was die Menschheit auf diesem Globus im Moment zu bieten hat, beeinträchtigt werden oder verschwinden sollten, dann wäre das ein enormer Schaden. Davor wollen wir China - das eine China, das wir als Einheitsstaat akzeptieren - bewahren. Deshalb lautet unser Plädoyer, dass die Überprüfung, ob das Waffenembargo noch Bestand haben kann, auf europäischer Ebene vorgenommen werden muss. Wir hoffen, dass dieser Überprüfungsprozess in einen für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Kodex einmündet, was Waffenexporte im Allgemeinen und Waffenexporte nach China im Speziellen angeht. Die zu prüfenden Punkte, die in unserem Antrag enthalten sind, wollen wir auf der Ebene der Europäischen Union als Essentials unserer Politik deutlich machen. Für uns Grüne und, wie ich denke, auch für viele andere ist völlig klar: Wenn man die vier Kriterien, über die wir gerade diskutiert haben, zugrunde legt, dann kommen Waffenexporte an China im Moment nicht infrage. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, heute ist ein guter Tag für das Parlament. Gestern hat das Europäische Parlament deutlich gemacht, dass es nicht die Absicht hat, als Tiger zu starten und als Bettvorleger zu landen. Heute zeigt der Deutsche Bundestag Flagge. Das ist für manche sicherlich schmerzhaft; das anerkenne ich. Aber es ist deutlich geworden, dass der Bundeskanzler für seine Waffenexportpolitik und für seine Menschenrechtspolitik gegenüber China im Deutschen Bundestag keine Mehrheit hat. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt. ({0}) Ich weiß, dass es für Abgeordnete der Koalition sehr heikel ist, in einer so wichtigen Frage eine andere Position als die Regierung einzunehmen. Davor habe ich Respekt. Dieser Vorgang hat einen Vorlauf, an den zu erinnern ist. Der Bundeskanzler hatte seine Ankündigung vor gut einem Jahr in China gemacht, und zwar zum großen Erstaunen und zur Verärgerung vieler Kolleginnen und Kollegen hier im Hause wie auch von Regierungschefs in der Europäischen Union. Das Europäische Parlament hat dann noch im Dezember 2003 klar Position bezogen und die Forderung des Bundeskanzlers abgelehnt. Die FDP-Fraktion hat im Dezember 2003 einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, in dem sie sich aufgrund der Punkte, die hier schon genannt worden sind, gegen eine Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China ausgesprochen hat. Dieser Antrag ist dann in den mitberatenden Ausschüssen behandelt worden. Er hat im Ausschuss für Menschenrechte und im Auswärtigen Ausschuss - mit den Stimmen einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen der Koalition - eine Mehrheit bekommen. Dass er dann im Wirtschaftsausschuss, der federführend war, nicht aufgerufen und dass seine Behandlung immer wieder verschleppt worden ist, hatte natürlich gute Gründe. Deswegen haben wir die Möglichkeiten der Geschäftsordnung bemühen müssen, um diese Debatte heute hier stattfinden zu lassen. Ich freue mich, dass die Abgeordneten der Koalition daraufhin einen Ausweg gefunden haben. Natürlich bleiben wir bei unserem Antrag; denn er ist klarer und präziser. ({1}) Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Antrag der Koalition enthalten. Aber als im Plenum die Blamage für die Koalition drohte, haben die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen ihre Linie, die sie in Menschenrechtsfragen immer geradezu wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, beibehalten. Das anerkenne ich. Meine Damen und Herren, im Antrag der Koalitionsfraktionen werden, ebenso wie auch im Antrag der FDP, die Kriterien genannt, von deren Erfüllung man die Aufhebung des Embargos abhängig machen müsste. Das gilt übrigens für eine europäische Betrachtung genauso wie für eine nationale Bewertung dessen, was der Bundeskanzler im Europäischen Rat zu tun gedenkt. Es geht also um die Menschenrechtslage und um die Minderheiten in China, um die Lage in und um Tibet und um die Frage der Konfliktentschärfung an der Straße von Taiwan. Ich denke, wir sind uns einig, dass gegenwärtig keines dieser Kriterien erfüllt ist und dass eine Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China daher nicht infrage kommt. ({2}) Ich schließe mit einem Zitat. Kollege Uhl hat ja bereits ein hinreißendes Zitat genannt. In derselben Debatte ist gesagt worden: Sie müssen sich vorwerfen lassen, daß die Bundesregierung beim Besuch des Bundeskanzlers in China, im Umgang mit der chinesischen Führung den Eindruck erweckt hat, daß sie zwar an den Prinzipien der Menschenrechte festhält, daß sie diese aber im Zusammenhang mit der Geschäftsentwicklung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und China weit in den Hintergrund rückt. So äußerte sich der jetzige Außenminister Joseph Fischer in der diesbezüglichen Debatte im Jahr 1996. ({3}) Das war damals ziemlich daneben. Aber heute ist das, wie ich glaube, sehr passend. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss erst einmal Herrn Hoyer an zwei Stellen berichtigen: Erstens. Sie haben gesagt, Bundeskanzler Schröder habe für seine Menschenrechtspolitik keine Mehrheit bei der Koalition. ({0}) Das ist schlicht und ergreifend nicht richtig. Hier ist schon mehrfach zitiert worden, dass der Menschenrechtsdialog zum Rechtsdialog hinzugekommen ist, also hören Sie mit dieser Argumentation auf! Dass es andere Konflikte in der Frage der genauen, differenzierten Einschätzung des EU-Waffenembargos gegenüber China geben mag, hat sich ja erwiesen. Nur glaube ich, dass man nicht so dramatisieren und von einem Konflikt sprechen sollte: Wir führen einen ernst zu nehmenden Diskurs über Fragen, bei denen wir ein großes Maß an Einigkeit haben. Ich werde nachher noch auf ein paar Punkte kommen, bei denen Sie sich doppelbödig verhalten haben. Außerdem ist Ihr Antrag nicht besser und das werde ich jetzt gleich am Anfang begründen. ({1}) - Ich habe ihm im Ausschuss zugestimmt. ({2}) - Das ist doch ein offenes Geheimnis, ich bitte Sie! Trotzdem ist Ihr Antrag nicht besser. Unser Antrag ist differenzierter; die Kriterien sind sehr viel konkreter aufgeführt. Das äußert sich nicht etwa in vorangestellter Lyrik, sondern findet seinen Niederschlag auch hinten bei den Forderungen. Was ich an Ihrem Antrag bemerkenswert finde, ist, dass Sie die Bundesregierung auffordern, das EU-Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China als verbindlich zu betrachten, keine Alleingänge vorzunehmen und nur im Einvernehmen mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in dieser Frage zu handeln. ({3}) Dieser Satz ist eigentlich eine Frechheit, lieber Herr Hoyer, und das müssten Sie wissen. Schließlich waren Sie einmal an verantwortlicher Stelle im Ministerium tätig und wissen sehr wohl, dass EU-Ratsbeschlüsse für alle so lange bindend sind, bis sie wieder einstimmig aufgehoben werden. Antworten dieses Inhalts sind in Fragestunden hier im Plenum mindestens fünfmal wiederholt worden. Sie haben es nicht akzeptieren wollen. Jetzt scheint darüber möglicherweise Konsens zu herrschen; wir haben es ja oft genug gesagt. Natürlich ist es richtig, dass China eine Großmacht ist und ein sich stürmisch entwickelndes Land, gerade in wirtschaftlicher Hinsicht, ein Land, das sich öffnet und Reformen einleitet, ein Land, um das sich nicht nur Bundeskanzler Schröder - aus gutem Grund - bemüht, sondern um das sich auch frühere Bundeskanzler bemüht haben. Wir führen seit 1998 einen Rechtsstaatsdialog, der jetzt um einen Menschenrechtsdialog erweitert worden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch kein Pipifax, sondern das ist ein großer Schritt nach vorne, wenn man die Bemühungen anderer - in der Vergangenheit - um Menschenrechte betrachtet. ({4}) - Ja, da kann man ruhig einmal klatschen, eine solche Ermunterung ist ja immer ganz nett. ({5}) China ist ein politischer Faktor in der internationalen Politik und China öffnet sich auch hier. Ich finde, auch das muss einmal bemerkt werden: China ist nicht mehr nur das Land mit der Großen Mauer, sondern China nimmt beispielsweise zum ersten Mal an internationalen Missionen der UNO teil und beteiligt sich an der Gestaltung im Rahmen des UNO-Sicherheitsrates. Wir bemühen uns um dieses Land, um es in seiner demokratischen Entwicklung zu unterstützen. Wir bemühen uns um dieses Land natürlich auch, weil es ein wichtiger Wirtschaftspartner ist. Wenn der Kanzler das nicht täte, dann würde er diese Kritik verdienen. Aber einen potenziell guten Wirtschaftspartner wird man ja wohl pflegen dürfen! ({6}) Ich sage noch etwas dazu, was ich mit „Doppelbödigkeit“ meine: Herr Ramsauer von der CSU ({7}) hat in der Aktuellen Stunde zum Verkauf der Hanauer Plutoniumanlage nach China am 10. Dezember 2003 gesagt, dass China „weltpolitisch und strategisch“ ein wichtiger Partner sei, „eines unserer wichtigen Partnerländer“ - in dieser Doppelung! Anschließend hat er uns gescholten, dass wir die Lieferung der Hanauer Anlage nicht einhellig begrüßt haben. Sie haben sich in diesem Zusammenhang nur auf Klimaschutz und Entwicklungspolitik bezogen und bejammert, dass wir diese Technologie nicht transferieren wollen, obwohl sie doch so wichtig sei. Den Aspekt der Proliferation genau dieses Handels haben Sie mit keinem Wort erwähnt. Das nenne ich doppelbödig. ({8}) Wir schulden es uns - insofern nehme ich auch Ihr Lob an, Herr Hoyer -, dass wir so etwas im Bundestag zwischen den Fraktionen, aber auch im Dialog strittig, öffentlich und kontrovers diskutieren, wenn wir unterschiedliche oder abgestufte Meinungen haben. ({9}) Ich möchte noch etwas zur EU sagen. Auch innerhalb der EU gibt es sehr unterschiedliche Anschauungen über den Umfang und die Empfängerstaaten von Rüstungsexporten. Herr Hoyer, das wissen Sie ganz gut, weil Sie das jahrelang mitgemacht haben. Sie wissen auch, dass dieser Beschluss nur einstimmig aufgehoben werden kann und dass er an die restriktiven Kriterien unserer Rüstungsexportlinien sowie an die Kriterien des Verhaltenskodex der EU, bei dem die Menschenrechte und auch die Spannungsgebiete eine große Rolle spielen, gebunden ist. Es ist richtig, dass wir darüber diskutieren. Umso wichtiger ist es aber, dass wir die Forderungen, die auch in unserem Antrag mit aufgeführt sind, nämlich bürgerliche und politische Rechte gemäß dem UN-Übereinkommen, die Einhaltung der Menschenrechte und die friedliche Lösung der Taiwan-Frage, verfolgen und unterstützen. Auch müssen wir die zivilen Entwicklungen, die es in China erfreulicherweise gibt, unterstützen, wo immer wir das können. Ich glaube, das wäre eine vernünftige Politik. Ich begreife, dass die Opposition so etwas natürlich aufgreift. Das hätten wir genauso getan. Lassen Sie uns aber lieber rational darüber reden. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin, ich erlaube mir, gleich aus dem noch unkorrigierten Protokoll des Bundespresseamtes von gestern anlässlich der Pressekonferenz von Herrn Anda zu zitieren. Herr Kollege Müller und vor allem Herr Kollege Volmer, als ich mir das gestern ein wenig angeschaut habe, habe ich wirklich nicht mehr verstanden, worüber wir heute diskutieren. Auf eine Frage von Herrn Middel - wer auch immer das ist -: ({0}) „Herr Anda, der Bundeskanzler hat in der jüngsten Vergangenheit häufig gesagt, dass er sich für die Aufhebung des Waffenembargos gegen China aussprechen werde. Wie reagiert der Kanzler auf die Entscheidung der Koalitionsfraktionen, das Waffenembargo nicht aufzuheben?“ sagte Staatssekretär Anda: „Sie spielen auf einen Antrag der Bundestagsfraktion an, der einige Kriterien feststellt, was die Aufhebung des Waffenembargos anbelangt. Diese Kriterien werden in die Meinungsfindung einfließen.“ Schön. Aber dann: „Was den Bundeskanzler anbelangt: Sie haben seine Haltung richtig wiedergegeben. Die Auffassung ist bekannt und er wird sie auch nicht ändern.“ Das heißt also, der Bundeskanzler hat eine völlig andere Auffassung, als Sie, meine Damen und Herren, sie hier gerade darstellen. ({1}) Dies sollten wir einmal sagen. Ich finde es eigenartig, dass der Bundeskanzler so wenig Respekt vor seiner eigenen Bundestagsfraktion hat. Oder war das wieder einer der üblichen Schröder-Chinakracher bzw. -Chinaböller? Seine Fraktion distanziert sich öffentlich von ihm. Da sollte dem Bundeskanzler eigentlich eine rote Warnlampe angehen. Anscheinend ist ihm das egal. Dieses Herumlavieren in der Menschenrechts- und in der Außenwirtschaftspolitik, das wir von Ihnen immer wieder erleben, ist wieder einmal ein Beweis für die große Diskrepanz zwischen Ihrem Anspruch und der Wirklichkeit. ({2}) - Herr Tauss, beweisen Sie mir das Gegenteil! Es tut mir Leid, wenn Sie nicht in der Lage sind, dieser Debatte zu folgen. Sie wären besser früher gekommen, dann hätten Sie von Ihren eigenen Kollegen gehört, dass Sie in dieser Frage eindeutig in Distanz zum Bundeskanzler stehen. ({3}) China ist selbstverständlich ein großes und dynamisches Weltwirtschaftszentrum und wahrscheinlich die dynamischste Volkswirtschaft, die es zurzeit auf der Welt gibt. Es ist klar, dass wir eine Gratwanderung zu machen haben. Es ist ebenso selbstverständlich, dass wir kühl und pragmatisch vorgehen müssen. Bitte verhalten Sie sich aber nicht wieder so, wie wir das von Ihnen gewohnt sind. Wenn die FDP - dafür ist ihr zu danken - diesen Antrag nicht gestellt hätte, dann hätte diese Debatte nicht stattgefunden; denn damit hatten Sie schon genug Probleme. ({4}) Wir finden, dass der FDP-Antrag deutlicher und klarer als Ihrer formuliert ist. Frau Zapf, da können Sie mir erzählen, was Sie wollen. Das erkennt man schon an der Überschrift. Die Überschrift Ihres Antrags lautet: „EUWaffenembargo gegenüber der Volksrepublik China“. Aufheben oder verstärken? Die Überschrift des FDPAntrags heißt: „Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China“. Darin wird sofort eine deutliche Position bezogen, was Sie in Ihrem Antrag von Anfang an vermeiden. Dass in China nach wie vor erhebliche Menschenrechtsverletzungen stattfinden, können Sie nicht beiseite schieben. Niemand, der sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt, kann das beiseite schieben. Der Kollege Uhl, aber auch der Kollege Rose haben das angesprochen. Die Taiwan-Frage ist alles andere als geklärt, Herr Kollege Volmer. Ich meine, das sollten Sie auch zugeben. ({5}) Erstens. Die SPD und die Grünen setzen meiner Meinung nach völlig falsche Zeichen. Ich halte es für richtig, China unter Druck zu setzen. Zwar ist das Massaker auf dem Tiananmenplatz 1989 gewesen, aber solche Dinge verjähren für mich nicht in 15 Jahren. Eine Aufhebung des Embargos, wie sie der Bundeskanzler bereits vor einem Jahr öffentlich gefordert hat, würde die Menschenrechtslage in China nicht verbessern, sondern eher das Gegenteil bewirken; davon können Sie ausgehen. Zweitens. Die Bundesregierung betont, bei Aufhebung des EU-Embargos würden Exporte nach deutschen Richtlinien weiterhin unmöglich sein. Daher kann ich nun wirklich nicht nachvollziehen, warum sich der Bundeskanzler, der auch die Interessen der deutschen Wirtschaft zu vertreten hat, dafür einsetzt, dass das EU-Embargo aufgehoben wird. Will er nur seinem Freund Chirac helfen, damit die Franzosen mehr nach China exportieren können? Er möchte das EU-Embargo aufheben, aber aus Deutschland darf nach wie vor nichts nach China exportiert werden? Der Bundeswirtschaftsminister muss mir einmal erklären, welche Logik dahinter steckt. Ich habe sie nicht verstanden. Entweder ganz Europa kann nicht exportieren - damit auch wir nicht oder alle dürfen es, was dann die logische Konsequenz wäre.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volmer?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das gibt mir mehr Redezeit. Danke.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, da Sie sich am Beispiel der Taiwan Frage als Sicherheitspolitiker darzustellen versuchen, möchte ich Sie etwas fragen. Sie haben bemängelt, dass die Politik des Bundeskanzlers nicht deutschen, sondern französischen oder Waffenexporten anderer Länder dienen könnte. Würden Sie bitte Folgendes zur Kenntnis nehmen: Die chinesische Seite - das versicherte der Auswärtige Ausschuss aus China, der letzte Woche hier war - will gar keine Waffen importieren. Falls China Waffen brauche, wolle es diese selber herstellen, sodass es nicht abhängig werde. China komme es auf die politische Geste an, nämlich ob es auf der Embargoliste stehe oder nicht. Es geht also gar nicht um materielle Lieferungen. Von daher kann der Bundeskanzler, bezogen auf diese Frage, keine falsche Politik machen.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Volmer, ich halte das, was Sie dem Parlament weiszumachen versuchen, für sehr blauäugig. Wenn wir das EU-Waffenembargo aufheben, bedeutet das in der Konsequenz, dass die Chinesen jederzeit Anträge auf Waffenlieferungen stellen können. Es kann zwar sein, dass sie heute keine Waffen brauchen. Aber es kann morgen jederzeit passieren, dass sie irgendeine Technologie benötigen. Herr Kollege, so blauäugig sollten wir mit diesem schwierigen und vor allem für die Menschenrechte wichtigen Thema nicht umgehen. Für mich stehen die Äußerungen des Bundeskanzlers im klaren Widerspruch zu den Äußerungen der Koalition und dem, was wir heute von allen Kollegen gehört haben. Für mich ist es erstaunlich, dass Sie auf einmal ohne große Probleme über diese Dinge hinweggehen können. Ich kann das nicht nachvollziehen. Deswegen halte ich Ihre gesamte Einstellung zu diesem Thema für sehr widersprüchlich. Das gilt gerade für Sie, Herr Kollege Volmer, der Sie nun lange Staatsminister gewesen sind und vorher eine völlig andere Haltung vertreten haben. Drittens. Es ist wieder einmal erstaunlich, dass der Bundeskanzler das Handeln im Geiste Europas völlig durcheinander wirft. ({0}) In Europa sind weit mehr als die Hälfte der Länder gegen eine Aufhebung des EU-Embargos. Was machen Sie? Sie versuchen, mit Frankreich eine bilaterale Allianz zu bilden, und wollen darüber die gesamte EU in eine Richtung bringen. Das halte ich für falsch. So etwas sollten wir auch nicht tun. In meinen Augen ist das, was hier gelaufen ist, Scharlatanerie. Wir sollten gemeinsam immer im Blick auf die Menschenrechte solche Regelungen nicht dulden. Das Embargo muss bleiben. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4047 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Gegen eine Aufhebung des EU- Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2169 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- nommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4035 mit dem Titel „EU-Waffenem- bargo gegenüber der Volksrepublik China“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition ge- gen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c sowie Zusatzpunkt 4 auf: 7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts - Drucksache 15/3917 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Klaren und funktionsfähigen Ordnungsrahmen für die Strom- und Gasmärkte schaffen - Drucksache 15/3998 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für mehr Wettbewerb und Transparenz in der Energiewirtschaft durch klare ordnungspolitische Vorgaben - Drucksache 15/4037 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes - Drucksache 15/3923 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. ({4})

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen heute Abend in erster Lesung ein außerordentlich wichtiges Gesetzesvorhaben beraten, nämlich den neuen Rechtsrahmen, den nach den europäischen Binnenmarktvorgaben die Strom- und Gasversorgung in Deutschland erhalten soll und erhalten muss. Es geht darum, 1 700 Betreiber von Strom- und Gasnetzen einer staatlichen Aufsicht zu unterwerfen und - das ist unstreitig - die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post mit dieser zusätzlichen Aufgabe zu betrauen. Wir wollen diesen Weg gemeinsam mit aller Entschlossenheit gehen. Es geht darum, einen diskriminierungsfreien und effizienten Zugang zu den Netzen zu schaffen, und zwar zu Bedingungen, die für jedermann transparent und durchschaubar sind. Wir handeln unter hohem Zeitdruck. Wie auch die meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden wir von Brüssel gemahnt und gedrängt. Ich denke aber, dass auf der anderen Seite klar ist, dass es sich hier um ein sehr komplexes und sehr anspruchsvolles Gesetzesvorhaben handelt. Der Gesetzgeber steht heute und die Regulierungsbehörde steht später vor der Aufgabe, den Weg für niedrige Netzentgelte zu ebnen, ohne das in Deutschland gewohnte hohe Niveau der Versorgungssicherheit und Zuverlässigkeit zu gefährden. Diese Sicherheit der Stromversorgung gibt es natürlich nicht zum Nulltarif. Für die Netzbetreiber müssen sich Investitionen in den Unterhalt und den Ausbau von Netzen auch in Zukunft rechnen. Dabei stellen beispielsweise der weitere Ausbau der Windkraft und der grenzüberschreitende Austausch die Netzbetreiber vor neue, auch finanzielle Herausforderungen. Ich kann sagen, dass die Bundesregierung mit ihrer gestern beschlossenen Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrates die Signale auf Grün gestellt hat, um dieses Gesetzesvorhaben in einem möglichst breiten Konsens zum Abschluss bringen zu können. Ich habe schon bei der Beratung des Regierungsentwurfs im Bundesrat und bei anderen Gelegenheiten betont, dass wir für Änderungsvorschläge offen sind und dass wir Änderungsvorschläge ideologiefrei allein unter dem Gesichtspunkt der Effektivität und der Funktionsfähigkeit einer solchen Regulierung prüfen werden. Wir haben angekündigt, Gespräche mit den Ländern zu führen, und haben das eingehalten. Das Ergebnis ist, wie Sie der Gegenäußerung der Bundesregierung entnehmen können, dass wir bei den Kontrollkompetenzen der Regulierungsbehörde deutliche Veränderungen, und zwar im Sinne von Verschärfungen vorschlagen. Angesichts der Ankündigungen aus der Energiewirtschaft, jedenfalls von Teilen davon, die Netzentgelte kurzfristig und teilweise kräftig anzuheben, war es auch aus meiner Sicht unumgänglich geworden, zu reagieren. ({0}) Wir schlagen deshalb nunmehr vor, dass solche Netzentgelterhöhungen, wie sie angekündigt worden sind, von der Regulierungsbehörde nachträglich - das heißt ex post - überprüft werden müssen. Ab In-Kraft-Treten des Gesetzes soll nach unseren Vorstellungen gelten, dass jeder Netzbetreiber künftig im Vorhinein - das heißt ex ante - von der Regulierungsbehörde grünes Licht für eine Erhöhung seiner Entgelte bekommen muss. Diese Ex-ante-Prüfung soll sich nach unserem Vorschlag auf beabsichtigte Erhöhungen von Tarifen beziehen; es geht dabei nicht um die Überprüfung aller 1 700 Netzbetreiber von Anfang an. Ich hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass der bürokratische Aufwand für diese Überprüfung zu groß wäre; ich habe aber auch gemeint, dass eine Überprüfung sinnvoll ist, wenn ein entsprechender Anlass gegeben ist. Dementsprechend sehen wir in unserem Gesetzentwurf im Falle beabsichtigter Erhöhungen der Entgelte eine Überprüfung vor. Ich denke, das neue Maßnahmenpaket trägt dazu bei, berechtigte Verbraucherinteressen in der Übergangsund Startphase der Regulierungsbehörde zu sichern. Ich habe den Eindruck, dass wir damit den Netzbetreibern deutliche Signale geben können, sodass sie - das gilt für die gesamte Branche - dies bei ihrem weiteren Vorgehen beachten und insbesondere davon absehen werden, in Zeiten des Umbruchs noch rasch Preiserhöhungen durchzusetzen. ({1}) Im Übrigen bleibt es dabei: Die Regulierungsbehörde wird kurzfristig eine kompakte und starke Missbrauchsaufsicht aufbauen und hierfür ein neues Benchmarking, ein Vergleichssystem, für die Netzentgelte erarbeiten. Dieses Benchmarking bietet die Grundlage, um ein hartes Vergleichsverfahren durchführen zu können. Das bietet der Regulierungsbehörde die Möglichkeit, schwarze Schafe sehr rasch zu identifizieren. Netzbetreiber, die höhere Entgelte als der Durchschnitt vergleichbarer Unternehmen verlangen, bekommen dann sofort ein Problem mit der Regulierungsbehörde. Ich bin davon überzeugt, dass dies die effektivste und am schnellsten einsetzbare Form der Missbrauchskontrolle ist, um eine Beruhigung im Bereich der Preisgestaltung zu erreichen. ({2}) Zentraler Punkt der Gegenäußerung der Bundesregierung ist, dass wir den Fahrplan bis zur Einführung der von uns allen gewollten Anreizregulierung verbindlich festlegen. Unser Ziel ist, mit der Anreizregulierung spätestens zwei Jahre nach In-Kraft-Treten des Gesetzes zu beginnen. Zu den vorrangigen Aufgaben der Regulierungsbehörde wird es gehören, rasch ein für die deutschen Verhältnisse taugliches System der Anreize zu entwickeln. Als Anreiz zur Effizienzerhöhung des Netzbetriebs legt die Regulierungsbehörde nach Anhörung der Netzbetreiber nach unseren Vorstellungen für eine bestimmte Dauer, längstens für fünf Jahre, bestimmte Vorgaben für die Netzentgelte fest. Die Bundesregierung wird dazu im weiteren Gesetzgebungsprozess noch einen Verfahrensvorschlag unterbreiten. Wir haben, wie ich meine, mit unserer Gegenäußerung das Tor für einen breiten Konsens in den materiellen Fragen der Netzregulierung geöffnet. Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Schritt. Es liegt mir daran, dass bei allen sonstigen Auseinandersetzungen zur Kenntnis genommen wird, dass es auch möglich ist, aufeinander zuzugehen. ({3}) Ich bin nämlich davon überzeugt, dass es nicht im Interesse des Standorts Deutschland läge, wenn wir uns in diesem Bereich noch eine lange Hängepartie leisten würden. Deshalb haben wir meiner Meinung nach rasch auf die Einwände des Bundesrates und andere Einwände reagiert. Damit die Vorgaben möglichst effizient umgesetzt werden, haben wir vorgeschlagen, die Aufsicht über die Energieversorgungsnetze bundesweit bei einer Behörde, nämlich der Regulierungsbehörde in Bonn, zu konzentrieren. Sie hat bei der Telekommunikation und der Post bereits nachgewiesen, dass sie dazu in der Lage ist und die Instrumente beherrscht. Das spricht dafür, ihr auch die Aufsicht über die Strom- und Gasnetze anzuvertrauen. Wir haben die Position, die Aufsicht bei einer Bundesbehörde einzurichten, im Lichte des anders lautenden Votums der Mehrheit der Länder nochmals überprüft. Aber wir sind in diesem Punkt zu keinem anderen Ergebnis gekommen. ({4}) Auch als ehemaliger Wirtschaftsminister eines Bundeslandes, und zwar nicht des unwichtigsten, der für die fachliche Aufsicht verantwortlich war, kann und will ich nicht bestreiten, dass in den Ländern durchaus fachliche Kompetenz vorhanden ist. Ich bin aber ebenso überzeugt, dass jetzt im Zuge der europäischen Entwicklung eine eindeutige Zuweisung dieser Aufgabe notwendig ist. Nur durch eindeutige Zuweisung an eine Behörde kann nach unserer Überzeugung sichergestellt werden, dass in der Regulierungspraxis die Netzbetreiber und ihre Kunden tatsächlich mit einer Elle gemessen werden. ({5}) Wir müssen uns sehr ruhig und nüchtern fragen - das sollten auch die Länder tun; das meine ich kollegial -: Wie sollten wir im Konzert der anderen europäischen Regulierungsbehörden vermitteln können, wenn demnächst in Deutschland insgesamt 17 Regulierungsstellen vorhanden wären und ihre Arbeit tun würden? Das würden wir kaum jemandem erläutern können. ({6}) Die Strom- und Gasversorgung in der Europäischen Union wird in Zukunft noch stärker durch europäische Vorgaben geprägt werden. In dieser Situation wäre es aus meiner Sicht nicht mehr angemessen, wenn wir bei der Aufsicht über den Netzbetrieb gewissermaßen in eine Regionalisierung gehen würden. Wir brauchen eine Regulierung aus einem Guss und aus einer Hand, um auf europäischer Ebene zu bestehen. Ich sage das übrigens auch ein bisschen mit Blick auf die Föderalismusdiskussion in Deutschland. Es wäre kaum verständlich zu machen, warum wir eine Aufsplittung der Aufsicht über den Netzbetrieb in Kauf nähmen, obwohl wir gleichzeitig - zu Recht - über eine Entzerrung der Aufgaben in Deutschland diskutieren. ({7}) Ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich weiß, dass das ein sensibles Thema ist. Die Kompetenzen beispielsweise im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium, in meinem früheren Verantwortungsbereich, und im bayerischen Wirtschaftsministerium sind, wie gesagt, sehr unterschiedlich entwickelt. Ich weiß, dass es hier Empfindlichkeiten gibt. Aber ich bitte die Landesregierungen, den jetzt eingeschlagenen Weg mitzugehen. Insgesamt haben wir mit unserem Gesetzentwurf und den Vorschlägen in der Gegenäußerung der Bundesregierung ein Konzept vorgelegt, das im Sinne der spezifischen deutschen Interessen eine schlanke und effiziente Regulierung der Strom- und Gasnetze ermöglicht. Der Weg zur Anreizregulierung wird nach unserem Vorschlag konsequent beschritten. Das wird im Ergebnis bedeuten, dass die Netzkosten sinken. Davon werden die Industrie sowie die gewerblichen und die privaten Verbraucher in gleichem Maße profitieren. Meine Bitte ist, dass wir gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, das Gesetz möglichst zügig in Kraft zu setzen, damit es rasch seine Wirkung entfalten kann. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Rolf Bietmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003506, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, dass man für Änderungsvorschläge offen sein muss. Die Union hat eine Vielzahl von Änderungsvorschlägen präsentiert. Sie haben sich im Ansatz unseren Änderungsvorschlägen angenähert, wenn Sie sagen, dass bei Preiserhöhungen eine Ex-ante-Prüfung erfolgen muss. Wir stimmen mit Ihnen darin überein und hoffen, dass Sie die Richtigkeit weiterer Änderungsvorschläge der Union nachvollziehen und sich auf den Weg begeben. Das, was bisher als Entwurf eines Energiewirtschaftsgesetzes vorgelegt wurde, reicht aber bei weitem nicht aus, um der deutschen Wirtschaft das zu geben, was sie braucht, nämlich einen rechtlich hinlänglich klaren Rahmen für das Wirtschaften sowie für Netznutzung und Festsetzung der Netzentgelte. Mit Ihrem Energiewirtschaftsgesetz wollen Sie den Netzzugang verbessern und einer staatlichen Kontrolle unterstellen. Sie wollen wirksamen Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Märkten im Netzbereich ermöglichen. Aber die Begriffe „Entflechtung“, „Netzzugang“ und „Netzzugangsentgelte“ bedürfen hierzu einer klaren Definition im Gesetz. ({0}) Um die dringend notwendige Rechtssicherheit herzustellen, ist eine hinreichend präzise, normative Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben notwendig. Dem wird der vorliegende Gesetzentwurf in keiner Weise gerecht. Statt eindeutige inhaltliche Vorgaben für die Entflechtung und die Kontrollbefugnisse des Regulierers zu formulieren, weichen Sie im Gesetzentwurf auf Verordnungen aus. Bezeichnend ist § 21 des geplanten Energiewirtschaftsgesetzes - schauen Sie sich den einmal genau an! -, der die Bedingungen und die Entgelte für den Netzzugang regelt. Nach Abs. 2 sollen die Entgelte auf der Grundlage einer energiewirtschaftlich rationellen Betriebsführung gebildet werden. So lautet der Gesetzestext. Dieser Grundgedanke wird dann aber sofort wieder eingesammelt, weil in einer Rechtsverordnung nach § 24 eine Abweichung von der kostenorientierten Entgeltbildung bestimmt werden kann. Über den Weg der Rechtsverordnung wird der Versuch gestartet, am Parlament vorbei Inhalte verwaltungstechnisch zu regeln, die eigentlich unmissverständlich im Gesetz stehen müssten. Bis heute, Herr Minister, liegen die wesentlichen Verordnungen für Netzzugang und Netzregulierung im Gasbereich nicht vor. Eine ordnungsgemäße Beratung des vorliegenden Entwurfs ist aber nur möglich, wenn auch die Verordnungsentwürfe in Gänze vorgelegt werden. Denn ohne diese macht die Beratung überhaupt keinen Sinn. ({1}) Die für die deutsche Energiewirtschaft entscheidende Frage nach den Maßstäben für die Bewertung der Netznutzungsentgelte wird im Gesetzentwurf nicht beantwortet. Bereits der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine an Kostengesichtspunkten orientierte Festsetzung von Netznutzungsentgelten in die falsche Richtung geht. Eine solche Regelung wird die Energieversorger geradezu provozieren, weitere Kosten zu produzieren, um dadurch bei ihrer Endkalkulation vertretbare Gewinnmargen zu erreichen. Die Regulierung der Netzentgelte muss deshalb künftig nicht nur unter Berücksichtigung der Kostenkalkulation, sondern auch durch eine im Gesetz zu definierende Anreizregulierung erfolgen. In Ihrer Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrates erklären Sie für die Bundesregierung, dass Sie die Einführung einer Anreizregulierung bei Prüfung der Netznutzungsentgelte in den Gesetzestext aufnehmen wollen. Die Bundesregierung wird, so heißt es, im Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens Vorschläge unterbreiten, die die baldige Einführung der Anreizregulierung ermöglichen. Erfreulich daran ist, dass die Bundesregierung aufgrund der Kritik von CDU und CSU eine Kehrtwende macht. Katastrophal ist jedoch, dass diese Kehrtwende nach Einbringung des Gesetzentwurfs erfolgt und dass Sie heute wieder nichts zur Anreizregulierung gesagt haben. ({2}) Das zeigt doch, dass mit sehr unterschiedlichen Argumenten operiert wird, aber gesetzestechnisch nicht zulässig gearbeitet wird. ({3}) Auf welcher Grundlage soll eigentlich beraten werden? Vor dem Hintergrund dessen, was wir heute wissen, ist der vorliegende Entwurf Makulatur und einer abschließenden Bewertung nicht zugänglich. Angesichts der Bedeutung der Energiewirtschaft für den Standort Deutschland ist dieser Entwurf Ausdruck einer politischen Hilfs- und Konzeptionslosigkeit, wie ich sie lange nicht erlebt habe. Wir können uns eine solche Politik am Standort Deutschland im Interesse Hunderttausender Arbeitsplätze nicht länger erlauben. Die Bundesregierung ist daher aufzufordern, ihre neuen Überlegungen unverzüglich in Gesetzesform zu präsentieren, damit eine ordnungsgemäße Beratung durch den Deutschen Bundestag und seine Ausschüsse überhaupt möglich wird. Wer glaubt, durch Entflechtung und Regulierung von Netzzugang und Netzentgelten werde automatisch für eine Kostensenkung bei den Energiepreisen gesorgt, der irrt ebenfalls gewaltig. Natürlich ist Entflechtung unbedingt notwendig, um Wettbewerb im Bereich des Netzes möglich zu machen. Andererseits werden durch diese Entflechtung Unternehmensstrukturen verändert und Synergien, die erfolgreich erzielt wurden, aufgehoben. Die Folgen hiervon können höhere Kosten und damit ein Anstieg von Netznutzungsentgelten sein. Ein weiterer Anstieg wird auch durch die von der Regierung geplante Kostentragungspflicht erfolgen. Die Kosten der Regulierungsbehörde sollen den beaufsichtigten Unternehmen im Wege einer Sonderabgabe auferlegt werden. Dies ist ein klassisch falscher Weg angesichts der Höhe der Energiekosten in Deutschland. ({4}) Neben verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen Bedenken vor allem dagegen, dass die Regulierungsbehörde ihre Kosten selbst festsetzt - das muss man sich einmal vorstellen! - und dann von den Netzbetreibern erhebt. ({5}) Dies weckt Begehrlichkeiten, sodass selbst ein schlank gestarteter Regulierer über die Jahre schwerfällig und träge werden kann. Mit der Union ist das nicht zu machen. Das ist systemwidrig, ordnungspolitisch falsch und verfassungsrechtlich problematisch. ({6}) Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass über § 32 Abs. 2 des EnWG-Entwurfs - Art. 1 des Regierungsentwurfs - heimlich ein Verbandsklagerecht aufgenommen worden ist. Die Einführung der Verbandsklage unter anderem durch Verbraucherschutzverbände wird dazu führen, dass die Gerichte zunehmend zum Ersatzregulierer werden. Im Ergebnis werden die Gerichte - und nicht der Regulierer - die Netzentgelte festsetzen. Damit wird die Unsicherheit in der Energiewirtschaft weiter geschürt. Dass die Gerichte aufgrund der Unfähigkeit des Gesetzgebers zu klarer Formulierung nun auch im Bereich des Energiewirtschaftsrechts zum Ersatzgesetzgeber werden, kann vom Deutschen Bundestag doch nicht ernsthaft gewollt sein. ({7}) Ich warne davor, durch den Verzicht auf klare Regelungen und den Einbau von Verbandsklagebefugnissen die Gerichte an die Stelle des staatlichen Regulierers zu setzen. Dass der Bundesgerichtshof zum Hauptregulierer des Energiewirtschaftsrechts wird, wäre ein folgenschwerer Fehler. Mit dem vorgelegten Entwurf zur Novellierung des Energiewirtschaftsrechts hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht, Herr Minister. Einem solchen Gesetzentwurf können wir unsere Zustimmung nicht geben. Die Bundesregierung ist vielmehr aufzufordern, die Tatbestände, um die es geht, im Gesetz und nicht in einer Fülle von nicht prüfbaren Verordnungen konkret zu regeln, um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Wir können es uns in Deutschland nicht länger erlauben, die Handlungsfreiheit der Energiewirtschaft ohne einen klaren Ordnungsrahmen zu beschränken. Eine solche Politik schadet der Wirtschaft, der Umwelt und den Verbrauchern. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine Damen und Herren! Herr Bietmann, ich fand Ihre Rede, ehrlich gesagt, ein bisschen albern. Der Gipfel der Albernheit war Ihre Aufforderung an die Bundesregierung, jetzt zügig Änderungsvorschläge vorzulegen. ({0}) Es ist so selbstverständlich, dass das jetzt gemacht wird, dass wir also die Vorschläge bald auf den Tisch bekommen und sie im Zuge des parlamentarischen Beratungsverfahrens einarbeiten, dass eine Aufforderung dazu wirklich ziemlich albern ist. ({1}) Wir brauchen mehr Wettbewerb im Energiebereich. Wir brauchen ihn, weil das Netz ein natürliches Monopol ist und deswegen die Tendenz vorherrscht, dass die Durchleitungspreise zu hoch sind. Deshalb brauchen wir eine neue Behörde, die als starker Schiedsrichter hinschaut und die Interessen der Verbraucher und der Industrie vertritt. Wir brauchen mehr Wettbewerb im Energiebereich, weil wir eine Phase vor uns haben, in der die Hälfte der Kraftwerkskapazitäten in Deutschland ersetzt werden muss. Die Voraussetzung dafür, dass in Deutschland investiert wird, und zwar nicht nur von den vier Großen, sondern auch von ausländischen Investoren oder von anderen Industrieunternehmen, ist natürlich der freie Zugang zu den Netzen und die Möglichkeit, zu fairen und gerechten Preisen durchzuleiten. Wir brauchen auch Wettbewerb im Gasbereich. Wenn wir die Abhängigkeit von Russland und Norwegen reduzieren wollen und perspektivisch auch auf LNG setzen wollen, dann muss der freie Zugang zu den Gasnetzen gewährleistet sein. Das ist die beste Voraussetzung, um bei den Möglichkeiten der Gasbeschaffung zu diversifizieren. Nachdem wir gesehen haben, dass die Verbändevereinbarung gescheitert ist, war es längst überfällig, jetzt den Paradigmenwechsel vorzunehmen, eine Wettbewerbsbehörde als starken Schiedsrichter einzuführen, das Marktgeschehen zu fördern und das Unbundling noch deutlich zu verschärfen. Natürlich müssen wir den Gesetzentwurf nach der Gegenäußerung der Bundesregierung weiter entwickeln. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren auch tun. Der Entwurf ist, glaube ich, die richtige Antwort der Bundesregierung auf die zurückliegenden Ereignisse gewesen. Die Stromkonzerne wollten das Vakuum ausnutzen. Sie haben die Preise deutlich erhöht. Sie waren nicht bereit, zu warten, bis ein Regulierer tatsächlich kontrollieren kann, ob die Preiserhöhung gerechtfertigt ist. Deswegen ist der Weg richtig, der jetzt gegangen wird. Es wird eine nachträgliche Kontrolle stattfinden. Für jede Preiserhöhung wird eine Ex-anteGenehmigung notwendig. In zwei Jahren wird es eine Anreizregulierung, wahrscheinlich mit flächendeckender Ex-ante-Genehmigung, geben. Dieser Weg ist gut und richtig. ({2}) Ich warne davor, jetzt sozusagen zu radikalisieren und zu fordern, man wolle sofort eine Anreizregulierung. Es ist, wie ich glaube, völlig richtig, der Wettbewerbsbehörde zunächst einmal zwei Jahre Zeit zu geben, um die entsprechenden Methoden zu entwickeln. Niemand, weder die FDP noch die CDU noch die Länder bzw. der Bundesrat, kann ein konsistentes Konzept einer Anreizregulierung vorlegen, wodurch sichergestellt wird, dass einerseits die Netze effizient betrieben werden und nicht die durchschnittliche, sondern die effizienteste Nutzung den Maßstab darstellt, und andererseits nicht überzogen wird, sondern genug Spielraum gelassen wird, damit weiter investiert wird. Hier muss man punktgenau landen. Das ist die Herausforderung bei der Umsetzung des Konzeptes einer Anreizregulierung. ({3}) Da reicht es nicht, einfach Schlagworte in den Raum zu werfen. Die neu zu schaffende Behörde, die auf tolle Fachleute zurückgreifen kann - das zeigt sich schon jetzt anhand der Bewerbungslage -, ist genau der richtige Ort, um in Gesprächen mit der Wirtschaft, der Industrie und den Verbraucherverbänden eine Anreizregulierung zu entwickeln. Stichwort Verbraucher: Ich verstehe die Haltung der Opposition in diesem Punkt nicht. Während der Verhandlungen über die Verbändevereinbarung saßen die Verbraucher am Katzentisch und hatten kaum Einfluss. Das hatte zur Folge, dass sich für die Verbraucher am wenigsten Vorteile durch den Wettbewerb ergeben haben. Jetzt besteht die Chance, dass mit der Einrichtung einer Wettbewerbsbehörde tatsächlich auch ein Anwalt der Verbraucherinteressen installiert wird. Deswegen verstehe ich überhaupt nicht, warum die B-Länder im Bundesrat das Ziel Verbraucherschutz aus § 1 streichen wollen. Ich verstehe auch nicht, warum Sie die Möglichkeit zur Verbandsklage streichen wollen. Das können wir nicht akzeptieren; da werden wir nicht mitmachen. Im Zuge des jetzt anstehenden Paradigmenwechsels werden nämlich nicht nur die Großindustrie, sondern auch die Verbraucher ihre Interessen artikulieren können. ({4}) Ich glaube nicht, dass das zu massenhaften Klagen führt. Die Verbraucherverbände und erst recht einzelne Verbraucher haben doch gar nicht das Geld und die Kraft, die Gerichte massenhaft mit Klagen zu überziehen. ({5}) Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt ihnen aber immerhin ein Instrument an die Hand, dann, falls grober Missbrauch vorliegt, Verbraucherinteressen einzufordern. Das halte ich für richtig. Ich finde es besonders gut, dass in der Gegenäußerung angekündigt wird, im Gasmarkt das Entry-ExitModell einzuführen. Damit wäre erstmals Wettbewerb auf dem Gasmarkt möglich. Bislang gibt es dort Wettbewerb nur auf dem Papier. Der damals noch von Rexrodt entwickelte Gesetzentwurf hat ihn in keiner Weise ermöglicht. Die Verbändevereinbarungen sind gescheitert. Das Entry-Exit-Modell ermöglicht auf wirklich unbürokratische Weise Wettbewerb und Handel auf dem Gasmarkt. Seine Umsetzung wäre ein wichtiger und ganz entscheidender Schritt. Selbstverständlich werden die Verordnungen noch rechtzeitig kommen. Eine Gasverordnung befindet sich in der Endphase der Diskussion, die zweite ist in Arbeit. Wir werden das vorliegende Gesetz nicht eher abschließend beraten, bevor diese Verordnungen vorliegen; da bin ich mir hundertprozentig sicher. Wir werden in unsere Beratungen alle Verordnungen, die zu Strom- und Gas wie die Zugangs- und Entgeltverordnungen, einbeziehen. Ich kann überhaupt nicht sehen, wieso wir als Parlamentarier da vor der Tür stehen sollten. Vielleicht noch ein paar Worte zum Thema Kostentragungspflicht. Der von uns eingeschlagene Weg ist, wie ich denke, aus zwei Gründen der richtige: Erstens verfahren wir mit Zustimmung des Bundesrates auch so bei der TKG-Novelle; zweitens ist das auch die übliche Art, wie Verfahren der BaFin finanziert werden. Eine andere Möglichkeit wäre es, jeden einzelnen Vorgang vonseiten der Behörde gegenüber der Industrie abzurechnen. Es müsste also eine Gebührenordnung aufgestellt werden. Dadurch entstünde ein ungeheurer bürokratischer Moloch. Auch das muss man sehen. Deshalb glaube ich, dass es völlig richtig ist, den unbürokratischeren Weg zu wählen und das Ganze durch die Industrie finanzieren zu lassen. Wir als grüne Fraktion werden diesen Gesetzentwurf jetzt intensiv beraten und eigene Änderungsvorschläge unter Berücksichtigung der Gegenäußerung auf den Tisch legen. Aber die grobe Richtung, die Grundrichtung begrüßen wir außerordentlich. Ich hoffe, dass sich in der Opposition noch einiges tun wird. Ich glaube, dass ein wirklich fairer Vorschlag vorliegt, mit dem eine Einigung erzielt werden kann. Spätestens im Vermittlungsausschuss werden wir eine Einigung erreichen. Im Sinne einer sehr zeitigen Einführung einer Wettbewerbsbehörde aber wäre es gut, wenn wir uns schon im Bundestag auf gemeinsame Änderungsvorschläge - Anreizregulierung, Ex-ante-Regulierung usw. - verständigen könnten. Das wäre eine hervorragende Vorarbeit für eine Verständigung mit den Bundesländern. Ich hoffe, dass dieses Gesetz jetzt nicht in parteipolitischem Geplänkel verbraten wird, sondern wir eine sachliche Beratung haben werden. Ich hoffe, dass hier nicht polarisiert wird, denn wir sind uns in diesem Bereich doch eigentlich sehr nahe. Es gibt einen einzigen Punkt - Herr Minister Clement hat ihn angesprochen -, bei dem es noch keine Annährung gibt, und zwar bei dem Thema der Verantwortung von Bund und Ländern. Darüber sollten die Bundesländer und auch die CDU/ CSU noch einmal nachdenken. Ich weiß, dass die FDP da eine andere Position vertritt, nämlich dass die Verantwortung beim Bund liegen sollte. Aber die CDU/CSUOpposition sollte sich ihre Haltung noch einmal überlegen; denn man kann sich in der Föderalismuskommission nicht einig sein, dass man Mischverantwortung in Zukunft verhindern will, aber beim nächsten Gesetz genau das Gegenteil tun. ({6}) Wir haben in der Föderalismuskommission festgestellt, dass Mischverantwortung zu mehr Bürokratie und ungleichen Bedingungen im Markt führt. Das ist für die deutsche Wirtschaft nicht zuträglich. Deswegen sollten wir, wenn wir jetzt ein neues System einführen, die Chance für Veränderungen nutzen und zeigen, dass wir aus unseren eigenen Fehlern gelernt haben. Deshalb bitte ich, dass Sie sich das in diesem Bereich noch einmal gut überlegen. Wie gesagt: Ich hoffe, dass wir eine ernsthafte Kompromisssuche aufnehmen. Das würde allen nützen: der Energiewirtschaft, der Industrie, aber auch den Verbrauchern. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir diskutieren heute über das Energiewirtschaftsgesetz. Ich glaube, man kann sagen, dieses Gesetz wird das Grundgesetz für die Energiewirtschaft der Zukunft sein. Wir werden mit diesem Gesetz über Investitionsbereitschaft und -fähigkeit am deutschen Markt und darüber entscheiden, wie sich Energie in Deutschland für Verbraucher und Wirtschaft darstellt. Es handelt sich also um ein insgesamt sehr wichtiges Werk. Liebe Frau Kollegin Hustedt, auch wir als FDP-Bundestagsfraktion legen großen Wert darauf, dass die Verbraucher profitieren. ({0}) Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich darauf, dass durch die von dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt initiierte Liberalisierung auf dem Energiemarkt Liberalisierungsgewinne in Höhe von 7,5 Milliarden Euro erwirtschaftet worden sind. Diese sind inzwischen, wie man so schön sagt, verfrühstückt. Wodurch? In erster Linie durch Lasten, die die rot-grüne Bundesregierung durch Steuern, Abgaben und Umlagen verursacht hat - das macht 41 Prozent des derzeitigen Strompreises aus -, aber auch durch globale Umstände, nämlich durch die hohen Preise für Rohstoffe. Denken Sie nur an die Verdoppelung des Kohlepreises und den enorm gestiegenen Ölpreis. Ein Energiemix aus fossilen Brennstoffen, erneuerbaren Energien und Kernenergie wird also auch in Zukunft notwendig sein. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass wir bei dieser Debatte über das Energiewirtschaftsgesetz über die Netzregulierung und nicht über die Preisregulierung sprechen. Ich glaube, das ist ein sehr entscheidender Unterschied. Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben eben gesagt, Sie seien offen für Änderungsvorschläge. Prima! Ich nenne Ihnen hier sieben Punkte, die für uns als FDP essenziell sind, und bitte Sie, sie bei der weiteren Beratung mit zu berücksichtigen: Erstens. Uns ist wichtig, dass die Brüsseler Vorgaben nicht übererfüllt werden, sondern wir nur das tun, was nötig ist. Wir legen Wert auf eine effiziente, klare, unbürokratische Methodenregulierung, um den Wettbewerb zu stärken. ({1}) Deshalb haben weder die Frage der erneuerbaren Energien noch ausufernde Verbandsklagerechte in diesem neuen Energiewirtschaftsgesetz irgendetwas zu suchen. Wir würden - da hat Herr Bietmann völlig Recht - eine Klageflut bekommen. Das kann nicht im Sinne der Verbraucher und auch nicht im Sinne der gesamten Wirtschaft sein. Wir legen außerdem Wert darauf, dass die Zuständigkeiten für den gesamten Energiebereich beim Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt sind und dass es nicht zu einem Hickhack und zu ideologischen Verbrämungen zwischen dem Umweltministerium und dem Wirtschaftsministerium kommt. Zweitens. Wir legen großen Wert darauf, dass es keine kleinteiligen Einzelgenehmigungen von Netzentgelten ex ante gibt. Denn dadurch würden wir ein riesiges Bürokratiemonstrum aufbauen. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Wir wollen gleichzeitig Anreize schaffen, um künftig effizient und wettbewerbsfähig zu sein. Drittens. Wir legen Wert auf eine konsequente Entflechtung, um künftig bei den Unternehmen Quersubventionierungen zu vermeiden und Transparenz zu schaffen. Viertens. Das gesamte Regulierungsregime bedarf nach unserer Überzeugung schneller als nach einem Zeitraum von drei Jahren eines Monitorings, um gegebenenfalls die Regulierungsregelungen den gemachten Erfahrungen schnellstens anzupassen. ({2}) Fünftens. Auch wir Liberale sagen ganz klar: Die Kosten für die Regulierung können nicht umgelegt werden. Es handelt sich um eine staatliche Aufgabe. Diese staatliche Aufgabe ist aus dem Haushalt zu finanzieren. An dem Personalaufbau, der jetzt stattfindet, kann man erkennen, dass die Regulierungsbehörde völlig freie Hand hat, sich entsprechend zu positionieren und Kosten zu verursachen, ohne dass es eine Kostendeckelung gibt. Wo bleibt da die Kontrolle? Wo bleibt da der Anreiz für die Regulierungsbehörde, kostengünstig und effizient zu arbeiten? Ich finde, dieser Zustand ist nicht akzeptabel. ({3}) Sechstens. In diesem Punkt stimmen wir mit Bundeswirtschaftsminister Clement überein. Herr Minister, es ist richtig, dass die Regulierung bundeseinheitlich erfolgen muss. Es darf keine Splittung der Aufgaben geben. Die Föderalismuskommission müht sich redlich, in kleinen Schritten die Mischzuständigkeiten und die daraus resultierenden Mischfinanzierungen aufzudröseln. Wenn wir aber sofort beim nächsten Gesetz in den alten Fehler verfallen und Mischzuständigkeiten installieren, dann ist das ein falscher Weg, den wir nicht mitgehen werden. ({4}) Siebtens. Herr Minister, es kann nicht sein, dass wir das EnWG diskutieren, ohne die vier wichtigsten Verordnungen auf dem Tisch liegen zu haben. Das ist nicht akzeptabel. Es ist die Rede davon, dass es bis zu 20 oder 25 Verordnungen insgesamt geben wird. Niemand kennt derzeit die genaue Zahl. Um diesen Gesetzentwurf hinsichtlich seiner inhaltlichen Ausrichtung und in Bezug auf seine rechtliche Klarheit wirklich beurteilen zu können - diesen Punkt hat auch Herr Bietmann angesprochen -, müssen wenigstens die vier wichtigsten Verordnungen vorliegen. Ich hoffe, dass Sie hier Druck machen und schnellstens Klarheit schaffen. ({5}) Die FDP-Bundestagsfraktion wird den gesamten Beratungsprozess in den nächsten Wochen kritisch und konstruktiv verfolgen und begleiten. Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, in dem skizziert wird, in welche Richtung wir gehen möchten. Wir setzen darauf, dass Sie zügig, aber doch mit großer Sorgfalt die Beratungen durchführen - wir haben schon in Kürze die erste Anhörung - und dass wir recht bald diesen Prozess abschließen können. Eigentlich hätte diese Regulierung schon am 1. Juli dieses Jahres in Kraft sein müssen. Wir sind also in Verzug. Ich möchte noch einen Punkt erwähnen, der auch von einigen Kollegen angesprochen wurde. Die Ankündigungen von großen Energieunternehmen am Standort Deutschland, die Preise zu erhöhen, werden derzeit vom Bundeskartellamt geprüft. Das Bundeskartellamt wird uns recht bald sagen, ob es der Meinung ist, dass die zusätzlichen staatlichen Belastungen der Energiepreise, die Sie als rot-grüne Bundesregierung verursacht haben, tatsächlich berechtigt sind. Dann wollen wir einmal sehen, wie sich die Preisdebatte hier darstellt. Ich glaube, es hat viel Wind um wenig wirkliche Substanz gegeben. Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Sehen Sie zu, dass Sie den Verbrauchern und der Wirtschaft nicht immer wieder neue Lasten auferlegen, und versuchen Sie, sich zu bescheiden und nicht immer mehr Kosten- und Bürokratielasten aufzubauen! Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen es sehr, dass die Bundesregierung hier eine, wie wir finden, sehr gute Grundlage geschaffen hat. Herr Bietmann, es passt irgendwie nicht ganz zusammen, wenn man am Anfang sagt, durch die Gegenäußerung der Bundesregierung sei eine Wende zum Besseren erreicht, und das Ganze anschließend als Katastrophe bezeichnet. Ich finde, man sollte bei einer so wichtigen Entscheidung auch sprachlich ein bisschen abrüsten und etwas sauberer in der Argumentation sein. ({0}) Nur das eine oder das andere geht; beides passt nicht zusammen. Ich finde, dass das Angebot der Bundesregierung, möglichst offen und konsensual eine so entscheidende Frage wie die der künftigen Energiepolitik zu bearbeiten, sehr gut ist, dass wir daher in der Sache diskutieren und keinen Popanz aufbauen sollten. Dazu gehört aus meiner Sicht auch folgende Frage - das erkläre ich noch einmal für die SPD -: Wir werden natürlich darauf dringen, dass es bei den Verordnungen kein Ausweichen gibt, sondern dass das Parlament vollständig einbezogen wird, notfalls auch durch eine Zustimmung des Parlaments in Form eines Artikelgesetzes oder wie auch immer. Auf jeden Fall müssen die Verordnungen politisch abgesegnet werden. Das ist übrigens im Interesse der Bundesregierung ebenso wie im Interesse der anschließenden Rechtssicherheit durch diese Verordnungen. ({1}) Insofern sehe ich auch darin kein zentrales Problem. Ganz im Gegenteil: Da sind wir auf einem guten Weg. Man muss sagen - deswegen wäre ich mit Kritik etwas vorsichtig -, dass das, was wir heute korrigieren, natürlich auch Ausdruck dessen ist, dass man im Energiewirtschaftsgesetz von 1998 bewusst auf eine Wettbewerbs- bzw. Regulierungsbehörde verzichtet hat. Mich wundern manche Aussagen von Leuten, die sich jetzt ganz besonders für einen Regulator einsetzen, die man aber in der Vergangenheit immer nur als Bremser erlebt hat. Bringen Sie also bitte nicht zu viel politischen Opportunismus ein! Vielmehr sollten wir jetzt gemeinsam ver12408 Michael Müller ({2}) suchen, eine vernünftige, sachgerechte Form der Regulierung zu finden. Denn Tatsache, Frau Kopp, ist auch, dass das, was nach 1998 passiert ist, mit Wettbewerb teilweise wenig zu tun gehabt hat. Das war ein enormer Verdrängungswettbewerb im Sinne einer unglaublichen Konzentration in Teilbereichen, aber nicht das, was man unter einem vernünftigen funktionsfähigen Wettbewerb verstehen musste. Ganz im Gegenteil! ({3}) Damals ist aus meiner Sicht das Fundament für einen Teil der Probleme, die wir heute haben, gelegt worden; denn wir haben keinen vernünftigen Übergang von den Gebietsmonopolen in einen funktionierenden Wettbewerb geschaffen, sondern im Gegenteil eher einen Unternehmenswettbewerb initiiert. Die Wettbewerbsbehörde hat aus unserer Sicht an erster Stelle das Ziel, große Transparenz und mehr Sauberkeit in der Preisbildung zu schaffen. Natürlich muss vor allem die Verbraucherseite gestärkt werden. Für uns gehört zu einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnung immer auch die Verbraucherseite. ({4}) Deshalb muss sie auch Rechte haben; sonst funktioniert das nicht. Das kann nicht nur das Recht auf Transparenz sein. Wir finden es beispielsweise sehr interessant, welche Modelle in Großbritannien existieren, zum Beispiel die so genannten Watchdogs. Wir schauen uns das an. Wir sagen zwar nicht, dass wir diese Modelle übernehmen; aber man muss auch für solche Ansätze offen sein, die von vornherein - da hat die Kollegin Hustedt völlig Recht - mehr Seriosität und Kontrolle in den Prozess bringen. Es ist ja ein interessantes Phänomen, dass in all den Ländern, in denen es wie in Deutschland das Instrument der Verbandsklage gibt, die Zahl der Prozesse zurückgegangen ist, weil im Vorfeld viel solider und sorgfältiger abgewogen worden ist. Insofern sollte man keine Angst vor der Demokratie haben. Im Gegenteil: Wir begrüßen das. Einer der wichtigen Punkte ist auch die Auseinandersetzung um Ex-post- und Ex-ante-Regelungen. Unabhängig davon, dass natürlich erhebliche Unterschiede im Vorgehen bestehen, ist für uns trotzdem das Entscheidende, dass die Instrumente selbst sehr wirksam sind. Jeder muss wissen - wir alle unterstützen das -, dass eine Ex-ante-Regelung natürlich nicht mit einer absolut schlanken Verwaltung zu machen ist. Sie muss vielmehr entsprechend qualifiziert ausgerüstet werden - und das besonders dann, wenn sie schnell agieren soll. Eine Exante-Regelung bedeutet in der Konsequenz also auch eine gewisse Weichenstellung für das Personal. Eine schlecht besetzte Regulierungsbehörde wird nicht ausreichen. Aus meiner Sicht passt es nicht zusammen, auf der einen Seite immer Steuersenkungen zu fordern und auf der anderen Seite die Kosten solcher Aufgaben, die im Grunde genommen im Interesse sowohl der Allgemeinheit als auch der Wirtschaft liegen, dem Staat zu übertragen. Dies werden wir nicht akzeptieren, weil es nicht in Ordnung ist. ({5}) Meine Damen und Herren, wichtig ist im Hinblick auf die Transparenz vor allem, dass etwas aufhört, was schon heute ein großes Problem ist: dass vielfach nicht klar ist, ob in die Preisbildung für Strom die Kosten für die Kraft-Wärme-Kopplung, für erneuerbare Energien usw. eingerechnet werden. Wir verhehlen nicht, dass wir bei manchen Unterschieden in der Strompreisbildung den Eindruck haben, dass recht lasch operiert wird und Kosten eingerechnet werden, die dort eigentlich nicht hineingehören. Dies beenden wir aus gemeinsamem Interesse; in diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass die Änderung des EEG von einer sehr viel größeren Mehrheit als der der Regierungsfraktionen beschlossen wird. Wir müssen diese Klarheit haben, damit bei der Preisbildung nicht getrickst wird. Damit wird auch etwas beendet, was heute aus meiner Sicht nicht sauber ist: dass man Kosten anlastet, bei denen zumindest ein Fragezeichen angebracht ist, ob sie gerechtfertigt sind. ({6}) Wir halten es für außerordentlich richtig, dass es eine bundesstaatliche Regelung gibt. Teilweise war die Exante-Forderung eine Forderung einiger Länder, die weniger etwas mit der Ex-ante-Position selber als vielmehr mit der Verlagerung der Zuständigkeit auf Landesebene zu tun hatte. Wir halten eine solche Regelung für falsch; denn wir brauchen gerade angesichts der Entwicklung auf den Energiemärkten eine starke Bundesbehörde. Dies ist gewährleistet. Insoweit ist die bundesstaatliche Regelung für uns einer der unverzichtbaren Eckpunkte. Bei dieser Regelung werden wir keine Veränderung vornehmen; auch wissen wir, wie wir sie im Zweifelsfall durchsetzen können. Regulierung und Wettbewerb allein machen noch keine Energiepolitik aus. Es wäre eine Illusion, zu glauben, dass wir mit einer Regulierung, die lediglich Preissenkungsmechanismen im Auge hat, Energiepolitik machen könnten, so wichtig dies auch ist. Einen Dumpingwettbewerb werden wir nicht mitmachen. Natürlich müssen in den Preisbildungen auch Aspekte wie Umweltschutz, Versorgungssicherheit und frühzeitige Innovationsfähigkeit enthalten sein. Von daher wird es nicht nur einen Wettbewerb bei den Preisen nach unten geben. Vielmehr müssen wir eine qualifizierte und nachhaltige Energiepolitik betreiben, die ihren Preis hat. Es geht uns um eine saubere Preisbildung, aber nicht darum, dass Energie auf jeden Fall billig sein muss. Dies widerspräche einer verantwortungsbewussten Energiepolitik. Wir werden alles tun, um Preiseffizienz zu erreichen; aber es wird keine Billiger-Jakob-Lösung geben können. Dies gilt auch für die Wettbewerbsbehörde. ({7}) Meine Damen und Herren, das Dreistufenmodell, das jetzt entwickelt worden ist, ist aus unserer Sicht gut. Hier Michael Müller ({8}) wird im Übrigen, Frau Kopp, die Frage des Monitorings im Verfahren selbst gelöst. Die erste Stufe sieht vor, dass Unternehmen, die die Preise bereits erhöht haben, von der Regulierungsbehörde mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet werden. Im Zentrum der zweiten Stufe soll eine Ex-ante-Prüfung stehen. Die dritte Stufe enthält Anreizmechanismen. Damit sind Prozesse ständigen Lernens und ständigen Monitorings gewährleistet, da wir eine Anreizregulierung nur erreichen werden, wenn wir die Prozesse permanent auswerten, auf ihre Wirkungen hin kontrollieren und effizienter machen. Insofern ist Ihrer Forderung nach mehr Monitoring aus dem Prozess heraus Rechnung getragen. Dies ist auch einer der wesentlichen Punkte, warum wir in der Frage der Verordnungen offen sind. Als Parlament können wir immer dann Verbesserungen vornehmen, wenn es notwendig ist. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz werden wir das nachvollziehen, was wir zugegebenermaßen früher hätten tun können. Allerdings besteht hier kein Anlass zu Rechthaberei. In der Vergangenheit wollten relativ wenige Mitglieder dieses Hauses eine Wettbewerbsund Regulierungsbehörde haben; lange Zeit waren sie in der Minderheit. Dass wir jetzt diese Einigkeit erreichen, soll gar nicht im Nachhinein kritisiert werden. Es ist ein guter Schritt hin zu eine leistungsfähigen Energiepolitik, die nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch und technologiepolitisch für uns wichtig ist. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/ CSU-Fraktion.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Müller, Sie haben den Kollegen Bietmann aufgefordert, sprachlich abzurüsten. Frau Hustedt hat sich in geradezu absurde Formulierungen verstiegen. Wenn Sie es für richtig halten, Solidarität und Zusammenarbeit mit Koalition und Regierung einzufordern, dann sollten Sie sich nicht gleichzeitig über Sprache aufregen und mit Kritik an der Opposition alles andere als sparsam umgehen. 1998 haben wir als CDU/CSU-FDP-Koalition gegen den Widerstand der heutigen Koalition den neunten Anlauf gemacht, aus den Monopolen auszubrechen. Die Monopole waren der Hauptgrund der Kritik der linken Seite. Wir haben mit der Einführung des Wettbewerbs sowohl auf europäischer Ebene wie in Deutschland Fakten geschaffen. ({0}) Wenn Sie von der SPD-Fraktion sich darüber unterhalten, auf welcher Seite des Hauses die Befürworter des Wettbewerbs gesessen haben, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns heute Abend mitteilen würden, ob sich die Verfassungsklage, die Sie damals zur Erhaltung des kommunalen Monopols eingereicht haben, erledigt hat. Ich könnte Ihnen ein paar Sätze aus der Begründung des Gesetzentwurfes der SPD vorlesen, in denen es um die Finanzierung von Bädern, Kindergärten und Straßenbahnen geht. ({1}) Es ist nicht in Ordnung, sich jetzt zum Hüter des Wettbewerbs zu erklären, während die Verfassungsklage zum kommunalen Monopol immer noch in Karlsruhe liegt. Erst im Frühjahr war wieder eine Anhörung. ({2}) Aber vielleicht haben Sie das ja inzwischen zurückgezogen. Sie sprechen von kleinen und großen Verbrauchern, von Konzernen, Monopolisten und Oligarchen. Ich will Sie nur daran erinnern, dass diese Koalition die größte Fusion in diesem Lande genehmigt hat, nämlich die von Eon und Ruhrgas. ({3}) Sie sollten sich an dieser Stelle nicht allzu sehr als Konzentrationsverhinderer aufspielen. Das ist vollkommen unangemessen. Genauso unangemessen war es - das sage ich nicht nur in Richtung Koalition, sondern durchaus auch einigen Leuten aus unseren Reihen -, wie Herr Kurth vor einem Jahr auf die Bühne sprang und sich als Regulierer vorstellte. In seiner letzten Pressekonferenz hat er gesagt, die Erwartung, dass mit ihm die Preise sänken, sei vollkommen falsch. Das ist ein Versuch, sich rechtzeitig dem politischen Druck zu entziehen, den eine Reihe von Menschen, die in diesem Lande politische Verantwortung tragen, dadurch erzeugt haben, dass sie aus dem Netzzugangsregulierer einen Preisregulierer und Preisgenehmiger gemacht haben, jedenfalls verbal. Ich gebe zu, dass der Regulierer vielleicht schon früher hätte eingesetzt werden können. Ich persönlich hatte dazu eine andere Meinung; aber das ist eine andere Frage. Aber der Regulierer ist nur für ein Drittel des Energiepreises zuständig. ({4}) Der Rest unterliegt nicht der Regulierung. ({5}) Erwecken Sie - das sage ich auch einigen aus unseren eigenen Reihen - doch draußen nicht den Eindruck, wir bräuchten nur einen Regulierer; dann sänken die Preise ab morgen. Sie haben im Übrigen eine interessante Bemerkung dazu gemacht, was man alles bei den Preisen berücksichtigen müsse. Ich könnte auch die Frage diskutieren, ob sich nicht diejenigen zu Preishütern und Verbraucherschützern machen, die - Frau Kopp hat das hier schon angesprochen - mit der Ökosteuer manche Preiserhöhung gewollt haben. ({6}) Sie sind doch diejenigen, die in der generellen politischen Debatte die Auffassung vertreten, Energie müsse teurer werden, damit die Leute draußen Energie sparen. Es sind doch nicht wir, die diese These vertreten. ({7}) Deswegen glaube ich, dass Sie in der Frage der Preise - so wie Frau Hustedt das hier dargestellt hat und so wie Sie das dargestellt haben - ganz vorsichtig sein sollten. Herr Müller, Sie haben Großbritannien angesprochen. Wenn Sie sich die Entwicklung in Großbritannien angeschaut haben, dann konnten Sie beobachten, dass das Nichtvorhandensein einer Öl-Gas-Preisbindung dazu geführt hat, dass das Gas in Großbritannien mittlerweile 80 Prozent teurer ist als im letzten Jahr. Die britische Regulierungsbehörde Ofgem konnte diesen Preisanstieg nicht mehr aufhalten. Sie hat am Anfang den Fehler gemacht, zu sagen: Niedrige Preise sind die richtige Regulierung. Sie ist in den Fragen der Infrastruktur, des Substanzerhalts und der Versorgungssicherheit gescheitert. Jetzt will die Ofgem offensichtlich einen europäischen Regulierer. Herr Minister, wir können sicherlich noch lange über die Frage der Zuständigkeit von Bund und Ländern diskutieren. Wir wollen aber nicht - ich bitte Sie, dies in Brüssel rechtzeitig klar zu machen -, dass in Brüssel ein europäischer Regulierer sitzt und die nationalen Parlamente dann überhaupt nichts mehr zu sagen haben. ({8}) Ich will noch eine kritische Bemerkung machen. Sie haben für sich in Anspruch genommen - von der Sache her kann man das auch -, ein komplexes und anspruchsvolles Gesetzeswerk vorzulegen. Wir als Opposition haben Anfang dieses Jahres aber erlebt, wie der Zeitplan der Europäischen Kommission für den Emissionshandel sklavisch umgesetzt wurde, unter Vernachlässigung des Rechts des Parlaments auf eine geordnete Beratung des Emissionshandels. Das Gesetz zum Emissionshandel war für die Frage der Energiepreise in Deutschland mindestens so wichtig wie das, was Sie jetzt vorlegen. ({9}) Damals haben Sie unsere Mitspracherechte beschnitten. Deswegen denke ich, dass wir die Verordnungen vorgelegt bekommen sollten, und zwar mit den möglicherweise bestehenden Einwendungen. Wir können nicht noch einmal von uns aus die Verordnungen den gleichen Anhörungen unterziehen, wie Sie das jetzt im Ministerium machen; das kann ein Parlament im Grunde genommen nicht leisten. Wir sollten uns also über ein Verfahren verständigen, wie die Fraktionen den Entwurf der Verordnungen mit den wichtigsten Einwendungen bekommen, damit wir Ihren Meinungsbildungsprozess nachvollziehen können. ({10}) Ich sage das ausdrücklich, weil ich glaube, dass die Erfahrung zeigt - auch in der Debatte draußen wird das so gesehen -, dass aus Ihrem Haus - ich sage das jetzt ohne Vorwurf; das ist manchmal das Wesen von Gesetzen - immer unterschiedliche Interpretationen zu dem, was aufgeschrieben worden ist, kommen. Wir würden schon gerne wissen, welche Interpretation denn am Schluss gilt und was die Verordnungen wirklich bedeuten. Wir können die Wirkung des Gesetzestextes ohne diese Interpretation nicht beurteilen. Von daher denke ich, dass wir uns in der Frage, wie wir mit den Verordnungen umgehen, verständigen sollten. Ich möchte noch gerne einen Hinweis auf die Debatte geben, die wir in Deutschland führen. Es ist geradezu absurd, dass wir wieder eine eher stromorientierte Debatte führen, obwohl dieses Gesetz auch für den Gasbereich gilt. Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, dass wir eigentlich nur über Elektrizität reden. Ich glaube daher, dass wir einen zweiten Punkt mit in die Debatte einbeziehen sollten. Hier sind Wettbewerb, Demokratie und Transparenz mit der Verbandsklage begründet worden. Ich will Ihnen einmal sagen: Das Unbundling ist als wettbewerbsgestaltendes Element viel griffiger und viel deutlicher als das, was Sie mit der Verbandsklage überhaupt erreichen können. Deswegen bedaure ich, dass wir uns über die Frage des Unbundlings als wettbewerbsgestaltendes Element nicht so ausgiebig unterhalten haben. Ich habe damit nicht gesagt - damit da kein falscher Eindruck entsteht -, man müsste das, was die EU macht, noch verschärfen. Ich sage nur: Die Bedeutung des Unbundlings für die Gestaltung des Wettbewerbs ist mir in der Debatte draußen viel zu kurz gekommen. ({11}) Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Herr Müller hat schon darauf hingewiesen, dass in Preisen auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beinhaltet sein müssen. Da kann ich Ihnen zustimmen. Aber wir regulieren nur das Netz, nicht die Forschungsausgaben. ({12}) Ich habe heute in der „Zeit“ etwas gefunden, was die Koalition, zumindest aber die Grünen, unglaublich glaubwürdig macht; denn Sie haben in den letzten Wochen einen bestimmten Eindruck erweckt. Meine Mitstreiterin Michaele Hustedt hat auf einer Veranstaltung gesagt, dass die Energiepreise um 25 Prozent sinken werden. ({13}) - Das war im Juni letzten Jahres auf dem EBC, wo wir zusammen mit Rolf Hempelmann waren. Dort haben Sie das stolz angekündigt. ({14}) Wir waren unabhängig voneinander eingeladen. Als ich heute die „Zeit“ vom 28. Oktober dieses Jahres zur Hand genommen habe, habe ich gesehen, dass diejenigen, die hier darüber reden, dass die Position des Verbrauchers gestärkt werden muss und dass mit Blick auf den Standort Deutschland die Preise gesenkt werden müssen, ({15}) gemeinsam mit prominenten Beteiligten wie Herrn Loske und Herrn Bütikofer den Plan verfolgen, die Steuern auf Heizöl jährlich um 2 Cent pro Liter und die Steuern auf Kraftstoffe um 3 bis 5 Cent pro Liter zu erhöhen. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. ({0})

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren von den Grünen, ich will Ihnen nur eines sagen: Sich hier zum Hüter des Verbrauchers und zum Anwalt des kleinen Mannes zu machen und gleichzeitig die nächste Erhöhung der Ökosteuer zu planen, das ist an Chuzpe nicht mehr zu überbieten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Loske das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eigentlich ist es überflüssig, zumal ich Ihrer Rede nicht gefolgt bin. Aber die Wahrheit sollte schon auf den Tisch. Die Wahrheit ist, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, im Jahre 2004 zu überprüfen, wie wir die ökologische Steuerreform weiterentwickeln. ({0}) Zu diesem Zweck ziehen wir jetzt den bundesweit verfügbaren Sachverstand zusammen und besprechen dieses Vorhaben mit Experten. Ansonsten haben wir überhaupt keine Festlegungen getroffen. Herr Grill verwechselt da wieder etwas, weil er nicht genau hinguckt. In dem Artikel, den auch ich eben erst gelesen habe, wird darauf hingewiesen, dass der Förderverein Ökologische Steuerreform seinerseits ein Konzept vorgelegt hat. Vertreter des Fördervereins Ökologische Steuerreform sind natürlich auch bei den Treffen zu Gast, auf denen wir die Experten konsultieren. Ich glaube, das Hinzuziehen von Sachverstand hat einer Sache noch nie geschadet. Ich möchte Sie bitten, in Zukunft genauer zu lesen und keine Unwahrheiten zu verbreiten. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Grill, Sie können antworten. ({0})

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wofür ich mich entschuldigen muss. ({0}) - Herr Kollege Stiegler, ich kann nur sagen, was hier steht. Das wissen Sie genauso gut wie ich. ({1}) - Wenn Sie meine Äußerungen als falsche Anschuldigungen und üble Nachrede betrachten, dann weiß ich nicht, was ich zu manchen Ihrer Äußerungen in der Vergangenheit sagen soll. Das sollten wir lieber lassen. ({2}) Ich werde nie versuchen, Sie zu überbieten, was falsche Anschuldigungen betrifft. Das können Sie mir glauben. Herr Kollege Loske, zwei Bemerkungen zu Ihnen. Erstens. Ich habe das vorgelesen, was hier geschrieben steht: dass Sie offensichtlich einen solchen Plan verfolgen. ({3}) - Ich weiß, was hier steht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, es ist nett, dass Sie sich so aufregen. Zweitens. Lieber Herr Loske, so, wie Sie in der Vergangenheit argumentiert haben, bleibt nur der Schluss, dass Sie die nächste Erhöhung der Ökosteuer planen. Genau das ist der Punkt. Was die Energiepreise betrifft, haben Sie keinerlei Glaubwürdigkeit mehr zu verlieren; denn durch Ihre Steuererhöhungen sind die Energiepreise gestiegen. Sie haben Ihre Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet längst verloren. ({0}) Sie haben den Eindruck erweckt, dass Sie sich im Interesse der Verbraucher für Preissenkungen einsetzen. Sie sind aber diejenigen, die jede Steuererhöhung durchdrücken, um, angeblich im Interesse des Umweltschutzes und des Energiesparens, die Energiepreise nach oben zu treiben. ({1}) Das ist die Wahrheit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kurt-Dieter Grill, dein Auftritt eben hat mich an unsere besten Zeiten in der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung“ erinnert: Konfliktvermeidungsstrategie war nie dein Ding. ({0}) Das ist auch in Ordnung so. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Deine Erinnerung an 1998 mag ja noch begründbar sein mit Verklärungstendenzen, die gelegentlich auftreten können, wenn man weiter in die Vergangenheit zurückblickt. Aber wenn du auch bei dem Jahr 2003 Erinnerungslücken hast, dann wird das doch langsam problematisch. Ich habe nie behauptet, dass Preissenkungsspielräume in diesen Größenordnungen gegeben seien, im Gegenteil. ({1}) Ich bitte dich, meine letzte Plenarrede nachzulesen; das war anlässlich der angekündigten Strompreiserhöhungen und der sehr emotionalisierten öffentlichen Debatte. Darin habe ich nämlich sehr deutlich gemacht, dass mit Preissenkungen in diesen Größenordnungen nicht zu rechnen ist, weil die Netzentgelte eben nur ein Drittel des Gesamtpreises ausmachen und es andere Kostenfaktoren gibt - zum Beispiel bei der Erzeugung, bei den Primärenergiekosten und beim Bau neuer Kraftwerke -, die dafür sprechen, dass es eher Preiserhöhungen geben wird und wir diese durch entsprechendes Vorgehen bei den Netzentgelten bestenfalls teilkompensieren können; da sollte man der Wahrheit durchaus weiterhin die Ehre geben. Ansonsten möchte ich eigentlich positiv beginnen - so hatte ich mir das jedenfalls vorgenommen - und erst einmal deutlich machen, dass ich mich freue, dass sich nach - man darf sagen - durchaus schwierigen Verhandlungen in einer nun einmal wichtigen Materie die Ressorts der Bundesregierung auf eine Entgegnung auf den Bundesrat und auch auf die beiden Stromverordnungen verständigt haben. Ich denke, die Zusage des Bundeswirtschaftsministers ist hier heute verstanden worden: dass wir zügig mit den Gasverordnungen rechnen können. Nehmen Sie von der Opposition einfach zur Kenntnis, was Michael Müller gesagt hat: Wir legen Wert darauf - übrigens haben wir den Minister diesbezüglich schon angeschrieben -, dass wir als Bundestag diese Verordnungen nicht nur rechtzeitig zu sehen bekommen, sondern dass sie letztlich unserer Zustimmung unterliegen. Eine Variante wäre das Artikelgesetz, das Michael Müller als Möglichkeit in den Raum gestellt hat. Wir haben da gemeinsame Interessen und deswegen sollten wir Unterschiedlichkeiten nicht an Stellen provozieren, wo sie überhaupt nicht bestehen. ({2}) Meine Damen und Herren, drei Dinge sind es, auf die man sich geeinigt hat, und in allen drei Dingen ist man damit Positionen des Bundesrates entgegengekommen. Das Erste ist die Frage, wie diejenigen Erhöhungen zu behandeln sind, die seit dem 1. August 2004 stattgefunden haben bzw. bis In-Kraft-Treten des Gesetzes stattfinden werden. Da soll es ein nachträgliches Missbrauchsverfahren geben. Meine herzliche Bitte ist nur, dass man darauf achtet, es so auszugestalten, dass möglichst wenig Doppelprüfungen stattfinden, für die der Verbraucher letztlich wenig Verständnis haben wird; denn auch so etwas produziert Kosten. Ich denke, darüber können wir uns relativ leicht einigen. Das Zweite ist eine umfassende Ex-ante-Kontrolle aller künftigen Netzentgelterhöhungen. Das war ein ausdrücklicher Wunsch des Bundesrates, auch von Ländern mit FDP-Regierungsbeteiligung, Frau Kopp; insofern sollte man auch das nicht zum Streitpunkt machen. Wichtig ist natürlich, dass man diese Kontrollen so ausgestaltet, dass sie letztlich nicht Personalanforderungen mit sich bringen, die wir uns bei einer schlanken Behörde nicht wünschen, dass die Genehmigungsverfahren aber trotzdem zügig abgearbeitet werden können. Klar ist aber auch - das muss der Bundesrat dann schon akzeptieren -: Das wird natürlich nicht zu weniger Personal führen, als nach den bisherigen Planungen vorgesehen ist. Wer ex ante will und wer jetzt ex ante bekommt, der muss auch akzeptieren, dass das einen gewissen Personalaufwand impliziert. Das Dritte, auf das man sich verständigt hat, ist die Anreizregulierung. Das ist eigentlich das, worüber wir uns in nächster Zeit ganz besonders unterhalten sollten, auch wenn klar ist, dass diese Anreizregulierung erst zwei Jahre nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes greifen soll. Ich glaube, wir müssen uns jetzt darum kümmern, dass der Regulierer einen sehr klaren und präzisierten Auftrag mit auf den Weg bekommt, aus dem hervorgeht, wie wir uns diese Anreizregulierung grundsätzlich vorstellen und insbesondere welche Ziele wir mit einer Anreizregulierung verbinden. Es muss klar sein, dass Anreize nicht nur gesetzt werden können, damit Kosten und am Ende dann eben auch Preise, also Netznutzungsentgelte, gesenkt werden. Genauso klar muss sein, dass wir die Anreize durchaus auch wollen, damit weiterhin Investitionen getätigt werden. Das sind nun einmal auch Kosten. Wenn die Anreize falsch gesetzt werden, dann werden auch diese Kosten gestrichen. Das kann natürlich überhaupt nicht unsere Intention sein. Das heißt, der Regulierer hat in diesem Zusammenhang natürlich auch Qualitätskriterien zu entwickeln, die künftig an die Netze und an die Netzbetreiber zu stellen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles ist gesagt worden. Klar ist, dass wir nicht den naiven Glauben haben sollten, als sei, wenn die Anreizregulierung beginnt, all das, was wir vorher entwickelt haben, also die Expost-Missbrauchsaufsicht auf der Basis von klaren Kostenkalkulationsprinzipien und die Ex-ante-Preisgenehmigungen, über Bord geworfen. Es wird sehr genau darauf ankommen, diese einzelnen Instrumente sauber aufeinander abzustimmen. Natürlich wird es relativ gesehen weniger Missbrauchsverfahren geben. Sie werden sich eher auf den Netzzugang und nicht so sehr auf die Netzentgelte beziehen. Es wird natürlich auch weniger Ex-ante-Preisgenehmigungen geben, wenn eine Anreizregelung grundsätzlich funktioniert. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich diese Instrumente auch dann noch gegenseitig ergänzen müssen. Deswegen werden wir darüber nachdenken müssen, wie dieser Instrumentenkasten insgesamt aufeinander abzustimmen ist und wie - ich wiederhole diesen Punkt - die Investitionen in diesem Zusammenhang vernünftig eingebettet werden können. Bundeseinheitliche Regulierung: Das muss zunächst ja keine Bundesregulierung bedeuten. In einem Bundesstaat mit 16 Einzelstaaten und dem Bund ist das aber doch eine logische Konsequenz, insbesondere dann, wenn wir dem Regulierer künftig zunehmend Entscheidungsspielräume zuwachsen lassen wollen. Das ist das eigentlich inhaltliche Argument. Wenn wir einen starken Regulierer haben wollen und wenn wir wollen, dass der Regulierer Entscheidungsspielräume bekommt, dann können wir nicht mehr über 17 Regulierer nachdenken, dann kann es nur noch diesen einzigen geben. Das sage ich als jemand, der aus dem gleichen Bundesland wie Wolfgang Clement kommt, nämlich aus NordrheinWestfalen, wohl wissend, dass es dort durchaus auch andere Überlegungen gibt. Ich denke aber, dass wir das den Ländern sagen müssen. Wir brauchen eine Instanz, die diese Regulierung bundeseinheitlich übernimmt. ({3}) Wenn die Länder hier Kompetenzen erwarten, dann muss man ganz klar sagen: Es können jedenfalls keine Entscheidungskompetenzen sein. Meine Damen und Herren und insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir alle haben eine konstruktive Zusammenarbeit in den nächsten Wochen und Monaten angeboten. Das erste Berichterstattergespräch zur Vorbereitung der Anhörungen hat mir gestern jedenfalls den Eindruck vermittelt, dass auch auf Ihrer Seite ein Interesse vorhanden ist. Wenn wir es schaffen, das Verfahren im Deutschen Bundestag in diesem Jahr abzuschließen, und wenn wir gleichzeitig den Dialog mit den Ländern - natürlich auch über die Bundesregierung - vorantragen, dann haben wir möglicherweise die Chance, das In-Kraft-Treten sehr früh im nächsten Jahr zu erreichen. Das sollte unser Ziel sein; daran sollten wir arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die erste Lesung eines solchen Gesetzes dient natürlich auch dazu, Gegensätze aufzuzeigen, die im Beratungsgang abgearbeitet werden müssen. Das, was streitig ist, muss genannt werden. Ich halte auch den Hinweis, den Frau Kopp und Prof. Bietmann gebracht haben und der von Kurt-Dieter Grill unterstützt wurde, für richtig: Man muss überlegen, welche Unterlagen man braucht, um dieses Gesetz umfassend beurteilen zu können. Welcher Kanon, welcher Kernbestand an Verordnungen, muss also vorgelegt werden, damit man dieses ganze Gesetzeswerk beurteilen kann? Das muss neben der Frage, welchen Zeitraum sich der Kollege Hempelmann vorstellt, selbstverständlich abgearbeitet werden. Ich will die Gelegenheit nutzen, als letzter Debattenredner nicht nur auf die Streitpunkte einzugehen, die viele Kolleginnen und Kollegen vorher gut und richtig herausgearbeitet haben. Vielmehr will ich einerseits das Verbindende darstellen, andererseits aber auch deutlich machen, dass wir einen Aspekt nicht unberücksichtigt lassen dürfen, nämlich den Umweltschutz. Der Umweltschutz hat mit diesem Thema eine gemeinsame Schnittmenge. In den noch anstehenden Beratungen müssen wir auch diesen Gesichtspunkt berücksichtigen. ({0}) Was ist der Kernpunkt unserer Aufgabe? Wir müssen die Chance wahrnehmen, die Defizite auf dem Energiemarkt, die wir in Deutschland unbestritten haben, zu beheben und den gesetzlichen Rahmen für eine wirtschaftliche, verlässliche und umweltfreundliche Energieversorgung zu schaffen. An dieser Stelle kann man durchaus als positives Signal verstehen - das will ich auch gerne erwähnen, Frau Hustedt; das begrüßen wir -, dass die Bundesregierung gestern im Kabinett eine Neupositionierung zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vorgenommen hat. Herr Minister, damit bauen Sie eine Brücke. Diese Neupositionierung ist zwar aus unserer Sicht noch nicht so weit, wie dies vielleicht notwendig wäre. Aber man muss am Ende einer solchen Debatte durchaus konzedieren, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist und dass man die Chancen, die sich auf diesem Weg ergeben, nutzen muss. Dass es hierzu unterschiedliche Positionen gibt, ist klar und deutlich. Die Möglichkeit, dass wir zu einer vernünftigen Lösung kommen, besteht. Da es in Deutschland leider an einem Energiekonzept fehlt, muss in diesem Hause das Ziel herausgearbeitet werden, dass wir eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Energieversorgung wollen. Ich komme zu dem ersten Punkt, der vorhin streitig diskutiert worden ist: Muss das Ziel der Verbraucherfreundlichkeit besonders erwähnt werden? Der Bundesrat - durch meine Partei ist er maßgeblich parteipolitisch bestimmt - ist der Ansicht, dass man diesen Punkt streichen könnte. Ich persönlich habe als umweltpolitischer Sprecher unserer Fraktion keine Bedenken, den Gesichtspunkt der Verbraucherfreundlichkeit als Zielvorstellung zu unterstreichen. Die Stromkennzeichnung ist dann die logische Konsequenz dieser Verbraucherfreundlichkeit. Jemand wie ich, der durchaus dafür ist, dass man die Kernenergie für die Stromproduktion friedlich nutzt, hat überhaupt keine Bedenken, die Stromkennzeichnung auch auszuweisen. Umgekehrt stellt sich die spannende Frage: Wie weit gehen wir bei der Verbraucherfreundlichkeit? Wird damit auch automatisch ein Verbandsklagerecht ermöglicht? Ich gehöre in unserer Fraktion zu den Umweltpolitikern, die nicht von vornherein gegen ein Verbandsklagerecht sind. Ich habe beim Naturschutzgesetz dazu eine differenzierte Meinung gehabt. Wenn es zu einem Verbandsklagerecht käme, dann stellen Sie sich einmal den Druck auf die Verbraucherverbände vor Ort vor. Das kann dazu führen, dass Verbraucherverbände bei jeder angedachten Preiserhöhung den Klageweg beschreiten müssen. ({1}) Würden wir den Verbraucherverbänden damit nicht eine Möglichkeit eröffnen, die sich langfristig als ein Nachteil erweisen könnte? Darüber müssen wir diskutieren, auch wenn man der Aufnahme der Verbraucherfreundlichkeit in die Zielvorstellung positiv gegenübersteht. Der zweite Punkt, der im Rahmen der Zielvorstellungen diskutiert werden könnte, ist die Energieeffizienz. Die Energieeffizienz entscheidet wesentlich darüber mit, wie wir die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland bewältigen können. ({2}) Aber ich weiß natürlich, dass es durchaus methodisch berechtigte Bedenken gibt, die Energieeffizienz als Zielvorstellung ausdrücklich auszuweisen; denn die Energieeffizienz ist methodisch automatisch ein Bestandteil der Ziele Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit. Man kann natürlich darüber nachdenken, ob diese beiden Begriffe die Energieeffizienz umfassend berücksichtigen. Aber umgekehrt - ich gebe zu, dass wir diese Position als Opposition immer vertreten haben -: Wenn ein Energiekonzept in Deutschland fehlt, macht es dann nicht Sinn, das Ziel der Energieeffizienz politisch zu stärken und es daher an einer Stelle gesetzgeberisch zu verankern? Deshalb frage ich: Kann es nicht vielleicht sinnvoll sein, darüber nachzudenken, den Grundsatz der Energieeffizienz ausdrücklich zu verankern? Nur eine effiziente Energieversorgung ist auch langfristig ein wirtschaftlicher, verlässlicher und umweltfreundlicher Beitrag zum Klimaschutz. (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU] Das dritte Ziel, das heute hier mehrheitlich Unterstützung gefunden hat - das müssen auch die Umweltpolitiker zugeben; ich tue das gerne -, ist die Schaffung von mehr Wettbewerb im Energiebereich. Es gilt eine Wettbewerbsordnung zu schaffen, die eine kostengünstige, sichere, effiziente und umweltverträgliche Energieversorgung für alle Marktteilnehmer langfristig ermöglicht und gleichzeitig sicherstellt, dass neue Anbieter eine Chance auf dem Markt haben. Kurt-Dieter Grill hat gerade darauf hingewiesen, dass es vor allen Dingen um die Frage des Marktzuganges zum Netzbereich geht, dass damit aber nicht alle Probleme umfassend gelöst werden können. Wenn wir aber schon nicht die Frage des Netzzugangs lösen können, dann sind alle weiteren Äußerungen zum Wettbewerb vergeblich und verschüttete Milch. Aus diesem Grunde stellt sich die Frage: Wie können wir eine Regulierung definieren, die den Wettbewerb stärkt und für einen diskriminierungsfreien und transparenten Netzzugang sorgt? Es ist die Frage angesprochen worden - die müssen wir auch in den Beratungen im Wirtschafts- sowie im Umweltausschuss berücksichtigen -, welche wettbewerbsgerechten Rahmenbedingungen wir für die örtlichen kleineren Stromversorger schaffen, die ihre Chancen auf dem Markt behalten müssen. Ich war selbst lange genug Stadtdirektor und habe Verhandlungen mit großen Unternehmen über die Frage mitbekommen, wie die Stadtwerke rentabler arbeiten können. Ich halte seit dieser Zeit gar nichts von dem Argument, dass Stadtwerke vorhanden sein müssten, um Quersubventionen zu ermöglichen. Das kann nicht das Argument sein. Wir müssen aber darüber nachdenken, ob wir mit unserer Politik neben den Interessen der großen vier Energieversorger in Deutschland auch noch andere berücksichtigen wollen. Viele örtliche kleinere Stromversorger, bei denen keine Mischfinanzierung oder Quersubventionierung stattfindet, haben es geschafft, viele Initiativen, auch im Bereich des Umweltschutzes, zu ergreifen. Ich erinnere an den Einsatz der ersten Blockheizkraftwerke bis hin zu den Biogasanlagen. All das haben sie positiv betrieben. Das müssen wir natürlich berücksichtigen. Wir müssen auch die Interessenlage solcher kleinerer Stromversorger sehen. ({3}) Es wird unsere Aufgabe sein, diesen Aspekt bei den Beratungen nicht zu vernachlässigen. Wir müssen die positive Rolle der örtlichen Stromversorger sehen. Das halte ich für ganz wichtig. ({4}) Der nächste Gesichtspunkt: Wir müssen auch Sorge dafür tragen, dass im Rahmen dieses Gesetzes die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Energienetze langfristig leistungsfähig bleiben; ({5}) denn eine verlässliche Energieversorgung ist ein ganz wichtiger Standortfaktor. Das ist entscheidend. Die Netze müssen verlässlich bleiben. ({6}) - Ja, natürlich. Ich will nur ausformulieren, wo Probleme stecken könnten. Ich stimme Ihnen, Herr Stiegler, zu. Ich habe auch § 1 gelesen. Probleme werfen die weiteren Paragraphen auf, auch bezüglich des Einsatzes der erneuerbaren Energien. Die erneuerbaren Energien leisten - das ist unbestritten - viel. Das ist von Herrn Müller gesagt worden und ist die gemeinsame Position hier im Hause. Es gilt die gemeinsame Zielvorstellung aller Fraktionen, den Anteil der erneuerbaren Energien an der Gesamtstromerzeugung auf 12,5 Prozent zu erhöhen. Aber man muss auch die Probleme sehen, die wir bei den erneuerbaren Energien haben. Die entsprechenden Regelungen beispielsweise zur Windenergie stehen im EEG. Aber wenn wir die erneuerbaren Energien fördern sollen, dann müssen die Stromerzeuger im Bereich der erneuerbaren Energien, also auch der Windenergie, die Konsequenz tragen und ihren Beitrag zur Stabilisierung des Netzes leisten. Das betrifft zum Beispiel die Frage, wann die Anlagen abgeschaltet werden, wenn plötzlich zu viel eingespeist wird. Dazu reichen die Regelungen des EEG vielleicht nicht aus. Wir müssen uns Gedanken machen, ob wir hier eventuell einen Ansatzpunkt haben, über die vertraglichen Regelungen hinauszugehen. Ich sage der rot-grünen Regierungsmehrheit aber auch: Man spricht heute schon darüber, dass in fünf Jahren ein bestimmter Prozentsatz der Energie durch Offshoreanlagen in der Nordsee produziert werden kann. Ich weiß aber aus der Praxis, dass wir heute noch nicht einmal wissen, wie wir die Leitungsprobleme dieser dann in der Nordsee oder der Ostsee isoliert stehenden Windparks und Windfarmen lösen. Es reicht nicht aus, dass wir sie bauen; sie können nur dadurch finanziert werden, dass der Strom über Leitungen in das Netz eingespeist wird. Deshalb muss man auch über unser Planungsrecht sprechen, das gerade im sensiblen Bereich des Wattenmeers sehr strikt ist. Es gibt Planungszeiten von zehn bis 15 Jahren. Da stellt sich für mich die Frage, was wir tun können, um einen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, damit wir nicht die Chance verpassen, einen sinnvollen Netzausbau zu ermöglichen; denn Investoren müssen die Chance haben, Investitionen in einem belastbaren Rahmen anzugehen. ({7}) Diese Schritte fehlen uns und deshalb sagen wir: Wir müssen noch einmal versuchen, eine Verzahnung zwischen diesen Bereichen zu ermöglichen. Das ist ein Punkt, über den heute nicht diskutiert worden ist, den ich aber als Beitrag zur ersten Beratung des Gesetzentwurfs ansprechen wollte. Zusammengefasst bleibt festzuhalten: Ich sehe Chancen, dass sich Regierung und Opposition aufeinander zubewegen. Wir gestehen zu, dass Sie den ersten Schritt vollzogen haben. Betrachten Sie unsere Kritikpunkte als einen Hinweis darauf, dass in den Beratungen eine positive Lösung zu diesen Fragen gefunden werden muss. Davon wird es abhängen, ob wir das Gesetz gemeinsam verabschieden können. Die Bereitschaft ist vorhanden. Jetzt müssen die Beratungen zeigen, ob wir diese Chance gemeinsam nutzen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3917, 15/3998, 15/3923 und 15/4069 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4037 soll federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 ({0}) - Drucksache 15/3641 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 15/4049 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger Otto Bernhardt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die Redner Dr. Hans-Ulrich Krüger, Otto Bernhardt, Jutta Krüger-Jacob, Carl-Ludwig Thiele und die Par- lamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Finanzkonglomeraterichtlinien-Umsetzungsgesetzes, Drucksache 15/3641. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4049, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm - Drucksachen 15/3782, 15/3921 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) - Drucksache 15/4024 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Franz Obermeier Winfried Hermann Michael Kauch Die Redner Petra Bierwirth, Franz Obermeier, Enak Ferlemann, Winfried Hermann und Michael Kauch ha- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, Drucksachen 15/3782 und 15/3921. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4024, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. 1) Anlage 3 2) Anlage 4 Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter - Drucksache 15/411 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6}) - Drucksache 15/4016 - Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Ingo Wellenreuther Jerzy Montag Die Redner Joachim Stünker, Ingo Wellenreuther, Jerzy Montag, Rainer Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter, Drucksache 15/411. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4016, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung anderer Vorschriften ({7}) - Drucksachen 15/3677, 15/3789, 15/3922 - 3) Anlage 5 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({8}) - Drucksache 15/4050 - Berichterstattung: Abgeordnete Lydia Westrich b) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/4065 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Walter Schöler Anja Hajduk Otto Fricke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde - sonst am Nachmittag oder im Laufe des Abends - beraten wir wieder einmal die Steuergesetze. Mit dem Richtlinien-Umsetzungsgesetz kommen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ihrer Verpflichtung nach, verschiedene vom Rat der Europäischen Union verabschiedete Richtlinien und andere Rechtsakte bis zum 1. Januar 2005 in nationales Recht umzusetzen. Weiterhin haben wir nationale Rechtsvorschriften an die europarechtliche Entwicklung anzupassen. Dazu einige Stichworte: Wir setzen die Fortentwicklung der so genannten Mutter-Tochter-Richtlinie, die Richtlinie betreffend Gas und Elektrizität, das EGBeitreibungsgesetz, die Richtlinie zur Harmonisierung der Fahrzeugpapiere sowie Teile der 6. EG-Richtlinie, die die Umsatzsteuer betreffen, in nationales Recht um. Ein kleines Bonbon für Kulturschaffende ist dabei: Auch Solisten wird zukünftig der ermäßigte Steuersatz gewährt. So weit, so gut. Wir reichern - the same procedure as every year - das hoffentlich letzte Steuergesetz des Jahres 2004 mit der Regelung verschiedenster Vorgänge an, deren Regelungsbedarf sich in den letzten Monaten ergeben hat, ob durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, des Bundesfinanzhofes, durch Entdeckung von ungewollten Steuerschlupflöchern, Forderungen des Bundesrates oder durch Wünsche von uns Parlamentariern. Frau Wülfing, das ist ein ganz normaler Vorgang, mit dem wir uns normalerweise immer kurz vor Weihnachten herumplagen. Diesmal sind wir etwas eher dran; denn wir wollen ja Rechtssicherheit. Das ist das Mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns in Ausübung der uns auferlegten Sorgfaltspflicht erwarten können. ({0}) Leider genauso normal ist Ihre Aufregung, meine Damen und Herren von der Opposition. Obwohl der Gesetzentwurf schon seit September dieses Jahres in der Pipeline ist, werfen Sie uns vor: zu kurzfristig, nicht lange und breit genug beraten. Diese Sprüche kennen wir. Sie kennzeichnen nur Ihre mangelnde Bereitschaft, Verantwortung für diesen Staat zu übernehmen. ({1}) Wir haben diesmal wirklich probiert, zu argumentieren und Kompromisse zu schließen. Wir haben fast geglaubt, dass wir auf der fachlichen Ebene zueinander gelangen. Aber Taktik scheint wieder einmal ein höheres Gut zu sein als das Wohl unserer Bürgerinnen und Bürger. Das tut mir sehr Leid. ({2}) Es sind keine einfachen Vorschriften - unter anderem betreffen sie die Zwischengewinnbesteuerung und die Mehrfachabführung aus vororganschaftlicher Zeit -, die wir an dieses Gesetz angehängt haben; das will ich gerne zugeben. Aber das Schließen von Steuerschlupflöchern, in denen sich einige schon gemütlich auf Kosten anderer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eingerichtet haben, ist immer mit Schmerzen und Protesten verbunden. Schließlich soll Menschen etwas, an das sie sich gewöhnt haben bzw. das ihnen lieb geworden ist, weggenommen werden, auch wenn es beispielsweise nur für ein Jahr ist. Hier heißt es, standhaft zu bleiben. Wenn Interessenvertreter schreiben, dass für sie fiskalische Gründe bei der Änderung eines Gesetzes nicht zählen, dann ist das aus ihrer Rolle heraus durchaus zu verstehen. Aber dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - ich richte mich hier besonders an Herrn Michelbach -, am gestrigen Mittwoch einen Tanz aufführen, weil die Steuereinnahmen zusammenbrechen würden und weil der Haushalt angeblich nicht zu finanzieren sei, und heute, einen Tag später, Gesetzesänderungen ablehnen, die Mindereinnahmen in Milliardenhöhe verhindern, beweist Ihre mangelnde Regierungsfähigkeit; das ist ganz klar. ({3}) Das ist ein ganz unmöglicher Vorgang. Wir sind das im Parlament leider schon gewöhnt. Aber dadurch wird es nicht besser. Mit Ihrer Ablehnung halten Sie Leuten die Stange, die nichts anderes im Sinn haben, als Profite auf Kosten ehrlicher Steuerzahler zu machen. ({4}) Dieses Verhalten zu belohnen bringt uns nicht nur um Steuereinnahmen, sondern schwächt auch die Moral aller anderen noch willigen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen. Das ist viel schlimmer. ({5}) Verantwortliche Politik kann das nicht mitmachen. Wir, Rot-Grün, machen das auf keinen Fall mit. Nur, weil wir als Koalitionsfraktionen so verantwortlich vorgehen, können wir Menschen helfen, zum Beispiel den Gartenbaubetrieben mit ihren großen Flächen unter Glas, indem wir die Gültigkeit der Regelungen, die ihnen kleine Vergünstigungen zur Erhaltung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit sichern, hiermit um zwei Jahre verlängern, weil das Geld dazu vorhanden ist. Das tun wir mit diesem Gesetz. ({6}) - Das ist unser gemeinsamer Antrag. Das ist einer der wenigen Punkte, auf die wir uns einigen konnten. Das ist ganz klar. ({7}) Aber wir hätten es nicht machen können - das wissen Sie genau, Herr Fahrenschon -, wenn wir Verlängerungen an anderen Stellen nicht abgelehnt hätten. Man kann das Geld der Steuerzahler nicht einfach so ausgeben. Die ursprünglich geplanten Änderungen zum Steuerberatungsgesetz haben wir aus zwei Gründen wieder aus dem Paket herausgenommen: Zum Ersten hat sich der zustimmungspflichtige Bundesrat bereits einstimmig dagegen ausgesprochen. Wir wissen, was das bedeutet. Zum Zweiten wird im nächsten Jahr ein eigenständiges Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Berufsrechts notwendig. So können wir in aller Ruhe - ich hoffe gemeinsam, Herr Müller - die notwendigen Erneuerungen des Steuerberatungsrechts aus einem Guss machen. ({8}) Wir haben uns selbst verpflichtet, dieses Gesetz noch im nächsten Jahr zu einem guten Ende zu bringen. Wenn wir dahinter stehen, wird uns das auch gelingen. Dadurch können wir die berufsrechtlichen Regelungen der Steuerberater mit den Regeln für Rechtsanwälte abstimmen und die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen einbeziehen. Dieses Vorgehen ist wesentlich erfolgversprechender für die Wünsche aller Beteiligten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In diesem Gesetzentwurf geht es nicht nur um Kleinigkeiten, sondern um drohende massive Einbrüche in die Steuerbasis von Bund, Ländern und Gemeinden. Wenn Sie es mit der Verantwortung für unser Land ernst meinen, dann können Sie zu diesem Gesetzentwurf nicht Nein sagen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das eigentliche Ziel des EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetzes ist - wie der Name schon sagt - die Umsetzung von EU-Richtlinien und anderer EU-Rechtsakte in nationales Recht. ({0}) Ziel soll eigentlich sein, Hemmnisse im Unternehmensteuerrecht zu beseitigen. Der europäische Binnenmarkt soll in Bezug auf das Steuerrecht reibungsloser funktionieren. Das wäre eigentlich eine Chance für die größte Volkswirtschaft in Europa mit 82 Millionen Menschen in einem Binnenmarkt mit 450 Millionen Menschen, die Grundlagen dafür zu legen, dass sich die deutschen Unternehmer - durch ihr Steuerrecht unterstützt durchsetzen können. Das wäre eine echte Chance. Diese hat Rot-Grün vertan. ({1}) Allein schon die Tatsache, dass Sie die Umsetzung dieses Steuerrechts mit Änderungen am Berufsrecht verbinden, zeigt doch, wer hier taktisch spielt. Wenn Sie mit einem Finger auf uns zeigen, zeigen die restlichen Finger der Hand auf Sie, liebe Frau Kollegin Westrich. Ihr Gesetz ist ein Sammelsurium an Korrekturen, Detailregelungen und Kurzschlussreaktionen. ({2}) Nichts anderes versteckt sich dahinter. Eine einheitliche Linie ist nicht zu erkennen, es sei denn, dass Sie Kasse machen wollen. Das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz ist ein Omnibus, nur leider nimmt der rot-grüne Omnibus viele Dinge mit, die man besser stehen lassen sollte, und andere befördert er in eine Richtung, in die sie nicht gehören. Stichwort Nr. 1: Sie schließen Steuerschlupflöcher, schießen aber weit über das Ziel hinaus. Durch viel zu weit reichende Eingriffe in geltendes Steuerrecht verursacht die Bundesregierung erhebliche Kollateralschäden. Sie räumen beim Steuerrecht nicht auf; sie verschlimmbessern es auf dramatische Weise. Der Investitionsstandort Deutschland wird durch eine solche Politik auch noch massiv beschädigt. ({3}) Ein Beispiel muss man ganz deutlich herausarbeiten. Noch in der Debatte zum Investmentmodernisierungsgesetz am 7. November des letzten Jahres lobte die Frau Staatssekretärin Barbara Hendricks das Erreichte: Es ist uns gelungen, gemeinsam - ich zitiere die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland zu fördern und einen attraktiven Markt auch für ausländische Anbieter von Investmentprodukten zu schaffen. Da hatte Frau Hendricks Recht. ({4}) Wir haben dieses Gesetz gemeinsam gemacht. Die vor einem Jahr im Zuge des Investmentmodernisierungsgesetzes abgeschaffte Zwischengewinnbesteuerung bedeutet für Fondsgesellschaften und Anleger wirklich eine erhebliche Vereinfachung. Nur leider soll diese Zwischengewinnbesteuerung nach nicht einmal zwölf Monaten jetzt wieder eingeführt werden. ({5}) Die Logik dieser Politik ist niemandem klar. Sie verkomplizieren das Steuerrecht dort wieder, wo wir gerade gemeinsam eine Vereinfachung erreicht haben. Dafür gibt es nur ein Wort: Inkonsequenz. ({6}) Sie gehen sogar noch weiter. Durch die Ausweitung der Regelung, nach der pauschal 10 Prozent der Werbungskosten als nicht abzugsfähig gelten, machen Sie einem typisch deutschen Anlageinstrument, dem Spezialfonds, über das Steuerrecht nun endgültig den Garaus. Damit schaden Sie dem Finanzplatz Deutschland. Sie verspielen in diesem zentralen strategischen Bereich jegliches Vertrauen in eine zuverlässige, langfristig angelegte Politik. Stichwort Nr. 2 zu dem Omnibus unter Cheffahrer Hans Eichel: Die Unternehmensteuern - das müssen wir doch endlich erkennen - können wir nicht mehr allein national definieren. Wir müssen uns bei Diskussionen über die Reform deutscher Unternehmensteuern an europäischen Gesichtspunkten orientieren. Deutschland als stärkste Volkswirtschaft muss endlich eine aktivere Rolle bei der Gestaltung des EU-Rechts spielen. Gerade im steuerlichen Bereich darf sich Deutschland nicht darauf beschränken, nur zu reagieren und EuGH-Entscheidungen abzuwarten. Wir warten darauf, dass die Bundesregierung endlich gezielte Vorstellungen für die Neuorientierung des deutschen Unternehmensteuerrechts einbringt und versucht, die Diskussion entscheidend mitzubestimmen, anstatt immer nur zu warten. Sie brauchen klare Ziele und Vorstellungen. Dafür fehlt Ihnen aber finanzpolitisch schon lange die Kraft. ({7}) Stattdessen herrscht ein beispielloses Chaos. Manche Vorschriften wurden unter Rot-Grün schon zwei- bis dreimal neu geschrieben. So wurden 2001 die Regeln zur Verlustverrechnung von Organschaften zunächst gelockert, dann wieder mehrfach verschärft. Durch die jetzt vorgeschlagenen Änderungen im Körperschaftsteuergesetz belastet Rot-Grün die Unternehmen wieder in Milliardenhöhe. Der Steuerstandort Deutschland wird durch solche Politik nicht attraktiver, sondern unattraktiver. Im internationalen Vergleich haben wir bereits heute die höchste Steuerlast für Unternehmen. Die durchschnittliche effektive Belastung der Unternehmer in der Europäischen Union liegt bei 29,4 Prozent. In Deutschland hingegen liegt die Belastung durch die Körperschaft- und die Gewerbesteuer - damit müssen Sie sich einmal genauer auseinander setzen - bei 37 Prozent. Das ist der massivste aller Standortnachteile. Was tun Sie dagegen? Sie entwickeln kein einheitliches Konzept, das die Standortbedingungen in Deutschland verbessert oder sie zumindest mit denen in anderen Ländern vergleichbar macht. Stattdessen erhöhen Sie mit dem Richtlinien-Umsetzungsgesetz und den geplanten Änderungen die Belastung durch die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer noch zusätzlich. ({8}) Wissen Sie, was das Ergebnis ist? Große, international tätige Konzerne und insbesondere die Holdings verlegen ihre Standorte ins Ausland. Die kleinen mittelständischen Unternehmen gucken in die Röhre und machen ganz leise, ganz ohne Schlagzeilen dicht. Da dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Arbeitsplätze verlieren. ({9}) Ich will hier noch nicht einmal auf die Fragestellungen bezüglich der Mittelstandsfinanzierung und das verheerende Ergebnis Ihrer Änderungen bezüglich der neuen Aufzeichnungspflichten eingehen, weil das zu kompliziert ist. Aber ein Punkt ist mir noch wichtig. Wir sprechen in Sonntagsreden zwar immer darüber, dass wir ein verständlicheres Steuerrecht wollen, haben uns jedoch erneut die Chance entgehen lassen, tatsächlich formal, sprachlich und grammatikalisch bessere Gesetze zu machen. Es ist doch bitter, wenn die Fachleute in der Anhörung den Vorwurf erheben, dass der Regierungsentwurf einfach nicht zu verstehen sei. ({10}) Die Union hat ja einen Formulierungsvorschlag zu § 15 a Umsatzsteuergesetz gebracht, den ich gerne noch einmal zitieren möchte: Der ursprüngliche Vorsteuerabzug ist zu berichtigen, wenn sich die dafür maßgebenden Verhältnisse nachträglich geändert haben. Sie machen daraus - ich zitiere wiederum -: Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut, das nicht nur einmalig zur Ausführung von Umsätzen verwendet wird, … die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen. Meine Damen und Herren, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. ({11}) Ich komme deshalb zum Schluss gerne noch einmal auf das Bild des Omnibusses mit dem Cheffahrer Hans Eichel zurück: Meine Damen und Herren von der Regierung und den Koalitionsfraktionen, Ihr Bus ist voll gestopft mit Bürokratie. Er fährt ohne Ziel. Er hält an den falschen Haltestellen und ist immer zu spät. Ihre Steuergesetzgebung ist mit einer Geisterfahrt zu vergleichen. Das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz ist ein Bus mit dem einzigen, rein fiskalischen Ziel, neues Geld in die leeren Kassen des Bundesfinanzministers zu spülen. Da fahren wir einfach nicht mit. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Fahrenschon, als ich Ihre Rede hörte, konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass wir am Mittwoch in der gleichen Veranstaltung waren. Bis zum Mittwoch haben wir ja in diversen Runden zusammengesessen und versucht, dieses Gesetz gemeinsam auf den Weg zu bringen. Es war nicht so, dass Sie sich von Anfang an hingestellt und gesagt haben, das Gesetz sei in den und den Punkten falsch, ({0}) sondern es war durchaus so, dass wir zusammen versucht haben, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, ({1}) und Sie erst ganz spät, nämlich kurz vor dem Ziel - ich behaupte, entgegen Ihrem Rat, sondern nur aufgrund eines taktischen Rates -, den Sinneswandel vollzogen haben, diesem Gesetz die Zustimmung zu verweigern. Es war also nicht so, dass Sie generell alles abgelehnt haben. ({2}) - Sie wissen ganz genau, dass wir uns in einer fiskalisch schwierigen Situation befinden. Sie sagen an dieser Stelle immer, wir hätten ein steuerliches Problem im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern, die mit anderen Steuersätzen agieren. Ich behaupte dagegen, ({3}) wir haben ein Problem damit, dass sich aus der Möglichkeit der Verlustverrechnungen ein riesiges Potenzial zur Gestaltung der Steuerschuld ergibt. Immer dann, wenn wir Möglichkeiten nutzen, Steuerschlupflöcher zu schließen und Elemente, die dazu beitragen, dass derjenige, der Gewinne macht, auch Steuern zahlt, einführen, also für eine gewisse Geradlinigkeit sorgen, stellen Sie sich hin und sagen, es handele sich um Steuererhöhungen. ({4}) Das ist falsch. Es geht hier nicht um eine Steuererhöhung, sondern hier werden Steuerschlupflöcher geschlossen und steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten verringert, natürlich auch mit dem Ziel, Fiskalpolitik zu betreiben, also Einnahmen zu erzielen. ({5}) Es ist natürlich richtig, dass es künftig nicht mehr möglich ist, dadurch, dass man eine Personengesellschaft zwischen Kapitalgesellschaften schaltet, Gewerbesteuern zu sparen. Das wird im Übrigen auch auf Wunsch der Länder jetzt so gemacht. Diese erhalten ja die entsprechenden Nachrichten aus den Kommunen und wissen von daher, wie die großen Unternehmen vor Ort agieren. Die Kommunen werden es uns danken, dass wir mit dem von uns gewählten Weg diese Möglichkeiten einschränken. Ein weiteres Beispiel ist die Vermeidung von Steuerausfällen in zweistelliger Milliardenhöhe. Wenn das Urteil des EuGH gegen uns genauso ausfallen würde wie das kürzlich gegen Finnland ergangene, würde unser Haushalt in einer Größenordnung belastet, die wir uns fiskalpolitisch nicht leisten können. ({6}) Dass einmal vom EuGH erklärt werden würde, dass ein solches Anrechnungsverfahren gegen EU-Recht verstößt, ist schon seit langer Zeit absehbar. Deshalb haben wir im Rahmen der großen Steuerreform 2000 das Anrechnungsverfahren abgeschafft. Es ist richtig, dass jetzt für eine Folgewirkung gesorgt wird, damit nicht die 2 Milliarden Euro fehlen. ({7}) Aber auch wenn die Union heute im Bundestag den Gesetzentwurf ablehnt: Es gibt eine Vereinbarung mit den Ländern. Frau Westrich hat das ausgeführt. Wir haben beim Thema Steuerberaterrecht das Signal von den Ländern erhalten, dass wir dieses Gesetz ohne Vermittlungsverfahren durchbekommen werden. ({8}) Ich bin mir sehr sicher, dass die Union ihre Strategie, im Bundestag abzulehnen und im Bundesrat über die Länder zuzustimmen, nicht lange wird fahren können. Mir persönlich kann das ja egal sein; aber ich halte das für eine Strategie, die langfristig nicht aufgehen wird. Sie werden den Gesetzentwurf heute hier ablehnen und in ein paar Wochen werden die unionsgeführten Länder im Bundesrat zustimmen. ({9}) Dann werden wir dieses Gesetz auf den Weg bringen. Aber wir zahlen dafür natürlich einen hohen Preis, auch aus grüner Sicht. Wir sind beim Steuerberaterrecht einen großen Schritt gegangen. Ich finde es richtig, dass uns im ersten Halbjahr 2005 eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe Ergebnisse vorlegen wird, die uns aufzeigen werden, wie wir im Bereich Beratungsrecht weiter vorgehen sollen. ({10}) Trotzdem hätten wir schon jetzt in ein paar Punkten ganz entscheidende Schritte gehen können. Ich finde es schade, dass wir, wenn es um berufsständische Rechte geht, immer wieder zurückzucken. Das war beim Handwerksrecht so und das ist auch jetzt bei den Steuerberatern so. Ich kann nur hoffen, dass wir irgendwann einmal den Mut finden, Entscheidungen zu treffen, ({11}) die wirklich im Sinne der betroffenen Personen und der Unternehmer sind. ({12}) Wir haben wenigstens bei der Ausweitung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine erreicht, dass die Lebenswirklichkeit der Menschen Berücksichtigung findet. ({13}) Manche Menschen haben heutzutage Haushaltshilfen angestellt, manche sind ehrenamtlich tätig. In diesen Fällen hatten die Lohnsteuerhilfevereine bisher nicht die Möglichkeit, beratend tätig zu werden. Der notwendigen Änderung haben Sie wunderbar zugestimmt; dafür bin ich auch dankbar. Aber wir sind froh, dass es weiterhin Bewegung gibt, was die Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine angeht. Noch einen Satz zur FDP. Sie agieren hier aus meiner Sicht als Fundamentalopposition. Sie haben am Mittwoch im Finanzausschuss den Antrag gestellt, das ganze Gesetz fallen zu lassen. ({14}) Das halte ich für keine seriöse Politik, auch im Hinblick auf die Staatsfinanzen. Die Union hat im allerletzten Moment ihre Zustimmung zurückgezogen. Das ist bedauerlich. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich denke, wir werden, zumindest was das Beraterrecht angeht, einen neuen Weg finden. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Wissing.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als FDP können dem Gesetzentwurf für ein Richtlinien-Umsetzungsgesetz wahrhaftig nicht zustimmen. ({0}) Wir haben erhebliche Zweifel, dass die Hektik, die Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, in das Gesetzgebungsverfahren gebracht haben, der Komplexität des Themas auch nur ansatzweise gerecht wird. Es stimmt schon bedenklich, wenn wir heute etwas beschließen sollen, was mit dem Gesetzentwurf, der in der Anhörung beraten wurde, nicht mehr viel zu tun hat. Eine Anhörung, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, in der nicht das beraten wird, was später Gegenstand des Gesetzes sein soll, ist nicht sinnvoll. Eine solche Anhörung ist eine Farce. ({1}) Ihre rot-grüne Kreativität entfaltet sich offenbar immer erst kurz vor Toresschluss. Die Folge dieses Aktionismus sind unzureichende Gesetzentwürfe, deren Konsequenzen die Menschen in diesem Land tragen müssen. Das machen wir nicht mit. Ich habe den Verdacht, dass das EU-RichtlinienUmsetzungsgesetz hier vor allem als Schubladenleerer des Bundesministeriums der Finanzen dienen soll. Allein die Bezeichnung „EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz“ ist eine Mogelpackung. Mit diesem Gesetz werden nicht vorrangig EU-Richtlinien umgesetzt, sondern es geht Ihnen überwiegend um nationale Vorhaben und diese haben es durchaus in sich. ({2}) Im Grunde genommen legen Sie uns hier ein Jahressteuergesetz zur Abstimmung vor, das unter dem Deckmäntelchen EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz verkauft werden soll. ({3}) Denken Sie doch nur einmal an die Neuregelung zu vororganschaftlichen Verlusten bei der Körperschaftsteuer. Ich wage zu bezweifeln, dass Sie sich gut überlegt haben, was Sie da vorhaben. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sind auf Rekordhöhe; die Zahl der Insolvenzen steigt unter Ihrer Regierung ständig an. Aber Ihnen fällt nichts Besseres ein, als die Übernahme von krisenbehafteten Unternehmen zu erschweren. Nichts anderes ist es nämlich, wenn Sie es den Unternehmen nicht mehr gestatten, die Verluste des Übernahmekandidaten geltend zu machen. ({4}) Diese Regelung ist nun wirklich nicht sinnvoll, nicht einmal für den Fiskus. Denn das größte Risiko für die Staatsfinanzen ist die Massenarbeitslosigkeit. Wenn Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, besteht oftmals die einzige Möglichkeit zur Rettung von Arbeitsplätzen in einer Übernahme. Genau diese erschweren Sie mit diesem Gesetz. Die Bereitschaft wirtschaftlich gesunder Unternehmen, sich auf das riskante Unterfangen einer Übernahme eines Insolvenzkandidaten einzulassen, sinkt ganz erheblich, wenn die Verlustvorträge nicht übernommen werden können. Das wissen Sie ganz genau. Ich habe die Befürchtung, dass Ihre Regelung ein echtes Problem werden wird. Das ist nur ein Kritikpunkt von vielen. Auch die von Ihnen betriebenen Änderungen zur Bemessungsgrundlage für den Eigenverbrauch bei der Umsatzsteuer oder zur erweiterten Kürzung nach § 9 Gewerbesteuergesetz lehnen wir ab. Über die Wiedereinführung der Zwischengewinnbesteuerung haben wir von Herrn Kollegen Fahrenschon deutliche Kritik gehört, die ich voll und ganz teile. Die Wiedereinführung der Zwischengewinnbesteuerung ist ein Rückschlag für die dringend erforderliche Neuordnung der Besteuerung privater Kapitalanlagen. Sie hätten, wie damals bei der Abschaffung der Zwischengewinnbesteuerung angekündigt, besser einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Zinsabgeltungsteuer einbringen sollen. ({5}) Die Wiedereinführung der Zwischengewinnbesteuerung ein Jahr nach ihrer Abschaffung ist kein Fortschritt. Es ist kein modernes und kein zeitgemäßes Gesetz. Es lässt nur erkennen, wie unzuverlässig die Finanzpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist. Wir können einem solchen Gesetz wahrhaftig nicht zustimmen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabi Frechen.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs bildet, wie auch der Name schon sagt, die Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht. Gleichzeitig wird mit dem Gesetz auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesfinanzhofs reagiert. Hier zeigen sich auch gleich die unterschiedlichen Auffassungen der Fraktionen. Während wir von der Koalition überprüfen, inwieweit diese Entscheidungen der Intention des Gesetzes entgegenstehen, und entsprechend reagieren, verteidigt die Opposition jedes Steuerschlupfloch, das durch solche Entscheidungen geöffnet oder bestätigt wird, mit der ganzen Kraft ihrer Argumentation. ({0}) Dabei ist es geradezu die Pflicht von uns Parlamentariern, Steuervermeidungs- und Steuerumgehungstatbestände zu beseitigen, damit nicht findige Rosinenpicker auf Kosten der Allgemeinheit Steuersparmodelle entwickeln, von denen nur wenige Auserwählte profitieren. ({1}) - Frau Wülfing, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann lassen Sie sich doch von Ihrer Fraktion Redezeit einräumen. Jetzt spreche ich. Eine BFH-Entscheidung, die hier schon angesprochen worden ist, betrifft die Vorauszahlungen auf Erbbauzinsen. Das Gesetz schließt hier ein Steuerschlupfloch, das die Entscheidung des BFH offen gelegt hat. Der Einwand der unechten Rückwirkung zieht meines Erachtens hier ebenfalls nicht. Denn Vertrauensschutz auf ein Rückwirkungsverbot kann nur dann bestehen, wenn die Betroffenen das Risiko nicht kennen. Das ist hier eindeutig nicht der Fall. Das Urteil wurde nie veröffentlicht. Allen Betroffenen war damit klar, dass der Gesetzgeber eine Änderung anstrebt. Die beteiligten Anbieter und Anleger wissen sehr wohl, auf was sie sich einlassen, wie das Fazit zu einem Kurzbeitrag in der Zeitschrift „Die Steuerberatung“ zeigt: In allen Fällen sind Mandanten auf die drohende Gefahr der Nichtanerkennung der steuerlichen Gestaltung hinzuweisen. Wie wichtig diese gesetzliche Regelung ist, die wir heute hier verabschieden, möchte ich mit einem Auszug aus der „Medical Tribune“ bestätigen: Galt der geschlossene deutsche Immobilienfonds früher als das Steuersparmodell schlechthin unter Ärzten, bringt er mittlerweile nur noch 20 Prozent Verlustzuweisungen. Seit Juni scheinen jedoch wieder paradiesische Zustände für Steuerfüchse zu herrschen: Die ersten hiesigen Immobilienfonds mit 70-prozentigen Verlusten sind auf dem Markt. Ihr Konzept - das so genannte Erbbaurechtsmodell ist ebenso clever wie umstritten. Ich denke, das sagt alles. ({2}) Dass die Opposition ein großes Herz für kreative Steuergestaltung zum Zwecke der Steuervermeidung hat, zeigt auch ihr Verhalten bei den Regelungen, die die Gewerbesteuer betreffen. Im vorliegenden GesetzentGabriele Frechen wurf sind Regelungen für die Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens bei der Gewerbesteuer von Personengesellschaften vorgesehen. Hiermit wird vermieden, dass durch ein bloßes, willkürliches Wechseln der Unternehmensform Verluste immer genau dort geltend gemacht werden, wo sie steuerwirksam sind, also von der ganzen Gemeinschaft getragen werden, und dass Gewinne selbstverständlich nur dort realisiert werden, wo sie steuerunwirksam bleiben. Ebenfalls der Vermeidung von allzu kreativer Steuergestaltung dient die Vorschrift über die Behaltefrist bei der Übertragung von Grundstücken. Es kann nicht sein, dass Grundstücke einzig und allein zum Zwecke der Steuergestaltung für einen kurzen Zeitraum in eine grundstücksverwaltende Personengesellschaft eingelegt werden, weil sie von dort steuerfrei veräußert werden können. Der Steueroptimierung durch eine steuerplanerische Gestaltung auf dem Rücken der Kommunen muss hier ganz entschieden entgegengewirkt werden. ({3}) Beiden Regelungen, die verhindern, dass den Kommunen dringend benötigte Gewerbesteuereinnahmen entzogen werden, versagt die Opposition ({4}) durch ihre Ablehnung die Unterstützung. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, machen Sie einmal mehr deutlich, dass bei Ihnen die Kommunen nur in Sonntagsreden vorkommen - und auch da in erster Linie zu Wahlkampfzwecken. ({5}) Die FDP findet hier keine Beachtung, ({6}) da sie bereits seit langem zum Wohle ihrer Wählerklientel die völlige Abschaffung der Gewerbesteuer und somit das Ende der kommunalen Selbstverwaltung und Selbstverantwortung fordert. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn meine Redezeit dadurch verlängert wird, gerne.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die wird nur um die Zeit verlängert, die Sie benötigen, um zu antworten. Dann ist sowieso Schluss.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann muss ich mich beeilen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie machen das mit einem eleganten Schlusssatz; da bin ich sicher. - Bitte.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Frechen, sind Sie denn bereit, dem Hohen Hause einzugestehen, dass wir einen Ausgleich für die Kommunen wollen, indem sie erheblich stärker an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer beteiligt werden, als das bisher der Fall war und wie wir es erreicht haben, als die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wurde und die Kommunen erstmalig an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer beteiligt wurden, und gestehen Sie ein, dass die Kommunen jetzt sagen: „Wir sind im Zusammenhang mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer mit dem vorgesehenen Modell eines Ausgleichs sehr zufrieden und können uns vorstellen, dass wir mit einer höheren Beteiligung an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer die Gewerbesteuereinnahmen voll kompensieren können“? ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Thiele, der ersten Hälfte Ihrer Frage hätte ich vielleicht noch zustimmen können. Bei der zweiten Hälfte fällt es mir natürlich sehr schwer. Denn Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Kommunen damit eben nicht einverstanden sind ({0}) und dass sie im letzten Sommer Sturm für die rot-grüne Gemeindefinanzreform gelaufen sind. Das, was Sie vorhaben, ist das Ende der Selbstverwaltung. ({1}) Damit ist keine Kommune einverstanden. ({2}) Die vororganschaftliche Anrechnung oder Nichtanrechnung von Mehrabführungen ist nicht neu. Das haben nicht wir erfunden; darauf weisen BMF-Schreiben aus den Jahren 1996 und 1997 hin. Hier korrigieren wir also handwerkliche Fehler ({3}) der schwarz-gelben Vorgängerregierung. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird nur klargestellt, was es mit der Verrechnung von vororganschaftlichen Minder- oder Mehrabführungen auf sich hat. Die Zwischengewinnbesteuerung kann ich nicht mehr ansprechen. - Ich traue mich gar nicht, die Frau Präsidentin anzuschauen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Genau!

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Trotz aller Differenzen und trotz Ihres Wortbeitrages, Herr Fahrenschon, möchte ich mich für die gute Atmosphäre und die sachliche Gestaltung der Beratung dieses Gesetzentwurfes bedanken. Wir waren ganz nah dran, aber leider nur ganz nah. ({0}) Schließen möchte ich mit einem Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach: Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der anschließenden Abstimmung haben Sie die Gelegenheit, dieser Weisheit Rechnung zu tragen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich sage es ja immer: Spät abends und am Freitagnachmittag kommt der ganze Literaturschatz zutage. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Stefan Müller. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Streng genommen bin ich in der Situation, zu dem Teil des Gesetzes zu sprechen, den es gar nicht mehr gibt. Ich kann es Ihnen gleichwohl nicht ersparen, meiner Rede zuzuhören, bedanke mich an dieser Stelle aber ganz herzlich bei den Regierungsfraktionen, dass sie unseren Anregungen im Teil Berufsrecht gefolgt sind. Wir haben zumindest im Hinblick auf diesen Bereich die Hoffnung, das eine oder andere gemeinsam machen zu können. Dass wir dem Gesetz heute nicht zustimmen, hat nicht damit zu tun, dass wir in den Ausschussberatungen über das Berufsrecht diskutiert haben, sondern hängt schlicht und ergreifend an den steuerrechtlichen Bestimmungen, die wir, wie bereits deutlich wurde, nicht unterstützen können. Im Finanzausschuss haben wir gestern gemeinsam beschlossen, den berufsrechtlichen Teil, also die vorgeschlagenen Änderungen des Steuerberatungsgesetzes, aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf herauszunehmen und stattdessen im kommenden Jahr eine umfassende Reform des Berufsrechts für den Steuerberater in Angriff zu nehmen. Wir hoffen, dass im nächsten Jahr auch Ergebnisse aus der Bund/Länder-Arbeitsgruppe vorliegen. An dieser Stelle sage ich ausdrücklich, dass die Union für eine Modernisierung des Berufsrechtes der Steuerberater ist, ({0}) nicht zuletzt deshalb, um die gesetzlichen Regelungen, wie bereits von Ihrer Seite anklang, der Lebenswirklichkeit anzupassen. Dies wird von uns überhaupt nicht bestritten. Nicht eingeleuchtet hat uns aber von Anfang an, warum einzelne Vorschläge, die in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht sind, in diesem Gesetzentwurf aufgegriffen wurden, obwohl schon Mitte des Jahres, wenn ich richtig informiert bin, beschlossen worden ist, eine gemeinsame Bund/Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, deren Ergebnisse zu einem Achten Steuerberatungsänderungsgesetz führen sollen. Insbesondere bei den Vorschlägen zur Befugniserweiterung für die geprüften Bilanzbuchhalter hat ganz offensichtlich ein Meinungsumschwung bei der Bundesregierung eingesetzt. Wie anders wäre es zu erklären, dass in der Unterrichtung durch die Bundesregierung vom Mai noch zu lesen war: Die Bundesregierung hält es aus Gründen des Verbraucherschutzes, zur Wahrung eines fairen Wettbewerbs und zur Sicherung des Steueraufkommens nicht für möglich, die Befugnisse der geprüften Bilanzbuchhalter zu erweitern. Auf eine schriftliche Frage des Kollegen Pinkwart haben Sie, Frau Staatssekretärin, geantwortet, dass Bilanzbuchhaltern die erforderlichen Kenntnisse zur Lösung schwieriger Umsatzsteuerfragen kaum vermittelt werden dürften. Dennoch sind in diesem Gesetzentwurf, mit dem wohlgemerkt die Absicht verfolgt werden sollte, EU-Richtlinien umzusetzen, entsprechende Befugniserweiterungen vorgeschlagen worden. Der Bundesrat hat diesen Punkt sowie die vorgeschlagene Kooperation von Bilanzbuchhaltern mit Steuerberatern einstimmig abgelehnt. Für meine Fraktion mache ich ferner deutlich, dass wir uns in diesem Bereich über eine Flexibilisierung durchaus verständigen können. Wir haben es aber von Anfang an für sinnvoll erachtet, dies im Lichte einer Gesamtreform zu beraten, weil es neben den von Ihnen aufgegriffenen Vorschlägen zur Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung noch weitere Anliegen gibt, die wir in diesem Zusammenhang diskutieren müssten. Gleiches gilt für den Syndikussteuerberater, den wir ausdrücklich begrüßen. Auch hier hätten wir gerne noch weitere Vorschläge der Wirtschaft diskutiert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben gestern lediglich den Teil des Gesetzentwurfs unverändert gelassen, bei dem es um die Lohnsteuerhilfevereine geht. Damit haben wir der Tatsache Rechnung getragen, dass Sie in diesem Hause Gesetze beschlossen haben, aufgrund deren Änderungen bei den Lohnsteuerhilfevereinen notwendig waren. Wir wollten erreichen, dass die Beratung der lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer ab dem 1. Januar 2005 gewährleistet bleibt. Stefan Müller ({1}) Abschließend halte ich fest, dass wir uns von der Bund/Länder-Arbeitsgruppe ab Mitte des nächsten Jahres Ergebnisse erhoffen, die wir als Arbeitsgrundlage in diesem Hause verwenden können, um unter Beteiligung aller betroffenen Berufsgruppen ein Achtes Steuerberatungsänderungsgesetz zu beraten und auf den Weg zu bringen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung anderer Vorschriften. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/4050, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 f auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard ScheweGerigk, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({0}), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ({1}) - Drucksache 15/3706 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ({3}) - Drucksache 15/3966 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 15/4061 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Jerzy Montag Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesregierung.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die „Stuttgarter Zeitung“ schreibt heute, wir müssten länger als 22 Uhr arbeiten. Das hätten wir verhindern können; aber nun ist es so. Außerdem schreibt die „Stuttgarter Zeitung“, selbst der sonst immer so versierte Parlamentarische Geschäftsführer Wilhelm Schmidt habe nicht gewusst, was es mit dem Anhörungsrügengesetz auf sich habe. ({0}) Dem können wir jetzt alle gemeinsam abhelfen. ({1}) Wir setzen nämlich einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um: Verletzt ein Richter den Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör, so reicht es nicht, den Betroffenen auf eine Verfassungsbeschwerde zu verweisen. Dem Verstoß muss im fachgerichtlichen Verfahren abgeholfen werden. Der Entwurf sieht vor, dass die Überprüfung von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorrangig im vorhandenen Rechtsmittelzug stattfindet. Wenn es gegen eine Entscheidung keinen Rechtsbehelf gibt oder der Rechtsmittelzug erschöpft ist, so kann sich der Betroffene künftig mit der Anhörungsrüge wehren. Die nunmehr für alle Verfahrensordnungen vorgesehene Anhörungsrüge orientiert sich am Vorbild des bisherigen § 321 a Zivilprozessordnung, der allerdings seinerseits erweitert werden musste. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat dem Gesetzgeber diese Regelung ausdrücklich als mögliches Modell bei Anhörungsverstößen genannt. Die Anhörungsrüge ist unter anderem wie folgt ausgestaltet: Es handelt sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf. Die Erhebung der Rüge verhindert nicht, dass die angefochtene Entscheidung rechtskräftig wird. Die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat. Ist sie erfolgreich, so wird das Verfahren in der Lage fortgesetzt, in der es sich vor der Entscheidung befunden hat. Die Entscheidung über die Anhörungsrüge ist ihrerseits nicht anfechtbar. Wir haben die Anhörungsrüge ausdrücklich in die verschiedenen Verfahrensordnungen aufgenommen. Damit wird der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Rechtsmittelklarheit Rechnung getragen. Daraus erklärt sich der Umfang des hier vorliegenden Entwurfs. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein ganz wichtiges Grundrecht. ({2}) Erst die Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs ermöglicht eine faire und richtige Entscheidung. Wo es darum geht, nachträglich Abhilfe wegen eines Verstoßes gegen dieses Grundrecht zu schaffen, müssen aber auch das Interesse des Prozessgegners an einer abschließenden Entscheidung in angemessener Zeit, das in dem ebenfalls mit Verfassungsrang versehenen Grundsatz der Rechtssicherheit seinen Ausdruck findet, und auch das Gemeininteresse an einer funktionierenden Justiz berücksichtigt werden. Der Entwurf nutzt den Spielraum, den uns das Bundesverfassungsgericht eingeräumt hat, und kommt so zu einer ausgewogenen Regelung. Nennen möchte ich den Eintritt der Rechtskraft trotz Rügemöglichkeit, die Verfahrens- und Formvorschriften und die Unanfechtbarkeit der Entscheidung über die Rüge. Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung ist es auch, dass der Entwurf die Frist zur Erhebung der Rüge an die Kenntnis vom Anhörungsverstoß knüpft und sie nicht mit der Zustellung oder Bekanntgabe der Entscheidung beginnen lässt; denn in vielen Fällen erfolgt überhaupt keine Zustellung. Diese Lösung entspricht dem rechtskraftdurchbrechenden Charakter des Rechtsbehelfs, ermöglicht dem wirklich Betroffenen die rechtzeitige Einlegung des Rechtsbehelfs und verhindert im Übrigen, dass die Gerichte mit lediglich zur Fristwahrung erhobenen Rügen oder mit querulatorischen Rügen überzogen werden. Wie sich die Einführung einer Anhörungsrüge auf die Arbeitsbelastung der Gerichte, vor allem der Instanzgerichte, auswirken wird, lässt sich kaum prognostizieren. Wir wissen aber, dass § 321 a ZPO nicht zu einer nennenswerten Mehrbelastung geführt hat; allerdings hat der nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung erforderliche Rechtsbehelf einen deutlich größeren Anwendungsbereich. Lassen Sie uns heute dem Bundesverfassungsgericht treu dienen und diesen Entwurf rechtzeitig zum 1. Januar 2005 umsetzen. Ich bitte um Ihre Zustimmung - ich glaube, ich bekomme sie auch. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie sich so freuen, dass der Freitagabend mit einem poetischen Spruch abgeschlossen wird, ({0}) dann kann ich zwar nicht mit von Ebner-Eschenbach aufwarten; ich sage es aber einmal so: Quod licet jovi, non licet bovi. Für die Absolventen der Gesamtschule: Was dem Herren erlaubt ist, das ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Meine Damen und Herren, unter diesem Gesichtspunkt könnte man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstehen, mit der wir aufgefordert werden, das Anhörungsrügengesetz heute zu verabschieden; denn schon im 49. Band auf Seite 148 ff. - wer es genau nachlesen will: ab Seite 165 - hat das Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten ins Stammbuch geschrieben, dass Rechtsmittelzulassungsbestimmungen nicht zur Selbstregulierung von Arbeitsbelastung dienen dürfen. Nun ist ja signifikant - das gebe ich auch gerne zu -, dass das Bundesverfassungsgericht geradezu überhäuft wird mit Anhörungsrügen. Es ist daher verständlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht auf dieser Baustelle gerne selbst entlasten möchte. Ich möchte aber einige Takte dazu sagen, warum das auf der anderen Seite zu einer Mehrbelastung führt. Es ist doch ganz klar: Die Schaffung und die Öffnung von Rechtswegen und Rechtsmitteln führt automatisch zu einer Mehrbelastung der Gerichte. Die Tatsache, dass wir seit langem bestrebt sind, die Verfahrensarten zu minimieren und die Verfahrensdauer zu straffen, dass wir sogar überlegen, ob wir ganze Fachgerichtsbarkeiten zusammenlegen, um auch Personalressourcen zu sparen, und dass jede Bestrebung des Gesetzgebers darauf hinwirkt, auch personalfinanziell und justizfiskalisch zu sparen, wird doch mit der Schaffung eines eigenständigen Rechtsbehelfs geradezu konterkariert. Man sollte sich über eines nicht täuschen: Die Absicht des Bundesverfassungsgerichts, sich selbst zu entlasten, ist ein Schuss, der auch nach hinten losgehen kann. Denn wer einmal gesehen hat, was für Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht mit der Rüge anrufen, in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt zu sein, der weiß ganz genau, dass man nicht davon ausgehen kann, dass diese Beschwerdeführer keinerlei Neigung verspüren werden, auch noch das Bundesverfassungsgericht anzurufen, bloß weil sie mit der Anhörungsrüge bei den Fachgerichten scheitern. ({1}) Meine Damen und Herren, welcher Anlass besteht eigentlich zu dieser Änderung? Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat es das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für verfassungsgemäß gehalten, wenn nicht die Fachgerichte mit einer Anhörungsrüge angerufen werden können, sondern das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet. Zu diesem Zweck ist die so genannte Urteilsverfassungsbeschwerde ausdrücklich eingerichtet worden, nämlich für die Fälle, in denen nicht ein Akt öffentlicher Gewalt gerügt wird, sondern in denen es um fehlerhafte Anwendung des Rechts durch die Gerichte geht. Meine Damen und Herren, wenn man sieht, dass wir das Personalbudget nicht weiter ausdehnen können - die Landesjustizhaushalte sind, ähnlich wie der Bundesjustizhaushalt, förmlich ausgelutscht -, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder lässt die Qualität der Entscheidung nach oder die Dauer der Verfahren wird immer länger. Weil eben, als es um den Anspruch auf rechtliches Gehör ging, so sehr geklatscht worden ist, sage ich Ihnen: Den Anspruch auf rechtliches Gehör will niemand in Abrede stellen. ({2}) Mit dem vermeintlichen Mehr an Rechtsschutz unter dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz ist gleichzeitig möglicherweise eine Einschränkung des effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz für diejenigen verbunden, die darauf warten, ihre Urteile vollstrecken zu können. Das ist doch ganz klar. Ich muss Sie, Herr Staatssekretär, und die gesamte Ministerialbürokratie dafür loben, wie toll Sie das umgesetzt haben. ({3}) Das meine ich nicht ironisch. Es ist nämlich eine Sisyphusarbeit, die ZPO, die VwGO, die StPO und sämtliche Verfahrensordnungen durchzugehen und zu ändern. Einen Wermutstropfen muss ich trotzdem vergießen: Wenn Sie schon so minutiös und expressis verbis die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, lesen Sie einmal den letzten Satz. Da steht, dass die Antragsfrist mit der Zustellung der Entscheidung und nicht etwa mit ihrer Kenntnisnahme zu laufen beginnt. Das führt sonst dazu, dass man ein Jahr lang das Damoklesschwert einer durchbrochenen Rechtskraft über sich spürt. ({4}) Derjenige, der gerne vollstrecken würde, muss solange warten. Auch das muss man sehen. Es geht doch auch darum, dass ein Verfahrensbeteiligter endlich den Anspruch auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit hat. Übrigens haben diese Gebote Verfassungsrang. Oder täusche ich mich da? Ich glaube, Sie haben das eben selbst gesagt. Die Durchbrechung von Rechtskraft und möglicherweise ein Missbrauch durch querulatorisch veranlagte Beschwerdeführer, die es bei diesen Verfahrensarten durchaus geben soll, ({5}) sind sicherlich ein Gesichtspunkt, der nicht zu gering eingeschätzt werden darf. Nun noch etwas anderes, meine Damen und Herren: Wieso beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Anhörungsrüge eigentlich ausschließlich auf die Verletzung des Verfahrensgrundrechts des Anspruchs auf rechtliches Gehör? Es gibt doch noch mehrere im Grundgesetz verbriefte Verfahrensgrundrechte. Übrigens - das möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen -: Der Ausgangsfall, der den Anlass dafür gegeben hat, dass der Erste Senat das Plenum angerufen hat, weil er von der Rechtsauffassung des Zweiten Senats abweichen wollte - dass also kein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt, wenn es keine fachgerichtliche Überprüfungsmöglichkeit gibt -, war kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör. In diesem Ausgangsfall ging es vielmehr um eine Vollstreckungsgegenklage, die das Landgericht abgewiesen hatte. In der Berufung hat das Oberlandesgericht dem Berufungsführer in einem Belehrungs- und Aufklärungsbeschluss versichert, dass die Revision auch bei einer Reduzierung der Klagesumme auf unter 160 000 Euro - ursprünglich hatte sie sich auf 2 Millionen Euro belaufen - zugelassen wird. Die Revision ist sozusagen durch den Bruch dieser Zusicherung nicht zugelassen worden. Das ist also eigentlich kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern ein Verstoß gegen den ebenfalls grundgesetzlich verbürgten Grundsatz eines fairen Verfahrens. Es bleibt wirklich rätselhaft, aus welchen Gründen das Bundesverfassungsgericht meinte, in diesem Vorlagebeschluss diese Entscheidung herbeizuführen. Meine Damen und Herren, dass die deutschen Verfahrensordnungen an einem signifikanten Mangel an Rechtsstaatlichkeit leiden und dass es in Deutschland nicht genügend Rechtsbehelfe und Rechtswege gibt, kann beim besten Willen niemand behaupten. ({6}) Deswegen sage ich bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht ({7}) - ja, Herr Stünker -: Niemandem kann der Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit genommen werden, weil er in einem Diskurs mit dem Bundesverfassungsgericht steht. Das versuchen Sie ja selbst immer. ({8}) Das Bundesverfassungsgericht schreibt auch uns gelegentlich ins Stammbuch, dass die eine oder andere gesetzliche Vorschrift nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. ({9}) Dem stimmen wir dann auch zu. Aber diese Zustimmung darf nicht dazu verleiten, dass wir klaglos alle Entscheidungen durchwinken; denn wir sind der Gesetzgeber. ({10}) Ob irgendwann einmal jemand darauf hinweist, dass der Gesetzgeber mit der geballten Faust in der Tasche auf eine Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts reagiert hat, das spielt überhaupt keine Rolle mehr. Wir sind der Gesetzgeber und sollen das auch bleiben. ({11}) Es hat mich ein bisschen gewundert, Herr Staatssekretär, dass Sie eben gesagt haben, Ihr Geschäftsführer beklage, dass es nach 22 Uhr wird; es wird vor 22 Uhr. Als Fazit will ich sagen: Ich denke, dass die Streitkultur in unserem Hause durch eine solche Debatte - selbst über ein Gesetz, das an so versteckter Stelle daherkommt - durchaus keinen Schaden nimmt, wenn wir darüber debattieren, ob und aus welchen Beweggründen wir als Gesetzgeber einer Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts Folge leisten. Das bitte ich auch diejenigen zu akzeptieren, die vielleicht von der politischen Konkurrenz sind; ({12}) denn heute Abend gilt nicht die Schlachtordnung „Opposition gegen Regierung“. Ich habe gerne eingeräumt, dass Sie die Änderungen geradezu puristisch und sauber umgesetzt haben, allerdings mit dem kleinen Wermutstropfen, dass Sie statt auf Zustellung und Bekanntgabe auf die Kenntnisnahme abstellen. Ansonsten aber gibt es gar nichts zu erinnern. Ich finde, das ist eine ordentliche Debatte. Ich bin gespannt, was die anderen Redner noch sagen werden. Weil Sie, Frau Präsidentin, und auch die anderen so gerne Zitate hören, vielleicht noch dieses - auch für die Oberrealschülerinnen -: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das haben wir natürlich alle im Auge. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dafür haben Sie uns nun heute hierbehalten und unsere Reden nicht zu Protokoll geben lassen: ({0}) um zwölf Minuten zu nutzen - oder zu missbrauchen -, ({1}) um das Bundesverfassungsgericht zu rügen. Herr Kollege Gehb, das hätten Sie uns ersparen können, ({2}) zumal Sie zum Abschluss gesagt haben, dass Sie diesem Gesetz zustimmen. Sie haben also überhaupt nichts gegen das Gesetz, über das wir hier reden, sondern Sie finden es gut und richtig gemacht. ({3}) Ich kann Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Seien Sie doch dem Bundesverfassungsgericht dankbar! Ich bin dem Bundesverfassungsgericht immer wieder dankbar, wenn wir alle paar Wochen, alle paar Monate den Auftrag bekommen, die Bundesrepublik noch rechtsstaatlicher zu gestalten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Sie zitiert haben, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin; denn das Bundesverfassungsgericht hat uns ja nichts anderes aufgegeben, als eine gesetzliche Regelung in möglichst alle Prozessordnungen aufzunehmen, nach der die Bürgerinnen und Bürger immer dann, wenn das rechtliche Gehör - immerhin ein Verfassungsrecht - verletzt ist, die Möglichkeit haben, das geltend zu machen, ({4}) sich darauf zu berufen und nicht warten zu müssen, bis das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet. Diese Möglichkeit gibt es dann nicht, wenn keine Rechtsmittel gegeben sind. Wir alle, die als Anwälte tätig gewesen sind, kennen doch eine ganze Reihe von Fällen, in denen Bürgerinnen und Bürger - seien es Strafgefangene, seien es Beschuldigte im Strafverfahren oder im Zivilverfahren - als Mandanten zu uns gekommen sind und gesagt haben: Hier bin ich mit einer Entscheidung völlig überrascht worden. Ich hatte ja überhaupt nicht die Möglichkeit, mich dazu zu äußern. - Das kann bis zu strafrechtlichen Verurteilungen und Freiheitsstrafen gehen, bei denen sich der Rechtsanwalt oder der Strafverteidiger verzweifelt fragt: Was kann ich da noch machen? ({5}) Der Kollege Hartenbach hat als Richter, der den Beruf jetzt nicht ausübt, im Ausschuss gesagt: Auch Richter wären manchmal dankbar - auch sie sind nur Menschen -, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben würde, auf die Rüge hin, dass ein Gericht es unterlassen oder übersehen hat, einem Beschuldigten rechtzeitig die Möglichkeit rechtlichen Gehörs zu geben, das Verfahren zu verkürzen und möglicherweise eine Entscheidung zu korrigieren, sodass das Verfahren fortgeführt werden kann und dem Beschuldigten zu seinem Recht verholfen werden kann. Heute ist diese Möglichkeit für einen Richter, der sein Urteil einmal gefällt hat und das dadurch rechtskräftig geworden ist, nicht gegeben. Dagegen kommt er selber nicht mehr an. ({6}) Dieses Gesetz eröffnet jetzt diese Möglichkeit. Es soll nur für die Fälle gelten, in denen die jeweiligen Prozessordnungen keine Rechtsbehelfe vorsehen. Es trifft immer in den Fällen zu, in denen der Bürger oder die Bürgerin darauf angewiesen ist, das Fehlen des rechtlichen Gehörs auf diese Weise geltend zu machen. Dass das Bundesverfassungsgericht dadurch entlastet wird, ist ja richtig. Wir alle wollen, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht erst nach Jahren oder manchmal sogar erst nach einem Jahrzehnt oder noch länger gefällt werden können. Das heißt, es ist richtig und gut, dass das Bundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber, aufgegeben hat, hier eine Regelung zu schaffen, die den Bürgern möglichst schnell zu ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verhilft. Um das auch einmal auf Latein auszudrücken: Wir alle sollten „mea culpa“ sagen, dass wir das nicht schon lange gesehen haben, dass wir nie darangegangen sind, das zu regeln, und dass es erst dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedurfte, um dem Gesetzgeber auf die Sprünge zu helfen. ({7}) Wir begrüßen dieses Gesetz und sind dankbar für die Arbeit, die im Justizministerium geleistet worden ist. Wir denken, wir haben hier ein gutes Gesetz, durch das vielen Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verholfen wird. Das ist gut so. Deshalb sind wir alle für dieses Gesetz. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke. ({0})

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ströbele, ich trete Ihren Ausführungen voll bei und kann Sie nur sehr unterstützen; denn vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. ({0}) Dieses Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Grundgesetz ist eines der tragenden Elemente unseres Rechtsstaatsprinzips. ({1}) In einem gerichtlichen Verfahren ist jedermann die Gelegenheit zu geben, sich vor Erlass einer abschließenden Gerichtsentscheidung zu äußern. Auf der Grundlage dieses prozessualen Grundrechts hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 30. April 2003 dem Gesetzgeber aufgegeben, einen angemessenen Rechtsbehelf gegen anders nicht behebbare Verletzungen des Grundrechts auf rechtliches Gehör zu schaffen. Das Bundesjustizministerium hat diesen Beschluss in ordentlicher und ordnungsgemäßer Weise umgesetzt. Deswegen stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Ich halte es dennoch für ein Gebot der Fairness, dem Eindruck entgegenzutreten, unsere deutschen Gerichte hätten das Recht auf rechtliches Gehör in den vergangenen Jahrzehnten in rechtswidriger Weise missachtet. Diese Aussage ist dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts so auch nicht zu entnehmen. ({2}) - Es passiert aber natürlich immer mal wieder. Auch Richter und im Übrigen auch Anwälte, Herr Kollege Ströbele, sind Menschen. ({3}) Auch ein Anwalt kann bei einem Prozess vielleicht einmal mit darauf achten, ob rechtliches Gehör gewährt worden ist oder nicht. ({4}) - Das ist richtig: Manchmal sind auch keine dabei. - Wir alle sind Menschen und machen deswegen auch Fehler. Das gilt im Übrigen auch für Bundestagsabgeordnete. ({5}) Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenommen und ich meine, er ist ordnungsgemäß umgesetzt worden. Für diese Arbeit ist der Bundesregierung zunächst zu danken. ({6}) Mit dem Gesetzentwurf wird die Anhörungsrüge als eigenständiger Rechtsbehelf geschaffen. Die Einführung eines neuen Rechtsbehelfs führt bei den unterschiedlichen Organen der Justiz und Rechtspflege naturgemäß zu unterschiedlichen Beurteilungen. Die Landesjustizverwaltungen sind darüber natürlich nicht immer glücklich, weil dadurch mehr Kosten entstehen können. Auch die Anwälte waren mit der Regelung nicht ganz glücklich, weil die Begründungsfrist nicht wie gewünscht verlängert worden ist. Mit Ausnahme der eben erwähnten „Mängel“ sind die wesentlichen Organe zufrieden. Deshalb meine ich, dass es ein ordentlicher Kompromiss ist. Wir werden diesen Kompromiss mittragen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manzewski.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute abschließend über das so genannte Anhörungsrügengesetz der Koalition. Dieses Gesetz musste gemacht werden - das ist schon erwähnt worden -, weil das Bundesverfassungsgericht für Fälle der Verletzung des rechtlichen Gehörs weiteren Gesetzgebungsbedarf sah. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gibt es derzeit nach geltendem Recht weder innerhalb des allgemeinen Rechtsbehelfssystems noch mit einem ausdrücklich dafür vorgesehenen Rechtsbehelf hinreichende Möglichkeiten dazu. Ein Regelungsbedarf besteht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere bei letztinstanzlichen Entscheidungen und in den Fällen, für die es nach geltendem Recht eben keine Rechtsmittel gibt. Ich muss ganz deutlich sagen: Anders als der Kollege Ströbele habe ich selbst meine Probleme mit dieser Entscheidung. Ich finde es zum Teil sehr merkwürdig, wie das Urteil so ergangen ist. Man tut gerade so, als ob der Untergang des Abendlandes gedroht hat. Zumindest zu meiner Zeit als Richter habe ich dieses Gefühl nicht gehabt. ({0}) Was mich ein bisschen gestört hat - das sage ich ganz deutlich -, ist, wie dezidiert dieses Mal die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind. Im Grunde genommen - das sage ich im Hinblick auf die Debatte, die wir auf dem Juristentag in Bonn geführt haben -, dass der zu beschließende Gesetzestext vom Bundesverfassungsgericht gleich mitgeliefert wird. Hier werden wir in der Zukunft aufpassen müssen; ({1}) denn auch das Bundesverfassungsgericht hat sich an die Gewaltenteilung zu erinnern. Kollege Ströbele, man sollte ruhig mehr Vertrauen in uns Parlamentarier setzen, dass wir vernünftige Gesetze machen. ({2}) Sei es, wie es sei. Wir haben die Kritik des Bundesverfassungsgerichts zu akzeptieren - daran führt kein Weg vorbei - und diese auch umzusetzen. Der Entwurf der Regierungskoalition hält sich dabei eng an den Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und versucht aus den vorgenannten Gründen, nur das per Gesetz zu regeln, was aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zwingend zu regeln ist. In dem Entwurf wird deshalb davon ausgegangen, dass die Überprüfung von Anhörungsverstößen zunächst im vorhandenen Rechtsmittelzug stattzufinden hat. Die Anhörungsrüge soll nur subsidiär greifen, nämlich dann, wenn sie nicht anderweitig, zum Beispiel über ein Rechtsmittel, überprüft werden kann. Sie orientiert sich dabei am Regelungsmodell des bereits geltenden § 321 a ZPO. Das heißt, die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat. Sollte die Rüge erfolgreich sein, wird das Verfahren in der Lage fortgesetzt, in der es sich vor der mit der Rüge angefochtenen Entscheidung befand. Gegen die Rüge - das finde ich sehr wichtig - ist im Übrigen kein Rechtsbehelf mehr vorgesehen. Wie ich es meinen Kollegen von der Regierungskoalition versprochen habe, komme ich nun zum Schluss. Der Gesetzentwurf unterliegt meiner Auffassung nach weder verfassungsrechtlichen noch rechtsförmlichen Bedenken; jedenfalls sind solche bis zum heutigen Tag nicht vorgebracht worden. Da dieses Gesetz einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts folgt, bitte ich um Ihre Zustimmung. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Anhörungsrügengesetzes. Der Rechtsaus- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/4061, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4061 empfiehlt der Rechtsausschuss, den Entwurf eines Anhörungsrügengesetzes der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3706 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig ange- nommen worden. C) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine konsequente und vollständige Umset- zung des Ohrid-Abkommens in Mazedonien - Drucksache 15/4033 - Die Abgeordneten Zapf, Helias, Tritz und Stinner ha- ben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu kön- nen.1) - Dem stimmen Sie gerne zu. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung ({0}) 1) Anlage 6 (- Drucksache 15/3983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Abgeordneten Lange, Mayer ({2}), Schulz ({3}), Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Andres haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu können.2) - Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. Oktober 2004, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.