Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/25/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Kollege Wilhelm Josef Sebastian feierte am 21. März seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich. ({0}) Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ist von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen die noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin Undine Kurth ({1}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Kurth als stellvertretendes Mitglied in den Parlamentarischen Beirat gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Unterschiedliche Auffassungen im Bundeskabinett zum Emissionshandel und zur Ökosteuer ({2}) ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/2743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({4}), Sibylle Laurischk, Joachim Günther ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben - Drucksache 15/2470 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay - Drucksache 15/2756 ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung des Engagements der Bundesregierung für den Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozess in Afghanistan - Drucksache 15/2757 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 7 g - Menschenrechte in Tunesien - abgesetzt werden. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden … Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch - ({7}) - Drucksache 15/1406 überwiesen: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Gerade wird mir ein Zettel mit der Mitteilung gereicht, dass die Kollegin Silvia Schmidt ({9}) heute ihren 50. Geburtstag feiert. Herzlichen Glückwunsch! ({10}) Redetext Präsident Wolfgang Thierse Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Erklärung durch den

Not found (Kanzler:in)

Unser Weg zu neuer Stärke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr habe ich hier dem Deutschen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Mit ihr verfolgen wir ein klares Ziel: Deutschland zu neuer Stärke führen. Mit dieser Politik kommen wir unserer Verantwortung nach, Deutschlands Zukunft nicht nur außenpolitisch zu sichern, sondern unsere Gesellschaft auch ökonomisch und sozial zu erneuern, damit Deutschland unter völlig veränderten Bedingungen ein Land des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit bleibt, ein Land, das für eine Kultur der Zuversicht und des Fortschritts im Sinne praktizierter Vernunft steht, ein Land, das modern ist, weil es alle Quellen des Wissens erschließt und sie in einer offenen Gesellschaft allen zugänglich macht, ein Land, das aus diesen Gründen einen Platz in der Weltspitze einnimmt, nicht weil wir ein Recht auf diesen Platz hätten oder weil wir andere dominieren wollten, sondern weil es gerade durch die Praxis von Verantwortung und Erneuerung zur Weltspitze gehört. ({0}) Heute steht Deutschland auf diesem Weg bereits um einiges besser da als noch vor zwölf Monaten. ({1}) Die wirtschaftliche Stagnation der vergangenen drei Jahre ist überwunden, ({2}) die Investitionstätigkeit zieht wieder an, Auftragseingänge und Produktion der Industrie weisen aufwärts. Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr zum ersten Mal seit drei Jahren wieder wachsen. Im vergangenen Jahr hat die deutsche Exportwirtschaft so viele Waren und Dienstleistungen abgesetzt wie kein anderes Land der Welt. Der Rückgang der Erwerbstätigkeit kommt allmählich zum Stillstand. Das sind ermutigende Erfolge, auf denen wir aufbauen können. Sie zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber es ist nichts, worauf wir uns ausruhen könnten. Was mich allerdings noch mehr ermutigt und was ich wichtig finde, ist die Tatsache, dass wir in diesem einen Jahr gewiss unter Schwierigkeiten, aber doch gezeigt haben: Wir Deutschen sind fähig und bereit, unser Land zu reformieren und den Egoismus zu überwinden - den Egoismus der Einzelnen, aber vor allem den Egoismus der Interessengruppen. Vor einigen Wochen schrieb die „New York Times“, die Deutschen hätten in der Reformdiskussion die Chance, sich darauf zu besinnen, dass sie nicht die Fähigkeit verloren hätten, hart zu arbeiten, Neues hervorzubringen und Opfer auf sich zu nehmen. Genau damit hätten sie das Wirtschaftswunder hervorgebracht. - Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können heute allen Schwierigkeiten und allen Problemen zum Trotz sagen: Wir Deutschen sind jetzt im Begriff, diese Chance, uns auf unsere eigenen Stärken zu besinnen, auch zu nutzen. Wir haben bewiesen, dass wir bereit sind zur Wahrheit und zur Lösung von Problemen, auch wenn sie schmerzhaft und auch wenn sie kompliziert sind. Wir haben damit die Blockierer und die Schwarzmaler widerlegt. ({3}) Aus meinen vielen, gelegentlich sehr kontroversen Gesprächen über den zweifellos schwierigen Umbau unseres Sozialstaates ist mir eine Begegnung besonders in Erinnerung geblieben. Es war eine Rentnerin aus Bocholt, die am Ende einer solchen Diskussion aufstand und sagte: Ich und viele, die in ähnlicher Lage sind wie ich, sehen ja ein, dass auch wir etwas beitragen müssen. Aber es ist nicht immer einfach für uns. Deshalb würden wir uns wünschen, dass die Politik und die Gesellschaft uns auch einmal ihre Anerkennung aussprechen. Noch wichtiger ist es, dass sie uns klar machen: Was wir jetzt beitragen, lohnt sich, weil unsere Kinder und unsere Enkelkinder etwas davon haben werden. Mich hat das sehr beeindruckt. Ich finde, darüber sollte man in diesem Land nachdenken. ({4}) Es ist gewiss so, dass die heutige Rentnergeneration unser Land zur Stärke geführt hat. Diese Generation hat das Land wieder aufgebaut, als es in Trümmern lag. Diese Generation weiß, was Entbehrungen bedeuten. Wir wissen, dass für viele dieser heutigen Rentnerinnen und Rentner 10 oder 20 Euro weniger im Monat sehr wohl einen Unterschied in der Lebensqualität ausmachen. Deshalb ist mir keine Entscheidung zur Agenda 2010 so schwer gefallen wie die, auch Rentnerinnen und Rentner stärker zu belasten. ({5}) Ich weiß, was diese Rentnergeneration für das Gemeinwohl zu leisten bereit ist, und viele in unserem Land - vor allen Dingen diejenigen, denen es sehr gut geht - sollten sich ein Beispiel daran nehmen. ({6}) Diesen Menschen versprechen wir: Eine Politik des bloßen Umverteilens von unten nach oben wird es mit uns nicht geben. Umverteilen aber müssen wir, und zwar vom Gestern und Heute ins Morgen, in die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkel. ({7}) Was ich dieser Generation, zumal dieser Rentnergeneration, gerne sagen würde, ist: Was wir zusammen begonnen haben, wird sich auszahlen: in Zukunftschancen, in Freiheit und Wohlstand für unsere Kinder und für deren Kinder. Wir haben in dem zurückliegenden Jahr viel geschafft. Wir haben sehr viele Probleme, deren Bewältigung wir alle zusammen auf die lange Bank geschoben hatten und die über Jahrzehnte hinweg nicht gelöst worden waren, auf einmal angehen müssen. Das war nicht leicht und es ist nicht ohne Reibungsverluste verlaufen - ich weiß wahrlich, worüber ich in diesem Zusammenhang rede -, übrigens auch nicht ohne Fehler im Detail. Klar ist allerdings auch: Wir sind noch längst nicht am Ende unseres Weges. Aber die wichtigste Zwischenbilanz, die wir heute ziehen können, lässt sich sehen: Wir haben uns und anderen bewiesen, dass auch in schwierigen Zeiten und in oft mühseligen und langwierigen Verfahren Veränderungen für das Gemeinwohl möglich und machbar sind. Wir haben gesehen: Wenn die politische Führung den Mut zur Veränderung aufbringt, dann besteht die Chance, dass wir auch die Bereitschaft der Menschen finden, solche Veränderungen mitzutragen. Notwendig - im wahrsten Sinne dieses Wortes - ist das für unser Land. Wir haben erkannt - diese Erkenntnis wächst in unserer Gesellschaft -, dass Veränderungen auch dann sein müssen, wenn sie im Einzelfall schmerzhaft sind, übrigens so schmerzhaft, wie es auch die diesen Veränderungen zugrunde liegende Wirklichkeit gelegentlich ist. ({8}) Wir wissen heute sehr viel genauer, mit welchen Blockaden wir es auf unserem Weg zur Erneuerung zu tun haben. ({9}) Wir haben begonnen, eine Verständigung über den notwendigen Weg zu erreichen. Es geht um eine Verständigung darüber, was dieses Land nach innen und nach außen sein will und sein wird: eine treibende Kraft der europäischen Integration, ein selbstbewusstes, aber nie überhebliches Mitglied der Völkerfamilie, ein wichtiger Partner im Kampf gegen Terrorismus und Gewalt, aber eben auch ein Anwalt für eine gerechte, weil kooperative Weltordnung. ({10}) Im Innern will und wird es ein Land sein, das seiner Kraft vertraut, der Kraft, die nach bitteren Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Zerstörung Wiederaufbau und neuen Wohlstand geschaffen hat, ein Land, das diese Kraft in der Erneuerung wiedergewinnt und dabei den Egoismus überwindet, vor allem ein Land, das auch in der Veränderung eine soziale Gesellschaft bleiben will und bleiben wird, weil gerade das ein Teil unserer Kraft ist. ({11}) Ich weiß sehr wohl: Die Idee von der sozialen Gesellschaft hat heute eine Menge Gegner. In der Rechnung derjenigen, die predigen, dass in der Globalisierung nur ein ungezügelter Marktliberalismus konkurrenzfähig sei, zerfällt jede Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Ich denke aber auch an diejenigen, die den Sozialstaat alter Prägung um jeden Preis verteidigen wollen, die den Sozialstaat mit einem Sozialhilfestaat verwechseln und jede Reform als Angriff auf die Gerechtigkeit bekämpfen. Beide liegen falsch. ({12}) Deutschlands Weg zu neuer Stärke führt allein über die Verteidigung der sozialen Gesellschaft. Das setzen wir all denen entgegen, die Reformen nur als Verzicht begreifen, aber auch denjenigen, die immer nur Verzicht predigen, dabei aber ausschließlich an andere denken. ({13}) Bei der Besinnung auf unsere Stärken gibt es auch eine Rückbesinnung auf unsere Tugenden: Erfindergeist und Fleiß, Kreativität, auch Leistungsbereitschaft und auch die Tugend der Anständigkeit. In der öffentlichen Diskussion hat man das häufig „die deutschen Arbeitnehmertugenden“ genannt. Das ist aber falsch. Es müssen auch Arbeitgebertugenden sein. ({14}) Wir können den Menschen sehr wohl verständlich machen, dass staatliche Mittel, die wir für Zukunftsinvestitionen brauchen, nur dort eingespart werden können, wo sie bislang ausgegeben worden sind: bei den Subventionen und auch in den Sozialhaushalten. ({15}) Wir können ihnen genauso gut verständlich machen, dass schärfere Regeln bei der Arbeitsaufnahme sein müssen, weil es in einer sozialen Gesellschaft nicht sein darf, dass jemand, der die Annahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, besser dasteht als jemand, der sich abmüht. Aber auch mein Verständnis endet dort, wo diejenigen, die wenig oder durchschnittlich verdienen, selbstverständlich Opfer für die Zukunft bringen, während sich einige Hundert Spitzenverdiener ungeniert Pensionsansprüche und Abfindungen in Millionenhöhe genehmigen. ({16}) Dieses Verhalten mag sogar nach Recht und Gesetz sein. Aber es ist nicht nach Moral und Anstand. ({17}) Auch in Zeiten der Globalisierung ist die Sozialbindung des Eigentums, wie sie im Grundgesetz steht, keineswegs hinfällig geworden. Wir haben den Umbau des Sozialstaates begonnen, und zwar mit dem Ziel, dass er auch in Zukunft denjenigen hilft, die sich nicht selber helfen können. Aber wir werden den umgebauten Sozialstaat viel besser als bisher nutzen, weil wir in Deutschland auf dieser Basis eine dynamische und wettbewerbsfähige Gesellschaft weiterentwickeln, die aber auch eine Gesellschaft des sozialen Zusammenhalts, der Freiheit, der Sicherheit und der Teilhabe sein wird. Deswegen werden wir die Mitbestimmung nicht kaputtmachen lassen, sondern weiterentwickeln. ({18}) Das sind die Themen der Zukunft: Innovationen, neue Patente, neue Verfahren und neue Märkte. Wir wollen Wachstum durch Modernisierung. Aber vor allem wollen wir Innovation für unsere Kinder bei Bildung, Forschung und Betreuung; denn das bringt Zukunftschancen. ({19}) Zwei Dinge sind es, die beim Aussprechen dessen, was ist, immer am Anfang stehen müssen. Erstens. Wir leben und arbeiten in einer offenen Volkswirtschaft, die sich Tag für Tag dem internationalen Wettbewerb zu stellen hat, und zwar zu Bedingungen, unter denen die Freiheit, Kapital global anzulegen oder zu investieren, ungleich größer ist als die Sicherheit eines Facharbeiters, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Zu behaupten, ein Land, das so stark von Außenwirtschaftsbeziehungen abhängig ist wie Deutschland, könne sich gleichsam von der Globalisierung abkoppeln, wäre grob fahrlässig. Aber zu fordern, dass wir deswegen alle Errungenschaften der Teilhabe, der Sozialverträglichkeit und des Schutzes der Lebensgrundlagen über Bord werfen sollten, wäre wiederum ein Anschlag auf all das, was uns stark gemacht hat und stark erhält. ({20}) Die zweite Entwicklungslinie, mit der wir es zu tun haben, ist: Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Immer weniger Beschäftigte müssen für immer mehr Rentnerinnen und Rentner aufkommen. ({21}) - Auch wenn das nicht neu ist, muss es immer wieder einmal gesagt werden, damit Sie es ebenfalls verstehen. ({22}) Mir liegt daran, dass das bei uns im Land noch deutlicher wird. 1960 haben zehn Beschäftigte die Altersversorgung von einem Rentner bezahlt. Deswegen waren die Beiträge relativ niedrig. Bis heute sind die Beiträge deutlich gestiegen, weil nur noch drei bis vier Beschäftigte für einen Rentner aufkommen müssen. Bei ungebremster Entwicklung werden es 2030 nur noch zwei Beschäftigte sein, die für einen Rentner aufkommen müssen. Seit den 60er-Jahren sind in Deutschland sowohl das Wirtschaftswachstum als auch die Geburtenrate ständig rückläufig. Natürlich hängt das eine mit dem anderen zusammen. Wenn die Bevölkerung schrumpft - das ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein Problem, das alle europäischen Länder haben; alle diejenigen, die es zu lösen versuchen, haben damit ähnliche Schwierigkeiten wie, zugestandenermaßen, wir auch -, geraten nicht nur die sozialen Sicherungssysteme bei uns und in ganz Europa immer stärker unter Druck, sondern es wird auch immer schwieriger, den Wohlstand zu erwirtschaften, der unseren Sozialstaat überhaupt erst ermöglicht. Gewiss, eine Bevölkerungspolitik, wie gerade wir in Deutschland sie in zwei Diktaturen erlebt haben - ich nenne nur die Stichworte; „Mutterkreuz“ hieß es bei den Nazis und „Abkindern“ in der früheren DDR -, ist das Gegenteil von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Aber wir müssen aufpassen, dass unser Wunsch nach Freiheit uns nicht die Freude am Leben mit Kindern verdirbt. ({23}) Wer sich für ein Leben mit Kindern entscheidet, trifft damit immer eine Entscheidung, die über das eigene Leben und die eigenen Interessen hinausweist. Diese Entscheidung kann der Staat niemandem abnehmen. Aber dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen stimmen, für die Eltern, aber noch mehr für die Kinder, das muss ein moderner Sozialstaat leisten. ({24}) Globalisierung und demographische Entwicklung lassen uns keine Alternative dazu, unseren Sozialstaat und die Marktwirtschaft zu reformieren. Es gibt natürlich Reformalternativen - die mag im demokratischen Wettstreit jeder selbst beurteilen -, aber es gibt keine Alternative zur Reform. Der Weg, den die Bundesregierung vorschlägt, ist klar umrissen. Es ist der Weg der ökologischen Modernisierung und der Weg der gesellschaftlichen Erneuerung. ({25}) Die Agenda 2010 ist eben kein bloßes Sparprogramm. Sie ist ein Programm, bei dem Geld eingespart wird und werden muss - das ist wahr -, aber es wird eingespart, um es im Sinne eines besseren Lebens verfügbar zu machen, also in die Zukunft zu investieren. ({26}) Die Agenda 2010 ist eine Antwort darauf, dass die Zeit der immer währenden Zuwächse der Wirtschaft, in der immer mehr an die Menschen im Land verteilt werden kann, vorüber ist. Das bloße Verteilen von Mitteln war auch nie der wirkliche Inhalt des Sozialstaates. ({27}) Wir geben pro Kopf der Bevölkerung mehr Geld für die Gesundheitsvorsorge aus als fast alle anderen Staaten der Welt. Trotzdem sind wir nicht gesünder. Unsere Aufwendungen für familienpolitische Leistungen sind, materiell gesehen, höher als in fast allen anderen Staaten der Welt. Trotzdem gibt es bei uns nicht mehr Kinder. Unsere Arbeitslosenversicherung und die Mittel zur Arbeitsförderung sind in der ganzen Welt wirklich einmalig. Trotzdem ist es in unserem Land seit mehr als 30 Jahren nicht gelungen, jedem, der arbeiten will und kann, einen Arbeitsplatz zu besorgen. Deswegen war und bleibt es richtig, immer wieder neu zu überprüfen, ob die gewaltigen Summen, die wir für die gewünschten Zwecke aufwenden, auch tatsächlich effizient genug eingesetzt werden. ({28}) Die Maßnahmen, die wir zum Teil gemeinsam beschlossen haben, zeigen erste Erfolge. Im Gesundheitswesen, bei Arztbesuchen und Überweisungen, aber auch bei Medikamenten und beim Aufbau und Ausbau von Gesundheitszentren, kommen wir zu strukturellen Verbesserungen. Auf diese Weise können Milliarden Euro eingespart werden. Aber der strukturelle Erfolg ist um ein Vielfaches wichtiger, denn Gesundheit beginnt bei der Vorsorge. Das heißt, jeder Einzelne steht für sich in der Verantwortung. Gesundheit heißt aber auch Fürsorge. Alle Beteiligten, von der Pharmaindustrie über die Apotheker, die Ärzte und die Krankenkassen wissen inzwischen, dass wir von unseren Grundsätzen nicht zurückweichen werden. ({29}) Es bleibt dabei: Jeder und jedem muss das medizinisch Notwendige zur Verfügung stehen; aber Selbstbedienung bei den Gesundheitskassen lassen wir nicht zu, weder bei Herstellern und Verkäufern von Medikamenten noch bei Ärzten und Apothekern, aber auch nicht bei Patienten. ({30}) Bei der Rente haben wir die notwendigen Maßnahmen schon vor der Agenda 2010 eingeleitet, indem wir dafür gesorgt haben, dass sich auch diejenigen eine eigene Zusatzversorgung aufbauen können, die es aus eigenen Mitteln allein nicht schaffen würden. Regelungen, die zu umständlich sind, weil der Sicherheitsaspekt zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde, werden wir ändern. Wir haben - die Debatten darüber waren gewiss kontrovers und für den einen oder anderen auch schmerzlich - einen Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt. ({31}) Das musste sein, damit die Altersversorgung für die Rentner sicherer wird und für die aktiv Beschäftigten bezahlbar bleibt. In der Steuerpolitik haben wir Impulse für Investitionen und Gerechtigkeit ausgelöst. Zu Jahresbeginn haben wir Arbeitnehmer und Unternehmen um insgesamt 15 Milliarden Euro entlastet. ({32}) Lassen Sie mich übrigens auch das einmal deutlich machen: Bei unserem Regierungsantritt 1998 lagen der Eingangsteuersatz bei 25,9 Prozent und der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent. Nach der letzten Stufe zu Beginn des nächsten Jahres werden sie 15 bzw. 42 Prozent erreichen. Das sind die niedrigsten Werte seit Bestehen der Bundesrepublik. ({33}) Ich füge hinzu: Wer noch mehr will, sollte ganz klar sagen, wie er es bezahlen will. ({34}) Wir setzen diese Politik mit einer Reform der Besteuerung der Alterseinkünfte fort, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt hat. Die so genannte nachgelagerte Rentenbesteuerung wird dazu führen, dass die Beiträge zur Altersvorsorge von der Steuer abgesetzt werden können. Weil in dieser Debatte so viel Schindluder getrieben wird, lassen Sie mich sagen, meine Damen und Herren: Dazu ist erstens die Regierung und die sie tragende Mehrheit durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezwungen - sie steht dafür in der Pflicht und zweitens wird es in den Jahren 2005 bis 2010 zu einer Steuerentlastung von insgesamt 15 Milliarden Euro führen. Es ist wahr, ich hätte mir durchaus vorstellen können, bei der Steuerreform schneller voranzugehen. Aber auch hier muss man in Erinnerung rufen, auch wenn Weihnachten schon etwas länger her ist: Mehr an Entlastung war mit der Opposition, die in der Länderkammer eine Mehrheit hat, nicht zu machen. ({35}) Meine Damen und Herren, wir haben ja in dieser Debatte wunderbare Erfahrungen gemacht. Als wir gesagt haben, lasst uns doch dafür sorgen, dass der ganze Entlastungsbetrag, also 22 Milliarden Euro, auf einmal Anfang 2004 wirksam wird, da ist uns gesagt worden - es waren ja alle dabei -: Das geht nicht, das halten die Landeshaushalte nicht aus. Ein paar Tage später kamen dann Pläne derer, die vorher sagten, es gehe nicht, auf den Tisch, die ein mehr als doppelt so hohes Entlastungsvolumen forderten. Das ist unseriöse Politik. Das kann man so nicht machen. ({36}) Ich hatte gesagt, dass es keine Alternative zu Reformen gibt. Aber es gibt sehr wohl Alternativen bei den Reformen. Die Ungerechtigkeiten, die Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, mit Ihren verschiedenen Modellen planen, müssen einmal deutlich ausgesprochen werden. Zugleich müssen wir sagen: Wir machen das nicht. ({37}) Sie wollen zum Beispiel Spitzenverdiener steuerlich doppelt so stark entlasten wie Geringverdiener. Darüber hinaus sollen Menschen mit geringen Einkommen die hohen Kopfprämien zahlen, die Sie als Ihr Konzept einer Gesundheitsreform verkaufen. Wir dagegen haben ein anderes Konzept: Wir senken die Steuern auf Arbeitseinkommen. Wir wollen, dass Kapital, das für Zinsgewinne angelegt wird, effektiv besteuert wird, weil die Arbeitskosten auch dadurch gesenkt werden können. ({38}) Die Arbeitnehmer und die Investoren können sich darauf verlassen: In Deutschland werden weniger Steuern gezahlt als in vielen Vergleichsländern, auch in vielen Vergleichsländern der jetzigen Europäischen Union. Die Beiträge zur Rente, also die Lohnzusatzkosten, sind eindeutig festgeschrieben und ich bin sicher, dass die Beiträge zur Krankenversicherung noch im Laufe dieses Jahres weiter sinken werden. Das, meine Damen und Herren, sind die hier und heute messbaren Erfolge der Agenda 2010. ({39}) Aber es gilt auch - das haben wir uns zum Ziel gesetzt -, Deutschland als Sozialstaat umzubauen und zurück an die Weltspitze zu führen, ökonomisch, ökologisch und sozial. Das ist nicht zuletzt deshalb nötig, um die Ressourcen freizubekommen, die wir brauchen, um in Zukunft zu investieren, Ressourcen, die wir nur verfügbar machen können, wenn wir die Staatsausgaben und die Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme unter Kontrolle halten, und zwar im doppelten Sinne: erstens indem wir dafür sorgen, dass mit diesen Geldern effizient umgegangen wird, und zweitens indem wir bei Subventionen und Sozialausgaben darauf achten, wo sie wirklich nötig und vor allem im Sinne der Zukunftsgestaltung wichtig sind. Öffentliche Güter wie Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit, Gesundheit oder auch Kultur sind eben keine Waren, deren Wert sich nach dem Shareholder-Value-Prinzip ermitteln ließe. ({40}) Es sind auch keine Waren, die gleichsam von selbst auf dem Markt erscheinen. Gleichwohl haben die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht darauf, dass ihnen diese Güter erhalten bleiben und, wo immer nötig und möglich, weiterentwickelt werden. Das gilt in allererster Linie für die Bildung und die Betreuung unserer Kinder. ({41}) Bildung und Betreuung müssen für eine Gesellschaft, die über den Eigennutz hinausdenkt, von zentraler Bedeutung sein, und zwar aus drei gewichtigen Gründen: Erstens. Deutschland ist ein Land, das über keine nennenswerten Rohstoffreserven verfügt und dessen Zukunft bestimmt nicht darin liegt, Billiglohnländern bei der Herstellung von Massenware Konkurrenz zu machen. ({42}) Seine Zukunft liegt auch nicht darin, mit denen, die jetzt neu in die Europäische Union kommen, um immer niedrigere Löhne zu konkurrieren. Das ist nicht die Zukunft unseres Landes, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({43}) Weil das so ist, können wir es uns schlicht nicht leisten, auch nur eine einzige junge Frau oder einen einzigen jungen Mann nicht seinen Begabungen entsprechend möglichst qualifiziert ausbilden zu lassen und zu beschäftigen. ({44}) Zweitens. Deutschland ist ein Land mit einer der höchsten Raten an Arbeitsproduktivität. Das hat uns stark gemacht und das muss so bleiben. Aber wir haben bereits heute einen Mangel an Fachkräften in bestimmten Branchen. Dieser Mangel wird sich in den nächsten Jahren drastisch ausweiten. Einer der Gründe dafür ist, dass wir es nicht vermocht haben, in unserem Land genügend Nachwuchs gut zu qualifizieren. Das ist eben nicht allein Aufgabe und Auftrag der Politik, sondern der ganzen Gesellschaft und - ich sage es sehr konkret auch der deutschen Wirtschaft. ({45}) Die Frage der Qualifikation hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass es gut ausgebildete Frauen gibt, die, obwohl sie gerne arbeiten würden, dies nicht tun können, weil sie keine Betreuungsangebote bekommen. Unser Schul- und Betreuungswesen zwingt sie dazu, sich im Zweifel ausschließlich für die Familie und gegen den Beruf zu entscheiden. Das kann und das darf nicht so bleiben. ({46}) Alle Sachverständigen sind sich darüber einig, dass eine unserer wesentlichen Wachstumsschwächen darin liegt, dass das Arbeitsvolumen in hoch qualifizierten Berufen zu gering ist. Diese Lücke lässt sich nicht allein - aber sie gehört dazu - durch Zuwanderung schließen, die wir in einem modernen Gesetz, von dem ich hoffe, dass es alsbald zustande kommt, regeln müssen. Sie lässt sich auch nicht durch ständige Mehrarbeit schließen. Das sage ich, obwohl ich weiß, dass sie im Einzelfall sein muss. Sie lässt sich auf Dauer nur schließen, indem wir mehr in die Fähigkeiten unserer Kinder, also der jungen Generation, investieren und indem wir gut ausgebildeten Frauen, die Kinder haben wollen, endlich die Möglichkeit geben, eine Familie zu haben und gleichzeitig arbeiten zu können. ({47}) Drittens brauchen und wollen wir Kinder - sie sind das Wertvollste, was wir haben -; denn Fortschritt und technologische Entwicklung kann es nur in einer Gesellschaft geben, die der Neugier und auch der Experimentierlust von Kindern Raum gibt. „Kinder“ ist also ein anderes Wort für Zukunft und für Zuversicht. ({48}) Kinder bereichern unser Leben und sorgen dafür, dass wir nicht stehen bleiben, gleichsam im Eigennutz verstocken. Aus den Erfahrungen vergleichbarer Länder wissen wir, dass es keinen Königsweg gibt, der von einer bestimmten Politik zu einer größeren Bereitschaft führen würde, sich für Kinder zu entscheiden. Wir wissen auch: Dort, wo es ausreichend Krippenplätze und auch Ganztagsschulen gibt, sind die Geburtenraten höher als bei uns. Wir müssen jedenfalls feststellen, dass Deutschland in dieser Frage längst nicht auf der Höhe der Notwendigkeiten und auch nicht auf der Höhe der Möglichkeiten ist. ({49}) Wir sind nicht dort, wo wir sein sollten, weil einerseits Familienpolitik nie ausschließlich mit Geld und schon gar nicht nach dem Gießkannenprinzip gemacht werden kann und weil andererseits jede Diskussion über Geburtenraten und Erziehung bei uns sofort in ideologische Glaubenskämpfe ausartet. Da wird oftmals in plumpester Demagogie Betreuung mit Verwahrung verwechselt. Als wenn es darum ginge! ({50}) Da wird die Notwendigkeit, dass Kinder schon im Vorschulalter das Lernen lernen, als staatlicher Eingriff in die Hoheit der Eltern verunglimpft. Schließlich: Lehrer und Pädagogen sind die wichtigsten Vermittler des Wandels. Wir sollten uns darauf konzentrieren, ihre Ausbildung zu verbessern und ihre Fähigkeiten auf die Höhe der Zeit zu bringen. ({51}) Dabei darf es keinen Streit um Kompetenzen geben. Eine Politik des unbedingten Ja zu Kindern und Familie müssen wir nicht erst im Vermittlungsausschuss - jeder weiß, wie es da zugeht - behandeln. ({52}) Wir werden deshalb unsere Initiative für den Bau von Ganztagsschulen weiterführen. Wir werden dafür sorgen, dass unsere Initiative zum Ausbau der Kinderbetreuung gemeinsam mit den Kommunen und Ländern zum Erfolg führt. ({53}) Wir setzen dabei nicht nur auf Einrichtungen, sondern auch auf individuelle Betreuung durch qualifizierte Tagesmütter. Daher wollen wir die wichtige Aufgabe von Tagesmüttern weiter stärken und auch damit das Betreuungsangebot verbreitern. ({54}) Meine Damen und Herren, Bildung ist der Schlüssel zu Fortschritt und Sicherheit im 21. Jahrhundert. Es gibt nur eine Antwort auf die Frage, womit wir in einer globalisierten Ökonomie gutes Geld für gute Arbeit verdienen können: mit Spitzenqualität und Spitzentechnologie. Ohne ein breit gefächertes Verständnis für andere Sprachen und andere Kulturen werden wir unsere offene Gesellschaft nicht weiterentwickeln und sie übrigens auch nicht gegen Extremismus wirklich verteidigen können. ({55}) Schon daraus wird klar, dass wir die skandalöse Benachteiligung, die Kinder aus unterprivilegierten Familien oder auch aus Migrantenhaushalten in unserem heutigen Schulwesen erfahren, beenden müssen. ({56}) Das ist übrigens keine Erkenntnis linker oder grüner Systemveränderer, sondern eine Erkenntnis der in dieser Hinsicht ganz unverdächtigen OECD. Wir müssen die Länder und ihre Kultusminister dazu anregen, sich diesen Aufgaben zu stellen. Der Bund wird ihnen dabei entgegenkommen. Bildung beginnt in der Schule; aber sie endet bekanntlich nicht dort. In der Schule sollen die Kinder mit auf den Weg bekommen, dass lebenslanges Lernen Lust und nicht Last ist. ({57}) Aber wir müssen schon heute eine lernende Gesellschaft sein. Die Berufschancen des Einzelnen und die Marktchancen unserer Volkswirtschaft hängen entscheidend davon ab, wie wir ständig neues Wissen in unsere Arbeit und in die Wirtschaft einbringen. Für die Älteren bedeutet dies: Wir müssen aufhören, sie aus der Arbeit herauszudrängen. ({58}) Wir brauchen ihre Erfahrung und müssen sie immer wieder mit Angeboten zur Auffrischung ihres Wissens begeistern. Für die Jüngeren geht es um eine gute Berufsausbildung. Noch ist es so, dass uns alle Welt um unser duales Ausbildungssystem beneidet. Aber der Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen bringt dieses hervorragende Modell in größte Gefahr. ({59}) Wir wissen: Viele Unternehmen tun sehr viel mehr, als sie müssten. Andere aber meinen, sie könnten und dürften sich der Verpflichtung zur Berufsausbildung entziehen. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit dieses Hohen Hauses wird das nicht zulassen. ({60}) Wir haben nie gesagt, dass eine Ausbildungsumlage dazu da ist, der Wirtschaft das Leben schwer zu machen. Aber wir werden sie brauchen, wenn es zu keiner anderen befriedigenden Lösung kommt. ({61}) Ich kann nur davor warnen: Mit einer Diskussion über die Instrumente darf sich niemand - auch und gerade in der Wirtschaft - aus seiner Verantwortung für die Ausbildung davonschleichen. ({62}) Was wir heute leisten müssen, ist eine umfassende Innovation. Dafür hat unser Land beste Voraussetzungen. 2003 war Deutschland Exportweltmeister. Bei den internationalen Patenten sind wir weltweit führend. Bei den Schlüsseltechnologien stehen wir hervorragend da. Die Biotechnologie hat in Deutschland einen rasanten Aufstieg erfahren. Inzwischen sind wir hier europaweit Spitze. Viele innovative Unternehmen mit vielen Tausend Beschäftigten sind in diesem Bereich entstanden. Das Gleiche gilt für die Informations- und Kommunikationstechnologie, für die Nanotechnologie, für optische Technologien und für die Energieforschung. Wir wissen: Der Weg der ökologischen Modernisierung unseres Landes ist richtig. ({63}) Denn für uns ist klar: Nur der sparsame Umgang mit allen natürlichen Ressourcen erhält künftigen Generationen Lebensspielräume und Handlungsmöglichkeiten. Das große Werk der Erneuerung kann nicht von der Politik allein geleistet werden. Es ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Deshalb haben wir zusammen mit Vertretern der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Gewerkschaften die Initiative „Partner für Innovation“ ins Leben gerufen, um gemeinsam Ideen dafür zu entwickeln, wie wir unser Land in Zukunft an der Spitze halten und - wo immer nötig - nach vorn bringen können. Nächste Woche werden erste konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Startchancen für innovative Unternehmen, für einen leichteren Zugang zu Wagniskapital, zum weiteren Abbau von Bürokratie und zur Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Produkte vorliegen. Deutschland hat fantastische Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Auf dieses Talent und die Begeisterung der vielen Menschen, die hier leben, ist Verlass. ({64}) Aber wir müssen immer wieder dafür sorgen, dass sie in Deutschland die notwendigen Bedingungen vorfinden, um unsere Zukunft gestalten zu können. Investitionen in Forschung und Entwicklung sind für ein Hochtechnologieland wie das unsere überlebenswichtig. ({65}) Wir haben es uns deshalb zum Ziel gesetzt, die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Dafür müssen Bund, Länder und Kommunen mehr in diese Bereiche investieren. ({66}) Diese Mittel können weder im Wege einer Neuverschuldung aufgebracht werden noch können wir darauf warten, dass höhere Wachstumsraten zu mehr Steuereinnahmen führen. Wir können nicht immer nur sagen - in diesem Bereich erst recht nicht -: Es ist kein Geld da. Stattdessen müssen wir sehen, wo Subventionen aus der Vergangenheit in Zukunftsinvestitionen umgeschichtet werden können. ({67}) Ich mache einen Vorschlag, der nur zusammen mit der Mehrheit der Länderkammer zu realisieren ist. Mein Vorschlag betrifft die Eigenheimzulage. Die Förderung von Wohneigentum durch den Staat war historisch sinnvoll und nützlich. In früheren Jahren musste vor allem für junge Familien dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden. Zudem ging es darum, Eigentum in privater Hand zu bilden und dadurch unsere Städte und Gemeinden für eine wachsende Bevölkerung auszubauen. Dafür haben wir viel Geld ausgegeben und geben es immer noch aus. Diese Voraussetzungen gelten heute aber so nicht mehr. Wir haben in Deutschland keine Wohnungsnot mehr und die Bevölkerungszahl nimmt - unabhängig von dem, was wir jetzt diskutieren - langfristig eher ab als zu. Aus diesem Grunde ist es sehr viel sinnvoller, das für die Eigenheimzulage verwendete Geld für mehr Innovationen und damit für die Chance auf neue Arbeitsplätze auszugeben. ({68}) Das wäre eine Investition in die Zukunft unserer Kinder und angesichts der Mehrheitsverhältnisse in unserem Land, der Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Kammer bitte ich Sie, mitzuhelfen, dass wir dieses Geld, das wir dort so nicht mehr brauchen, in die Zukunft unseres Landes investieren können. ({69}) Auf diese Weise könnten der Bund und die Länder bis 2010 insgesamt rund 4 Milliarden Euro sparen. Die Kommunen würden um 700 Millionen Euro entlastet. Der Bund würde seinen Anteil in die Förderung von Forschung und Entwicklung investieren, sodass wir das 3-Prozent-Ziel bis 2010 nach und nach erreichen können. ({70}) Von den Ländern würden wir erwarten, dass sie ihren Anteil für Bildungsaufgaben, vor allem für bessere Schulen, verwenden. Die Kommunen könnten mit ihrem Anteil das Betreuungsangebot für Kinder verbessern. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich den Vorschlag des Bundesbankpräsidenten Welteke, einen Teil der Goldreserven der Bundesbank zu verkaufen ({71}) und für Bildung und Forschung einzusetzen. ({72}) Mit dem Wettbewerb „Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten“ geben wir darüber hinaus einen wichtigen Impuls für die Entwicklung von Spitzenuniversitäten. Wir haben in unsrem Land gute Universitäten und Forschungseinrichtungen. Wir sind in der Breite sehr stark. Das sollten wir in der internationalen Diskussion wieder einmal mit berechtigtem Stolz deutlich machen. Wir brauchen auch international attraktive Zentren. Nur so werden wir Deutschlands kluge Köpfe hier halten und aus dem Ausland zurückholen können. Meine Damen und Herren, es sind viele falsche Propheten unterwegs, die uns vermeintlich gute Ratschläge geben, auf welchen Kurs wir Deutschland bringen sollen. ({73}) - Ich meinte eigentlich gar nicht ausdrücklich Sie, ({74}) aber wenn Sie sich diesen Schuh schon anziehen, dann vermutlich deshalb, weil er Ihnen passt. ({75}) Wir reden nicht von denen, die nichts verändern wollen. Wer alles so lassen will, wie es ist, wird am Ende nur noch den Mangel verteilen - weil nichts mehr erwirtschaftet würde, was sich verteilen ließe. Das sage ich durchaus dem einen oder anderen unserer Freunde. Nein, ich meine jene, die uns raten, unsere kooperative Wirtschaftsordnung von Teilhabe und Tarifautonomie, von Mitbestimmung und Mitverantwortung über Bord zu werfen. Sie glauben, dass nur ungezügelter Wirtschaftsliberalismus Innovationen hervorbringt, auf die es im globalen Wettbewerb ankommt. Ich sage dazu: Wir haben ein erfolgreiches Modell des Wirtschaftens, des Arbeitens und des Zusammenlebens. Es basiert auf dem Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Arbeitnehmern, die Mitverantwortung tragen und deshalb auch ein Recht auf Mitsprache haben. ({76}) Dieses Modell bleibt der Schlüssel für unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit für unsere Zukunft. Nichts wäre verkehrter, als es einzureißen. Was wir stattdessen brauchen, ist ein neues Verhältnis von Freiheit, Verantwortung und Sicherheit, und zwar in diesem bewährten System und nicht gegen das System. ({77}) Was wir brauchen, ist ein neues Verständnis von Gerechtigkeit. Das sage ich all denjenigen, die über die Gerechtigkeit der Politik der Agenda 2010 so kontrovers und so intensiv diskutieren. Ein neues Verständnis von Gerechtigkeit heißt: eine Gerechtigkeit, die sich nicht nur auf den Ausgleich zwischen den heute im Berufsleben Stehenden beschränkt, sondern sich über mindestens drei Generationen erstreckt - die Älteren, die unser Land aufgebaut und die Grundlagen für unseren Wohlstand gelegt haben, die heute Aktiven, die mit ihrer Leistung unseren Lebensstandard sichern, und die Generation unserer Kinder und Enkel, die es uns nicht verzeihen würden, wenn wir nicht auch an ihr Wohlergehen dächten. ({78}) In dieser über Generationen hinweg reichenden Verantwortung handeln wir. Das macht den inhaltlichen Sinn der Agenda 2010 aus, der exakt darin besteht, Ressourcen nicht heute zu verzehren, sondern sie auch zu investieren, damit unsere Kinder und deren Kinder Lebenschancen haben und bekommen. ({79}) Dem entspricht ein Mehr an Verantwortung eines jeden Einzelnen für sich in der jetzigen Generation, aber auch für seine Lebenspartner und seine Familie und nicht zuletzt für das Gemeinwesen. Das ist der Grund, warum das Motto heißt: Egoismus überwinden und neuen Gemeinsinn fördern. ({80}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, neue Freiheit und neue Verantwortung bedeuten immer auch neue Unsicherheiten. Das gilt in Zeiten des ökonomischen und sozialen Wandels erst recht. Es gilt erst recht in einer Welt neuer Risiken und neuer Bedrohungen, in der Welt, in der wir leben. Ich war gestern in Madrid und habe dort an dem Staatsakt für die Opfer des niederträchtigen Terroranschlags vom 11. März teilgenommen. Es war eine wichtige Gelegenheit, dem spanischen König, der gewählten Regierung und der Bevölkerung unsere Anteilnahme und unsere Solidarität zuzusichern. Es war, jedenfalls für mich, auch eine wichtige Gelegenheit, das spanische Volk gegen schlimme Diffamierungen in Schutz zu nehmen, ({81}) Diffamierungen, die auch bei uns veröffentlicht wurden und besagen, die Spanier hätten vor dem Terrorismus Reißaus genommen und sich in eine Beschwichtigungspolitik geflüchtet. Meine Damen und Herren, Spaniens jüngere Geschichte gehört zu den stolzesten Erfahrungen Europas. Noch vor 30 Jahren lebten die Spanier unter der FrancoDiktatur. Dass Spanien die Strukturen dieser Diktatur überwinden und zu einer lebendigen Demokratie werden konnte, hat ganz wesentlich mit der europäischen Perspektive und der europäischen Hilfe für die spanischen Demokraten zu tun. ({82}) Sie werden verstehen, dass ich an dieser Stelle ganz besonders den früheren Bundeskanzler Willy Brandt hervorhebe. In diesen schweren Stunden hat das spanische Volk wirklich Besseres verdient, als von Außenstehenden verhöhnt zu werden, nur weil es seine demokratische Reife unter Beweis gestellt hat. ({83}) Meine Damen und Herren, das Beispiel Spanien ruft uns in Erinnerung, wie weit wir in Europa vorangeschritten sind. Noch vor drei Jahrzehnten war die Demokratie im westlichen Teil unseres Kontinents keineswegs eine Selbstverständlichkeit. In Osteuropa gab es bis 1989 Diktatur und Unterdrückung, Stacheldraht und Schießbefehl. Am 1. Mai dieses Jahres wird die Europäische Union zehn neue demokratische Staaten in ihre Mitte aufnehmen. Wir - damit meine ich unsere Generation, die Generation derer, die heute, ob in Opposition oder Regierung, politisch handeln - haben heute die große Chance, Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu einigen. Ich denke, das ist eine historisch einmalige Gelegenheit. Wir dürfen und werden sie nicht verstreichen lassen oder im kleinlichen Hader zerreden. ({84}) In diesem Prozess kommt dem deutsch-französischen Verhältnis eine ganz besondere Bedeutung zu. Heute ist der Dialog mit unseren französischen Freunden in allen wichtigen außen- und europapolitischen Fragen so eng wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte. Das zeigt übrigens auch die Einladung Präsident Chiracs zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni, dem so genannten D-Day. ({85}) Zum ersten Mal überhaupt nimmt ein deutscher Bundeskanzler - gemeinsam mit den Vertretern der westlichen Siegermächte - an dieser Feier teil. Ich stehe nicht an, zu sagen, dass mich diese Einladung des französischen Präsidenten persönlich sehr berührt hat und dass ich ihm dafür sehr dankbar bin. Ebenso bewegt hat mich die Einladung des polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller zum 60. Jahrestags des Warschauer Aufstands am 1. August dieses Jahres. Meine Damen und Herren, diese Gesten betrachte ich als einen Beweis für das tiefe Vertrauen, das unsere europäischen Freunde Deutschland und damit den Deutschen heute entgegenbringen. ({86}) Wir werden dieses Vertrauen übrigens nur erhalten können, wenn wir uns immer wieder der Sensibilitäten in unserer gemeinsamen Geschichte bewusst sind und alles, aber auch alles, vermeiden, was in diesen Ländern, die so sehr unter Deutschland gelitten haben, missverstanden werden könnte. ({87}) Der eine oder andere in diesem Hohen Hause wird es mir vielleicht nachsehen, wenn ich an dieser Stelle daran erinnere, welche Debatten wir vor etwa einem Jahr geführt haben, als wir miteinander über Sicherheit und über die Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung an einem Krieg gestritten haben. Sie werden verstehen, dass ich ganz selbstbewusst sage: Wir waren damals auf dem richtigen Weg und wir sind es auch heute. ({88}) Unser Land - das ist im Übrigen weithin anerkannt ist vorbildlich engagiert, wenn es darum geht, Frieden und Sicherheit zu schaffen. Wir setzen vor allem auf zivile Mittel, etwa internationale Einsätze deutscher Polizisten. Wir sind aber auch der drittgrößte Beitragszahler der Vereinten Nationen und nicht zuletzt dient diesem Ziel auch unsere Entwicklungspolitik. Und: Wenn alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sind, sind wir bereit, auch militärische Mittel einzusetzen; mir liegt daran, dass das in einer solchen Debatte klar wird. Mehr als 7 000 unserer Soldaten helfen heute unter Einsatz ihres Lebens, den Frieden in der Welt zu sichern. Wie notwendig das ist, zeigt uns nicht zuletzt das Wiederaufflammen der Gewalt im Kosovo. Afghanistan hat seit Januar eine neue Verfassung - ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen dort und ein Mehr an Sicherheit für die gesamte Region. Wir wollen, dass dieser Stabilisierungsprozess weiter voranschreitet. Deutschland wird deshalb in der nächsten Woche in Berlin Gastgeber der dritten großen Afghanistan-Konferenz sein. Auch das zeigt das große Vertrauen, das Afghanistan, aber auch die gesamte internationale Gemeinschaft uns entgegenbringt. Wir haben auch ein vitales Interesse an der Stabilisierung des Irak. Das verlangt eine Verbesserung der Sicherheitslage dort. Deshalb beteiligen wir uns - durchaus substanziell - an der Ausbildung irakischer Polizisten. Darüber hinaus wird Deutschland eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Irak übernehmen. Meine Damen und Herren, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus - gleich, ob islamistisch oder anderweitig religiös oder politisch motiviert - werden wir dauerhaft nur gewinnen, wenn es uns gelingt, den Gewalttätern ihre Basis zu entziehen, und zwar sowohl die finanzielle und logistische als auch die ideologische Basis. Terroristen sind abhängig von Finanzierung, Waffenlieferungen, logistischer Unterstützung. Genauso klar muss aber sein: Terrorismus kann dort am besten gedeihen, wo Menschen aus Wut, aus Verzweiflung oder aus Überzeugung die Gräueltaten der Terroristen unterstützen oder zumindest dulden. Zur Bekämpfung des Terrorismus sind daher verschiedene Komponenten miteinander zu verbinden. Dabei steht eines im Vordergrund: Alle Maßnahmen - ob polizeilich, nachrichtendienstlich, militärisch oder politisch - müssen viel enger als in der Vergangenheit im europäischen Kontext und darüber hinaus aufeinander abgestimmt sein. Wir müssen in Europa vor allen Dingen durch präventive Maßnahmen für einen besseren Schutz der Menschen sorgen. Dazu gehört eine intensivere Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane in Europa. Heute Abend werden wir im Europäischen Rat verschärfte Maßnahmen zur gemeinsamen Terrorismusbekämpfung beschließen. Zu einer Politik der Prävention gehört aber auch die Integration der Menschen, die mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen zu uns gekommen sind. ({89}) Das ist ein politisches Gebot, damit wir unsere offene Gesellschaft erhalten und weiterentwickeln können. Das ist aber auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft und ebenso ein Gebot der Sicherheit und der Gefahrenabwehr. In diesem Zusammenhang sage ich in aller Deutlichkeit: Terroristische Verschwörer und Personen, von denen eine Gefahr für unsere Sicherheit ausgeht, haben in Deutschland nichts zu suchen. ({90}) Der Bundesinnenminister hat noch einmal deutlich darauf hingewiesen, dass mögliche Sicherheitslücken im Ausländerrecht, so es sie denn gibt, geschlossen werden müssen und auch geschlossen werden. Das betrifft sowohl die Visumerteilung als auch die Ausweisung und Abschiebung von Ausländern, die eine Gefahr für unsere Sicherheit darstellen. Wenn dies aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist - das sage ich, um missverständlichen Interpretationen zu begegnen -, dann sollten diese Personen obligatorisch besonderen polizeilichen Meldeauflagen und Wohnsitzbeschränkungen unterliegen. Um der bestehenden Bedrohungslage konsequent zu begegnen und Gefahren für unser Land abzuwehren, wird die Bundesregierung eigene Vorschläge unterbreiten. Regierung und Opposition müssen in diesen wichtigen Fragen der Sicherheit unseres Landes gemeinsam und entschlossen handeln. Niemand sollte versuchen, den anderen in die Defensive zu treiben. Das würde der gemeinsamen Aufgabe nicht gerecht. ({91}) Bei all dem, was wir hier tun, muss klar sein: Es gibt keine Bürgerrechte ohne Sicherheit. Es gibt aber auch keine Sicherheit ohne Bürgerrechte. ({92}) Gerade im Kampf gegen den Terrorismus muss es heißen: Sicherheit ist ein Bürgerrecht. Die Abwehr terroristischer Bedrohungen stellt uns vor neue Herausforderungen; das ist wahr. Das darf uns aber nicht dazu verleiten, Verantwortung zu verwischen, auch nicht zwischen dem Bund und den Ländern. Ich betone deshalb: Innere Sicherheit ist vor allem Sache der Polizei und des Bundesgrenzschutzes. ({93}) Nur sie verfügen über die erforderliche Ausbildung und die entsprechende verfassungsrechtliche Legitimation. Natürlich kann die Bundeswehr auch weiterhin zu Amtsund Nothilfe bei schweren Katastrophen und Unglücksfällen im Inland eingesetzt werden. Für den Fall, dass nur die Bundeswehr aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten eingreifen kann, etwa bei einem terroristischen Angriff aus der Luft, hat die Bundesregierung, hat der Bundesverteidigungsminister Vorsorge getroffen. Wir haben das Luftsicherheitsgesetz auf den Weg gebracht und dabei die notwendigen Einrichtungen bei der Bundeswehr geschaffen, um solchen terroristischen Gefahren auch begegnen zu können. Darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verlassen. ({94}) Es muss aber auch klar sein - es hilft nicht, darüber hinwegzureden; das unterscheidet uns -: Für polizeiliche Aufgaben sind unsere Soldaten nicht ausgebildet. Die Bundeswehr wird auch in Zukunft nicht zur Hilfspolizei werden. ({95}) Kein Land der Welt ist heute in der Lage, die neuen Herausforderungen alleine zu bewältigen. Wir brauchen dafür ein starkes multilaterales System, wir brauchen die Vereinten Nationen. Allerdings müssen die Vereinten Nationen reformiert werden, wenn sie die vor ihnen liegenden Aufgaben lösen wollen. Generalsekretär Kofi Annan hat mit seiner Reforminitiative das richtige Signal gesetzt. Es geht dabei auch um die Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Dieser wird seiner Rolle nur gerecht, wenn er repräsentativer zusammengesetzt ist als heute. Deshalb beteiligt sich Deutschland aktiv an der Diskussion und setzt sich für eine Reform zur Erweiterung des Sicherheitsrates ein. Wichtige Staaten des Südens sollten zukünftig einen ständigen Sitz erhalten. Das Gleiche gilt für die Industrieländer, die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wesentlich beitragen. Deutschland ist bereit, als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates Verantwortung zu übernehmen. Meine Damen und Herren, die vergangenen zwölf Monate haben die Bundesregierung auf vielfältige Weise in ihrer Politik bestätigt. Das ist aber nicht der Grund, warum wir das alles tun. Wir wollen Deutschland vielmehr auf einen zukunftsträchtigen Weg bringen. Vieles, was wir vorgeschlagen und umgesetzt haben, stieß zunächst auf Ablehnung. Dieser Prozess ist - das weiß ich sehr wohl - nicht zu Ende. Das muss man in einer aufgeregten Mediengesellschaft gelegentlich um der Sache willen in Kauf nehmen. Aber aus Ablehnung wird - dessen bin ich mir sicher - mehr und mehr Einsicht in die Notwendigkeit dieser Reformmaßnahmen werden. Und aus Einsicht wird dann mehr und mehr Zustimmung werden. ({96}) Die breite politische Debatte, die wir mit den Reformen angestoßen haben, ist nicht so angelegt, dass die eine oder andere Partei gleich ihren unmittelbaren Nutzen daraus ziehen könnte oder sollte. Ich bin davon überzeugt: Diese Debatte um die Notwendigkeit der Veränderung wird unserem Land nutzen; denn wenn sich die Menschen intensiver an der politischen Diskussion beteiligen, dann wird es für die Lobbys und Interessengruppen schwerer, ihre Egoismen im Stillen zu verfolgen und durchzusetzen. ({97}) Es ist wahr: In der Vergangenheit ist vieles, was nötig gewesen wäre, versäumt worden. Niemand sollte sich von der Verantwortung dafür freisprechen; ich tue das jedenfalls nicht. Deshalb müssen die Reformen jetzt durchgeführt werden. Es darf kein Zuwarten geben, weil alles sehr viel schlimmer würde, wenn wir das täten. Heute sage ich: Die Bundesregierung wird deshalb die Notwendigkeit der Maßnahmen immer wieder und immer intensiver erklären und dadurch dafür sorgen, dass das Wort Reform wieder einen guten Klang bekommt, nämlich den Klang von Verantwortung, von Vertrauen und vor allem von Zukunftsorientierung und damit verbundener Zuversicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe meinen Amtseid als Bundeskanzler dafür geleistet, meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, Schaden von ihm zu wenden und seinen Nutzen zu mehren. ({98}) Dafür kämpfe ich seit mehr als fünf Jahren und das wird so weitergehen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({99})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun der Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Kollegin Angela Merkel, das Wort. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen 75 Minuten lang aufmerksam zugehört ({0}) und mich zunehmend gefragt, ob Sie und Ihre Bundesregierung die wirkliche Situation in unserem Lande eigentlich kennen. ({1}) Ich glaube, dass das wesentliche Problem dieser Gesellschaft nicht darin besteht, dass sie aufgeteilt ist in Beharrer und Spalter, in Erneuerer und Veränderer auf der einen Seite und Ignoranten auf der anderen Seite. Ich glaube, dass das wesentliche Problem dieser Zeit ({2}) die vertikale Spaltung dieser Gesellschaft ist - zwischen einer Bundesregierung, die abgekapselt irgendwo in einer irrealen Welt agiert, ({3}) und einer Bevölkerung, die dieser Bundesregierung nichts mehr glaubt, ihr nicht vertraut und sie als nicht verlässlich ansieht. Das ist das Problem dieses Landes. ({4}) Sie haben in Überschriften geredet. Sie waren schön und teilweise auch zutreffend. ({5}) Aber das Problem ist: Sie haben sich in diese Überschriften geflüchtet, ohne dass Sie an der entscheidenden Stelle den Mut zum konkreten Handeln aufbringen. ({6}) Wo in Ihrer Regierungserklärung war der Arbeitnehmer, der Angst hat, weil sein Betrieb ins Ausland verlagert wird? Wo waren die Menschen in den neuen Bundesländern, ({7}) die merken, dass die Lebensverhältnisse immer noch nicht angeglichen sind? Wo war der Steuerzahler, der seine eigene Steuererklärung nicht versteht? ({8}) Wo war der Selbstständige, der - im letzten Jahr stärker als in jedem anderen Jahr der Bundesrepublik Deutschland - Sorge haben musste, dass auch er Konkurs anmelden muss? ({9}) Wo war die Krankenschwester, die für ihre Überstunden einen großen Teil an Abgaben und Steuern abführen muss? ({10}) Wo war der Polizist, der bei seiner täglichen Arbeit seinen Kopf hinhält? Die einzelnen Menschen haben sich in dieser Regierungserklärung nicht wiedergefunden. ({11}) Was war der Sinn, Herr Bundeskanzler? ({12}) - Es ist eben unheimlich schwer, die Wahrheit zu ertragen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum, auch der Oppositionsführerin auf angemessene Weise zuzuhören. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was, Herr Bundeskanzler, war der Sinn Ihrer Regierungserklärung? Es hätte sein können, dass Sie eine Zwischenbilanz ziehen wollten: Was ist erledigt, was ist unerledigt? Dabei wäre herausgekommen, dass noch vieles von dem, was Sie vor einem Jahr vorgetragen haben, offen ist. Es hätte auch sein können, dass diese Regierungserklärung dazu dient, uns aufzuzeigen, wie es weitergehen soll. Wir haben 45 Minuten gewartet, bis Sie uns verraten haben, dass Sie nächste Woche etwas dazu sagen wollen, wie man Existenzgründungen erleichtern kann. Warum haben Sie das nicht hier und heute getan? Das wäre doch ein guter Anlass für diese Regierungserklärung gewesen. ({0}) Wenn aber die Regierungserklärung beides nicht wollte - weder Zwischenbilanz noch Blick in die Zukunft -, dann hätte man doch wenigstens erwarten können, dass Sie das tun, was Sie am Sonntag auf dem SPDParteitag versprochen haben: Sie wollen „sich ehrlich machen“. Was heißt denn, Sie wollen „sich ehrlich machen“? Dazu gehörte doch erst einmal, zuzugeben, dass Sie bis dahin gelogen und betrogen haben. ({1}) Neue Stärke für Deutschland - das ist meine feste Überzeugung - kann nicht mit alten Schwächen entstehen. Deshalb muss mit ihnen aufgeräumt werden. ({2}) Herr Bundeskanzler, in der Gesellschaft finden Sie zurzeit keine Unterstützung, weil die Menschen den Glauben in die positiven Wirkungen Ihrer dauernden Veränderungen verloren haben und keine Gewissheit mehr über das, was kommt, kennen. Und in Ihren eigenen Reihen mangelt es an Unterstützung, weil Sie selbst immer wieder - wie auch heute - den parteiinternen Kritikern die Argumente frei Haus liefern. Sie tun immer wieder so, als sei schon alles geschafft, als seien die wesentlichen Veränderungen bereits umgesetzt und als sei alles paletti. Sie wundern sich, wenn sich die eigenen Leute auf Ihre Worte verlassen und anschließend - wenn Sie drei Monate später sagen, dass wieder reformiert werden müsse - nicht verstehen, was das für eine Welt ist. ({3}) Das ist Ihr Problem. Diesem Teufelskreis konnten Sie auch heute nicht entrinnen. ({4}) Niemand bei uns zweifelt daran, dass die Agenda 2010 der erste richtige Schritt für notwendige Reformen in Deutschland war. Aber ich füge hinzu: Regierungspolitik von Rot-Grün in einer zweiten Legislaturperiode muss mehr sein, als nur die Fehler aus der ersten zu beseitigen. Sonst verdient die Agenda ihren Namen nicht. ({5}) Deshalb sind wir der festen Überzeugung, dass diese Agenda nicht ausreicht. Es muss weitergehen. Die Frage ist: Wie kann es weitergehen und warum reicht sie nicht aus? Sie reicht nicht aus, weil wir seit August 2002 - das ist noch nicht so lange her - 730 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland verloren haben. Allein im vergangenen Jahr gab es 300 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weniger. Aus genau diesem Grunde sinken auch die Krankenkassenbeiträge leider nicht so schnell, wie wir es erwarteten. ({6}) Sie haben keine Antwort auf die Frage, wie es mit der Pflegeversicherung weitergeht. In Ihrer Regierungserklärung fehlten schon die Befunde - Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität - über dieses Land und damit war es von vornherein ausgeschlossen, dass die richtigen Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. ({7}) Worum geht es den Menschen in diesem Land? Der Erfolg von Politik wird sich daran messen lassen müssen, ob es in einer Situation der Globalisierung gelingt, für uns in Deutschland Bedingungen zu schaffen, unter denen wir unseren Wohlstand für die Älteren, die Jüngeren und die Familien aufrechterhalten können. ({8}) Die Frage, wie wir den Wohlstand aufrechterhalten, was wir machen müssen, um uns den neuen Bedingungen anzupassen, ist die Frage, die uns und jeden in diesem Hause umtreiben muss. ({9}) Deshalb geht es nicht um Veränderung an sich. Es geht auch nicht um „Reformitis“ oder darum, irgendjemandem Schmerzen zuzufügen. Es geht nicht um Aktionismus, sondern es geht darum, im Sinne unserer deutschen Interessen für Deutschland das Beste aus der Globalisierung zu machen. Das ist die Aufgabe. ({10}) Nun hat der neue SPD-Vorsitzende am Sonntag davon gesprochen, dass wir alle Suchende sind. Ich glaube schon, dass niemand das Patentrezept hat. Aber, meine Damen und Herren, wer wirklich sucht, der findet auch. ({11}) Ich verlange von Ihnen gar nicht, dass Sie die Konzepte der Opposition studieren, ich verlange nicht, dass Sie sich anschauen - es wäre schön, aber man kann es eben nicht verlangen -, was wir zur Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft, zu einer neuen sozialen Marktwirtschaft im Zusammenhang mit der Globalisierung gesagt haben. Ich verlange von Ihnen auch nicht, dass Sie heute die Seite zwei einer großen deutschen Boulevardzeitung lesen, ({12}) mit der Sie sich nicht mehr abgeben. Aber was ich von Ihnen verlange, Herr Bundeskanzler, ist, dass Sie wenigstens das lesen, was Ihnen Ihre eigenen Sachverständigen, die Sie bezahlen, ins Stammbuch schreiben, anstatt die Zeit mit Selbstfindungsprozessen, Selbsterfahrungsprozessen, Selbstzweifelprozessen und Suchprozessen zu vergeuden, die längst hätten beendet werden müssen, weil alles schwarz auf weiß in Ihren eigenen Regierungsunterlagen steht. Das ist das, was man erwarten kann. ({13}) Für uns, die Union, gibt es keinen Zweifel, dass auch unter den Bedingungen der Globalisierung die soziale Marktwirtschaft die Antwort auf die Frage ist, wie eine menschliche Gesellschaft zu erreichen ist. ({14}) Das Wort „soziale Marktwirtschaft“ ist interessanterweise in Ihrer gesamten Regierungserklärung nicht vorgekommen. ({15}) Wir fühlen uns dem Erbe Ludwig Erhards und Konrad Adenauers verpflichtet und wir werden es in eine neue Zeit übertragen, weil dies die menschlichste und erfolgreichste Gesellschaft formiert, die wir uns vorstellen können. Davon sind wir überzeugt. ({16}) Es führt kein Weg daran vorbei, dass sich die Verzweiflung des vergangenen Jahres an der LKW-Maut, am Dosenpfand, am Transrapid, an Beraterverträgen, Skandalen um die Bundesagentur für Arbeit und vielem anderen dieser Art festmacht. Es gibt auch keinen Zweifel, dass wir uns Vorgänge dieser Art - von denen Sie keinen einzigen erwähnt haben - nicht leisten können, wenn Deutschland wieder mit seiner Wertarbeit „Made in Germany“ einen guten Ruf in der Welt bekommen soll. Wir als Opposition werden dafür sorgen, dass dieser gute Ruf wiederhergestellt wird - trotz des Gemurkses in Ihrer Regierungsarbeit, Herr Bundeskanzler. Das ist das Problem. ({17}) Weil die Regierungsarbeit und die Zerstrittenheit der Opposition - ({18}) - Mein Gott, Sie sind aber wirklich leicht zu befriedigen. ({19}) Weil die Zerstrittenheit der rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen so elementar ist und langsam auf die gesamte Regierungsarbeit wirkt, wissen wir, dass wir als Opposition eine riesige Verantwortung haben. ({20}) Wir könnten es uns sehr leicht machen. Wir könnten im Bundesrat vieles blockieren. ({21}) Aber wir wissen: Deutschland darf nicht stillstehen. Deutschland muss vorankommen. Deshalb werden wir als Opposition nicht nur weiter Verantwortung übernehmen, sondern wir werden sogar mehr Verantwortung übernehmen, um den Stillstand in diesem Land zu beenden. ({22}) Wir haben schon im vergangenen Jahr Verantwortung übernommen. Wir haben uns am Gesundheitskonsens beteiligt. Im Übrigen gibt es bei uns inzwischen keinen einzigen Landesverband, der in diesem Punkt Änderungsanträge stellt. Wir stehen zu diesem Gesundheitskompromiss, obwohl er von der Gesundheitsministerin schlampig umgesetzt worden ist und damit eine Vielzahl von Problemen hervorruft, die nicht notwendig gewesen wären. ({23}) Wir haben uns mit den Koch/Steinbrück-Vorschlägen am Subventionsabbau beteiligt. Wir haben mit Ihnen um eine vernünftige Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe gerungen. Das war extrem schwierig. Wir haben versucht, eine vernünftige Balance von Strukturreformen und Steuersenkungen zu erreichen, und wir haben im Übrigen auch jedem der Auslandseinsätze zugestimmt, Herr Bundeskanzler, und zwar aus Verantwortung für den Frieden in der Welt und aus Überzeugung. ({24}) Ich glaube, dass wir deshalb mit etwas Stolz feststellen können: Wir sind die konstruktivste Opposition, die es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. ({25}) Wir müssen dem Land helfen, auch in diesem Jahr und trotz der vielen Wahlen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, unterbreite ich Ihnen den zweitbesten Vorschlag für unser Land: ein konkretes Angebot, das konkreteste Angebot, das eine Opposition machen kann. Ich biete Ihnen an, dass wir, wo immer dies möglich ist, im Sinne einer nationalen Kraftanstrengung notwendige Strukturreformen anpacken: erstens die Steuerpolitik. ({26}) Wir haben heute interessanterweise Ihren Vorschlag zur Eigenheimzulage gehört. Dazu kann man nur feststellen: Seien Sie uns dankbar, dass wir verhindert haben, dass die Eigenheimzulage schon im Dezember von Herrn Eichel verfrühstückt worden ist. Sonst hätten Sie gar nichts mehr vorzuschlagen. ({27}) Herr Bundeskanzler, wir haben eine andere Vorstellung von der Bedeutung des Steuersystems in Deutschland und davon, was das Vertrauen der Menschen in dieses System wiederherstellen würde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen einen grundsätzlichen Neuanfang im Steuersystem; wir brauchen einen Abbau der Subventionstatbestände im Einkommensteuersystem ({28}) zugunsten einer wirklichen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. ({29}) Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Die Vorschläge der FDP dazu liegen auch auf dem Tisch; sie gehen zum Teil sogar weiter. Wir - Friedrich Merz, ich denke, auch Herr Solms und Kurt Faltlhauser - sind bereit, noch morgen zu beginnen, mit Ihnen darüber zu verhandeln. Sie müssen sich dann bekennen, ob Sie wirklich das Vertrauen der Menschen ins Steuersystem wieder erlangen wollen oder ob Sie das Ganze auf die lange Bank schieben und alle Subventionstatbestände für Konsumzwecke verfrühstücken wollen. Das ist nicht unser Weg. ({30}) Man hat von Ihnen so viel Widersprüchliches gehört: von den Grünen im Grundsatz ein Ja, von Herrn Eichel einmal ein Ja und einmal ein Nein. ({31}) Ich kann nur sagen: Machen Sie Gebrauch von Ihrer Richtlinienkompetenz! Sagen Sie: Jawohl, wir sind bereit; wir haben zwar keinen eigenen Gesetzentwurf, aber wir nehmen objektiv die Anträge der Opposition an und sind bereit, darüber zu sprechen. Wir wollen das zum Wohle Deutschlands machen. - Das wäre ein wirklicher Fortschritt für Deutschland. ({32}) Im Übrigen sind wir wie Sie der Meinung, dass Steuerstrukturreformen allein nicht ausreichen. Wir haben immer gesagt: Wir brauchen weitere Reformen. Herr Bundeskanzler, es ist geradezu rührend, dass Sie hier erwähnen, die Kommunen setzten die Regelungen zur Kinderbetreuung nicht um. Dabei trägt die Bundesregierung die Schuld daran, dass aufgrund der Hartz-Gesetze gar kein Geld für die Kinderbetreuung zur Verfügung steht; deshalb können die Kommunen nichts machen. ({33}) Sorgen Sie dafür, dass das endlich auf die Reihe kommt! Ich komme auf den 14. März des vergangenen Jahres zurück. Wir haben von Ihnen bis heute keinen einzigen Vorschlag zu einem Optionsmodell beim Kündigungsschutz gehört. Ein solches wurde am 14. März 2003 von Ihnen, Herr Bundeskanzler, persönlich angekündigt. Zweitens. Wir ringen zurzeit um etwas, was ich als Kernbereich der Agenda 2010 verstanden habe, nämlich um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. ({34}) Ich kann nur sagen: Bei diesem Thema wird sich entscheiden, ob Sie für die Zukunft weiter einen unsinnigen Zentralisierungsglauben für richtig halten oder ob Sie den regionalen Einheiten die Möglichkeit eröffnen, das Wichtige, das Richtige für die Menschen im Lande zu tun. Das ist die Frage, vor der wir stehen. ({35}) Herr Müntefering, ich sage ganz bewusst: ob Sie die Möglichkeit eröffnen. Wir haben extra gesagt: Wir wollen den Kommunen beide Optionen eröffnen. ({36}) Sie haben aber verhindert, dass es im Sinne der Kommunen zu einer Grundgesetzänderung kommt - das hat wirklich zu geschehen -, damit sie finanzielle Sicherheit bekommen. Das ist die Wahrheit! Herr Clement hat es schon zugestanden: Sie persönlich haben es verhindert. ({37}) Warum spreche ich so ausführlich über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe? Ich spreche darüber, weil hier ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage liegt, ob arbeitslose Menschen in diesem Lande eine Hoffnung haben, ob „Fordern und Fördern“ zur Realität wird oder ob wir langsam die Arme sinken lassen und sagen: Wir können nichts tun. Wir brauchen - das ist meine feste Überzeugung - im Zuge der Globalisierung einen Paradigmenwechsel. Wir werden Arbeiten haben, die weniger Geld auf dem Arbeitsmarkt erbringen, als Menschen für ein menschenwürdiges Leben brauchen. Wir werden vor der Frage stehen, ob wir diesen Menschen den Zugang zur Arbeit völlig verweigern oder ob wir aber bereit sind, im unteren Lohnbereich zusätzliche staatliche Transferzahlungen mit erarbeitetem Einkommen zu verbinden. ({38}) Genau dies wissen die Klugen in Ihren Reihen schon heute. Ein Mann wie Hubertus Schmoldt hat gesagt: Wir werden das in den unteren Lohnbereichen brauchen, weil die Globalisierung ansonsten nicht qualifizierte Arbeit woandershin abwandern lässt und Menschen in Deutschland keine Chance mehr haben. Wir werden um den von uns vorgeschlagenen Weg erbittert kämpfen, weil er im Sinne der betroffenen Menschen in Deutschland ist. ({39}) Wir werden noch um einen weiteren Punkt erbittert ringen. Herr Bundeskanzler, Sie selbst haben in Ihrer Regierungserklärung vom 14. März 2003 gesagt: … Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen … Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt - aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen … Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben. Das ist nicht geschehen. ({40}) Wer behauptet, dass der letzte Tarifabschluss der IG Metall dies in großem Umfang möglich macht, der lügt sich in die Tasche. ({41}) Die gemeinsame Verantwortung der Tarifparteien - ich bin ganz sicher, dass wir darüber wieder sprechen werden - wird dadurch, dass weite Teile der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer den Streik als Instrument ausschließen, heute zum Teil zu einer Farce, weil man nach zu hohen Tarifabschlüssen gleich im Hinterkopf hat, Arbeitsplätze in das Ausland zu verlagern. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Wir werden jedenfalls alles tun, um das zu verhindern. ({42}) Wir, der Deutsche Bundestag, sind zuvörderst verpflichtet, den Menschen in Deutschland wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Wenn die Möglichkeit, von Tarifverträgen abzuweichen, Arbeitsplätze in Deutschland sichert, dann ist es unsere nationale AufDr. Angela Merkel gabe, genau dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist meine, das ist unsere feste Überzeugung. ({43}) Drittens. Wir brauchen neben den Reformen des Steuersystems und des Arbeitsmarktes eine Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme. Ich habe heute von Ihnen nichts dazu gehört. Wir haben zwar die Gesundheitsreform mitgetragen, ({44}) aber wir wissen, dass das nicht ausreicht. Wir alle waren uns einig, dass diese Reform unter günstigen Arbeitsmarktbedingungen und bei vernünftigen Strukturreformen in diesem Bereich bis 2006 tragen kann. Wir haben gesagt: Langfristig muss das Gesundheitswesen radikal reformiert werden. Nach meiner festen Überzeugung wird eine Reform des jetzigen Systems mit den gleichen Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie wir sie jetzt haben, nicht möglich sein. ({45}) Wir brauchen eine Weichenstellung. ({46}) Wenn es nach Ihnen geht, dann soll es die so genannte Bürgerversicherung sein. Dann müssen Sie uns aber auch folgende Fragen beantworten - das haben Sie bisher nicht getan -: Ist es wahr, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung die Beitragsbemessungsgrenze um rund ein Drittel angehoben werden muss? Ist es wahr, dass durch eine Bürgerversicherung die Beiträge gerade für die Leistungsträger in unserer Gesellschaft - die Facharbeiter, die Meister in den Betrieben und die qualifizierten Angestellten - bis zu 70, 80 Euro erhöht werden? Ist es wahr, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung sämtliche Einkünfte der Arbeitnehmer aus Mieten, Pachten und Zinsen neben der Einkommensteuer auch noch mit einem Krankenkassenbeitrag von 12 oder 13 Prozent belastet werden? Ist es wahr - das hört man manchmal aus Ihren Reihen -, dass die volle Belastung der Betriebsrenten ein erster Schritt in Richtung Bürgerversicherung war? Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn das alles wahr ist, dann ist das richtig, was Ihnen Ihre Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben, nämlich dass durch die Bürgerversicherung bis zu 1 Million Arbeitsplätze verloren geht und dass durch eine Umstellung auf eine Gesundheitsprämie - das sind Ihre, nicht meine Sachverständigen - bis zu 1 Million Arbeitsplätze geschaffen werden kann. Ich sage Ihnen, wofür wir uns entscheiden werden: Wir werden uns für Arbeitsplätze in Deutschland und nicht für den Killer von Arbeitsplätzen - eine falsche Kopplung der Lohnzusatzkosten an die Arbeitskosten - entscheiden. ({47}) Dass das ein Problem ist, Herr Bundeskanzler, haben Sie uns zumindest im vorigen Jahr noch gesagt. Sie haben gesagt: „Es kann nicht so bleiben, dass dem Arbeitnehmer in Deutschland von einem zusätzlich verdienten Euro sofort 70 Cent weggenommen werden“ - so ist es doch zurzeit ({48}) „und damit kein Anreiz für Arbeit besteht.“ ({49}) Dieser Sachverhalt muss sich ändern, sonst wächst in Deutschland nur noch die Schwarzarbeit. Das ist die Realität. ({50}) Viertens. Es ist richtig, dass wir Innovationen brauchen, dass wir unseren Wohlstand überhaupt nur sichern können, wenn wir hoch qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland haben. Es ist auch richtig, dass Männer genauso wie Frauen an dieser hohen Qualifizierung teilhaben müssen und dass sie die Chance haben müssen, im Land Arbeit zu finden, und nicht gezwungen sein dürfen, ihre Zukunft außerhalb des Landes zu suchen. Ich bin schon ein bisschen enttäuscht darüber, dass nach dem Ende des ersten Vierteljahres dieses Jahres, nach einer angekündigten Innovationsoffensive, heute, Ende März, gar nichts dazu gesagt worden ist. ({51}) Es ist nichts dazu gesagt worden, wie unsere Hochschulen aussehen sollen, ({52}) nichts dazu, ob wir endlich das Verbot von Studiengebühren abschaffen, nichts dazu, wie wir einheitliche Leistungsstandards erreichen wollen, nichts darüber, wie denn die einzelnen Technologien weiter gefördert werden sollen. „Wir sind Spitze in der Biotechnologie“ haben Sie vorhin gesagt, Herr Bundeskanzler. Beschäftigen Sie sich bitte einmal mit den Chancen der Grünen Gentechnologie in Deutschland. ({53}) Befassen Sie sich bitte ganz einfach einmal mit der Tatsache, dass weltweit 67 Millionen Hektar für Versuche mit gentechnisch veränderten Organismen im Freiland zur Verfügung stehen, während es bei uns im Lande nur 500 Hektar sind. Glauben Sie, dass wir in einem zukunftstechnischen Bereich, in einem Bereich, in dem mit Sicherheit hohe Renditen erwirtschaftet werden, jemals Spitze sein können, wenn wir so an die Sache herangehen? Ich glaube das nicht. Deshalb müssen wir darüber reden. ({54}) Sie haben über den Abbau von Subventionen gesprochen. Man muss ja schon ganz gut wegschauen, wenn man das, was Sie bei der Steinkohle vorhaben, als Abbau von Subventionen bezeichnen will. ({55}) Herr Bundeskanzler, es wäre schön, Sie würden uns in diesem Hause einmal erklären, wie Sie eigentlich die Förderung von regenerativen Energien im Zusammenhang mit Subventionen und einem effizienten Energiestandort Deutschland in der Welt sehen. Kein Wort! Fehlanzeige! ({56}) Wir haben jetzt pro Kilowattstunde einen Aufschlag von 0,38 Cent für erneuerbare Energien. Ich bin für erneuerbare Energien. ({57}) Ich stehe auch zu dem Ziel der Verdoppelung der Nutzung der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Aber ich glaube schon, dass wir uns einmal überlegen müssen, in welchem Maße wir Windenergie fördern wollen und welchen Aufschlag auf den Strompreis wir uns leisten können. ({58}) Diese Frage kann man nicht wegdrängen. Sie wird darüber entscheiden, ob in Deutschland investiert wird, ja oder nein. ({59}) Herr Trittin, ich habe selbst intensiv mit am KiotoProtokoll verhandelt. ({60}) Ich bin wirklich für Klimaschutz. ({61}) Ich bedauere es zutiefst, dass nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika dieses Protokoll nicht ratifizieren, sondern dass vor allen Dingen auch Russland dieses Protokoll nicht ratifiziert. Wenn das so bleibt, wenn es Ihnen nicht gelingt, Herrn Präsidenten Putin dazu zu bewegen, das zu ändern - das wäre eine gute europäisch-russische Maßnahme -, dann - das wissen Sie - kann dieses Protokoll nicht in Kraft treten. Wir haben das Kioto-Protokoll nicht verhandelt, um in Deutschland anschließend keine energieintensive Industrie mehr zu haben. Das war nicht mein Ziel. Das ist nicht unser Ziel. Deshalb muss der Handel mit Zertifikaten für CO2-Emissionen so angelegt sein, dass er Deutschland nicht in eine schlechtere Wettbewerbsposition in Europa bringt als andere Länder. ({62}) Sie treffen auf dem Gipfel am Wochenende wieder alle: Fragen Sie den französischen Präsidenten, wie es sich mit der Chemieindustrie verhält; fragen Sie den österreichischen Bundeskanzler, wie die Wachstumsraten sind. Ich bin dankbar, dass Sie wenigstens einen Minister in Ihren Reihen haben, der den Verstand in diesem Bereich noch nicht verloren hat. Wir werden ihn unterstützen, wo immer wir können. ({63}) Es geht bis zum Jahre 2012, Herr Bundeskanzler, um vieles. Wenn die Wirtschaft erst einmal den Standort Deutschland verlässt und Investitionen woanders getätigt werden, dann sind eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, die für Deutschland so wichtig sind, nicht mehr zurückzuholen. Bei Investitionen geht es um Vertrauen in dieses Land. Da ich von Vertrauen spreche, habe ich eine Bitte. Nachdem Sie wieder nichts über die neuen Bundesländer gesagt haben, ({64}) tun Sie auch etwas anderes nicht mehr: Versprechen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht dauernd Sachen, die Sie nicht einhalten können. Das Versprechen in Ammendorf haben Sie im Vorfeld einer Wahl abgegeben. ({65}) Jeder, der ein wenig Ahnung von Wirtschaft hat, wusste, dass dieses Versprechen nicht zu halten ist. ({66}) Ich sage Ihnen: Trinken Sie lieber wieder mit Ihren Cousinen Kaffee. Aber enttäuschen Sie die Menschen nicht, wenn es um Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern geht. ({67}) Fünftens, Herr Bundeskanzler, muss und wird die Union auch mehr Verantwortung in der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik übernehmen. Ich habe Ihre Ausführungen an einer Stelle nicht verstanden. ({68}) Ich frage Sie: Wer verhöhnt das spanische Volk? Nennen Sie Ross und Reiter. ({69}) Ich weiß, dass jeder außer den Terroristen mit dem spanischen Volk leidet, und ich weiß, dass niemand außer den Terroristen das spanische Volk verhöhnt. Es ist meine Grundüberzeugung, dass das für jeden hier in diesem Hause gilt. ({70}) Ich wünsche mir und Ihnen, dass auf dem Gipfel, der jetzt am Wochenende ansteht, ein klares gemeinschaftliches europäisches Signal gegeben wird, dass es null Toleranz gegenüber jeder Form von Terrorismus gibt. Hier besteht Gemeinsamkeit zwischen den Demokraten in diesem Lande. Diese muss gewahrt werden, sonst sind wir den Terroristen gnadenlos ausgeliefert. Das will niemand. ({71}) Ich kann Ihnen sagen: Trotz aller Kontroversen in den Diskussionen im letzten Jahr fühlen wir uns in unserer Auffassung bestätigt, dass es zu einem gemeinsamen Europa überhaupt keine Alternative gibt und dass es keine Gemeinschaft der Demokraten in dieser Welt gibt, wenn sich Europa gegen Amerika stellt. Deshalb ist es richtig, dass auch Sie auf einen vernünftigen Weg zurückgekehrt sind und zu einem freundschaftlichen und kameradschaftlichen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika kommen. Ich bin froh darüber. ({72}) Ich glaube, dass es gerade in diesen Tagen, in denen auch Europa zur Zielscheibe des Terrorismus wird, von historischer Bedeutung ist, dass wir am 1. Mai die Wiedervereinigung Europas feiern können. Die Aufnahme der zehn neuen Mitgliedstaaten stellt mehr dar als nur eine Aufnahme in den Binnenmarkt. Es ist der Sieg von Demokratie und Freiheit in ganz Europa. Deshalb sind die Schwierigkeiten, die wir haben werden, klein gegen das, was wir gewonnen haben. Freiheit und Demokratie haben gesiegt und wir alle können stolz darauf sein. ({73}) Dann werden wir noch immer Diskussionen führen. Wir sind froh, dass wir inzwischen Einigkeit haben, ({74}) dass Zuwanderung von Höchstqualifizierten in unser Land notwendig ist, dass Zuwanderung aber an anderer Stelle gesteuert und begrenzt werden muss. Wir sind froh, dass der Bundesinnenminister gesagt hat, dass man angesichts der neuen Bedrohung schauen müsse, wo in unserem Recht Lücken bestehen, um zu verhindern, dass diejenigen, die verdächtig sind, terroristische Taten zu begehen, einreisen, bzw. um sie ausweisen zu können. ({75}) Ich sage ausdrücklich: Wir verhandeln diese Fragen der Zuwanderung in dem Geist, dass wir eine Lösung herbeiführen wollen, die Zuwanderung steuert und begrenzt, die Integration verbessert, den Kindern endlich zu vernünftigen Sprachkenntnissen verhilft und unser Land sicherer macht. Wie bei allem, was wir tun, sagen wir: Wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann werden wir einem entsprechenden Kompromiss natürlich zustimmen. Herr Bundeskanzler, wir werden auch noch eine Weile kontrovers über das Thema Bundeswehr und die Übernahme von Aufgaben im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit diskutieren. Ich finde, wir sollten hier von Beschimpfungen wie „Hilfspolizei“ Abstand nehmen. Dazu sind die Fragen zu ernst. Sie selbst haben dankenswerterweise ein Luftsicherheitsgesetz eingebracht. Wir meinen, dass ähnlich komplizierte Fälle im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen auftreten können. Es ist doch unstrittig, dass sich innere und äußere Sicherheit nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges trennen lassen. Es ist unstrittig, dass man neue Antworten braucht, wenn man den Veränderungen gerecht werden will. Wenn wir eine sichere Grundlage und zu diesem Zweck eine Änderung des Grundgesetzes fordern, dann ist das nichts anderes als die Antwort auf eine veränderte Sicherheitslage. Bitte denken Sie darüber nach. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. ({76}) Meine Damen und Herren, jede politische Partei wird angesichts der großen Aufgaben unseres Landes und unserer Zeit in erheblichem Maße herausgefordert. Ich sage gerade in Bezug auf den Terrorismus: Ich habe mir zum Ende des Kalten Krieges nicht vorstellen können, dass wir mit solchen Arten von Bedrohung würden fertig werden müssen. Ich habe nicht gesehen, dass - damit müssen wir uns auseinander setzen - wir es mit Gegnern zu tun haben würden, die ihr eigenes Leben nicht achten und die bereit sind, es preiszugeben, um unsere Art zu leben zu vernichten. Da in diesen Tagen manchmal Hannah Arendt zitiert worden ist, möchte auch ich einen Satz von ihr zitieren. Sie hat gesagt: Der Sinn von Politik ist Freiheit. Ich glaube, dass der Sinn von Politik für uns ist, unser freiheitliches Leben in einer gerechten Gesellschaft voranzutreiben. Deshalb sollten wir uns im Geiste der Freiheit auf einige Ziele für Deutschland einigen. Ich finde, unser Land sollte in Bezug auf wirtschaftliches Wachstum, öffentliche und private Investitionen, eine niedrige offene und verdeckte Arbeitslosigkeit und die Qualität von Bildung und Ausbildung in zehn Jahren jeweils wieder unter den ersten Drei in Europa sein. Das wäre ein lohnendes gemeinsames Ziel, auf das wir hinarbeiten könnten. ({77}) Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann würden die Menschen wieder sagen: Es lohnt sich, eine individuelle Veränderung, auch eine schwierige, anzunehmen. Ich bin überzeugt: Wenn wir uns auf diese Ziele einigen könnten, dann könnten wir es schaffen, dass es am Ende des Weges niemanden mehr gibt, der arbeitsfähig ist und trotzdem kein Arbeitsangebot von der Gesellschaft bekommt. Dann könnten wir es schaffen, dass niemand in den Vorruhestand gedrängt wird, obwohl er findet, dass er der Gesellschaft mit seiner Leistung dienen könnte. Dann könnten wir es schaffen, dass die Schwarzarbeit in unserem Lande wenigstens um die Hälfte zurückgeht, weil es sich wieder lohnt, für gutes Geld zu arbeiten. Dann könnten wir es schaffen, dass wir, was die Ergebnisse der PISA-Studie angeht, von den Finnen nicht mehr weit entfernt sind und dass unsere Kinder die gleiche Chance auf Ausbildung haben. Dann könnten wir es schaffen, dass wir nicht mehr nach Amerika fahren müssen, um deutsche Wissenschaftler, die dort forschen, zu treffen, weil sie wieder bei uns ein Zuhause haben. Ich habe Ihnen heute die zweitbeste Lösung angeboten, die Lösung, die wir als Opposition anbieten können. ({78}) Wir arbeiten konstruktiv mit. Ich habe Ihnen konkrete Angebote unterbreitet. Herr Bundeskanzler, ich will Ihnen die beste Lösung natürlich auch nicht verschweigen. ({79}) Sie haben heute gezeigt, dass Sie die Überschriften kennen. Aber Sie haben auch gezeigt, dass Sie die Bodenhaftung, wenn es um die Politik für dieses Land geht, verloren haben. ({80}) Weil Sie die Bodenhaftung verloren haben, können Sie die Sorgen und Ängste der Menschen nicht wahrnehmen. Wer diese aber nicht wahrnimmt, kann die Menschen nicht auf den notwendigen Weg mitnehmen. ({81}) Deshalb sage ich: Herr Bundeskanzler, die beste Lösung für unser Land ist Rücktritt und Neuwahlen. ({82}) Dann wären wir in der Lage, das zu tun, was notwendig ist. Herzlichen Dank. ({83})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, dem Kollegen Franz Müntefering, das Wort. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel, ({0}) Sie sind eine großzügige Vorsitzende. Das konnte ich während Ihrer Rede feststellen. Ich hätte nämlich nicht gedacht, dass Sie in diesen wichtigen Tagen Ihrem Redenschreiber Urlaub geben. ({1}) Anders ist nicht zu erklären, warum Sie heute Morgen eine solche Rede hier gehalten haben. Sie haben gesagt, dass wir in dem vergangenen Jahr manchmal hinter unseren Möglichkeiten geblieben sind und dass wir hätten besser sein können. Das ist ein schönes Lob; das ist auch nicht falsch. Natürlich können wir noch besser werden. Es tut mir aber Leid, dass ich dieses Lob an Sie nicht zurückgeben kann; denn Sie haben Ihr Niveau heute Morgen gehalten. ({2}) Die Art und Weise, wie Sie über Europa und über die Rolle, die der Bundeskanzler in Europa spielt, gesprochen haben, hat deutlich gemacht, dass Sie für eine solche Aufgabe nie und nimmer geeignet wären. Europa können Sie nicht, Frau Merkel. ({3}) Es ist sehr gut, dass man in den Protokollen nachlesen kann, welche Reden vor einem Jahr gehalten wurden. Sie haben in Ihrer Rede vom 14. März 2003 angekündigt, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik eine historische Ausrichtung bekommen sollte. Sie haben in dieser Rede am 14. März des vergangenen Jahres die militärische Option für den Irak ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Ich sage hier noch einmal für meine Fraktion und die deutsche Sozialdemokratie: Wir sind stolz darauf, dass Gerhard Schröder und die Koalition im letzten Jahr entschieden haben, nicht am Irakkrieg teilzunehmen. Das war eine historische Leistung von großer Bedeutung. ({4}) Sie haben an diesem 14. März angekündigt, im Jahre 2004 einen Vorschlag zu machen, wie die Systeme der sozialen Sicherung wetterfest gemacht werden könnten. Ein solcher Vorschlag ist bisher nicht zu erkennen. Sie haben heute gewisse Punkte kurz angesprochen, die damit zu tun haben könnten: die Kopfpauschale und kurze Anmerkungen zur Rente und zur Pflege. Sie haben aber keine zusammenhängende Feststellung gemacht, wie die Systeme der sozialen Sicherung aus Ihrer Sicht der Dinge aussehen sollen. ({5}) - Ich spreche über das, was Sie im letzten Jahr gesagt haben. Herr Kauder, man muss sich an dem messen lassen, was man selbst angesprochen hat. ({6}) Sie haben an diesem 14. März des vergangenen Jahres auch angesprochen, dass es weitere steuerliche Entlastungen geben solle. Sie haben dann Ende letzten Jahres - wir haben es noch in guter Erinnerung - sehr unterschiedliche Konzepte auf dem Tisch gehabt. Kurz vor Weihnachten war Herr Merz ganz oben auf Ihrer Hitliste. ({7}) Dazu gab es dann große Beschlüsse. Dann kam aber Herr Glos dazwischen. Dann hat Herr Kirchhof eine Rolle gespielt. Inzwischen ist nichts mehr von all dem übrig geblieben, was Sie angekündigt haben. Gott sei Dank können Sie solche Spiele nur im Sandkasten machen. Es ist schon gut für das Land, dass Frau Merkel in der Opposition ist und wir regieren. ({8}) Frau Merkel, Sie haben eben die Krankenschwestern angesprochen. Das war eine besonders schöne und interessante Stelle. ({9}) Dabei geht es darum, wie viele Steuern Krankenschwestern zahlen müssen. Herr Merz - er geht gerade hinaus -, aber auch Sie und Herr Stoiber haben, als Sie sich an dem bewussten Sonntag nicht einigen konnten, im Nachhinein festgestellt, dass die Steuerfreiheit für Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge Zug um Zug gestrichen wird. Dazu sage ich Ihnen - das ist auch der Ehrlichkeit wegen ein hochinteressanter Punkt -: Man kann an dieser Stelle so denken. Nur, Sie sollten hier nicht sagen, was Sie dazu gesagt haben. Wir in dieser Koalition stehen dafür, dass eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf keinen Fall dadurch ermöglicht wird, dass Krankenschwestern und Busfahrer in Zukunft ihre Zuschläge versteuern müssen, Frau Merkel. ({10}) Sie haben in dieser Rede am 14. März letzten Jahres gesagt: Reden ist Silber, Handeln ist Gold. - Herzlichen Glückwunsch zur Silbermedaille, Frau Merkel! ({11}) Für mehr reicht es nicht. ({12}) Wir haben in diesem Jahr gehandelt. Wir haben eine Reihe schwieriger und auch komplizierter Gesetze eingebracht und haben sie im Deutschen Bundestag ({13}) und nach heftigen Kämpfen manchmal auch im Bundesrat beschlossen. ({14}) Wir haben die Steuerreform durchgesetzt und haben über das hinaus, was vorgesehen war, erreicht, dass zum 1. Januar dieses Jahres ({15}) 28 Prozent derer, die einkommensteuerpflichtig sind, keine Lohnsteuer mehr zahlen müssen. ({16}) Wenn Sie darüber sprechen, wer wie viel von seinem Lohn abgezogen bekommt, sollten Sie keine Durchschnittsrechnung vornehmen, sondern sich anschauen, was die Koalition für diejenigen getan hat, die unten sind: Der Grundfreibetrag wurde von 6 322 auf 7 644 Euro erhöht und der Eingangssteuersatz wurde von 25,9 auf 15 Prozent gesenkt. Davon haben Sie zwar oft gesprochen; das haben Sie aber nie durchgesetzt. Das ist Sache dieser Koalition. ({17}) Während Sie sich in Sachen Steuerreform in die Büsche geschlagen haben und manchmal nicht wissen, ob Sie uns jetzt links oder rechts überholen sollen, haben wir praktische Dinge getan. Wenn Sie im Vermittlungsausschuss mitgemacht hätten, hätten wir den im Rahmen der Steuerreform vorgesehenen Nachlass um 7 Milliarden Euro, der erst im nächsten Jahr wirksam wird, schon in diesem Jahr umsetzen können. Wir haben im Hinblick auf den Arbeitsmarkt Entscheidungen getroffen, die für uns nicht immer leicht waren. Vieles von dem, was wir beschlossen haben, ist bei uns zum Teil unter Ächzen geschehen und nicht schnell in leichten Entscheidungen. Wir haben dafür gesorgt, dass auf dem Arbeitsmarkt im Bereich der Zumutbarkeit und des Kündigungsschutzes größere Flexibilität - wir glauben, letztlich auch zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - gegeben ist. Wir haben etwas getan, Sie haben nur darüber geredet. Wir haben die Handwerksordnung novelliert, wollten jedoch noch ein Stück weiter gehen. Wir haben es ermöglicht, dass erfahrene Gesellen in Zukunft eigene Unternehmen, eigene Handwerksbetriebe gründen können. Diese Entscheidung war richtig. Sie wurde auf Ihrer Seite übrigens besonders heftig von der FDP bekämpft. ({18}) Wir haben bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau zusammen mit der Deutschen Ausgleichsbank ein spezielles Förderprogramm für den Mittelstand eingerichtet. Wir haben dafür gesorgt, dass es Geld für die Städte und Gemeinden gibt, um Ganztagsschulen einzuführen. Dieses Geld könnte übrigens noch intensiver als bisher von den Städten und Gemeinden angefordert werden. Das wäre schon gut. Wir haben mit unserer Gemeindefinanzreform dafür gesorgt, dass in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro mehr bei den Städten und Gemeinden ankommen. ({19}) All diese Dinge haben wir vom letzten Jahr bis heute konkret umgesetzt, ({20}) manchmal unter Ächzen, manchmal beklatscht. Dieser Weg ist nicht einfach, aber richtig und führt uns nach vorn. ({21}) Was haben Sie in dieser Zeit gemacht? Frau Merkel, als Sie eben über das Gesundheitswesen gesprochen und versucht haben, Frau Schmidt die Verantwortung für das zu übertragen, was bezüglich der Umsetzung der Gesundheitsreform passiert ist, habe ich mir Herrn Seehofer angeschaut und gesehen, wie ihm die Röte langsam ins Gesicht gestiegen ist, weil er gewusst hat, dass der Vorwurf an die völlig falsche Adresse gerichtet war. ({22}) Dieses Gesundheitsmodernisierungsgesetz haben wir miteinander beschlossen. Es beinhaltet Akzente von uns und Akzente von Ihnen. Deshalb möchte ich zu zwei Punkten etwas anmerken. Hinsichtlich des Wettbewerbs im Gesundheitswesen sind wir weit hinter dem zurückgeblieben, was wir uns vorgestellt hatten, nämlich zu ermöglichen, dass die Krankenversicherungen mit den Ärzten und Gesundheitseinrichtungen klare und wettbewerbsfähige Verträge schließen. Es ist wichtig, das noch einmal anzusprechen, weil Sie die Förderung des Wettbewerbs immer für sich in Anspruch nehmen. Manchmal denkt man - und manche von uns sagen das auch -, Sie seien an dieser Stelle ideologisch und sozusagen Ordnungspolitikerin. Das sind Sie überhaupt nicht. Sie sind einfach ganz kleinkarierte Lobbyistin. Etwas anderes sind Sie nicht. ({23}) Wenn es um Wettbewerb geht, Herr Westerwelle und Frau Merkel, kennen Sie keine Verwandten und keine Ideologiebücher mehr. Sie kennen dann nur noch diejenigen, die Ihnen nahe sind. ({24}) Wir haben die Praxisgebühr beschlossen. Frau Merkel, ich will Ihnen dabei aber gern den Vortritt lassen. Es wäre anständig von Ihnen gewesen, hier wenigstens einmal deutlich zu sagen, dass wir dieses Gesetz gemeinsam beschlossen haben, ({25}) dass die Idee dieser Praxisgebühr aber von der CDU/ CSU vorgebracht und deren Einführung erzwungen worden ist. Das ist nun einmal schlicht die Wahrheit. ({26}) Wir laufen vor den gemeinsamen Beschlüssen nicht weg. Es wäre aber schon gut, wenn die Dinge nicht so verdreht würden, wie Frau Merkel das eben wieder versucht hat. ({27}) Ohne Sie wäre die Positivliste möglich gewesen. ({28}) Auch die haben Sie mit Ihren Mehrheiten im Bundesrat verhindert. ({29}) Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein. Ich möchte das hier nur festhalten, damit draußen die richtigen Botschaften ankommen. In Sachen Tarifautonomie haben Sie jüngst noch einmal Ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich glaube, an diesem Punkt geht es in der Gesellschaft in der Tat um eine Weichenstellung. ({30}) Es geht darum, ob man will, dass in dieser Gesellschaft jeder Einzelne für sich kämpft und kämpfen muss, oder ob es so etwas wie eine Bündelung von Interessen gibt. Wir glauben, zur Demokratie gehört es dazu, dass man weiß, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschiedliche Interessen haben. Es ist keine Schande, darüber zu sprechen. Wir glauben aber auch, dass versucht werden muss, die unterschiedlichen Interessen in einem gemeinsamen System auszugleichen. Wir sind überzeugt, dass es für die Bundesrepublik Deutschland richtig war, dass es starke Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen gegeben hat und gibt, die diesen Interessenausgleich zum Wohle der ganzen Gesellschaft organisieren. ({31}) Es ist nicht immer leicht, damit umzugehen. Aber die Alternative dazu ist letztendlich, dass in jedem Betrieb jeder für sich selbst kämpft. Das wäre für die Gesellschaft und für die Unternehmen nicht gut. ({32}) Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass die Tarifautonomie erhalten bleibt. Wir wollen, dass die Betriebe, die darauf angewiesen sind, von den tariflichen Vereinbarungen abzuweichen, dies können, wenn die Tarifparteien dies gemeinsam akzeptieren. Das wird an vielen Stellen, Hunderte Male gemacht. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sind nicht die fünfte Kolonne, die dabei ist, die Betriebe kaputtzumachen. Vielmehr versuchen sie, ihren Betrieb und ihre Arbeitsplätze und die der Kolleginnen und Kollegen zu sichern. So ist das. ({33}) Auch wenn man sich mit dem einen oder anderen in ganz konkreten Punkten zu streiten hat - das tun wir und das lassen wir nicht aus -: Wir wollen, dass auch in Zukunft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ihre Interessen bündeln können, vertreten können, erstreiten können und, wenn es nötig ist - hoffentlich selten -, erstreiken können. Das gehört zur Demokratie in diesem Lande. Dazu stehen wir. ({34}) Nun habe ich etwas zur CDU/CSU, aber noch nichts zur FDP gesagt. Es soll auch nicht viel sein. Aber ich habe gestern eine Pressemitteilung gelesen. Da hat Herr Westerwelle sich gemeldet ({35}) und gesagt, wenn er die Bundestagswahl 2006 nicht erfolgreich bestehe, dann wolle er nicht mehr Parteivorsitzender sein. ({36}) Ich habe unserer Kreativgruppe den Auftrag gegeben, ein Plakat daraus zu machen. Die Idee haben wir schon. Auf dem Plakat wird stehen: Wählen Sie FDP! Sonst bin ich beleidigt und bleibe nicht länger Vorsitzender der FDP. - Das wird im Jahre 2006 auf den Plakaten stehen. ({37}) Es wäre ehrlicher, Sie würden heute schon gehen. ({38}) Denn was Sie da angekündigt haben, weckt eine Hoffnung. Sie können davon ausgehen: Wir werden dafür sorgen, dass Sie im Jahre 2006 Ihren Abschied als Parteivorsitzender nehmen können. ({39}) Machen Sie unter Ihren Schuhen zwischen der 1 und der 8 ein Komma! Das ist die Perspektive. ({40}) - Dass Herr Gerhardt darüber lacht, das weiß ich. Das hat er wahrscheinlich damals schon getan. Das ist nicht neu. ({41}) Ich sehe das an Ihren beiden Gesichtern; es ist sehr aufschlussreich, Sie hintereinander sitzen zu sehen. ({42}) Wir haben in diesem Jahr eine ganze Menge erreicht. Wir haben den negativen Trend im Lande gestoppt. Die Arbeitslosigkeit ist nicht weiter angestiegen ({43}) entgegen manchem, was Sie draußen immer wieder behaupten. Die Beschäftigtenzahlen sind höher als im Jahre 1998. Das ist so. ({44}) Der Rückgang der Arbeitslosigkeit gerade bei den Jugendlichen liegt in der Größenordnung von 50 000. Das ist eine gute Entwicklung. Das ist ganz entscheidend ein Verdienst von Wolfgang Clement, der im Bereich des Arbeitsmarktes ganz besonders für die jungen Menschen in diesem Land etwas getan hat und auch weiter tut. ({45}) Es gab im letzten Jahr 1,6 Millionen Existenzgründungen in Deutschland. Die Preise der teuren Arzneimittel sind gesunken. Frau Merkel, in Ihrer Rede vom 14. März letzten Jahres haben Sie angekündigt, die Rentenversicherungsbeiträge würden im Jahre 2003 auf 19,9 Prozent steigen. Sie sind nicht gestiegen. Sie sind bei 19,5 Prozent geblieben. Das ist eine Größenordnung von 4 Milliarden Euro. ({46}) Sie können sich darauf verlassen, dass wir erreichen, was wir vorhaben: die Lohnnebenkosten niedrig zu halten und die Renten- und Krankenversicherungsbeiträge nicht steigen zu lassen. ({47}) Die Botschaften der letzten Stunden besagen, dass gerade in den letzten Tagen wieder einige Krankenkassen - es sind große dabei - Schritt für Schritt ihre Beiträge senken. ({48}) Auch das ist ein Verdienst von Ulla Schmidt. Ich möchte ihr an dieser Stelle ein Dankeschön sagen. ({49})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte? ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er ist Sauerländer. Das muss ich machen. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Müntefering, herzlichen Dank. Sie haben gerade gesagt, wir hätten im letzten Jahr 1,6 Millionen Existenzgründungen in Deutschland gehabt. Diese Zahl habe ich mehrfach gehört. Sie kann nicht richtig sein. Bitte überlegen Sie einmal mit: Insgesamt gibt es in Deutschland nur 3,3 Millionen Selbstständige. Würde die Zahl, die Sie genannt haben - 1,6 Millionen -, stimmen, wären im letzten Jahr etwa 50 Prozent unserer Betriebe neu dazugekommen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Diese Zahl ist grundfalsch. Überprüfen Sie sie bitte einmal!

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut, klären wir die Zahl miteinander. Die 1,6 Millionen beinhalten auch diejenigen, die als Ich-AGs angefangen haben. Diese Personengruppe gehört dazu. ({0}) 25 Prozent derer, die arbeitslos waren, haben sich selbstständig gemacht. Sie sind hier eingerechnet. Das ist so richtig und auch gut. Die Menschen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus den Impuls gewonnen haben, sich - auch wenn es ihnen schwer fiel - selbstständig zu machen, zählen wir im Bereich der Existenzgründungen mit. Das ist doch klar. ({1}) Wir haben uns für das Jahr 2004 vorgenommen, die Agenda 2010 weiter umzusetzen. Wir wissen, dass wir hier noch eine Menge wichtiger Aufgaben vor uns haben, zum Beispiel bei Hartz IV, also bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. An der Stelle Ihrer Rede, als Sie, Frau Merkel, dazu etwas gesagt haben, bin ich darauf gekommen, dass Ihr Redenschreiber wohl in Urlaub gewesen sein muss; denn hier haben Sie ein bisschen viel durcheinander geworfen. Sie haben davon gesprochen, dass die Kommunen die Ganztagseinrichtungen gar nicht finanzieren könnten, weil sie noch kein Geld durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bekommen hätten. Frau Merkel, die entsprechenden Einnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro können erst im Jahre 2005 wirksam werden, weil die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erst im Jahre 2005 stattfindet. Jetzt nicken Sie freundlich; eben haben Sie das aber etwas anders dargestellt. Lesen Sie das einmal nach! ({2}) Was die Art und Weise der Organisation angeht, stelle ich fest: Wir haben gemeinsam ein Gesetz verabschiedet, in dem wir davon ausgehen, dass die Arbeitsgemeinschaften zwischen der Bundesagentur und den Städten und Gemeinden dieser Aufgabe gerecht werden. Es geht darum, dass die jetzigen Arbeitslosenhilfeempfänger und Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind, stärker an die Vermittlung herangeführt werden. Dafür werden wir beide Stellen brauchen: die Bundesagentur und die Städte und Gemeinden. Nur wenn beide vernünftig zusammenarbeiten, kann man dieses Problem überhaupt lösen. Der Streit darüber, wie man das vernünftigerweise machen sollte, ist nicht wirklich ausgetragen worden. In der Nacht, in der der Vermittlungsausschuss getagt hat, haben wir darüber lange gesprochen. Wir waren nicht der Meinung von Herrn Koch, der gesagt hat, das müsse kommunalisiert werden. Mein Eindruck ist, dass auch viele von Ihnen das nicht so sehen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, was in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt ist. Denn als es in der Nacht darum ging, diesen Streit zu schlichten, um hier zu einer Lösung zu kommen, habe ich einen Vorschlag gemacht: Sehr geehrter Herr Koch, führen Sie doch einen Feldversuch durch. In Hessen und Sachsen wird kommunalisiert; alle übrigen Länder gehen den anderen Weg. Das wäre eine schöne, feine und saubere Lösung gewesen. Daraufhin hat Herr Koch gesagt: Nein, so sei das alles nicht gemeint gewesen. ({3}) - Frau Merkel, weil ich das gehört habe, will ich Ihnen sagen: Ich weiß nicht so recht, ob Sie an dieser Stelle wirklich behilflich sein wollen und ob manche von Ihnen nur chaotisieren wollen. ({4}) Unsere dringende Empfehlung an die Städte und Gemeinden und an die Kreise ist, sich jetzt mit der Bundesagentur zusammenzusetzen und gemeinsam zu entscheiden, wie das zu organisieren sei. Wenn wir beide der Meinung sind - das sind wir offensichtlich -, dass man Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen muss, dann müssen wir dies nach pragmatischen Gesichtspunkten und ohne parteipolitisches Taktieren tun. ({5}) An dieser Stelle müssen wir eine Lösung finden, die für das ganze Land angemessen ist. Dazu gehört, dass es in den nächsten Tagen und Wochen vor Ort eine intensive Debatte über die Frage geben muss, wie die Arbeitsgemeinschaften zwischen der Bundesagentur und den Städten und Gemeinden organisiert werden können. Wir sind auf beide angewiesen. Beide sollen ihren gerechten Anteil an der Arbeit, aber auch an den Möglichkeiten haben, hier mitzubestimmen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Müntefering, der Kollege Rauen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Müntefering, als neuer SPD-Vorsitzender mögen Sie sich ja über vieles hinwegsetzen können. Aber hier im Hause sitzen etliche Kolleginnen und Kollegen, die viele Jahre im Vermittlungsausschuss tätig gewesen sind. Es war immer völlig selbstverständlich, dass über Ergebnisse und Gespräche im Rahmen des Vermittlungsausschusses nicht in der Öffentlichkeit berichtet wurde. Ich bitte auch Sie, sich zukünftig daran zu halten. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rauen, ich nehme die Mahnung gern auf. Meine Erwartung an Sie, an Herrn Koch und an Frau Merkel und alle anderen, die an dem Verfahren beteiligt sind, ist allerdings, dass Sie sich fair verhalten; das ist meine herzliche Bitte. ({0}) Wenn wir fair miteinander umgehen, muss man nicht über die Dinge sprechen, die hinter verschlossenen Türen besprochen wurden. Es ist nicht in Ordnung, nach draußen so zu tun, als ob diese Koalition uneinsichtig wäre, als ob wir nicht wollten, dass das Optionsmodell in fairer Weise zustande kommt. ({1}) Das ist meine Replik auf das, was Frau Merkel vorhin gesagt hat; sprechen Sie einmal mit ihr darüber. Herr Rauen, ich könnte auch sagen: Es ist unverantwortlich, in diesem Stadium der Verhandlungen so zu tun, als ob Parteitaktik bei Ihnen oder bei uns das dominierende Motiv wäre. Wir wollen vernünftige Lösungen, im Interesse der Arbeitslosen und im Interesse der Agentur sowie der Städte und Gemeinden. Miteinander können wir das schaffen. ({2}) Wir werden in diesem Jahr eine große, energische Anstrengung unternehmen, um dafür zu sorgen, dass kein junger Mann und keine junge Frau von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit übergeht. ({3}) Dazu gehört das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm von Wolfgang Clement, dazu gehört aber auch der Bereich der Ausbildung und dazu gehört auch, dass möglichst viele junge Leute in die Universitäten gehen. Ich sage Ihnen und all denen, die uns noch nicht zustimmen: Wenn es diese Gesellschaft nicht schafft, einen Weg zu finden, zu verhindern, dass die jungen Menschen nach der Schule arbeitslos werden, dann versündigen wir uns an dieser jungen Generation und lassen zu, dass ein Sockel von Sozialhilfekarrieren entsteht, der für dieses Land und für die Kinder, die daraus erwachsen, verheerend ist. ({4}) Wir wollen erreichen, dass die jungen Menschen, die die Schule beendet haben, manche erfolgreich, manche nicht - ich sage es einmal in meiner Sprache -, arbeiten lernen, sich qualifizieren können, eine Ausbildung bekommen und in ihrem Leben die Möglichkeiten, die sie haben, nutzen können. Das Schlimmste, was man tun kann, ist, einem jungen Menschen, der mit 16 oder 18 Jahren aus der Schule kommt, zu sagen: Du hast dich angestrengt, es hat nicht gereicht. Setz dich hin, krieg Stütze, halt den Mund, stör uns nicht. Das kann nicht die Politik in diesem Lande sein. Deshalb muss an dieser Stelle etwas passieren. ({5}) Frau Merkel, weil Sie mir manchmal so leicht mit Beton begegnen: Denken Sie einfach einmal darüber nach, was Sie dazu beitragen können - auch im Bundesrat -, an dieser Stelle in Deutschland wirklich etwas zu erreichen. Dazu gehört mehr als nur die Frage der Ausbildung; das weiß ich. Wir werden das Gesamtthema dieses Jahr auf der Tagesordnung behalten. Im Verlauf des letzten Jahres wurden 500 000 junge Menschen arbeitslos. Die Fluktuation war hoch, es gab aber auch einen großen Sockel von arbeitslosen jungen Menschen ohne Ausbildung. Wer in dieser Gesellschaft jedoch keine Ausbildung hat, dessen Chancen, ins Erwerbsleben hineinzuwachsen, werden immer kleiner; darüber müssen wir hier doch nicht streiten. Deshalb sage ich: Wir müssen alles dafür tun, dass auf freiwilligem Weg, durch Tarifverhandlungen und Tarifverträge und unter Einsatz der Kammern erreicht wird, dass alle jungen Menschen diese Chance bekommen. Die Potenziale dazu sind in dieser Gesellschaft vorhanden. Im letzten Jahr wurden 560 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Zum Schluss blieb eine Lücke von gerade einmal 20 000. Wer 560 000 hinbekommt, kann auch noch diese 20 000 hinbekommen. Mehr wollen wir nicht, aber dass das zustande kommt, wollen wir. ({6}) Wir werden in diesem Jahr eine Debatte über die Pflege führen. Heute lasse ich dieses Thema weg, aber wir werden intensiv darüber zu debattieren haben. Ich glaube, dass da ein gesellschaftliches Problem besteht, an dem sich deutlich machen lässt, dass nicht alle Probleme, die diese Gesellschaft hat, mal eben durch ein Bundesgesetz von hier aus erledigt werden können. Stattdessen müssen wir die Gesellschaft dafür gewinnen, „Eigenverantwortung“ nicht als „Rückzug auf sich selbst“ zu verstehen, sondern als die Aufgabe, in eigener Initiative oder in Verbänden oder Organisationen selber Aufgaben zu übernehmen, zum Beispiel im Bereich der Pflege. Diese Gesellschaft muss davon wegkommen, zu glauben, alle Probleme ließen sich durch ein Bundesgesetz lösen. Deshalb wird das Thema Pflege nicht nur gesetzliche Initiative erfordern, sondern auch eine intensive gesellschaftliche Debatte. Ähnlich ist es mit der Bürgerversicherung. Sie haben gefragt, ob das denn wahr sei, Frau Merkel. Sie können den Stand der Dinge nicht so genau kennen, deshalb will ich Ihnen kurz sagen: Wir haben beschlossen, dass wir den Weg hin zur Bürgerversicherung gehen. Das Ziel sind Vertiefung und Verbreiterung des ganzen Systems unter den Gesichtspunkten Gerechtigkeit für den Einzelnen und Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Das ist eine gute Alternative zum Weg hin zur Kopfpauschale, den Sie einzuschlagen versuchen. Wir sind bei diesem Punkt keineswegs schon fertig. Wir werden unseren Weg präzisieren. Das wird noch einige Zeit dauern. In diesem Jahr wird es in der Bundesrepublik Deutschland ganz sicher kein Gesetz mehr dazu geben. Der Gedanke, der dahinter steht, dass nämlich der Kernbereich der Systeme der sozialen Sicherung bei uns solidarisch finanziert bleiben soll, ist richtig. ({7}) Das müssen Sie inzwischen doch dazugelernt haben. All die jungen, schicken Millionäre, die es vor einigen Jahren gab und die uns stolz erzählt haben, dass sie ihre komplette Alterssicherung über die Aktienmärkte abgesichert hätten, wurden eines Besseren belehrt. Zum guten Schluss muss aus den sozialen Systemen klassischer Art, der Finanzierung aus der Steuerkasse und der Eigenverantwortung des Einzelnen, indem er zuzahlt, ein vernünftiger Mix entstehen. Bei diesem Ziel, das wir umzusetzen versuchen, müssen wir immer im Blick behalten, dass der Kern der Sozialversicherung solidarisch finanziert bleiben muss. Man kann es drehen, wie man will, das Beste ist: Menschen für Menschen, Generation für Generation. Eine bessere Lösung bei der Alterssicherung gibt es nicht. Das muss im Kern so erhalten bleiben. ({8}) Wir werden auch das Thema Innovation nicht vergessen. Keine Sorge, Sie werden bald wieder damit konfrontiert sein. Schließlich wissen wir genau, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend davon abhängt, wie in den Bereichen Qualifizierung, Forschung und Technologie in diesem Lande weiter verfahren wird. Bei den Investitionen in diesem Bereich hat es in den 90er-Jahren eine Stagnation, zum Teil sogar einen Abbruch gegeben. Daran waren Sie beteiligt. Sie waren damals an der Regierung. Wir sind klüger geworden. ({9}) Wir haben, seitdem Edelgard Bulmahn dem Bildungsministerium vorsteht, dessen Etat um etwa 30 Prozent erhöht. Diese Investitionsmittel fehlen uns natürlich an anderer Stelle. Trotzdem sagen wir den Rentnerinnen und Rentnern und der Gesellschaft insgesamt: Was wir heute in die Forschung, in die Technologie und in die Entwicklung neuer Arbeitsplätze und neuer Produkte investieren, das ist die Investition in die Zukunftsfähigkeit des Landes überhaupt. Man kann nichts Besseres tun, als in diesen Bereich zu investieren. ({10}) Wir werden diesen Weg weitergehen. Das wird hart werden, weil das bedeutet, mehr Geld zur Verfügung zu stellen, um im Jahr 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu kommen. Aber ganz Europa muss diesen Weg gehen und die deutsche Wirtschaft ebenso. Das kann der Bund nicht alleine schaffen, das müssen auch die Länder und die Gemeinden als große Aufgabe verstehen. Wir werden zu diesem Thema an dieser Stelle also weiter über das diskutieren, was in den nächsten Jahren und vielleicht noch in diesem Jahr erforderlich und nötig ist. Meine Damen und Herren, wir werden bei dem, was wir in diesem Jahr und in den nächsten Jahren zu tun haben, darauf zu achten haben, dass wir das Wünschbare im Blick behalten und es nicht vergessen, dass wir aber gleichzeitig das Notwendige erkennen und das Machbare tun. Das sind die Zielkonflikte, die Spannungsverhältnisse, mit denen wir es zu tun haben. Wir wissen, dass man sich vieles anders wünschen würde und dass vieles über das hinausgehen müsste, was wir heute tun oder tun können. Wir wissen, dass bestimmte Dinge getan werden müssen. Wir machen das, was heute notwendig ist, damit wir auf einem guten Weg in die Zukunft gehen können. Das wird anstrengend bleiben; das ist überhaupt keine Frage. Aber wir haben im Jahr 2003 ein gutes Stück auf dem richtigen Wege zurückgelegt und haben etwas von dem weggeräumt, was in den 90er-Jahren in Deutschland liegen geblieben ist. ({11}) Es ist wahr, dass wir spät dran sind. In den vergangenen Wochen und Monaten haben ich und andere oft darüber gesprochen, wie es war und dass in der Vergangenheit tatsächlich etwas liegen geblieben ist. Ich finde, es reicht nun, den Blick zurückzuwerfen; jetzt muss der Blick nach vorne gerichtet werden. Wir müssen das tun, was in diesem Jahr und was für die Zukunft erforderlich ist. Wir dürfen uns nicht mit den Dingen aufhalten, die weit hinter uns liegen, sondern müssen mutig und entschlossen die Dinge in Angriff nehmen, die der Bundeskanzler heute in seiner Rede beschrieben hat und die in diesem Jahr auf der Agenda stehen. Im vergangenen Jahr habe ich in meiner Rede zur Agenda gesagt: Herr Bundeskanzler, Sie haben für die Agenda 2010 die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. Herr Bundeskanzler, das wird auch so bleiben. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun Dr. Guido Westerwelle für die FDPFraktion.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Müntefering, Sie haben am Schluss Ihrer Rede davon gesprochen, Sie hätten vieles von dem, was liegen geblieben sei, abgeräumt und erledigt. Der Herr Bundeskanzler hat sich in seiner Regierungserklärung gerühmt, er habe die Steuersätze in seiner Regierungszeit gesenkt. Für uns von der Opposition möchte ich dazu sagen: Wenn Sie uns nicht blockiert hätten und wenn Sie nach der Wahl nicht alles aufgehoben hätten, dann hätten wir seit sieben Jahren niedrigere Steuersätze, einen demographischen Faktor bei der Rente und ein modernes Arbeitsrecht. ({0}) Herr Kollege Müntefering, ansonsten kann man Ihnen zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gratulieren. Das ist der Sieg der Müntefering-SPD. Diejenigen, die geschrieben haben, es werde nach dem Parteitag der Sozialdemokraten keinen Wechsel in der Politik geben, sind heute eines Besseres belehrt worden. Das Einzige, was von der Agenda 2010 in Wahrheit noch übrig gelassen wurde, ist der Name selbst. Sie warnen vor einem angeblich drohenden ungezügelten Marktliberalismus. Wer bei einer Staatsquote von 57 Prozent den ungezügelten Marktliberalismus kommen sieht, der hat die soziale Marktwirtschaft nicht verstanden. ({1}) - Ich weiß, dass Sie den Unterschied zwischen dem Brutto- und dem Nettoinlandsprodukt nicht kennen; das ist mir schon klar. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zu den entscheidenden Punkten, die herausgearbeitet worden sind. Vor einem Jahr hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung darüber gesprochen, dass das Tarifvertragsrecht verändert werden müsse, und er hat die Ausbildungsplatzabgabe abgelehnt. Ein Jahr später kündigen Sie die Ausbildungsplatzabgabe an und verabschieden sich vom Ziel der Liberalisierung des Tarifvertragsrechts. Das ist eine völlige Veränderung Ihrer bisherigen Politik, ({3}) ein Agenda-Wechsel und nicht die Fortsetzung der Agenda 2010. Sie haben Ihrer Regierung neue Vorzeichen gegeben und sich wieder einmal neu erfunden. Damit haben Sie sich zwar in die Seele der Sozialdemokratie hineingeredet, von Deutschland und den Problemen haben Sie sich aber erneut verabschiedet. ({4}) Sie haben die Agenda 2010 zu Grabe getragen und die alte SPD ausgegraben. Reden wir einmal über die Ausbildungsplatzabgabe. Die Wahrheit ist bekanntermaßen konkret. Die von Ihnen angekündigte Ausbildungsplatzabgabe wird ja nicht nur in Ihren eigenen Reihen als falsch angesehen. Ich bin gespannt, was von Herrn Clement übrig bleibt, wenn das alte Lieblingsprojekt der Müntefering-SPD, das von Ihnen auf Parteitagen immer wieder vorgeschlagen wird, jetzt kommt. Durch die Ausbildungsplatzabgabe wird nicht ein einziger Ausbildungsplatz in Deutschland geschaffen. Sie wird nur dazu führen, dass noch mehr mittelständische Unternehmen in die Pleite geraten. Genau das müssen wir in Deutschland verhindern. Im letzten Jahr gab es über 40 000 Pleiten, insbesondere im Mittelstand. Sie leiden unter einem argen Realitätsverlust, da Sie das verschweigen. Wer Pleite geht, kann nicht ausbilden. Stärken Sie gerade die Unternehmen im Mittelstand, dann wird auch mehr ausgebildet! Ein plumper Appell an Patriotismus reicht für eine Regierung, die handeln sollte, nicht. ({5}) Es ist schon interessant, wie diese Debatte seit dem Parteitag der Sozialdemokraten intoniert worden ist. Die Ausbildungsplatzabgabe wird kommen; das ist eine Frage der Zeit. Sie werden sich bemühen, den entsprechenden Text geschickt zu formulieren. Das einzige Ergebnis wird sein, dass weniger Ausbildungsplätze entstehen, anstatt mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Dieses Land wird nicht neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze dadurch bekommen, dass neue Steuern und Abgaben erfunden werden. Dieses Land bekommt nur dann neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze, wenn wir das Steuerrecht modernisieren und vereinfachen und die Steuern- und Abgabenlast in Deutschland insgesamt senken. ({6}) Davon ist bei Ihnen überhaupt nicht mehr die Rede. Ganz im Gegenteil: Das Thema Steuersenkung haben Sie heute ad acta gelegt. Sie haben uns heute mitgeteilt, Sie sehen keine Spielräume für Steuersenkungen. Ganz im Gegenteil: Sie haben sogar Steuererhöhungen angekündigt. Wenn Sie nämlich die Eigenheimzulage streichen wollen, um damit Ihre Haushaltslöcher zu stopfen und die notwendigen Ausgaben in der Bildung zu finanzieren, weil Sie an anderer Stelle nicht die Kraft zum Sparen haben, dann ist das nichts anderes als eine faktische Steuererhöhung. Wer die steuerlichen Ausnahmetatbestände beseitigen will, der muss in niedrigere Steuersätze investieren und darf damit nicht die Haushaltslöcher von Herrn Eichel stopfen. Das kann die Bürgerinnen und Bürger teuer zu stehen kommen. ({7}) Auch das ist eine bemerkenswerte und völlig neue Gegenüberstellung. Die Eigenheimzulage wird jetzt als Gegenrechnungsposten für Bildung und Wissenschaft eingesetzt. Sie tun so, als ob wir uns in Deutschland zwischen niedrigeren Steuern und einem besseren Bildungssystem entscheiden müssten. Dieses Land braucht beides: niedrigere Steuern und ein besseres Bildungssystem. Was Deutschland aber nicht braucht, sind Ihre Steinkohlesubventionen in Höhe von 16 Milliarden Euro. Sie sind erst vor kurzem von Ihnen angekündigt und zugesagt worden, Herr Bundeskanzler. ({8}) Die Subventionen für die Steinkohle haben einen ganz einfachen Grund. In Nordrhein-Westfalen, wo Herr Müntefering herkommt, gibt es bald Kommunalwahlen. Die Subventionen sind nichts anderes als der Versuch, sich bei den Funktionären Ihrer eigenen Anhängerschaft im Ruhrgebiet Ruhe erkaufen zu wollen. Das ist höchst unvernünftig. Das ist eine Form von politischer Korruption, was hier stattfindet. Das Gefährliche dabei ist, dass Sie hier von Egoisten und Lobbyisten reden, Sie selber aber in Wahrheit der verlängerte Arm der Steinkohlefunktionäre und der Gewerkschaften in dieser Regierung zulasten des Ruhrgebiets geworden sind. ({9}) Reden wir bitte einmal über die bemerkenswerte Diskussion, die schlaglichtartig den neuen Kurs der SPD klarmacht: die Patriotismusdebatte. Diese wurde übrigens nur noch durch Ihren neuen Generalsekretär getoppt, Herr Kollege Müntefering. Er hat nicht nur wie der Bundeskanzler von mangelndem Patriotismus bei der deutschen Unternehmerschaft gesprochen, sondern er hat das Wort von den Vaterlandslosen in einer Presseerklärung benutzt. Ausgerechnet Sozialdemokraten sprechen von vaterlandslos! ({10}) Es ist bemerkenswert, dass Sie solche Begriffe in den Mund nehmen. ({11}) - Das kann ich Ihnen sagen. Vaterlandslos und unpatriotisch sind nicht Unternehmen, die sich vor der Pleite schützen wollen. Vaterlandslos und unpatriotisch ist Ihre Politik, die Unternehmen ins Ausland treibt. Das ist die eigentliche Lage in Deutschland. ({12}) Herr Müntefering, sparen Sie sich Ihre Zahlenspiele mit 1, 8 und 18. Bei der Allensbach-Umfrage in der letzten Woche lag die FDP bei 8 Prozent und die SPD bei 24 Prozent. Ich gebe zu: Sie sind im Augenblick näher an den 18 Prozent als wir; das ist leider wahr. Ich will an dieser Stelle auf einen Punkt zu sprechen kommen, über den Sie nicht reden wollen: die Lage in Deutschland. Ich lese Ihnen aus einem Brief vor, der mir in dieser Woche von einem deutschen Unternehmer übergeben worden ist. Er wurde von Gersau in der Schweiz angeschrieben. Dort heißt es offen und völlig unverbrämt: Hohe Steuerbelastungen führen in Deutschland dazu, dass der Erblasser nur sehr beschränkt über seinen Nachlass verfügen kann. Teilweise wird dadurch die geordnete Übergabe des Lebenswerks an die Nachkommenschaft erschwert oder gar vereitelt. Das Kanton Schwyz kennt keine Erbschaftsteuern. Wir sind deshalb in der Lage, Ihnen Lösungen anzubieten, bei denen der Nachlass ungeschmälert den Nachkommen übergeben werden kann. Wir sind gerne bereit, Ihren Mandanten die Möglichkeit und Vorteile eines allfälligen Umzuges nach Gersau aufzuzeigen. Damit werben unsere Nachbarländer. Sie aber verabschieden sich vom Ziel der Steuersenkung und kündigen innerhalb von 14 Tagen auch noch die Ausbildungsplatzabgabe, die Erhöhung der Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer an. Das ist der falsche Weg für dieses Land. ({13}) Deswegen hatten Sie völlig Recht, als Sie auf Ihrem Parteitag gesagt haben, das sei ein Kulturkampf zwischen Opposition und Regierung. Es ist ein Kulturkampf, das ist wahr. Es ist der Kampf der rot-grünen Neidgesellschaft gegen eine Anerkennungskultur, die Leistung befördert, belohnt und nicht bestraft. Wir sitzen alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern. Sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in Deutschland finanzieren. ({14}) Deswegen will ich Ihnen sagen: Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Mehrwertsteuer - Frau Simonis, immerhin eine Ministerpräsidentin, hat angekündigt, dass die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht werden sollte -, all das sind Vorschläge, die Sie auf Ihre neue Agenda setzen. Sie haben sich nach einem Jahr Agenda 2010 von der Politik der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. Sie sind auf dem Weg zurück zur alten SPD. Das mag Ihnen das Leben mit den Sozialdemokraten leichter machen, das Leben für die Deutschen in Deutschland wird schwerer. Das ist das traurige Ergebnis dieser heutigen Debatte. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, das, was Sie uns gerade vorgetragen haben, war die Rede vom letzten Jahr, vom vorletzten Jahr und vom vorvorletzten Jahr. Es gibt nur einen Unterschied: Sie haben nicht mehr diese Schuhe mit der Zahl 18 an, von denen Herr Müntefering geredet hat, sondern Sie laufen jetzt lieber in Stoppersocken, damit es ein bisschen weicher ist. ({0}) Herr Westerwelle, wenn Sie hier über Lobbypolitik reden, dann möchte ich daran erinnern, warum Sie beim Gesundheitskonsens ausgestiegen sind, ({1}) den die Union und die anderen Parteien mit allen Abstrichen mitgetragen haben. Sie sind ausgestiegen, weil es plötzlich für Ihre Lobbypolitik zugunsten der Pharmaindustrie eng wurde. Das ist die Politik, die Sie betreiben: ein bisschen Klientel-, ein bisschen Lobbypolitik, aber keine Konzepte, sondern nur die alten Reden vom letzten und vom vorletzten Jahr. ({2}) Damit werden Sie nicht durchkommen. ({3}) Schauen wir uns kurz das an, was die Union heute gesagt hat. Ich habe der sehr detaillierten Rede von Frau Merkel genau zugehört und ein bisschen ins Publikum geschaut. ({4}) Es gab Leute, die geklatscht haben, es gab Leute, die mit innerer Beteiligung geklatscht haben, und es gab Leute, die gar nicht geklatscht haben. Da saß Herr Schäuble, der immer dann, wenn es Beifall geben sollte, mit seinem Taschentuch hantierte, ({5}) und da saß Herr Merz, der sich immer dann, wenn es Beifall geben sollte, umschaute, ob das jetzt wirklich sein muss. Das ist die Situation in der Union. Sie haben versucht, uns innere Zerstrittenheit vorzuwerfen. Aber da hatten Sie einen freudschen Versprecher und sprachen von der Zerstrittenheit innerhalb der Opposition. Das ist richtig. Merkel, Merz, Stoiber, Koch, Schäuble ({6}) alle gegeneinander. Es geht in der Union schon lange nicht mehr um Konzepte. Das haben Sie heute wieder bewiesen. Es geht in der Union eigentlich nur noch darum, was man sagen kann, damit man jemand anderen aus dem eigenen Laden besonders hart trifft. Das ist die Realität. Wir kümmern uns um Deutschland. ({7}) Wir kümmern uns um die Konzepte und darum, wie es vorangeht. Sie kümmern sich um sich selbst. Ihr Laden ist nichts anderes als eine Was-nützt-Merkel-Partei. Damit müssen wir uns auseinander setzen. ({8}) Frau Merkel, ich will an eines erinnern. Ich habe am letzten Sonntag Ihr Interview in der „Welt am Sonntag“ gelesen. ({9}) In dem Interview wurden Sie gefragt, Frau Merkel: War das Ja zum Irakkrieg eigentlich richtig? ({10}) Frau Merkel hat darauf geantwortet: Wir wollen nicht mehr darüber reden, sondern lieber nach vorne blicken. Das ist alles Vergangenheit. Frau Merkel, ich bin überzeugt davon, ({11}) dass die Menschen in diesem Land ein Recht darauf haben, zu erfahren, ob Sie immer noch derselben Meinung sind wie damals. Ich bin überzeugt davon, dass die Menschen ein Recht darauf haben, zu erfahren, was gewesen wäre und was heute wäre, wenn Sie damals regiert hätten. Dann hätten Hunderte von deutschen Soldaten im Irak in einem Krieg gestanden, der sich auf nichts anderes gründet als auf Lügen. Das ist die Realität. ({12}) Wir wollen von Ihnen wissen, Frau Merkel, wie Sie heute dazu stehen. Das kann man wohl verlangen. ({13}) Ähnlich ist es im Hinblick auf Ihre Auslassungen zu Europa, Frau Merkel. ({14}) Sie haben hier festgestellt, dass gerade in Osteuropa am 1. Mai gefeiert wird. Das glaube ich auch. Aber es gibt, ehrlich gesagt, einige Leute, denen das Feiern im Halse stecken geblieben ist. ({15}) - Dass sie nicht feiern können, Herr Glos, hat mit jemandem aus Ihren eigenen Reihen zu tun, nämlich mit Frau Steinbach. ({16}) Frau Steinbach wird nicht nur in dieser Republik, sondern auch in Polen als diejenige wahrgenommen, die mit einem Zentrum für Vertreibung ({17}) das zarte Pflänzchen der guten deutsch-polnischen Beziehungen zerstören will. ({18}) Frau Steinbach sorgt für Verunsicherung. Wir wollen aber ein gemeinsames Europa, in dem es solche Verunsicherungen und Verunglimpfungen der Geschichte nicht gibt. Wir wollen, dass die Brücke über die Oder beschritten werden kann; wir wollen nicht, dass neue Mauern gebaut werden. ({19}) Wenn Sie wirklich wollen, dass am 1. Mai auch in Polen aus vollem Herzen gefeiert werden kann, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie Frau Steinbach und Herrn Koch, der genauso argumentiert, endlich stoppen. ({20}) Frau Merkel, auch das, was Sie in der Innenpolitik machen, ist nicht besser. Ihre Konzepte dienen dem Eigennutz und spiegeln den Streit in den eigenen Reihen wider. Es geht dabei um die Kopfpauschale und um den Bundespräsidenten. ({21}) Das war ein Theater. Man könnte fast sagen, es ging darum, wer in der Klamotte, die dabei aufgeführt worden ist, die beste Nebenrolle hatte: Angela, Edmund oder Guido? Herr Westerwelle, ich glaube, Sie können froh sein, dass wir den Meisterzwang weitestgehend abgeschafft haben. Sonst wären Sie mit Ihrem Meisterstück und der Meisterprüfung bei der Aufstellung eines Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl sicherlich nicht durchgekommen. ({22}) Aber eines muss klar sein, wenn Sie in der Innenpolitik - auch bei der inneren Sicherheit - wieder die alten Kamellen bringen. Wir haben die Anschläge in Madrid erlebt. Viele Menschen in unserem Land haben Angst. ({23}) Ich meine, das müssen wir sehr ernst nehmen. Meine eigenen Kinder, die jeden Tag mit dem Zug fahren, haben danach gefragt, was das eigentlich für sie bedeutet und ob sie auch gefährdet sind. Deswegen sage ich: Wir haben verstanden, dass die Menschen Angst haben; es muss klar sein, dass eventuell bestehende Gesetzeslücken geschlossen werden müssen. ({24}) Ich will Ihnen aber sagen, was auch klar sein muss! Es reicht nicht, einmal kurz nachzudenken, ohne sich mit der Sache wirklich zu beschäftigen, und dann die alten Klamotten wieder herauszuholen. Die beste alte Klamotte, die Sie immer wieder herausholen, ist der Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Glauben Sie, wir hätten in Deutschland auch nur ein bisschen mehr Sicherheit, wenn wir einen Panzer vor einen Bahnhof stellen und Wehrpflichtige in Zügen patrouillieren lassen? ({25}) Das ist nicht der richtige Weg. Es geht vielmehr darum, über die Möglichkeiten nachzudenken, mit denen die Sicherheit wirklich erhöht werden kann. Es geht nicht um Symbolpolitik und um alte Kamellen. ({26}) Ich habe von Ihnen auch nichts zu dem gehört, Frau Merkel, was die meisten Leute im normalen Leben in dieser Republik am allermeisten umtreibt. Das sind die Fragen, wie es unseren Kindern geht und wie es mit der Kindererziehung und der Bildung weitergeht. Dazu haben Sie nichts gesagt. Sie haben sich ein bisschen über Forschung und Innovationen ausgelassen, aber Sie haben die Fragen der Familien übergangen und außen vor gelassen. Das ist wahrscheinlich die neue Art der Familienpartei CDU. Wenn wir es weiterhin zulassen, dass 72 Prozent der Kinder aus besser gestellten Familien Abitur machen und dass diejenigen, die aus den Unterschichten stammen, nicht weiterkommen, weil sie keine Chancen haben, dann ist das ein Skandal. Das ist eine richtige Sauerei. Dazu sage ich: Man muss sich gemeinsam anstrengen; das kann man nicht einfach übergehen - auch nicht im Deutschen Bundestag - nach dem Motto: Wir sind ja nicht zuständig. ({27}) Lassen Sie uns kurz nach Bayern schauen - Claudia wird es mir verzeihen -: ({28}) Nur 30 Prozent der Jugendlichen dort machen Abitur. In Großbritannien, in den USA und im Rest der Republik ist das anders. Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bayern wirklich blöder sind als alle anderen. ({29}) Es kommt darauf an, dass wir dann, wenn die Kinder ganz klein sind, anfangen. Deswegen ist es so wichtig, sich um die Kinderbetreuung der unter Dreijährigen zu sorgen. Ich persönlich finde: Dabei soll man nicht nur mit Bitten, mit den Wünschen nach Zusammenarbeit und mit Parolen arbeiten. Ich glaube, was die unter Dreijährigen angeht, brauchen wir für bestimmte Gruppen ganz klar einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, damit sich in diesem Bereich wirklich etwas ändert, damit in Deutschland wirklich mehr Kinderbetreuungsplätze entstehen und damit das Geld, das in die Kassen der Kommunen fließt, wirklich für Kinderbetreuungsplätze eingesetzt wird. Das ist nötig, um die gesellschaftliche Realität zu verändern. Man sollte nicht hinterher reparieren, sondern unten, bei den ganz Kleinen, anfangen. ({30}) Es kommt auf die Migrantenkinder und auf die Kinder aus den Unterschichten an. Außerdem kommt es darauf an, dass in Deutschland Beruf und Familie endlich vernünftig vereinbart werden können. ({31}) Ich weiß, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer ein bisschen ideologisch gesehen wird, gerade in Ihren Reihen. Darüber ist man leider noch immer nicht hinweg. Man kann es auch einmal ganz ökonomisch betrachten: 1 Euro, der in Kinderbetreuung investiert wird, bringt am Ende 4 Euro, die man wieder herausbekommt. Die Frauenerwerbstätigkeitsquote hat nämlich auch mit dem Wachstum der Gesellschaft zu tun. Das kann man in anderen Ländern erkennen. Schauen Sie nach Frankreich! Wenn wir wirklich Wachstum wollen, dann müssen wir die Rahmenbedingungen an genau dieser Stelle ändern und dann dürfen wir nicht auf ein paar Chimären schauen. Sie haben die Grüne Gentechnik angesprochen - normalerweise reden Sie gern über die Atomenergie -: In diesen Bereichen wird es weder zu Wachstum noch zu neuen Arbeitsplätzen kommen. Dem entgegenzuwirken ist nicht die Aufgabe der Politik. Wir müssen vielmehr die Rahmenbedingungen ändern. Dafür sind wir da; das ist unsere Aufgabe. ({32}) Wollen wir wirklich, dass mehr Kinder geboren werden? Natürlich wollen wir das! Ich finde, wir sollten alles dafür tun. Wir sollten unsere Kinderbetreuung und unsere Schulen verbessern; wir sollten dafür sorgen, dass man in Deutschland wieder Lust bekommt, mit Kindern zu leben. Ich glaube, das können wir, und ich glaube, das würde der Kultur in unserem Land wirklich gut tun. ({33}) Ich komme auf das Thema Zuwanderung zu sprechen. Über ein Zuwanderungsgesetz wird jetzt intensiv verhandelt. Ich hoffe sehr, dass wir zu einem Ergebnis kommen. Ich sage Ihnen dazu auch eines: Wenn man die Integration von Zuwanderern nur mit Strafen und mit Sanktionen in Zusammenhang bringt, dann werden wir nicht weiterkommen. ({34}) Die Integration ist die zentrale gesellschaftliche Frage, die wir in vielen Stadtteilen und an vielen Orten dieser Republik beantworten müssen. Wenn wir es nicht schaffen, die gesellschaftliche Integration zu verbessern, dann fällt unsere Gesellschaft auseinander. Deswegen geht es hier darum, Angebote zu machen, die angenommen werden müssen. Aber es geht nicht darum, dort Strafen anzudrohen, wo keine Angebote sind. Darauf wird es in den anstehenden Verhandlungen ankommen. ({35}) Außerdem kommt es auf die Bewältigung der humanitären Fragen an. In einer offenen Gesellschaft muss man über die Frage der Humanität reden. Ich hoffe, dass wir auf diesem Gebiet zusammenkommen. Ich hoffe auch, dass wir auf dem Feld der Arbeitsmigration einen kleinen Schritt vorankommen. Viele sagen dazu jetzt: Der Tiger, der springen soll, ist nur noch sehr klein. Ich bin trotzdem überzeugt: Dieses Gesetz wird ein erster, ein wichtiger Schritt sein. Ich hoffe sehr, dass wir nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch der Wirtschaft den Gefallen tun, dass in diesem Bereich etwas vorangeht. Ich bin der Meinung, dass wir der Wirtschaft nicht jeden Gefallen tun sollten. Manchmal hat man das Gefühl, dass jeden Tag etwas Neues oder auch immer wieder das Alte gefordert wird und dass, nachdem die Forderungen erfüllt worden sind, ein paar Wirtschaftsfunktionäre wie die beiden Onkel in der „Muppet-Show“ auf dem Balkon sitzen und meckern. Dazu kommen ein paar Ehrengäste: Frau Merkel und besonders Herr Westerwelle. ({36}) In der gegenwärtigen Situation in Deutschland stehen 30 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da. Angesichts dessen frage ich mich: Worin besteht der Beitrag der Wirtschaft dazu, damit es in unserem Land weitergeht? Herr Westerwelle, der Bundeskanzler hat im letzten Jahr nicht gesagt, dass er gegen eine Ausbildungsplatzumlage sei. Er hat vielmehr gesagt: Wenn wir keine andere Möglichkeit haben, wenn die notwendigen Ausbildungsplätze nicht entstehen, dann müssen wir für eine gesetzliche Regelung sorgen. Genau das müssen wir jetzt möglicherweise tun, und zwar nicht weil wir das wollen oder weil wir darüber nachgedacht haben, wie wir der Wirtschaft besonders gut schaden können, sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt, dafür zu sorgen, dass betriebliche Ausbildungsplätze in ausreichendem Maße in Deutschland entstehen. Es geht darum, dass die Jugendlichen nicht auf die Straße geschickt werden oder auf dem Sofa sitzen, dass sie also nicht zu denjenigen gehören, die keine Chance haben. Deswegen muss für eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen gesorgt werden. ({37}) Wenn man sich die heutigen Äußerungen zu den sozialen Fragen anschaut, dann stellt man wieder fest, dass es mit der Einigkeit in der Union nicht weit her ist. Zur Rentenversicherung ist von Ihnen nicht viel gesagt worden. Sie trauern noch immer um den demographischen Faktor. Wenn dieser in die Rentenformel eingeführt worden wäre, dann läge der Beitragssatz in der Rentenversicherung heute deutlich über 21 Prozent. Tatsächlich liegt er bei 19,5 Prozent. Sie können Ihre Trauer ruhig weiter pflegen. Aber uns interessiert schon, welches Konzept Sie eigentlich haben, welche Vorstellungen Sie haben, wie es mit der Rentenversicherung weitergehen soll. Ich glaube, das interessiert auch die Bürgerinnen und Bürger. Wie es mit der Gesundheitsreform weitergehen soll, haben Sie deutlich gemacht, jedenfalls diejenigen von Ihnen - es sind nur ein paar -, die die auf dem letzten Parteitag gefassten Beschlüsse mittragen. Herr Seehofer gehört sicherlich nicht dazu. Die Alternative ist: Kopfpauschale oder Bürgerversicherung. Ich habe mir alle Ihre Konzepte - das Herzog-Konzept, das Merz-Konzept und den Masterplan von CDU und CSU - genau angeschaut und dabei ist mir eines aufgefallen: In allen Konzepten kommt zwar die Kopfpauschale vor, aber an keiner Stelle wird deutlich, wie der soziale Ausgleich funktionieren soll, vor allem wie er bezahlt werden soll. Frau Merkel, das sagt mir, dass Sie gar keinen sozialen Ausgleich wollen. Das ist es, was Sie tatsächlich vorhaben. Sie wollen eine andere Republik. Sie sollten so ehrlich sein und das auch sagen. ({38}) Wenn wir über die Zukunft der Gesellschaft reden, dann müssen wir zwei Dinge berücksichtigen. Zum einen wird die Gesellschaft älter. Man sollte nicht verschweigen, dass aufgrund dessen die meisten Arbeitsplätze in Zukunft im Gesundheits- und Pflegebereich entstehen werden. Dort werden qualifizierte Menschen aus unserem Land gebraucht, die auch bereit sind, die Arbeit zu tun. Zum anderen wird sich die Gesellschaft verjüngen. Darauf hoffen und setzen wir, weil auch dadurch Arbeitsplätze entstehen werden, zum Beispiel in Kindergärten, in Schulen und im Bereich der Dienstleistungen für junge Familien, in denen Frauen berufstätig sind. Frau Merkel, solche Arbeitsplätze haben nichts mit Symbolthemen zu tun. Ich möchte noch einmal auf die Grüne Gentechnik zu sprechen kommen. Das, was Sie vorschlagen - wahrscheinlich ist das ein Beitrag zur deutsch-amerikanischen Freundschaft -, ({39}) wird letztlich nur dazu führen, dass amerikanische Unternehmen ihr Saatgut in Deutschland besser verkaufen können. Wahrscheinlich haben Sie das gemeint, als Sie über die Grüne Gentechnik und ihre Chancen geredet haben. ({40}) Wir müssen uns in der Tat um die Arbeitsplätze kümmern, die hier entstehen können. Es gibt einen sehr großen Bereich, in dem ziemlich viele Arbeitsplätze entstanden sind. Das ist der Umweltbereich. Die Koalition hat sich entschieden, nicht nur für eine soziale, sondern auch für eine ökologische Erneuerung zu sorgen. Es geht nicht mehr um die Auseinandersetzung aus den 70erJahren, also nicht um Arbeitsplätze gegen Umwelt, sondern um Arbeitsplätze, die tatsächlich entstehen. Es geht um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir die Lohnnebenkosten durch die Ökosteuer gesenkt haben. Es geht um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir in Wärmedämmung investiert haben. Es geht um 100 000 Arbeitsplätze, die im Bereich der erneuerbaren Energien entstanden sind. ({41}) Sie können das alles ruhig als grünen Vorgarten bezeichnen. Aber schauen Sie sich einmal an, was BMW, die Deutsche Lufthansa und die Deutsche Bahn vereinbart haben, in welche Zukunfts- und Innovationstechnologien sie investieren wollen. Diese Unternehmen gehen davon aus, dass es in Zukunft zwei große Problembereiche gibt. Der eine ist der Transport- und Logistikbereich - hier muss man über neue Wege diskutieren - und der andere ist eine neue Brennstofftechnologie. Das hat nichts mit grünem Vorgarten zu tun. Hier kann man vielmehr Geld in Deutschland verdienen. In diese Projekte sollte man investieren. ({42}) Wenn man über Logistik der Zukunft redet, dann redet man auch über eine andere Lebensweise. Es wird in Zukunft immer öfter so sein, dass man die CD bei Amazon, die Bücher bei Libri, die Unterwäsche beim OttoVersand und die Gartengeräte bei Manufactum bestellt. ({43}) Das alles kommt dann irgendwie an. Hoffentlich muss dann nicht jemand den ganzen Tag zu Hause sein und auf das Paket warten. Es gibt also große Herausforderungen an die Logistik in Deutschland. Ich glaube, dass wir da vorn sein können, auch wenn es ein paar große Unternehmen in Deutschland nicht geschafft haben, das Mautsystem so schnell auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, wie sich das wahrscheinlich alle hier gewünscht hätten. Diese Chance bei der neuen Logistik sollten wir ergreifen. Da sollten wir aktiv werden. Ich will ein Thema ansprechen, das in diesen Tagen in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielt, nämlich den Emissionshandel. Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Zeit als Umweltministerin nicht besonders viele große Erfolge gehabt. Ein großer Erfolg war sicherlich die Unterzeichnung des Kioto-Protokolls. Es geht hierbei nicht um eine grüne Hobbyveranstaltung oder etwas, das wir uns gerade ausgedacht haben, sondern es geht um eine internationale Verabredung, es geht um eine europäische Verabredung. Wir wollen nicht vor allen anderen herlaufen, sondern es geht um unsere Verpflichtung zum Klimaschutz und gleichzeitig um die Rücksichtnahmen auf die Interessen der Industrie. Herr Töpfer ist dafür. Viele der Unternehmen haben bei den Verhandlungen darüber zu erkennen gegeben, dass sie sich vorstellen können, innerhalb dessen, was verabredet worden ist, tätig zu werden. Aber eines muss man auch sagen: Die Industrie selbst war mit ihrer Selbstverpflichtung natürlich sehr viel ehrgeiziger, als das heute der Fall zu sein scheint. Wir werden am Ende eine Verabredung haben - da bin ich sehr zuversichtlich -, bei der wir die wirtschaftlichen Interessen mit dem Klimaschutz vereinbaren. Es geht darum, dass die Emissionen reduziert werden. Wir haben diese Verantwortung international, wir haben sie europäisch und wir werden ihr in Deutschland - da können Sie ganz sicher sein - gerecht werden. ({44}) Herr Töpfer ist dafür. Frau Merkel war dafür - das muss man sicherlich sagen -, aber jetzt ist Merkel nur noch für Merkel. Sie werden sich ja wahrscheinlich noch ein bisschen über die Kanzlerfrage unterhalten, über Merz, Merkel, Stoiber, Koch, wie auch immer das ausgehen mag. ({45}) - Nach dem heutigen Tag - das kann man sicherlich so sagen - ist wieder alles offen. ({46}) Wir als Regierung werden es Ihnen in diesem Streit nicht leicht machen. Sie können ihn in aller Ruhe führen. Wir werden uns weiter für gesellschaftlichen Zusammenhalt und dafür einsetzen, dass das Land erneuert wird, aber gegen eine reine Ökonomisierung der Gesellschaft, wie Sie sie wollen. Sozialstaatsreformen kann man nicht nur mit dem Taschenrechner machen. Man muss sie auch mit dem Herzen machen. Wir wollen den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir wollen die soziale und ökologische Erneuerung. Sie können in dieser Zeit mit den besagten Herren frühstücken. Sie frühstücken, wir regieren. ({47}) Sie reden über die Kanzlerfrage, wir handeln. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen, auch über das Jahr 2006 hinaus. Wie heißt es ab jetzt? - Wenn Sie regieren würden, wäre das Mist. Dann muss man am Ende einer Rede jetzt auch immer noch sagen: Glück auf! Ich danke Ihnen. ({48})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Michael Glos für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern wieder an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und daran anknüpfen, wie Deutschland zu mehr Stärke kommt. Während Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler, war eine gewisse Unlust spürbar, nicht nur bei Ihnen selbst, sondern auch auf der linken Seite. ({0}) Über der Veranstaltung lag irgendwie so ein Hauch von Tausendundeiner Nacht. ({1}) Wenn man alles das, was Sie gesagt haben, für bare Münze nähme, dann wären die Verhältnisse in unserem Land in Ordnung. Leider ist das nicht so. Die Rede heute hat gezeigt - den Eindruck habe ich -, dass man Reformen eigentlich satt hat und vom Reformbedarf ein Stück Abstand nehmen will, um wieder in ein ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vor der letzten Bundestagswahl eine Zeit lang - wir haben es erlebt - die Politik der ruhigen Hand praktiziert. Ich muss sagen: Ihre Hand ist ruhig geblieben, nur Deutschland hat dabei das Zittern gelernt. Das ist die eigentliche Schwierigkeit. ({2}) Es geht nicht um die Befindlichkeit Einzelner, sondern es geht insgesamt darum, wie wir unser Land, das in einem sehr schwierigen Zustand ist, wieder nach vorne bringen. Ich glaube auch nicht, dass Sie, Herr Müntefering, jetzt alle Reformen stoppen und verwässern sollten, um Ihre Partei zufrieden zu stellen. Vielmehr muss meiner Meinung nach noch mehr getan werden, als im Zuge der Agenda 2010 getan worden ist. ({3}) Es wäre eine Selbsttäuschung, zu glauben, wenn sich Deutschland nicht mehr bewegte, würde sich auch um uns herum nichts mehr bewegen. Die anderen bewegen sich weiter. Wenn ich mir die SPD anschaue, habe ich den Eindruck - ich weiß, dass es sehr viel Mühe bereitet hat -, dass die gesamte Bewegung auf dem Laufband stattgefunden hat. Wenn man das schneller stellt, kommt man zwar furchtbar ins Schwitzen, was der eigenen Gesundheit dienen mag, aber trotzdem wird man feststellen, dass man im Ergebnis überhaupt keinen Schritt nach vorne gekommen ist. Aber in unserem Land brauchen wir ganz dringend ein Vorankommen. ({4}) - Ich weiß, Herr Tauss, dass Ihre Zwischenrufe aufgrund Ihrer Stimme immer durchdringen. ({5}) Aber der Inhalt ist meistens sehr schlecht. ({6}) Schließlich lassen Sie mich hierzu noch sagen: Es gibt Bewegung in diesem Land, nämlich die Bewegung von Arbeitsplätzen: Wir haben 300 000 Arbeitsplätze weniger. Nun weiß ich, dass nicht alle Arbeitsplätze abgewandert sind, sondern ein Teil auch entfallen ist. Frau Kollegin Merkel und ich hatten unlängst ein Gespräch mit Vertretern der großen Energieerzeuger. Diese sagten, bevor sie auslaufende Kraftwerksleistungen ersetzten, müsse man natürlich analysieren, was in diesem Land künftig noch produziert und wie viel Energie dafür gebraucht wird. Wenn Arbeitsplätze wegfallen, entfällt natürlich auch immer mehr Energiebedarf. So kann ich den Bedarf überall herunterbrechen. Ich glaube aber, damit kann ein Land auf Dauer nicht leben und zurechtkommen. Deshalb meine ich, dass die Bewegung, das Vertreiben von Arbeitsplätzen gestoppt werden muss. ({7}) Vor allen Dingen muss man in der Bundesregierung damit aufhören, sich selbst gegenseitig zu blockieren. Ich hoffe, Sie lösen den Konflikt zwischen Clement und Trittin in dem Sinne auf, dass Arbeitsplätze in Deutschland bleiben, ({8}) und nicht in dem Sinne, dass das Parteiprogramm einer Partei verwirklicht wird. Ihre Rede, Frau GöringEckardt, war mit Verlaub, gnädige Frau, keine Rede, die jemanden ermutigt hätte, in Deutschland zu investieren. Das war eigentlich eine Zusammenfassung der Vorurteile und Bedenken, die es gibt. Vielleicht war diese Rede auch nach innen gerichtet und ist mit Blick auf einen Parteitag der Grünen gehalten worden. ({9}) Wenn wir alle nur für unsere eigene Klientel und unsere eigenen Anhänger sprechen und dabei die deutschen Interessen aus dem Auge verlieren, kommen wir in unserem Land nicht vorwärts. ({10}) Das Jahr seit Verkünden der Agenda 2010 war auch von SPD- und koalitionsinternen Flügelkämpfen geprägt, die bis heute anhalten. Da werden Sie, Herr Müntefering, ein Stück Arbeit zu leisten haben. Ich sehe auch mit einer gewissen Sorge, dass sich innerhalb der SPD Abspaltungstendenzen breit machen. Da gibt es einen Menschen, der Ernst heißt und aus Schweinfurt kommt; er ist dort der IG-Metall-Häuptling. ({11}) Ich beobachte seine Umtriebe und würde den Mann an Ihrer Stelle ganz schön ernst nehmen, wie sein Name schon sagt. Die Genossen von den Gewerkschaften meinen es zum Teil ernst und sagen das nicht einfach so dahin. Die haben nicht kapiert, dass wir uns ändern müssen, um so zu bleiben, wie wir sind, und stellen natürlich innerhalb der SPD eine starke Kraft dar. Ich kann nur hoffen, dass Sie sich nicht beirren lassen. Die große Sozialdemokratische Partei hat ja eine Tradition, gemäß der sie für Arbeit in Deutschland und nicht nur für Machterhalt eintritt. Wenn es nicht anders geht, dann konzentrieren Sie sich auf Ihre Kernkompetenzen. Nach der verlorenen Wahl, die mit Blick auf Deutschland, wie ich hoffe, bald kommt, können Sie dann ja aus der Kernkompetenz heraus, falls wir nach vielen Jahrzehnten mal versagen sollten, wieder neu nach der Macht greifen. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme noch einmal auf den Bundeskanzler zurück. Herr Bundeskanzler, Sie haben am 14. März 2003 erklärt - ich zitiere -: Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa werden … So weit Ihre Aussage. Unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, ist unser Land zu einer Nation der Verzagtheit und Mutlosigkeit geworden. Das bereitet Sorge. Ich glaube, in Deutschland ist nur die Stimmung schlechter als die Lage. Natürlich ist eine schlechte Stimmung typisch deutsch. Aber wenn man eine Regierung hat, die nicht mit Wahrheit und Klarheit operiert, die den Menschen Sand in die Augen streut, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich Investoren und Konsumenten zurückhalten. ({13}) Der SPD-Parteitag ({14}) war gut. Das war einer Ihrer langen Sätze, Herr Kollege Müntefering. ({15}) - Sie kopieren ihn schon. ({16}) Auch der SPD-Parteitag hat natürlich nichts nach vorne gebracht. Er hat im Grunde neuen Richtungsstreit vorprogrammiert; denn es wird einen Richtungsstreit geben zwischen den Traditionalisten, die glauben, man könne die heile Welt, die heile Gewerkschaftswelt in einen abgeschotteten Bereich zurückbringen, und denen, die einsehen, dass wir uns ändern müssen, damit die deutsche Volkswirtschaft wieder stark wird. Ich nenne Ihnen einmal die Verunsicherungen, die auf uns lasten: Die Verunsicherung Nummer eins resultiert aus der bewussten Realitätsverweigerung vor der Bundestagswahl 2002, als es hieß: Alles in Ordnung. Man muss den Menschen vorher sagen, was auf sie zukommt und was sich tut. Die Verunsicherung Nummer zwei resultiert aus der vorsätzlichen Täuschung der Menschen über den wahren Reformbedarf unseres Landes. Es hieß nämlich damals: Weiter so, Deutschland! Die Verunsicherung Nummer drei geht zurück auf die Konzeptionslosigkeit, die Flickschusterei und das permanente Nachbessern und Verändern der Reformansätze, wie wir es im letzten Jahr erlebt haben. ({17}) Ich bin der Meinung, dass die Bilanz der Agenda 2010 ein Jahr nach ihrer Ankündigung leider nicht gut ist. Verbraucher und Investoren halten sich zurück, der erhoffte psychologische Schub, den wir brauchen, ist leider ausgeblieben. Ich befürchte, dass es auch in diesem Jahr zu keinem grundlegenden Wandel kommen wird, weil die Wirtschaftslage sehr viel schlechter ist, als es regierungsamtlich dargestellt wird. Wenn Sie sich mit Unternehmen bzw. deren Repräsentanten - ganz egal, ob großen Unternehmen, Handwerksbetrieben oder dem Mittelstand - unterhalten, stoßen Sie immer auf die gleiche schlechte Stimmung und die gleiche Zukunftsangst. Ich befürchte, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen unseres Landes gerade durch die EU-Osterweiterung rascher vorangehen wird, als es vorher der Fall gewesen ist. Die offizielle Arbeitslosenstatistik ist geschönt. Wir wissen, dass wir in Wirklichkeit 5 Millionen Arbeitslose haben. Die Zahl von 4,3 Millionen, die jetzt genannt wird, ist nur statistischen Tricks zu verdanken. Wir wissen, dass wir im letzten Jahr mit 40 000 Unternehmensinsolvenzen - nicht nur beim Mittelstand, sondern auch bei großen Firmen, bis hin zu Holzmann - einen neuen Pleiterekord erreicht haben. Es ist vorhin schon gesagt worden: Wer pleite ist, kann nicht mehr ausbilden. Die Zahl der Ausbildungsplätze steigt nicht, wenn eine neue Bürokratie aufgebaut wird. Im Gegenteil, viele Firmen werden glauben, sich von der Ausbildung freikaufen zu können. Dadurch ist die Wirkung für die jungen Leute noch verheerender als ohnedies. ({18}) Herr Bundeskanzler, Sie dürfen gerne gehen; ich habe Verständnis für Ihre Zeitprobleme. ({19}) - Dafür bedanke ich mich sehr. - Ich habe Ihnen allerdings eineinviertel Stunden in der Hoffnung zugehört, dass ich viel Neues dabei lerne, weil ich noch immer neugierig bin. Aber lassen Sie mich bitte zum Inhalt meiner Rede zurückkommen. Ich meine, dass die Prognose von 2 Prozent Wirtschaftswachstum, die Sie abgegeben haben, Herr Bundeskanzler, leider unrealistisch ist. Die Forschungsinstitute rücken schon davon ab. Der Höhenflug der Börse vom Jahresanfang ist schon gestoppt. Die Neuemissionen werden zurückgezogen; auch heute gab es wieder eine entsprechende Nachricht. All das ist nicht gut für die Stimmung im Land. Die Beschimpfung von Unternehmern führt überhaupt nicht weiter. Die Diskussion über die „vaterlandslosen Gesellen“ fand ich lächerlich. Wenn dem so wäre, Herr Bundeskanzler, dann wären Sie der Reiseleiter der vaterlandslosen Gesellen; ({20}) denn Sie hatten in China 100 Unternehmer dabei, um sie auf die dortigen Investitionsmöglichkeiten hinzuweisen. Sie würden es sich nie antun, vaterlandslose Gesellen zu führen. Sie haben es sich schon angetan, die SPD zu führen. ({21}) Ich weiß, dass man sehr rasch missverstanden werden kann. Ob Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze oder Haushaltskonsolidierung: Bei allen entscheidenden makroökonomischen Daten befindet sich Deutschland leider auf einem Abstiegsplatz in Europa. Ich glaube, wir sollten uns die Lage nicht künstlich schönreden. Das führt nämlich zu überhaupt nichts. Seit Wochen schon werden der Eurokurs und die Zinsen zu einem möglichen Aufschwunghindernis erklärt. Diese Faktoren spielen natürlich eine Rolle. Ich will die Wirkung des gestiegenen Eurokurses überhaupt nicht bagatellisieren. Aber die Ausrede, soundso viel Prozent unserer Exporte gingen in die USA, kann ich nicht gelten lassen; denn die Importe in unser Land sind sehr viel billiger geworden. Wissen Sie, wer inzwischen vaterlandslos geworden ist? - Das sind die deutschen Verbraucher. Sie glauben Sprüchen wie „Geiz ist geil“ und kaufen die Konsumgüter im Allgemeinen bei großen Handelsketten, deren Produkte zum großen Teil aus China kommen. Das zeigt auch, wie schwierig es ist, bei solchen Sachverhalten zwischen Wirkung, Wechselwirkung und Gegenwirkung zu unterscheiden. Betrachten wir einmal den Euro: Für einen Euro hat man anfänglich 1,19 Dollar bekommen. Jetzt liegt der Kurs zwischen 1,23 und 1,25 Dollar. Das kann es also auch nicht gewesen sein, was so viel verändert hat. Ich meine daher, dass unsere Probleme nicht allein durch externe Faktoren, sondern vor allen Dingen - darauf will ich eigentlich hinaus - durch die Verwerfungen im Innern bedingt sind. Auch die schonungslose Bestandsaufnahme, was in unserem Land tatsächlich los ist, und eine Analyse der gegenwärtigen Situation haben gefehlt. Vielleicht war es deswegen für Sie so schwierig, Herr Bundeskanzler, die Agenda 2010 in Ihren eigenen Reihen durchzusetzen. Ich meine, dass Deutschland gewaltig über seine Verhältnisse lebt. Die Produktivitätszuwächse unserer Volkswirtschaft reichen nicht mehr aus, um den unvermeidbaren Strukturwandel zu bewältigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Dass Deutschland in diesem Bereich Boden verloren hat, das werden selbst Sie, Herr Kollege Stiegler, anschließend in Ihrer Rede nicht bestreiten können. Ein Staat lebt über seine Verhältnisse, wenn er seine konsumptiven Ausgaben - darunter verstehe ich vor allen Dingen Sozialleistungen und Personalkosten - nicht mehr durch Steuereinnahmen, sondern durch Kreditaufnahme und Vermögensveräußerungen finanziert. Die Flucht in immer höhere Steuern und Abgaben ist dem Staat allerdings verwehrt, wie das unaufhaltsame Wachsen der Schattenwirtschaft, die gestiegene Neigung zur Steuerumgehung, die Kapitalflucht und vor allen Dingen die verstärkte Verlagerung von Betrieben ins Ausland letztendlich zeigen. Deswegen hat es auch der Finanzminister so schwer, dem ich gestern Abend versprochen habe - im Moment ist er leider nicht anwesend -, etwas Nettes über ihn zu sagen. ({22}) Er schwitzt ebenfalls im Hamsterrad und kommt aus den genannten Gründen keinen Meter vorwärts. Es besteht kein Zweifel: Wenn ein Staat über seine Verhältnisse lebt, dann muss die junge Generation die Zeche zahlen. Das spüren die Jungen im Land. Das Problem, dass vielleicht die eine oder andere Fachkraft nicht zuwandern kann, wird überbewertet. Ein großes Problem ist allerdings, dass leistungsfähige junge Leute diesem Land den Rücken kehren. Ihre Zahl beträgt 150 000 im Jahr; darunter befinden sich die Bestqualifizierten. Das gibt für die Zukunft Anlass zu Sorgen, Herr Bundeskanzler. Darüber müssen wir sehr ernsthaft diskutieren. ({23}) Noch ein Wort zu den Steuern und Abgaben. Ich habe unlängst - ich kann es belegen - eine Beschwerde einer jungen Frau bekommen, die - wie ihr Mann - berufstätig ist. Weil sie die Beste in ihrer Abteilung war, hat sie eine Prämie von 8 000 Euro erhalten. Davon wurden ihr lediglich 2 400 Euro überwiesen. Fachkräfte, die aufgrund ihrer Qualifikation die Möglichkeit haben, beispielsweise in die USA oder nach Großbritannien zu gehen, ziehen weg, weil sie kein Verständnis dafür haben, wie es in diesem Land zugeht. ({24}) Sie haben vorhin die Bundesbank gelobt, aus deren Bericht für den Monat März ich zitieren will: Im vergangenen Jahr erreichten die staatlichen Defizite und Schulden in Deutschland neue Höchststände … Der überwiegende Teil der Probleme ist struktureller Natur und kann deshalb nur durch einen entschlossenen Konsolidierungskurs und tief greifende Reformen überwunden werden. Deswegen sollten Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Reformen weitermachen. Noch ein paar harte Fakten: Im Jahr 2003 betrug das Defizit im öffentlichen Gesamthaushalt rund 85 Milliarden Euro. Das sind circa 170 Milliarden DM. Neue Hiobsbotschaften zuhauf: zuletzt, dass der Bundesbankgewinn, der mit 3,5 Milliarden Euro prognostiziert war, wegbricht. Das sind alles geringe Größen; keiner regt sich mehr darüber auf. Der gesamtstaatliche Schuldenstand beträgt 1,37 Billionen Euro und wächst ständig weiter. Wie sollen da die jungen Leute Hoffnung bekommen? Mit einer Defizitquote von 3,9 Prozent hat Deutschland den Referenzwert des europäischen Stabilitätspaktes beträchtlich verletzt. Wir werden diesen nicht so schnell wieder erreichen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland war diese Defizitquote nur in den Jahren 1975 und 1981 höher. In beiden Jahren stellte die SPD den Bundeskanzler, wie Sie vielleicht noch wissen. ({25}) Das nur zu der Geschichte - sie wird immer wieder erzählt -, dass all diese Schulden während der Kohl-Zeit durch die deutsche Wiedervereinigung entstanden seien. Die Fehler sind zum großen Teil von Sozialdemokraten hausgemacht. ({26}) - Vielen Dank, Herr Tauss, dass Sie „Ja“ sagen. ({27}) Auch die im Haushaltsrecht verankerte Obergrenze der Neuverschuldung nach Art. 115 Grundgesetz wurde deutlich überschritten. Die Schulden des Bundes erreichten Ende 2003 eine Höhe von 760 Milliarden Euro. Das heißt, mehr als jeder sechste Euro des Bundeshaushalts wird inzwischen für Zinsen ausgegeben. Damit kann die junge Generation nicht leben. ({28}) Deswegen ist Konsolidierungspolitik soziale Politik. Das sollten wir den Menschen klarmachen. ({29}) Alles andere ist falsch und belastet die Zukunft. In den öffentlichen Sozialversicherungssystemen sieht es ähnlich aus. Nach mehrfacher Senkung der Schwankungsreserve in der Rentenversicherung - Sie wissen das - ist das Minimum inzwischen unterschritten worden. Statt wie erhofft die Krankenversicherungsbeiträge zu senken, gibt es jetzt die Diskussion, welche Krankenkassen überschuldet sind. Ich hoffe, es gibt ein paar, die die Beiträge senken können. Herr Bundeskanzler, eines wollte ich hier klarstellen: Ich habe mich vor einem Jahr anlässlich der Diskussion über die Gesundheitsreform dafür bedankt, dass Sie sich quasi bei Horst Seehofer entschuldigt haben - ich fand das sehr wichtig -, der im vorletzten Bundestagswahlkampf eine schwere Zeit durchgemacht hat, weil er im Rahmen der Krankenversicherung das Instrument der Selbstbeteiligung eingeführt hat. Wir spüren jetzt: Dies ist wohl die einzige Möglichkeit, die die Menschen zu sparsamerem Handeln veranlasst. Nur darf man dann nicht sagen - das waren nicht Sie, sondern Herr Müntefering, glaube ich, und andere Redner der Koalition -: ({30}) An all dem, was die Leute ärgert, ist Seehofer schuld, und für das, was gut läuft, ist ursächlich Frau Schmidt verantwortlich. Richtig ist: Gemeinsam ist man zu einer Lösung gekommen. Wir haben damit ebenso wie später im Vermittlungsausschuss gezeigt, dass wir wollen, dass konsolidiert wird und dieses Land in Ordnung kommt, und dass wir keine Blockierer sind. Wir bohren natürlich keine Löcher in die Bordwand eines Schiffes, auf dem wir selber sitzen. Nur, wenn manches in der administrativen Umsetzung falsch läuft, dann können wir uns dafür nicht in Anspruch nehmen lassen. Aber grundsätzlich stehen wir zu Ihrem Konsolidierungskurs. Bei all dem, was für die Konsolidierung und die Zukunft wichtig ist, können Sie sich auf uns stärker verlassen als auf die Sozialdemokraten. Wir wissen, was wir unserem Vaterland schuldig sind. ({31}) Anlass zur Besorgnis bietet auch die geringe Investitionsquote der öffentlichen Haushalte. Wohin das führt, merken die Leute, die immer häufiger über Schlaglöcher und auf Autobahnen fahren müssen, auf denen es mehr Staus als rasch fließenden Verkehr gibt. Der Verfall der Infrastruktur, der mit dem Sparen am falschen Platz einhergeht, wird uns, aber vor allen Dingen die künftige Generation belasten. Ich meine, die Sozialleistungsquote ist viel zu hoch. Auf diesem Gebiet muss konsolidiert werden. Wir können uns diese hohe Quote auf Dauer nicht leisten. Dass es schwierig ist, dies bei den Betroffenen umzusetzen, wissen wir selber und alle diejenigen, die konsolidieren müssen. Wir müssen vor allen Dingen das riesige Defizit auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Zukunftsinvestitionen beseitigen, das besteht, weil bei uns zu viel in den öffentlichen Konsum fließt und zu wenig für produktive, zum Wachstum unseres Kapitalstocks beitragende Ausgaben zur Verfügung steht. Ich sage es Ihnen noch einmal, Herr Bundeskanzler: Wer so wirtschaftet, versündigt sich an der jungen Generation. ({32}) Das dürfen wir uns nicht vorwerfen lassen. Wir sind praktisch an den Grenzen des Wohlfahrtsstaates angelangt. Dieser Wohlfahrtsstaat produziert aufgrund der zuvor beschriebenen Umstände nicht mehr Wohlstand, sondern er produziert immer mehr Ungerechtigkeit und macht den künftigen Generationen das Leben schwer. Deswegen tragen wir die Begrenzung der Sozialausgaben mit. Deswegen verspreche ich Ihnen noch einmal unsere Unterstützung bei allen vernünftigen Reformen. Ob Rot-Grün den Mut dazu hat, all die Vorhaben durchzuführen, die mannigfaltig auf dem Tisch liegen und zu denen Ihnen viele Experten raten, wird sich zeigen. Wenn Rot-Grün nicht den Mut hat, das zu tun, was getan werden muss, hoffe ich, dass man dann zumindest den Mut hat, den Weg frei zu machen, damit andere versuchen können, es im Interesse unseres Landes besser zu machen. Das wäre auch für uns - wenn Neuwahlen wären und wir gewonnen hätten - kein leichter Weg. ({33}) Wir wissen, dass er ungeheuer schwer und mühevoll zu gehen ist und dass es schlimm ist, wenn man den Menschen gewohnte Leistungen entziehen muss. Das wissen auch wir in Bayern, wo das derzeit eine Rolle spielt, weil wir einen ausgeglichenen Haushalt haben wollen. Die Menschen dabei mitzunehmen ist nicht leicht. Ich finde aber, dass das getan werden muss. Herr Müntefering, Sie sind quasi eine Art Reservekanzler. Machen Sie dem Kanzler das Leben nicht allzu schwer! Wenn Sie unterstützen, dann unterstützen Sie eine vernünftige, zukunftsgerichtete Politik. ({34}) Tun Sie vor allen Dingen das, was der Bundeskanzler zwar versprochen, aber leider nicht getan hat! Er hat gesagt: Erst das Land und dann die Partei. Demnach hätte er auf die Kanzlerschaft verzichten und den Parteivorsitz behalten müssen. ({35}) Danke schön. ({36})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Michael Glos ist heute offenbar in der Verfassung, ({0}) wie er uns die Wirtschaft beschreibt: lustlos und depressiv. ({1}) Ich bitte Ulla Schmidt um ein Rezept für Johanniskraut - das ist jetzt immer noch verordbar -, um seine Stimmung aufzuhellen. ({2}) Auf Michael Glos trifft zu - Wie hat Luther gesagt? -: „Aus einem traurigen A… kommt kein fröhlicher F…“ ({3}) Er hat Depressionen, ({4}) weil in Passau mehr Polizisten vor der Halle demonstriert haben, als drinnen Gäste waren. Das schlägt auf seine Stimmung. ({5}) Michael Glos leidet an noch einer Krankheit, an der „Dementia politica“. ({6}) Das ist nahe der retrograden Amnesie. Er stellt sich hierher, macht uns Vorschläge, erinnert sich aber scheinbar nicht an die Zeit, als seine Partei zusammen mit Theo Waigel und anderen dieses Land regiert hat. Wie kann man hier anderen Ratschläge erteilen, wenn man selbst in seiner Regierungszeit die Dinge, die man jetzt von anderen fordert, nicht erreicht hat? ({7}) Nur ein paar makroökonomische Daten: Wenn Sie damals die Preisstabilität erreicht hätten, die wir heute haben, hätten Sie Feste gefeiert. Dann wäre der Tanz ums Goldene Kalb ein kleiner Event gewesen. ({8}) Heute wird darüber nicht geredet. ({9}) Sie jammern über Schulden. Ich empfehle dazu den März-Bericht der Bundesbank. Darin ist eine wunderbare Kurve über die Verschuldungsentwicklung abgebildet. Als Sie die Regierung übernahmen, standen die Schulden bei 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Als Sie sie an uns übergaben, waren es über 60 Prozent. Das ist Verschuldungspolitik. Die haben Sie gemacht. Sie haben kein Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. ({10}) Das Gleiche gilt für die Beschäftigung. Wer sich die Statistik anschaut, sieht: Die Rekordhalter in der Arbeitslosigkeit waren Sie im Februar 1997, obwohl Sie Hunderttausende ABM gemacht haben, um die Statistik zu verschönern. Sie haben weiß Gott kein Recht, mit dem Finger auf die heutige Regierung zu zeigen. Bei uns sinkt die Arbeitslosigkeit. Sie sollten das nicht kritisieren. Sie sollten sich mit uns darüber freuen, dass das gelingt. ({11}) Das Gleiche gilt für die Beiträge. Die höchste Beitragsbelastung hatten wir in Ihrer Zeit. Der Rentenbeitrag lag über 20 Prozent. Alle Trends zeigten nach oben. Wir haben die Rückentwicklung bei den Beiträgen eingeleitet. Über die Steuern hat Franz Müntefering schon das Notwendige gesagt. Bei Ihnen gab es die höchste Steuerund Abgabenlast. Das haben wir für Arbeitnehmer, aber auch für Unternehmer - auch für das Handwerk, Ernst Hinsken - deutlich geändert. Ihr würdet euch rühmen und preisen lassen, wenn ihr das nur in Ansätzen erreicht hättet. ({12}) Bei Forschung und Entwicklung ging es zu Ihrer Zeit nach unten, zu unserer Zeit nach oben. Was die Lebensverhältnisse anbetrifft: Während Ihrer letzten Legislaturperiode sind die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer Jahr für Jahr gesunken. Zu unserer Zeit sind sie Jahr für Jahr gestiegen - nicht wegen großartiger Tarifverträge, sondern wegen der Steuer- und Beitragspolitik. Sie sind schlechte Ratgeber. Als Sie handeln konnten, haben Sie nichts zustande gebracht. Deshalb brauchen wir Ihre guten Ratschläge heute nicht. ({13}) Sie sollten nicht die Sonthofen-Strategie weiterführen, sondern fragen: Wie kommen wir weiter? Ich bin dem Bundeskanzler dafür dankbar, dass er darauf hingewiesen hat, dass es nicht nur Arbeitnehmertugenden, sondern auch Arbeitgebertugenden gibt. Es gibt auch die Verantwortung der Wirtschaft. Man darf daran erinnern, wer die Probleme der letzten Jahre mitzuverantworten hat. Wer hat denn die Börsenblase verursacht, die mit 700 Milliarden Euro geplatzt ist? Das waren doch die famosen Investmentbanker, die den Hals nicht voll kriegen konnten und die damit eine ganze Volkswirtschaft in Mitleidenschaft gezogen haben. ({14}) Dann wollten sie sich mit hohen Abfindungen verdrücken. Sie waren doch immer stolz, den ShareholderValue gefördert zu haben. Schau dir an, was aus der stolzen Deutschen Bank, was aus der Hypo-Vereinsbank geworden ist - dank dem Management dieser großartigen Leute. Sie haben allen Anlass, Buße zu tun und zu schauen, dass die Veranstaltung wieder in Ordnung kommt. ({15}) Meine Damen und Herren, wir wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die etwas unternehmen wollen, wieder auf die Beine kommen. Sie beklagen die Konkurse. Creditreform sagt uns: 75 Prozent der Konkurse haben Fehler im Management zur Ursache - mangelndes Controlling, keine anständige Buchhaltung, keine Unternehmensplanung, keine strategische Ausrichtung. Wir verlangen Qualitätsverbesserungen nicht nur bei den Arbeitnehmern. Auch die Unternehmer und Mittelständler haben an sich zu arbeiten. Da gab es viele Schönwetterkapitäne, die ihre Schiffe in stürmischem Wasser auf Grund gesetzt haben. Das alles kann man nicht, wie Sie es versuchen, der Politik anlasten. Reden Sie mit Ihren Freunden in der Wirtschaft! Suchen Sie die Auseinandersetzung! Lassen Sie uns den Mittelstand auffordern, jetzt nicht etwa vor dem Rating davonzulaufen, sondern die Ratinganforderungen dazu zu nutzen, die Unternehmen zu optimieren! Da ist unglaublich viel nicht in Ordnung. Das müssen wir miteinander wieder auf Vordermann bringen. Schauen Sie sich die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen an. Viele haben zwar in den letzten Jahren keinen Gewinn gemacht. Aber in früheren Jahren ist auch zu viel entnommen worden - dank der schlechten Beratung durch die Steuerberater: Schütt aus, hol zurück! Eine Eigenkapitalausstattung des Mittelstands von im Durchschnitt 5,8 Prozent kann nicht in Ordnung sein. Diese Probleme verhindern jetzt den Aufschwung. Diese Probleme lösen wir. Daran haben Sie überhaupt nicht gerührt. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Stiegler, lassen Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Hinsken zu? ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Frage von Herrn Hinsken immer.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Stiegler, Sie haben eben darauf verwiesen, dass zu 75 Prozent Managerfehler die Ursache von Insolvenzen sind.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, laut einer Feststellung von Creditreform.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich frage Sie: Warum hat die Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik Deutschland vor zwei Jahren bei unter 30 000 pro Jahr gelegen und warum hat sie im letzten Jahr und in diesem Jahr bei über 40 000 gelegen? Haben hier nur Managerfehler eine Rolle gespielt oder sind nicht in erster Linie die katastrophale wirtschaftliche Lage und die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung schuld, dass diese Unternehmen in den Konkurs getrieben wurden? ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind Ihre berühmten Ablenkungsmanöver, nach dem Motto: Ist es gut gegangen, waren es die Manager; sie dürfen sich dann bedienen. Ist es nicht gut gegangen, ist der Staat schuld. ({0}) Aber erst in schwierigen Zeiten zeigt sich, ob jemand ein Unternehmer oder nur ein Schönwetterkapitän ist bzw. ob jemand etwas kann oder eine Pflaume ist. ({1}) Hier ist eine Prüfung erforderlich. Sie wissen genauso gut wie ich, wie viele Betriebe keine ordentliche Buchhaltung und Unternehmensplanung vorweisen können und in den letzten Jahren Fehler beim Investitionsverhalten gemacht haben. Ich wehre mich dagegen, dass Sie diese Situation schamlos ausnutzen wollen, um der Politik das Versagen anderer in die Schuhe zu schieben, statt mitzuarbeiten und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich sowohl Existenzgründer als auch bereits bestehende mittelständische Unternehmen am Markt behaupten können, wenn sie ihre Fehler aufgearbeitet haben und daher in Zukunft mehr leisten können, als sie bisher bewiesen haben. ({2}) Meine Damen und Herren, zusammen mit der KfW unternehmen wir große Anstrengungen, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Fehler der Vergangenheit auszubügeln. Ich erinnere an die KfWProgramme „Unternehmerkredit“, „Unternehmerkapital“, die Nachrangdarlehen, all die mezzaninen Finanzierungsinstrumente und die True-Sale-Initiative, durch die die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der Wirtschaft Mittel zufließen, wodurch diejenigen, die etwas unternehmen wollen, vorankommen. Auch die Banken sollten wir gemeinsam ermuntern, die neuen Angebote der KfW anzunehmen und den Mittelständlern bei der Finanzierung von Investitionen und neuen Projekten zu helfen. Das wäre eine Investition in den Aufschwung. Wenn Sie aber Trübsal blasen und schwarz malen, tun Sie nichts für den Aufschwung. Wenn wir also gemeinsam unsere Banken und Sparkassen - die Genossenschaftsbanken und Sparkassen sind in diesem Bereich noch am besten - und auch die Großbanken dazu bringen, den Mittelstand wieder zu entdecken, dann kommen wir vorwärts; denn derzeit gibt es mehr Ideen, als in Produkte und Arbeitsplätze umgesetzt werden. Das ist die andere Seite der Medaille. Auf der einen Seite geht es also um die Kalkulierbarkeit der sozialen Systeme und der Steuern, auf der anderen Seite aber auch um das Freimachen von Mitteln für neue Investitionen. Meine Damen und Herren, das sollten wir miteinander angehen. Hier darf man nicht, wie Herr Braun, sagen: Leute, wandert aus! Man muss vielmehr sagen: Bleibt da! Teilweise seid ihr durch eure Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reich geworden. Jetzt habt ihr für sie auch eine Verpflichtung. Werdet ihr gefälligst gerecht! ({3}) Hier zu Ende zu produzieren und sich dann zu verdrücken, das ist die Mentalität, die auf den Kapitalmärkten herrscht. Dagegen spüren viele Mittelständler eine regionale Verantwortung. Wir sollten ihnen durch unsere Programme - ob im Bund, in den Ländern oder in den Gemeinden - helfen, voranzukommen. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns - hier handelt es sich um einen richtigen Paradigmenwechsel - ist folgender: Sie wollen, fehlgeleitet von Professor Sinn, aus Deutschland eine Niedriglohngesellschaft machen. ({4}) Wir wollen, angeleitet von Bundeskanzler Gerhard Schröder und von Franz Müntefering, zu Innovationen beitragen und Deutschland zu einem Hochlohnland entwickeln, das sich weltweit mit seinen Produkten behaupten kann. ({5}) Wir können im Wettbewerb mit China oder anderen nicht mit einfachen Produkten bestehen, sondern wir müssen all das herstellen, was andere nicht, noch nicht, nicht so gut, nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit oder der Termintreue liefern können; das ist der richtige Weg. - Aber Ihr Weg ist der folgende: Manager werden nach amerikanischem Vorbild bezahlt, die Arbeitnehmer hingegen bekommen tschechische oder chinesische Löhne. Das kann nicht angehen und da werden Sie bei uns auf Granit beißen. ({6}) Was die einfacheren Arbeitsplätze betrifft, haben wir, Frau Merkel, im Vermittlungsausschuss gemeinsam ein Programm beschlossen. Ich hatte heute manchmal den Eindruck, Sie wüssten gar nicht mehr, was wir in der Nacht alles miteinander ({7}) beschlossen haben. Sonst könnten Sie hier nicht so reden. Was wir beschlossen haben, entspricht zwar nicht der Koch-Linie - Sie wollten ja ganz herunter mit den Löhnen -, aber wir haben damit den einfacheren Arbeitsplätzen im unteren Tarifsegment eine Chance in Deutschland eröffnet; das werden auch Sie nicht bestreiten können. ({8}) Eine Kombination von Markteinkommen und Transfereinkommen wird es auch in Zukunft geben. Was wir aber nicht mitmachen werden, ist Ihre „neue soziale Marktwirtschaft“. Was Sie vorhaben, ist offensichtlich eine reaktionäre, alte Wirtschaftsordnung: eine Wirtschaft ohne Tarifverträge, auf die man sich stützen kann, eine Wirtschaft ohne Betriebsverfassung, eine Wirtschaft mit flächendeckenden Lohnkürzungen. Das kann nicht unser Ziel sein! Damit werden wir das Land nicht voranbringen, sondern damit würden wir uns eher rückwärts bewegen. Ich denke, wir sollten uns miteinander der Chancen besinnen. Noch haben wir einen hohen Exportüberschuss und die Wirtschaft ist auf allen Märkten vertreten. Wir arbeiten mit anderen Ländern zusammen. Noch haben wir in vielen Bereichen Technologievorsprünge. Aber nur wenn wir jetzt diese Konzentration auf Forschung, auf Entwicklung, auf Technologietransfer miteinander schaffen, werden wir auch in Zukunft dieser kleiner werdenden jüngeren Generation die notwendigen Mittel geben können, damit sie die älter werdende Gesellschaft ertragen und tragen kann, ohne dass sie daran verzweifeln muss oder wir Älteren daran verzweifeln müssen. ({9}) Das ist die entscheidende Frage, vor der wir hier stehen und die wir miteinander lösen müssen. Sie glauben immer, wenn Sie Trübsal blasen, würden Ihnen die Wählerinnen und Wähler zufliegen. - Das mag vorübergehend gelingen. Der Stoiber hat sich preisen lassen als der, der die Insel der Seligen regiert, auf der es keine Probleme gibt. Die Bayern wissen inzwischen, dass es anders ist: Er hat nach der Landtagswahl etwas ganz anderes gemacht, als er vorher den Leuten versprochen hat. ({10}) Mit diesem Manöver - tarnen und täuschen - werden Sie nicht länger durchkommen. Sie müssen sich der Wahrheit stellen. ({11}) Wir müssen vor allem die wirtschaftlichen Chancen nutzen, die sich uns bieten. Dieses Land hat ideale Chancen. Mein Gott, welches Land der Erde sollte nicht in Verzweiflung geraten, wenn schon Deutschland keine Chance hätte, mit den Problemen fertig zu werden? Hören Sie deshalb endlich auf, schwarz in schwarz zu malen! - Sie sind schon schwarz genug. ({12}) Nehmen Sie zur Kenntnis: Schwarz ist die Farbe des Winters, rot-grün ist die Farbe des Frühlings und des Sommers. ({13}) Lassen Sie uns die Winterstarre und die Depression überwinden und neue Aktivität entfalten. Raus aus dem Gebüsch! An die Arbeit! ({14}) Michael Glos, nimm dein Johanniskraut, dann geht es dir auch wieder besser! Glückauf! ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle sind von Optimismus beseelt und ich als Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion ohnehin. In den Wirren der Zeit ist man als Liberaler zu Optimismus geradezu verpflichtet. Das muss mir deswegen niemand einreden, Herr Kollege Stiegler. Optimismus trägt nur, wenn man die Strukturschwächen klar diagnostiziert, die Kennziffern benennt und sich über die wahre Lage nicht täuscht. ({0}) Der Bundeskanzler hat vorgetragen - ich fasse das angesichts der Kürze der Zeit sehr zusammen -, wir seien Exportweltmeister. Das ist richtig und falsch zugleich. Wir sind nicht mehr Exportweltmeister in dem Sinne, dass wir wie früher Produkte exportieren, die in Deutschland hergestellt werden. Wir sind Exportweltmeister, weil uns in der Wertschöpfungskette noch die Chance geboten wird, in Deutschland Produkte herzustellen, wir aber gleichzeitig Produkte in anderen Ländern herstellen lassen - ich nenne das Stichwort Globalisierung -, denen wir deutsche Labels aufkleben. Herr Bundeskanzler, ich nenne Ihnen ein Beispiel, das Herr Professor Sinn in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ aufzeigt. Es handelt sich um ein bestimmtes Auto, das mir sehr gefällt. Das müsste eigentlich in der Firma hergestellt werden, zu der Sie schon immer eine große politische Anhänglichkeit bewiesen haben. Tatsächlich wird es in der Slowakei von slowakischen Ingenieuren und Arbeitnehmern hergestellt, erscheint aber in der Bilanz des deutschen Exportweltmeisters. Das ist zwar für die Slowakei gut, es kann aber nicht unsere ökonomische Zielvorstellung davon sein, dass Plätze für Deutschland in der Wertschöpfungskette im Zuge der Globalisierung verloren werden. Deshalb ist der Titel Exportweltmeister eine Täuschung. ({1}) Auf dem letzten Kongress der IG Metall traf ich Betriebsratsvorsitzende, die mir begeistert erklärt haben: Wir sind Exportweltmeister und deshalb können wir bei der nächsten Tarifverhandlungsrunde zulegen. Uns geht es doch eigentlich gut. - Wenn Sie mit dem Begriff Exportweltmeister die Öffentlichkeit und sich nicht täuschen wollen, dann müssen Sie dem entgegentreten und bei diesem Begriff differenzieren. Das gehört zu dieser Debatte. Ich komme nun zu einigen Daten. Da ich nicht die Zeit habe, mich über Daten zu streiten, nehme ich die Daten, die Sie zum Europäischen Gipfel vorgelegt bekommen haben. Sie haben in Lissabon eine Strategie beschlossen, Europa bis 2010 zum dynamischsten, innovativsten und am meisten auf Wissen basierten Raum der Welt zu machen. Damals haben Sie verkündet: Das kriegen wir hin; mit einem Wachstum von 3 Prozent nähern wir uns der Vollbeschäftigung. Jetzt ist in den Kommuniqués zu lesen, das Wachstum habe im letzten Jahr 0,8 Prozent betragen, bestenfalls werde es bei 1,25 Prozent liegen. Das Wachstum in Deutschland wird wahrscheinlich noch darunter liegen. Das Defizitkriterium ist nicht eingehalten worden. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt der Europäischen Union beträgt 72 Prozent des Pro-Kopf-Inlandsprodukts der Vereinigten Staaten. Wir wissen, dass Sie die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten nicht sonderlich mögen, aber dennoch sollten Sie einmal darüber nachdenken, warum wir nur 72 Prozent erreichen. ({2}) In Europa haben wir einen Produktivitätszuwachs von 0,5 bis 1 Prozent, die Vereinigten Staaten haben dagegen einen von 2 Prozent. Daraus ergibt sich doch - das ist bis jetzt unausgesprochen geblieben -, dass wir nicht dynamisch und nicht wettbewerbsfähig genug sind. Politische Führung geht nicht ohne ökonomische Kompetenz. ({3}) Ökonomische Kompetenz will sich bei Ihrer Partei nicht einstellen. Das hat der Parteitag am Wochenende wieder gezeigt. ({4}) Das, was wir mit Europa erreichen wollen - das ist doch auch in Ihrem Interesse -, dass wir nämlich eine GlobalPlayer-Rolle einnehmen, wodurch wir Armut bekämpfen und Stabilität und soziale Sicherheit schaffen können, wird von Ihnen in Ihrer Politik nicht berücksichtigt. Sie tragen dazu nicht bei. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Es ist uns nicht wirklich gelungen, die Steuern zu senken und die sozialen Sicherungssysteme wirklich zu reformieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben die sozialen Sicherungssysteme doch nicht richtig reformiert. Die Agenda 2010 ist eine Schmalspurreform. Wir haben noch die Großbaustelle bei den Langzeitarbeitslosen. Wir haben noch keinen Wettbewerb im Gesundheitswesen. Der ganze Streit der Linken in Ihrer Partei hat sich darauf beschränkt, ob das Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung bei 46 oder 43 Prozent liegen soll. Wenn das das letzte Großprojekt der deutschen Linken war, dann zeigt das, dass die intellektuelle Armut gar nicht mehr zu überbieten ist. ({5}) Die Rente ist noch nicht sozial sicher, selbst wenn wir all die Reformen hätten. Sie haben sie aber noch nicht durchgeführt. Deshalb sind Sie in der heutigen Regierungserklärung ganz deutlich hinter den Zielen der Agenda 2010, die Sie im letzten März verkündet haben, zurückgeblieben. ({6}) Das kann man ganz klar feststellen. Sie haben auch nichts gesagt, was darüber hinausgeht, außer in einem Punkt, den ich jetzt aufgreifen möchte, weil er in richtiger Weise angesprochen worden ist, weil aber die Konsequenzen offen geblieben sind. Das größte Innovationspotenzial in einer Gesellschaft liegt bei den Kindern. Selbst wenn wir niedrigere Steuern hätten und alles so geregelt wäre, wie ich mir das vorstelle, gäbe es überhaupt noch keinen Optimismus im Land, wenn es nicht Menschen gäbe, die diese Signale aufnehmen. Gehen wir von dem Innovations- und Fragedruck der Kinder, also der nachwachsenden Generation, aus. Das haben Sie richtig beschrieben. Dem werden Sie mit Ihrer Erklärung und der Konsequenz daraus aber nicht gerecht. Der wettbewerblichen Neugier der Kinder, die sich im Bildungssystem bis hin zu den Universitäten mit immer größerem Frage- und Forderungsdruck stufenweise entfaltet, bieten Sie in Ihrer sozialdemokratischen und rot-grünen Vorstellungswelt überhaupt kein adäquates Bildungssystem an: Es ist nicht wettbewerblich organisiert, die Abschlüsse qualifizieren nicht ausreichend ({7}) und es führt nicht in überschaubarer Zeit zu einem Studienabschluss. Das Angebot, Ganztagsschulen einzurichten, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, ist doch nicht die Antwort auf die Kernfrage des Bildungswesens. ({8}) Die Kernfrage des Bildungswesens lautet, ob Rot-Grün diesem Bildungswesen wettbewerbliche Strukturen geben will, die der Entwicklung der Talente bei den Kindern entsprechen. Herr Bundeskanzler, bei aller verfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder kann man Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Kernfrage hier im Hause überprüfen. Wenn Sie glaubwürdig sein wollen, dann müssen Sie den Hochschulen Autonomie geben, das Hochschulrahmengesetz des Bundes ändern und den Hochschulen die Auswahl ihrer Studentinnen und Studenten selbst überlassen. ({9}) Diese politische Kernentscheidung müsste in diesem Bundestag getroffen werden. Damit würde ein Signal für die Wettbewerbsfähigkeit des Bildungswesens gegeben. ({10}) Hier redet niemand von der Opposition, der nicht wünschte, dass Deutschland wettbewerbsfähiger würde. Ich wünsche mir auch, dass wir weniger Arbeitslose haben. Ich habe mich aber nie zu der Bemerkung des Bundeskanzlers verstiegen, mich daran messen zu lassen, wie weit ich die Arbeitslosenzahl senken werde. Herr Bundeskanzler, Sie müssen es nicht mehr erwähnen; jeder weiß es ja. Ich käme mir an Ihrer Stelle aber doch komisch vor: Sie haben hier eine solche Regierungserklärung abgegeben, ohne sich an die allererste Regierungserklärung, die Sie abgegeben haben, zu erinnern. Da haben Sie gesagt, Sie wollten an der Zahl der Arbeitslosen in Deutschland gemessen werden, und meinten im übertragenen Sinne, Sie hätten es nicht verdient, in diesem Amt zu bleiben, wenn Ihnen die versprochene Senkung nicht gelänge. Herr Bundeskanzler, wenn Sie sich daran gehalten hätten, dann hätten Sie heute Morgen hier gar nichts mehr erklären dürfen. ({11}) Das alles hat auch mit der Sozialfrage zu tun. Ihre Partei diskutierte die Sozialfrage auf dem Parteitag nach dem Motto: Der größte Sozialpolitiker ist derjenige, der anderen so tief in die Tasche greift, dass er etwas zur Umverteilung herausholen kann. ({12}) Das ist in Ihren Reihen unausrottbar. Ich glaube, dass sich die Kompetenz der Politik und die soziale Kompetenz einer Gesellschaft an der Zahl der Arbeitsplätze zeigt und nicht an der Höhe der sozialen Sicherungsmaßnahmen, wie Sie in der SPD sie permanent diskutieren. ({13}) Das ist hier kein Wettbewerb, bei dem die einen Positives für Deutschland wollen und die Opposition in Gestalt der FDP-Bundestagsfraktion, die ich zu vertreten habe, alles schlechtreden will. Sie haben jetzt bereits seit einigen Jahren die Regierungsverantwortung und müssen sich fragen lassen, ob Sie im Kern eine neue Beschäftigungsdynamik, eine größere Wettbewerbsfähigkeit, ein stärker wettbewerbliches Bildungswesen, ein besseres Gesundheitswesen und die Lissabon-Strategie zustande gebracht haben. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme sofort zum Schluss. - Man kann nicht mit diesem geringen Anspruch sagen, es sei nicht mehr viel zu besorgen; es sei nur noch die Eigenheimzulage zu streichen, damit Investitionen im Bildungswesen finanziert werden könnten. Nein, die Agenda 2010 war schmal genug. Dieses Land kommt nur dann wieder auf die Beine, wenn die politische Führung - das meine ich bezogen auf alle Gruppierungen und Parteien - die notwendige Courage hat, die Öffentlichkeit unnachgiebig und wiederholt mit großen Veränderungen vertraut zu machen ({0}) und ihr klare Ziele und Perspektiven zu benennen. Dem sind Sie heute nicht gerecht geworden. Das war eine reine Modernisierungsrhetorik. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine drei Minuten Redezeit möchte ich für einige Bemerkungen nutzen. Erste Bemerkung. Frau Merkel hat dem Kanzler vorgeworfen, er würde lügen und betrügen und sich nicht um Menschen wie beispielsweise die Krankenschwester und den Polizisten kümmern. Sehr geehrte Frau Merkel, ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen, was ich für Betrug halte. Ich halte es zum Beispiel für Betrug, wenn die Mitglieder Ihrer Partei mit Herrn Merz an der Spitze durchs Land reisen und der deutschen Bevölkerung eine Vereinfachung des Steuersystems versprechen, aber nicht gleichzeitig die Rechnung präsentieren. Das Versprechen mit der Steuererklärung auf einem Bierdeckel können Sie nicht einlösen. Das halte ich für einen Betrug an der deutschen Bevölkerung. ({0}) Ich halte es auch für Betrug, wenn Sie auf der Grundlage des Herzog-Konzepts bei der Gesundheitsreform Änderungen vorschlagen, die den Menschen nicht schaden, sondern nutzen sollen. Bei diesem Vorschlag mit der Kopfpauschale - das ist das Gleiche wie mit der Steuererklärung auf dem Bierdeckel nach Herrn Merz bleiben Sie uns den sozialen Ausgleich schuldig. Grob gerechnet ergibt sich nach Ihren Konzepten eine Finanzlücke von etwa 50 bis 60 Milliarden Euro. Frau Merkel, wissen Sie, was das ist? Genau wie die Sache mit dem Bierdeckel ist das eine Zechprellerei gegenüber der deutschen Bevölkerung. ({1}) Immer wenn es bei Reformkonzepten um die harten Fakten geht, muss man auch die Finanzierung berücksichtigen. Dabei fällt mir jedes Mal - ich höre immer gut zu - ein Spruch von Lichtenberg ein: Ach, wäre es doch heiße Luft gewesen. Allein, es war nur ein wehendes Vakuum. - Das sage ich Frau Merkel als Physikerin. ({2}) Zweite Bemerkung. Wir haben ein gutes Beispiel für die typische Politik der Opposition erlebt. Als der Kanzler den konkreten Vorschlag gemacht hat, durch Subventionsabbau, die Streichung der Eigenheimzulage, Mittel für die Bildung freizusetzen, was haben wir von Ihnen gehört? Sie haben sich dazu nicht geäußert. Ich hätte gerne gewusst, ob Sie diesen Vorschlag für diskussionswürdig und interessant halten. Nein, Sie haben mit stolzgeschwellter Brust darauf hingewiesen, dass Sie im Bundesrat im Winter letzten Jahres die Streichung von Subventionen vereitelt haben. So wird ein Schuh daraus. Wenn Sie den Bundesrat nicht permanent als Bremse nutzen würden, dann wären wir in Deutschland mit den Reformen schon weiter: beim Subventionsabbau, bei der Steuerreform, der Entlastung der Kommunen und der Einschränkung der Frühverrentung. Auch die Gesundheitsreform sähe heute anders aus und wir hätten mehr Wettbewerb im System. ({3}) Frau Merkel, Sie haben uns einen Einblick in die Art gegeben, wie Sie Politik machen. Wir durften einen Blick auf Ihre schwarze Agenda werfen. Sie haben das mit dem Begriff Paradigmenwechsel verschleiert. In Wirklichkeit ist Ihr Rezept für eine hoch entwickelte Gesellschaft der Wechsel hin zu einem Niedriglohnland, um zum Beispiel mit Tschechien konkurrieren zu können. ({4}) Ich halte das für dummes Zeug, ökonomischen Unsinn und arbeitsmarktpolitisch für nicht hilfreich. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war schon spannend, heute in der Debatte zu sehen, dass sich die Regierungskoalition überhaupt nicht mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers beschäftigt hat, sondern ausschließlich mit der Rede von Frau Merkel. ({0}) ({1}) Woran liegt das? Sie hat als Einzige die Punkte angesprochen, mit denen sich die Menschen in Europa beschäftigen. ({2}) Während sich die Leute in Europa mit dem Gesundheitssystem, dem Rentensystem, dem Steuersystem und den Arbeitsmarktgesetzen auseinander setzen, haben Sie sich die letzten Monate ausschließlich mit dem Fiasko bei der Maut und dem Dosenpfand beschäftigt. Herr Trittin, der Gott sei Dank noch hier sitzt, ({3}) hat davon gesprochen, dass der Arbeitsplatzabbau in der Getränkeindustrie gewollt sei. Er hat es inzwischen geschafft, selbst ein so gutes Instrument wie den Emissionshandel zu einem Instrument zu machen, mit dem in Deutschland Arbeitsplätze systematisch vernichtet werden sollen. Ich bin gespannt, ob Herr Clement durchhält. ({4}) Es wäre allerdings das erste Mal, dass er durchhält; denn bisher hat er praktisch nichts vorzuzeigen. Es wurde wieder davon gesprochen, dass Deutschland Exportweltmeister sei. Herr Gerhardt hat das Richtige dazu gesagt, nämlich dass wir nur deshalb Exportweltmeister sind, weil wir so viel im Ausland produzieren und unsere Produkte nur dadurch konkurrenzfähig sind. Das hat Herr Braun im Kern - lesen Sie es nach - ausgesprochen. Dafür wird er heute von Herrn Stiegler verhauen. Der Generalsekretär der SPD, Herr Benneter, hat das gestern noch im Rundfunk gemacht. Der Bundeskanzler hat sich aber schon einen Tag vorher mit Herrn Braun ausgesprochen und um gutes Wetter gebeten. Ich finde, diese Scheinheiligkeit ist wirklich durch nichts mehr zu überbieten: hinten herum telefonieren und gutes Wetter machen und nach vorne schimpfen, um die eigenen Wähler zu bedienen. Das ist scheinheilig bis zum Gehtnichtmehr. ({5}) Laurenz Meyer ({6}) Herr Müntefering, lassen Sie mich bitte einen Punkt ganz klar ansprechen, weil wir gerade beim Stichwort „scheinheilig“ sind. ({7}) Was war eigentlich los, als in Österreich eine Koalition der Österreichischen Volkspartei mit den Freiheitlichen von Herrn Haider am Himmel auftauchte? Österreich sollte ausgestoßen und nicht mehr an EU-Konferenzen beteiligt werden. Jetzt ist die Schwesterpartei der SPD in Österreich mit Herrn Haider in Kärnten ins Bett gestiegen - und kein Wort von der deutschen SPD zu diesem aus ihrer Sicht vorher noch skandalösen Vorgang! ({8}) Das nenne ich scheinheilig bis zum Gehtnichtmehr. In der Zukunft sollten Sie Ihre Glaubwürdigkeit an der Garderobe abgeben. ({9}) Herr Schröder hat gesagt, Deutschland stehe heute besser da als noch vor zwölf Monaten. Ich frage mich, woraus er das schließt. Anschließend hat er sich ausgiebig mit der Situation insbesondere von Frauen beschäftigt, die berufstätig sein und gleichzeitig Kinder haben wollen. Er hat allerdings keine konkreten Vorschläge gemacht. Sie, die Frauen in der SPD-Fraktion, haben allen Ernstes für das, was er vorgetragen hat, geklatscht. Das ist doch wirklich die Höhe. Seit zwei Jahren versprechen Sie den Frauen mickrige 4 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung in ganz Deutschland. ({10}) Seit zwei Jahren ist aber kein müder Euro geflossen. Seit zwei Jahren nur Rederei! Rot und Grün haben in den letzten zwei Jahren nichts, aber auch gar nichts getan, ({11}) um die Situation von Familien mit Kindern zu verbessern. ({12}) Wenn das, was der Bundeskanzler heute hier vorgetragen hat, Ihr Familienbild ist, dann muss ich Ihnen sagen: Das ist ein antiquiertes Familienbild. ({13}) Denn politisches Taktieren hat bei der Entscheidung von jungen Familien, ob sie berufstätig sein wollen oder nicht, wenn sie Kinder haben, überhaupt nichts zu suchen. Wir müssen beides möglich machen. Das ist unsere Philosophie. ({14}) - Dass Sie sich aufregen, kann ich verstehen. Das ist offensichtlich ein Schuss ins Schwarze. ({15}) Der Bundeskanzler hat die Situation in Frankreich angesprochen. In Frankreich ähneln die finanziellen Rahmenbedingungen denjenigen, die wir in unserem Steuerkonzept vorschlagen. ({16}) Die jungen Familien werden ganz wesentlich finanziell entlastet. Es gibt kein Entweder-oder von Ganztagsbetreuung und finanzieller Entlastung. In Frankreich findet beides statt und das hat sich ausgewirkt. Wenn wir nicht beides gleichzeitig machen, werden wir keine Erfolge haben. ({17}) Mit den 4 Milliarden Euro können Sie gerade einmal Einrichtungen für das Kochen des Essens bezahlen, aber nicht die Ganztagsbetreuung und den Ganztagsunterricht. Da müssen Sie schon wesentlich tiefer in die Tasche greifen. Es hilft auch nicht, das den Gemeinden zuschieben zu wollen, wie Sie es machen. ({18}) - Sie werden sich noch freuen, wenn Sie im September nicht zur Oberbürgermeisterin gewählt werden, weil Sie dann nämlich nicht für das geradestehen müssen, was der Bundeskanzler Ihnen auf die Nase drücken will. Sie werden dann anschließend wieder hier sitzen und sich freuen, dass Sie nicht gewählt worden sind - was für Stuttgart allerdings besser ist. Des Weiteren ist angesprochen worden, dass endlich die Situation von Migranten und unterprivilegierten Familien im heutigen Schulsystem angegangen werden müsse. ({19}) Wenn Sie überall in Deutschland für die Bildungspolitik zuständig wären, dann Gnade uns Gott! Bei den PISA-Studien ist herausgekommen, dass in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen - Sie müssten das Ihrer Fraktion erzählen, Herr Poß - die deutschen Kinder schlechtere Ergebnisse erzielt haben als die Ausländerkinder in Bayern. ({20}) Das ist die Situation. Die Ausländerkinder in Bayern haben bei der PISA-Studie bessere Ergebnisse erzielt als die deutschen Kinder in Nordrhein-Westfalen. ({21}) - Sie wissen das gar nicht. Ich weiß, dass Sie das trifft. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wären in Deutschland für die Bildungspolitik zuständig. ({22}) Laurenz Meyer ({23}) Dann ginge es darum, wie Sie die Finanzierung sichern wollen, und um die Eigenheimzulage. Frau Merkel hat es schon angesprochen: Stellen Sie sich vor, sie wäre bei einem Ihrer zwei Versuche gestrichen worden. Das ist wie früher beim Jäger 90 und den Grünen. Bei jeder Finanzierung wurde der Jäger 90 angeführt. Jetzt ist es die Eigenheimzulage. Die CDU/CSU-Fraktion wird aber die Eigenheimzulage nicht antasten, solange nicht wesentlich niedrigere Steuern für den Einzelnen dies möglich machen. ({24}) Die heutige Debatte hat wieder gezeigt, dass Sie versuchen, die Probleme nicht mehr anzusprechen, und dass Sie weder über das Thema Gesundheit noch über Steuern und Arbeitsmarktveränderungen in anderen Ländern eine erfolgreiche Diskussion führen. ({25}) Dadurch wollen Sie Ihre eigene Basis beruhigen und vielleicht die Austrittswelle vorübergehend stoppen. ({26}) Den Spagat, den Sie bisher in der Partei versucht haben und der schon mit zwei Beinen nicht geklappt hat, versuchen Sie nun mit vier Beinen. Deswegen meine ich, Sie sollten wirklich wissen, was für Deutschland angesagt ist, nämlich eine klare Analyse. Sie sollten zumindest Maßnahmen vorschlagen und sich an der Diskussion beteiligen, die wir Ihnen zu den von uns aufgeführten konkreten Handlungsfeldern vorschlagen. ({27}) Sie haben doch den Vorteil, dass die Opposition klare und präzise Vorstellungen vorgelegt hat. ({28}) Sie sind damit in einer viel besseren Situation als jemals eine Regierungspartei vor Ihnen. Heute ist hier gesagt worden: Wir machen so weiter wie bisher. - Das müssen die Bürger in unserem Land als nichts anderes als eine Drohung empfinden. ({29})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPDFraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesellschaftspolitische Innovationen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hervorragende Bildung und Ausbildung und eine ausgezeichnete Lehre und Forschung sind die großen Herausforderungen für die nächsten Jahrzehnte, vor denen wir stehen. Deshalb habe ich erwartet, dass irgendjemand von der Opposition, der CDU/CSU, wenigstens den Hauch einer Konzeption für eine gesellschaftspolitische Erneuerung bringt. ({0}) Frau Merkel hat in ihrer Rede dazu nur einen halben Satz gesagt, in dem sie beschrieben hat, was nach ihrer Meinung in der Kinderbetreuung nicht angeht. Was Herr Meyer gerade vorgetragen hat, war nun wirklich - ({1}) Es ist eigentlich nicht zu beschreiben. Fangen wir mit der PISA-Studie an. Herr Meyer, ich würde Ihnen dringend empfehlen, Nachhilfeunterricht zu nehmen. Denn das, was Sie ausgeführt haben, ist ein Beleg für die Richtigkeit der PISA-Studie. ({2}) Wenn Sie nämlich die Pisa-Studie richtig lesen, dann werden Sie zum Beispiel erkennen, dass in keinem anderen Land außer in Deutschland - im Übrigen ganz besonders in Bayern - die soziale Herkunft eines Kindes, ob Mädchen oder Junge, darüber entscheidet, ob es berufliche Ausbildungs- und Fortbildungschancen hat. Das ist der Kernpunkt der PISA-Studie. Dazu haben Sie kein einziges Wort gesagt. ({3}) Ich empfehle Ihnen dringend, Studien so zu lesen, wie sie sind, und nicht die wichtigen Teile zu verschweigen. Wenn ich davon ausgehen muss, dass Sie es eigentlich gelesen haben, aber hier nicht erwähnen, dann ist das für mich wieder einmal der Beweis dafür, welches Menschenbild Sie haben und wie Sie soziale Gerechtigkeit definieren. Ich sage Ihnen: Sozialdemokraten würden mit jungen Leuten und deren Chancen nie so umgehen. Ich bin froh, dass wir die Verantwortung für das haben, was in diesem Bereich läuft. ({4}) Hinzu kommt: Sie erzählen in Ihren Sonntagsreden immer unheimlich viel von Familie und von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie von Bildung und Ausbildung. ({5}) Heute geht es hier in einer wichtigen Debatte um genau das; dennoch wird in den Beiträgen Ihrer Hauptrednerinnen und -redner die Frage der Vereinbarkeit nicht behanNicolette Kressl delt. Daraus kann ich nur schlussfolgern: Es handelt sich hierbei für Sie immer noch um das gesellschaftspolitische Sahnehäubchen, nach dem Motto: Wenn wir noch etwas übrig haben, dann machen wir da etwas. ({6}) Der Kernpunkt ist aber, dass Bildung, Ausbildung und Qualifikation nicht nur mit Gesellschaftspolitik, sondern auch mit Wirtschaftspolitik zu tun haben. Mit der Frage, wie wir die Startchancen junger Menschen verbessern können, geht die Entscheidung einher - das will ich Ihnen deutlich sagen -, welche Köpfe in Deutschland in Zukunft für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes sorgen. ({7}) Ich bin deshalb so froh, dass der Bundeskanzler wichtige Teile seiner Rede genau dieser Frage gewidmet hat. ({8}) Wir haben nämlich erkannt, dass es sich nicht um das Sahnehäubchen handelt, sondern dass es hierbei um den Kernpunkt bei der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung geht. Ich will Sie auf eine Studie des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, verweisen, die verdeutlicht, dass in den Jahren 1995 bis 2010 1,5 Millionen Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte verloren gehen werden. Das heißt: Sowohl die Frage der sozialen Gerechtigkeit für die Menschen und deren Lebenschancen als auch die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung hängen damit zusammen, ob wir die Potenziale, die es bei uns gibt, in Zukunft auch wirklich nutzen können. Wir lassen noch viel zu viele Potenziale bei den jungen Menschen, die wir nicht ausreichend und nicht früh genug fördern, brachliegen. ({9}) Für uns ist die Frage der Betreuung, der Erziehung und der frühkindlichen Bildung entscheidend. ({10}) Deshalb sieht unser Programm vor, dass die 1,5 Milliarden Euro aus den Ersparnissen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in die Kassen der Kommunen fließen. ({11}) Wenn Sie gestern einmal in die Zeitung geschaut haben, dann wissen Sie: Familienministerin Renate Schmidt hat mit den kommunalen Spitzenverbänden vereinbart, dass wir die Verantwortung dafür übernehmen, dass die 1,5 Milliarden Euro - insgesamt 2,5 Milliarden Euro - tatsächlich bei den Kommunen ankommen. Auch Franz Müntefering sagt es immer wieder: Dazu stehen wir. Gleichzeitig können wir mit den Kommunen den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige organisieren. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich kann gut verstehen, dass die Kommunen nach 16 Jahren Ihrer Regierungspolitik etwas misstrauisch sind. ({12}) Wenn ich mit den Kommunen über den Ausbau der Kinderbetreuung rede, dann erinnern sie mich immer an Ihre Regierungszeit. ({13}) Wir haben damals mehrmals beantragt, dass der Bund Verantwortung für die Kosten zur Gewährleistung des Rechts auf einen Kindergartenplatz übernimmt; bei den Kommunen ist allerdings nichts angekommen. Es war Ihre Regierungszeit, die die Kommunen so misstrauisch gemacht hat. ({14}) Der Umstand, dass es den Kommunen nicht leicht fällt, zu vertrauen, veranlasst uns, eine Finanzierungsgarantie zu geben. Die Tatsache, dass Sie im Vermittlungsausschuss mitverantwortlich dafür sind, hat dazu geführt, dass sich bei der Gewerbesteuerreform keinerlei strukturelle Verbesserungen ergeben haben. Auch das haben Sie zu verantworten. Es ist scheinheilig, sich hier hinzustellen und zu fragen, wie es den Kommunen geht, wenn Sie im Vermittlungsausschuss eine strukturelle Gewerbesteuerreform verhindern. ({15}) Im Übrigen haben Sie schon Jahre zuvor die Gewerbesteuer so weit ausgehöhlt, dass es überhaupt nötig war, strukturelle Reformen vorzunehmen. Ich finde, Sie sollten wirklich den Mund halten, wenn es um die Frage geht: Wie unterstützen wir die Kommunen bei der Kinderbetreuung? ({16}) Es geht aber nicht nur um die Förderung von Kindern. Wir lassen natürlich auch Potenzial brachliegen, wenn wir nicht für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. In volkswirtschaftlicher Hinsicht dürfen wir es nicht mehr zulassen, dass die Gesellschaft zwar inzwischen über die am besten qualifizierten Frauen verfügt, dass wir ihnen aber nicht die Möglichkeit geben, ihre Potenziale, ihre Kreativität und ihr Können in die Wirtschaft einzubringen, weil es uns nicht gelingt, ihnen in ausreichendem Maße Betreuungsmöglichkeiten schon im Bereich der unter Dreijährigen anzubieten. Ich halte das für einen ganz wesentlichen wirtschaftspolitischen Faktor. Deswegen weisen wir ständig darauf hin, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht das Sahnehäubchen ist, sondern zu einer arbeitsmarktpolitischen Schlüsselfrage unserer Gesellschaft und insbesondere zu einer entscheidenden Standortfrage für die Kommunen werden wird. ({17}) Wir müssen ebenfalls das Potenzial der jungen Schulabgängerinnen und Schulabgänger besser nutzen. Auch hier geht es um die Kombination von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftspolitischen Fragen. ({18}) Wie soll denn das Vertrauen der jungen Menschen in den Staat, insbesondere in die staatlichen Institutionen und seine Verantwortlichen, wachsen können, wenn wir, die wir in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen, ihnen nicht das Vertrauen geben können, dass wir alles für ihre Zukunftschancen tun? Wir müssen den jungen Menschen das Vertrauen geben, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, damit sie einen Ausbildungsplatz bekommen. Wenn Sie als einzige Alternative eine Kürzung der Ausbildungsvergütungen vorschlagen, dann muss ich sagen, dass ich das nicht nur für verantwortungslos, sondern auch für einfallslos und für nicht kreativ halte. ({19}) Es ist ebenfalls wichtig, dass wir uns bei der Erneuerung der Gesellschaft um die Potenziale und die Erfahrungen der Älteren kümmern. Deshalb finde ich es gut, dass Edelgard Bulmahn und ihr Haus einen Schwerpunkt auf die Entwicklung und Finanzierung der Weiterbildung legen. Damit werden wir uns auch in den Fraktionen beschäftigen; denn wir müssen nicht nur Jugendlichen und Kindern, sondern auch den Älteren Zukunftschancen geben. Unsere Gesellschaft muss sich darauf verlassen können, dass auch Letztere ihre Kreativität und ihr Potenzial in unseren Wirtschaftskreislauf und in unsere Gesellschaft einbringen. ({20}) Ein wichtiger Teil unseres Konzeptes betreffend den Umgang mit den Zukunftschancen der Menschen ist, dass wir entsprechende Rahmenbedingungen durch Ganztagsbetreuung, beispielsweise durch das Ganztagsschulprogramm, schaffen wollen. Lassen Sie mich noch ein, zwei Worte über Ihre unsäglichen Aussagen verlieren. Zum einen ist es logisch, dass das Ganztagsschulprogramm nicht sofort anlaufen konnte; denn die Länder konnten entgegen unseren Erwartungen nicht rechtzeitig pädagogische Konzepte vorlegen. ({21}) Zum anderen haben inzwischen schon 900 Schulen Mittel aus dem Ganztagsschulprogramm beantragt. ({22}) Diese 900 Ganztagsschulen gäbe es ohne dieses Programm nicht. Sie, die Sie 16 Jahre lang im Rahmen Ihrer Bundeskompetenz gar nichts gemacht haben, behaupten, dies sei zu wenig. ({23}) Aber in Wirklichkeit - das finde ich prima - wollen immer mehr Gemeinderäte und Gemeinderätinnen sowie immer mehr Elternbeiräte dieses Programm nutzen, weil sie wissen, dass es Geld gibt. ({24}) Wenn ich eines weiß, dann ist es das: In drei Jahren wird es eine Entwicklung geben, die Sie mit Ihrer Ideologie - Gott sei Dank - nie wieder zurückdrehen können. ({25}) Darauf bin ich stolz. Unser Ganztagsschulprogramm hat dazu geführt, dass Eltern sagen: Es gibt eine Chance, dass das mitfinanziert wird, und darum kämpfen wir jetzt. Die Ganztagsschule ist nicht nur ein Ort, an dem es Nachmittagsunterricht gibt, ({26}) sondern dort ist auch die Zeit für individuelle Förderung; das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Da können die Kinder, die in der Familie nicht ausreichend gefördert werden, Förderung erfahren. Das ist das, was vorhin im Zusammenhang mit PISA beschrieben worden ist. So werden ihre Chancen verbessert. ({27}) Hören Sie mit dieser Polemik gegen das Programm auf! Seien Sie lieber froh darüber, dass wir da für das Land insgesamt etwas nach vorn gebracht haben! Zu dieser Konzeption insgesamt gehört für uns auch Folgendes: Wir wollen die äußeren Rahmenbedingungen verbessern und Eltern und Familien, Frauen und Männern die Möglichkeit geben, innerhalb der Rahmenbedingungen, die wir setzen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen. Hören Sie mit dieser ideologischen Behauptung auf, wir wollten eine Form bevorzugen! In Wirklichkeit ist es in diesem Land doch so, dass durch fehlende Angebote indirekt eine Form von Zusammenleben und Erziehen vorgeschrieben wird. Wenn die Angebote da sind, dann sollen Frauen und Männer wählen können. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen. ({28}) Zu der Konzeption gehört, dass wir sagen: Dafür sind wir verantwortlich. - Wer das als Hineindrängen des Staates in die Familie diffamiert, so wie Sie das gemacht haben, verkennt Bedürfnisse und Entwicklungen in dieNicolette Kressl ser Gesellschaft. Das ist der große Unterschied zwischen uns. Wir wissen, was in der Gesellschaft läuft, ({29}) wir wissen, was die Menschen brauchen, und setzen die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir uns nicht alles leisten können. Wir wollen Startchancen geben und Rahmenbedingungen setzen. Verantwortlich dafür, dass die Chancen genutzt werden, sind - das sagen wir immer dazu - die Menschen selbst. Aber wie können Menschen ihre Verantwortung wahrnehmen, wenn wir nicht die Rahmenbedingungen dafür schaffen? Ich bin davon überzeugt: Mit den Konzeptionen, die der Bundeskanzler im Bereich Bildung, Ausbildung, Qualifikation, Erziehung und Betreuung vorgestellt hat, werden wir Veränderungen im Land schaffen, sodass die Menschen Wahlfreiheit haben und die jungen Menschen Startchancen bekommen. Damit machen wir einen guten Anfang für eine noch bessere wirtschaftliche Entwicklung. Vielen Dank. ({30})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich grundsätzlich auf die Regierungserklärung eingehe, will ich eines klarstellen: Bundeskanzler Schröder hat über demographische Probleme gesprochen und hat sich dabei eines unglaublichen Vergleichs bedient. Er hat die Nazizeit und die DDR-Zeit gleichgesetzt. ({0}) Er sprach vom Mutterkreuz im Dritten Reich und vom Abkindern in der DDR. - Ich weise das für die PDS im Bundestag zurück. ({1}) Ich bedaure, dass ausgerechnet ein SPD-Kanzler so geschichtslos und demagogisch daherredet. ({2}) Wenn wir schon bei Wahrheiten sind: Zur Wahrheit in der Bundesrepublik im Jahr 2004 gehört, dass wir eine unerträglich hohe Kinderarmut haben und dass mit der Umsetzung der Agenda-Gesetze die Kinderarmut tagtäglich steigt. Nun zur Regierungserklärung. Bundeskanzler Schröder hat seiner Regierungserklärung den schönen Titel „Deutschland 2010: Unser Weg zu neuer Stärke“ gegeben. Die Rede schließt an die Agenda 2010 an, die hier vor Jahresfrist vorgestellt wurde. Sie muss sich daher an dem messen lassen, was seither geschehen ist. Sie wissen es: Die Agenda 2010 wird vielfach als Abschied der SPD von sozialdemokratischen Urwerten wie Solidarität und Gerechtigkeit bewertet. Die PDS teilt diese Kritik grundsätzlich. Dieser Weg zu neuer Stärke führt ins Abseits. ({3}) SPD und Grüne sagen, sie wollen den Sozialstaat retten. Aber zugleich bauen sie ihn ab. Sie sagen, Solidarität sei wichtig. Aber sie geben sie preis. Sie sagen, Gerechtigkeit sei gut. Aber sie werden immer ungerechter. Wir haben uns im vergangenen Jahr hier über die Gesundheitsreform, über die Rentenreform, über die Arbeitsmarktreform, über die Steuerreform und vieles mehr, was Rot-Grün als Agenda 2010 bezeichnet, gestritten. Alle so genannten Reformen sind beim Praxistest durchgefallen. Für die wirklich Betroffenen wurde nichts besser, aber vieles teurer. Die Stärke einer Gesellschaft misst sich an den Schwachen. Das war einmal ein sozialdemokratisches Credo. Davon entfernt sich die SPD immer mehr. Heute stärken Sie die Starken und schwächen die Schwachen. ({4}) „Unser Weg zu neuer Stärke“, wie Sie sagen, hat große Gewinner und viele Verlierer. So ein „Deutschland 2010“ will ich nicht. ({5}) Dabei geht der Opposition zur Rechten - wir haben es heute wieder gehört - das ganze Abbauprogramm ja noch nicht weit genug. Ihr Militärprogramm ist ohnehin mächtiger und gewaltiger. ({6}) - Um auf den Zuruf des Abgeordneten Joseph Fischer einzugehen: Die rot-grüne Steuerreform hat Berlin mehr Millionen gekostet als der unsägliche Bankenskandal, den CDU und SPD verursacht haben. ({7}) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!) Es gehört zu den Wahrheiten, die gesagt werden müssen, wenn wir über Berlin reden: Ihre Agenda macht die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt arm. Das ist schlecht. ({8}) Nun habe ich aufmerksam vernommen, was der neue SPD-Vorsitzende, Herr Müntefering, in seiner Antrittsrede versprochen hat. Ich fasse zusammen: Die SPD hält an ihrem Kurs fest: Schröders Sozialabbau wird fortgesetzt, Schilys Innenpolitik wurde gelobt und Strucks Bundeswehr soll noch weiter ins Ausland ziehen. Allein diese 3-S-Politik lässt einen gruseln. Noch schlimmer ist: Die neue Mitte der neuen SPD hält ihren neuen Weg auch noch für neu. Dabei ist vieles nur geklaut, nämlich bei der CDU/CSU und bei noch schlechteren Vorbildern abgeschrieben. Vor diesem Hintergrund frage ich mich allerdings: Was soll Deutschland im UNO-Sicherheitsrat? Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin sehr für eine Aufwertung der UNO. Sie war vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges eine historische Errungenschaft und sie wird immer wichtiger. Allerdings lehrt das Beispiel USA: Wirtschaftliche Größe ist kein Synonym für Recht und militärische Stärke ist kein Ersatz für Politik. Wenn also die Bundesrepublik in den UN-Sicherheitsrat strebt, dann muss sie mehr bieten als einen Anspruch. Es müssen Alternativen aufgezeigt werden. Die sind aber nicht erkennbar. Der Bundeskanzler hat auch heute keine vorgestellt. ({9}) Das trifft übrigens auch auf alles zu, was derzeit über das Zuwanderungsgesetz und Ihre nette Kungelrunde zu hören ist. Angekündigt hatte Rot-Grün ein Bürgerrecht, das Ausländer nicht länger als Lückenbüßer und Störenfriede betrachtet. Nun droht ein Abschieberecht nach bayerischem Duktus. ({10}) Wer in Verdacht gebracht wird, er könnte Terrorist werden, soll außer Landes entsorgt werden. Deshalb bin ich sehr gespannt, wie sich Bündnis 90/Die Grünen hier verhalten werden. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen meine grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisierung der Politik. In der künftigen EU-Verfassung wurde sie sogar als Pflicht festgeschrieben. ({12}) Deshalb lehnt die PDS den Entwurf auch ab. ({13}) Aber auch hierzulande gibt es genügend Zeitzünder. Insbesondere die CDU/CSU lässt keinen Anlass aus, diese zu schärfen. Deshalb wiederhole ich noch einmal für die PDS: Es gibt keinen Grund, das Grundgesetz zu ändern und die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Es gibt auch keinen Grund, die überholte Wehrpflicht durch andere Zwangsdienste zu ersetzen. Es gibt weiterhin keinen Grund, durch ein Entsendegesetz Kriegseinsätze am Bundestag vorbei zu beschleunigen. Die PDS im Bundestag lehnt dies daher ab. ({14}) Die PDS bleibt dabei: Die Agenda 2010 weist in eine falsche und für viele in eine fatale Richtung. Sie belastet Kranke, Arme und Alte über Gebühr und sie entlastet jene, die - wie es auf Sozialdemokratisch so schön heißt - „breite Schultern haben“. Die PDS setzt dem ihre „Agenda sozial“ entgegen und eine Rentenreform, die den Namen Reform auch verdient. Sie ist gerechter, weil sie allen ein würdiges Leben im Alter bietet. Sie ist solidarisch, weil sie die Lasten teilt. Sie ist modern, weil sie das Rentensystem umbaut, anstatt die Rentner zu schröpfen. Deshalb gilt mein Schlusssatz all jenen, die sich mit dem Kurs des Kanzlers und seiner Kritiker von rechts nicht abfinden wollen. Das Beste wäre: Wir treffen uns am 3. April in Köln, Stuttgart und Berlin zu den geplanten Großdemonstrationen gegen die Entsorgung des Sozialstaates. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion. ({0})

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Letzten beißen die Hunde - wenn noch Hunde da wären. Aber warten wir einmal ab. ({0}) Ich wollte zum Schluss einige wenige Sätze sagen, weil ich geradezu erschrocken bin über das, was die Opposition in dieser Debatte heute geboten hat. Wir haben festgestellt, dass Sie außer Polemik mit dem Höhepunkt der Rede von Herrn Meyer nicht viel zu bieten hatten. ({1}) Interessant, wie ich jedenfalls aus meiner Sicht feststellen muss, ist, dass Frau Merkel sich in Allgemeinplätzen ergangen hat und nicht einmal den Schneid gehabt hat, dem Hohen Hause und damit der Öffentlichkeit die Schweinereien mitzuteilen, die Sie, wie wir in den letzten Tagen und Wochen gehört haben, schrittweise unternähmen, wenn Sie Regierungsverantwortung tragen würden. ({2}) Sie haben sich gedrückt und das muss auf den Tisch. Ich wollte die Zeit nutzen, um das klar zu machen. Was würde denn passieren, wenn die Union mit der FDP im Kreuz in diesem Lande regieren würde? Wilhelm Schmidt ({3}) ({4}) Die Tarifautonomie würde geschleift werden. Dass Arbeitnehmerrechte abgebaut werden würden, ist eine milde Formulierung. Die Entmachtung der Gewerkschaften ist doch Ihr erklärtes Ziel. Dass wir in den letzten 50 Jahren in diesem Lande gut gefahren sind, weil wir den sozialen Frieden hergestellt und aufrechterhalten haben - der Kanzler und auch Franz Müntefering haben darauf hingewiesen -, ist die Dimension, an der wir uns orientieren. Wir orientieren uns nicht an dem, was Sie von uns verlangen. ({5}) Man kann schon über die Substanzlosigkeit der anderen Seite und darüber erschrecken, wie wenig Mitverantwortung übernommen wird. Sie haben in den vergangenen Monaten unter dem Druck der Öffentlichkeit mit uns gemeinsam im Vermittlungsausschuss, aber auch bezogen auf die Gesundheitsreform außerhalb des Vermittlungsausschusses, den einen oder anderen Reformschritt eingeleitet. Das ist wohl wahr. Die Art, in der Sie sich aber hinterher von unbequemen Teilen, die in der Öffentlichkeit kritisiert und diskriminiert worden sind, verabschiedet und nicht Ihre Mitverantwortung wahrgenommen haben, ist skandalös. Das sagen wir Ihnen auch sehr deutlich; wir finden das unanständig. ({6}) Ich denke, auch Sie haben in der Zwischenzeit festgestellt, dass bei dem einen oder anderen Punkt, der von Ihnen mit viel Getöse in die Öffentlichkeit getragen worden ist, nichts an Glaubwürdigkeit übrig geblieben ist. Ich weise auf einen Punkt hin, den Ludwig Stiegler bereits angesprochen hat: die Steuerreform. Was ist denn aus der merzschen Bierdeckelreform geworden? Die Reform von Herrn Merz hat ja nicht einmal den März erreicht! Sie haben sie vorher sicherheitshalber selber abgeräumt. Heute bekommen wir von Frau Merkel in der Öffentlichkeit eine ganz vage Einladung dazu, das, was Sie jetzt nicht mehr machen können oder wollen, nun gemeinsam zu machen. So billig ist das aber nicht zu haben. ({7}) Sie müssen sich da schon eine andere Vorgehensweise überlegen und dann in einer offenen Veranstaltung mit uns darüber sprechen. Es geht doch nicht an, dass Sie immer so tun, als wenn die ohnehin schon niedrigen Steuersätze noch weiter gesenkt werden könnten, und wir dann die nützlichen Idioten sind, die nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Umsetzung Ihrer Ideen suchen. So haben wir nicht gewettet, nur dass das einmal klar ist. ({8}) Ihr Bundespräsidentenkandidat Köhler hat von einer großen nationalen Anstrengung gesprochen. Diese Anstrengung wäre bei Ihnen wahrhaftig nötig; davon haben wir heute Morgen aber überhaupt nichts gemerkt. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Substanzlosigkeit, die sich seit Wochen in den Fragestunden zum Thema Volmer-Erlass und auch heute Morgen zeigt, überwinden. Wir fordern Sie auf, in diesem Parlament ernsthaft mitzuarbeiten und die Polemik in der Öffentlichkeit zu beenden. ({9}) Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir in der öffentlichen Debatte mehr denn je gemeinsam versuchen müssen, die Maßstäbe zurechtzurücken. In einem Jahr, in dem Marie Juchacz 125 Jahre alt geworden wäre, sollten wir uns ab und zu einmal daran erinnern, mit welcher Energie und unter welchem Druck unsere Vorgänger in diesem Hause arbeiten mussten, um nach zwei verlorenen Weltkriegen Reformen durchzusetzen. Aber wir tun hier so, als ob wir am Abgrund stehen würden, als ob nächste Woche niemand mehr sein Brot bezahlen könnte und das absolute Chaos in diesem Land ausbrechen würde. Das ist Ihre Wortwahl. Dadurch werden die Menschen verunsichert. Wir finden es unanständig und unredlich, wie Sie mit der Öffentlichkeit umgehen. Auch das lassen wir uns nicht mehr bieten. ({10}) Wir fordern Sie also auf: Nehmen Sie auch Rücksicht auf die Menschen! Es nützt nichts, ständig zu polemisieren. Was wir in diesem Lande brauchen, ist die Zusammenarbeit. Darauf setzen wir. Das hat der Kanzler in seiner Rede zu Recht zum Ausdruck gebracht. Ich will betonen: Trotz aller politischen Unterschiede und trotz der Tatsache, dass Sie leider nicht in der Lage sind - so auch heute nicht -, die notwendige Substanz für die politische Auseinandersetzung aufzubringen, brauchen wir die Gemeinsamkeit und die Zusammenarbeit. Wir dürfen diese Demokratie nicht vor die Hunde gehen lassen. Bei manchen hat man in der öffentlichen Auseinandersetzung ab und zu den Eindruck, dass sie das bewirken. Ich fordere auch bei Ihnen wenigstens einen Hauch von Anstand in der politischen Auseinandersetzung ein. Dieses Land braucht unsere Zusammenarbeit. Die Menschen wollen keine Polemik und sie wollen keine Auseinandersetzung, die nur an der Oberfläche stattfindet. Sie wollen konkret wissen, wie es in diesem Lande weitergeht. Auf diese Fragen haben wir die Antworten heute erneut gegeben. Wir wollen die Innovationen voranbringen. Wir wollen die Bildungsangebote - das hat Frau Kressl, wie ich finde, ausgezeichnet ausgeführt - für die jungen Menschen verbessern. Wir wollen die Wirtschaft stabilisieren und Arbeitsplätze schaffen. Darum sind die Prozesse im Rahmen der Umsetzung der Agenda 2010 in den vergangenen Monaten ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein. Wir wollen und müssen die Reformen an dieser Stelle fortsetzen. Dazu treten wir an. Wir lassen uns auf diesem Weg nicht bremsen. ({11}) Dass sich der Ton in der Auseinandersetzung in den letzten Tagen und Wochen verändert hat, ist darauf zurückzuführen, dass wir gemerkt haben, dass wir in den hektischen Monaten des vergangenen Jahres, in denen wir die Reformprozesse umgesetzt haben, nicht alles in Wilhelm Schmidt ({12}) dem Maße erklärt haben, wie es normalerweise der Fall gewesen wäre. Das Entscheidende ist aber, dass wir trotz allem den Weg nicht verändern dürfen. Wir müssen diesen Weg fortsetzen. Wir wollen allerdings die Menschen mehr als bisher davon überzeugen. ({13}) Wir müssen zu Veränderungen in der Pflegeversicherung, in der Rentenversicherung und bei den Innovationen kommen, um unser Land zukunftsfest zu machen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Darum setzen wir an dieser Stelle auf die Zivilgesellschaft. Die organisierte Zivilgesellschaft ist seit 141 Jahren bis heute für die SPD sehr wichtig. Wir wollen die Menschen in den Organisationen, Verbänden und Vereinen erreichen und mitnehmen. Wir wollen sie davon überzeugen, dass dieser Weg der einzig richtige ist. Fakten, die wir alle zur Kenntnis nehmen können, belegen dies. Dass der Krankenversicherungsbeitrag inzwischen gesunken ist, ist ein ermutigendes Zeichen. Dass wir inzwischen einige Länder überzeugt haben, das Ganztagsschulprogramm umzusetzen, ist ebenfalls ein ermutigendes Zeichen. Hier können uns die Sozialverbände, die Sportverbände und die Organisationen im Bereich der Kultur und in anderen Bereichen unterstützen. Das soll nicht geschehen, um die Politik dieser Regierung in den Vordergrund zu rücken, sondern um für die Menschen in diesem Land etwas zu tun. Das ist der einzige Maßstab, der gilt. ({14}) Zur Zivilgesellschaft gehören auch die Unternehmen. Das muss man diesen immer wieder klar machen. Es kann nicht angehen, dass die Aufgabenverteilung in diesem Lande lautet: Wir schotten uns ab und machen unseren eigenen Kram und für die unangenehmen Dinge des Lebens ist die Politik zuständig. So haben wir erstens nicht gewettet und zweitens funktioniert es so auch nicht. In enger Zusammenarbeit mit den Unternehmerverbänden und anderen müssen wir klar machen, dass wir aufeinander angewiesen sind. Es geht nicht, auf der einen Seite Profite einzustreichen, ohne auf der anderen Seite Mitverantwortung für Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesem Lande zu übernehmen. Die Verantwortung hierfür liegt auch in den Unternehmen. Ich kann nur zitieren, was der Trigema-Chef, Wolfgang Grupp, gerade in diesen Tagen gesagt hat: Die Arbeitslosen sind nicht von der Regierung gemacht, sondern von den Unternehmern. Er setzt fort: Unter Deutschlands Unternehmern herrscht Verantwortungslosigkeit und ein fataler Hang zum Abkassieren. Deutschland braucht verantwortungsvolle Leistungsträger. Das ist natürlich viel zu pauschal; das weiß ich wohl. Aber es setzt ein Zeichen dahin gehend, dass es in dieser Zeit auch verantwortungsbewusste Unternehmerinnen und Unternehmer gibt. Auf diese bauen wir und auf deren Mitmachen setzen wir, damit wir das, was wir für das Land und seine Menschen als wichtig erachten, umsetzen können. Die Agenda 2010 hatte also von Anfang an einen deutlichen zivilgesellschaftlichen Ansatz; ich bekräftige ihn hiermit. Ich finde, dass wir die Menschen wieder dazu bringen sollten, sich bereitwillig für die Gemeinschaft einzusetzen. Wir brauchen diesen Gemeinschaftsgeist. Er hat Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten stark gemacht. Wir appellieren, dass alle in der Politik, alle in der Gesellschaft und alle in der Wirtschaft mitwirken, um diese Dinge, die wir im Interesse der nächsten Generation auf den Weg bringen müssen, zu vollenden. Meine Damen und Herren, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Union bzw. die Opposition ist vielfach leider auf dem Holzweg. Ich hoffe, dass sie bereit ist umzukehren. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e sowie Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({0}), Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland braucht Klarheit bei der Verkehrsinfrastruktur - Drucksache 15/2603 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission Ausbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes: Neue Formen der Finanzierung interoperabler elektronischer Mautsysteme Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die allgemeine Einführung und die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gemeinschaft KOM ({4}) 132 endg.; Ratsdok. 8893/03 - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/62/EG über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge KOM ({5}) 448 endg.; Rats- dok. 11944/03 - Drucksachen 15/1153 Nr. 2.33, 15/1547 Nr. 2.128, 15/2588 - Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Volkmar Uwe Vogel, Dirk Fischer ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Planungs- und Finanzierungssicherheit für die ICE-Strecken ABS/NBS Nürnberg-Erfurt ({7}) und Erfurt-Leipzig/Halle ({8}) schaffen - Drucksache 15/2653 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Haushaltsausschuss d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2003 - Drucksache 15/2323 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 2003 - Drucksache 15/2456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/2743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({13}), Sibylle Laurischk, Joachim Günther ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben - Drucksache 15/2470 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat: Mobilität ist die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung. Mobil sein bedeutet für die meisten Menschen Freiheit und Lebensqualität. … Politik für eine leistungsfähige Infrastruktur - das ist aktive Wirtschaftspolitik, sie stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und sichert die Zukunft unseres Landes. ({0}) Das sind die Kernsätze aus der Einleitung zu Ihrem Bundesverkehrswegeplan 2003. ({1}) Wenn Sie Ihre Grundsätze auch umgesetzt hätten, dann hätten Sie wenigstens etwas erreicht. So aber liegen bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. ({2}) Mit Ihrer Investitionspolitik werden Sie den Notwendigkeiten nicht gerecht. Unsere Infrastruktur ist in Not. Wenn die Meldungen zutreffen, wonach in Ihrer Mittelfristplanung für den Zeitraum 2004 bis 2008 der Straße rund 3,9 Milliarden Euro, der Schiene 3,5 Milliarden Euro und der Wasserstraße 386 Millionen Euro fehlen, dann gefährden Sie nicht nur immer mehr Arbeitsplätze in der Baubranche, sondern blockieren auch die weitere Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. ({3}) Hierzu müssen Sie, Herr Bundesminister, heute Stellung nehmen. Hier und heute darf nicht wie sonst vernebelt werden. Hier muss vielmehr Klarheit geschaffen werden. Bezogen auf den gesamten Haushalt muss ich feststellen: Noch nie war der Investitionsanteil des Bundes so niedrig wie heute. Auch dies muss festgehalten werden. ({4}) Mit Ihrer Politik der Kürzung bei den Verkehrsinvestitionen blockieren Sie die Mobilität jedes Einzelnen und gefährden die notwendige Mobilität von Industrie und Handel, denen die unzureichende Verkehrsinfrastruktur zu schaffen macht. Sie übersehen dabei die Auswirkungen auf den Baubereich. Investitionen sind wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Initialzündungen. Jeder Euro, der in Investitionen fließt, zahlt sich mehrfach aus. Bauinvestitionen finanzieren sich zu zwei Dritteln selbst, und zwar über Steuermehreinnahmen, entsprechend höhere Sozialversicherungsbeiträge und weniger Arbeitslosenunterstützung. Diese Dinge müssen wir zur Kenntnis nehmen. Deutschland braucht mehr Verkehrsinvestitionen, denn Staus sind an der Tagesordnung. 15 Prozent unseres Autobahnnetzes sind chronisch überlastet. Nur noch 77 Prozent sind voll gebrauchsfähig, bei den Bundesstraßen sind es weniger als 70 Prozent. Die Staus kosten Zeit und Arbeitskraft. Sie vergeuden Ressourcen und treiben den Kraftstoffverbrauch in die Höhe. Die schädlichen Folgen für die Umwelt sind offensichtlich. Die volkswirtschaftlichen Verluste beziffern sich auf rund 100 Milliarden Euro Jahr für Jahr. Diese Zahlen müssen uns alle erschrecken und man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. ({5}) Eines ist auch klar: Unter dem Mangel an Instandhaltungsmaßnahmen leidet auch die Sicherheit auf unseren Straßen. ({6}) - Je unruhiger es auf der linken Seite des Hauses ist, umso mehr weiß ich, dass ich Recht habe. ({7}) Züge fahren unpünktlich, denn Langsamfahrstellen behindern den Verkehrsfluss und mindern die Leistungsfähigkeit der Bahn im Bereich des Personen- und Güterverkehrs. Teile unseres Schienennetzes sind sanierungsbedürftig. Auch die Binnenschifffahrt hat bei Ihnen an Bedeutung verloren. Sie müssen sich um all diese Themen kümmern. Sie müssen aus Ihrer Mautlähmung endlich wieder herauskommen und politisch handeln. ({8}) Sie müssen den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur stärker am Bedarf orientieren, denn der Bürger, der für die Nutzung des Verkehrssystems viel Geld bezahlt, erwartet von den politisch Verantwortlichen zu Recht Lösungen der bestehenden Mobilitätsprobleme. ({9}) Der Autofahrer in Deutschland wird kräftig zur Kasse gebeten. Von jedem Euro, den er an der Tankstelle bezahlt, fließen 73 Cent in die Kasse des Finanzministers. ({10}) Noch nie waren die Belastungen im Bereich des Straßenverkehrs so hoch wie heute: Die Einnahmen durch die KFZ- und Mineralölsteuer summieren sich auf 45 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kommt die weder ökologisch noch ökonomisch sinnvolle Ökosteuer. Wir sind inzwischen bei der fünften Stufe. ({11}) Daraus sind dem Fiskus noch einmal insgesamt 5 Milliarden Euro zugewachsen. Damit summieren sich die steuerlichen Belastungen des deutschen Autofahrers auf 50 Milliarden Euro. Das sind 17 Milliarden Euro mehr als vor zehn Jahren. Sie können also der Öffentlichkeit nicht vermitteln, dass es für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur am Geld fehlt. Der Autofahrer zahlt dafür bereits, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({12}) Ich weiß, es tut weh, den Autofahrern zu sagen: Wir kassieren ab, tun aber gleichzeitig nichts für die Straßen. ({13}) - Die Unruhe spricht für sich. Wenn einer Abgabenlast auf den Straßenverkehr in Höhe von rund 50 Milliarden Euro jährlich weniger als 5 Milliarden Euro Investitionsausgaben in die Bundesfernstraßen gegenüberstehen, ist das so nicht hinnehmbar. ({14}) Wer zwei Tage vor der Bundestagswahl übereilt einen Mautvertrag abschließt ({15}) und sich publikumswirksam feiern lässt, darf sich nicht wundern, wenn er dann, wenn es nicht funktioniert, auch die Kritik einstecken muss. ({16}) Tatsache ist doch, dass Sie sich schon vor vier Jahren, im September 2000, für ein so genanntes Anti-StauProgramm mit großem Presserummel haben feiern lassen. Sie sagten, dass zur Engpassbeseitigung auf Straßen, Schienen und Wasserstraßen die Einnahmen aus der LKW-Maut verwendet werden sollten und Programmstart sei der 1. Januar 2003. Sie sagten auch, das Programm ermögliche gegenüber dem Normalprogramm zusätzliche Investitionen. Wie Sie hier gehandelt haben, war doch unseriös. ({17}) Die Tragik ist, dass nicht nur die Maut nicht funktioniert hat, sondern dass auch Ihr Controlling völlig unzureichend war. Hinzu kommt, dass Sie im Bereich der Verkehrs- und Baupolitik die anderen Themen haben liegen lassen. Noch nie hat eine Regierung die Menschen und die Bauwirtschaft so verunsichert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan haben. ({18}) Was im Verhältnis von Bahn und Bundesregierung abläuft, ist ohnehin ein Jammerspiel. ({19}) Wer bestimmt eigentlich über Investitionen auf und bei der Schiene? Nicht die Bahn stellt den Bahnminister; vielmehr hat der Verkehrsminister des Bundes diese Aufgabe wahrzunehmen. Er muss entscheiden, was in Deutschland in die Schiene investiert werden soll und wie viel man braucht, niemand anders. ({20}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, denken Sie daran, dass Sie Ihren gesamten Bundesverkehrswegeplan darauf aufgebaut haben, die Leistungen des Schienengüterverkehrs bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln! Das ist Ihr hoher Anspruch. Wie wollen Sie ihn erfüllen? Wenn es nicht gelingt, der Schiene die notwendigen Investitionsmittel zu geben, dann bleibt die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene eine Utopie. ({21}) Die Infrastruktur ist in Not. Sie müssen der Infrastruktur mehr Gewicht geben, sie braucht höhere Investitionen. Das Verkehrssystem darf für die Wirtschaft nicht zur Wachstumsbremse werden. In diesen Tagen fallen wichtige Entscheidungen über Baubeginne. Es reicht natürlich nicht, wenn Sie bis auf die Projekte zur Fußballweltmeisterschaft 2006 kaum Baubeginne ermöglichen. Das geht nicht an. Dann werden wir in Deutschland total im Stau stehen. ({22}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ja, Herr Kollege, ich würde darum bitten.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jede Ortsumgehung ist Menschenschutz. Wir müssen alle miteinander zur Kenntnis nehmen: Verkehrsinvestitionen sind keine Subventionen, ({0}) sondern notwendig für unser Land, für Arbeitsplätze. Sie sind Zukunftsinvestitionen. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, Manfred Stolpe. ({0})

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005316

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Abgeordneter Oswald, ich möchte Ihnen ausdrücklich für das Zitat aus dem Bundesverkehrswegeplan danken. Es stimmt; dabei bleibt es. Der Bundesverkehrswegeplan bleibt auch. Ich muss Sie nur ganz herzlich bitten, sich nicht darüber hinwegzusetzen, dass die Finanzen für den Einzelplan 12 von den dafür zuständigen Organen beschlossen werden, also von Bundestag und Bundesrat. Sie haben eine Entscheidung getroffen, die uns jetzt Sorgen macht, nämlich dass Zuschüsse zu Verkehrsinvestitionen als Subventionen gewertet werden. Mit diesem Thema werden wir noch zu tun haben. Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir im Moment etwas zögerlich an die Auftragsvergabe herangehen. Ich will hier keine Namen nennen; es ist inzwischen deutschlandweit bekannt, wie das zustande gekommen ist. ({0}) Es hat auch die Unterstützung von Menschen gefunden, die seit vielen Jahren im Bereich der Verkehrsinvestitionen tätig sind und eigentlich wissen müssten, was da auf sie zukommt und was wir nun wieder aus dem Wege räumen müssen. Als diejenigen, die die Herrschaft über den Haushalt haben, wissen Sie natürlich auch, dass das Haushaltsrecht nicht zulässt, Aufträge auszuschreiben, wenn die Mittel nicht vorhanden sind und auch mit Blick auf die Folgejahre keine Sicherheit besteht. Das ist in der Tat eine Herausforderung, vor der wir stehen und mit der wir uns auseinander setzen. Dabei ducken wir nicht ab. Ich habe aber auch eine gute verkehrspolitische Nachricht. Sie soll ein wenig über den Streit dieser Tage hinwegführen. Wir haben nach langen Bemühungen vor wenigen Tagen erreicht, dass ein wichtiges europapolitisches Verkehrsvorhaben mit Symbolkraft im sächsischen Zittau jetzt endlich realisiert werden kann. Darüber ist genau 13 Jahre verhandelt worden. ({1}) Es gab viele Unsicherheiten und es kam immer wieder zu Unterbrechungen der Verhandlungen. Es gab Vertragsentwürfe, die uns hoffen ließen, diese Straße, die um Zittau herum durch drei Länder führt und ins Tschechische sowie ins Polnische reicht, endlich zu bauen; dann hat es wieder eine Verschiebung gegeben. Jetzt herrscht Klarheit. Wir werden in wenigen Tagen einen Vertrag unterzeichnen können. Am 1. Mai werden die Regierungschefs der drei beteiligten Länder in einem symbolischen Akt den ersten Spatenstich vollziehen können. Das ist handfeste Europapolitik, die im Rahmen von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen gestaltet werden kann. Ich bin allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Verwaltungen des Bundes und des Freistaats Sachsen sehr dankbar, die mit viel Geduld, Fantasie, Kreativität und gelegentlich auch Demut geholfen haben, endlich zu diesem Ergebnis zu kommen; denn die Osterweiterung wird kommen. Dafür wollen wir gerne Symbole errichten. In diesem Zusammenhang brauchen wir Verkehrsinvestitionen. ({2}) - Da ich Ihren Einwurf gut gehört habe, will ich Ihnen sagen: Wir sind auf die Osterweiterung wirklich gut vorbereitet. ({3}) Wir wissen, dass sie eine große Herausforderung für uns ist. Wir wissen aber auch um die Sorgen der Menschen. Manche befürchten, dass ab dem 1. Mai dieses Jahres geradezu eine Lawine zusätzlichen Verkehrs auf uns zurollen wird. Hierzu will ich ganz klar sagen: Das wird nicht so sein. Denn erstens entwickeln sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn seit Jahren kontinuierlich weiter. Deshalb wird der 1. Mai dieses Jahres keinen explosionsartigen Aufwuchs bedeuten. ({4}) Zweitens haben wir auch die nötigen Vorbereitungen für den anstehenden Ausbau und die Modernisierung miteinander getroffen. Wir haben bereits große Transitstrecken modernisiert und ausgebaut. Hier erinnere ich an die A 2 und die A 4. Die anderen Projekte laufen planmäßig weiter. Auch die Diskussion, die wir gerade geführt haben, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die A 6, die A 8, die A 17 und die A 20 weitergebaut werden; ({5}) all dies sind Strecken, die viel mit den entsprechenden Verkehrsverbindungen zu tun haben. Die 24 für den Verkehr zwischen Tschechien, Polen und Deutschland besonders bedeutsamen Projekte sind darüber hinaus im Bundesverkehrswegeplan 2003 als Projekte im Rahmen der EU-Osterweiterung gesondert aufgeführt. Sie alle sind als vordringlicher Bedarf und als internationale Projekte eingestuft. Auch im Rahmen der diesbezüglichen Debatten in der Europäischen Union haben wir dafür Sorge getragen, dass sie als Transeuropäische Netze anerkannt worden sind. ({6}) Aber, meine Damen und Herren, das kostet Geld. Allerdings handelt es sich hierbei um Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Für diese Regierung galt es 1998 ja zunächst, die vorgefundene Unterfinanzierung von Verkehrsinvestitionen zu beenden. ({7}) Das war die erste Aufgabe, die wir erfüllen mussten. Ich muss Sie ja nicht an die entsprechenden Zahlen erinnern, die wir vorgefunden haben. Die Bundesregierung hat 1999 schnell Entscheidungen getroffen. Erstens wurden Umschichtungen vorgenommen, sodass im Startjahr - sozusagen als Erste Hilfe - rund 10 Milliarden Euro zur Verfügung standen. Zweitens wurde die PällmannKommission eingesetzt, die konkrete Vorschläge zur Aktivierung zusätzlicher Mittel erarbeitet hat. Die Ergebnisse waren, dass wir deutlich mehr Investitionen und eine Maut brauchen. Deshalb haben wir beschlossen, die streckenbezogene Maut für den Schwerlastverkehr einzuführen und die Mauteinnahmen für Verkehrsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Nach zwei gescheiterten Starts - Sie haben daran erinnert, dass diesen Vorgängen gelegentlich auch ein Hauch von Abenteuer anhaftete - haben wir mit den Unternehmen inzwischen ein gutes Maß an Verlässlichkeit und Sicherheit erreichen können. Uns wurde ein plausibler und nachvollziehbarer Zeitplan vorgelegt, nach dem spätestens am 1. Januar 2005 Einnahmen erzielt werden. Als deutlicher Beleg dafür, dass die Unternehmen auch selbst an ihre Technik glauben, ist zu werten, dass sie höheren Vertragsstrafen und einer Haftung in durchaus angemessener Höhe zugestimmt haben. Deshalb sind wir bereit, das LKW-Mautsystem auch weiterhin mit dem bestehenden Konsortium aufzubauen. Uns geht es nun darum, dass das Unternehmen mit der neuen Mannschaft, die inzwischen zur Verfügung steht, schnell und zuverlässig den Aufbau des Systems fortsetzt und damit auch Transparenz und Sicherheit für die beteiligten Unternehmen schafft. Meine Damen und Herren, in unserer heutigen Plenardebatte ist mir wichtig, Folgendes deutlich zu sagen: Das Fehlen von Mauteinnahmen konnte im Haushaltsausschuss am 3. März dieses Jahres dadurch ausgeglichen werden, dass die vorgesehenen Mittel des Einzelplans 12 vollständig zur Verfügung gestellt wurBundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe den. Mautausfälle haben damit keine Streichung von Verkehrsprojekten zur Folge. ({8}) Für die Gegenfinanzierung haben wir eine vertretbare Lösung gefunden; das ist auch im Haushaltsausschuss und im Verkehrsausschuss erörtert worden. Damit werden wir 2004 alle begonnenen Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs weiterbauen können. Wir werden auch wichtige Neubaumaßnahmen gestalten; die Entscheidungen fallen in diesen Tagen. ({9}) Sorgen erwachsen uns, wie vorhin schon angedeutet, aus der Tatsache, dass auf dem Haushalt 2005, der noch nicht beschlossen ist, eine Hypothek lastet, ({10}) die Sie alle mitzuverantworten haben, nämlich die Einstufung von Investitionszuschüssen als Subventionen. ({11}) Diese Unsicherheit wollen wir ausräumen. Wir wollen die neu geplanten Investitionen angehen, aber können im Jahr 2004 - das wissen Sie als Profis genau - keine Entscheidungen für mehrjährige Investitionen treffen, weil man ab 2005 Verpflichtungsermächtigungen bräuchte. Da das nicht geht, können wir solche Maßnahmen noch nicht starten. Wohl aber werden wir mit Blick auf die Jahre 2005 und 2006 einige besonders dringliche Vorhaben in Gang setzen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005316

Ich mache erst einmal weiter. - Wir bleiben dabei: Was haushaltsrechtlich gesichert ist, wird sofort entschieden; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die weiteren Entscheidungen treffen wir sofort, wenn wir Klarheit über den Haushalt 2005 haben. Ich gehe davon aus, dass wir für den Haushalt 2005 die vordringlichen Verkehrsinvestitionen gewährleisten können und diesbezüglich hier eine breite Übereinstimmung erreicht wird. Es gibt wohl niemanden in diesem Saal, der nicht weiß, wie bedeutsam Verkehrsinvestitionen sind: für unser Land, für die Mobilität der Menschen - besonders für diejenigen, die pendeln müssen - und nicht zuletzt für die Arbeitsplätze. Diese Debatte haben wir noch vor uns; auch da werden wir, denke ich, zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. ({0}) Ich bitte, in dem Zusammenhang noch einmal herausstellen zu dürfen, dass der Bundesverkehrswegeplan bereits jetzt eine große Zahl laufender und fest disponierter Vorhaben enthält: 600 Projekte laufen, sie werden weitergeführt. Ein Finanzierungsvolumen von 29 Milliarden Euro steht zur Verfügung. Auch auf diese Weise wird zum Ausdruck gebracht, wie bedeutsam für uns alle die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind. Die große Bedeutung, die wir der Schiene zumessen, ist in den letzten Jahren durch die Investitionssummen herausgestellt worden: Wir haben trotz Haushaltskonsolidierung durchschnittlich rund 3,8 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung gestellt; gestartet sind wir - daran darf ich erinnern - mit 2,7 Milliarden Euro. Diese Regierung hat also einen ganz erheblichen Schritt nach vorne getan. Auch zukünftig werden wir die Grundsanierung des bestehenden Netzes und die zeitnahe Fertigstellung ausgewählter Vorhaben gewährleisten. ({1}) Wir sind dabei, bei den neu zu beginnenden Schienenvorhaben - die bereits begonnenen werden selbstverständlich weitergeführt - kurzfristig eine Priorisierung vorzunehmen. Wir sind mit der Bahn im Gespräch, um zu Verständigungen zu kommen. Ich bin überzeugt, dass Investitionen in das Schienennetz für die Bewältigung des wachsenden Verkehrsaufkommens - sowohl im Personen- wie auch im Güterverkehr - unverzichtbar sind. Dies gilt in besonderem Maße für die Fertigstellung der noch nicht vollendeten Verkehrsprojekte wie zum Beispiel des VDE 8.1/8.2, Leipzig/Halle-Erfurt-Nürnberg. Diese Maßnahme hat neben ihrer rein wirtschaftlichen Bedeutung hohe Symbolkraft für das Zusammenwachsen Deutschlands und Europas. Sie wird weitergeführt. ({2}) Alle Behauptungen, dass sie unterbrochen, abgebrochen, gar nicht erst begonnen wird, weise ich hier zurück: Das trifft nicht zu. ({3}) Im internationalen Verkehr werden wir den europäischen Einigungsprozess auch durch Investitionen in die Infrastruktur stützen. In Deutschland kommen dem nördlichen und dem südlichen Ast der Eisenbahnstrecke Paris-Ostfrankreich-Südwestdeutschland große Bedeutung zu. Dazu haben wir Absprachen getroffen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass unsererseits dieses europäische Projekt zeitgerecht fertig gestellt werden kann. Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun. Wir befinden uns zurzeit mit Blick auf das Jahr 2005 in einer Phase der Unsicherheit. Deshalb möchte ich hier eine Binsenweisheit vortragen, die vermutlich noch von vielen von Ihnen vorgetragen werden wird: Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur bedeuten wirtschaftlichen Fortschritt, sie sichern Mobilität und vor allem Arbeitsplätze. Das ist einfach wahr. Wir von der Regierung wissen das und werden das beachten. 1 Milliarde Euro an Investitionen in Straße, Schiene oder Wasserstraße bedeuten 24 000 Arbeitsplätze. Wer wie wir um Arbeitsplätze ringt, der wird das nicht vergessen und dafür Sorge tragen, dass die Mittel zur Verfügung stehen. ({4}) Ich möchte Sie alle herzlich bitten, bei allen Auseinandersetzungen - die auch der Belebung des Geschäftes dienen - zu bedenken: Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sind Langzeitvorhaben und sind nicht an Wahlperioden orientiert. Wir sind bemüht - das kann ich Ihnen angesichts meiner Erfahrungen aus der politischen Zusammenarbeit in der Koalition versichern -, unseren Verpflichtungen nachzukommen, und werden die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Wir brauchen Mobilität. Mobilität ist ein Hauptfaktor für die Sicherung unserer Zukunft. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich war wirklich gespannt, ob Sie Ihre nicht zu widerlegende Aussage, es müsse mehr Investitionen in die Verkehrswege geben, heute mit Zahlen, Zeithorizonten und konkreten Fakten belastbar unterlegen. Doch mit dem, was Sie geboten haben, haben Sie aus meiner Sicht eher gezeigt, dass Sie sich eine eigene Realität geschaffen haben. Offensichtlich leben Sie in einer ganz anderen Welt, die mit der Realität im Verkehrswegebau draußen im Land nichts gemein hat. Mehr kann ich dazu nicht sagen. ({0}) Sie berufen sich auf den Haushaltsausschuss und sagen, schließlich habe er die Entsperrung aufgehoben. Das ist richtig, nur: Geld, das im Haushaltsansatz nicht zur Verfügung steht, mag gesperrt sein oder nicht - es ist und bleibt nicht vorhanden. Man muss sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, was Sie als „seriöse Gegenfinanzierung“ bezeichnen: Sie stellen mal eben 1 Milliarde Euro ein, die aus einem Schiedsgerichtsverfahren mit Toll Collect kommen soll, das noch gar nicht begonnen hat und von dem kein Mensch weiß, wann es enden und wie viel Geld überhaupt herausspringen wird. Das geht nach dem Prinzip „Glaube und Hoffnung“; so viel zum Thema Seriosität der Haushaltszahlen. Ein anderes Beispiel. Sie nehmen sich 1 Milliarde Euro von der Deutschen Bahn und sagen: Nehmt diesen Betrag am freien Markt auf, aber die Zinslasten bleiben bei euch! - Dafür darf die Bahn noch bisher zinslose Baukostenzuschüsse vorzeitig tilgen; das macht im Volumen 2 Milliarden Euro. In der Situation, in der sich die Bahn derzeit befindet - ich komme noch darauf zu sprechen -, kann Herr Mehdorn das machen, aber es ist keine Antwort auf die Probleme des Wirtschaftsstandortes Deutschland. ({1}) Bei Investitionen in Verkehrswege geht es um mehr als nur um Sicherung von Mobilität. Infrastruktur war bisher einer der entscheidenden Standortfaktoren, wenn es um Firmenansiedlungen in Deutschland und um die Schaffung von Arbeitsplätzen ging. Nur wenn Infrastruktur und Verkehr funktionieren, ist man bereit, zu investieren. ({2}) Das kann man nachweisen. Aber Sie sind in Ihrer Regierungszeit dabei, diesen Vorteil zu verschenken. Herr Minister, am meisten ärgert mich, dass Sie nun die Herren Koch und Steinbrück in die Schurkenrolle hineindrängen und etwas behaupten, was gar nicht stimmt. ({3}) Im Koch/Steinbrück-Programm steht mit keinem Wort, dass die Höhe der Straßenbauinvestitionen reduziert werden soll. Das haben Sie und nur Sie hineininterpretiert. ({4}) Das wird auch nicht dadurch besser und intelligenter, dass Sie jetzt von sich aus E-Mails an alle Bundesländer herausschicken, in denen steht, welche Verkehrsprojekte nicht mehr abgewickelt werden können. Wenn es stimmt, was Pro Mobilität geschrieben hat, dann haben sich Koch/Steinbrück auf eine Ausarbeitung des Deutschen Instituts für Wirtschaft und den dortigen Subventionsbericht bezogen. In diesem steht dezidiert, dass Straßenbau kein Subventionsbegriff ist. Man höre und staune: Wegen des hohen Einnahmenüberschusses des Bundes aus dem Straßenverkehr kämen die Kieler Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zu dem Schluss, Straßenbauinvestitionen seien eindeutig nicht als Subventionen einzuordnen. „Es gibt keine Subvention des Straßenbaus und damit auch keinen Subventionsabbau.“ Genau das wollen Sie mit aus unserer Sicht völlig falschen Behauptungen widerlegen. Dieser Punkt muss einmal deutlich gemacht werden. ({5}) Da wir gerade bei den Zahllasten und dem Rückfluss in die Verkehrsträger sind und da das Ganze vor dem Hintergrund geschieht, dass die Bahn im Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern angeblich benachteiligt wird, ist es interessant, sich einmal zu vergegenwärtigen, wer was tatsächlich zahlt und was man dafür erhält. Wenn Ihre eigenen Zahlen in der vom Bundesministerium herausgegebenen Broschüre „Verkehr in Zahlen“ und auch die Charts der Bahn stimmen, dann zahlen die Verkehrsteilnehmer auf der Straße - Kollege Oswald hat das bereits gesagt - im Jahre 2004 48 Milliarden Euro. Horst Friedrich ({6}) Davon haben Sie aufgrund der Maßnahmen seit Ihrer Regierungsübernahme im Jahre 1998 rund 16 Milliarden Euro zu verantworten. Der Rückfluss an den Verkehrsträger Straße beträgt seit 1994, also seit der Umsetzung der Bahnreform, 53 Milliarden Euro, während sich die kumulierten Einnahmen aus dem Straßenverkehr in dieser Zeit auf 390 Milliarden Euro beliefen. Schauen wir uns einmal an, wie die entsprechenden Zahlen bei der Bahn aussehen: Die Bahn zahlt nach eigenen Angaben 380 Millionen Euro im Jahr; seit der Bahnreform kommt man so auf zusammengerechnet etwa 2,5 Milliarden Euro. Das ist fürwahr eine beachtliche Zahl, die sich aber relativiert, wenn man weiß, dass die Bahn in dieser Zeit knapp 200 Milliarden Euro erhalten hat - und das, obwohl dieser Verkehrsträger im Schnitt nur knapp 8 Prozent der Verkehrsleistungen erbringt. Hier muss man ansetzen. ({7}) Deswegen ist das, was Sie hier vorschlagen, nicht sachgerecht, sondern rein ideologisch bedingt. Das setzt sich auch beim Verkehrsträger Binnenschifffahrt und bei den Wasserstraßen fort. ({8}) Was nützt denn das von Ihnen beauftragte und groß verbreitete Planco-Gutachten, in dem definitiv steht, dass Investitionen in Kanäle notwendig sind, um der Binnenschifffahrt die Chance zu geben, wenigstens im Containerverkehr Umsätze zu erzielen, wenn Sie weiterhin aus ideologischen Gründen unsere Anträge ablehnen, die Brücken über den Kanälen zu erhöhen - angeblich soll das die Hochwassergefahr erhöhen -, damit Schiffe mit einer größeren Anzahl an Containerlagen dort durchfahren können? Sie müssen mir schon einmal erklären, wie die Hochwassersituation in Deutschland durch das Anheben einer Brücke beeinträchtigt werden soll. Die Realitätsferne der Argumentation Ihres Hauses und Ihrer Koalitionsfraktionen ist nicht mehr zu überbieten. Das setzt sich bei der Luftfahrt in gleicher Weise fort. Herr Minister, jetzt komme ich zur eigentlichen politischen Verantwortung. Sie wussten ganz genau, dass die Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen - diese haben Sie in letzter Zeit noch ein wenig gestützt - Ende des Jahres 2003 auslaufen. Vor diesem Hintergrund war Ihnen sicherlich auch bewusst, dass nur durch ein funktionierendes Maut-System einigermaßen dafür gesorgt werden kann, dass die Höhe Ihrer Investitionen konstant bleibt. Diese war trotz der steigenden Steuerbelastungen nur maximal genauso hoch, wie bei uns von 1994 bis 1998; erlauben Sie sich einmal nicht nur den Blick auf das Jahr 1998, sondern auch auf die Jahre davor. Trotz der eingerechneten Erlöse aus dem Verkauf der UMTSLizenzen und aus der Maut erreichen Sie in Ihrem Haushaltsansatz bei einer gegenüber unserer Zeit deutlich gestiegenen Steuerbelastung für die Verkehrsteilnehmer nur eine Investitionshöhe von knapp 10 Milliarden Euro. Diesen Vergleich nehme ich gerne auf. Bezogen auf die Verkehrsinvestitionen der schwarz-gelben Regierung lasse ich mich sicherlich nicht an die Wand stellen. ({9}) Ganz zu schweigen davon, dass Sie jetzt offensichtlich immer noch nicht wissen, wie es Sinn machen würde, haben Sie hier noch einigen Nachholbedarf. ({10}) Herr Kollege Schmidt, es geht nicht darum, der Schiene nun etwas wegzunehmen. Es geht schlicht darum, knappe Mittel am effektivsten einzusetzen. In diesem Fall muss man sich auch die Verkehrsleistungen anschauen. Nächstes Thema. Mit dem, was Sie jetzt machen, legen Sie endgültig die Axt an die Wurzeln der mittelständischen Straßenbauunternehmen: Bei der Schiene wollen Sie nur noch Erhaltungsaufwand betreiben. Die Bahn kauft mittlerweile Gleisbettungsmaschinen, obwohl diese am freien Markt flächendeckend vorhanden sind, um auch diese Aufgaben selber zu machen. So wird die mittelständische Bauwirtschaft endgültig abgewürgt. Entsprechende Briefe aus diesem Bereich bestätigen es: Diese gewachsenen, qualitativ hochwertigen Unternehmen der Bauwirtschaft sind von Ihrer Investitionspolitik getroffen. Auch darum könnten Sie, Herr Minister, sich einmal kümmern. Schließlich geht es um Arbeitsplätze, und zwar hauptsächlich in der mittelständischen Bauindustrie. ({11}) Ein Letztes: Vor dem Hintergrund der Diskussionen um die vorhandenen Mittel macht es Sinn, noch einmal ernsthaft über bestimmte Verkehrswegeführungen auf der ICE-Trasse zwischen Offenburg und Freiburg - ich weiß, dass auf der Tribüne eine Besuchergruppe aus Südbaden sitzt - nachzudenken, bevor hierfür Geld ausgegeben wird. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, der unter vielen anderen hier ebenfalls zu beraten ist. Ich empfehle ihn nicht nur Ihrer Beachtung, sondern auch Ihrer Zustimmung. Wir werden sehen, wie konkret und belastbar Ihre Fakten sind. Ich fürchte, die deutsche Bauindustrie ist bei Ihnen verlassen. Danke sehr. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe von diesem Pult wiederholt und deutlich davor gewarnt: Das Konzept, das die Herren Koch und Steinbrück erarbeitet haben, ist nicht der Rasenmäher zum Abbau von Subventionen, sondern die Axt im Wald der Investitionen. Was den Verkehrswegebau in Deutschland angeht, ist das die brutalste Kürzungsorgie, die ich bisher erlebt habe. Es lohnt sich, verehrter Herr Kollege Friedrich, ein paar Takte darüber zu verlieren, was Koch und Steinbrück zur Grundlage gemacht haben ({0}) - habe ich wirklich „Grund“ gesagt, dass sich der Kollege sofort zu einer Zwischenfrage meldet? ({1}) und was im Vermittlungsausschuss daraus gemacht wurde.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aus grundsätzlichen Erwägungen immer.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da mich der verehrte Herr Kollege Schmidt angesprochen hat, ({0}) stelle ich eine Zwischenfrage. - Lieber Kollege Schmidt, zum wiederholten Male werden in der Debatte die Namen Koch und Steinbrück und ihre Vorschläge zur Subventionskürzung genannt. Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass sich diese Kürzungen nicht auf die Verkehrswege beziehen. ({1}) Würden Sie mir bestätigen, dass die Einsparungen, die der Bundesverkehrsminister im Zuge einer globalen Minderausgabe zur Stützung der Rentenkassen zu erbringen hat, mehr als doppelt so hoch sind wie alle Einsparungen, die mit dem Koch/Steinbrück-Papier einhergehen? Stimmen Sie mir zu, dass dies nicht von den Herren Koch und Steinbrück zu verantworten ist, sondern dass der Bundesfinanzminister das in diesen Haushalt gedrückt hat? ({2})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Grund, Ihre Frage gibt mir die Gelegenheit, mich mit dem auseinander zu setzen, was ich ohnehin vorgetragen hätte - allerdings außerhalb der Redezeit; das ist Pech, dass Sie die Zwischenfrage so früh gestellt haben -, nämlich was wirklich in dem Koch/ Steinbrück-Papier steht. Ich fange mit dem letzten Punkt an, den Sie angesprochen haben. Es ist richtig, dass in dem Papier von Kürzungen - einseitigen Kürzungen: nur zulasten des Schienenbaus! - die Rede ist, und zwar in Höhe von rund 300 Millionen Euro im ersten Jahr, 600 Millionen Euro im zweiten Jahr und 900 Millionen Euro im dritten Jahr. ({0}) Additiv zu diesen Kürzungen wäre in diesem Haushaltsjahr und - wenn es nach dem Willen des Bundesfinanzministers geht - in den folgenden Haushaltsjahren eine Summe abzuziehen, die sich aus der globalen Minderausgabe zur Rentenfinanzierung und der Rückzahlung für die Zwischenfinanzierung der Mautausfälle aus den Jahren 2003 und 2004 zusammensetzt. Das zumindest stellt sich der Bundesfinanzminister an dieser Stelle vor. In dem Papier steht aber auch - das wollen wir nicht verheimlichen -: Einseitige Kürzungen zulasten der Schiene bedeuten Eingriffe an einer völlig falschen Stelle, nämlich allein im investiven Bereich. 68 Prozent der Mittel, die als Ergebnis der Verhandlungen des Vermittlungsausschusses über das Koch/Steinbrück-Papier gekürzt werden sollten, betreffen den Einzelplan 12, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Das heißt im Klartext, dass erstens einseitig zulasten des Verkehrs- und Bauetats gekürzt werden soll, zweitens einseitig zulasten der Schiene und drittens - jetzt kommt der eigentliche Kardinalfehler - wird in dem Papier ein verlogener und grundfalscher Investitions- und Subventionsbegriff zugrunde gelegt. Dort steht nämlich, Subventionen würden abgebaut, in Wahrheit aber sind Investitionen gemeint. Das ist der eigentliche Fehler: Investitionen sind keine Subventionen, Investitionen sind die Voraussetzungen für die Zukunft. ({1}) Ein Unternehmen, das aufhört, zu investieren, gibt sich selbst auf. Ein Land, das Investitionen in dieser Größenordnung in so kurzer Zeit abbremst, begräbt seine eigenen Zukunftschancen. Deshalb darf dieses Horrorszenario - ich hoffe, wir sind uns darin einig - nicht Wirklichkeit werden. Es darf nicht sein, dass wir diesen Weg in den nächsten Jahren beschreiten. ({2}) Wir konnten - Herr Kollege Friedrich, da haben Sie völlig Recht - diese Grausamkeit dem Betrag nach nicht abwenden. Wir konnten aber wenigstens dafür sorgen, dass es nicht einseitig die Schiene trifft, sondern diese Grausamkeit auf alle Verkehrsträger verteilt wird. Das ist nicht schön. Es wäre aber sonst für die Schiene überhaupt nicht mehr erträglich gewesen. Albert Schmidt ({3}) Jetzt zur Frage, wer warum verantwortlich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, Sie können sich Ihre Krokodilstränen über diese Investitionskürzungen sparen. Ich will Ihnen sagen, warum. Union und FDP waren es, die sich im Dezember 2003, als es im Vermittlungsausschuss um diese Sache ging, geweigert haben, an die wirklichen Subventionen in einer nennenswerten Größenordnung heranzugehen. ({4}) Ich nenne Ihnen die Beträge: fast 10 Milliarden Euro pro Jahr für die Eigenheimzulage, 6 Milliarden Euro pro Jahr für die Pendlerpauschale. Wer hat denn damals gesagt, man dürfe das nicht antasten? Das sind wirkliche Subventionen. Sie haben sich verweigert. Wir haben die Halbierung der Pendlerpauschale und stärkere Einschnitte bei der Eigenheimzulage hier im Bundestag mit unserer Mehrheit beschlossen. Das haben Sie verhindert. ({5}) Deshalb brauchen Sie keine Krokodilstränen zu vergießen. Ich werde Ihnen kein Taschentuch reichen. ({6}) Sie sind hauptverantwortlich für den Schlamassel, in dem wir uns jetzt befinden. ({7}) Zusammen mit diesen weiteren Kürzungen, die ich ausgeführt habe, bedeutet das, was sich jetzt abzeichnet, Folgendes: Ab sofort verringern sich die Bundesmittel für den Verkehrswegebau gegenüber der bisherigen Mittelfristplanung Jahr für Jahr um mehr als 600 Millionen Euro - im Jahr 2004 haben wir ein Minus von 670 Millionen Euro, im Jahr 2005 ein Minus von 1,46 Milliarden Euro und im Jahr 2006 ein Minus von 1,9 Milliarden Euro -, um dann in den Jahren danach auf einem Niveau von etwa 7,6 Milliarden Euro gegenüber den ursprünglich geplanten 9,5 Milliarden Euro zu verharren. Das würde bedeuten, dass wir nach diesem Szenario im Jahr 2006 so schlecht wären wie im Jahr 1997/98, als Sie aufgehört haben. Wir wären nur noch bei 7,5 Milliarden Euro und damit genauso schlecht wie seinerzeit Wissmann und Waigel. Das wollen wir doch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({8}) Wenn dieser Horrorweg eingeschlagen wird - auch das muss man deutlich sagen -, ist der neue Bundesverkehrswegeplan, der als Grundlage 9,9 Milliarden Euro pro Jahr vorsieht, Makulatur, ehe wir ihn überhaupt verabschiedet haben. ({9}) Dann würde nicht einmal die Hälfte der Projekte, die darin stehen, anständig zu finanzieren sein. Für die Schiene wird es noch schlimmer. Für die Schiene bedeutet dieses Szenario, dass der Neubau von Strecken in Deutschland schrittweise zum Erliegen kommt. Bezahlbar wären nur noch die Modernisierung des Bestandsnetzes - immerhin das -, die Fertigstellung laufender Baumaßnahmen und vielleicht einige wenige Einzelmaßnahmen, an die man sich noch herantraut. Das ist die bittere Wahrheit, wenn wir das in den nächsten Haushaltsberatungen tatsächlich so umsetzen sollten. Deshalb appelliere ich in allem Ernst an Sie - ich schaue immer in Ihre Richtung, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Mehrheit im Bundesrat haben; die Subventionen bei der Pendlerpauschale und bei der Eigenheimzulage können wir nun einmal nicht ohne den Bundesrat abbauen -: ({10}) Wir müssen uns gemeinsam anstrengen! Das Ganze ist nicht allein ein verkehrspolitisches Thema, sondern das ist auch Konjunkturpolitik: Eine Investitionskürzung von 1 Milliarde Euro ist eben nicht eine schlichte Einsparung in dieser Höhe, sondern verursacht Folgekosten. Das hat Auswirkungen auf die Sozialkassen, auf die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung. Deshalb müssen wir an die echten Subventionen herangehen. Es ist Wahnsinn, dass jedes Jahr öffentliche Mittel in Höhe von fast 10 Milliarden Euro für den Bau von Eigenheimen eingesetzt werden, für den es in den meisten Regionen des Landes gar keinen Bedarf mehr gibt. Es ist Wahnsinn, dass Herr Stoiber und andere bei der Pendlerpauschale unbedingt die Spendierhosen anbehalten wollen. ({11}) Aber dass der Pendler mit einer immer stärker verkommenen Straße und einem immer stärker verkommenen Schienennetz zu tun hat, soll uns egal sein? ({12}) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen an der richtigen Stelle Einsparungen vornehmen, und zwar bei der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale. Subventionsabbau im echten Sinne des Wortes ist die Chance, die wir haben und die wir nutzen sollten. ({13}) Wir werden Ihnen das nicht ersparen. Sie können dann im Bundesrat erklären, warum Sie für den Abbau echter Subventionen nicht zu haben sind. Ich appelliere an Sie: Überlegen Sie es sich noch einmal! Gehen Sie mit uns diesen Weg, wenn Sie es mit der Erhöhung der Verkehrsinvestitionen, die wir dringend brauchen, ernst meinen! Albert Schmidt ({14}) Solange Sie uns im Bundesrat nicht helfen, den drohenden Irrweg zu verlassen und Kürzungen von Staatszuschüssen an der richtigen Stelle vorzunehmen, können Sie sich Ihr Lamento sparen und brauchen Sie mir nicht vorzusingen, wie schlimm das alles ist. ({15}) Sie haben als Mehrheitspartei im Bundesrat eine große Verantwortung. Bitte denken Sie in einer ruhigen Stunde darüber nach und lassen Sie uns gemeinsam umsteuern. Wir stehen dafür sofort zur Verfügung. Ein Signal von Ihnen genügt und wir holen uns über den Bundesrat die notwendigen Mittel bei der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale. Wir haben kein Problem damit. Das wollten wir von Anfang an, aber Sie haben es bisher verhindert. ({16}) Lassen Sie uns bei allem gemeinsamen Impetus, den wir, denke ich, doch haben, ({17}) in der Diskussion über die Verkehrsprojekte ehrlich sein, liebe Frau Kollegin Blank, und in absehbarer Zeit nur die Maßnahmen fordern, die wirklich finanzierbar sind, und zwar unabhängig davon, ob mit oder ohne Kürzungen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Weiterfinanzierung der ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt. ({18}) Liebe Frau Kollegin, ich schenke Ihnen zu Weihnachten einen Taschenrechner. Dann können Sie ausrechnen, wie lange es dauert, wenn wir dieses Projekt - ich rede von dem Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1, die ICE-Ausbau- und Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt ({19}) mit dem Finanzierungstempo, das Sie uns hinterlassen haben und das in den vergangenen Jahren in etwa fortgesetzt wurde, nämlich mit 100 Millionen Euro pro Jahr, fortsetzen. Es fehlen noch 4,5 Milliarden Euro, die zu investieren sind. Etwa 500 Millionen Euro sind bis Ilmenau bereits verbaut worden. Wie lange dauert es - das ist die Preisfrage -, bis man bei einem Budget von 100 Millionen Euro pro Jahr 4,5 Milliarden Euro investiert hat? ({20}) Es würde 45 Jahre dauern. Deswegen macht es nur dann Sinn, ein solches Großprojekt anzupacken, wenn man klotzen kann, wenn man große Beträge einsetzt. Mit Kleckern kommt man nicht weiter. Man muss entweder klotzen oder es lassen bzw. zurückstellen. ({21}) Das ist meine Auffassung, die im Übrigen nicht neu ist. Sie kennen sie seit langem. Es ist auch die Auffassung des Unternehmens Deutsche Bahn AG, die an dieser Stelle - zumindest, was die Priorisierung anbetrifft - offenbar eher etwas langsamer vorgehen möchte. ({22}) - Wir müssen das Machbare ermöglichen. Ich sage weder Ja noch Nein, sondern ich rechne Ihnen etwas vor. ({23}) Gegen Adam Riese Politik zu machen hat noch nie funktioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Vorschlag ist, das Machbare zu machen und das Unerfüllbare meinethalben in die Vitrine der Wunschträume zu stellen und dort eine Zeitlang stehen zu lassen, bis es irgendwann Milliarden oder auch Manna vom Himmel regnet. Wenn einmal sehr viel Geld vorhanden sein sollte, dann können Sie mit mir über jedes Luxusprojekt reden, und sei es mit goldenen Tunnels. ({24}) Aber ich glaube nicht an den Weihnachtsmann. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu einem anderen Punkt ausführen, der heute auf der Tagesordnung steht. Wir bringen heute in erster Lesung die dritte Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ein. Was sich so trocken anhört, ist nichts anderes als die Umsetzung dessen, was seit einem Jahr überfällig ist, nämlich des letzten großen Schrittes der europäischen Eisenbahnpolitik: die garantierte Eröffnung eines fairen Wettbewerbs auf der Schiene. Wir wollen - das dokumentieren wir mit diesem Gesetzentwurf - den fairen Wettbewerb auf der Schiene. Wir wollen den diskriminierungsfreien Zugang für alle Eisenbahnverkehrsunternehmen und eine unabhängige Wettbewerbsaufsicht. Lassen Sie uns in den bevorstehenden Beratungen gemeinsam die mit diesem Gesetz verbundenen Möglichkeiten und Chancen diskutieren! Lassen Sie uns dort, wo es vielleicht nötig ist, Verbesserungen vornehmen! Wir sollten es aber zügig beraten und bald verabschieden. Ich bin nämlich überzeugt: Im Wettbewerb auf der Schiene steckt ein ungeheures Potenzial zur Verbesserung der Qualität des Verkehrsangebotes, aber auch zur Verbesserung der Verkehrsleistung, und zwar sowohl im Hinblick auf den Güterverkehr - Verlader, Speditionen - als auch auf Fahrgäste. Dieses Potenzial sollten wir gemeinsam möglichst schnell nutzen. Vielen Dank. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Lippold, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: Die Einnahmen aus der LKW-Maut kommen zusätzlich zu den Verkehrsinvestitionen. ({0}) Damit erreichen wir eine langfristige Verstetigung des hohen Investitionsniveaus und sichern die Finanzierung des Bundesverkehrswegeplans bis 2015. ({1}) Dies erklärte Bundesverkehrsminister Stolpe anlässlich der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2004 am 11. September 2003. Herr Stolpe, heute sage ich: Das war eine bewusste Täuschung; ({2}) Sie hatten nämlich schon damals weder den Kampfesnoch den Einsatzwillen, sich gegen den Bundesfinanzminister durchzusetzen. Herr Stolpe, es kommt eine ganze Menge anderes hinzu. Sie haben vorhin von der Maut, von der Mautkatastrophe und auch von der Pällmann-Kommission gesprochen. In der Analyse der Pällmann-Kommission steht ganz eindeutig, dass die Mauteinnahmen der zusätzlichen Finanzierung des Straßenbaus dienen. „Zusätzlich“, Herr Stolpe, und nicht „anstatt“. Sie haben mit den Ländern eine Vereinbarung getroffen, in der steht, dass die Mauteinnahmen zusätzlich zu den Ansätzen im Verkehrshaushalt - nicht anstatt dieser Ansätze - investiert werden. Herr Stolpe, Sie haben diese Vereinbarung gebrochen. Dazu haben Sie bis heute noch kein einziges Wort gesagt. Das zeigt, was Vereinbarungen des Bundesrats mit der Bundesregierung wert sind: ({3}) Sie sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen, weil Sie sich nicht daran halten. Die Folgen für die Verkehrsinfrastruktur sind absolut negativ. Da nützen Ihre Bekenntnisse zur Mobilität, die Sie hier vorgetragen haben - Sie sagten, für die EUOsterweiterung sei eigentlich alles bestens vorbereitet -, nichts. Herr Stolpe, das ist - auch wenn das Verkehrsaufkommen zunächst nicht explosionsartig zunimmt - mitnichten der Fall. Sie werden die zu erwartende stetig steigende, enorme Zunahme des Verkehrs mit dem bestehenden Straßensystem nicht bewältigen. Das wird erst recht nicht über die Schiene zu bewältigen sein, weil die Verkehrsströme, die aus dem Osten kommen, nicht mehr Schienen-, sondern mehr LKW-Verkehr bedeuten. Jede andere Behauptung ist Augenwischerei. Sie haben hier eben Schönrederei betrieben und sonst nichts. Es ist doch abenteuerlich, 1 Milliarde DM als Ergebnis des Schiedsgerichtsverfahrens im Zusammenhang mit der Maut anzusetzen. ({4}) - 1 Milliarde Euro, Entschuldigung. Ich bleibe immer wieder bei der alten Währung. - Jeder weiß doch inzwischen, dass die Vereinbarung damals mit einem Augenzwinkern zustande gekommen ist: schnelles Unterschreiben des Vertrags gegen niedrigere Haftungssummen. Wie wollen Sie heute aus dieser Angelegenheit herauskommen? Es ist doch völlig klar: Kein Vertreter der Wirtschaft hätte damals einen Vertrag mit solch hohen Haftungssummen abgeschlossen; denn schon damals war erkennbar, dass der Zeitpunkt der Einführung der Maut nicht zu halten ist. Das haben Sie frühzeitig gewusst. Aber Herr Bodewig wollte die Unterschrift und Sie haben sich hinterher um den Vollzug des Vertrages nicht gekümmert. So kam dieses Desaster zustande. Das muss hier noch einmal ganz deutlich angesprochen werden. ({5}) Herr Bundesverkehrsminister, deshalb erwarten wir wenigstens für die Zukunft von Ihnen, dass sich die Dinge ändern und dass Sie den Investitionen wirklich den entsprechenden Rang einräumen. Ich appelliere noch einmal an Sie, sich in der Auseinandersetzung mit dem Finanzminister nicht sofort geschlagen zu geben. Bisher nehmen Sie das, was Ihnen widerfährt, mit der Gelassenheit dessen, der sich sagt: Es ist eh egal. ({6}) Das ist an dieser Geschichte traurig. Ich warne noch einmal davor, dafür jetzt das Koch/ Steinbrück-Papier verantwortlich zu machen. In diesem Papier steht ganz klar, dass die Investitionen in Wasser und Straße keine Subventionen sind. Sie hätten eine andere Lösung für dieses Problem finden müssen. Aber Sie haben sich nicht um eine andere Lösung bemüht, weil es erstens am einfachsten war und weil Sie zweitens noch immer nicht eingesehen haben, dass die Straße in diesem Land Priorität haben muss. Das ist Ihr ganz entscheidender, grundsätzlicher Fehler. Sie müssen in der Verkehrspolitik einen anderen Ansatz wählen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte darum.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass im Koch/Steinbrück-Papier ein Einsparvolumen in Höhe von 40 Millionen Euro bei den Wasserstraßen vorgesehen war? Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es sich hier sehr wohl um Investitionen und nicht um Subventionen handelt?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Ihnen völlig zu, dass dies Investitionen und keine Subventionen sind. Deshalb ist das auch revidiert worden und war der Ansatz betreffend die Straßen nicht zulässig. Aber obwohl der Subventionsbegriff bei der Straße nicht zutrifft, hat Herr Stolpe - das hat mich am meisten geärgert -, in einem Schreiben an den hessischen Finanzminister ausgeführt, dass die A 66 wegen des besagten Vorganges nicht ausgebaut werden könne. Herr Stolpe, was soll das eigentlich? Wie können Sie solche Zusammenhänge herstellen? Das ist nicht haltbar. ({0}) - Stellen Sie eine Zwischenfrage! - So läuft das jedenfalls nicht. Man kann nicht einfach sagen, die A 66 könne nicht ausgebaut werden. Sie ist schließlich ein Kernstück im Rhein-Main-Gebiet. Wir werden sehen, wie die Bevölkerung darauf reagieren wird, wenn in dieser unzulässigen Art und Weise eingegriffen wird. Einen weiteren Punkt, der mich nachhaltig irritiert, hat bereits der Kollege Friedrich angesprochen. Verkehrsinvestitionen sichern Arbeitsplätze - Herr Stolpe, dies kommt bei Ihnen noch immer nicht im notwendigen Umfang zum Ausdruck - auch und gerade im Osten unseres Landes. Herr Kollege Schmidt, Sie haben gesagt - ausnahmsweise ist ein Lob fällig; das habe ich ja versprochen -, der Bundesverkehrswegeplan stehe vor dem Zusammenbruch und sei eigentlich nur noch Makulatur. Das ist Realität. ({1}) Die Investitionen bleiben auf der Strecke. Herr Kollege Schmidt, ich sage das deshalb, weil ich Ihre Äußerungen mit Freude vernommen habe. Die Kollegin RehbockZureich hat sich in ähnlicher Weise geäußert. Aber ich fürchte, dass Sie sich nicht durchsetzen werden und dass wir uns in absehbarer Zeit anlässlich dieser Problematik wieder sprechen werden. Ich wäre froh - Sie hätten unsere Unterstützung -, wenn Sie sich durchsetzen würden. Unternehmen Sie einen entsprechenden Vorstoß und wir werden darauf zurückkommen. Wenn es um Verkehrsinvestitionen geht, sind wir jederzeit bereit, ganz klar und entschieden zu handeln und dafür zu sorgen, dass es vorangeht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Lippold, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Lippold, darf ich Ihre letzte Einlassung, Ihr Angebot, mich zu unterstützen, so verstehen, dass Sie bereit sind, gemeinsam mit dem Bundesrat eine erneute Initiative des Deutschen Bundestages, die - bei Verschonung der Investitionen für Straße, Schiene und Wasserstraße - auf den Abbau der „echten“ Subventionen abzielt, zu unterstützen und Ihren Ministerpräsidenten Roland Koch dazu zu bewegen, dass er in diesem Punkt die Haltung des Bundeslandes Hessen revidiert und dass er unserer Auffassung zustimmt, dass das notwendige Geld durch den Abbau der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale aufgebracht werden muss und nicht aus dem Etat für Straßen-, Schienen- und Wasserstraßeninvestitionen kommen darf? ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Schmidt, wenn es um Kürzungen geht, dann werden wir über alle Subventionen diskutieren müssen. Das ist der entscheidende Punkt. Auf die Steinkohlesubventionen wurde bereits hingewiesen. ({0}) Derjenige, der am vehementesten für die Erhaltung der Kohlesubventionen votiert hat, als die Gewerkschaft und die Bergbauarbeiter in Bonn demonstriert haben, war Ihr damaliger Sprecher Joschka Fischer, der heute Bundesaußenminister ist. Das heißt, alles, was Sie hier detailliert angeführt haben, fällt auf Sie zurück. Lassen Sie uns alle Subventionen noch einmal prüfen und sehen, wo wir am sinnvollsten ansetzen können. Sie werden immer meine Unterstützung haben, wenn es darum geht, Subventionen zu kürzen. Hier ziehen wir am gleichen Strang. Ansonsten werden wir gemeinschaftlich nicht das Ziel erreichen, die Voraussetzungen für Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Weis, SPDFraktion. ({0})

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuhörer, ich möchte mich in einer Vorbemerkung an Sie wenden. Herr Lippold hat eben von der Verabredung im Vermittlungsausschuss und davon gesprochen, dass zusätzlich zu den Haushaltsmitteln die Mauteinnahmen verwendet werden sollen. Dazu ist eine Erläuterung notwendig. Reinhard Weis ({0}) Wir alle müssten es besser wissen. Kein Vermittlungsausschuss kann dem Haushaltsgesetzgeber eine Vorgabe für die konkrete Höhe eines Haushaltstitels machen. Das lässt das Haushaltsrecht nicht zu. Wir als Haushaltsgesetzgeber sind in der Verantwortung, die Einzeltitel jeweils in der Gesamtschau des Haushalts festzulegen. Die Realität ist nach drei Jahren Stagnation bzw. Minuswachstum leider so, wie sie ist. Wir als Verkehrspolitker wären froh darüber gewesen, das Niveau der Haushaltstitel des Jahres 2002 zu halten, aber die Realität ist leider eine andere. Da kann man in Bezug auf Bundesrats- und Vermittlungsausschussverabredungen nicht von Unverlässlichkeit sprechen. Herr Oswald hat den Zustand der Bundesstraßen bzw. Bundesautobahnen beklagt. Ich habe ein etwas differenzierteres Bild. So allgemein, wie er gesprochen hat, kann er nur die Staatsstraßen aus dem Freistaat Bayern gemeint haben. ({1}) Wer im Glashaus sitzt, lieber Kollege Oswald, sollte nicht mit Steinen werfen. ({2}) Wir diskutieren heute einen Antrag der CDU/CSU mit dem wohlklingenden Titel „Deutschland braucht Klarheit bei der Verkehrsinfrastuktur“. Schön und gut! Ich würde es allerdings anders formulieren, nämlich: Deutschland braucht endlich Klarheit darüber, was die Opposition eigentlich will. ({3}) Haben bei der Opposition die Verkehrsinvestitionen wirklich oberste Priorität? Ist die CDU/CSU wirklich bereit, auch bei den konsumtiven Ausgaben des Bundes Einsparungen vorzusehen, wie es in dem Antrag so schön heißt, oder entscheidet sie sich im Zweifel doch lieber für den Erhalt der Agrarsubventionen ({4}) und bekämpft alle Vorschläge der Bundesregierung zum Subventionsabbau? Die Wahrheit über die Oppositionspolitik ist: Sie reden vollmundig über Subventionsabbau, ({5}) aber wenn es ernst wird, kneifen Sie vor der Verantwortung. ({6}) Richtig ist: Es gibt Schwierigkeiten bei der Investitionsfinanzierung. Es ist allerdings ein Märchen, diese Schwierigkeiten seien das Resultat der Mautausfälle. Zur Kompensation der Mautausfälle im Haushalt 2004 wurden vernünftige Regelungen vorgelegt. Seit Anfang dieses Monats ist die Haushaltssperre für den Einzelplan 12 aufgehoben. Die aus Mautmitteln zu finanzierenden Verkehrsinvestitionen können wie geplant getätigt werden. ({7}) Darüber hat der Minister eben gesprochen. Wir haben am 12. März hier im Bundestag darüber gesprochen. Kollege Beckmeyer hat Ausführungen dazu gemacht. ({8}) Ich möchte einer Legendenbildung entgegentreten. Die Schwierigkeiten, die für das Haushaltsjahr 2004 und vor allen Dingen auch im Hinblick auf die mittelfristige Finanzplanung bleiben, sind doch nicht das Ergebnis der Mautausfälle, sondern sie sind das Ergebnis Ihrer Weigerung, im Bundesrat die Kürzung tatsächlicher Subventionen zugunsten der Sicherung wichtiger staatlicher Aufgaben mitzutragen. ({9}) Hiermit meine ich die Investitionen, die wir im Bereich Bildung und Forschung brauchen - davon hat der Bundeskanzler heute morgen gesprochen -, aber auch die Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur, die wir in den vergangenen Jahren auf ein Rekordniveau gehoben haben. ({10}) Sie von der Opposition sind an der Situation, vor der wir jetzt stehen, genauso beteiligt wie die Regierungsfraktionen in diesem Haus. Als Ergebnis Ihrer Weigerung haben wir die unsäglichen Koch/Steinbrück-Vorschläge als Bestandteil eines Vermittlungsvorschlages zu bewältigen. Während des Vermittlungsverfahrens am Ende des Jahres 2003 haben Sie wahrscheinlich noch angenommen, man könne sich den Pelz waschen, ohne dabei nass zu werden. ({11}) Alle Beteiligten in Bund und Ländern mussten zum damaligen Zeitpunkt wissen, dass es bei der Umsetzung der Koch/Steinbrück-Vorschläge zu Kürzungen bei der Finanzierung des Infrastrukturausbaus kommen wird. ({12}) Wir Verkehrspolitiker haben darauf hingewiesen. Wenn Sie jetzt mit treuherzigem Augenaufschlag ({13}) Reinhard Weis ({14}) ganz erstaunt fragen, wieso die Verkehrsinvestitionen in 2004 nicht die ursprünglich geplante Höhe erreichen werden - da beziehe ich mich auf die Pressemitteilung von Dirk Fischer von heute -, dann ist da schon viel Heuchelei im Spiel. Wir haben es von Anfang an für einen Kardinalfehler gehalten, Investitionen in Schienen- und Wasserwege als Subventionen zu qualifizieren und die in die Straße nicht. Die Definition, die uns Herr Lippold hier vorgestellt hat, können wir nicht nachvollziehen. ({15}) Leider haben wir Verkehrspolitiker uns nicht durchsetzen können. Aber wo war denn damals der Aufschrei von den Verkehrspolitikern der Opposition? Wann haben Sie sich gegen diese neue und völlig verkehrte Definition von Subventionen gewehrt? Wir haben nichts von Ihnen gehört. ({16}) Wir von der rot-grünen Koalition haben wenigstens durchgesetzt, dass die Einsparauflagen nicht einseitig dem Verkehrsträger Schiene angelastet werden. Mit dem, was wir haushaltstechnisch verabredet haben, haben wir die Investitionen in 2004 auf einem verantwortbaren Niveau gehalten und ein ausgewogenes Verhältnis der Verkehrsträger untereinander gesichert. Es geht aber darum, das hohe Investitionsniveau für die Jahre 2005 und folgende zu realisieren. Wir dürfen den Verkehrsbereich nicht kaputtsparen. Wir müssen unsere Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterweiterung und die zu erwartenden Verkehrsströme vorbereiten. ({17}) Schließlich müssen wir auch Vorkehrungen treffen, dass bei der Fußballweltmeisterschaft - sie wurde in der heutigen Debatte ja schon einmal erwähnt - keine chaotischen Situationen auf Bahnhöfen und Autobahnkreuzen entstehen. Wir müssen deshalb gemeinsam versuchen - ich sage hier bewusst „gemeinsam“ -, die Auswirkungen der Koch/Steinbrück-Vorschläge zurückzudrängen. Wir alle kennen das Worst-Case-Szenario, das in der vergangenen Woche in der „FAZ“ veröffentlicht wurde. Die Zahlen hat Kollege Schmidt heute schon im Einzelnen genannt; ich will sie deshalb nicht wiederholen. In diesem Worst-Case-Szenario ist festgehalten, welche Entwicklungen die Verkehrsinvestitionen nehmen würden, wenn wir die Koch/Steinbrück-Vorschläge in den nächsten Jahren einfach fortschreiben würden. Das darf nicht der Fall sein. ({18}) - Wir wissen aber, dass es so ist. Diese Abhängigkeit besteht, Horst. Ich denke, wir sollten uns deshalb gemeinsam mit dem Gedanken vertraut machen, die Maut von Beginn an, wenn sie denn zum 1. Januar 2005 eingeführt wird, auf die ursprünglich vorgesehenen 15 Cent pro Kilometer anzuheben, um zusätzliche Einnahmen zu realisieren. Diesen Appell richte ich ausdrücklich auch an die Länder, die einer Änderung der Mauthöheverordnung zustimmen müssen. Da wir heute im Bundestag auch über zwei Vorlagen zur EU-Wegekostenrichtlinie sprechen, möchte ich dazu noch ein paar Anmerkungen machen: Bei dem Aufbau des Mautsystems dürfen der Industrie keine weiteren peinlichen Fehler mehr unterlaufen. Wir fordern strikte Offenheit und haben auch den Eindruck, dass ein neuer Wind bei Toll Collect weht, also mehr Bereitschaft zu Offenheit und Kooperation besteht. Wir haben in der nächsten Woche mit führenden Vertretern von Toll Collect ein Gespräch im Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen. Wir hoffen, dass wir vom Ministerium über die Wirkung des neuen festen Controlling laufend Informationen bekommen. Unser Ausschuss hat sich zu einem Zeitpunkt mit der Wegekostenrichtlinie der EU beschäftigt, als das vorläufige Scheitern der EU-Verhandlungen noch nicht absehbar war. Wir haben damals mit großer Mehrheit - also auch mit den Stimmen der Opposition - unsere Kritik am damaligen EU-Diskussionsstand geäußert. Diese legen wir heute dem Bundestag zur Entschließung vor. Ich möchte kein Geheimnis daraus machen, dass ich nicht unglücklich darüber bin, dass inzwischen eine Entscheidung auf EU-Ebene über die Wegekostenrichtlinie zunächst zurückgestellt ist. Die Verhandlungen auf EUEbene drohten nämlich eine Wendung zu nehmen, die für unser nationales Mautprojekt recht problematisch geworden wäre. Die Absenkung der Mautpflicht auf LKW ab 3,5 Tonnen oder die Berechnung der Mauthöhe ausschließlich auf Basis der Kosten für die in jüngerer Zeit fertig gestellten Bundesfernstraßen wäre für uns sehr schwierig geworden. Nun bin ich doch hoffnungsvoll, dass wir unser Mautsystem ohne Restriktionen vonseiten der EU einführen können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stelle zusammenfassend fest, Frau Präsidentin, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages äußerstes Interesse an einem hohen und angemessenen Investitionsniveau im Verkehrsbereich haben. Ich leite daraus auch meine Hoffnung ab, dass wir gemeinsam die Wirkungen der unseligen Koch/Steinbrück-Vorschläge abwenden können. ({0}) Der Subventionsabbau bleibt eine aktuelle Aufgabe. Packen Sie sie mit uns an! Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der guten alten Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, begannen in Deutschland Märchen mit den Worten: „Es war einmal“. In der nicht so guten neueren Zeit, in der das Wünschbare zum Regierungsprinzip erhoben wird, weil Regieren auch Spaß machen soll, in der Gerhard Schröder Bundeskanzler in Deutschland ist und ein ausgewiesener Verkehrsexperte wie Manfred Stolpe Verkehrsminister, beginnen die Märchen mit den Worten: „Es wird einmal“. ({0}) Wir haben heute jede Menge solcher Märchen hier gehört. Verkehrsminister Stolpe hat gesagt: Es wird weitergebaut, es gibt keinen Abbruch, alles wird gut. Das reiht sich in die Reihe anderer Versprechungen ein: Die ICETrasse, 8.1 und 8.2 der Verkehrsprojekte, wird weitergebaut, der Knotenpunkt Bahnhof Erfurt wird zu einem der modernsten Bahnhöfe in Deutschland umgebaut werden und Leipzig muss im Zusammenhang mit der Olympiabewerbung überhaupt keine Sorge haben, dass es nicht angebunden wird. - Nichts davon wird wahr. Das sind bestenfalls Märchen, schlechtestenfalls sind es Lügen. ({1}) Ich will gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen, es genügen die letzten Tage. Vor wenigen Tagen hat die Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Frau Gleicke, gesagt: Mit Hochdruck wird an dem Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern gearbeitet. Das war am Dienstag dieser Woche. Am Mittwoch dieser Woche ist der Wirtschafts- und Verkehrsminister von Thüringen zu Herrn Mehdorn in Frankfurt einbestellt worden. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Kollege, um Sie selber davor zu schützen, dass Sie hier im Bundestag falsche Behauptungen aufstellen, ({0}) kleide ich folgende Bemerkung in Frageform: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Herr Mehdorn an dem besagten Tag überhaupt nicht in Frankfurt war, dass er deshalb Herrn Reinholz auch nicht dort hinbestellt haben kann und dass stattdessen aber eine VMK oder etwas Ähnliches, also eine Konferenz der Länderminister oder der Abteilungsleiter aus den Ministerien oder was auch immer, stattgefunden hat, bei der allenfalls jemand anders zu diesem Thema gesprochen haben kann, jedenfalls nicht Herr Mehdorn, sodass die Pressemitteilung von Herrn Reinholz zumindest in dieser Form eigentlich nur falsch sein kann?

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein Kenntnisstand, lieber Kollege Schmidt, ist, dass Herr Mehdorn zu einer Besprechung eingeladen hat, um wichtige Dinge mitzuteilen, zu denen ich gleich kommen werde, und dass es sich keineswegs um ein Gespräch mit irgendwelchen - jetzt zitiere ich jemanden aus der SPD-Fraktion - „Fuzzis“ bei der Deutschen Bahn in Frankfurt gehandelt hat, sondern dass auf höchster Bahn-Ebene verhandelt worden ist. Bei diesem Treffen ist dem Thüringer Verkehrsminister mitgeteilt worden, dass für den Weiterbau der ICETrasse zwischen Erfurt und Nürnberg bis zum Jahre 2009 kein Geld mehr bereitgestellt werde, selbst die Mittel für baurechtserhaltende Maßnahmen seien nach Aussagen der Bahn nicht gesichert, offene Fragen gebe es auch hinsichtlich des ICE-Bahnhofs in Erfurt. Ebenfalls auf Eis gelegt sind andere Projekte; es geht nicht nur um den ICE. Es geht auch um ein Projekt, das Sie, Kollege Schmidt, zu Land, zu Wasser und in der Luft seit 1990 intensivst bekämpft haben. Es geht um die Mitte-Deutschland-Schienenverbindung, zum Beispiel um die Anbindung von Ronneburg und nicht zuletzt auch um Leipzig. Auch dafür stehen keine Mittel mehr zur Verfügung. Als dies veröffentlicht wurde - da nehme ich Ihren Einwurf noch einmal auf -, teilte Frau Kollegin Gleicke mit, sie habe allmählich die Nase gestrichen voll davon, dass hier versucht werde, die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage zu stellen. Frau Gleicke sagte, dies seien miese Methoden. ({0}) In der Vorlage der Deutschen Bahn zu dem Gespräch mit dem Erfurter Verkehrsminister heißt es, die Anpassung der Planung an die neue Haushaltslinie erfordere Projektabbrüche und Verschiebungen. Das ist die Realität: Projektabbrüche und Verschiebungen. Mit Verschiebungen - der Kollege Schmidt hat süffisant darauf hingewiesen - sind nicht ein oder zwei Jahre gemeint, also vielleicht auf 2007, sondern eher 20 Jahre. Die Grünen haben in einer Pressemittlung erklärt, vor 2020 sei nicht mit der Fertigstellung dieser nicht nur für Thüringen wichtigen ICE-Trasse zu rechnen. Aus dem Bundesverkehrsministerium verlautet dazu: Die Strecke wird weitergebaut. Das sagte Ministeriumssprecher Felix Stenschke der dpa; alles andere sei unverantwortliches Geschwätz. Nun gibt es vom selben Tag eine zweite Pressemitteilung aus dem Bundesverkehrsministerium. Darin erklärt eine Pressesprecherin: „Neu angefangen wird wenig in diesem Jahr.“ Die Bahn müsse 2004 mit Bundeszuschüssen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro auskommen und wolle ebenfalls viele Bauvorhaben auf Eis legen. Da die Bahn 2,5 Milliarden Euro in den Erhalt des bestehenden Netzes investieren müsse, bleibe für Neu- und Ausbauprojekte nur 1 Milliarde Euro übrig. In der Erklärung heißt es weiterhin, dass als wahrscheinlicher Kandidat für eine Verschiebung unter anderem die ICE-Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt gilt. ({1}) Herr Minister Stolpe, Sie haben in Ihrer Rede von den Transeuropäischen Netzen gesprochen. Diese ICE-Strecke ist der Bestandteil des Transeuropäischen Netzes schlechthin. ({2}) Sie beginnt in Norditalien und führt durch Deutschland bis nach Skandinavien. In dieses Projekt sind bisher 700 Millionen Euro geflossen. Ein ganz erheblicher Teil davon sind EU-Gelder. Die Realisierung dieses Transeuropäischen Netzes ist aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden. 700 Millionen Euro sind sprichwörtlich in den Sand gesetzt worden. Aber nicht nur bei dieser ICE-Trasse gibt es Probleme. Die Umbauarbeiten am Knotenpunkt Erfurt werden in den nächsten 14 Tagen wahrscheinlich eingestellt werden. ({3}) Die Baukräne hören auf, sich zu drehen. Das heißt, das Provisorium ohne Fahrstuhl für Behinderte, ohne Rolltreppe und ohne Überdachung bleibt auf unabsehbare Zeit bestehen, weil für diesen Bereich kein Geld vorhanden ist. Meine Damen und Herren, ich verstehe Ihre Erregung. Wir alle gemeinsam sind darüber erregt, insbesondere die Kollegen aus den neuen Bundesländern. Jeder Bericht bescheinigt den neuen Bundesländern einen Produktivitätsrückstand von ungefähr 20 Prozent, der allein darauf zurückzuführen ist, dass die Verkehrsanbindung in den neuen Bundesländern wesentlich schlechter ist als die Verkehrsanbindung in den alten Bundesländern. Diesen Rückstand von 20 Prozent gilt es schnell aufzuholen. Dazu waren die Bundesverkehrswegeplanungen bisher gedacht. Sie hören an dieser Stelle aber damit auf, den Aufholprozess in den neuen Bundesländern voranzutreiben. Ich möchte noch einen zweiten Punkt anführen. Wir wissen, dass ab den Jahren 2007/08 die europäischen Strukturfonds für die neuen Bundesländer nicht mehr bestehen. Wenn es die Möglichkeit einer Nachfinanzierung nicht mehr gibt, dann fehlen 3,5 bis 4 Milliarden Euro für Investitionen, auch für Investitionen im Rahmen des Verkehrshaushalts. Wir wissen, dass der Solidarpakt II degressiv ausgestaltet ist. Es stehen also immer weniger Mittel für Industrieansiedlungen zur Verfügung. Wir wissen auch, dass die Investitionszulage zeitlich befristet ist. Es kann im schlechtesten Fall sein, dass es im Jahr 2010 eine einigermaßen funktionierende Verkehrsinfrastruktur gibt - allerdings muss noch eine ganze Menge bis dahin passieren -, dass wir dann aber keine Mittel für Industrieansiedlungen in den neuen Bundesländern mehr haben. Das ist ein Ergebnis, das von uns keiner ernsthaft will. ({4}) Herr Minister Stolpe, ich möchte Sie einfach bitten, dass Sie den Versuch unternehmen, dem Aufbau Ost, der in Ihrem Ministerium angesiedelt ist, ein wenig die Stange zu halten, damit es nicht irgendwann heißt: Stolpe sagt nach wie vor die Unwahrheit und erzählt Märchen. ({5}) Ich glaube, dies sollten Sie sich nicht antun. Unser Bemühen ist - auch wenn es im Moment keine gemeinsame Linie gibt -, dass wir die Projekte gemeinsam voranbringen. Wir werden da mitarbeiten. Aber wir fühlen uns für Ihre fehlenden Konzepte nicht verantwortlich. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin RehbockZureich, SPD-Fraktion.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist schon eine erstaunliche Debatte, genauer: eine heuchlerische Debatte, die wir hier verfolgen können. ({0}) Einerseits beklagen Sie den Rückgang der Investitionsmittel, negieren aber gleichzeitig die Auswirkungen der Koch/Steinbrück-Liste. Dann beschweren Sie sich auch noch, dass wir diese Einbrüche bei den Investitionen im Verkehrsbereich auf alle Verkehrsträger umgelegt haben. ({1}) Zudem, Herr Grund, beklagen Sie die Situation im Schienenbereich. Die Oppositionsfraktionen sollten mir einmal mitteilen, wie man das alles unter einen Hut bringen kann. ({2}) Wir haben im Einzelplan 12 eine schwierige Finanzlage; das ist richtig. Ursache dafür sind nicht die ausbleibenden Mautmittel; ({3}) die haben wir ausgeglichen. Herr Friedrich, auf Folgendes möchte ich eingehen: Wenn im Haushalt Mittel entsperrt worden sind, stehen sie zur Verfügung. Der Einzelplan 12 ist ab 2004 und in den Jahren 2005 und folgende durch die Koch/Steinbrück-Liste belastet. Dies bereitet uns in den nächsten Jahren riesige Probleme. Ich möchte darauf hinweisen, dass man sich als Opposition nicht einfach aus der Verantwortung stehlen kann. ({4}) Sie haben im Vermittlungsausschuss die Koch/ Steinbrück-Liste beschlossen. Sie haben seit 2002 verhindert, dass Subventionen abgebaut werden. Sie waren es, die verhindert haben, dass man den Verkehrsbereich nicht als reine Subvention ansieht. Investitionen in die Straße können keine Subventionen sein. Aber auch Investitionen in den Schienenbereich können keine Subventionen sein, weil die Aufgabe des Bundes, für den Neu- und Ausbau sowie für die Aufrechterhaltung des Schienennetzes zu sorgen, grundgesetzlich verankert ist. ({5}) Als wir angetreten sind, haben wir ein marodes Schienennetz angetroffen. ({6}) Sie haben die Schiene in Ihren Haushalten als Steinbruch benutzt. ({7}) Wir haben 1998 doch nicht mit Investitionsmitteln von rund 4 Milliarden Euro, wie es im Schienenwegebericht für das Jahr 2002 steht, sondern mit knapp der Hälfte begonnen. ({8}) Wir haben ein Schienennetz angetroffen, bei dem offensichtlich war, dass nie Mittel in das Bestandsnetz geflossen sind. Diese Bestandsnetzmittel in Höhe von 2,5 Milliarden Euro haben wir in den vergangenen Jahren gesichert. Dies werden wir auch in Zukunft tun. ({9}) Wir haben vor, die Bundesrepublik im Rahmen eines integrierten Verkehrsnetzes - dazu gehören alle Verkehrsträger - zu einem modernen Standort zu machen. Das heißt, wer glaubt, er könne ausschließlich im Bereich Schiene Investitionen streichen, der verfolgt eine Steinzeitpolitik. Er hat nicht begriffen, dass wir alle Verkehrsträger benötigen. Ich möchte Sie in dieser schwierigen Situation auffordern: Nehmen Sie die Chance wahr! Denn anscheinend sind auch Sie der Meinung, dass wir zusätzliche Investitionen in den Verkehrsbereich auf den Weg bringen müssen, um das unsägliche Koch/Steinbrück-Papier auszugleichen. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Gehen Sie mit uns den Weg, die wirklichen Subventionen in diesem Haushalt anzugehen, um die Mittel in die notwendigen Investitionen zu lenken! Wir brauchen Investitionen in die Bereiche Schiene, Straße und Wasserstraße. ({10}) Sie beklagen, dass in den neuen Bundesländern nicht ausreichend Investitionsmittel zur Verfügung stehen, wie es Herr Grund für den Bereich der Schiene angesprochen hat. Machen Sie sich auf den Weg und bringen Sie Vorschläge für die Haushalte 2005 und folgende ein, damit wir den hohen Investitionsbedarf von rund 4 Milliarden, den wir uns für den Schienenbereich vorgenommen haben, im Haushalt umsetzen! Wir bieten Ihnen in dieser Hinsicht Zusammenarbeit an. Es kann aber nicht sein, dass Sie das Koch/Steinbrück-Konzept mit beschließen, sich dann aber aus der Verantwortung stehlen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jetzt wollen wir doch einmal mit den Märchen bezüglich des Koch/Steinbrück-Konzepts aufräumen. Ich sage jetzt zum wiederholten Mal: Koch und Steinbrück haben in ihrem Konzept - damit nehme ich auch Ihren Ministerpräsidenten und nicht nur unseren, den Herrn Koch, in Schutz - ausschließlich die Schienenmittel genannt und sonst nichts. ({0}) - Das ist ein geringer Betrag. ({1}) Sie kürzen die Investitionen im Verkehrsbereich um insgesamt 540 Millionen Euro. 335 Millionen Euro nehmen Sie von den Straßenbauinvestitionen. Sie machen das aus rein ideologischen Beweggründen gegen die Beschlüsse im Vermittlungsausschuss und im Haushaltausschuss. ({2}) Koch und Steinbrück wollten nur die Schiene belasten. ({3}) - Kollege Albert Schmidt, es entspricht der grünen Ideologie, zu meinen, man könne alle Schienenmittel verbauen. ({4}) Die beiden Ministerpräsidenten wussten aber, dass die Deutsche Bahn AG im Jahr 2004 nicht alle Mittel verbauen kann, denn Bahnchef Mehdorn hat am 18. Dezember 2003 für alle Maßnahmen einen Bau- und Planungsstopp verhängt. Auch war der Haushalt bis Anfang März 2004 gesperrt. ({5}) Wie wollen Sie die Planungen für die Schiene wieder anlaufen lassen? Außerdem hat die Deutsche Bahn AG in den Jahren 1995 bis 2002 6 Milliarden Euro nicht verbauen können. Das ist nachgewiesen. Die Mittel konnten erstmalig im Jahr 2003 verbaut werden. Vielleicht ein Hinweis: Wenn man den Schienenwegeausbaubericht intensiv liest, sieht man, dass die Investitionen in die Schieneninfrastruktur in den letzten fünf Jahren zurückgefahren und nicht erhöht wurden. ({6}) Mit einem Stop and go bei den Planungen für Schienenstrecken, also bei einer Politik, die bei den Planungsvorhaben mit langen Phasen der Vollbremsung und kurzen Phasen des Fahrens mit Normalgas arbeitet, bleibt doch eine innovative, zügige und kostengerechte Weiterentwicklung des Schienenverkehrswegebaus im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. In den Planungsbüros wird Know-how vernichtet und der Bundeskanzler ruft das „Jahr der Innovation“ aus. Hier ist der Bundeskanzler gefordert, mit Bahnchef Mehdorn endlich ein ernstes Gespräch zu führen. Das in privaten Planungsbüros vorhandene eisenbahntechnische Wissen wächst doch nicht auf den Bäumen. Es kommt von gut ausgebildeten und laufend geschulten Ingenieuren. Dieses Wissen wird derzeit in Deutschland vernichtet. Woher soll denn der heute Morgen vom Bundeskanzler großartig prophezeite Aufschwung kommen? ({7}) Das Konzept zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur hat so viele Löcher wie ein Schweizer Käse. Nachdem die Einnahmen aus der LKW-Maut weiterhin ausbleiben und die Haftungsansprüche einstweilen - man rechnet mit gut zwei Jahren, bis es im Schiedsverfahren zu einer Entscheidung kommt - so viel wert sind wie ein ungedeckter Scheck, droht neues Unheil aus der Mautecke: Wenn, wie in der Neufassung der EU-Wegekostenrichtlinie vorgesehen, nur noch Straßen, die nicht älter als 15 Jahre sind, bemautet werden dürfen ({8}) - nein, nur die Eurovignette in einem anderen Bereich -, bedeutet dies das Aus für die gute Idee der Nutzerfinanzierung durch schwere LKW in Deutschland. Die meisten Autobahnen wurden in den 50er- und 60er-Jahren gebaut, sodass damit der Großteil der Straßen künftig nicht mehr bemautet werden dürfte. ({9}) Ich bin nicht sicher, ob Ihnen, Herr Minister Stolpe, diese Brisanz bekannt ist. Dieses Problem können Sie in Brüssel nicht einfach im gewohnten Plauderton lösen, sondern Sie müssen handeln. Sie konnten bis heute noch nicht einmal die dem Gewerbe versprochene Harmonisierung der LKW-Maut realisieren. Durch das Mautdesaster, insbesondere hervorgerufen durch das miserable Controlling, ist schon der maximale Blamagegrad für den Verkehrsminister erreicht. Aber auch die Industrie hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Das muss man deutlich sagen. Es fehlen 2,8 Milliarden Euro bis Ende 2004. Nun ist zu hören, dass aufgrund der mittelfristigen Finanzplanung das Ressort von Minister Stolpe noch viel stärker bluten soll, als bisher bekannt war. Die Verkehrsinvestitionen werden drastisch verringert, ohne dass Sie, Herr Minister, einen Kampfeswillen gegenüber dem Finanzminister erkennen lassen. Sie wären hier gefordert. Jetzt wird auch deutlich, dass der Verkehrsminister, der noch vor drei Wochen im Ausschuss euphorisch vermeldete, dass die Verkehrsinfrastruktur gesichert sei, damals die glatte Unwahrheit verkündete. Die Bundesregierung verabschiedet sich aus der Verkehrsinfrastrukturpolitik. Sie plant den Verkehrskollaps. Das ist verkehrspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch unverantwortlich. ({10}) Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung bedeutet das faktische Aus für fast alle Neubauprojekte. Zur ICE-Trasse. Der Kollege Grund hat schon ausgeführt, dass das für Thüringen ein Fiasko ist. Das gilt aber auch für Franken. Es steht fest, dass Bahnchef Mehdorn erst ab 2009 Mittel zur Verfügung stellen will. Der Verkehrsminister sagt, die Strecke sei gesichert. Er sagt natürlich nicht, wann sie gebaut werden soll. Kollege Schmidt, Sie müssen sich mit Ihren Aussagen ein bisschen auseinander setzen. Sie wollen die Strecke qualifiziert beenden. ({11}) Der Verkehrsminister will sie bauen. Der Bahnchef sagt, er habe vor 2009 kein Geld. ({12}) Ich frage mich, wer hier der Verkehrsminister ist. Sie brauchen eigentlich bloß unserem Antrag zuzustimmen. Auch wenn der Bahn-Tower höher als das Reichstagsgebäude ist, kann man nicht von dort die Verkehrspolitik in Deutschland bestimmen. Meine Damen und Herren, Straßenbauinvestitionen sind keine Subventionen. Die geplanten Kürzungen im Fernstraßenetat - bis 2008 um rund 20 Prozent - sind ein verkehrspolitischer Offenbarungseid und kein Beitrag zum Subventionsabbau. Darüber ist schon berichtet worden. Die Bundesregierung sollte da Subventionen abbauen, wo sie wirklich fließen. ({13}) Im Straßenbau ist das nicht der Fall. ({14}) - Sie haben mir nicht zugehört: Koch und Steinbrück haben nicht die Straßenbaumittel gemeint. ({15}) Wann begreifen Sie das endlich? Der Straßenbau ist kein Subventionstopf. Der Autofahrer zahlt nämlich immerhin jährlich rund 50 Milliarden Euro an Mineralölsteuer. Er subventioniert damit den Bundeshaushalt. ({16}) Herr Minister Stolpe, alles in allem kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, ein äußerst schwacher Sachwalter unserer mobilen Gesellschaft zu sein. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention zur Richtigstellung erhält der Kollege Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Blank, Sie haben mich wiederholt persönlich angesprochen. Ich will gar nichts dazu sagen, ob der Bahn-Tower höher ist. Das ist offensichtlich. ({0}) Ich will einfach falsche Zahlen zur Höhe der Investitionsmittel, die Sie unterstellen, ganz nüchtern und sachlich richtig stellen. Ich trage Ihnen jetzt nicht die Haushaltsplanzahlen vor, sondern nenne die Istüberweisungen des Bundes an die Deutsche Bahn AG, die für Schienenwege verbaut wurden. Die gerundeten Istzahlen zum Mitschreiben: im Jahr 1997 - im vorletzten Jahr Ihrer Regierungszeit 2,8 Milliarden Euro; im Jahr 1998 - das war der letzte Haushalt, den Sie zu verantworten hatten - 2,7 Milliarden Euro; 1999 - das war der erste Haushalt, den wir zu verantworten hatten - 3,4 Milliarden Euro; 2000 ebenfalls 3,4 Milliarden Euro; 2001 schon 3,9 Milliarden Euro; 2002 dann 4,3 Milliarden Euro; 2003 schließlich 4,5 Milliarden Euro. Wie Sie bei diesen Zahlen zu der Behauptung kommen, wir hätten in den letzten fünf Jahren diese Mittel reduziert, ist mir völlig schleierhaft. Ich bitte Sie herzlich, in Zukunft nachzulesen. Selbst wenn nach dem Kürzungsszenario, das wir heute gemeinsam kritisiert haben, der schlimmste Fall einträte, wären wir immer noch bei 3,0 Milliarden Euro für die Schiene - besser als Sie in den Jahren 1997 und 1998. ({1}) In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich: Lassen Sie uns über Meinungen streiten, aber Fakten einfach zur Kenntnis nehmen. ({2})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Schmidt, mir war schon immer klar, dass Sie nicht gut zuhören können. ({0}) - Lesen kann ich auch. Ich sprach nämlich von den investiven Mitteln, ({1}) nicht von dem Betrag, der der Deutschen Bahn AG jährlich überwiesen wurde. ({2}) - Kollege Schmidt, die Deutsche Bahn AG konnte in den genannten Jahren 6 Milliarden Euro nicht verbauen. ({3}) Es wurden Teile von einem Darlehen in einen Baukostenzuschuss umgelenkt. Das ist etwas ganz anderes als Investitionen in das Bestandsnetz oder in Neubau. ({4}) Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis und lesen Sie die Höhe der investiven Mittel in Ihrem Schienenwegeausbaubericht nach! ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich dachte, wir diskutieren heute über den Straßenbaubericht und analysieren die Situation, wie sie ist. ({0}) Stattdessen werden uns aber von allen Seiten alle möglichen Vorstellungen über das, was Koch und Steinbrück erreichen und umsetzen wollten, vorexerziert. Fakt ist doch Folgendes - das kann man nachlesen; ich habe mir den Bericht extra geben lassen -: Koch und Steinbrück schlagen im Schienenbereich - das kann man Subventionen oder Finanzhilfen nennen - eine Kürzung um 633 Millionen Euro pro Jahr vor - und zwar kumulierend. ({1}) Ich finde, dass wir in der Situation, in der wir gemeinsam sind, vor allem aber die Regierungskoalition, die in der Verantwortung steht, darüber nachdenken müssen, ob es sinnvoll ist, wenn es sich zwei außenstehende Ministerpräsidenten, die den Auftrag hatten, Vorschläge zum Thema Subventionsabbau zu machen, so einfach machen. Statt dort, wo wirklich Subventionen gewährt werden, anzusetzen, kürzen sie einfach den Bahnetat pauschal um jährlich 633 Millionen Euro. Lieber Herr Oswald und lieber Herr Fischer, das hätten auch Sie nicht mitgemacht. ({2}) Auch Sie hätten gesagt, dass eine solche Kürzung sachgerecht auf die drei Haupttitel - Straße, Schiene und Wasserstraße - aufgeteilt werden soll. Genau das ist bei diesem Vorgang in der Verantwortung der Regierungskoalition gemacht worden. Ich hätte gerne die Situation bei dieser Debatte hier im Hause erlebt, wenn wir den Vorschlag von Koch/ Steinbrück übernommen hätten. Sie haben nämlich vermieden, die Mittel für den Straßenbau zu kürzen, was man ja auch hätte tun können. Das haben sie sich aber nicht getraut. Sie haben einfach im Schienenbereich pauschal um 633 Millionen Euro pro Jahr bis 2006 gekürzt. Das finde ich einfach nicht in Ordnung. Das, was wir an dieser Stelle gemacht haben, ist genau das Richtige. Sie hätten das auch so gemacht. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Gleicke?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Danckert, nachdem wir heute gehört haben, dass sich die Opposition deutlich dahin gehend artikuliert hat, dass sie durch die Koch/Steinbrück-Vorschläge nur die Schiene treffen wollte, möchte ich Sie fragen - da es sich beim Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nummer 8 um ein Schienenprojekt handelt -, ob Sie meinen Eindruck teilen, dass der thüringische Ministerpräsident, Herr Althaus, den Kürzungen nach Koch/ Steinbrück nur deshalb zugestimmt hat, um das einzige Wahlkampfthema, das er hat, nicht zu verlieren? ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Gleicke, erst einmal bedanke ich mich für Ihre Zwischenfrage; denn dadurch geben Sie mir die Gelegenheit, einen Teil meiner Rede als Antwort auf Ihre Frage abzuarbeiten. ({0}) Ich könnte Ihnen einfach antworten: Ja. ({1}) Mein Eindruck ist, dass er versucht, dieses Wahlkampfthema in die Öffentlichkeit zu schieben. Dies denke ich vor allen Dingen - dafür spricht im Moment viel -, nachdem ich gehört habe, dass er Herrn Mehdorn gar nicht getroffen hat. Dann würde das besonders problematisch werden. Das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“, über das Sie sprechen, ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Es eignet sich überhaupt nicht für innerthüringische Wahlkämpfe. ({2}) Dieses Projekt - dazu lade ich auch die Opposition ein müssen wir gemeinsam stemmen, damit es realisiert werden kann. Das ist die Antwort auf meine Frage. ({3}) An dieser Stelle hatte ich vor, mich bei allen Parteien - auch bei denen, die damals Regierungsverantwortung getragen haben; ebenso bei Herrn Friedrich, der gerade dazwischengequakt hat ({4}) ausdrücklich für die Initiative, die sie im Zusammenhang mit den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ gezeigt haben, zu bedanken. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag. Deshalb sind wir in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ trotz engster Haushaltsspielräume realisiert wird. ({5}) Sollte Herr Mehdorn wirklich gesagt oder gedacht haben, was Herr Reinholz hier berichtet hat - nach meiner Kenntnis haben die sich überhaupt nicht getroffen; vielleicht hat er aber auch geahnt, was Herr Mehdorn vorhat -, dann überschreitet er aus meiner Sicht seine Möglichkeiten. Ob diese Mittel zur Verfügung stehen, muss mit dem Ministerium, mit dem Minister Stolpe und seinem Stab, abgesprochen werden. Ich sage als ostdeutscher Abgeordneter: Es würde mich sehr treffen, wenn wir das Projekt an dieser Stelle stoppen würden. Es muss fortgeführt werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch eine Zwischenfrage?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, ich wollte nur sagen: Der Kollege Grund möchte eine Zwischenfrage stellen. Wenn Sie sich eigene Fragen beantworten, kann ich dafür leider nicht die Zeit stoppen.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Herr Kollege Danckert, können Sie bestätigen, dass das Thema 8.1/ 8.2, der mögliche Stopp des Baus dieser ICE-Trasse, nicht durch die thüringische Regierung in die Öffentlichkeit gebracht worden ist, sondern durch Meldungen sowohl von der Deutschen Bahn als auch vom Bundesverkehrsministerium, die ich auch hier vorgetragen habe? ({0}) Würden Sie ferner befürchten, dass, wenn der Stopp des Baus dieser Trasse wahr werden sollte, die rot-grüne Bundesregierung ihren eigenen Kandidaten für das Amt des thüringischen Ministerpräsidenten aufgegeben hätte, der ja auch davon betroffen wäre? ({1})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege Grund, ich habe gestern versucht, die Nachrichten dazu zeitlich zu sortieren. Nach meiner Kenntnis war der thüringische Wirtschaftsminister Reinholz der Erste, der das Thema in die Öffentlichkeit geblasen hat. Alle anderen haben nachgezogen, um in irgendeiner Weise zu dem Punkt Stellung zu nehmen. Also war der Eindruck, den Frau Gleicke in ihrer Frage zum Ausdruck gebracht hat, dass hier möglicherweise ein Wahlkampfthema angesprochen werden soll, gar nicht falsch. ({0}) Das hat mich beunruhigt; danach habe ich die weiteren Meldungen auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen. Ich sage noch einmal: Wir werden das gemeinsam besprechen; dazu lade ich Sie ein. Die Fortführung des Projekts „ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt-Halle-Leipzig“ ist notwendig und wichtig. Dann müssen wir uns aber auch anstrengen: Ich bitte Sie um Vorschläge, wie wir die Finanzierung vornehmen sollen. Sie stellen sich hier nur hin und fordern alles Mögliche - wir sehen es auch in den Ausschüssen: Von überall kommen neue Vorschläge zu weiteren Projekten, die realisiert werden sollen -, doch niemand sagt, wie all das finanziert werden soll. Das erinnert mich verdammt an dieses fette Märchenbuch namens „Bundesverkehrswegeplan 1992 - 2012“, in dem Tausende von Projekten standen, von denen sich aber keines richtig realisieren ließ. Sie haben in der Zeit Ihrer Regierung ja selber mitgekriegt, wie schwer es ist, sich gegenüber den Haushältern durchzusetzen, die immer ganz andere Interessen haben, viel allgemeinere. Da müssten Sie eigentlich großes Verständnis für unsere Seite haben. Wir sind nur darauf bedacht, dass unsere Straßen- und Schienenprojekte realisiert werden können. Da sind wir meines Erachtens trotz der schwierigen Haushaltslage auf einem guten Weg. ({1}) - Frau Blank, Sie dürfen fragen, wenn Sie wirklich wollen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das erlaube eigentlich noch immer ich.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich finde, dass zwei Zwischenfragen für eine Rede eigentlich genug sind. ({0}) Da Sie es nun schon erlaubt haben, bitte - aber nur noch kurz.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Danckert, Sie sprechen hier so begeistert von der Trasse Nürnberg-Erfurt. Wären Sie so freundlich, Ihren Koalitionspartner, den Kollegen Schmidt, der in den „Nürnberger Nachrichten“ - man kann die Zeitung ja auch nennen - als Erster verkündet hat - es war also kein Wahlkampfthema! -, dass er begeistert ist, dass es weitergeht, davon zu überzeugen, dass der Weiterbau wichtig ist? ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Blank, ich versuche den Kollegen Schmidt ständig von meinen richtigen Auffassungen zu überzeugen. ({0}) Vielleicht gelingt mir das auch in dieser Frage. Aber lassen Sie mich zum Schluss noch etwas anderes sagen: Objektiv betrachtet befinden wir uns in einer extrem schwierigen Haushaltslage. Man kann sich für diesen Bereich natürlich alles Mögliche wünschen, aber wenn man fordert, der Titel für Straßen-, Schienen- oder Wasserstraßenbau müsse erhöht werden, muss man immer auch dazusagen, an welcher Stelle im Gesamthaushalt eingespart werden soll. Ohne eine solche Gegenfinanzierung - ich nenne das einmal so - geht es nicht. Wir sind, denke ich, gut beraten, wenn wir uns darüber Gedanken machen, ob die Finanzierung der Straßenund Schienenbaumaßnahmen allein über den Haushalt in Zukunft der richtige Weg ist. Ich glaube, wir müssen in dieser Frage neue Wege beschreiten und uns Gedanken darüber machen, ob die Standards, zu denen wir im Laufe der Jahre gekommen sind, noch richtig sind. Wir müssen uns fragen, ob wir es noch vertreten können, dass in einer Ortslage eine neue Bundesstraße und ein halbes Jahr später eine Ortsumgehung gebaut wird. ({1}) Diesen Luxus werden wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können. Wir werden zusehen müssen, ob wir nicht über private Finanzierungsmöglichkeiten - ich nenne als Stichwort PPP - Alternativen entwickeln können. Denn ich habe den Eindruck, dass die Privatwirtschaft zum Teil sehr viel besser mit den Mitteln umgehen kann - es muss nicht immer zu extrem hohen Nachtragsangeboten kommen - und bei der Realisierung schneller und zügiger ist. Das könnte eine Alternative sein und soll - das sage ich ausdrücklich - das Bestehende nicht ablösen. Wir werden es aber nicht vermeiden können, in diesem Bereich neue Wege zu beschreiten. Ein letzter Gedanke. Frau Blank hat beim Thema Maut, das hier offensichtlich nicht zu vermeiden war, Gott sei Dank auch die beiden Wirtschaftskonzerne angesprochen. Ich hätte mir an dieser Stelle von Ihnen ein deutliches Wort gewünscht - wir haben ein solches oft genug gesprochen -, dass der Ursprung dieser Misere, die wir zu verzeichnen haben, der ist, dass zwei große Industriekonsortien ihre vollmundigen Versprechungen nicht erfüllt haben. Das ist der Grund. Wenn die Maut Realität geworden wäre, hätten wir ab 31. August/ 1. September 2003 das Füllhorn der Mauteinnahmen gehabt. Ich bin dem Minister dankbar, dass er sehr sorgfältig verhandelt hat und zu einem neuen und besseren Ergebnis gekommen ist. Ich wünsche uns allen, dass wir bis zum Ende des Jahres das Thema Maut abhaken können und uns ein funktionierendes Mautsystem übergeben wird. Dieses müssen wir dann aber auch weiterentwickeln. Das ist mein Wunsch an Sie. Mehr möchte ich an dieser Stelle dazu nicht sagen. Das, was wir jetzt vorgesehen haben, kann nicht das Ende sein. Ich finde, wir sind, was den Straßenbau angeht, auf einem sehr guten Weg. Wir haben viel erreicht. Die 5,6 Milliarden Euro, die im Jahr 2002 ausgegeben worden sind, sind gut ausgegeben worden. Wir werden sehr darauf achten, dass die uns zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoll, zweckmäßig und zukunftsweisend ausgegeben werden, damit auch die Wirtschaft davon profitiert. Das ist unser Wunsch. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Satz „Es liegen keine Meldungen vor“ verkünden Staureporter und Piloten für die A 3 in Richtung Nürnberg im Verkehrsfunk heutzutage nicht einmal mehr an Heiligabend nach 23 Uhr. Statt der zulässigen Geschwindigkeit sind in Deutschland Schritttempo oder Stillstand an der Tagesordnung. Bei der Infrastrukturvorsorge rollen die Räder seit Schröders Amtsantritt eher rückwärts. Das hat Folgen. Die persönliche Mobilität wird eingeengt, Chancen für Lebensgestaltung und Erwerb bleiben ungenutzt, Wohlstand und Beschäftigung sinken, wirtschaftliches Wachstum wird verhindert. Nach der jetzt bekannt gewordenen Mittelfristplanung der rot-grünen Bundesregierung kommt alles noch schlimmer. Für den Zeitraum 2004 bis 2008 fehlen durch globale Minderausgaben wegen Rentenfinanzierung, Mautkompensation und Subventionsabbau gegenüber der geltenden Finanzplanung für die Straße rund 3,9 Milliarden Euro, für die Schiene rund 3,5 Milliarden Euro und für die Wasserstraßen 386 Millionen Euro. Bereits 2004, also in diesem Jahr, liegt die Höhe der Verkehrsinvestitionen gut 670 Millionen Euro unter den Haushaltsansätzen, die das Parlament beschlossen hat. ({0}) In den Folgejahren werden die Kürzungen sogar auf über 1,8 Milliarden Euro pro Jahr ansteigen. ({1}) In der Summe fallen dem Rotstift bis 2008 knapp 7,8 Milliarden Euro für Verkehrsinfrastruktur zum Opfer. Bemerkenswert ist dabei - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden -, dass die Kürzungen der Subventionen für die Schieneninfrastruktur von der rotDirk Fischer ({2}) grünen Bundesregierung zu 50 Prozent auf die Straßeninvestitionen umgeschichtet worden sind. ({3}) Es liegt doch auf der Hand, dass die Beratungen der auf dem Bundesverkehrswegeplan basierenden Ausbaugesetze jetzt schon eher virtueller Art sind, da die Finanzierungsbasis überhaupt nicht mehr stimmt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, offenbar verschafft es Ihnen aber schon Genugtuung, wenn das Parlament und die Öffentlichkeit virtuell beschäftigt sind. Ob hinten etwas herauskommt, ob das ernst zu nehmen ist und ob das dann konsequent durchgeführt wird, scheint Sie immer weniger zu interessieren. ({4}) Herr Kollege Schmidt, diese Politik hat natürlich erhebliche Konsequenzen. In diesem Jahr 2004 können in allen 16 Bundesländern zusammen nur noch 23 Straßenprojekte begonnen werden. In den großen Flächenländern Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz wird in diesem Jahr kein einziges neues Straßenbauprojekt begonnen. ({5}) Dringend notwendige Erhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen liegen auf Eis. Wir leben also von der Substanz. Das hat weit reichende Folgen für die Zukunft. Die Systeme marodisieren. ({6}) Sie später einmal wieder in Ordnung zu bringen wird umso teurer werden. ({7}) Die Bundesregierung hat nun endlich das wahre Ausmaß des Dilemmas benannt. Sie hat meine Forderung vom letzten Freitag, bis zur heutigen Debatte eine „projektscharfe“ Streichliste vorzulegen, immerhin bis gestern nach Feierabend erfüllt. Wesentliche Ursache dieses Dramas ist der Mautmurks, den Verkehrsminister Dr. Stolpe und sein Vorgänger Bodewig gemeinsam mit den von dieser Bundesregierung ausgewählten Vertragspartnern angerichtet haben. Herr Kollege Danckert, nicht die Opposition, sondern diese Bundesregierung hat die Vertragspartner ausgesucht. ({8}) Ich möchte einmal darauf hinweisen, dass einer Ihrer Vertragspartner, der nach Ihrer Auffassung so tolle Leistungen vollbracht hat, nahezu zur Hälfte dem Bund selbst gehört, sodass der Bund einen bestimmenden Einfluss im Unternehmen hat. Das heißt: Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere, sondern doch besser auf sich selbst. ({9}) Zu den aktuellen Turbulenzen kommt hinzu, dass die Bundesregierung die Nachfragedynamik des Verkehrsträgers Straße und die aktuellen Möglichkeiten des Schienenverkehrs völlig falsch einschätzt und an ihren ideologisch belasteten Wunschvorstellungen festhält, nach denen die Verkehrsleistungen im Schienenpersonenverkehr bis 2015 um 32 Prozent und im Schienengüterverkehr sogar um 103 Prozent steigen werden. ({10}) Das ist im Verkehrsbericht 2000 nachzulesen und wurde im Bundesverkehrswegeplan 2003 wiederholt. Letzteres ist wirklich eine echte Lachnummer; denn zwischenzeitlich hatten Herr Mehdorn - er sprach von einer höchstens 50-prozentigen Steigerung - und Herr Bodewig - er sprach von einer höchstens 65-prozentigen Steigerung diese Prognosen für den Schienengüterverkehr bereits nach unten korrigiert. Man nimmt das jedoch nicht zur Kenntnis und bringt die alten, weit überzogenen Prognosen. Auch die Realität sieht anders aus: Zwar stieg die Verkehrsleistung der DB AG im Nahverkehr von 1993 bis 2003 im Wesentlichen aufgrund der Regionalisierungsmittel des Bundes - erwirtschaftet durch den steuerfinanzierten Umsatz - um 27 Prozent, im Fernverkehr sank sie jedoch trotz der hohen Ausgaben für kostenintensive Projekte um 5,4 Prozent. Die Verkehrsleistungen des Schienengüterverkehrs stiegen zwischen 1993 und 2002 zwar um knapp 21 Prozent, die des LKW-Verkehrs stiegen mit über 40 Prozent aber deutlich stärker. ({11}) Im Gesamtverkehrsmarkt sank der Anteil des Schienengüterverkehrs seither von 16 Prozent auf 14 Prozent, während der LKW-Anteil von 65 Prozent auf 69 Prozent anstieg. Ich will jetzt das ansprechen, was die Koalition ganz kurzfristig zusätzlich in diese Debatte eingeschoben hat, nämlich den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften. Nach den EU-Richtlinien hätte die Umsetzung der Ergebnisse der Taskforce bis zum 15. März 2003 erfolgen müssen. Erst heute, ein Jahr zu spät, ist der Kabinettsentwurf für dieses Gesetz dem Parlament als Initiative der Koalitionsfraktionen zugeleitet worden. Zwar ist die Umsetzung der Taskforce-Ergebnisse ein sinnvoller Zwischenschritt für die Umsetzung des EU-Eisenbahnpakets, deren Ziele sich mit unserer Bahnreform, mehr Verkehr auf die Schiene und weniger Belastung des Steuerzahlers, decken. Allerdings lässt der Gesetzentwurf klare Regelungen zur organisatorischen, finanziellen und personellen Unabhängigkeit von Netz und Verkehr, zum Anspruch auf diskriminierungsfreie Netznutzung, zur wirksamen Dirk Fischer ({12}) Kontrolle diskriminierungsfreier Trassenpreise und zum Schadensersatz bei betrieblichen Störungen vermissen und bleibt damit weit hinter den europäischen Vorgaben zurück. Handlungsbedarf bleibt also bestehen. Die CDU/CSU hält an den Zielen ihrer Bahnreform fest und fordert deshalb erneut von der Bundesregierung eine umfassende Bestandsaufnahme und kritische Bewertung der Effekte des bisherigen Vollzuges der Bahnreform mit externer Evaluierung. Interessenunabhängige Sachverständige sollten ordnungspolitische Empfehlungen an den Gesetzgeber sowie an den Bund als Alleineigentümer richten und Vorschläge für die dritte Stufe der Bahnreform machen. Wir brauchen dringend - lassen Sie mich das abschließend sagen - eine strikte Trennung staatlicher Ordnungspolitik durch Gesetze, Verordnungen, Genehmigungsund Kontrollverfahren von jeglicher unternehmerischer Tätigkeit. Hier gibt es in Deutschland seit Jahren eine inakzeptable Fehlentwicklung. Es kann nicht hingenommen werden, dass der Schwanz DB AG mit dem Hund Bund wedelt. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2603 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Drucksache 15/2588. Unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- fehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der Unter- richtung durch die Bundesregierung über einen Vor- schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die allgemeine Einführung und die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Ge- meinschaft eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2588 empfiehlt der Ausschuss, in Kennt- nis der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Par- laments und des Rates zur Änderung der Richtlinie über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimm- ter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden, nur die FDP hat sich enthalten. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 c bis 4 e sowie den Zusatzpunkten 2 und 3. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2653, 15/2323, 15/2456, 15/2743 und 15/2470 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2743 soll gemäß § 96 der Ge- schäftsordnung zusätzlich an den Haushaltsausschuss über- wiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das scheint so zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zu- satzabkommen vom 15. Oktober 2003 zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- blik Österreich zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung auf dem Gebiet der Erbschaftsteu- ern - Drucksache 15/2721 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der im Dezember 2002 vorgenommenen Änderungen des Internationalen Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen - Drucksache 15/2700 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Innenausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 17 a: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 19. August 2002 zwischen den Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation und der Europäischen Weltraumorganisation über den Schutz und den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Informationen - Drucksache 15/2545 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 15/2692

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Frank Hofmann ({0}) Dorothee Mantel Silke Stokar von Neuforn Ernst Burgbacher Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2692, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({1}) Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 17 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat - Drucksache 15/2542 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({3}) - Drucksache 15/2739 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Kramme Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2739, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 17 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat Förderung der Privatwirtschaft im Mittelmeerraum ({5}) KOM ({6}) 587 endg.; Ratsdok. 13769/03 - Drucksachen 15/1948 Nr. 1.40, 15/2204 - Berichterstattung: Abgeordneter Georg Fahrenschon Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim- mig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland ({7}) - Drucksache 15/2742 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Günther Friedrich Nolting, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ({9}) - Drucksache 15/1985 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({10}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es keinen. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen legen heute den Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes vor, also eines Gesetzes, das die Verfahren der Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der Entscheidung über bewaffnete Einsätze deutscher Streitkräfte im Ausland regeln soll. Gleich zu Anfang möchte ich Folgendes feststellen: Der Parlamentsvorbehalt bei bewaffneten Einsätzen im Ausland bleibt und wird in keiner Weise eingeschränkt. ({0}) Dieser Parlamentsvorbehalt ist in der Tat eine deutsche Besonderheit, aber diese Besonderheit hat sich bewährt. Sie ist heute Bestandteil unserer Rechtskultur. Es bleibt dabei: Die Bundeswehr ist und wird ein Parlamentsheer sein. ({1}) Nach wie vor wird der Deutsche Bundestag jeden Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland sorgfältig prüfen und beraten, bevor er eine Zustimmung gibt. Wir tun das vor dem Hintergrund, dass für uns der Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland kein normales Mittel von Politik ist, sondern immer ein besonders zu prüfendes und eine besonders zu beratende Ausnahme bleiben wird. Wir tun das vor dem Hintergrund, dass wir in jedem Fall zeigen wollen, dass wir uns unserer Verantwortung für die Entsendung von deutschen Soldaten ins Ausland bewusst sind. Das ist immer eine Entscheidung, bei der es auch um lebensgefährliche Risiken geht. Schließlich wollen wir, dass jede Soldatin und jeder Soldat, die bzw. der für Deutschland einen Auftrag im Ausland erfüllt, weiß, dass sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament, zumindest in seiner Mehrheit, hinter diesem Auftrag steht. ({2}) Wenn das alles so bleiben soll, dann muss man die Frage beantworten, warum denn ein Parlamentsbeteiligungsgesetz notwendig ist. Wir haben das Grundgesetz, wir haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und wir haben nach nunmehr annähernd 50 Entscheidungen über Auslandseinsätze - übrigens hat das Parlament in allen Fällen dem Antrag der jeweiligen Bundesregierung zugestimmt - schon eine bewährte Staatspraxis. Trotzdem gibt es in diesem Haus einen breiten Konsens darüber, dass es Sinn macht, in Form eines Bundesgesetzes verbindliche Regelungen auch im Detail und damit Rechtssicherheit für alle beteiligten Seiten zu schaffen. ({3}) Denn die Erfahrung hat uns gelehrt: Es gibt Unsicherheiten darüber, wo der Parlamentsvorbehalt anfängt und wo er seine Grenzen findet. Mit der Zeit sind bestimmte Grauzonen entstanden, zum Beispiel dann, wenn die Bundesregierung in informellen Gesprächen die Zustimmung der Fraktionen eingeholt hat, weil sie sich nicht sicher war, ob sie in diesem Fall schon das Parlament fragen musste oder nicht. Es gibt auch Probleme bei dem Verhältnis von Anlass und Aufwand. Zum Beispiel hat sich die Bundesregierung bei der Frage, ob für die Entsendung von ein oder zwei Uniformierten bei einer begrenzten internationalen Mission die Parlamentarier aus der Sommerpause zurückgeholt werden sollen, in der Vergangenheit häufig geweigert, diesen Weg zu gehen. Das ist aus unserer Sicht nicht wünschenswert. Wenn es dazu kommt, dass ein Parlamentsrecht in bestimmten Fällen - zum Beispiel bei der Verlängerung schon mehrfach verlängerter, unbestrittener und unter unveränderten Umständen stattfindender Einsätze nicht mehr wahrgenommen und dadurch ausgehöhlt wird, dann ist das nicht gut. Dann ist es sinnvoll, sich über angemessene Verfahren und Regelungen zu verständigen. Genau das soll mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz erreicht werden. Dabei greifen wir mit unserem Entwurf eine Anregung auf, die das Bundesverfassungsgericht bereits in dem immer wieder zitierten Urteil vom 12. Juli 1994 gegeben hat, wohl schon damals erkennend, dass eine gesetzliche Regelung ein Plus an Rechtssicherheit darstellt und auch ein Mittel ist, um solche möglichen Grauzonen zu vermeiden. Nun stellt sich die Frage, ob es nicht wünschenswert wäre, dass ein Parlamentsbeteiligungsgesetz in diesem Hause auf eine möglichst breite Grundlage gestellt würde. Wir haben uns Mühe gegeben und es versucht. Ich möchte ausdrücklich drei Kollegen besonders danken: Ronald Pofalla von der CDU, Christian Schmidt von der CSU und Jörg van Essen von der FDP. Ich glaube, wir haben gute Gespräche geführt, und ich bin sicher, dass die gemeinsamen Versuche auch dazu beitragen werden, dass die Beratung dieses Gesetzentwurfs in einem Umfeld von Sachlichkeit stattfinden kann. ({4}) Aber obwohl es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gab, konnten wir uns nicht verständigen. Das gilt insbesondere für die Fragen, ob es zum einen einen besonderen Entsendeausschuss und zum anderen eine Vorabzustimmung zu integrierten Einsätzen von NATO und EU, die in Zukunft bevorstehen werden, geben soll. Deswegen gibt es nun konkurrierende Gesetzentwürfe. Was ist die Methodik bzw. die Vorgehensweise unseres Entwurfs? Ein Mittel ist zunächst einmal die Definition. In dem Gesetzentwurf wird definiert, was ein bewaffneter Einsatz ist und was nicht. Diese Begriffsbestimmung stellt klar, dass vorbereitende Maßnahmen und Planungen, aber zum Beispiel auch humanitäre Hilfeleistungen durch einzelne Vertreter der Bundeswehr - jedenfalls dann, wenn diese nur zum Selbstschutz bewaffnet sind und nicht in die Gefahr geraten, in einen bewaffneten Konflikt einbezogen zu werden - noch keinen bewaffneten Einsatz darstellen und auch nicht unter den Parlamentsvorbehalt fallen. Das besondere Kennzeichen unseres Entwurfs ist die Einführung eines so genannten vereinfachten Zustimmungsverfahrens. Dieses Verfahren soll dann zur Anwendung kommen, wenn die Einsätze von geringer Intensität und Tragweite sind, zum Beispiel bei KunduzKommandos, die zur Vorbereitung eines Einsatzes entsandt werden, wenn einzelne Soldaten in Austauschvereinbarungen mit verbündeten Streitkräften entsandt werden oder wenn einzelne Uniformierte für Missionen der Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder ähnlicher internationaler Organisationen angefordert werden und auch dies keine besondere politische Tragweite aufweist. Das vereinfachte Verfahren soll auch dann greifen, wenn es sich um eine Verlängerung eines Einsatzes handelt, der unbestritten ist und unter unveränderten Rahmenbedingungen stattfindet. Vereinfachtes Verfahren heißt in der Sache, die Bundesregierung leitet einen Antrag an das Parlament, gibt ihn den Sprechern der entsprechenden Fachausschüsse bekannt und lässt ihn per Drucksache an alle Mitglieder des Hauses verteilen. Dann beginnt eine Art Verschweigungsfrist - im Gesetzentwurf wird sie zwar nicht so genannt, aber man kann es als solche bezeichnen - von sieben Tagen. Wenn bis dahin nicht eine Fraktion oder 5 Prozent der Mitglieder des Bundestages - das sind bei der heutigen Größe des Bundestages etwa 30 Mitglieder - Einwand erheben und Beratungsbedarf anmelden, dann gilt dieser Antrag als stattgegeben. Wenn ein solcher Einspruch allerdings erfolgte, würde das normale Beratungsverfahren automatisch angewandt. Dabei ist es wichtig, eines zu wissen: Es handelt sich hierbei zwar um ein vereinfachtes, aber nicht um ein verkürztes Verfahren. Viele übersehen, dass wir bisher bei der normalen Praxis des Parlamentsvorbehalts in der Regel nicht mehr als drei Tage benötigen: An einem Tag wird die Kabinettsentscheidung getroffen, am darauf folgenden Tag findet die erste Lesung statt, der die Überweisung an die Ausschüsse und die Beratungen in den Ausschüssen folgen, und bereits am dritten Tag entscheidet das Parlament. Es ist ganz wichtig, das zu wissen. Bei der Frage künftiger integrierter Einsätze ist folgendes Argument zu berücksichtigen: Sowohl bei den von der EU als auch bei den von der NATO gesetzten Fristen ist es durchaus möglich, am deutschen Parlamentsvorbehalt festzuhalten, ohne dass man irgendwelche Abstriche bei der Beteiligung an solchen gemeinsamen Missionen machen müsste. ({5}) Ich bin ganz sicher, dass dieses vereinfachte Verfahren nur dann angewendet wird, wenn ein Beratungsbedarf tatsächlich unwahrscheinlich ist. Das wäre der Fall, wenn die Vereinten Nationen eine Beobachtermission in irgendeinem Land durchführen und dabei auf ein oder zwei uniformierte Fachleute aus Deutschland zurückgreifen wollen. Dann würde es keinen gesteigerten Beratungsbedarf geben, insbesondere wenn die Mission nicht in einem Gebiet von besonderer Spannung oder von besonders widerstreitenden Interessen stattfindet. Das wäre auch bei einer Verlängerung des Einsatzes der Fall - wir haben das schon in den letzten Monaten erlebt -, wenn der Einsatz selbst unstreitig ist und es vor allen Dingen keine Veränderung beim Umfang und bei der Art des Einsatzes sowie bei den politischen Rahmenbedingungen gibt. Wir sind sicher, dass das vereinfachte Verfahren in der Tat zu einer Entlastung insbesondere von uns selbst, den Parlamentariern, führen kann und dass es in keinem Fall zu einer Vermeidung von notwendigen Diskussionen über wesentliche oder umstrittene Einsätze missbraucht werden kann. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil die Hürde, durch sofortiges Widersprechen anstelle des vereinfachten Verfahrens Beratungen im Rahmen des normalen Prozesses herbeizuführen, sehr niedrig ist. Ich glaube allerdings auch, dass das vereinfachte Verfahren den Parlamentsvorbehalt stärken und festigen wird, gerade weil es einen überflüssigen Aufwand vermeiden hilft, wenn in der Sache ein Konsens besteht. Wichtig bei unserem Gesetzentwurf ist auch, dass wir das, worüber man bisher keine Klarheit hatte, regeln. In diesem Gesetzentwurf ist ein ausdrückliches Rückholrecht des Parlaments vorgesehen. Das heißt, es ist jederzeit möglich, dass die gegebene Zustimmung des Bundestages zu einem von der Bundesregierung beantragten Einsatz zurückgenommen werden kann. Darüber bestand bisher keine Klarheit. Die Regelung zur nachträglichen Zustimmung, die wir in den Entwurf aufgenommen haben, schreibt hingegen eigentlich nur das fest, was bisher ohnehin Staatspraxis war. Es ist völlig klar, dass bei einer unmittelbaren Gefahr im Rahmen von Einsätzen, die keinen Aufschub dulden, oder aber bei Rettungseinsätzen, deren Details nicht bekannt werden dürfen, eine vorherige Parlamentsentscheidung nicht möglich ist. Es wird hierbei aber ausdrücklich am Parlamentsvorbehalt festgehalten. Es hat eine nachträgliche Entscheidung zu erfolgen. Außerdem hat eine ständige Unterrichtung des Parlaments zu erfolgen. Ich bin sicher, dass dieser Entwurf - er hat eine lange Vorgeschichte und ihm ging viel Vorarbeit voraus - eine gute Grundlage dafür ist, eine angemessene, eine bessere, vor allen Dingen eine rechtssichere Regelung für die Zukunft zu treffen. Der einzige Sinn ist tatsächlich, den schon vorhandenen Parlamentsvorbehalt zu stärken und für die Zukunft dauerhaft zu gewährleisten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eckart von Klaeden. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Militärische Gewalt solle nicht mehr als nationaler Souveränitätsakt ausgeübt werden …, sondern als Akt des kollektiven Selbstschutzes aller Nationen, die dafür sorgen, dass auf der ganzen Welt der Friede erhalten bleibt und des Angreifern unmöglich gemacht wird, den Frieden zu stören. Das ist ein Zitat von Carlo Schmid aus den Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates aus dem Jahre 1948. Dieses Zitat hat an Aktualität nichts eingebüßt. Es ist aktueller als je zuvor; denn gerade angesichts der neuen Gefahren asymmetrischer Bedrohungen werden multinationale Operationen den standardmäßigen Rahmen militärischer und internationaler Einsätze bilden. Auch der Entwurf des EU-Verfassungsvertrages sieht die Einführung der Prinzipien der strukturierten Zusammenarbeit im militärischen Bereich vor und erhöht damit die Komplexität der intergouvernementalen Entscheidungsfindung. Es kommt daher darauf an, die Entscheidungsprozesse der Bündnisstaaten nicht nur inhaltlich, sondern auch von ihrer Struktur her so weit wie möglich zu harmonisieren. Asymmetrische Entscheidungsprozesse werden sich aufgrund der unterschiedlichen Verfassungslagen in freien Staaten nicht vollständig beseitigen lassen. Aber es kommt darauf an, die Entscheidungsprozesse so weit wie möglich kompatibel zu machen und damit auch den neuen Anforderungen einer vernetzten Sicherheitspolitik zu begegnen, die auf die kommenden Gefahren ausgerichtet ist. Heiko Borchert hat darauf in einem, wie ich finde, beeindruckenden Beitrag hingewiesen. Wir stehen, wie Michael Rühle in der „FAZ“ betont hat, am Anfang bzw. schon in der Mitte des zweiten Kernwaffenzeitalters. Das zeigen Nukleartests in Indien und Pakistan sowie die Atomprogramme Irans und Nordkoreas. Wenn Nuklearwaffen erst in die Hände von Terrorgruppen geraten, müssen wir auf schnelles und effektives Eingreifen vorbereitet sein. Wo sich abgrundtiefer Hass auf den Westen mit religiösen Erlösungsvorstellungen verbindet - so Rühle - und wo der eigene Tod in Kauf genommen oder gar herbeigesehnt wird, ist kein Platz mehr für eine orthodoxe Abschreckungslogik, die den Überlebenswillen aller Beteiligten voraussetzt. Für Terrorgruppen wie al-Qaida sind Nuklearwaffen nicht wie im westlichen Denken das letzte, sondern das erste Mittel. ({0}) Diesen Herausforderungen müssen wir im Interesse der Sicherheit unseres Landes in funktionierenden militärischen und politischen Bündnissen begegnen können. Diese Bündnisse werden nur erfolgreich sein können, wenn die Entscheidungsprozesse den Kriterien der Effektivität standhalten können. Die Anschläge von Spanien zeigen, dass terroristische Organisationen durchaus das Ziel haben, die Geschlossenheit und die Entschlossenheit des Westens zu beeinträchtigen oder zu zerstören. ({1}) Parlamentsvorbehalte kennen in Europa nur Deutschland und Schweden. Deutschland ist damit in Europa das einzige NATO-Land, das über einen Parlamentsvorbehalt verfügt. ({2}) Ein Bündnis wie die NATO wird nur so stark und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird nur so erfolgreich sein wie ihr schwächstes Mitglied. Wer durch seine eigenen innerstaatlichen Entscheidungsvoraussetzungen die Entscheidung im Bündnis erschwert, der schwächt das Bündnis und zwingt andere geradezu zu Alleingängen. Das ist eine Konsequenz, die Verteidigungsminister Struck nach einem informellen Ministertreffen in Colorado Springs im Herbst letzten Jahres gezogen hat. Er hat zu Recht die Langsamkeit deutscher Entscheidungsprozesse beklagt und Reformen angemahnt. ({3}) Die Langsamkeit deutscher Entscheidungsprozesse manifestieren SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch den vorliegenden Gesetzentwurf. Herr Kollege Erler hat das bestätigt, als er gesagt hat, man wolle der bewährten Parlamentspraxis eine gesetzliche Grundlage geben. Ich halte es dagegen für abwegig, dem Parlament nach dem Motto „Vogel, friss oder stirb!“ ({4}) einen umfangreichen und detaillierten Gesetzentwurf vorzulegen, an dem das Parlament noch nicht einmal ein Komma ändern darf. Die Erfordernisse, die in § 3 des Gesetzentwurfs von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschrieben werden, sind meines Erachtens verfassungswidrig. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner AWACS-Entscheidung von 1994 unter Bezugnahme auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ausdrücklich festgestellt: Der der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit wird durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsätze, die notwendige Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen. Herr Wiefelspütz, wenn Sie sich einmal die Mühe machen, diese Passage des Verfassungsgerichtsurteils mit Ihrem Gesetzentwurf zu vergleichen, dann werden auch Sie zu der Erkenntnis kommen, ({5}) dass dort ein Widerspruch vorliegt. Der Entwurf von SPD und Grünen ignoriert zudem die internationale Eingebundenheit der Bundeswehr in NATO und EU. ({6}) Der Gesetzentwurf tut so, als hätten wir im militärischen Sinne noch nationale Streitkräfte oder als wäre ihr isolierter Auslandseinsatz der Regelfall. ({7}) Das Gegenteil ist richtig. Mit der Umstrukturierung der Bundeswehr in Einsatz-, Stabilitäts- und Unterstützungskräfte beginnt die Bundesregierung, die Bundeswehr auf die Herausforderung einer vernetzten Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Das tut Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Sie hätten ihn so auch 1955 nach dem NATO-Beitritt verabschieden können. ({8}) Diese Vorwürfe wird man dem Entwurf eines Auslandseinsätzemitwirkungsgesetzes der FDP sicherlich nicht machen können. Ich halte den vorgeschlagenen Entsendeausschuss prinzipiell für eine gute Idee. Allerdings halte ich es aus mehreren Gründen für problematisch, einem solchen Ausschuss die Möglichkeit zu geben, die Zustimmung des Parlaments zu ersetzen. ({9}) Es gehört zum Wesen der parlamentarischen Entscheidung - im Gegensatz zum exekutiven Handeln -, dass sie, außer in Personalfragen, öffentlich und transparent zu erfolgen hat. Dass dieser Entsendeausschuss geheim tagen und Entscheidungen des Parlaments ersetzen soll, scheint mir ein untrügliches Zeichen dafür zu sein, dass er sich zu weit in den Kernbereich der Exekutive vorwagen würde. ({10}) Meines Erachtens sollte das Parlament dem Prinzip der Gewaltenteilung folgen und sich dabei vor allem dem Ob eines Einsatzes und dessen politischen Zielen widmen. Es muss dem Bundestag um Ermächtigung und Kontrolle, aber nicht so sehr um die Durchführung des Einsatzes gehen. Je mehr sich der Bundestag vor einem Einsatz oder während eines Einsatzes in das operative militärische Geschäft einmischt oder sich da hineinziehen lässt, umso weniger wird er tatsächlich in der Lage sein, die Durchführung des Einsatzes auch im Interesse der eingesetzten Soldaten wirksam zu kontrollieren. ({11}) - Herr Wiefelspütz, stellen Sie doch eine Zwischenfrage, wenn Sie so viele intellektuelle Probleme haben! ({12}) Weder bei Verwendungen in integrierten Stäben noch vor Einsatz in integrierten Verbänden wie der NATO Response Force oder der EU-Eingreiftruppe sollte es daher meiner Ansicht nach eines konkreten Parlamentsbeschlusses bedürfen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich bitte darum.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich weise Sie nur auf Folgendes hin: Damit ist Ihre Redezeit vorbei. Sie müssen also in der Antwort sozusagen auch den Schluss Ihrer Rede finden. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Statt hier dauernd um das Thema herumzureden, sollten Sie einen Gesetzentwurf vorlegen. Wann legen Sie endlich einen Gesetzentwurf vor, Herr von Klaeden? ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dass wir um das Thema herumreden, ist eine Unterstellung und völlig falsch. Ihr Beitrag zeigt aber, dass Sie Schwierigkeiten hatten, meinen Ausführungen zu folgen. ({0}) Das erstaunt mich nicht. - Bleiben Sie bitte stehen, Herr Wiefelspütz. ({1}) Wir werden bei der Beratung in den Ausschüssen die Gelegenheit nutzen, unsere Vorstellungen einzubringen, ({2}) die ich in einem letzten Satz kurz beschreiben will. - Ich meine, dass wir insbesondere beim Einsatz der Bundeswehr in integrierten Stäben, also NATO Response Force und EU-Eingreiftruppe, ein Verfahren wählen könnten, das dem Verfahren entspricht, das wir in Immunitätsangelegenheiten haben, nämlich am Anfang einer Legislaturperiode einen generellen Parlamentsbeschluss zu fassen und dann das Parlament über eine Verstärkung der Kontrollrechte, wozu ein allgemeines Rückholrecht gehören kann, mit einer effektiven Kontrollbefugnis auszustatten. Ich kann nicht erkennen, dass die bisherige Parlamentspraxis tatsächlich so erfolgreich ist, wie Sie behauptet haben. Ich will zum Beispiel an den Vorgang erinnern - 8982

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist der letzte Satz.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, das war eben schon Ihr letzter Satz. Sie können jetzt kein Beispiel mehr anführen. - Entschuldigung.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei. ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwölf Jahren begannen die Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung mit der Aussendung von Sanitätssoldaten nach Kambodscha. Seitdem gab es weit mehr als zehn Einsätze bewaffneter Streitkräfte der Bundeswehr im Ausland. Sie umfassten allerdings ein viel breiteres Einsatzspektrum, als wir es damals geahnt oder zum Teil befürchtet haben. Man kann auch feststellen: Zu 99 Prozent waren es Einsätze zur Friedenssicherung. Das Parlament der Bundesrepublik besitzt ein so weit gehendes Mitspracherecht bei Auslandseinsätzen wie kaum ein anderes Parlament. ({0}) Mit Entscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatten es sich der Bundestag und alle in ihm vertretenen Fraktionen nie leicht gemacht. Vor allem für uns von der Fraktion der Bündnisgrünen war der Entscheidungsprozess oft strittig, strapaziös und riskant. Gerade deshalb sage ich hier ausdrücklich: Die Parlamentsbeteiligung aufgrund des Parlamentsvorbehalts in Deutschland bei Auslandseinsätzen hat sich bewährt. ({1}) Sie forderte Sorgfalt bei den Entscheidungen und sorgte insgesamt im internationalen Vergleich für militärische Zurückhaltung. Sie diente der Konsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bezüglich der entscheidenden Frage von Krieg oder Frieden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden? ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nachtwei, können Sie wirklich von einer bewährten Praxis des Parlamentsvorbehalts sprechen, ({0}) nachdem Mitglieder Ihrer Fraktion bezüglich der mit der Vertrauensfrage verknüpften Entscheidung, ob die Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt werden sollte, 2001 das Los geworfen haben? ({1})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens ist das nicht so gewesen. Zweitens habe ich gerade gesagt, dass es sehr strapaziöse und strittige Entscheidungsprozesse gab. ({0}) Fragen Sie einmal die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr selbst, was sie vom Parlamentsvorbehalt halten! Sie sagen alle durch die Bank, dass er sich sehr bewährt hat. ({1}) Die Praxis der Parlamentsbeteiligung und die veränderten internationalen Anforderungen an Auslandseinsätze machen aber ein Gesetz notwendig, in dem die Parlamentsbeteiligung gewahrt, aber zugleich auch präzisiert wird und in dem die multilaterale Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik verbessert wird. Unser Gesetzentwurf regelt das Verfahren der parlamentarischen Beteiligung bei Auslandseinsätzen, nicht die rechtlichen Grundlagen und Aufgaben. Deshalb sei hier noch einmal klargestellt: Selbstverständlich gilt die Vorgabe von Grundgesetz und Völkerrecht, dass die Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung nur im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit zum Zwecke der Friedenssicherung eingesetzt werden darf und nicht anders. Der Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ umfasst nicht nur so genannte Zwangseinsätze, sondern genauso friedenssichernde Einsätze, wo Soldaten eine bewaffnete Funktion ausüben. Darunter fallen laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 allerdings nicht humanitäre Hilfsleistungen. Darunter fallen unserer Auffassung nach auch nicht Vorbereitung und Planung von Einsätzen. Dies präjudiziert nichts, ist aber gemäß unserer Erfahrung unabdingbar für eine notwendige schnelle Einsatzbereitschaft im Rahmen der UN. Auch fällt die Mitarbeit in ständigen integrierten Stäben und Hauptquartieren nicht unter bewaffnete Einsätze. Würde man diese einbeziehen, hieße das, dass die Mitarbeit in integrierten Stäben und Hauptquartieren unter Dauervorbehalt gestellt würde. Anders verhält es sich, wenn Stäbe und Hauptquartiere unmittelbar für Einsätze zusammengestellt werden. Dies unterliegt dem Parlamentsvorbehalt. Für Einsätze bewaffneter Streitkräfte gilt generell der Parlamentsvorbehalt, wahrgenommen durch die Fachausschüsse und das Plenum des Bundestages. In der Realität der militärischen Integration sind vermehrt einzelne Soldaten bei verbündeten Streitkräften eingesetzt, vor allem in Stabsfunktionen. Bei UN-geführten Missionen gibt es einen wachsenden Bedarf an einzelnen Soldaten mit Spezialfunktion. Um diesem nachzukommen und um den Bundestag nicht ständig überzubelasten, soll es bei der Beteiligung einzelner Soldaten an Einsätzen geringerer Intensität und Tragweite ein vereinfachtes Verfahren geben. Aber - Kollege Erler hat es vorhin ausgeführt - schon durch eine kleine Minderheit von 5 Prozent oder unsere Fraktion, gegebenenfalls irgendwelche anderen kleineren Fraktionen, könnte dann das volle Verfahren in Gang gesetzt werden. Entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts kann die Bundesregierung bei Gefahr im Verzuge sowie zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, sofern durch die Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet wäre, einen Auslandseinsatz anordnen. Sie muss gleichzeitig, wie es auch in der Vergangenheit in solchen Fällen geschehen ist, unmittelbar in geeigneter Weise das Parlament bzw. die Ausschüsse unterrichten und die Entscheidung dem Bundestag nachträglich vorlegen. Hier ist ausdrücklich festzustellen: Dies ist selbstverständlich kein Türöffner für so genannte humanitäre Interventionen. Auch die Unterrichtungspflichten sind von erheblicher Bedeutung. Sie tauchen ausgeführt nur in den Begründungen auf. Aber wenn wir jetzt festlegen, dass Einsätze nach dem Abschluss evaluiert werden sollen - was hat es gebracht, was hat es gekostet, was hat es möglicherweise nicht gebracht? -, so ist das ein vielleicht unauffälliger, aber sehr wichtiger Fortschritt. Das gilt auch für das ausdrückliche Rückholrecht, das in diesen Gesetzentwurf aufgenommen worden ist. Der Gesetzentwurf sieht keinen Entsendeausschuss vor. Dieser würde unserer Auffassung nach die reale Parlamentsbeteiligung erheblich einengen ({2}) und nach bisherigen Vorschlägen die Möglichkeit von Geheimeinsätzen erweitern. Die Teilnahme an integrierten Verbänden wie der NATO Response Force wird nicht, wie es zum Beispiel die Union will, von der Parlamentsbeteiligung ausgenommen. Ist das deshalb integrations- und bündnisfeindlich? ({3}) Die Herausnahme zum Beispiel der NATO Response Force als Trägerin riskantester und härtester Einsätze aus dem Parlamentsvorbehalt würde diesen im Kern treffen. Zudem ist gerade bei der Forderung nach so genannter Schnellsteinsatzfähigkeit einige Nüchternheit angebracht. Eine Schnellsteinsatzfähigkeit ist notwendig bei Gefahr im Verzuge, Geiselbefreiungen usw.; das ist unbestritten. Aber ansonsten, bei allen anderen Szenarien, besteht immer ein gewisser zeitlicher Vorlauf für die politische Einigung auf UN-Ebene, auf NATO-Ebene, auf EU-Ebene, in der Bundesregierung. Kollege Erler hat darauf hingewiesen, wie vergleichsweise schnell das Parlament immer war. Da wird, glaube ich, ein Popanz eines Bedarfs an Schnellsteinsatzfähigkeit aufgebaut. ({4}) Es gibt aber auch entgegengesetzte Kritik, zum Beispiel heute in der „Berliner Zeitung“, wonach unser Gesetzentwurf ein Gesetz zur Einschränkung der Macht des Parlaments sei. Das ist - ich muss es so deutlich sagen Unsinn. ({5}) Offenbar wurde weder der Gesetzestext gelesen noch ist die bisherige Praxis von Auslandseinsätzen, von humanitären Hilfsleistungen bekannt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, darf ich auch Sie auf die Zeit hinweisen?

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich komme zum Schluss. - In Wirklichkeit bleibt der Gesetzentwurf voll im Rahmen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, schöpft dieses parlamentsfreundlich aus und stärkt die multilaterale Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über zwei Entwürfe eines Gesetzes zur Beteiligung bzw. Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Es handelt sich um ein gerade eingebrachtes Gesetz der Koalition und um ein Gesetz, das schon im Herbst letzten Jahres von meiner Fraktion vorgelegt worden ist und das auf Anträgen aufbaut, die wir in der letzten und zu Beginn dieser Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Die große Aktivität der FDP-Bundestagsfraktion in diesem Bereich basiert auf einer langen Tradition. Die FDP hat immer besonders großen Wert darauf gelegt, dass die rechtliche Grundlage für die Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr klar und eindeutig war. ({0}) Wir waren es, die beispielsweise 1994 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich gegen die eigene Regierung richtete, herbeigeführt haben, das uns heute sehr hilft, die zur Debatte stehenden Fragen zu entscheiden. ({1}) Wir gehen von diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus. Wir wollen Hüter der Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts sein. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich deutlich gemacht, dass es hier um Fragen im Zusammenhang mit der Verfassung geht. Gerade die Einsätze der Bundeswehr im Ausland müssen im Einklang mit der Verfassung sein und entsprechend begründet werden. Das war übrigens der Grund, warum wir eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht haben, als die Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundestages den AWACS-Einsatz über der Türkei angeordnet hat. Ich bin froh, dass beide Gesetzentwürfe, sowohl der der Koalition als auch unser eigener, jetzt Klarheit schaffen. Nach diesen Gesetzen hätte der Bundestag dem Einsatz damals zustimmen müssen, weil es sich um einen Einsatz im Rahmen des Verteidigungsfalles der NATO gehandelt hat. ({2}) In beiden Gesetzentwürfen ist die Formlierung enthalten - Sie haben nämlich unsere Formulierung übernommen -, dass die Zustimmung des Bundestages dann erforderlich ist, wenn die Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten ist. ({3}) Es gibt überhaupt keinen Fall, bei dem das so klar zu erwarten ist wie bei dem Verteidigungsfall der NATO. Jetzt besteht Klarheit in dieser Frage. ({4}) Ich bin ganz sicher, dass auch das Bundesverfassungsgericht entsprechend entscheiden wird. ({5}) Ich bin im Übrigen froh, dass die bisherige Debatte gezeigt hat - allerdings bin ich etwas unsicher geworden, als ich den Redebeitrag des Kollegen von Klaeden gehört habe -, ({6}) dass es im Bundestag eine breite Übereinstimmung gibt, nicht nur an der Mitwirkung des Bundestages festzuhalten, sondern da, wo es möglich ist, die Beteiligung sogar zu erweitern. Die FDP will es jedenfalls. ({7}) Herr Kollege von Klaeden, ich muss Ihnen ganz deutlich sagen, dass wir Ihrem Vorschlag, am Anfang einer Legislaturperiode eine Entscheidung für vier Jahre zu treffen - etwas Ähnliches gibt es bei den Immunitätsangelegenheiten -, ({8}) nicht folgen werden. ({9}) Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das nicht tun werden. Es hat sich nämlich bei den Debatten im Bundestag über die verschiedenen Auslandseinsätze gezeigt, wie gut und richtig es war, dass wir sorgfältig diskutiert haben. Es ist immer wieder zu Klarstellungen und zu Protokollerklärungen der Bundesregierung gekommen, die den Interessen der Soldaten gedient haben; ({10}) denn die Soldaten wurden keinen Gefahren ausgesetzt, die wir im Zuge der sorgfältigen Diskussion erkannt haben. Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied zu dem Entwurf der Koalition, auf dem wir bestehen. Ich habe vorhin deutlich gemacht: Wir haben auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1994 unseren Gesetzentwurf formuliert. Das Bundesverfassungsgericht hat klar und eindeutig gesagt, dass ausschließlich da, wo Gefahr im Verzuge ist, der Bundestag vorher nicht beteiligt werden muss. Sie haben sich vor der Antwort auf die Frage gedrückt, was geschieht, wenn beispielsweise eine Geiselbefreiung von langer Hand vorbereitet werden kann. ({11}) In diesem Fall ist keine Gefahr im Verzuge. Dann kann der Bundestag vorher einbezogen werden. Sie haben nach einer Formulierung gesucht, um die Einbeziehung des Bundestages zu umgehen. Aber Ihre Formulierung trägt überhaupt nicht. Ich finde sogar, sie ist brandgefährlich. Denn demnach gilt: Wenn Personen aus einer Gefahr zu retten sind und wenn eine Gefährdung des Lebens zu besorgen ist ({12}) - und eine Gefährdung des Lebens zu besorgen ist, Herr Kollege -, dann muss der Bundestag vorher nicht beteiligt werden. ({13}) Das gilt beispielsweise dann, wenn ein Völkermord vorliegt. Es handelt sich um eine Generalklausel, die wir nicht akzeptieren werden. ({14}) Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Formulierung auch deshalb für brandgefährlich halte, weil sie ausschließlich auf die Gefährdung des Lebens der zu rettenden Personen abstellt. Für uns als FDP ist es wichtig, auch das Leben der Soldaten, die in einen Rettungseinsatz gehen, zu berücksichtigen. ({15}) Deswegen brauchen Sie eine solche Kommission. Sie kommen daran nicht vorbei. Ich will an Einsatzszenarien erinnern, über die wir schon diskutiert haben, nämlich beispielsweise an die geheimen Einsätze des Kommandos Spezialkräfte. Auch hier ist Ihre Formulierung überhaupt nicht hilfreich. Sie kommen deshalb um den speziellen Ausschuss, den wir vorsehen, nicht herum.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, nicht vom Kollegen Ströbele. ({0}) Ich darf einen zweiten Gesichtspunkt ansprechen, der uns außerordentlich wichtig ist. Wir wollen die Zahl der Fälle, in denen die Regierung allein entscheidet, auf ganz wenige reduzieren. Wenn man einen besonderen bzw. einen kleinen Ausschuss einrichtet, der in ähnlicher Form organisiert ist wie beispielsweise die Gremien, die die Geheimdienste kontrollieren, dann ist es möglich, schneller zusammenzukommen, als das beim Gesamtparlament der Fall ist. Wir möchten unseren besonderen Ausschuss auch dann einschalten, wenn Gefahr im Verzuge ist, wenn schnell entschieden werden muss. Denn jetzt haben wir folgende Situation: In einem Fall wird etwa der verteidigungspolitische Sprecher angerufen und in einem anderen Fall ein Parlamentarischer Geschäftsführer oder ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Sie alle sind nicht legitimiert, für die jeweiligen Fraktionen und deren Positionen zu sprechen. Wenn wir einen solchen Ausschuss eingerichtet haben, haben wir Klarheit, wer jeweils in den verschiedenen Fraktionen bei solchen Schnellentscheidungen gefragt werden kann. Von daher ist ein solcher Ausschuss eine Stärkung der Mitwirkung des Parlaments. ({1}) Ich wiederhole: Genau das ist unser Ziel. Ich freue mich auf die Debatte. Kollege Erler hat gesagt, sie sei bisher sachlich gewesen. Auch ich fand das. Sie war auch spannend. Ich glaube, wir alle haben viel gelernt. Deshalb hoffe ich, dass wir zum Schluss einen Gesetzentwurf haben werden, mit dem wir alle leben können und der vor allem ein Ziel erreicht: dass wir auf der einen Seite weiter im Bundestag mitwirken und dass auf der anderen Seite in der Zukunft die Fragen gelöst werden, die die heutige Debatte aufgezeigt hat. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Bartels.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit mehr als einem Jahrzehnt sind Soldaten der Bundeswehr an größeren internationalen Einsätzen beteiligt. Nach Ende des Kalten Krieges war dies eine gänzlich neue Situation für die Bundeswehr und ihre Soldaten und auch für die Politik. Anfangs waren die rechtlichen Grundlagen einigermaßen unklar. Erst die wegweisende Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1994 sorgte für Rechtssicherheit. Danach ist der Einsatz unserer Streitkräfte im Ausland - damals hieß er „out of area“ - im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit mit unserem Grundgesetz vereinbar. Gleichzeitig machten die Verfassungsrichter aber deutlich, dass die Bundesregierung grundsätzlich immer die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen hat, bevor deutsche Soldaten an bewaffneten Einsätzen im Ausland teilnehmen. In den Leitsätzen des Urteils heißt es: Es ist Sache des Gesetzgebers, jenseits der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes machen wir von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dass dies nicht schon längst geschehen ist, ist nicht unbedingt ein Versäumnis der Politik. Das Gericht hat es in diesem Fall im Unterschied zu vielen anderen Entscheidungen weitgehend dem Parlament selbst überlassen, das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung zu regeln. Es hat dies weder dringlich angemahnt noch eine Frist gesetzt. Ich will hier ausdrücklich festhalten: In den Jahren seit Verkündung der Karlsruher Entscheidung hat sich eine Praxis der parlamentarischen Mitbestimmung bei Auslandseinsätzen herausgebildet, die gut ist. Das Verfahren hat sich bewährt. Die Bundeswehr ist ein wahres Parlamentsheer. Wir wollen, dass das so bleibt. ({0}) Mehr als 30-mal haben wir hier im Bundestag über Auslandseinsätze abgestimmt. - Ich glaube nicht, dass es 50 Entscheidungen waren, wie irrtümlich auf dem Deckblatt des Gesetzentwurfes steht. - 8 000 unserer Soldaten sind derzeit außerhalb des NATO-Gebiets stationiert: auf dem Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan. Seit 1991 waren 170 000 Bundeswehrangehörige, Soldaten, Zivilbedienstete und Reservisten, im besonderen Auslandseinsatz. Hierbei geht es also nicht um irgendeine Nebentätigkeit, sondern durchaus um die Hauptbeschäftigung unserer Bundeswehr. Für jede Mission gibt es einen Bundestagsbeschluss. In jedem Einzelfall wurde der Antrag der Regierung sehr gewissenhaft - für manchen Kollegen war es manchmal wirklich eine Gewissensprüfung - im Parlament beraten und entschieden. Dabei ist die parlamentarische Zustimmung weit mehr als eine Formalie. Wir erfüllen nicht bloß eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Vielmehr gibt der Parlamentsvorbehalt den eingesetzten Soldaten die Gewissheit, dass zu Hause eine parlamentarische Mehrheit hinter ihnen steht, eine Mehrheit, die in den meisten Fällen weit größer war als die der jeweiligen Regierungskoalition. Die Behandlung der Anträge der Bundesregierung nach dem üblichen parlamentarischen Verfahren - das heißt, mit erster Lesung, Ausschussberatung, zweiter und dritter Lesung und dann Beschlussfassung - hat verhindert, dass jemals der Eindruck entstehen konnte, die Exekutive verfolge unredliche oder parteipolitische Ziele mit der Beteiligung der Bundeswehr an multinationalen Einsätzen. Die Transparenz unseres parlamentarischen Verfahrens ist vorbildlich. Das ist uns in Deutschland aus guten Gründen wichtiger als anderen Nationen, die einen solchen Parlamentsvorbehalt nicht kennen. Immerhin geht es um den Einsatz militärischer Gewaltmittel von Deutschland aus, im Extremfall um Krieg. Damit müssen, nein, damit dürfen wir es uns nicht leicht machen. Wenn wir nun eine gesetzliche Regelung anstreben, geht es zuallererst darum, das bisherige Verfahren rechtlich zu formalisieren. Die Rechte des Parlaments werden, wie es in der Begründung des Gesetzes nachzulesen ist, weder ausgeweitet noch eingeschränkt. Unser Anliegen ist es vielmehr, Bewährtes auf eine sichere rechtliche Grundlage zu stellen und dort, wo die Praxis gezeigt hat, dass Modifikationen des Verfahrens sinnvoll sind, diese vorzunehmen. Alle Erfahrungen, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, konnten in unseren Gesetzentwurf einfließen. Insofern ist es ein Vorteil, dass wir nicht gleich nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eine gesetzliche Regelung angestrebt haben. Wir präzisieren nun, was unter einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist. Das ist eine notwendige Klarstellung, die mehr Rechtssicherheit schafft. Kollege Erler hat es angesprochen: Rein humanitäre Hilfeleistungen werden auch künftig nicht der Zustimmung des Bundestages bedürfen. Unser Parlamentsbeteiligungsgesetz ändert nichts daran, dass vorbereitende Maßnahmen und Planungen weiterhin in den Verantwortungsbereich der Exekutive fallen. Es ist und bleibt Aufgabe der Regierung, sich auf denkbare Entwicklungen planerisch einzustellen. Die Verantwortung des Parlaments kann erst beginnen, wenn es um den konkreten Einsatz deutscher Soldaten geht. Kein Einsatz ist - das hat in der Vergangenheit bisweilen für Unsicherheit gesorgt - die Arbeit von Bundeswehrangehörigen in ständig integrierten sowie multinational besetzten Stäben und Hauptquartieren der NATO und anderen Organisationen kollektiver Sicherheit. Jede andere Regelung würde unsere Bündnisfähigkeit infrage stellen. Anders verhält es sich beim Einsatz unserer Soldaten in multinationalen Stäben und Hauptquartieren, die speziell für einen konkreten Auslandseinsatz gebildet werden. Diesen Unterschied zu machen halten wir für notwendig. In unserem Gesetz schreiben wir die bewährte Praxis fest, dass der Antrag der Bundesregierung, mit deutschen Soldaten an einer internationalen Operation teilzunehmen, vom Parlament nicht geändert oder ergänzt werden kann. Dies entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, Kollege von Klaeden, das in seinem Beschluss von 1994 gesagt hat: Die Festlegung von Modalitäten, Umfang und Dauer des Einsatzes ist Teil der exekutiven Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit in außenpolitischen Fragen. ({1}) Wir werden im Bundestag nicht Generalstab spielen und wir können es auch nicht. Wir legen nur fest, welche Angaben der Antrag enthalten muss: Einsatzauftrag und -gebiet, rechtliche Grundlagen, Höchstzahl und Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, die Dauer des Einsatzes, die voraussichtlichen Kosten und deren Etatisierung. Das sollte nicht kontrovers sein; denn es entspricht bisheriger Übung. Wir beschließen als Bundestag - auch wenn das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist - im Kern über die grundsätzliche Frage der Teilnahme an Einsätzen im Ausland. Die konkrete Ausgestaltung des Bundeswehrengagements bleibt Sache der Bundesregierung und Sache der militärischen Fachleute. Da mischt der Bundestag nicht mit. Es ist Quatsch, wenn Kollege von Klaeden - dies hat er auch in der letzten Bundestagsdebatte zur Bundeswehrreform getan - befürchtet, wir wollten eine Gewaltenvermischung in Gesetzesform festschreiben. Wo denn? Wie denn? ({2}) Eine wichtige Neuerung nehmen wir aber vor, wenn es um die Entscheidung über so genannte Einsätze von geringerer Intensität und Tragweite geht. Die parlamentarische Praxis bzw. vielmehr die Nichtpraxis hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, für die Entsendung einzelner oder weniger Soldaten ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren zu schaffen. Dies gilt zum Beispiel für die Unterstützung von UN-Beobachtermissionen und für Erkundungskommandos. Bislang hat die Bundesregierung aber auf entsprechende internationale Anfragen auch deshalb in manchen Fällen zurückhaltend reagiert, weil ohne eine gesetzliche Regelung schon die Entsendung einiger weniger Bundeswehrangehöriger einer formalen Zustimmung des Bundestages bedurft hätte - ein relativ großer Aufwand für Einsätze, die vermutlich ohnehin auf die Zustimmung aller Fraktionen treffen. Das vereinfachte Verfahren eröffnet der Regierung bei Anfragen der UN, der OSZE oder anderer Organisationen neue Handlungsmöglichkeiten, ohne dass das Parlament seine Rechte aufgeben muss. Mit der vereinfachten Zustimmungsregelung erleichtern wir auch die konkrete Vorbereitung geplanter Einsätze erheblich. Bisher war es nicht möglich, Soldaten zum Beispiel zur Sondierung der Lage in ein mögliches Einsatzgebiet zu schicken. Das hatte schon praktische Nachteile, zum Beispiel bei der Auswahl von Liegenschaften im Einsatzgebiet. Wir erinnern uns an die Mission in Kabul, wo ein Erkundungskommando schon hilfreich gewesen wäre, sodass man früher im Einsatzgebiet hätte sein können, nachdem der Einsatzbeschluss gefallen war. ({3}) Der bewährte Parlamentsvorbehalt erhält nun eine vernünftige, sehr schlanke, anderthalb Paragraphenseiten starke gesetzliche Grundlage. Wir bleiben bewusst bei dem Verfahren, das auch bei der Behandlung von anderen Anträgen und Gesetzentwürfen Anwendung findet. Ein Hauptargument jener, die eine Abkehr von diesem Vorgehen fordern - sei es durch Vorratsbeschlüsse, sei es durch neue Gremien -, ist, dass die Entscheidungsfindung des Bundestages zu lange dauere. Mit Blick auf mögliche Einsätze etwa der NATO-ResponseForce wird eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit Deutschlands im Bündnis befürchtet. Sind wir wirklich zu langsam? Trödelt die Volksvertretung? ({4}) Was sagt die Statistik? Wenn es darauf ankommt, kann der Bundestag sehr schnell entscheiden. In acht Fällen erfolgte der Beschluss des Parlaments noch am Tag des Kabinettsbeschlusses selbst oder am darauf folgenden Tag. In zwei Dritteln der Fälle wurde die Bundestagszustimmung innerhalb von vier Tagen erteilt. Wenn dafür in Einzelfällen Sondersitzungen nötig waren, ist dies auch Ausdruck der Verantwortung, die wir als Parlamentarier für die Bundeswehr übernehmen. Gerade weil wir die Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze schicken, ist es notwendig, dass die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung in jedem Einzelfall vom Bundestag gefasst wird. Es geht vielleicht zackiger; aber schneller als sofort geht es nun wirklich nicht. ({5}) Keiner der Einsätze ist daran gescheitert, dass der Bundestag nicht in der Lage gewesen wäre, eine Entscheidung zu treffen. ({6}) Inzwischen haben wir eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Entsendeanträgen der Bundesregierung gewonnen. Routine sollten diese Entscheidungen aber nicht werden. Denn die Frage, ob wir Bundeswehrkontingente für eine internationale Friedensmission bereitstellen, kann für die betroffenen Soldatinnen und Soldaten existenzielle Auswirkungen haben. Die Verantwortung, die wir tragen, können wir nicht auf Sondergremien delegieren und auch nicht auf Vorrat beschließen. ({7}) Unserer parlamentarischen Verantwortung tragen wir auch dadurch Rechnung, dass wir dem Bundestag ein gesetzlich abgesichertes Rückholrecht geben - auch wenn die Rückholung deutscher Soldaten gegen den Willen der Regierung in der Realität wohl die große Ausnahme bleiben wird. Ich bedauere, dass unsere Gespräche mit den Oppositionsfraktionen nicht zur Vorlage eines gemeinsamen Gesetzentwurfes geführt haben. In dieser für die Bundeswehr, aber auch für unser parlamentarisches Selbstverständnis so wichtigen Frage wäre ein interfraktionelles Vorgehen wünschenswert gewesen. Unsere Positionen liegen auch gar nicht so weit auseinander. Über den Regelungsbedarf besteht in diesem Hause weitgehende Einigkeit. Nicht strittig ist in jedem Fall das Prinzip, dass wir für die Zustimmung zur Entsendung von Erkundungskommandos oder für die Verlängerung unveränderter Einsätze ein einfacheres Verfahren finden sollten. Auch beim Rückholrecht vermag ich grundsätzliche Differenzen nicht zu erkennen. ({8}) Vielleicht finden wir nun in den anstehenden Ausschussberatungen im Interesse der Sache noch zueinander. Dabei ist möglicherweise hilfreich, dass die Union gar nicht erst einen eigenen Antrag vorgelegt hat. ({9}) - Aber insofern ist es nicht hinderlich. Außerdem wird unser Gesetzentwurf, wie ich finde, durchaus dem Anspruch gerecht, den die Union vor einem Jahr in einem sicherheitspolitischen Positionspapier formuliert hat. Damals schrieben Sie, Kollege Schmidt: Fähigkeit zur raschen Reaktion setzt klare, transparente und effiziente politische Entscheidungswege voraus. Hierzu muss ein Parlamentsbeteiligungsgesetz für Auslandseinsätze der Bundeswehr so rasch wie möglich verabschiedet werden, um zum Beispiel deutsche Anteile an der NATO- bzw. EU-Eingreiftruppe in einen Einsatz schicken zu können. Hierzu sind Lösungen zu entwickeln, die die politische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im Rahmen der NATO und EU sicherstellen, gleichzeitig aber auch die Rechte des Parlaments wahren. ({10}) Genau dies beschreibt, was wir mit unserem Gesetzentwurf erreichen. Man könnte meinen, Sie kannten unseren Entwurf damals schon. Machen Sie mit! Schönen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla. ({0})

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint es aufgrund des bisherigen Verlaufes der Debatte wichtig - denn ich habe den Eindruck, dass hier Missverständnisse entstanden sind -, drei Dinge festzuhalten. Erstens. Ich möchte mich bei allen Fraktionen des Hauses für die wirklich vortrefflichen und sachlich geführten Gespräche bedanken. Ich bedanke mich recht herzlich bei den Kollegen der Regierungskoalition, Herrn Erler und Herrn Nachtwei. Denn unsere Gespräche haben in einer Atmosphäre stattgefunden, die - bei Ihnen wie bei uns - im Verlauf der Debatte in Einzelfragen zu Veränderungen unserer Positionen beigetragen hat. Zweitens. Weil Sie Herrn von Klaeden bewusst falsch verstehen wollen, lege ich Wert auf folgende Feststellung: Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Die Durchführung der Einsätze, über die wir hier reden, liegt allerdings in exekutiver Verantwortung. ({0}) Drittens. Über das vom Verfassungsgericht festgestellte Erfordernis der konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages will kein einziger Vertreter dieses Hauses - zumindest ist mir niemand bekannt - an irgendeiner Stelle streitig diskutieren. ({1}) Wir sind der Auffassung, dass die Entscheidung über das Wie in der Verantwortung der Regierung und die über das Ob, also die eigentliche Entscheidung, beim Parlament liegen sollte. Daran will niemand rütteln. Jetzt möchte ich allerdings auf einige wichtige Punkte aufmerksam machen, weil dort - sonst wären wir ja auch zu einem gemeinsamen Entwurf gekommen - Unterschiede bestehen. Ich will jetzt nicht, was ich tun könnte, den Bundesverteidigungsminister zitieren; denn er ist nicht anwesend. Aber er selbst hat nach einer bestimmten Tagung sehr dafür plädiert, einen - ich nenne ihn einmal so - Entsendeausschuss einzurichten, weil er erkannt hat, dass es Situationen geben kann, die, ohne dass man am Parlamentsvorbehalt rütteln will, sehr wohl eine Ausschussentscheidung notwendig erscheinen lassen. ({2}) Damit komme ich zum FDP-Entwurf. Im FDP-Entwurf ist - wie ich finde: richtigerweise - die Bildung eines Ausschusses für besondere Auslandseinsätze vorgesehen, der in bestimmten Fällen anstelle des Bundestages entscheiden können soll. ({3}) - Ja, dazu komme ich noch. Nach der Konzeption Ihres Gesetzentwurfs kann er aber im Grunde - das will ich aus der Sicht unserer Fraktion offen sagen und das werde ich auch entwickeln - über alle Einsätze entscheiden. In § 6 Abs. 1 des FDP-Entwurfes werden die Zustimmungsermächtigungen obligatorisch für drei Fallkonstellationen bestimmt, die man sich einmal genau ansehen muss. Das gilt für Verschlusssachen ab dem Geheimhaltungsgrad „geheim“, bei Gefahr im Verzug und beim Einsatz einzelner Soldaten im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit. In Abs. 2 ist laut Begründung fakultativ vorgesehen, dass der Bundestag dem Ausschuss für besondere Auslandseinsätze in geeigneten Fällen einen Antrag der Bundesregierung überweisen und diesen mit einer Ermächtigung zur abschließenden Entscheidung verbinden kann. ({4}) Hier haben wir verfassungsrechtliche Bedenken. Es gibt im Deutschen Bundestag - wenn wir die Sonderproblematik des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung außen vor lassen - nur einen einzigen Ausschuss, der Entscheidungskompetenz hat: den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Dieser wiederum hat seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 45 des Grundgesetzes, der ihm diese Kompetenz ausdrücklich zuweist. ({5}) - Der ist sowieso ein Ausschuss sui generis, um es sehr deutlich zu sagen, weil er ja kein reiner Bundestagsausschuss ist, sondern ein Ausschuss, in dem auch Vertreter der einzelnen Bundesländer sitzen. Von daher kann der Ausschuss für die Wahl der obersten Bundesrichter ({6}) nun überhaupt nicht für irgendeinen Vergleich herangezogen werden, Herr Wiefelspütz. Wir haben Bedenken gegen den Ausschuss in der FDP-Variante, weil die Zustimmungsermächtigungen nach unserer Auffassung zu weit gehen und mit der Verfassung nicht vereinbar sind. Eine solche Ermächtigung sieht unsere Verfassung nicht vor. Ich will auf den Koalitionsentwurf eingehen. Ein sehr wesentlicher Einwand von unserer Seite betrifft die integrierten Verbände, etwa die NATO-Response-Force. Gelten ihre Einsätze per Gesetz als parlamentarisch genehmigt oder hat der Bundestag im konkreten Fall noch ein Wörtchen mitzureden? - Das hat er sehr wohl - darin liegen wir gar nicht sehr weit auseinander -, denn es handelt sich um einen klassischen Out-of-Area-Einsatz. Nicht jeder Einsatz - auch darin stimmen wir sicherlich überein - wird innerhalb von fünf Tagen geplant und vorbereitet, sodass gegebenenfalls keine Zeit bliebe, die parlamentarischen Gremien einzubeziehen. Was ist eigentlich, wenn die Bundesregierung wegen der Eilbedürftigkeit - darauf läuft Ihre Konstruktion hinaus - Soldaten entsendet, der Bundestag später aber anderer Auffassung ist? ({7}) Die Blamage für die Bundesregierung, Herr Wiefelspütz, wäre das eine - das würde mich bei der jetzigen Bundesregierung übrigens nicht sonderlich stören -, das andere wäre aber, dass Zweifel bei unseren Partnerstaaten an der Bündnisfähigkeit Deutschlands ausgelöst werden könnten. Deshalb plädieren wir und plädiere ich für eine generelle, abstrakte gesetzliche Zustimmungsvermutung, wenn der Einsatz der Soldaten völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands entspricht. ({8}) Das heißt nicht, dass der Bundestag außen vor wäre: Diese völkerrechtliche Verpflichtung muss er selbstverständlich ratifizieren. In diesem Zusammenhang muss selbstverständlich auch über die Ausgestaltung eines entsprechenden Rückholrechtes nachgedacht werden. Nicht jeder Einsatz, Herr Wiefelspütz, lässt sich unter die Rubrik „Gefahr im Verzug“ einordnen. So etwas kann natürlich vorkommen, aber wenn zum Beispiel Geiseln in der Sahara befreit werden müssen, erfordern die dafür nötigen logistischen Aufwendungen doch schon einige Zeit, wodurch genügend Möglichkeiten für eine parlamentarische Beteiligung bleiben. Der Tatbestand „Gefahr im Verzug“ tritt nach unserer Auffassung auch nicht erst mit dem Eintreffen deutscher Truppenkontingente am Gefahrenort ein - warum werden sie schließlich dorthin verlegt? -, wenn sie dort auf einen günstigen Augenblick zum Zuschlagen warten. Allein an diesem Beispiel zeigt sich, dass dem Bundestag eben doch Einflussmöglichkeiten verbleiben, die er nach Ihrem Entwurf so nicht mehr hätte. Von daher, Herr Erler, stimme ich Ihnen zu, dass Sie zwar im Wesentlichen die seit 1994 geübte Praxis festschreiben. Aber in diesem Punkt verwehren Sie dem Deutschen Bundestag Einflussmöglichkeiten, die er bisher hatte und die durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfahren - ich will mich einmal so ausdrücken - auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Ich könnte weitere Kritikpunkte nennen. Ich würde mich aber freuen, wenn wir im Rahmen der jetzt auf uns zukommenden Ausschussberatungen und Anhörungen weiter den Versuch unternehmen könnten, am Schluss im Parlament nach Möglichkeit einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu verabschieden. Wir haben unter anderem auch deshalb keinen eigenen Entwurf eingebracht, weil wir sehr wohl wissen, dass der Unterschied zwischen Ihnen von der SPD und uns von der CDU/CSU gar nicht so groß ist. Ein Unterschied besteht dagegen zwischen Ihrer Auffassung und der Ihres grünen Koalitionspartners. ({9}) Um diesen Unterschied nicht noch größer zu machen - Herr Ströbele ist ja sozusagen der vorderste Vertreter dieses Unterschiedes ({10}) und uns Möglichkeiten zu bieten, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu verabschieden, haben wir darauf verzichtet, durch einen eigenen Gesetzentwurf die Diskussion in der Koalition anzuheizen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Stellen Sie sich vor, die Bundeswehr zieht in den Krieg und niemand bekommt das mit. Das ist das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes der SPD und der Grünen. ({0}) Das Agieren der Bundeswehr soll geräuschärmer und ohne großes Aufsehen erfolgen. Um das Gesetz harmlos erscheinen zu lassen, haben die Regierungsfraktionen Bundeswehreinsätze von geringer Intensität erfunden. ({1}) Dazu sollen Erkundungskommandos und Einsätze von einzelnen Soldaten im Rahmen der UNO, der NATO und der EU zählen. Nun hat Herr Ströbele noch vor einem Jahr richtig erkannt, dass zwei deutsche Generäle, die im Kriegseinsatz wichtige Führungsfunktionen übernehmen, eine größere Wirkung erzielen können als 100 Soldaten. ({2}) Das ist nachzulesen in der „Berliner Zeitung“ vom April des vergangenen Jahres. Es ist also völlig abwegig, einen Einsatz von geringer Intensität an der Zahl der Soldaten festzumachen. Der grundlegende methodische Fehler ist, dass die Bedeutung eines Einsatzes vom zahlenmäßigen Umfang abhängig gemacht wird. ({3}) Dieser Fehler scheint aber politisch gewollt. Sie wollen Bundeswehreinsätze mit geringer Intensität und die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen durch ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren im Stillen abwickeln. Das Prinzip des Verfahrens ist einfach: Wer schweigt, stimmt zu. Sie wollen, dass die Zustimmung erteilt ist, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach der Verteilung der Drucksache von einer Fraktion oder von 5 Prozent der Abgeordneten eine Befassung im Bundestag verlangt wird. Auf diese Weise haben Sie uns als PDS ausgegrenzt. Aber das sei nur nebenbei bemerkt. ({4}) Schon jetzt wissen viele Abgeordnete kaum noch, worüber sie eigentlich abstimmen. Ihr Verfahren wird dazu beitragen, dass ein großer Teil der Abgeordneten gar nicht mehr weiß, wo die Bundeswehr weltweit in Aktion ist. ({5}) Hinzu kommt, dass in den Berichten der Bundeswehr geheimhaltungsbedürftige Tatsachen nicht enthalten sind und nur noch einzelne Abgeordnete über geheime Tatsachen informiert werden. Das heißt, es gibt dann Abgeordnete erster und zweiter Klasse, und das auch noch gesetzlich festgeschrieben. ({6}) - Ich habe gerade nicht von den Drucksachen gesprochen, verehrte Kollegen von den Grünen, sondern über die Berichte. Das ist im Gesetz so ausgeführt. Schon jetzt ist es so, dass die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen im Plenum zu einer reinen Routine verkommen ist. Es wird gar nicht mehr nachgefragt, ob die Mission erfüllt wurde und ob eine Verlängerung zur Lösung des eigentlichen Problems beitragen könnte. ({7}) Der Einsatz wird einfach verlängert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, dass die PDS-Fraktion 2006 im Bundestag jeden Antrag auf Einsatz der Bundeswehr aus dem vereinfachten Zustimmungsverfahren herausholen und auf die Tagesordnung setzen wird. Egal, wer dann regiert und die Bundeswehr in Einsätze geringer Intensität schicken will, Sie werden mit unseren Fragen und Anträgen von hoher Intensität zu rechnen haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkungen vorab: Erstens. Zum einen hat erfreulicherweise das Parlament vom Anfang bis zum Ende die Hoheit bei diesem Verfahren, wobei ich als Anfang den 12. Juli 1994 nennen möchte. Zweitens. Ich glaube, dass für uns die Notwendigkeit besteht, den Einfluss, den wir von der Verfassung her haben, so auszuüben, dass er sowohl hinsichtlich der Beteiligung des Parlaments als auch hinsichtlich der internationalen Verpflichtungen unseres Landes optimal ausgestaltet ist. Bei einem solchen neuen Parlamentsbeteiligungsgesetz, für das wir unterschiedliche Ansätzen haben, muss als zentraler Punkt berücksichtigt werden - das will ich unterstreichen -, dass das Parlament, das seine Entscheidungen ja an vielen Faktoren orientieren muss, klug zwischen dem konstitutiven Parlamentsrecht einerseits und den außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten, der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit unseres Landes andererseits abwägen muss. Dabei muss - das sagt das Verfassungsgericht in seiner einstweiligen Anordnung in dem Verfahren, das Ihre Fraktion im letzten Jahr hinsichtlich des AWACS-Einsatzes angestrengt hat; Herr Kollege van Essen, Sie haben das angesprochen - die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung mit Blick auf die außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht haben. Das ist auch im gesamtstaatlichen Interesse. Christian Schmidt ({0}) Ich will uns das deswegen noch einmal in Erinnerung rufen, weil wir uns in einer Situation befinden, in der die Gewaltenteilung zwar nicht von den Fakten, aber von der Wirkung her ein Stück weit verwässert wird. Wenn ich die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe richtig gelesen habe - davon gehe ich einmal aus -, nehmen wir nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts bei diesen Fragen nach wie vor quasi eine Ratifizierungsfunktion wahr. Das heißt: Die Bundesregierung legt einen Antrag vor und wir entscheiden mit Ja oder Nein darüber; er wird also nicht verändert. Faktisch gibt es das Hilfsinstrument der Protokollnotizen. Dieses wird aktuell, wenn die Grünen ihrem eigenen Minister wieder sehr viel Ärger und sehr viele Schwierigkeiten machen. ({1}) - Diese ist auch dann nötig, wenn wir aus klugen Erwägungen heraus der Meinung sind, wir sollten eine solche haben. ({2}) Ich will einfach noch einmal festhalten: Es muss dabei bleiben, dass die Entscheidung über und die Verantwortung für den Einsatz bei der Bundesregierung liegt. Das hat nichts damit zu tun, dass man sich vor der Entscheidung drücken will. Diese Entscheidung müssen und sollen natürlich alle, die in der entsprechenden Situation Ja gesagt haben, gegenüber den Soldaten und unseren Mitbürgern politisch mittragen. Wir müssen aber ganz klar machen, dass wir in unserer Funktion als Parlamentarier überfordert sind, Einsatzentscheidungen in der Form zu treffen, als säße hier eine Art Generalstab zusammen. Dieser Eindruck wird ja von manchen auch in diesem Parlament vermittelt. Ich erinnere an ein ganz anderes Thema, das wir in diesem Hause vor nicht langer Zeit behandelt haben. Es ging um das NPD-Verbot. Ein aus gutem Grunde der Öffentlichkeit prinzipiell zugewandtes Gremium und Organ wie das Parlament, das vom Sprechen und Zuhören lebt, ist dem Erfordernis der Geheimhaltungsbedürftigkeit nur sehr schwer zugänglich. Ich habe mich geweigert, in die Geheimhaltungsstelle zu gehen und alle NPD-Unterlagen, die ohnehin falsch waren, nachzulesen, um dann vom Verfassungsgericht den ganzen Vorgang kassiert zu bekommen. ({3}) - Man hört, dass das eine oder andere nicht ganz richtig gewesen ist. ({4}) Das heißt: Bei wichtigen Fällen, in denen es zu Überschneidungen kommt, muss die Situation geklärt werden. Deswegen ist der Ansatz, einen Ausschuss für diese begrenzte Anzahl an Fällen vorzusehen, richtig. ({5}) Bezüglich der Ausdehnungsmöglichkeit habe ich aber meine Zweifel. ({6}) Im Übrigen, Herr Kollege - das sage ich nicht, weil ich die Intention des FDP-Antrags infrage stellen wollte, sondern ich sage es, weil die fraktionslose Kollegin, die mitgeteilt hat, sie gehöre der PDS an, das angesprochen hat -: Ihr nennt das einen Ausschuss für besondere Auslandseinsätze. Diese Terminologie müssen wir im Verfahren noch ändern, damit hier kein Missverständnis aufkommt. Wir sollten uns überlegen, inwieweit wir unseren Einfluss, der sich aus der Ratifizierung ergibt, verstärken und ihm dadurch besser gerecht werden können, dass wir frühzeitiger entscheiden. Ich meine das nicht grundsätzlich, aber bezogen auf die Fragen, in denen es um die außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit unseres Landes geht. Das scheint mir bei der Response Force und bei den anderen integrierten Verbänden ein Problem zu sein. Ich finde, dem müssen wir uns etwas deutlicher stellen, als es in beiden Gesetzentwürfen zum Ausdruck kommt. Um was geht es dabei? Der Kollege Pofalla hat darauf verzichtet, Äußerungen des Verteidigungsministers auf der Tagung von Colorado Springs zu zitieren. Wenn ich das tun würde, ließe sich eine nahtlose Übereinstimmung im Hinblick auf unsere Fragestellungen feststellen. Es geht darum, dass wir in der Lage sind, unsere militärischen Strukturen in eine immer enger werdende Integration einzubinden. Das gilt nicht nur auf NATOEbene. Vielmehr ist dies das erklärte Ziel der Europäischen Union mit dem ersten wichtigen Schritt der „Helsinki Headline Goals“ und der so genannten Battle Groups, der Eingreiftruppen, die für besondere Situationen, beispielsweise für zusammenbrechende Staaten vor allem in Afrika, gedacht sind. All das erfordert einen hohen Grad an außenpolitischer Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit und Konsistenz der Entscheidungslinien. Ich glaube nicht, dass wir für unser Land, für das wir alle Verantwortung tragen, das Optimum erreichen, wenn das Parlament am Ende einer Entscheidungskette faktisch nichts mehr beeinflussen, sondern nur noch Ja oder Nein sagen kann. Dies könnte möglicherweise nach einer Entscheidung eines internationalen Gremiums, des NATO-Rats oder einer europäischen Institution, der Fall sein. Dann würden wir nur das nachvollziehen, was vorher in Struktur und Prinzip entschieden worden ist. ({7}) Mir wäre es lieber, wenn wir diesen Punkt in den Anhörungen noch einmal beraten. Ganz bewusst, ohne jetzt die Frage eines gemeinsamen Gesetzentwurfs anzusprechen, müssen wir uns überlegen, was wir in dieser Frage gemeinsam erreichen können. Wir müssen hier eine Christian Schmidt ({8}) zukunftsgerichtete Lösung finden. Der jetzige Gesetzentwurf der Koalition hingegen ist sehr statisch geraten. Lassen Sie sich von denen, die jetzt noch in der Opposition sind ({9}) und vor allem das Parlament im Blick haben, unterstützen. ({10}) - Wir werden uns im Jahre 2006 wieder sprechen. Frau Präsidentin, ich bedanke mich für die Großzügigkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/2742 und 15/1985 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - Drucksache 15/2576 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der Abgeordnete Ronald Pofalla. Es gibt wirklich fleißige Abgeordnete.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich freue mich, dass Sie weiterhin präsidieren. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur nachträglichen Sicherungsverwahrung - ich will gleich zum Thema kommen - betrachte ich durchaus ambivalent. Einerseits ist nun endlich höchstrichterlich entschieden, dass unsere Bürgerinnen und Bürger das Recht haben, vor gefährlichen Gewaltverbrechern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Wiederholungstätern werden, geschützt zu werden. Dass hierbei der Bundesgesetzgeber und nicht etwa der Landesgesetzgeber gefragt ist, haben wir der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen seit jeher plausibel zu machen versucht. Leider ist uns das bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht gelungen. ({0}) Andererseits hat sich insbesondere der Kollege Joachim Stünker jeglicher logischen Argumentation verweigert ({1}) und stattdessen einseitig behauptet, dass es sich bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung um eine Frage der Gefahrenabwehr handelt. ({2}) Durch diese Uneinsichtigkeit haben wir viel Zeit verloren, Zeit, die für gesetzgeberische Maßnahmen hätte genutzt werden können. Das müssen ausschließlich Sie von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen verantworten. ({3}) Daher möchte ich Sie dringend dazu aufrufen, nicht noch mehr Zeit mit unsinnigen Verzögerungen zu vergeuden, sondern im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger in eine sachliche und konstruktive Diskussion einzutreten. Die Unionsfraktion hat heute einen Gesetzentwurf eingebracht, der den Schutz der Bevölkerung durch Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zum Gegenstand hat. Auch der vom Kabinett verabschiedete Regierungsentwurf, der heute jedoch hier nicht vorliegt, hat dieses Ziel vor Augen. Insofern besteht wenigstens an der Stelle Einigkeit. Im Unterschied zur Regierung fordern wir aber, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Strafgesetzbuch auch ohne entsprechenden Vorbehalt im Urteil angeordnet werden kann. Außerdem sind wir der Auffassung, dass für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht - wie von Ihnen vorgeschlagen - das erkennende Gericht, also entweder die Strafkammer des Landgerichtes oder aber der Strafsenat des Oberlandesgerichtes, zuständig sein soll, sondern die Strafvollstreckungskammer. Bedenken Sie doch bitte, dass sich die Strafvollstreckungskammer während der Strafvollstreckung mit dem Täter befasst und insofern eine fundierte Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung treffen kann. Zudem wird insbesondere nach langjährigen Haftstrafen das erkennende Gericht nicht mehr in derselben Besetzung zusammen sein, ({4}) wie dies zum Zeitpunkt der Verurteilung des Täters der Fall war. Insoweit kann es passieren, dass mitunter ganz andere, niemals mit dem Fall und dem Täter befasst gewesene Richter über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden haben. Das wollen wir eben nicht. ({5}) Wir wollen Richter, die sich mit dem Fall und dem Täter auch während der Haftzeit ausgiebig haben befassen können, um dann zu einer qualifizierten Entscheidung zu kommen. ({6}) - Herr Stünker, Sie sollten mit Ihren Zwischenrufen vorsichtig sein, sonst zitiere ich Sie aus anderen Bundestagsreden, ({7}) um zu zeigen, welchen juristisch grenzwertigen Argumentationen Sie verfallen sind, die sich seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes als falsch herausgestellt haben. Sie sollten nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wirklich still sein. ({8}) Ihre ganze juristische Argumentation war über Monate falsch. ({9}) Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auch in einem weiteren meiner Meinung nach entscheidenden Punkt. Ausweislich Ihres neu einzuführenden § 66 b Abs. 1 StGB wollen Sie die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom Vorliegen einer Katalogstraftat im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 Strafgesetzbuch abhängig machen. Dies würde dazu führen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur bei solchen Anlasstaten angeordnet werden kann, die entweder den Tatbestand eines Verbrechens erfüllen oder aber zu den in § 66 Abs. 3 Strafgesetzbuch abschließend aufgezählten Straftaten gehören. In der Folge könnte damit für einige, wie ich meine, nicht unerhebliche Straftaten keine nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden. ({10}) - Schön, dass gerade Sie den Zwischenruf machen. Dann komme ich gleich zu Ihnen. Lieber Kollege Ströbele, nach dem Entwurf der Bundesregierung wäre beispielsweise in Fällen, in denen ein Täter mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wieder straffällig wird, beispielsweise bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung - ich weiß, warum ich an dieser Stelle darauf hinweise -, die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht möglich. ({11}) Deshalb würde ich auch Ihnen raten, ohne das näher auszuführen, dass Sie darüber nachdenken, ob Sie das wirklich wollen. ({12}) Wenn Sie das wollen, dann versuchen Sie doch bitte, das in Ihrer Koalition durchzusetzen. ({13}) Ich warte sowieso gespannt auf das Ergebnis der Diskussion in der Koalition, weil Herr Montag und Herr Ströbele bereits angekündigt haben, dass ihnen selbst der Regierungsentwurf, der weit hinter unsere Vorstellungen zurückfällt, ({14}) offensichtlich schon zu weit geht. Ich wünsche Ihnen in der Koalition viel Spaß bei der Diskussion über die nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Herrn Ströbele an der Spitze, die dann, wenn Herr Ströbele sich durchsetzen wird, ganz sicher eines zum Ergebnis haben wird: Es wird unter dieser Koalition keine rechtsstaatlich korrekte und die Bürger schützende nachträgliche Sicherungsverwahrung geben. ({15}) Aber wir als Opposition werden Sie über den Bundesrat bzw. über das Vermittlungsverfahren dazu zwingen, an dieser Stelle Farbe zu bekennen. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. ({0})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Rechtsfreunde, kann man fast sagen! ({0}) Der Schutz der Bevölkerung vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern ist ein Thema, dem wir in den vergangenen Wochen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 zu Recht besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Zuletzt haben wir an dieser Stelle in der Regierungsbefragung am 10. März 2004 darüber gesprochen, Herr Dr. Röttgen, als es um den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu diesem Thema ging. Diesen Entwurf haben wir genau einen Monat nach der Karlsruher Entscheidung vorgelegt. Die Reaktion der CDU/CSU, ganz zu schweigen von der des Staatsministers Huber aus Bayern, auf den Regierungsentwurf hat mich doch etwas gewundert. Vielleicht hatte sie damit zu tun, dass Sie eine Woche vor uns einen eigenen Gesetzentwurf präsentiert hatten - mit vernichtendem Echo. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bescheinigte Ihnen: Bosbach und Röttgen blasen bei der Vorstellung ihres Entwurfs zur Sicherungsverwahrung kräftig die Backen auf. Sie meinte wahrscheinlich die Wangen. ({1}) Außerdem spricht die Zeitung von Populismus und Wahlkampfgetöse. ({2}) Kehren wir also lieber zur Sacharbeit zurück. Welche Standpunkte wir dabei jeweils vertreten haben, lässt sich den Entwürfen der Unionsfraktion und der Bundesregierung entnehmen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe mit derselben Zielrichtung und damit die Chance, im weiteren Gesetzgebungsverfahren auf der Basis bereits ausformulierter Vorstellungen zur bestmöglichen Lösung zu kommen. Ich halte es für parlamentarisch bedenklich, verehrter Herr Pofalla, heute schon auf den Vermittlungsausschuss zu setzen. ({3}) Ich denke, wir sollten die menschliche und parlamentarische Größe zeigen, zu einer eigenen Lösung des Bundestages zu kommen, weil wir die gleiche Zielrichtung haben. Die Allgemeinheit hat nämlich ein berechtigtes Interesse am Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern und sie erwartet zu Recht, dass wir diesem Interesse bestmöglich gerecht werden. Mit „wir“ meine ich den Deutschen Bundestag. Wir sind uns darin einig, dass in wenigen, vermutlich sehr seltenen Fällen der Schutz der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Straftätern die Möglichkeit einer Inhaftierung über deren Strafende hinaus erfordert. Wir wollen diese Möglichkeit sowohl für Mehrfach- als auch möglicherweise - in Extremfällen - für Ersttäter vorsehen. Im Unterschied zum Entwurf der Unionsfraktion belassen wir es allerdings beim bestehenden System der Sicherungsverwahrung und damit auch bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Wir schaffen damit ein Stufensystem, das eine möglichst frühzeitige Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zulässt. Außerdem müssen nach unseren Vorstellungen schon neue Tatsachen bekannt werden, bevor man ein bestehendes und immerhin rechtskräftiges Urteil korrigieren und die nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängen darf. Für den Fall, dass Sie mit Ihrem Vorschlag das Gleiche meinen, Herr Dr. Röttgen und Herr Pofalla, sollten Sie das auch klar und deutlich ausdrücken. Ich halte es jedenfalls für ausgeschlossen, dass man nur aufgrund einer neuen Bewertung bereits bekannter Tatsachen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung kommen kann. Sicherlich ist jede menschliche Entscheidung, auch die eines Gerichts, von subjektiven Faktoren mit geprägt. Die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung unabhängig von neuen, objektiven Faktoren zuzulassen ist mir allerdings zu subjektiv und hat meiner Meinung nach auch zu wenig fundierte Anknüpfungspunkte gerade in diesem sehr sensiblen Bereich. Außerdem sollten wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auf die schweren und gefährlichen Straftaten beschränken, die auch das Bundesverfassungsgericht vor Augen hat. Ich halte den Katalog des § 66 Abs. 3 StGB nach wie vor für den besten Anknüpfungspunkt. Das heißt: nachträgliche Sicherungsverwahrung insbesondere bei allen Verbrechen, also auch bei Totschlag, bei Sexualdelikten, aber auch bei gefährlicher Körperverletzung, bei Misshandlung von Schutzbefohlenen oder bei schweren Vollrauschtaten. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch noch auf Diebe und Betrüger auszudehnen, wie Sie es vorschlagen, geht zu weit. ({4}) Damit verlässt man den Rahmen, den uns das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat. Umgekehrt sollten wir uns aber um einen Bereich kümmern, den Ihr Entwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Wir stehen im Moment vor der misslichen Situation, dass Täter, die ursprünglich als schuldunfähig in die Psychiatrie eingewiesen wurden, aus ihrer Unterbringung entlassen werden müssen, wenn die psychische Störung nicht oder nicht mehr besteht. Dabei kann auch von diesem Personenkreis die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten ausgehen, die nach unserer übereinstimmenden Auffassung grundsätzlich die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnte. Ich meine deshalb, dass wir auch für diesen Kreis von Verurteilten eine entsprechende Möglichkeit vorsehen sollten. Damit verbunden ist eine erstmalige ausdrückliche Regelung, nach der die Unterbringung in der Psychiatrie für erledigt erklärt werden kann. Dabei haben sich die Gerichte bislang mit reinem Richterrecht beholfen. Dabei sollte es meines Erachtens nicht bleiben. Deutliche Unterschiede sehe ich im Verfahrensrecht. Wir haben uns für das so genannte Hauptverhandlungsmodell entschieden, also für eine neue Hauptverhandlung vor dem Tatgericht. Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich - darüber müssen wir uns alle klar sein - um die Ultima Ratio des Strafrechts. Wenn das so ist, dann müssen wir konsequenterweise auch die Verfahrensform wählen, die die meisten rechtsstaatlichen Garantien gewährt: die Form der Hauptverhandlung. Was wäre im Gegensatz dazu die Konsequenz aus Ihrem Vorschlag zum Verfahren? Es geht um dieselbe Sanktion wie bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Strafurteil selbst. Das Verfahren wäre bei Ihnen jedoch ganz unterschiedlich ausgestaltet. Denn einmal würde das Tatgericht die Sicherungsverwahrung im Urteil anordnen, ein anderes Mal hingegen die Strafvollstreckungskammer per Beschluss. Ich kann keine überzeugende Begründung für diese völlig unterschiedliche Behandlung entdecken. Ich darf Ihnen als langjähriger Gerichtspraktiker sagen: Die Strafvollstreckungskammer befasst sich mit den Inhaftierten in aller Regel, Herr Pofalla, aktenmäßig; sie sieht sie meistens nicht einmal. ({5}) - Halt doch einmal den Mund, Junge! Sie widersprechen einem alten Praktiker. - In der Strafvollstreckungskammer wechseln die Richter häufiger, als Sie sich vorstellen können. ({6}) Nach unseren Vorstellungen müssen also der Grundsatz der Öffentlichkeit, das uneingeschränkte Beweisantragsrecht des Betroffenen und das Recht auf einen Pflichtverteidiger auch bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung gewahrt bleiben. Der Heranziehung von zwei Sachverständigen zur Begutachtung messen wir eine hohe Priorität bei, besonders wenn es sich um Ersttäter handelt. Außerdem wollen wir, dass die Rechtsanwendung bei dieser schwerwiegenden Sanktion bundesweit einheitlich ist. Deshalb soll für diese Fälle die Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen werden, damit wir hier alsbald Klarheit haben. Lassen Sie mich zum Abschluss - so viel Zeit habe ich noch - kurz auf einige Äußerungen von Herrn van Essen eingehen, die er vor einiger Zeit gemacht hat. Er hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Bedenken, die in den Diskussionen der vergangenen Jahre geäußert worden sind, nicht ohne weiteres über Bord werfen können; denn in einem Rechtsstaat ist es keineswegs ehrenrührig, eine so schwerwiegende Sanktion wie die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu hinterfragen. Lieber Herr van Essen, bis zu den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus der ersten Februarhälfte hätte ich Ihnen sogar uneingeschränkt zugestimmt. Aber wir haben seitdem eine veränderte Ausgangslage. Selbstverständlich müssen wir nach einer verfassungskonformen Lösung suchen. Dafür stehen auch die Rechtspolitiker der Koalitionsfraktionen. Wir haben zwar nicht viel Zeit, aber diese müssen wir nutzen, um uns auf eine Regelung zu verständigen, die den Vorgaben unserer Verfassung entspricht. Ich hoffe dabei auf die Mitwirkung von Ihnen allen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns heute mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung unter anderem deshalb zu befassen, weil das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Verfassungsbeschwerde eines Untergebrachten zu dessen Gunsten entschieden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass die rechtliche Grundlage für die weitere Verwahrung dieser hochgefährlichen Person nicht im Landesrecht zu suchen ist, sondern dass es eine bundesrechtliche Lösung geben muss. Diese Auffassung haben auch wir, die FDP-Bundestagsfraktion, immer vertreten. Trotzdem ist das kein Anlass für Genugtuung; denn die schwierigen Fragen, die uns in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren im Bundestag beschäftigt haben, bestehen fort. Auf der einen Seite wissen wir, dass sich die besondere Gefährlichkeit von Personen, die verurteilt worden sind, manchmal erst in der Haft zeigt. Wir stehen in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche Personen dann, wenn sie freigelassen werden, nicht wieder schwerste Straftaten begehen, dass also niemand Opfer von solchen Personen wird. Das ist die eine Verpflichtung, die uns auferlegt worden ist. Auf der anderen Seite unterliegen wir der Verpflichtung, nichts zu beschließen, was hinterher der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhält, wie das in diesem Fall gewesen ist. Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grat. Dass wir es uns nicht leicht gemacht haben, kann man daran erkennen, dass wir mehrfach Anhörungen durchgeführt haben, bei denen wir uns den Rat von Sachverständigen eingeholt haben. Dabei gingen die Ratschläge der Sachverständigen in eine bestimmte Richtung. Ich stimme Ihnen, Herr Staatssekretär Hartenbach, zu, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bei der es nicht in erster Linie um die nachträgliche Sicherungsverwahrung ging, es nicht ausschließt, die Sicherungsverwahrung gegebenenfalls auch ohne Vorbehalt nachträglich anzuordnen. Das schließe ich daraus, dass uns das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsfrist gesetzt hat; denn das macht deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht es offensichtlich für möglich hält, in der vorgegebenen Zeit zu einer verfassungsfesten Lösung zu kommen. Wir, die FDP, wollen uns an der Suche nach einer verfassungsfesten Lösung selbstverständlich beteiligen; denn die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die Sache nicht für nichtig erklärt und die Täter nicht sofort auf freien Fuß gesetzt hat, macht ja deutlich, dass es sich hier auch nach der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts um Personen handelt, die brandgefährlich sind. ({0}) Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir ausloten, was geht und was nicht geht. Ein paar Fingerzeige haben wir bekommen. Wir brauchen eine besonders qualifizierte Prognoseentscheidung. Deshalb wird hier der Schwerpunkt für die FDP liegen, wenn wir darüber zu entscheiden haben, welches Verfahren gewählt werden soll. Ich persönlich habe das Gefühl, dass eine Prognose insbesondere bei Ersttätern und Heranwachsenden sehr schwer zu erstellen sein wird. Darüber werden wir intensiv diskutieren müssen. Noch ein anderer Punkt ist mir wichtig, Herr Staatssekretär. Sie haben von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesprochen. Dieses Gericht hat das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zu interpretieren. Bei den Fragen, die hier in Rede stehen - Stichworte „Rückwirkungsverbot“ und „Doppelbestrafung“ -, haben wir aber auch Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten. Damit werden wir uns bei den Beratungen in besonderer Weise beschäftigen müssen. Alles das macht deutlich, dass meine Fraktion den klaren Willen hat, auf der einen Seite das zu ermöglichen, was uns das Bundesverfassungsgericht aufzeigt, auf der anderen Seite aber auch sicherzustellen, dass das Verfassungsrecht und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet werden. Es darf nicht geschehen, dass wir dann, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind, in den nachfolgenden Überprüfungsverfahren entweder vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor einem europäischen Gericht noch einmal eine Niederlage erleiden und Schwersttäter dann vor Gericht Recht bekommen. ({1}) Wir sind in der Verpflichtung, verfassungsfeste Lösungen zu schaffen. Wir als FDP werden uns genau dafür einsetzen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/ Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Pofalla, ich will Ihr Angebot, zu dieser Frage eine sachliche und konstruktive Auseinandersetzung zu führen, ausdrücklich aufgreifen. Worum geht es? Es geht um den Schutz von potenziellen Opfern. Es sind ganz wenige Fälle, aber in diesen Fällen geht es um Opfer schrecklicher Straftaten und die Opfer sind in der Regel oder fast ausnahmslos Kinder und Frauen. Das ist die eine Seite eines großen Problems. Die andere Seite ist, dass wir das überragende Freiheitsrecht aller Menschen, auch der Strafgefangenen, zu achten haben. Das ist Inhalt der Verfassungsgerichtsentscheidung. Da die richtige Lösung zu finden, ist eine verdammt schwierige Aufgabe. Wenn wir wirklich sachlich diskutieren wollen, dann verbietet sich jede Polemik, auch die, die Sie gegenüber dem Kollegen Stünker heute an den Tag gelegt haben. ({0}) Die Länder, deren Gesetze für verfassungswidrig erklärt worden sind, haben - sie haben behauptet, sie hätten in einer Notsituation gehandelt - immerhin einen Etikettenschwindel betrieben. ({1}) Sie haben die Materie der Sicherungsverwahrung dem Polizeirecht zugeordnet. Das Verfassungsgericht hat gesagt: So geht es nicht. Die Sicherungsverwahrung ist Teil des Strafrechts und gehört damit zur konkurrierenden Gesetzgebung. ({2}) Wir kommen zu einer wichtigen, zu einer hoch interessanten Frage, Herr Kollege Profalla und meine Kollegen von der Opposition, nämlich zu der Frage: Warum hat das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung getroffen? Es hat gesagt, dass die Länder nicht befugt sind, die Straftäterunterbringung zu regeln, weil der Bund diesbezüglich von seiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht hat. ({3}) Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Materie der Sicherungsverwahrung mit dem, was schon jetzt im Gesetz steht, abschließend geregelt. ({4}) - Wenn Sie tatsächlich von einer abschließenden Regelung ausgehen würden, dann bräuchten Sie doch keinen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, wie Sie es heute getan haben! ({5}) - Hören Sie sich doch erst einmal meine Ausführungen an! Behalten Sie sich das, was Sie zu sagen haben, für die Beratung im Rechtsausschuss vor! ({6}) - Nein, es ist richtig. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Gesetzeslage zur Sicherungsverwahrung ausführlich dargestellt hat, hat es Lücken aufgezeigt. Das betrifft die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB, die erleichterte Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 StGB und zum Schluss die Möglichkeit des Vorbehalts der Unterbringung nach § 66 a StGB. Die Lücke, die aufgezeigt worden ist und tatsächlich besteht, ist, dass diese umfassende Regelung, sowohl was die erleichterte Anordnung nach § 66 Abs. 3 StGB als auch was den Vorbehalt der Unterbringung nach § 66 a StGB betrifft, nur für die Zukunft gilt. Das bedeutet: Im Strafvollzug gibt es Straftäter, bei denen möglicherweise die formalen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vorliegen, bei deren Verurteilung vor den Stichtagen in 1998 und 2002 die erleichterte Anordnung nach § 66 Abs. 3 StGB oder die Anordnung des Vorbehalts nach § 66 a StGB nicht möglich waren. Deswegen sagen wir: Wir sind bereit, diese Lücke zu schließen. ({7}) Die Grünen werden auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagieren, obwohl uns, meine Herren Kollegen von der Opposition, das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht zu einer gesetzgeberischen Reaktion gezwungen hat. Im Urteil steht: Der Bundesgesetzgeber muss entscheiden, ob und inwieweit er reagieren will. Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen reagieren. Wir wollen die von mir aufgezeigte Lücke schließen, indem wir eine Altfallregelung einführen, ({8}) die genau die Fälle, die ich jetzt angesprochen habe, umfasst. ({9}) Wir verschließen uns aber auch nicht anderen Lösungsmöglichkeiten, wenn sie, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt, gewährleisten, dass der überragenden Bedeutung des Freiheitsrechts des Betroffenen Rechnung getragen wird und wir nicht ohne Not - damit meine ich: nicht ohne eine unabweisbare Notwendigkeit - die bereits jetzt umfassende Regelung der Sicherungsverwahrung weiter ausdehnen als bisher. ({10}) - Wir reden heute nicht über den Regierungsentwurf. Heute reden wir über Ihren Gesetzentwurf. Ich sage Ihnen jetzt einmal, warum in Ihren Vorschlägen aus unserer Sicht mehr Schlechtes als Gutes enthalten ist: Die Strafvollstreckungskammer, die die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung treffen soll, ist eine Kammer, die in der Regel wenig mit den Strafgefangenen zu tun hat, höchstens mit denen - da erkenne ich auch Ihr Interesse -, die im Vollzug auffällig geworden sind. ({11}) Mit denen beschäftigen Sie sich ein bisschen, aber mit denen, die nicht auffällig geworden sind, kaum. ({12}) - Jetzt einmal ganz ruhig, Herr Kollege Dr. Gehb. Sie kommen doch gleich dran. Sie wollen keine Hauptverhandlung mit Beweisaufnahme, Sie wollen kein Urteil, sondern nur einen Beschluss. Sie sehen keine Rechtsmittel außer einer Beschwerde vor. Sie sehen eine Verteidigung nicht notwendig vor, sondern wollen, dass ein Verteidiger nur dann angehört wird, wenn er da ist. Das einzig Gute, was Sie wollen, ist, dass Sie zwei Gutachten wollen. Diesen Vorschlag tragen wir mit. Aber auch da bleiben Sie auf halbem Weg stehen, weil einer der Gutachter aus dem Gefängnis kommen kann, in dem der Verurteilte einsitzt. Das halten wir für keine gute Lösung. ({13}) Eigentlich wollte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Opposition, zum Schluss sagen: Mit Ihrem Gesetzentwurf werden wir uns nicht beschäftigen. ({14}) Ich will aber doch noch einmal das Angebot zu einer sachlichen und konkreten Diskussion im Rechtsausschuss machen. Wir werden nochmals eine Sachverständigenanhörung durchführen. Wir können dann gemeinsam nach dem besten Lösungsweg suchen. Danke schön. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die Debattenbeiträge, die wir heute gehört haben, insbesondere das, was der Staatssekretär gesagt hat, und die Antworten der Ministerin, die sie in der Befragung der Bundesregierung am 10. März gegeben hat, Revue passieren lässt, könnte man den Eindruck bekommen, als habe die SPD nie etwas anderes als die nachträgliche Sicherungsverwahrung gewollt bzw. als sei die SPD die einzige Partei, die wirklich die nachträgliche Sicherungsverwahrung gewollt hat. ({0}) Im Übrigen hat die Ministerin bei der Befragung der Bundesregierung noch einen kleinen Fehler begangen, als sie gesagt hat, dass mit dem vorliegenden Antrag der Regierung die bisher bestehende Regelung zur Sicherungsverwahrung, nämlich zur vorbehaltenen, ergänzt werde. Inzwischen haben wir drei Fälle der Sicherungsverwahrung, nämlich die, die im Urteil direkt angeordnet wird - diese gibt es schon sehr lange -, die andere, die im Urteil vorbehalten wird, und jetzt die nachträgliche Sicherungsverwahrung. ({1}) Die von Ihnen aufgeworfene Frage, Herr Staatssekretär, ob die Richter in der Strafvollstreckungskammer häufig wechseln, hilft überhaupt nicht weiter. Es ist doch völlig normal, dass die Besetzung von Spruchkammern wechselt. Der gesetzliche Richter ist der gesetzliche Richter. ({2}) Wie verhält es sich denn übrigens, Herr Kollege Montag, bei der Aussetzung der Strafe zur Bewährung? Wer trifft eigentlich diese Entscheidung? Aber all diese dogmatischen Fragen gehören eigentlich eher in den Rechtsausschuss oder in eine Vorlesung für Studenten. Herr Pofalla hat Ihnen, Herr Stünker, eben Vorhaltungen zu dem, was Sie von sich gegeben haben, ersparen wollen. Ich werde jetzt einmal das Buch Hiob aufschlagen. ({3}) Sie, Herr Jerzy Montag, möchten immer gerne zur Sachlichkeit aufrufen. Wenn man morgens blutig geschlagen worden ist, kommen Sie abends an und sagen, das war doch alles nicht so gemeint. ({4}) In der Bundestagsdebatte am 19. Oktober 2001 führte der frühere rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU, Norbert Geis, aus, dass im Augenblick nicht die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bestünde. Zwischenruf von Stünker: „Gott sei Dank!“ Geis: „Nachträglich geht das im Augenblick noch nicht.“ Stünker: „Gut so!“ Geis: „... haben wir heute noch nicht die Möglichkeit, nachträglich eine Sicherungsverwahrung anzuordnen.“ Stünker: „Da sind wir vor!“ ({5}) - Sie sind doch sonst nicht so begriffsstutzig! Ich habe in meiner Rede am 14. November 2002 gesagt - und zwar auf Lateinisch, weil ich dachte, die Rechtskundigen verstehen das -: „Punitur quia peccatum est ne peccetur.“ Das heißt auf Deutsch: Es wird bestraft, weil gesündigt worden ist und damit nicht wieder gesündigt wird. Dieser alte Spruch beinhaltet zum einen die repressive Strafe, hat also Sühnecharakter, und zum anderen die Prävention, also die Vorbeugung. Das Einzige, was Sie, Herr Stünker, darauf in Ihrer Replik damals zu sagen hatten, war: Herr Gehb, damit hätten Sie eine Professur nicht verdient, nicht einmal den kleinen Strafrechtsschein. ({6}) Das Bundesverfassungsgericht sagt auf Seite 13 des Entscheidungsumdrucks: Strafrecht erfasst neben vergeltenden, Schuld ausgleichenden Sanktionen auch spezialpräventive Reaktionen auf eine Straftat. ({7}) - So bereits Gehb im Bundestag. - Herr Stünker am 14. November 2002: „Die Bundesländer müssen hier ihre Schulaufgaben machen und müssen für die entsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen.“ Zwischenruf Jürgen Gehb: „Das ist Art. 74 Abs. 1, konkurrierende Gesetzgebung! Wenn der Bund davon Gebrauch macht, ist dieser Bereich den Ländern verschlossen!“ Das wurde von Ihnen, Herr Montag, übrigens eben wörtlich wiedergegeben. Da hat sich das Bundesverfassungsgericht fast expressis verbis meiner Diktion angeschlossen. ({8}) Sagen Sie einmal, Herr Stünker: Würden Sie in Ihrer grenzenlosen Überheblichkeit, in der Sie glauben, Noten vergeben zu können, auch den erkennenden Richtern des Bundesverfassungsgerichts die Professur oder gar das Erreichen des kleinen Strafrechtsscheins absprechen? ({9}) - Das hat auch wehgetan. ({10}) Das ist der Unterschied zu den Zeiten, als Professor Pick noch hier war. Da hatte man solche komischen Zwischenrufe nicht zu befürchten. Herr Montag und vor allen Dingen Herr Stünker, das ist das Problem in der Debatte mit Ihnen - auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil; ich habe das noch nie gesagt, aber Sie haben es jetzt provoziert -: Mit Ihnen ist es deshalb schwierig, weil Sie fachlich so schwach auf der Brust sind. ({11}) Wer die Begriffe nicht versteht und nicht beherrscht, kann natürlich auch eine Diskussion nicht beherrschen, das ist doch ganz klar. Deswegen kommen wir auch nicht überein. Jetzt so zu tun, als sei Sachlichkeit geboten, ist perfide. Herr Montag, Sie führen sich - genau wie früher Ihr rechtsunkundiger Kollege Volker Beck - in allen diesen Fällen wie eine ethosgesteuerte Warnblinkanlage auf, indem Sie hier nur mit einem Nebensatz erwähnen, dass es natürlich auch Opfer gibt. ({12}) Ihr Herz schlägt bei verfassungsrechtlichen Debatten immer zuerst für den Täter und erst an fünfter oder sechster Stelle für das Opfer. ({13}) Der Unterschied in unserer Politik ist ein ganz einfacher, den auch alle unsere Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne verstehen: Bei uns geht Opferschutz vor Täterschutz und nicht Täterschutz vor Opferschutz. ({14}) Meine Damen und Herren, ob wir über den genetischen Fingerabdruck, Terrorismus oder die Sicherungsverwahrung reden, immer sind Ihre Bedenken, ob rechtsstaatliche Prinzipien angewandt worden sind. ({15}) Glaubt denn irgendeiner in Deutschland, dass wir rechtsstaatliche Defizite haben?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn sie nicht beschimpfenden Charakters ist wie sonst bei Herrn Ströbele. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das kann ich nicht garantieren, Herr Kollege.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Gehb, geben Sie mir Recht, dass die CDU/CSU-Fraktion noch im Jahr 1998 ausdrücklich abgelehnt hat, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ins Strafgesetzbuch zu schreiben? Wie war das da mit dem Täter- und dem Opferschutz?

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ich Ihnen erklären, Herr Ströbele. Auch ich bin Christdemokrat. Sie wissen sehr wohl, an welchen Widersprüchen das gescheitert ist. ({0}) Ich bin seit 1998 Mitglied dieses Hauses. Ich will Ihnen eine Antwort auf Ihre Frage nicht schuldig bleiben. Wer uns wie Sie zum x-ten Male die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschlagen will und wer uns vorhält, dass wir sie während unserer Regierungsverantwortung nicht eingeführt haben, der kommt mir vor wie jemand, der wegen Mordes an seinen Eltern angeklagt wird und um Gnade fleht, weil er Vollwaise ist. Das ist eine ganz perfide Einlassung. Sie können sich setzen, Herr Ströbele. ({1}) - Doch, das ist die Antwort auf die Frage. Ich gebe Ihnen Recht, dass viele Gesetzesvorhaben in den letzten 30 Jahren gescheitert sind. ({2}) Sollen wir deshalb aufhören, Gesetzentwürfe einzubringen? Wenn man den Vorwurf, man hätte schon früher handeln können, ernst nehmen würde, dann hätte man nach der ersten Legislaturperiode aufhören können, entsprechende Vorschläge zu machen. Das ist doch völlig abwegig. Ich appelliere daher an Sie: Machen Sie mit! Der Rückblick war jedenfalls erforderlich, um eine Geschichtsklitterung zu verhindern. Ich will zum Abschluss noch etwas Versöhnliches sagen. Es wird uns doch wohl gelingen, aus dem Potpourri der bisherigen Vorschläge - ich nenne unseren Vorschlag, die Vorschläge der Bundesregierung und des Bundesrates sowie die Vorschläge von Bayern, Thüringen und Baden-Württemberg - einen Vorschlag zu entwickeln, der sowohl den rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht, die der Staat gegenüber den Strafgefangenen beachten muss, als auch den gebotenen Schutz der Bevölkerung vor solchen Menschen gewährleistet. Herr Ströbele, es handelt sich weiß Gott nicht um Unschuldslämmer. Es muss eine Tat vorliegen, die schwerer ist als das Klauen eines Lippenstifts im Kaufhof. Es handelt sich um böse Burschen - das sind keine leichten Fälle -, die wir einsperren wollen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir heute hier reden, ist viel zu ernst, als dass man solche Reden halten sollte, wie Sie es, Herr Kollege Gehb und Herr Kollege Pofalla, heute Nachmittag getan haben. Jemandem vorzuwerfen, er sei intellektuell zu schwach auf der Brust, nur weil das Bundesverfassungsgericht anders entschieden hat - man sollte sich auch das Minderheitenvotum der drei Verfassungsrichter durchlesen -, lenkt die Debatte in eine Richtung, die dem Thema nicht angemessen ist, Herr Kollege Gehb.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Stünker, ich frage Sie, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder und eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb zulassen?

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen. Anlass für die erneute Beschäftigung mit diesem schwierigen Thema der nachträglichen Sicherungsverwahrung - mittlerweile liegen dazu vier Gesetzentwürfe vor; wenn das Thema so einfach wäre, würde ein Gesetzentwurf ausreichen - sind in der Tat die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5. und 10. Februar dieses Jahres. Angesichts der Reden, die heute hier gehalten wurden, empfehle ich, beide Entscheidungen bis zum Ende zu lesen. Mit diesen beiden Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die alte Streitfrage - ihre Beantwortung war auch in der Wissenschaft über Jahrzehnte umstritten -, ob die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot und gegen das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 103 Grundgesetz verstößt, entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses mit Hinweis auf den Maßregelcharakter der nachträglichen Sicherungsverwahrung verneint. Es gibt führende Verfassungsrechtler in Deutschland, die das anders sehen. Aber entschieden ist entschieden. Wir haben uns daher mit dem Thema wieder zu befassen. Die zweite Frage war, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ist. Sie haben in diesem Zusammenhang auf meine Aussagen verwiesen. Den meisten meiner Reden werden Sie entnommen haben, dass ich materiell verfassungsrechtliche und weniger formelle Probleme gesehen habe. - Schönen Dank, dass Sie das bestätigen. (Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb ({0}) - Doch, genau das habe ich in meinen Reden deutlich gemacht. Wenn Sie schon zitieren, dann bitte seriös und vollständig, Herr Kollege Gehb. ({1}) Die Streitfrage ist also entschieden. Daher muss sich das Hohe Haus jetzt endgültig entscheiden, wie wir es mit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung für als besonders gefährlich erkannte Straftäter halten. Dazu sage ich Ihnen eines vorab: Ich bin jetzt fünf Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses und das ist die erste Entscheidung, bei der ich vor einer Gewissensfrage stehe. Ich war 15 Jahre lang in allen möglichen Bereichen des Strafrechts tätig. Das Problem, um das es hier geht, ist sehr groß. Dazu möchte ich ein paar Punkte nennen. Es geht hier um einen Straftäter, der bereits wegen einer schweren Straftat zu einer in der Regel langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und in dessen Urteil das erkennende Gericht gerade nicht und damit endgültig rechtskräftig nicht auf Sicherungsverwahrung erkannt hat, dessen Entwicklung im Vollzug aber die besondere Gefährlichkeit dieses Menschen zur Begehung neuer schwerer Straftaten begründen soll. Damit bewegen wir uns - so auch das Bundesverfassungsgericht - in einem Grenzbereich des Strafrechts. Es handelt sich bei diesem Problem daher ausschließlich um ein streng rechtsstaatliches. Es geht nicht um das Problem, Herr Kollege Gehb, ob Täterschutz vor Opferschutz gehen soll. Eine demokratische, freiheitliche, pluralistische Gesellschaft zeichnet ein streng rechtsstaatlicher Strafprozess aus. Allein darum geht es, nicht aber um den bei Rot-Grün vermeintlich fehlenden Willen zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Straftaten. ({2}) Das muss ganz klar sein. Demjenigen, der einen anderen Eindruck zu erwecken versucht, wie Sie, Herr Gehb, es eben gemacht haben, sage ich ganz grob: Das ist pure Demagogie und demokratisch unanständig, Herr Kollege. ({3}) Ich meine, die jetzt zu findende Regelung kann sich daher nur am Normzweck des Sechsten Titels des Strafgesetzbuches - es liegt ja vor - orientieren, nämlich an den Maßregeln der Sicherung und Besserung. Diese Maßregeln sind die so genannte zweite Spur der strafrechtlichen Sanktionen, die wir kennen. Zweck einer Maßregel ist allein, Herr Kollege Pofalla, ({4}) die Gefahrenabwehr, der Schutz der öffentlichen Sicherheit durch Vorbeugung im Hinblick auf künftige Straftaten. ({5}) Deshalb bestimmt § 62 StGB - man sollte dies einmal nachlesen -: Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden TaJoachim Stünker ten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Damit soll grundsätzlich sichergestellt werden, dass die letztlich an der Spezialprävention orientierte Zweckbestimmung der Maßregel im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß begrenzt wird. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat damit für die Maßregel wie das Schuldprinzip für die Strafe die Funktion eines limitierenden Korrektivs. Zu Recht wird daher die Sicherungsverwahrung in der gesamten Literatur und in allen Kommentaren als letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik bezeichnet. In materieller Hinsicht verlangt die schon heute geltende Regelung in den §§ 66 und 66 a StGB, wenn hierüber ein Urteil gesprochen wird, als Voraussetzung einen Täter mit einer eingewurzelten, aufgrund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen intensiven Neigung zu Rechtsbrüchen. Die Rechtsprechung spricht vom eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, von der fest verwurzelten Neigung, immer wieder straffällig zu werden. Diese hohen Hürden, wie ich meine, hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen und letztendlich auch das Bundesverfassungsgericht in den beiden eingangs genannten Entscheidungen aufgestellt. Der Grund dafür ist folgender: Da die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Ergebnis zeitlich unbegrenzt ist, kann sie in der Tat ein Leben lang dauern. ({6}) Die Sicherungsverwahrung ist in der Praxis die wirkliche lebenslange Freiheitsstrafe. ({7}) - Einige. Deshalb müssen die Hürden, die ich genannt habe, auch für die Fallgestaltung gegeben sein, in der sich die von mir skizzierte Täterpersönlichkeit erst während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe in der Strafhaft herausstellt. ({8}) - Hören Sie doch zu! - Das heißt, wir müssen, wie ich meine, in den Beratungen einen rechtsstaatlich vertretbaren Weg finden, auf dem ein Gericht zu der Überzeugungsbildung, die ich zu skizzieren versucht habe, kommen kann. Dazu gehört für mich: Es muss eine schwerste Straftat gegen Leib und Leben einer Person oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung einer Person als Anlasstat gegeben sein. Zwei unabhängige Sachverständige der forensischen Psychiatrie, die mit dem Täter während des Strafvollzuges nicht befasst gewesen sind, müssen die Täterpersönlichkeit in einem Gutachten prognostizieren. Ferner haben wir das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Denn mit Sicherheit werden wir mit der Regelung, welche wir hier treffen, wieder irgendwann wegen einer Person beim Bundesverfassungsgericht sein, das den Fall dann überprüfen muss. Das Rechtsstaatsprinzip brauchen wir deshalb, weil wir mit der nachträglichen Anordnung in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände und in ein materiell und formell rechtskräftiges Urteil eingreifen. Deshalb meine ich - nun komme ich zu der Frage, warum nicht die Strafvollstreckungskammer zuständig sein soll -: Das Antragsrecht für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung sollte allein bei der zuständigen Staatsanwaltschaft liegen und nicht bei der Haftanstalt. Denn diese muss kraft Gesetzes auch die entlastenden Umstände von Amts wegen ermitteln. Diesen Anspruch hat jeder in diesem Land. ({9}) Das gerichtliche Verfahren sollte das Erkenntnisverfahren eines Tatgerichtes sein. Das heißt, die Anordnung sollte durch eine Große Strafkammer des Landgerichtes in öffentlicher Hauptverhandlung mit dem Rechtsmittel der Revision beim Bundesgerichtshof erfolgen. Herr Kollege Pofalla, es geht nicht darum, ob sich die Personen, die dort arbeiten, mit dieser Person, die zehn Jahre Freiheitsstrafe hinter sich hat, bereits irgendwann beschäftigt haben. Es geht darum, dass eine Kammer, die sich jeden Tag von Amts wegen als Schwurgericht mit diesen schwerwiegenden Fällen befasst, auch über die notwendige Erfahrung verfügt, die eine Strafvollstreckungskammer leider nicht hat. Das sind die Gründe dafür, das Erkenntnisverfahren mit dem Hauptverhandlungsmodell zu wählen. Ich bitte Sie inständig - ich will keine Polemik, weil es mir zu wichtig ist -, noch einmal in Ruhe darüber nachzudenken. Auch die Richter des Bundesgerichtshofs - ich war vor einigen Wochen dort - sagen alle: Ihr könnt das nicht mit dem Beschwerderecht beim OLG regeln. Es können nicht erst 24 OLGs in Deutschland unterschiedliche Entscheidungen treffen, bis es eine einheitliche Rechtsprechung gibt; es muss im Wege der Revision nach öffentlicher Hauptverhandlung mit allen Rechten, die ein Angeklagter nach der Strafprozessordnung hat, letztendlich vom Bundesgerichtshof entschieden werden. Wenn für die Anordnung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich bestimmt ist, dass ein Schwurgericht, also eine Strafkammer als Schwurgericht - das ist im GVG nachzulesen - darüber zu entscheiden hat, dann muss ich Sie fragen, ob Sie wirklich bei der nachträglichen Anordnung einer Sicherungsverwahrung - das ist der schwerste Eingriff, den man vornehmen kann - unterschwellig ein Gericht entscheiden lassen wollen? Ich bitte Sie, über diese Systematik noch einmal nachzudenken. Wenn wir gemeinsam den Weg über ein erkennendes Gericht, über eine Hauptverhandlung mit allen Rechten und zwei Sachverständigen gehen können, dann

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Stünker, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- einen Satz noch, Frau Präsidentin - haben wir sozusagen durch Verfahren Grundrechtsschutz geschaffen. Das sollten wir in den Beratungen, die jetzt vor uns liegen, gemeinsam überlegen. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sehe ein, dass auf diesem Gebiet im Hinblick auf die Historie dieses Sachverhalts viel Vergangenheitsbewältigung notwendig ist. Aber ich muss gleichzeitig sagen: Es ist für uns unerklärlich und unverständlich, wieso man so lange Zeit für eine gesellschaftliche Notwendigkeit gebraucht hat. Ich glaube, die Ministerin sprach von acht Fällen, die geregelt werden müssen und bei denen man erkennbar die Auffassung vertritt: Hier droht Gefahr für die Bürger, weil Sachverständige offensichtlich erkannt haben, dass man diese Menschen nicht auf die Gesellschaft loslassen kann. ({0}) Jemand, der genug Gerichtspraxis hat, weiß: Es gibt in unserer Gesellschaft leider Menschen, bei denen alle staatlichen Versuche, sie zu resozialisieren und zu bewegen, sich neu zu fixieren, nicht helfen und bei denen die Fachleute, die Psychologen - es geht hier um zwei unabhängige Gutachter -, feststellen: Um Gottes willen, lasst ihn nicht auf die Gesellschaft los. Natürlich weiß auch ich: Es geht hier nicht um eine Strafe - für seine Tat hat der Täter gebüßt -, sondern darum, die Gesellschaft vor ihm zu schützen und ihn vorsorglich zu verwahren. Sicher können wir uns in den Fachgremien und im Rechtsausschuss über die Verfahrensfragen einigen. Keiner will Tagediebe und Betrüger in Sicherungsverwahrung nehmen. Herr Stünker, das wird nicht das Problem der Rechtsfindung sein. Vielmehr wird es entscheidend auf die beiden Gutachter ankommen. Es geht konkret um die Frage, ob die Gutachter die Person richtig einschätzen, und nicht um große Rechtsstreitigkeiten. Letztere sind ausgestanden, wenn das Gesetz erst einmal im Gesetzblatt steht. Ich will die Entscheidung nicht einem Amtsrichter übertragen oder irgendein Schnellverfahren vorsehen, aber darauf, ob das erkennende Gericht, eine Strafkammer oder eine Strafvollstreckungskammer entscheiden soll, kommt es mir nicht an. Wir sollten nicht den einen misstrauen und sie für Idioten halten, während wir die anderen als gescheit ansehen. Ich glaube nicht, dass irgendeiner bei uns eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch ein ungeeignetes Verfahren will. Ich bin da für die Anhörung völlig offen. Eine Problematik ist mir beim Durchlesen aufgefallen. Sie haben vor, die Schwelle für die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden höher zu legen. Nach der alten Definition sind Heranwachsende die 18- bis 20-Jährigen. Nach Ihrem Vorschlag muss ein Heranwachsender fünf Jahre Freiheitsstrafe bekommen haben; vier Jahre sind es bei Erwachsenen. Wenn die Frage der Sicherungsverwahrung geklärt wird, sind diese Personen bereits 24 oder 25 Jahre alt. Sie sollen dann einer günstigeren Regelung als diejenigen unterfallen, die schon bei der Tat volljährig waren. Ich kann den Sinn dieser Regelung nicht erkennen. Eine andere Behandlung käme nur in Betracht, wenn sich der Betroffene zum Zeitpunkt der Entscheidung noch im Zustand der Unreife befände. Das kann man nicht gut unterstellen, weil sich aus dem Alter von 18 bis 20 Jahren bei der Straftat und der Dauer der Freiheitsstrafe ergibt, dass die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erst im Alter von 23 bis 25 Jahren ansteht. Das führt logischerweise dazu, dass es keine Unterscheidung geben darf. Eines will ich noch herausstellen: Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist vielleicht auch ein Ergebnis der Praxis der Verhängung zu geringer Strafen, zu der die deutschen Strafgerichte über viele Jahrzehnte gefunden haben. Wirklich lebenslängliche Freiheitsstrafen gibt es nicht mehr. Wir haben in unserem Staat sicherlich eine Reihe von Straftätern, die wohl nie resozialisierbar sind. Ich habe kürzlich einmal eine solche Akte in der Hand gehabt. Solche Leute sind von Anfang an eine Gefahr und werden dies leider wohl immer bleiben, trotz aller medizinischen und psychiatrischen Erfolge. Man verschlösse die Augen, wenn man so täte, als gäbe es das Problem nicht. Das haben Sie leider über viele Jahre getan. Sie haben die Lösung des Problems den Ländern zugeschoben. Jetzt geht das nicht mehr. Jetzt müssen wir das regeln und zum Glück wird es geregelt. Ich sage noch einmal: Wir werden uns über das Verfahren einigen. Wir sollten ein faires Verfahren wählen. Wir sollten berücksichtigen, dass die Bevölkerung einen Anspruch darauf hat, vor derart gefährlichen Straftätern - einige Fälle sind beschrieben - geschützt zu werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/2576 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 f sowie Zusatzpunkt 4 auf: 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen - eine Chance für die Menschenrechte - Drucksache 15/2755 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Christian Ruck, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Fraktion der FDP Stärkung der Menschenrechte in der interna- tionalen Politik - zur 60. Tagung der Men- schenrechtskommission der Vereinten Natio- nen - Drucksache 15/2741 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan - Drucksachen 15/2168, 15/2740 Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Graf ({1}) Josef Philip Winkler d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Reform und Stärkung der Menschen- rechtskommission - Drucksachen 15/2174, 15/2509 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Hermann Gröhe e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Egon Jüttner, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger und der Fraktion der FDP Den Friedensprozess im Sudan unterstützen - Drucksachen 15/2152, 15/2715 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Dr. Egon Jüttner f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay - Drucksachen 15/2175, 15/2768 Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Rudolf Bindig Rainer Eppelmann ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay - Drucksache 15/2756 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer, SPDFraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen begann nur vier Tage nach den Terroranschlägen von Madrid. Mit großer Sorge müssen wir deshalb feststellen, dass es die gleichen Gefahren sind, die das Umfeld der Arbeit der Kommission und die Menschenrechtspolitik insgesamt prägen. Wir sind deshalb sehr froh darüber, dass die Menschenrechtskommission trotz aller Probleme, über die wir noch zu reden haben werden, weiterhin als unverzichtbares Dialogforum existiert, auf dem gewaltfreie Lösungen besprochen werden können, und zwar - dazu verhält sich die Regierungskoalition in ihrem Antrag 9004 auch mit so genannten menschenrechtlich problematischen Staaten. Ein schwieriges weltpolitisches Umfeld hat immer auch problematische Rückwirkungen auf die Menschenrechtspolitik. In Zeiten epochaler Bedrohungen besteht die Gefahr, sich mit fragwürdigen Bündnispartnern arrangieren zu wollen - nach dem Motto: Schweigst du zu meinen Menschenrechtsverletzungen, schweige ich zu deinen. Dies - ich glaube, darüber besteht Konsens können, wollen und werden wir nicht hinnehmen. ({0}) Deswegen werden wir dafür arbeiten, dass sich die Kommission auch weiterhin mit Länderresolutionen befasst und nicht nur Grundsatzerklärungen produziert. Wir müssen aber auch dafür Sorge tragen - hier vertrauen wir auf die Aktivitäten der Bundesregierung -, dass Resolutionen nicht auf dem Altar machtpolitischer Überlegungen geopfert oder wegen vermeintlicher regionaler Verbundenheit verhindert werden, wie es in den vergangenen Jahren leider immer wieder der Fall war. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, in Sachen Menschenrechte stets mit gutem Beispiel voranzugehen. Zum Thema Guantanamo wird die Kollegin Angelika Graf gleich noch Stellung nehmen. Hierzu nur so viel: Der Terrorismusexperte Walter Laqueur hat nach dem 11. September 2001 gesagt, bei der Terrorbekämpfung werde die Frage nicht sein, welche Menschenrechte wir aufgeben wollen, sondern welche wir uns noch leisten können. Bundesinnenminister Schily hat diesem hochgefährlichen Satz dankenswerterweise energisch widersprochen und betont, die Aufgabe von Menschenrechten im Zuge der Terrorismusbekämpfung sei genau der falsche Weg. Ich denke, diese Aussage bleibt bestehen. ({1}) Meine Damen und Herren, in unserem Antrag gehen wir, wie auch in den letzten Jahren, auf die Situation in einzelnen Ländern ein. Wir glauben, dass wir dies - gerade aufgrund der Schwerpunkte, die auch der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gesetzt hat - zu Recht tun und die Probleme in diesen Ländern deutlich beschreiben. So ist es nach unserer Auffassung auch richtig, dass die ersten Länder, die wir aufführen, Russland und China sind. Zwar verzeichnen wir in beiden Ländern im Rechtsstaatsdialog und im Menschenrechtsdialog auch positive Entwicklungen. Aber unsere Meinung ist: Menschenrechtsverletzungen können und dürfen niemals gegen positive Taten aufgewogen werden. Auch dieser Satz bleibt für uns die Wahrheit. ({2}) In Simbabwe können wir im Moment leider überhaupt keine positiven Entwicklungen feststellen. Der menschenverachtende Terror des Mugabe-Regimes geht ungebremst weiter. Gerade hier erwarten wir auch aus dem Kreis der Afrikanischen Union Signale in Richtung auf eine Länderresolution, die in diesem Jahr endlich bei der Kommission durchgesetzt werden muss. ({3}) Meine Damen und Herren, ich füge aber auch hinzu, dass die Glaubwürdigkeit der EU bzw. einzelner Staaten, wenn es um eine konsequente Menschenrechtspolitik geht, nicht gerade dadurch gestärkt wird, dass man dem Diktator die Möglichkeit verschafft, sich auf Konferenzen in europäischen Hauptstädten zu präsentieren. Auch dies gehört zur Wahrheit. ({4}) Es ist gut - darüber bin ich sehr froh -, dass wir uns zum Fall Sudan mit einem konsensualen Antrag zu Wort melden, der die Realität beschreibt. Ich glaube, wir alle können sagen, dass wir hinter diesem Antrag stehen. Zwar kann auch dort noch nicht von einer substanziellen Verbesserung der Menschenrechtslage die Rede sein. Insbesondere aber ist die Forderung berechtigt, die eskalierende Situation im Westen, in der Region Dafur, und die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Hilfsorganisationen in diesen Antrag aufzunehmen. Die historische Chance für den Abschluss eines Friedensabkommens zwischen dem befeindeten Süden und Norden des Sudan berechtigt aber durchaus zu der Hoffnung, dass auch die Menschenrechte von diesem Prozess profitieren werden. Wir begrüßen daher ausdrücklich den Antrag der FDP-Fraktion und stimmen ihm, mit den im Ausschuss vorgenommenen Änderungen, aus Überzeugung zu. ({5}) Die Forderungen, die wir in unseren Koalitionsantrag aufgenommen haben, orientieren sich natürlich auch an allgemeinen, die Menschenrechte betreffenden Themen. Der alarmierende Befund der neuen Sonderberichterstatterin Yakin Ertürk zum Beispiel macht es notwendig, auch dem Problem der Gewalt gegen Frauen wieder Gehör zu verschaffen und unsere Entschlossenheit auszudrücken, dieses Thema auf der Sitzung der Kommission mit konkreten Zielsetzungen zu behandeln. ({6}) Auch und gerade Frauenrechte, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sind nicht kulturspezifisch unterschiedlich interpretierbar; ich glaube, diese Wahrheit müssen wir immer wieder aussprechen. Für eine konsequente Durchsetzung der Menschenrechte - auch im eigenen Hause - stehen weiter die in unserem Antrag erwähnten Punkte zu der Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen in Bezug auf die Menschenrechte sowie die Kinderrechte. Wir mahnen daher wieder einmal die Rücknahme der deutschen Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention an und werden dies in Zukunft weiter betreiben. ({7}) Meine Damen und Herren von der Opposition, nach dem, was wir im Ausschuss gehört haben, wäre es sehr schön, wenn Sie endlich auch die Regierungen der noch von Ihnen regierten Bundesländer dazu bringen würden, ({8}) der Rücknahme der Vorbehalte zuzustimmen; ich glaube, das wäre mehr als Worte. ({9}) Die Tatsache, dass sich die Menschenrechte nicht auf Dauer mit Gewalt erzwingen lassen, erfordert auch eine konsequente Behandlung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich die Initiativen der Bundesregierung - unter anderem auch mit Finnland - zur weiteren Stärkung dieser Rechte mit dem Fokus auf den Bedürfnissen sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen, insbesondere ihrer Trinkwasserversorgung, sowie zur Resolution zum Recht auf angemessenes Wohnen. Ich glaube, das gehört integral zu unserer Debatte. Wir begrüßen auch außerordentlich, dass die von der Unterkommission zur Förderung und dem Schutz von Menschenrechten verabschiedeten Normen zur die Menschenrechte betreffenden Verantwortung von transnationalen und anderen Wirtschaftsunternehmen positiv aufgegriffen werden, da sie über den auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhenden Ansatz von „Global Compact“ hinaus mehr Verbindlichkeit schaffen können und auch müssen. Auch dies gehört, denke ich, mit zur Menschenrechtsdebatte. Auf der anderen Seite haben wir gerade in den letzten Wochen und Monaten zur Kenntnis nehmen müssen, dass Umfragen - auch in unserem eigenen Land - gezeigt haben, welch geringen Stellenwert die Grund- und Menschenrechte in unserer Gesellschaft, insbesondere unter jungen Menschen, einnehmen. Deshalb - ich glaube, das ist aus dieser Debatte heraus ein Signal möchte ich all denen danken, die sich der schwierigen Aufgabe widmen, den unverrückbaren Stellenwert der Menschenrechte auch bei uns immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, ({10}) den vielen NGOs zum Beispiel, die im Forum Menschenrechte zusammenarbeiten, aber auch und besonders dem noch jungen Deutschen Institut für Menschenrechte, das bereits jetzt eine hervorragende Arbeit leistet. ({11}) Vor diesem Hintergrund sehe ich die Menschenrechtsarbeit auch in unserem Land auf einem insgesamt guten Weg. Nur dies berechtigt uns, auf dem internationalen Parkett Fortschritte anzumahnen und glaubwürdig die neue VN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Frau Dr. Arbour, mit Nachdruck zu unterstützen. Auch ihr seien an dieser Stelle unsere besten Wünsche mitgegeben. Sie tritt die Nachfolge von Sergio de Mello an, der den Einsatz für die Menschenrechte mit seinem Leben bezahlte. Wir denken an ihn in Hochachtung und sollten alles daransetzen, sein Vermächtnis zu erfüllen: die Verwirklichung der Menschenrechte in der ganzen, einen Welt. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/ CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen und hier ganz besonders die Arbeit der Menschenrechtskommission - der wichtigsten Instanz der Völkergemeinschaft auf diesem Feld der Politik - ist in eine schwere Krise geraten. Gerade wer die Arbeit dieser Menschenrechtskommission für mühsam, aber alternativlos hält, darf nichts beschönigen: Eine zunehmende Nord-Süd-Konfrontation, in deren Rahmen Kritik an Menschenrechtsverletzungen generell als westliches Hegemoniestreben zurückgewiesen wird, und immer fragwürdigere Koalitionen von Staaten, denen es vor allem darum geht, Kritik am eigenen Verhalten zu unterdrücken, haben dazu geführt, beispielsweise das wichtige Instrument der Länderresolutionen massiv zu schwächen. Immer wieder scheitert die Ächtung von schwersten Menschenrechtsverletzungen an so genannten übergeordneten Interessen und fragwürdigen Tauschgeschäften. Derartigen Tendenzen muss die Bundesrepublik Deutschland gerade angesichts ihrer Rolle als Koordinator der westlichen Regionalgruppe entschieden entgegenwirken. ({0}) Daher wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Deutsche Bundestag in einer von allen Fraktionen getragenen Beschlussfassung deutlich gemacht hätte, dass er Bestrebungen, das VN-Menschenrechtssystem weiter zu schwächen, entgegentritt. ({1}) Dass eine solche Gemeinsamkeit gerade in Menschenrechtsfragen möglich ist - dies will ich ausdrücklich hervorheben -, zeigt die Tatsache, dass heute ein Antrag der Regierungskoalition zur Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan die Unterstützung der Opposition erfährt, während umgekehrt die Koalitionsparteien einen gemeinsamen Antrag von Union und FDP zum Friedensprozess im Sudan unterstützen. ({2}) Auch im Hinblick auf die Lage der Menschenrechtskommission sehe ich im Antrag der Koalitionsparteien und im Antrag von Union und FDP manche wichtige Gemeinsamkeit, aber auch eigene Schwerpunktsetzungen, die sich in weiten Teilen gut ergänzen könnten. In anderen Teilen jedoch, ganz besonderen in seinem Forderungsteil, bleibt der Antrag von Rot-Grün eher blass und zurückhaltend. So stellen Sie im Hinblick auf das ebenso wichtige wie umstrittene Instrument der Länderresolution zu Recht fest - ich zitiere aus Ihrem Antrag -: Länder-Resolutionen sind eine gewollte und menschenrechtlich notwendige Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Danach beschreiben Sie jedoch lediglich den Konsens in der Europäischen Union im Hinblick auf bestimmte Länderresolutionen und erklären über diesen Konsens hinaus lediglich eine Resolution zu der in der Tat dramatischen Lage in Simbabwe für begrüßenswert, noch dazu in sehr indirekter Weise. Wie aber passt Ihre richtige Beschreibung der Lage in Tschetschenien wie in der Russischen Föderation insgesamt oder in der Volksrepublik China zusammen mit der merkwürdigen Zurückhaltung im Forderungsteil Ihres Antrages gerade im Hinblick auf diese beiden Länder? Warum drücken Sie sich um eine Resolution zum Tschetschenien-Konflikt und zur Lage in der Volksrepublik China? Passt Klartext zur Lage in China etwa nicht in eine Zeit, in der Kanzler Schröder schon wieder Waffen nach Peking liefern will? ({3}) Gerade in einer Zeit, in der Länder wie China, Pakistan und Kuba die Länderresolutionen insgesamt abschaffen wollen, sollten wir dieses Instrument nicht nur prinzipiell verteidigen, sondern auch - klarer, als Sie dies tun sagen, in welchen Ländern wir seine Anwendung für angemessen halten. Der Antrag von Union und FDP ist ehrgeiziger. Er fordert eine Resolution, in der die massive Unterdrückung von Freiheitsund Bürgerrechten in der VR China und insbesondere das harte Vorgehen der staatlichen Behörden in Tibet und Xinjiang deutlich benannt werden. Wir halten es auch für notwendig, dass der von beiden Konfliktparteien mit äußerster Brutalität geführte Krieg in Tschetschenien in einer Resolution auf das Schärfste verurteilt wird. Was bedeutet nun Ihre Forderung, Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China deutlich zu verurteilen, angesichts der von den USA beabsichtigten Einbringung einer Resolution zur Lage in China? Was geben wir als Parlament unserer Delegation in Genf im Hinblick auf diese Frage mit auf den Weg? Bei aller Würdigung der sehr schwierigen Lage unserer Diplomaten in Genf sollten wir nicht der Versuchung erliegen, die Messlatte für anzustrebende Ziele so niedrig zu legen, dass die Enttäuschung anschließend nur ja nicht zu groß wird. Maßstab muss die Schwere der Menschenrechtsverletzungen sein und nicht die Einschätzung dessen, was vielleicht gerade noch durchsetzbar ist. Nur eine Klarheit in den Zielen erlaubt anschließend eine redliche Würdigung der Situation der Menschenrechtskommission. Gerade weil der Antrag von Union und FDP zur laufenden Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen solche Ziele klarer und ehrgeiziger benennt als der Antrag der Regierungskoalition, geben wir ihm den Vorrang. Nur stichwortartig nenne ich weitere Punkte, an denen der Antrag der Regierungsfraktionen hätte präzisiert werden müssen. So stellen Sie fest, dass die „UN-Normen zur menschenrechtlichen Verantwortung von transnationalen und anderen Wirtschaftsunternehmen“ einen anderen Ansatz darstellen als der auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhende „Global Compact“ des VN-Generalsekretärs. Was aber bedeutet dies angesichts Ihrer positiven Würdigung der UN-Normen für den auch von Ihnen in der Vergangenheit gelobten „Global Compact“? Dazu schweigt der Antrag. Auch im Hinblick auf die Auswirkungen des Kampfes gegen den Terrorismus - das ist ohne Zweifel ein sehr ernstes Thema - auf die Auseinandersetzungen um Menschenrechte lässt Ihr Antrag die zwingend erforderliche Differenziertheit vermissen. Notwendig ist aber eine strikte Trennung zwischen dem Ringen in demokratischen Rechtsstaaten um eine angemessene rechtsstaatliche Antwort auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und dem Versuch autoritärer oder gar totalitärer Staaten, eigene Unterdrückungsmaßnahmen als Terrorabwehr zu bemänteln. Wo eine solche Trennung fehlt, wird die Grenze zwischen freiheitlichen Demokratien und Unrechtssystemen schnell verwischt. Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiteren Antrag eingehen. Aus Sicht der Unionsfraktion ergänzt die FDP mit ihrem Antrag „Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission“ den von FDP und Union gemeinsam eingebrachten Antrag zur laufenden Tagung dieser Kommission in guter Weise. Es würde dem Ansehen der Menschenrechtskommission in der Tat dienen, wenn Staaten, die die geltenden Menschenrechtsstandards in ihrem Hoheitsbereich nicht umsetzen können oder wollen, zukünftig nicht mehr die Leitung der MRK erhalten könnten und wenn an die Wahl der Mitglieder künftig Kriterien geknüpft werden, die für eine effektive Arbeit der MRK unerlässlich sind. Insofern stimmen wir auch diesem Antrag gerne zu. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/ Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 60. Sitzung der Menschenrechtskommission findet in einer politisch schwierigen und angespannten Zeit statt. Die Erschütterung über Terroranschläge gegen unschuldige Zivilisten sitzt tief. Nach den blutigen Ereignissen in Madrid hat die spanische Bevölkerung in bewundernswerter Weise gezeigt, dass die Antwort auf diese Herausforderung Solidarität mit den Opfern, konsequente Verfolgung der Täter und die Herrschaft des Rechts sein müssen. Diese Haltung als Appeasement gegenüber terroristischer Gewalt zu denunzieren ist eine böswillige Verleumdung und Unterstellung. Im Gegenteil: Spanien setzt mit dieser Haltung ein leuchtendes Beispiel dafür, dass der Kampf zur Verteidigung einer menschenfreundlichen Zivilgesellschaft allein auf dem Boden der universalen und allgemein gültigen Menschenrechte gewonnen werden kann. Mit dem Koalitionsantrag „Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“ unterstreichen wir die Notwendigkeit, die Grundfreiheiten jedes Einzelnen und die strenge Einhaltung der Mindestanforderungen an den Schutz der Menschenrechte zu achten und zu fördern. Nur so lassen sich die Stärken der Demokratie im Kampf gegen den Terrorismus beweisen. Deshalb sollte die MRK in ihrer diesjährigen Sitzung die Umsetzung der Empfehlungen, die in der 59. Sitzung der Menschenrechtskommission angenommen worden sind, kritisch prüfen. Darin hat sie die Staaten aufgefordert, ihre menschenrechtlichen und humanitären Verpflichtungen auch im Antiterrorkampf einzuhalten. In Israel und in den Palästinensergebieten sehen wir nach der Tötung des Scheichs Jassin die Gefahr einer weiteren Eskalation der unsäglichen Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Israel hat das Recht und die Pflicht, seine Bevölkerung vor Terrorakten zu schützen. Wir erkennen das ausdrücklich an. Selbstmordanschläge von Palästinensern, die unschuldige Menschen töten, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und unterlaufen jegliche Friedensbemühungen. Doch auch Israel muss geltendes Recht achten. Die Tötung des Hamas-Führers steht außerhalb dieser Legalität. Wir kritisieren auch den Verlauf des so genannten Sicherheitszaunes, bei dem es sich in langen Abschnitten um eine bis zu zehn Meter hohe Mauer handelt. Diese Mauer ist nicht nur völkerrechtswidrig, weil sie in ihrem Verlauf von der grünen Linie bzw. von der Waffenstillstandslinie von 1967 abweicht und palästinensische Gebiete durchtrennt, sie verhindert auch den Zugang der Bauern zu ihren Feldern und schafft Enklaven, in denen die Bevölkerung von Schulen, Büros und Krankenhäusern abgeschnitten ist. Diese entwürdigende Situation ist aus humanitären und menschenrechtlichen Gründen nicht akzeptabel und legt den Grundstein für neuen Hass. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass die EU auch in diesem Jahr wieder einen Resolutionsentwurf zur Siedlungspolitik Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten einbringt. Wir stehen in dieser Woche vor der dritten von Deutschland mit ausgerichteten Afghanistan-Konferenz. In ihrem Bemühen um den Wiederaufbau dieses in einem mehr als 20-jährigen Krieg geschundenen Landes zeigt die Bundesregierung, dass sie Ernst damit macht, in der internationalen Krisenbewältigung bislang sträflich vernachlässigte Elemente zu entwickeln und nachhaltig einzusetzen: Hilfe beim Aufbau einer funktionierenden Verwaltung, Polizei und Justiz; Unterstützung beim Prozess, sich eine menschenrechtlich ausgerichtete Verfassung zu geben; Unterstützung bei der Vorbereitung von Wahlen und bei der Gewährleistung von Sicherheit; Priorität für eine flächendeckende Schulbildung und für eine Basisgesundheitsversorgung. All dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit der Regierung, der Zivilgesellschaft und in einem multilateral koordinierten Prozess. An diesem positiven Verlauf ist auch unser Ausschuss - das sage ich mit einer Portion Stolz auf unsere Arbeit - ein großes Stück beteiligt. ({0}) All diese Elemente hatten sich nach der militärisch erzwungenen Verhinderung eines bevorstehenden Völkermords im Kosovo als grundlegend für die Förderung einer friedlichen Entwicklung herausgestellt. Die jüngste Gewalteruption im Kosovo widerlegt nicht die Richtigkeit dieses Ansatzes. Sie macht aber eine selbstkritische Überprüfung des internationalen Engagements dringend erforderlich. Anstatt voreilig und zu schnell absolut erforderliche Unterstützung herunterzufahren, brauchen wir mehr Kohärenz, Ausdauer und Verantwortungsbereitschaft durch die EU. ({1}) Dazu gehört aber auch, dass wir unser innenpolitisches Handeln nach diesen Grundsätzen ausrichten. Unsere innenpolitischen Entscheidungen können gravierende Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in anderen Ländern haben: stabilisierend manchmal, aber oft auch konfliktverstärkend. Die Rückführung von Minderheiten in ein Krisengebiet wie das Kosovo kann die Lunte sein, die das Pulverfass zur Explosion bringt. Wir begrüßen deshalb, dass momentan alle Rückführungsmaßnahmen in diese Region ausgesetzt sind. ({2}) Die neuerliche Eskalation von Gewalt im Kosovo zeigt, dass an eine gefahrlose Rückführung von Minderheitsangehörigen ins Kosovo noch lange nicht zu denken ist. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen an Ihre Redezeit denken.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor diesem Hintergrund ist die Praxis bloßer Kettenduldungen für Flüchtlinge in der Bundesrepublik menschenunwürdig. Deshalb appelliere ich, dass nach Jahren der Duldung für Minderheitsangehörige aus dem Kosovo diesen Menschen mit der Gewährung eines rechtmäßigen Aufenthaltsstatus endlich eine konkrete Zukunftsperspektive ermöglicht wird. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die 60. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen findet unter denkbar schwierigen Bedingungen statt. Das zeigt die gestrige Debatte über Israel. Das zeigen auch die Auseinandersetzungen zwischen China und den USA über eine Chinaresolution. Die MRK-Sitzung droht zu scheitern. Das wäre für die Zukunft dieses zentralen Instruments des weltweiten Schutzes der Menschenrechte dramatisch. Schon die letzten beiden Sitzungen der MRK waren nach Ansicht der Nichtregierungsorganisationen, aber auch in den Augen der Weltöffentlichkeit ein Desaster; das muss man so klar ausdrücken, wie ich es eben getan habe. Die MRK droht immer mehr von polarisierten tagespolitischen Auseinandersetzungen dominiert zu werden und dabei zu einem Basar zu verkommen. Wir haben das in der letzten Sitzung in Genf erlebt. Dabei wird die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen in der Menschenrechtspolitik insgesamt aufs Spiel gesetzt. Die MRK muss deshalb grundlegend reformiert werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu einen Antrag mit konkreten Vorschlägen erarbeitet. Die Menschenrechtslage in vielen Ländern dieser Welt gibt Anlass zu großer Sorge. Amnesty International nennt in diesem Zusammenhang über 150 Staaten. Ich will hier nur vier Fälle herausgreifen. Gemeinsam mit den Kollegen der Union bringen wir einen ausführlichen Antrag ein, in dem auf viele weitere Fälle konkret eingegangen wird. In China werden die Menschenrechte zwar gerade in die Verfassung aufgenommen. Aber in Tibet - bei der Verfolgung von Religionsgruppen und beim Umgang mit Dissidenten - bleibt die konkrete Situation der Menschenrechte verheerend. Zudem sollen jetzt für die Vollstreckung der zahlreichen Todesurteile mobile Tötungsmaschinen eingeführt werden. All das muss bei der MRK auf den Tisch. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, den amerikanischen Entwurf einer Chinaresolution trotz aller Proteste aus Peking gemeinsam mit den EU-Partnern zu unterstützen. ({0}) In Russland kann Präsident Putin inzwischen nahezu uneingeschränkt schalten und walten. Angesicht der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, aber auch der Situation in den russischen Gefängnissen oder der Beschränkung der Pressefreiheit ist das besorgniserregend und muss ebenfalls in Genf angesprochen werden. ({1}) Im Iran waren die Parlamentswahlen alles andere als frei und fair. Die Menschenrechtslage bleibt prekär, obwohl der Iran alle einschlägigen Menschenrechtspakte unterzeichnet hat. Die Arbeit der mutigen Menschenrechtsverteidiger in diesem Land mit der Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi an der Spitze braucht dringend internationale Unterstützung und Anerkennung. Auch dazu ist Genf der richtige Ort. ({2}) Der engagierte Einsatz vieler westlicher Länder für die Menschenrechte ist nur dann wirklich glaubwürdig, wenn wir uns offen mit Problemen im eigenen Bereich auseinander setzen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb schon im Dezember einen Antrag zur Situation der Gefangenen der USA in Guantanamo Bay eingebracht, der heute zur Abstimmung steht. Die anderen Fraktionen haben zunächst einen interfraktionellen Antrag in Aussicht gestellt. Wir waren zu einer Zusammenarbeit bereit. Aber jetzt ist die Union überhaupt nicht mehr willens, Guantanamo im Bundestag kritisch anzusprechen, und Rot-Grün stellt einen eigenen Alternativantrag zur Abstimmung. Er stimmt zwar in der Beurteilung - besser gesagt: in der Verurteilung - der Situation mit unserem Antrag überein - über die Analyse sind wir weitgehend einer Meinung -, aber die FDP fordert, das Thema sowohl bei der MRK als auch in der UN-Generalversammlung anzusprechen. Das ist den Kollegen von Rot-Grün, deren Antrag mit unserem sonst weitgehend deckungsgleich ist, als Forderung wohl zu konkret. Ich finde das wirklich schade. Die Regierungskoalition tut der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen, aber auch der westlichen Menschenrechtspolitik insgesamt keinen Gefallen, wenn sie unseren Antrag zu Guantanamo heute ablehnt. ({3}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Nachrichten möchte ich am Beginn meiner Rede zitieren. Die erste ist: Vor wenigen Tagen gab es in Afghanistan einen schlimmen Anschlag auf den Luftfahrtminister Mirwais Sadik, den Sohn des Provinzherrschers von Herat, Ismail Khan. Das Attentat soll angeblich dem Vater gegolten haben. Mit dem Luftfahrtminister starben bei den Kämpfen etwa 100 Menschen. Der Anschlag macht deutlich, dass die Sicherheitslage in diesem Land auch im dritten Jahr nach der Befreiung von den Taliban noch viel zu wünschen übrig lässt. Die zweite Meldung ist eine positive: Am Montag dieser Woche hat für circa 5,6 Millionen afghanische Kinder - das ist etwa die Hälfte aller afghanischen Kinder im schulpflichtigen Alter - das neue Schuljahr begonnen. Über 1 Million dieser Schulkinder sind Mädchen. Das ist noch nicht zufriedenstellend, aber es ist ein guter Anfang. ({0}) Der afghanische Bildungsminister, Yunus Qanuni, betonte, die Schülerzahl sei einzigartig in der Geschichte Afghanistans. Es seien im vergangenen Jahr mithilfe der Geber 1 217 neue Schulen entstanden. Vor dem Hintergrund beider Meldungen sollten wir den vorliegenden ausführlichen Antrag zur Menschenrechtslage in Afghanistan betrachten. Er stellt auch dar, wie kontinuierlich die Menschenrechtsarbeit der Regierungskoalition ist. Der Beitrag Deutschlands zur Sicherheitslage in Afghanistan hat uns hier schon oft beschäftigt. Sowohl die Soldaten von ISAF als auch die Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die männliche und - ganz wichtig - auch weibliche Polizisten ausbilden, verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung. ({1}) Eine halbwegs stabile Sicherheitslage ist die Grundvoraussetzung dafür, dass diese 1 Million Mädchen, von der ich eben gesprochen habe, in die Schule gehen und dass Frauen am politischen und ökonomischen Leben teilnehmen können. Der nächste Lackmustest für den Willen und die Kraft der afghanischen Regierung ist die Wahl in diesem Jahr. In diesem Zusammenhang müssen wir immer wieder unsere Erwartungen klarmachen, dass Frauen als Wählerinnen und als Kandidatinnen an der Zukunft ihres Landes mitarbeiten. ({2}) Bisher haben sich leider nur 1,5 Millionen Wahlberechtigte - nur 28 Prozent davon sind Frauen - registrieren lassen. Das ist viel zu wenig. ({3}) Sicherheit ist auch eine unabdingbare Voraussetzung für die Rückkehr von Flüchtlingen. Denn die Erfahrung zeigt - das ist vorhin schon angesprochen worden -: Wer Flüchtlinge in ein unsicheres Land zurückführt, destabilisiert es weiter. Der Kampf gegen ungerechte Verurteilungen insbesondere von Frauen und gegen die Straflosigkeit muss zusammen mit der afghanischen Regierung aufgenommen werden. Immer noch unaufgeklärt ist das Massaker von Sherbagan vom November/Dezember 2001. Gerade weil der stellvertretende Verteidigungsminister und General der Nordallianz Dostum darin verwickelt zu sein scheint, muss die afghanische Seite die Aufklärung der Vorfälle in ihrem ureigensten Interesse nachdrücklich verfolgen. ({4}) Ich bedauere allerdings, dass das Medieninteresse an diesem Vorgang leider in der Zwischenzeit offensichtlich erlahmt ist. Überhaupt scheint vor dem Hintergrund der anderen Konflikte - zum Beispiel im Nahen Osten und im Irak - das öffentliche Interesse an Afghanistan etwas einzuschlafen. Ich bedauere das; denn Afghanistan und seine Bürger - insbesondere die Afghaninnen, die unter dem Terrorregime der Taliban besonders gelitten haben dürfen von der Welt nicht wieder vergessen werden. ({5}) Deshalb begrüße ich es sehr, dass die Bundesrepublik Deutschland am 31. März und 1. April - das ist nächste Woche - in Berlin die dritte Afghanistan-Konferenz ausrichtet, wo über die weitere Hilfe für das vom Krieg zerstörte Land beraten wird. Im direkten Zusammenhang mit dem begrüßenswerten Sturz des Taliban-Regimes und seiner extremistischen Kämpfer steht die Kehrseite dieses Krieges: Guantanamo Bay. Die Bilder von menschenunwürdig in Käfigen gehaltenen Gefangenen haben sich in meinem Kopf eingebrannt. Ich bin fassungslos, weil ich nicht begreifen kann und will, wie sich die älteste Demokratie der Welt - ein modernes westliches Land - so von den menschenrechtlichen Prinzipien verabschieden kann. ({6}) Ich weiß mich in meiner Empörung mit vielen Menschen in den USA einig. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berichtet von grauenhaften Haftbedingungen. Es hat 32 Selbstmordversuche in dem Lager gegeben. Die Identität der Inhaftierten steht nicht fest oder wird nicht bekannt gegeben. Keiner hat die Möglichkeit, mit einem Anwalt oder Angehörigen zu sprechen. Das Völkerrecht wird dort mit Füßen getreten. In seiner Ausgabe vom 11. März 2004 berichtet der „Spiegel“ über die Freilassung von fünf Briten, die wie rund 660 andere Männer - darunter angeblich zwölf Minderjährige - seit mehr als zwei Jahren in dem Lager Angelika Graf ({7}) auf Kuba festgehalten wurden. Drei der Minderjährigen sind angeblich nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Sie waren zwischen 13 und 15 Jahre alt, als sie gefangen genommen wurden. Die Briten sind inzwischen in England auf freiem Fuß. Gegen sie liege nichts vor, meldet der „Spiegel“. Man fragt sich im Einklang mit den Beschlüssen aus der 59. Sitzung der MRK, zu welchen Reaktionen uns der Terror im angeblich so freien und aufgeklärten Westen bringt, was wir von den für unsere Demokratien so wichtigen bürgerlichen Freiheiten und Errungenschaften aufgeben und ob wir nicht genau so reagieren, wie es die Drahtzieher des Ganzen wollen. Machen wir uns im Hinblick auf Guantanamo Bay und die Diskussion über die Anwendung der Folter - sei sie auch noch so sehr durch übergeordnete Interessen begründet - nicht nolens volens gemein mit Verbrechern, Terroristen und Staaten, die wir in der MRK wiederum anklagen? ({8}) Ich jedenfalls bedauere es zutiefst, dass es nicht gelungen ist, zu diesem Thema einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. ({9}) - Bis Dienstagmittag dieser Woche hat es noch gut ausgesehen, Herr Funke. Erst kurzfristig wurde dann beschlossen, dass es doch nicht geht. Insbesondere vor dem Hintergrund der Debatte über Guantanamo im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe am 11. Februar kann ich die ablehnende Haltung gegenüber einem gemeinsamen Antrag - das sage ich speziell an Sie gewandt, Herr Funke - nicht verstehen. ({10}) Der einzige Unterschied lag in der realistischen Einschätzung dessen, welche Initiativen auf EU-Ebene möglich sind. ({11}) Da haben wir einen Konflikt. Wir meinen, dass es besser ist, die Realität anzuerkennen, dass es wohl nicht gelingen wird, eine EU-Initiative auf den Weg zu bringen. Ich begrüße umso mehr, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Roth, dieses Thema am Rande der MRK in Genf bei einem Treffen mit der amerikanischen Delegation - Herr Funke, als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wissen das auch Sie - ansprechen wird. Ich denke, das macht deutlich, dass sich zumindest die Koalition vor diesem heißen Eisen nicht scheut. Herzlichen Dank für Ihr Zuhören. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Graf und Herr Kollege Funke, wir liegen in der nüchternen Bewertung Guantanamos, in der Zielsetzung und gerade in der Klärung der völkerrechtlichen Fragen nicht weit auseinander. Zwischen uns besteht auch kein Dissens darüber, dass sich Freiheit nur dann verteidigen lässt, wenn man die Freiheit selbst nicht durch Maßnahmen der Freiheitsverhinderung gefährdet, und dass das Recht unstreitig zwar die Fähigkeit zur Durchsetzung braucht, dass aber Macht ohne Bindung an das Recht verhängnisvolle Wirkungen entfalten könnte und kann. Das gilt auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Demokratien. Wir sprechen dies auch gegenüber unseren amerikanischen Freunden an. Das gewünschte Erreichen von Zielsetzungen muss sich zuweilen allerdings auch am jeweiligen Tonfall messen lassen, gerade wenn man entsprechend zementierte Abwehrhaltungen aufgrund gewisser Tonlagen bereits erfahren musste. In diesem Punkt unterscheiden wir uns. ({0}) Eine Menschenrechtsdebatte darf auch dazu dienen, die generelle Einbettung von Menschenrechten in gelegentlich exklusiv erscheinende Politikfelder zu beleuchten. So setzt sich etwa die Außen- und Sicherheitspolitik selbst gern den Anspruch, die stete Verknüpfung mit Menschenrechten zu suchen. Gefunden wird sie leider allzu selten. Das gilt allerdings auch vice versa. Beides dient dem jeweils anderen gelegentlich dankbar als Vehikel. Die Tragfähigkeit ist allerdings auf eher geringe Lasten beschränkt. Gerade der Kontext mit den neuen Bedrohungsszenarien lässt diese Beobachtung evident erscheinen. Menschenrechten wird zwar grundsätzlich und inbrünstig eine überragende Bedeutung zugemessen - richtigerweise -; sie bilden jedoch gerade im Hinblick auf die Asymmetrie der Bedrohungslagen oftmals ein allzu isoliert betrachtetes Kernelement, obwohl sie angesichts der höchst aktuellen Sicherheitsdebatte, die wir gerade in diesen Tagen führen, ein integraler und tragender Bestandteil eines strategischen Gerüstes sein müssten und sein sollten. Die großen Sicherheitsstrategien deuten dies an. Sie lassen jedoch das unverzichtbare Zusammenwirken unterschiedlicher Leitansätze nur erahnen. Menschenrechte definieren sich - das ist eine banale Feststellung - über das Individuum. Darüber definiert sich in besonderem Maße die Demokratie. Aus demokratischen Prozessen erwachsen in der Regel verbesserte Sicherheitsstandards, solche, die auch den asymmetrischen Bedrohungen möglicherweise zu begegnen wissen. Die Glaubwürdigkeit einer Demokratie erwächst letztlich aus diesem Rückbezug auf das Individuum und auf Menschenrechte. Wenn man also Demokratie als höchste Errungenschaft, möglicherweise als Exportprodukt zu bezeichnen neigt, verpflichtet das umso mehr zum behutsamen Umgang mit diesen Ausgangswerten. In diesem Kontext wage ich Guantanamo zu nennen. Das Defizit an trennscharfen Begrifflichkeiten wächst. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht der Versuchung verfallen, der eben genannten Asymmetrie der Bedrohungen gewissermaßen spiegelbildlich durch vage Phrasen zu begegnen, Phrasen, die dann überaus konkreten Maßnahmen zur Legitimation dienen müssen. Der „Kampf gegen den Terror“ als Begriffspaar, so notwendig, so wichtig und so richtig er ist, ist in dieser Hinsicht ein Beispiel unter vielen. Flexibilität? Ja. Auch sie ist notwendig. Aber es darf im Hinblick auf die Vereinten Nationen, wie Sie es genannt haben, keine unbestimmten Freifahrtscheine geben. Dieser Umstand wird zwar vielfach beklagt. Aber die Konsequenz daraus muss - auch für die Bundesregierung - sein, diese Beobachtung in den dringend erforderlichen Abgleich der jeweiligen Sicherheitsstrategien münden zu lassen und eine klare Benennung nationaler Interessen, insbesondere unserer, daran anschließen zu lassen. Es gilt, die Schwäche der Vereinten Nationen in dieser Hinsicht zu überwinden, aber auch - ebenfalls im Hinblick auf die Bundesregierung - für Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Politikfeldern, insbesondere zwischen den unterschiedlichen Ressorts, zu sorgen. Kunduz ist gerade ein Beispiel, wie es nicht laufen sollte. Es bleibt zu hoffen, dass wir nicht erst die 120. Tagung der Menschenrechtskommission abwarten müssen, um all diese Dinge auf den Weg zu bringen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Claudia Roth. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf von Licht und Schatten geprägt. Schatten werfen vor allem die verbrecherischen Anschläge von Madrid auf die Kommissionssitzung. Sie stellen uns erneut vor die zentrale und große Herausforderung, Terrorismus, der auf die Grundwerte unserer freien und offenen Gesellschaft zielt, entschlossen zu bekämpfen, aber - auch das ist Thema auf der 60. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf auf der Basis rechtsstaatlicher Mittel, der Menschenrechte und der Bürgerrechte. Der Zweck heiligt hier eindeutig nicht die Mittel. In diesem Zusammenhang sehe ich auch den Umgang mit Verdächtigen, insbesondere mit den Gefangenen in Guantanamo. Seien Sie sicher, dass dieses Thema schon angesprochen worden ist! ({0}) Freiheit und Sicherheit müssen immer - das ist auch ein zentraler Punkt unserer innenpolitischen Debatte die Balance halten. Wenn wir Sicherheit ohne Freiheit wollen, dann werden wir beides verlieren. Die Terroristen hätten dann ihr Ziel erreicht. Genau über dieses Thema wird im Rahmen einer von Mexiko eingebrachten Resolution in Genf debattiert. Die Menschenrechtskommission hat aber auch die Aufgabe, unmissverständlich klar zu machen, dass der Antiterrorkampf nicht als Vorwand, nicht als Alibi in innenpolitischen Auseinandersetzungen dienen darf. Nach dem 11. September 2001 ist immer wieder behauptet worden, es gehe in Tschetschenien, in Teilen Chinas und auch in Kolumbien um den Antiterrorkampf. Aber das ist nur ein Vorwand. Auch damit wird sich die Menschenrechtskommission befassen. Einen weiteren langen Schatten gerade in den letzten Tagen wirft die gezielte, außergerichtliche Tötung von Scheich Jassin. Das sorgt nicht nur in der Menschenrechtskommission für eine große Eskalationsgefahr. Die Europäische Union hat mit ausdrücklicher Unterstützung der Bundesregierung die Tötung als inakzeptabel und unvereinbar mit dem Völkerrecht scharf kritisiert. ({1}) Gleichzeitig - das ist wichtig und knüpft an das an, worauf Frau Nickels hingewiesen hat - hat die EU aber jede Form von Terrorismus und Gewalt verurteilt, hat Gewaltverzicht von allen Seiten eingefordert und hat darauf bestanden, dass es im Nahen Osten nur eine politische Lösung geben kann. Ich möchte noch auf einen anderen Schatten hinweisen, den Herr Funke schon zu Recht beschrieben hat und der auch auf der 60. Tagung der Menschenrechtskommission von Anfang an Realität ist, nämlich auf den Versuch einer scharfen Polarisierung, auf die große Gefahr der regionalen Blockbildung sowie auf das wirklich aggressive und beleidigende Auftreten von besonders „glaubwürdigen“ Menschenrechtsverteidigern wie den Vertretern Kubas und Simbabwes sowie die außerordentlich scharfen Worte und Repliken Chinas. Es gibt aber auch Licht und Hoffnung bei der Sitzung der Menschenrechtskommission dieses Jahres. Das hat ganz zweifellos eine sehr breit getragene Initiative von Ministerinnen und hohen Repräsentantinnen hervorgebracht. Über 20 Ministerinnen und Delegationsleiterinnen haben eine umfassende gemeinsame Erklärung betreffend Gewalt gegen Frauen verabschiedet, in der jede Form von Gewalt und jede Form von Diskriminierung gegenüber Frauen kritisiert werden, in der explizit Frauenhandel angesprochen wird und in der deutlich gemacht wird, dass es für Gewalt gegen Frauen, für Menschenrechtsverletzungen an Frauen keine Begründung gibt, auch nicht durch Religion, Kultur oder Tradition. ({2}) Es war für mich ein wirklich hoffnungsvoller Vormittag, als Ministerinnen aus allen Teilen dieser Welt zu diesem Thema gesprochen haben: aus Ruanda, aus Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt Südafrika, aus dem Jemen, von den Philippinen, aus vielen europäischen Ländern. Es war auch ein gutes Signal, dass unser bekanntermaßen männlicher Außenminister auf die Bedeutung der Frauenrechte nicht zuletzt im Nation-Building-Prozess, zum Beispiel in Afghanistan, hingewiesen hat.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt: Ja. - Frau Präsidentin, lassen Sie mich aber bitte doch noch ein paar Punkte ansprechen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, ich lasse Sie keine Punkte mehr ansprechen. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt: Dann werde ich Ihnen alles das schriftlich nachreichen, was hier anzusprechen ist: die Bedeutung der Länderresolutionen, selbstverständlich die Unterstützung der China-Resolution durch die Bundesrepublik und die EU, ({0}) selbstverständlich die Unterstützung Tschetscheniens - die EU wird die Tschetschenien-Resolution einbringen -, selbstverständlich die Unterstützung der Simbabwe- und der Sudan-Resolution und anderes. Licht wird hoffentlich noch ein Besuch bringen, nämlich der Besuch des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Ich finde es außerordentlich wichtig, dass wir auch als Parlament deutlich machen: Wir ziehen an einem Strang, wenn es um die Menschenrechte geht. - Ich würde mir wünschen, weil mir das die Arbeit international leichter machen würde, dass wir mit den Hausaufgaben zu Hause anfangen und dass wir zum Beispiel ({1}) endlich das Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention unterzeichnen und dass wir die Vorbehalte zur Kinderkonvention zurücknehmen. ({2}) Das ist ein Appell an die Länder. Herr Kauder, bitte geben Sie das an Ihre Kollegen und Kolleginnen weiter! ({3}) Das würde die Glaubwürdigkeit sehr erhöhen. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube nicht, dass die Rücknahme der Vorbehalte der Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonvention wirklich eine parteipolitische Angelegenheit ist. Nur so viel dazu. ({0}) Wie in der heutigen Debatte bereits deutlich geworden ist, stehen die Krise der Institution Menschenrechtskommission und die Krise im Menschenrechtsbereich allgemein in einem direkten Zusammenhang. Beide bedingen einander und sind Ursache und Wirkung zugleich. Deutschland hat als Koordinator der Gruppe der westlichen Länder bei der MRK eine besondere Verantwortung. Die MRK-Anträge, die heute vorliegen, weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Das ist positiv und zeigt auch, dass zumindest unter den Menschenrechtspolitikern eine große Einigkeit über die Zielsetzung deutscher Menschenrechtspolitik herrscht. Es wäre allerdings hilfreich, wenn die Bundesregierung deutlichen Äußerungen des Bundestags auch immer ebenso deutliche Äußerungen auf internationaler Ebene folgen lassen würde. Einigkeit herrscht zum Beispiel beim Thema Afghanistan. Die Situation in Afghanistan - Frau Kollegin Graf hat es schon angesprochen - ist trotz großer Fortschritte bei der Erstellung einer Verfassung nach wie vor alles andere als gesichert. Das betrifft im Besonderem die Rechte der Frauen. Es wird wirklich ein Lackmustest für die neue Verfassung und ihre Umsetzung sein, ob die darin verankerte Gleichheit von Mann und Frau Wahrheit wird. ({1}) Stabilität in Afghanistan ist eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der gesamten Nahostregion; denn die Liste der Krisenherde, in denen Menschenrechte eingeschränkt und nicht beachtet werden, scheint sich mehr und mehr zu verlängern. Ich nenne die blutige Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern, die immer noch unsichere Situation im Irak und den sich verschärfenden Konflikt in der iranischen Gesellschaft. Gerade im Iran ist Deutschland als ein wichtiger Handels- und Gesprächspartner gefordert. Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede vor der MRK darauf hingewiesen, die kürzlich im Iran durchgeführten Wahlen seien - wörtlich - „nicht fair und frei“ gewesen. Der vom Deutschen Bundestag einstimmig hierzu verabschiedete Antrag war um einiges deutlicher. Auch vom Außenminister hätte ich mir an dieser Stelle etwas mehr Deutlichkeit gewünscht. Das gilt auch für den Bereich des Fernen Ostens. Hier sind neben Defiziten im Strafrecht und in der Justiz im Besonderen die Fragen von Glaubens- und Meinungsfreiheit, ob in Presse, Funk, Fernsehen oder den neuen Medien, Dauerthemen der Menschenrechtsagenda. China, Vietnam, Nordkorea, aber auch kleinere Länder wie Burma geben Beispiele dafür, wie mit politisch Andersdenkenden und religiös Andersgläubigen umgegangen wird. Für meine Fraktion will ich hier noch einmal festhalten, dass gerade die Durchsetzung der Religionsfreiheit als fundamentales Menschenrecht einen herausragenden Schwerpunkt unserer Arbeit darstellt. ({2}) CDU/CSU und FDP setzen in ihrem Antrag noch einen weiteren geographischen Schwerpunkt, nämlich Afrika, und hier im Speziellen das so genannte Subsaharagebiet. Die Liste der Länder, in denen nicht nur elementare Rechte verweigert werden, sondern auch Hunger, Not und Bürgerkrieg herrschen, ist mehr als lang. Uganda, Sudan - hierzu liegt ein eigener Antrag vor, der in Zusammenarbeit mit Kirchen und vor Ort tätigen NGOs erarbeitet worden ist -, Kongo, Simbabwe und viele andere Länder leiden an zerfallenden Staatsstrukturen, Failing States, und bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder wirklichen Bürgerkriegen, bei denen die Gefahr, dass es zu Übergriffen gegen einzelne Bevölkerungsgruppen bis hin zu tatsächlichen Genoziden kommen kann, sehr groß ist. Die Frage, wie die Weltgemeinschaft mit den Failing States umgeht, ist nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht von entscheidender Bedeutung. Rechtsleere Räume und zerfallende Strukturen bieten Nährböden für Gewalt, Hass und Terror. Wir sehen es als eine der herausragenden Aufgaben der kommenden Jahre an, Strategien dafür zu entwickeln, wie Menschenrechte auch in den Failing States erhalten bzw. erstmals hergestellt werden können. Deutschland und die Europäische Union haben hierbei eine besondere Verantwortung. ({3}) Besondere Verantwortung muss die Europäische Union aber auch noch auf einem anderen Gebiet wahrnehmen: bei den Ländern - das steht jetzt nicht direkt auf der Tagesordnung, ich möchte es nur bei dieser Gelegenheit einmal ansprechen -, die durch das Mittelmeerabkommen mit Europa assoziiert sind, und bei allen tatsächlichen und potenziellen Beitrittskandidaten. Die Situation in den Maghreb-Staaten, die in sehr engen Beziehungen zur Europäischen Union stehen, ist durch die schrecklichen Ereignisse im mittleren und südlichen Afrika aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dies sollte allerdings für uns umso mehr Grund sein, auf die Menschenrechtsverletzungen in den Bereichen Religions-, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie bei Frauen hinzuweisen. Deutschland und die Europäische Union haben hierfür die Mittel und damit auch hier eine besondere Verantwortung. ({4}) Diese Verantwortung erstreckt sich, wie bereits erwähnt, im besonderen Maße auch auf die EU-Beitrittskandidaten und solche, die es gerne werden wollen. Hier gibt es durchaus deutliche Alarmzeichen: So hat das Europäische Parlament kürzlich besonders Rumänien wegen der mangelnden Umsetzung menschenrechtlicher Standards gerügt; im außenpolitischen Ausschuss sind sogar Forderungen nach Aussetzung der Beitrittsverhandlungen laut geworden. Umso unverständlicher ist es dann für mich, dass in Europa - auch noch mit der Stimme Deutschlands - beschlossen werden kann, auf ein Menschenrechtsmonitoring in Bezug auf die Türkei zu verzichten. ({5}) Wohlgemerkt: Die Fortschritte, die die Türkei bereits bei der Implementierung von Menschenrechtsstandards gemacht hat, sind beträchtlich. Das ist unbestritten. Jetzt jedoch den Druck zu lockern ist das falsche Zeichen zur falschen Zeit. ({6}) Dafür klaffen Verfassungsnorm und gesellschaftliche Realität zu weit auseinander. Alles in allem ist es angebracht, die Frage, was Deutschland bei der MRK tun kann oder was nicht, weiterhin auf der Tagesordnung zu haben. Deshalb beantragen CDU/CSU und FDP auch einen Bericht über die Tätigkeit der Bundesregierung bei der MRK, in dem zeitnah dargestellt werden soll, inwieweit Beschlüsse des Bundestages tatsächlich umgesetzt worden sind. Der Antrag von CDU/CSU und FDP erhebt diese Forderung an prominenter Stelle, um zu verdeutlichen, dass die Frage der Menschenrechte dauerhaft auf der Agenda des Bundestages stehen muss. Auch dies ist, neben vielen anderen Gründen, ein wirklich guter Grund, diesem Antrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll ge- geben.1) ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungs- punkt 7 a. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 15/2755 mit dem Titel „60. Tagung der Menschen- rechtskommission der Vereinten Nationen - eine Chance für die Menschenrechte“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 7 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 15/2741 mit dem Titel „Stärkung der Menschenrechte in der internationalen Politik - zur 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/ CSU und der FDP abgelehnt. Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur „Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan“, Drucksache 15/2740. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2168 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 7 d. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/2509 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2174 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/ CSU und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 7 e. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/2715 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Den Friedensprozess im Sudan unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2152 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 7 f. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/2768 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2175 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. Zusatzpunkt 4. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen auf Drucksache 15/2756 mit dem Titel „Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Klarstellung der Auswirkungen der EU-Osterweiterung - Drucksache 15/2438 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen - 36 sind es - werden zehn neue Mitgliedstaaten der Europäischen Union beitreten. Damit vollzieht die Gemeinschaft die in Umfang und Vielfalt größte Erweiterung in ihrer Geschichte. ({0}) Die EU-Osterweiterung ist ein historischer Schritt von erheblicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung. Als Abgeordneter aus einer Grenzregion, die nur ein paar Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt ist, sage ich: Schon die letzten 14 Jahre seit Öffnung der Grenze haben unserem Lande und auch den Grenzregionen insgesamt gut getan. Die EU-Osterweiterung wird nach meiner Überzeugung ein großer Erfolg werden. ({1}) Eines muss uns aber bewusst sein: Die EU-Osterweiterung birgt Chancen und Herausforderungen zugleich. Wir müssen einfach feststellen, dass es noch erhebliche Unterschiede gibt, die wir zu bewältigen haben. Einer der zentralen Punkte, bei denen man der Bundesregierung Versäumnisse in den letzten Jahren vorwerfen kann, ist die Informationspolitik bezüglich der EUOsterweiterung. ({2}) Es sind noch viele Fragen offen. Die Menschen sind verunsichert; denn es wird ihnen keine Antwort gegeben. Ich möchte deswegen bei dieser Gelegenheit denen danken, die sich um die Beantwortung dieser Fragen in den letzten Jahren bemüht haben. Ich denke an unsere Kommunalpolitiker, an unsere Verbände und an die Kammern. Hier ist bereits viel geschehen. Die wenigsten Initiativen sind allerdings von dieser Bundesregierung ausgegangen. ({3}) Wir müssen daher feststellen, dass wir sehr unvorbereitet in diese Erweiterung gehen. Die CDU/CSU-Fraktion hat deswegen diese Große Anfrage eingereicht. Wir haben Fragen zusammengefasst, die die Menschen an uns herangetragen haben und die sie bewegen. Ich bedauere sehr, dass eine zeitnahe Beantwortung dieser Fragen durch die Bundesregierung nicht möglich gewesen ist. ({4}) Wir hätten gerade die kommenden Wochen nutzen können, Informationen an die Bevölkerung weiterzugeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir viel zur Aufklärung hätten beitragen können. Ich bedauere auch, feststellen zu müssen, dass die Akzeptanz der EU-Osterweiterung immer mehr sinkt. Eine Befragung, die im Oktober 2003 durchgeführt wurde, hat ergeben, dass die Zustimmung zur Erweiterung in Deutschland nur noch 46 Prozent beträgt. Am Anfang des Jahres 2003 waren es noch 59 Prozent. Innerhalb von wenigen Monaten ist die Akzeptanz der EUOsterweiterung um fast 20 Prozent gesunken. Deswegen müssen wir einige Akzente setzen. In vier Bereichen gibt es Handlungsbedarf. Ich nenne den Ausbau der Infrastruktur, die Aufrechterhaltung der Sicherheit - auch dieses Thema bewegt die Menschen -, die Arbeitsmarkt- und die Wirtschaftspolitik sowie die Strukturpolitik und die Strukturförderung. Heute Nachmittag gab es im Deutschen Bundestag eine ausführliche Diskussion über die Verkehrspolitik. Der Herr Verkehrsminister wollte uns weismachen, dass die Bundesregierung alles für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur getan hat. Fehlanzeige! ({5}) Die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ist gescheitert. Bis 1998 sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ kraftvoll und äußerst erfolgreich vorangetrieben worden. Deswegen zählt Ihr Argument überhaupt nicht. Man weiß seit Jahren, dass die EU-Osterweiterung kommen wird. Aber man hat im Bereich der Verkehrspolitik nur wenig dafür getan. ({6}) Wir werden im Rahmen der Debatte über den Bundesverkehrswegeplan die Defizite der Bundesregierung aufzeigen und einen entsprechenden Antrag stellen. Ich möchte auch die Bahn ansprechen. Bei der Bahn ist im Rahmen der EU-Osterweiterung überhaupt nichts passiert. Wir müssen feststellen, dass der Verkehr an der Grenze zu Tschechien von der Schiene auf die Straße verlagert wird, weil die Zusammenarbeit überhaupt nicht funktioniert. Ich bitte darum, auch das Thema Sicherheit in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen. Dies möchte ich jetzt nicht näher ausführen. Ich darf aber eines sagen: Ein Problem, das wir zurzeit im Rahmen der EU-Osterweiterung haben, ist die verheerende Arbeits- und Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung. ({7}) Wegen der schlechten Wirtschaftsdaten haben sich die Sorgen und Ängste im Hinblick auf die EU-Osterweiterung gewaltig verstärkt. Wenn wir eine andere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ({8}) hätten, würden wir die Akzeptanz der EU-Osterweiterung gewaltig nach vorne bringen. ({9}) In diesem europäischen Einigungsprozess wird natürlich die Strukturpolitik eine ganz entscheidende Rolle spielen. Ich möchte dazu feststellen: Was die zukünftige europäische Strukturpolitik anbelangt, ist die Bundesregierung nicht vorbereitet. Die Bundesregierung hat zum Beispiel zum Kohäsionsbericht, der seit drei, vier Wochen vorliegt, keine Meinung. Sie sagt nicht, welche Konsequenzen man daraus zieht. Die Strukturpolitik wird im Rahmen der EU-Osterweiterung eine ganz entscheidende Rolle spielen. Was hat man gemacht? Man wollte im vergangenen Haushaltsjahr die Mittel für die GA „West“ streichen bzw. ganz ad acta legen. Das kann nicht hingenommen werden. Wir müssen also gerade im Bereich der Strukturpolitik, die in den nächsten Jahren im Rahmen der EU-Osterweiterung eine entscheidende Rolle spielt, Fehlanzeige feststellen. Lassen Sie mich meine Aussagen zusammenfassen. Folgende Punkte sind entscheidend - die müssen wir angehen, um die Akzeptanz der EU-Osterweiterung zu verstärken -: erstens Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur einschließlich Bahnvernetzung, zweitens Förderung des Zusammenwachsens der Arbeits- und Wirtschaftsmärkte - es kommt nichts von allein; wir müssen den Prozess gestalten und dürfen uns nicht einfach von den Dingen abwenden -, ({10}) drittens konsequente Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und schließlich Unterstützung der Grenzregionen. Das Thema EU-Osterweiterung ist nicht mit dem 1. Mai dieses Jahres abgeschlossen. Deutschland braucht eine umfassende Informations- und Aktionskampagne. Von der rot-grünen Bundesregierung gehen dazu zurzeit zu wenig Impulse und Initiativen aus. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Staatsminister Hans Martin Bury.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute Abend auf der Grundlage einer Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion über die Erweiterung der Europäischen Union. Ich muss Ihnen sagen, dass ich nicht im Wortsinne von einer „großen“ Anfrage sprechen würde. Denn das, was Sie hier vorgelegt haben, folgt einmal mehr dem bekannten Muster Ihrer Oppositionsarbeit nach dem Motto: Ja, aber. Dann folgt eine nicht enden wollende Liste von Einwänden, Bedenken, Mahnungen. Lassen Sie mich deshalb zu Beginn dieser Debatte unmissverständlich sagen: Ja, Deutschland freut sich auf die Einigung Europas. ({0}) Wir heißen die neuen Mitgliedstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger in der erweiterten Europäischen Union herzlich willkommen. ({1}) Wir spüren, was Willy Brandt mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung in die Worte fasste: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Wir haben die einmalige, wirklich historische Chance, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Zusammenhalts zu bauen. Deutschland mit seiner Position im Herzen Europas kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Kein Land wird aller Voraussicht nach so sehr von den positiven Wirkungen der EU-Erweiterung profitieren wie Deutschland. ({2}) Schon heute übersteigt unser Handel mit den mittel- und osteuropäischen Staaten den mit unserem traditionell wichtigsten Handelspartner USA: Die Dynamik in den neuen Mitgliedstaaten ist ungebrochen. Ich wünschte mir in den Reihen der Opposition mitunter etwas von dieser Aufbruchstimmung, dieser Risikobereitschaft und diesem Willen, gemeinsam Verantwortung für notwendige Reformen zu übernehmen. ({3}) Niemand bestreitet die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Aber die Bundesregierung und die Regierungskoalition belassen es nicht bei der Beschreibung von Problemen. Mit der Agenda 2010 ({4}) nehmen wir die Herausforderungen der Globalisierung, des demographischen Wandels und des technologischen Fortschritts an. Der Bundeskanzler hat das heute Morgen in seiner Regierungserklärung eindrucksvoll verdeutlicht. Es besteht kein Zweifel: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, aber auch Europas insgesamt verbessern. Das ist unter anderem Thema des Europäischen Rates, der heute Abend in Brüssel zusammengekommen ist. Wir leisten unseren Beitrag - national und zugleich für Europa insgesamt - mit der Agenda 2010, mit der gezielten Stärkung von Bildung, Forschung und Entwicklung sowie neuer Technologien. Also mit der Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland und Europa. ({5}) Das ist die Antwort auf Standortkonkurrenz in internationalem Maßstab: nicht osteuropäische Löhne und asiatische Sozialstandards, sondern ein global wettbewerbsfähiges Europa, ein Europa, das Mindeststandards im Sozialen und beim Umweltschutz verpflichtet ist. Die Erfahrung zeigt und die Dynamik in den neuen Mitgliedstaaten unterstreicht es: Mit der Perspektive auf wachsenden Wohlstand wächst auch der Anreiz für die Menschen, dort zu bleiben, und sinkt zugleich die Kostendifferenz. Aber was den Steuerwettbewerb betrifft, sage ich Ihnen klipp und klar: Wir sollten es nicht unterstützen, wenn Länder ihre Steuersätze so weit reduzieren, dass sie nicht mehr genügend Einnahmen generieren, um die eigene Infrastruktur zu entwickeln, und dabei zugleich die Erwartung hegen, diese Infrastruktur mithilfe von Transferzahlungen auszubauen, die Länder wie Deutschland speisen müssen. Sorgen vor einem Verdrängungswettbewerb auch auf dem Arbeitsmarkt kann und muss man mit dem Hinweis begegnen, dass gerade die Bundesregierung von Anfang an sichergestellt hat, dass eine unfaire Konkurrenz durch geeignete Übergangsvorschriften verhindert wird. Diese sind flexibel genug, um sie an die Entwicklung bedarfsgerecht anzupassen. ({6}) Dem Standortwettbewerb begegnen wir nicht mit Jammern, sondern mit Handeln. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten mitmachen. ({7}) Wenn Sie die Sorgen artikulieren, die es unbestreitbar gibt, so ist das in Ordnung. Vorausgesetzt, Sie beteiligen sich konstruktiv daran, die Themen nicht nur zu benennen, sondern auch die damit verbundenen Probleme zu lösen. Sie beklagen etwa - wie Herr Hofbauer es gerade getan hat - die Gefahr zunehmender Kriminalität. Ich bin mir sehr bewusst, dass es hinsichtlich dieses Themas Ängste gibt. Umso mehr muss ich Sie auffordern, in den Bundesländern, in denen Sie Verantwortung tragen, die Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen nicht länger zu blockieren. Der europäische Haftbefehl würde Auslieferungen von Straftätern wie Terroristen oder Menschenhändlern innerhalb Europas wesentlich erleichtern und beschleunigen. Ermittlungsergebnisse und Vernehmungen könnten schneller zusammengeführt, Straftaten besser aufgeklärt oder sogar verhindert werden. ({8}) Es ist in Europa nicht erklärbar, dass Sie hier wegen Details blockieren. Es ist auch nicht verantwortbar, dass Sie hier blockieren. ({9}) Europa - das haben spätestens die schrecklichen Anschläge in Madrid deutlich gemacht - muss und kann nur gemeinsam die notwendige Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger erfolgreich gewährleisten. Denn organisierte Kriminalität macht an nationalen Grenzen schon lange ebensowenig Halt wie internationaler Terrorismus. Auch hier hilft uns Kleinstaaterei nicht weiter, sondern mehr Kooperation sowie entschiedenes und zugleich besonnenes Handeln. Die Anschläge in Madrid waren Anschläge auf die Werte, die wir alle in Europa teilen. Umso wichtiger und drängender ist es, zu einer Einigung über eine europäische Verfassung zu kommen, die diesen gemeinsamen Werten und Zielen Ausdruck verleiht und einen Rahmen schafft, um diese Werte und Ziele in europäischer Politik zu realisieren. Heute Abend beraten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auch darüber, wie wir die erweiterte EU handlungsfähig erhalten, wie wir ihre demokratische Legitimation stärken, ihre Institutionen und Entscheidungsprozesse effizienter und transparenter machen können, kurz gesagt: wie wir Europa in die Lage versetzen, die berechtigten Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Wir haben Anlass zu Optimismus. Denn es gibt die realistische Chance, die Regierungskonferenz zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Deutschland unterstützt die irische Präsidentschaft nach Kräften auf diesem Weg. Unser Ziel ist ein starkes und bürgernahes Europa, ein Europa in guter Verfassung. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk von der FDPFraktion.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai ist es so weit. Dann wird Europa größer. Dann wird ein neues Kapitel in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses aufgeschlagen. Europa überwindet endlich die Spaltung. Das ist wirklich ein Ereignis von historischer Dimension. Natürlich eröffnen sich durch die Osterweiterung große Chancen für Deutschland. Aber große Worte allein, Herr Staatsminister Bury, bringen uns nicht weiter. Man muss schon etwas dafür tun, dass Chancen entstehen, und die Folgen sehen. Man kann die Dinge nicht einfach dem Selbstlauf überlassen. Wir sind doch kein Nachtwächterstaat. ({0}) - Da müssen Sie stark differenzieren. Ein Nachtwächterstaat ist etwas ganz anderes. ({1}) Wir sollten endlich einmal vor dem Schaden klug sein. Es ist wirklich unverantwortlich, dass kurz vor der EU-Erweiterung noch so viele Fragen ungelöst sind. Sie werden nicht gestellt, weil wir Sie ärgern wollen, sondern weil die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Zum Beispiel stellt sich im Bereich der Sozialsysteme die Frage, ob Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten weiterhin ihre im Heimatland lebenden Familienmitglieder kostenfrei mitversichern können und wie hoch die Kosten für Kinder- und Erziehungsgeld sind. Die Bundesregierung hat geantwortet, von den deutschen Krankenkassen flössen 14 Millionen Euro ins Ausland; in umgekehrter Richtung sei es 1 Million Euro. Das ist ein starkes Missverhältnis. Man ist offensichtlich davon ausgegangen, dass sich das irgendwie ausgleiche. Beim Kindergeld waren es bisher 120 Millionen Euro jährlich. Es geht also darum, wie die Bundesregierung sicherstellt, dass Anreize zur Inanspruchnahme der Systeme der sozialen Grundsicherung vermieden werden, ohne dass die neuen Unionsbürger diskriminiert werden. Auch diese Auswirkungen sind schnellstens zu klären, damit keine weitere Überdehnung des deutschen Sozialsicherungssystems erfolgt. Das muss man einfach einmal ansprechen. Kann man neben zunehmender Abwanderung von Arbeitnehmern eine weitere Zunahme der Abwanderung von Unternehmen wegen des drastischen Steuergefälles in Kauf nehmen? Es geht doch nicht darum, ob die Beitrittsstaaten ihre Steuern erhöhen, sondern darum, ob wir sie senken, damit nicht abgewandert wird. ({2}) Auch im Bereich der Infrastruktur ist bisher zu wenig passiert. Es gibt keine durchgehenden Autobahnverbindungen von Deutschland nach Tschechien oder nach Polen. Die Tschechen sind zwar fertig, aber Nürnberg hängt noch. Das betrifft auch den Grenzraum. Es ist doch wirklich das Einmaleins der Wirtschaftspolitik, dass Infrastruktur die Grundlage für Ansiedlungen ist. Außerdem gibt es bislang keinen gemeinsamen Aktionsplan von Grenzschutz- und Zollbehörden. Es wird einfach davon ausgegangen, dass am 1. Mai die Grenzkontrollen wegfallen. Wir wissen aber, dass die Personenkontrollen weiterhin notwendig sind und dass mehr Fahrzeuge ankommen. Da muss man schon im Vorhinein etwas tun. Es wird am 1. Mai nicht ganz so einfach werden. Da muss man gestalten und sich nicht einfach wundern, dass es nicht klappt. ({3}) Es stellt sich also die Frage, wie die Kontrollen ab dem 1. Mai gestaltet werden sollen. Einerseits soll es nur noch Personenkontrollen geben; andererseits werden wir mit mehr Verkehr rechnen müssen. ({4}) Was wird zum Beispiel mit dem Grenzübergang Forst an der Grenze zu Polen? Am 1. Mai wird das Problem nicht gelöst sein. Wir kennen das Theater zu der Frage, wer die Kosten für den Stauraum Preschen trägt. Das muss vorher geklärt werden. Es ist sicher, dass man den Folgen der EU-Erweiterung mit intensiver grenzüberschreitender Wirtschaftskooperation begegnen kann und muss. Das ist das Mittel. Wir müssen über unsere Grenzen hinweg kooperieren. Umso unverständlicher ist, dass die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft ab 2005 nicht mehr gefördert wird. Das ist unverantwortlich. Diese Förderung würde nur ein paar Cent kosten. Obwohl die EUErweiterung jetzt erst richtig losgeht, fördert man sie nicht mehr. Genau dann, wenn man die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft AG brauchen würde, wird sie fallen gelassen und kann daher nicht mehr eingesetzt werden. Das ist nicht nachvollziehbar und kontraproduktiv; denn die EU-Osterweiterung wird, wie schon gesagt wurde, am 1. Mai dieses Jahres nicht abgeschlossen, sondern sie fängt dann erst richtig an. Nachdem aus der EU-Gemeinschaftsaktion für Grenzregionen vom Juli 2001 - das war ja eigentlich die Lösung der EU; dadurch sollte die Anpassung der Grenzregionen vollzogen werden - nichts geworden ist, wird ein bisschen Geld für Polnischkurse zur Verfügung gestellt. Ich möchte nichts gegen Polnisch- und Tschechischkurse sagen. Aber es kann ja wohl nicht sein, dass wir uns mit einer solchen Gemeinschaftsaktion für Grenzregionen der EU zufrieden geben. Es hätte eine wirkliche Gemeinschaftsaktion der EU, der Bundesregierung, der Länder und auch der Regionen werden müssen. Daher bin ich mir sicher, dass man hier nachbessern und für diese Wachstumsregionen - so sind die Grenzregionen genannt worden - etwas tun muss. Hier muss schnellstens - das ist unser Vorschlag - eine deutsch-polnische und eine deutsch-tschechische Eingreiftruppe eingesetzt werden ({5}) - bis zum 1. Mai dieses Jahres ist ja nicht mehr viel Zeit -, die sich mit den praktischen Auswirkungen befasst und entsprechende Maßnahmen umsetzt. Dabei sollten die Grenzräume bei Nutzung der vorhandenen Euroregionen als grenzüberschreitende Wirtschaftsräume, als Modellregionen, betrachtet werden. In den lange überfälligen Grenzlandkonzepten - sie fehlen - müssen über Steuern, Infrastruktur und Bürokratieabbau Anreize geschaffen werden. Das ist offen. Wir wollen, dass die Euroregionen mehr Spielraum bekommen und dass das nicht nur von der Bundesregierung gemacht wird. Aber hier müssen Freiräume für sie geschaffen werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Türk, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Das gibt es übrigens schon. Ich meine das Karlsruher Abkommen zwischen Deutschland, Luxemburg, Frankreich und der Schweiz. Dort ist dies praktiziert worden. ({0}) Ich frage mich, warum das nicht auch an der EU-Außengrenze möglich sein kann und soll. ({1}) Nun sind Sie zufrieden. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist beruhigend und schön, festzustellen, wie einig wir uns über die Bedeutung der Osterweiterung und auch bei der Formulierung der positiven Sonntagsbotschaften, die wir bei solchen Anlässen immer nach außen verkünden, sind. Was mich an dieser Debatte aber stört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist, dass man nicht das Gefühl hat, dass Sie an einer Lösung der siRainder Steenblock cherlich noch vorhandenen Probleme tatsächlich interessiert sind, sondern dass Sie solche Debatten initiieren, um sie für Ihre doppelbödige Botschaft zu nutzen. ({0}) Auf der einen Seite sagen Sie immer, dass Sie für die Osterweiterung sind und ihre Chancen nutzen wollen. Aber durch die Art und Weise, wie Sie debattieren, senden Sie auf der anderen Seiten unterhalb dieser Ebene folgende Botschaften aus: Das alles ist ganz schwierig. Es bestehen große ökonomische Probleme. Sie sprechen von einer Belastungssituation. Die Frage ist daher, ob das Vorgehen überhaupt richtig ist. ({1}) - Nein, Sie lassen sich nicht darauf ein, dass es eine positive Grundlage gibt, um die Probleme zusammen zu lösen, sondern Sie mäkeln und reden die historische Chance, die unsere Wirtschaft hat, schlecht, anstatt die positiven Impulse der Osterweiterung voranzutreiben. ({2}) - Herr Türk, dass kann ich Ihnen anhand der Position, die Sie gerade vorgetragen haben, deutlich machen. Sie haben von einem Nachtwächterstaat geredet. Das einzige, was einem Liberalen dazu einfällt, ist, an staatliche Fördertöpfe zu appellieren. Das versteht ein Wirtschaftsliberaler anscheinend unter einem aktivem Staat; darum geht es Ihnen. Das, was Sie der Bundesrepublik ständig vorwerfen, ist, dass sie nicht genug Geld an die Unternehmer verteilt, damit sie ihre Profite einigermaßen abgesichert realisieren können. ({3}) - Nein, ich will auch gerne konkret werden: Sie haben über die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft gesprochen und bemängelt, dass die staatlichen Zuschüsse an dieser Stelle nicht mehr so fließen wie in der Vergangenheit. Schauen Sie einmal nach Österreich: Die Wirtschaftsförderungsgesellschaften, die den österreichisch-tschechischen Grenzraum bedienen - also genau die gleiche Aufgabe haben -, haben es mittlerweile geschafft, sich aus den Beiträgen der Unternehmen selber zu finanzieren. Das sind Unternehmer, die tatsächlich versuchen, etwas zu leisten, und nicht Unternehmerinnen und Unternehmer, die immer nur auf staatliche Zuschüsse schielen, sich alimentieren lassen und eine beamtenmäßige Unternehmermentalität ausleben. So wollen wir keine Politik gestalten: Wir wollen doch keine Abhängigkeit vom Staat schaffen! Wir setzen darauf, dass diese Leute ihr Schicksal selber in die Hand nehmen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Steenblock, erlauben Sie eine Frage des Kollegen Scheuer?

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, bei der kurzen Zeit, die ich noch habe: Tut mir Leid, wir können das gerne nachher besprechen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es wird Ihnen nicht auf Ihre Zeit angerechnet.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Stimmt, Entschuldigung. Wenn es nicht von meiner Zeit abgeht, ({0}) dann können Sie natürlich gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich stoppe die Uhr, Sie können das feststellen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist sehr nett, Herr Kollege. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie, Herr Steenblock, fordern die Opposition auf, Möglichkeiten zum Handeln aufzuzeigen. Der Bundeskanzler hat eine solche Möglichkeit zum Handeln offenbar auch erkannt, nämlich im Jahr 2000 in Weiden, wo er ein Förderprogramm für die Grenzregionen angekündigt hat - Sie haben ein solches gerade verneint. Der Bundeskanzler hat wortwörtlich gesagt: „ein vernünftiges, auch materiell unterlegtes Programm der Förderung der Grenzregionen“. - Der Herr Kollege Ludwig Stiegler hat sich schon gefreut und zu Hause verkündet, dass ein Förderprogramm kommen wird. Aber es ist bei der Ankündigung und beim Versprechen geblieben. - Was sagen Sie denn dazu, dass der Bundeskanzler die Notwendigkeit erkannt hat, ein Förderprogramm aufzustellen?

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie sich auf eine Äußerung aus dem Jahre 2000 bezogen. ({0}) Einige Kollegen haben zu Recht auf die Herausforderungen hingewiesen, vor denen wir jetzt stehen. Wenn Sie den Erweiterungsprozess verfolgt haben, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass wir diese Herausforderungen unter den Bedingungen der Strukturfonds meistern müssen. Das sind die Förderinstrumente, die wir jetzt, gerade für die Grenzregionen, nutzbar machen müssen. Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatten des Jahres 2000 führen: Mit den Strukturfonds haben wir für 2004 bis 2006 neue Förderstrukturen, besonders für die Beitrittsländer, aber auch für die ostdeutschen Bundesländer. In den östlichen Ländern, gerade in Polen, haben wir aber auch das Problem, dass solche regionalen Kooperationen auf polnischer Seite dadurch erschwert werden, dass dort noch sehr viel zentralstaatliche Regulierung stattfindet, wodurch Partnerschaften in den Grenzregionen etwas behindert werden. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Förderstrukturen auf beiden Seiten der Grenze kompatibler werden. Durch die Strukturfondsmittel haben wir jetzt die Möglichkeiten, das auch zu realisieren. Deshalb glaube ich, dass wir da in der Zukunft - auf die sollten wir uns beziehen - gute Chancen haben. ({1}) - Bayern auch, ja. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Stichwort Euro-Regio ist gefallen, ich glaube, auch von Ihnen, Herr Türk. Das sind Instrumente, die ich sicherlich sehr unterstütze. Wir haben an Schleswig-Holsteins Westgrenze sehr positive Erfahrungen damit gemacht. Solche Ansätze werden schon diskutiert, aber sie müssen aus der Region heraus entwickelt werden; Sie wissen sehr gut, dass es keine Aufgabe der Bundesregierung ist, solche Euro-Regios zu implementieren. Euro-Regios sind Regionen, die Bottom-up, also von unten, wachsen müssen; nur dann machen sie auch einen Sinn. Solche EuroRegionen im Bereich der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze zu realisieren ist sicherlich etwas ausgesprochen Positives und Unterstützenswertes. ({3}) - Es reicht nicht aus, es ist aber ein Instrument, das wir unterstützen und stärken wollen und in dem wir auch positive Aspekte sehen. Sie haben gesagt, vieles sei nicht passiert. Wenn Sie sich aber einmal anschauen, wie sich insbesondere der Handel zwischen Deutschland und Polen, aber auch zwischen Deutschland und den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern entwickelt hat, dann stellen Sie fest, dass die Osterweiterung langfristig politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität nicht nur in diesen Ländern erzeugen wird, sondern dass gerade Deutschland als Exportnation sehr stark von der Osterweiterung profitieren wird. Wie kein anderes EU-Land werden wir von der Osterweiterung profitieren. Schon jetzt werden 10 Prozent unseres Außenhandels mit dieser Region abgewickelt. In diesem Bereich hat sich unendlich viel bewegt. Diese Bewegung wollen und werden wir weiterhin unterstützen. Der Export in diese Länder ist mittlerweile umfangreicher als der Export in die Vereinigten Staaten. Sie müssten eigentlich wissen, dass die Auslagerung von Produktionskapazitäten in vielen Fällen Arbeitsplätze in Deutschland stabilisiert und neue Ausbildungsund Produktionsstätten generiert. ({4}) Diesen Zusammenhang stellen Sie häufig überhaupt nicht dar. Natürlich brauchen wir auch Standorte deutscher Unternehmen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, damit sie dort marktnah produzieren können. Das hilft uns weiter. Ich glaube, dass wir uns auf einem guten Weg befinden. Wir sollten - damit die Botschaft in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern ankommt - gemeinsam sagen: Wir wollen diese Kooperation. Wir sollten nicht ständig daran rummäkeln, sondern die offenen Fragen gemeinsam lösen. Wir sind motiviert und bei uns herrscht die Bereitschaft zur Kooperation vor. Wir widmen uns dem Projekt der Osterweiterung mit aller politischen und ökonomischen Kraft. Das ist die zentrale Aufgabe unserer Politik. Danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Veronika Bellmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Steenblock, wenigsten war Ihr Vortrag engagiert. Ich lade Sie und Herrn Bury herzlich in die Grenzregion nach Ostdeutschland ein, damit Sie einmal das Reale sehen und nicht nur das, was man sich in rosaroten Farben ausmalt. Die Realität sieht nämlich ganz anders aus. ({0}) - Regen Sie sich nicht so auf! Ich erzähle Ihnen gleich, was Sie daraus folgern können. ({1}) Ich möchte zu diesem Thema eine nüchterne Analyse vorstellen, nämlich die in Ostdeutschland vorherrschende. Einerseits gibt es die konkrete Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation in den neuen Ländern durch die EU-Osterweiterung. Darin haben Sie durchaus Recht. Andererseits gibt es aber auch diffuse Ängste bei der realistischen Einschätzung der Probleme und eine schwer überschaubare Gemengelage von Befürchtungen. Diese Ängste und Befürchtungen kann man nicht einfach wegreden oder negieren, sondern man muss sie analysieren und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. ({2}) Eigentlich sollte das die Bundesregierung machen. Dazu ist sie aber wahrscheinlich weder willens noch in der Lage. ({3}) Da wir das machen wollen und spätestens ab der nächsten Förderperiode ohnehin in der Regierungsverantwortung sind, machen wir jetzt eine Analyse und ziehen daraus die richtigen Schlussfolgerungen. ({4}) Eine solche Analyse der möglichen Auswirkung der EUOsterweiterung ist für die neuen Länder von zentraler Bedeutung. Von der konkreten Ausgestaltung der zukünftigen Strukturpolitik in den Jahren 2007 bis 2013 sowie der wirtschaftlichen Behauptung gegenüber den neuen Mitgliedern hängt nämlich viel ab. In dem am 18. Februar 2004 vorgelegten 3. Kohäsionsbericht der EU-Kommission sind die möglichen Folgen für die neuen Länder sehr deutlich dargestellt worden. Dadurch rückten sie ins öffentliche Interesse. Konkret zur Analyse im Bereich Wirtschaft und Arbeitsmarkt: Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion sieht in der EU-Osterweiterung vor allem Vorteile, die Öffentlichkeit hat eher Ängste, zum Beispiel wegen einer möglichen hohen Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Beitrittsländern, einer Verdrängung heimischer Arbeitnehmer, einer verstärkten Konkurrenz im primären und tertiären Wirtschaftssektor durch kostengünstigere Anbieter aus den Beitrittsländern oder die Verlagerung von Produktionsstätten in die Beitrittsländer. Aufgrund einer Erhöhung des Einkommensniveaus in den Beitrittsländern hofft man - das gehört zu den indirekten Wirkungsfaktoren - auf eine stärkere Güternachfrage. Außerdem hofft man darauf - ich glaube, dass das in Einzelfällen begründet ist -, dass Deutschland insgesamt durch vermehrte Exporte profitieren kann. Für die Unternehmen in Ostdeutschland zählt das aber kaum, da sich viele Firmen auf Marktsegmente spezialisiert haben, die denen in den Beitrittsländern entsprechen. Dort kann allerdings zu geringeren Kosten produziert werden. Es ist deshalb zu erwarten, dass die ostdeutschen Firmen dem Wettbewerbsdruck nicht standhalten können. Die Auswirkungen der Erweiterung auf die Arbeitsmärkte in den neuen Ländern hängen von wichtigen Faktoren ab. Zunächst ist entscheidend, wie die Unternehmen auf den verstärkten Wettbewerbsdruck reagieren und ob sie ihm gewachsen sind; dies habe ich eben bereits angesprochen. Es ist allerdings zu erwarten, dass in den lohnintensiven Branchen diesem Druck nicht standgehalten werden kann und eine Abwanderung von Unternehmen aus Ostdeutschland in die Beitrittsländer somit durchaus möglich ist. Wir in Ostdeutschland haben eine nur sehr geringe Unternehmensdichte. Wenn davon noch welche abwandern, ist das für unsere Wirtschaft tödlich. Was sind nun die notwendigen Maßnahmen? Wir wollen nicht nur analysieren, sondern auch Maßnahmen vorschlagen. ({5}) Erster Punkt. Wir müssen flexible Arbeitsmarktstrukturen schaffen und vor allem bei Unternehmensgründungen bürokratische Hemmnisse abbauen. Wir haben heute früh in der Regierungserklärung gehört, dass der Kanzler dazu in der nächsten Woche wieder einmal ein Machtwort sprechen will. Ich sage es einmal mit den Worten meines Kollegen Riesenhuber: Das ist wieder ein erneuter Fall von Kanzlerdämmerung. ({6}) Herr Riesenhuber sagte: Es dämmert und dämmert und dämmert und wird nicht hell. Vielleicht sollte man dem Kanzler einmal sagen, er soll etwas Konkretes dazu vorlegen. ({7}) Als zweiten Punkt möchte ich den weiteren Ausbau der Infrastruktur vor allen Dingen im Verkehrsbereich nennen; auch das ist heute schon angesprochen worden. In meinem Wahlkreis gibt es ein ganz konkretes Objekt, nämlich die Ortsumgehung Marienberg als direkte Verbindung von Sachsen nach Tschechien. Herr Stolpe sagt, dass es im Jahr der Erweiterung keine neuen Projekte gebe. Man könnte sagen, er wird seinem Namen durchaus gerecht: Er stolpert von einem Schlagloch ins andere. ({8}) Nun zur Strukturförderung. Die Strukturfördermittel sind für die neuen Länder von hoher Bedeutung. Allein in der laufenden Förderperiode sind den neuen Ländern 20,6 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt worden. Der Höchstförderstatus ist mit dem Beihilferegime der EU verknüpft. Durch den Verlust dieses Status würden die beihilferechtlichen Möglichkeiten der neuen Länder erheblich eingeschränkt werden; auch das wäre tödlich. Die maximalen Sätze zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft würden für größere Unternehmen von 35 Prozent auf 18 Prozent und für KMU von 50 Prozent auf 28 Prozent sinken. Die Förderhöhe ist momentan das einzige Anreizinstrument, das wir Unternehmen für die Ansiedlung in den ostdeutschen Bundesländern bieten können. Wir können weder mit der Steu9022 erhöhe noch mit der Lohnhöhe und erst recht nicht mit der Abgabenhöhe konkurrieren. ({9}) Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen: Das Unternehmen Siltronic hat mit einer Förderhöhe von 120 Millionen Euro Investitionen in Höhe von 480 Millionen Euro ausgelöst und damit 866 Arbeitsplätze schaffen können. Daran sieht man, wie effektiv EU-Fördermittel eingesetzt werden können. Von daher begrüßen wir die im Dritten Kohäsionsbericht vorgeschlagene Fortsetzung der Förderung strukturschwacher Gebiete in der jetzigen EU-15. ({10}) Der Kohäsionsbericht trägt dem weitgehend Rechnung und ist ein wichtiger Schritt für die Absicherung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der Region. Inwieweit die Vorschläge der Kommission umgesetzt werden, hängt von den Entscheidungen des Europäischen Rates und des Europaparlaments sowie von den der Kommission zur Verfügung stehenden Finanzmitteln ab. Ich fordere die Regierung auf, bezüglich der Begrenzung der EU-Ausgaben auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens ein wenig über den Tellerrand hinauszuschauen. Wenn die Rückflüsse aus diesen Fördermitteln in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr wie bisher zur Verfügung stehen - auch nicht in den Ziel-2- und Ziel-3-Regionen; es geht also um alle Rückflüsse -, dann wird das für Ostdeutschland eine Erhöhung der Arbeitslosenquote um 2 Prozent bedeuten. Wir liegen jetzt schon bei 18 Prozent. ({11}) Sie zahlen dann vielleicht weniger an die EU, aber Sie leisten dann höhere Transferzahlungen an die Arbeitslosen. Wenn Sie das möchten, dann können Sie das gerne tun. ({12}) Die Förderung der sechs Nettozahler zu begrenzen ist auf jeden Fall nicht im Sinne der neuen Bundesländer. ({13}) - Wenn Sie jetzt den Deckel Ihres Mundes schließen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. ({14}) Die EU-Osterweiterung darf nicht auf dem Rücken der ostdeutschen Bundesländer durchgeführt werden. Unser Appell ist: Die neuen Länder sollten einen Interessenausgleich mit der Bundesregierung suchen. Mit der Forderung nach einer Ausgabenbegrenzung sollte eben nicht nur der Bundeshaushalt auf Kosten der neuen Länder saniert werden. Das ist weder wirtschaftlich sinnvoll noch möglich; denn um die fehlenden Rückflüsse von der EU mit Bundesmitteln auszugleichen, fehlt jegliches Konzept. Nun zum letzten Punkt, der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Gewährleistung der Sicherheit in den Grenzgebieten kann nur durch eine enge Zusammenarbeit von Bundesgrenzschutz, Zoll und Polizei erreicht werden. Wichtig sind vor allem Ausgleichsmaßnahmen im Bereich des Zolls nach dem Rückzug von der Grenze durch die vorgesehene personelle Aufstockung der Mobilen Kontrollgruppen. Ich habe schon in einer Rede an den Bundesfinanzminister appelliert, die Mobilen Kontrollgruppen sowohl in der Personalstärke als auch in der Anzahl aufzustocken. Leider kommt die Bundesregierung dem nicht nach.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Die EU ist eben nicht nur ein Wirtschafts-, sondern auch ein Sicherheitsraum. Wir sollten also dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in den Grenzregionen Rechnung tragen. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Sorgen und Nöte der Menschen ernst zu nehmen und sie nicht einfach wegzudeklinieren. Sie müssen den leidenschaftlichen Worten für die EU-Osterweiterung auch Taten folgen lassen. Finanzielle Konzepte sind notwendig. Bundesfinanzminister Eichel hingegen hat erklärt, er würde einen Teufel tun, finanzielle Konzepte zu erarbeiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bellmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein letzter Satz. Vielleicht kann Ihnen dabei der Wahlspruch des amerikanischen Publizisten und Politikers Pat Buchanan behilflich sein: „Wir kämpfen, bis die Hölle zufriert; dann kämpfen wir auf dem Eis weiter.“ Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger von der SPD-Fraktion.

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die EU-Osterweiterung ist eine Riesenchance. Die EU-Osterweiterung wird eine ständige Aufgabe für dieses Parlament sein. Deshalb wird nicht nur die Beantwortung der Großen Anfrage eine Gelegenheit zur Debatte sein. Wir müssen uns fragen, ob uns eine kontroverse Debatte weiterhilft. Wir müssen die Menschen gemeinsam mitnehmen. ({0}) Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Staaten ist die entscheidendste Veränderung in dieser Legislaturperiode und die größte Chance für Europa und Deutschland zugleich. Damit wird die Spaltung Europas endgültig überwunden, die Deutschland besonders betroffen hat. Ein Dank gilt hierbei Polen, Ungarn und Tschechien, die für erste Löcher im Eisernen Vorhang sorgten. ({1}) Die Erweiterung der EU hilft uns politisch, verschafft unserer Wirtschaft neue Möglichkeiten und erhöht die Notwendigkeit des Ausbaus der Infrastruktur. Es geht bei der Erweiterung der EU nicht um das Ob, sondern um das Wie, um die aktive Gestaltung dieses Prozesses. Deshalb möchte ich auf konkrete Projekte im Infrastrukturbereich eingehen. Immerhin betrifft ein erheblicher Teil der Großen Anfrage diesen Bereich. Der neue Bundesverkehrswegeplan ist im aktuellen Gesetzgebungsverfahren. Im alten Bundesverkehrswegeplan waren die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ prägend. Diese endeten bei der Schiene in Berlin. Im neuen Bundesverkehrswegeplan haben internationale Projekte ein besonderes Gewicht. Als Beispiel seien Berlin-Stettin, Berlin-Frankfurt/Oder-Warschau und Dresden-Prag genannt. ({2}) Im Rahmen des EFRE-Programms werden übrigens 680 Millionen Euro EU-Mittel für den Ausbau der Schieneninfrastruktur von 2000 bis 2006 eingesetzt. Wir müssen eines ganz deutlich sagen: Ostdeutschland ist Nettoempfängerland von EU-Mitteln. Mit dem bestehenden Ausbau der Oder-LausitzStraße im Verbund mit dem Ausbau der LEILA, wie im neuen Bundesverkehrswegeplan vorgesehen, wird eine leistungsfähige Straßenverbindung von Norden nach Süden im grenznahen Raum sowie in den Wirtschaftsraum Halle/Leipzig geschaffen, was positive Auswirkungen auf den kleinen und großen Grenzverkehr zu unserem polnischen Nachbarn haben wird. Herr Kollege Türk, auch die Autobahn A 2 nach Posen in Polen ist im Bau. 2007 soll sie fertig gestellt werden. Das verbindet sich gut mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan. Eine besondere Situation haben wir an der Oder und Neiße. Obwohl dort 40 Jahre die so genannte OderNeiße-Friedensgrenze war, hielt sich der Ausbau der Infrastruktur nach Polen in engen Grenzen. In den 80erJahren hatte dies wegen Solidarnosc mit Sicherheit auch einen politischen Hintergrund. Deshalb freut es mich besonders, dass die neue Oderbrücke nördlich von Eisenhüttenstadt zusätzlich in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wurde. ({3}) Zur Umsetzung dieses Projektes gibt es erste positive Gespräche mit der polnischen Seite. Im Übrigen gibt es auch zahlreiche Aktivitäten auf der kommunalen Seite. So hat der Kreistag Oder-Spree den Wiederaufbau der Neißebrücke bei Coschen beschlossen. Gefördert werden soll das Projekt nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, also aus Bundesmitteln. Vielleicht sollten wir solche Projekte den Herren Koch und Steinbrück vorstellen, damit in diesem investiven Bereich mit hoher Wirksamkeit nicht der allgemeine Kürzungsvorschlag nach dem Rasenmäherprinzip kommt. Brücken baut man aus Stahl und Beton. Aber es gilt auch Brücken zwischen den Unternehmen und den Menschen zu bauen. Hierzu kann jeder seinen Beitrag leisten. Das geht von Städtepartnerschaften bis zu konkreten Gesprächen über wirtschaftliche Projekte. Optimistisch stimmt mich, dass sich die Wirtschaft, aber auch viele Menschen schon wie selbstverständlich auf die Osterweiterung vorbereiten. Besonders junge Menschen haben wenig Berührungsängste. An der Frankfurter Universität Viadrina, die mit Gesine Schwan eine hervorragende Rektorin, aber auch eine hervorragende Kandidatin für das Bundespräsidentenamt hat, ({4}) lernen über ein Drittel ausländische Studenten, die überwiegend aus Polen kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thomas Silberhorn?

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben auf den Bundesverkehrswegeplan Bezug genommen und vor diesem Hintergrund eine Reihe von Verkehrsprojekten im Ost-West-Verkehr genannt.

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Richtig.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass wir analog zu den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ nach der Wiedervereinigung jetzt in Bezug auf die Osterweiterung der Europäischen Union auch Verkehrsprojekte „Europäische Osterweiterung“ brauchen und dass wir hierfür erstens diese Projekte im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans ausweisen müssten und dass wir zweitens eine Planungsvereinfachung und Planungsbeschleunigung gesetzlich festlegen müssten, so wie es auch bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ geschehen ist? Darf ich Sie fragen, welche Initiativen Sie dazu starten, wenn Sie das in Bezug auf die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ hier propagieren? ({0})

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe positive Beispiele aus dem Bundesverkehrswegeplan genannt, insbesondere aus dem Land Brandenburg. Brandenburg setzt besondere Priorität auf die Oder-Lausitz-Straße, auch auf den Ausbau im grenznahen Raum. Vielleicht sollte sich Bayern daran ein Beispiel nehmen. ({0}) Ein Satz zum Ende. Als Parlamentarier habe ich die baltischen Staaten besucht. Beeindruckt war ich vom Optimismus der Menschen und ihrer politischen Vertreter. Vielleicht sollten wir Deutsche uns daran ein Beispiel nehmen. Langfristig wird Deutschland als Exportland und als Verkehrsdrehscheibe besonders von der Erweiterung profitieren. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatsminister Bury, als Sie eben darüber gesprochen haben, warum Sie die Große Anfrage nicht beantworten konnten, und als Sie versucht haben, diese Große Anfrage ins Lächerliche zu ziehen, habe ich gemerkt, wie weit diese Bundesregierung ist. Die Große Anfrage an Sie wurde am 27. Januar dieses Jahres gestellt und Sie haben uns jetzt mitgeteilt, dass Sie sie im Juli beantworten können, also zwei Monate nach der EU-Osterweiterung. ({0}) Das heißt, diese Bundesregierung ist nicht in der Lage, eine gar nicht so komplex gestaltete Anfrage in der richtigen Zeitspanne zu beantworten. Es wäre schon angebracht gewesen, sie vor der EU-Osterweiterung zu beantworten. ({1}) Sie fangen wohl erst jetzt an, darüber nachzudenken. Das ist doch Ihr Problem. Sie haben sich mit der Frage bisher nicht beschäftigt. Sie glauben, Sie könnten mit einer Lappalie über eine solche Frage hinweggehen. Das wundert mich sehr. Ich bin auch ein bisschen enttäuscht. Aber das muss man bei den Antworten, die man bekommt, wohl jeden Tag sein. ({2}) Wenn Sie allein diese Woche die Berichterstattung in der Presse verfolgt haben, konnten Sie lesen: „Wir steuern gegen Osten“ oder „Keine Angst vorm Jobexport“. Aber niemand von Ihnen hat sich richtig mit diesem Thema beschäftigt. Was passieren wird, werden wir sehen. ({3}) Hinzu kommt eine unsägliche Patriotismusäußerung des Bundeskanzlers, für die er sich am nächsten Tag entschuldigen musste. ({4}) Keiner weiß etwas über die Fakten. Zu den Fakten möchte ich einige Punkte anführen, Herr Kollege Steenblock. Was die Beitrittsländer angeht, haben wir nur noch mit einem einzigen der fünf großen Länder eine positive Handelsbilanz. Mit Tschechien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei haben wir bereits jetzt eine negative Handelsbilanz. Sie war vor vier bis fünf Jahren noch positiv, hat sich aber blitzartig verändert. ({5}) Das führt dazu - um es Ihnen genau zu erklären -, dass wir immer mehr aus diesen Ländern importieren und dass wir in der nächsten Zeit verstärkt dort produzieren werden. Der Handel prosperiert. Ich bin für die EU-Osterweiterung und freue mich sehr darüber. Für uns liegt eine große Chance darin, aber nur dann, wenn wir wettbewerbsfähig sind und bleiben. Gegenwärtig sieht es für uns alles andere als positiv aus. Der Wettbewerbsdruck ist durch die EU-Osterweiterung gestiegen und wird noch weiter zunehmen. Es wird - Frau Kollegin Bellmann hat das sehr gut erklärt die neuen Bundesländer, die Grenzregionen, aber auch Bayern - wie es der Kollege Hofbauer dargestellt hat besonders treffen. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. In unserer heutigen Debatte geht es im Prinzip um nichts anderes als um unsere Wettbewerbsfähigkeit. Aber davor drücken Sie sich, weil Sie genau wissen, dass Deutschland in der Wettbewerbsfähigkeit weit hinterherhinkt. Alle Zahlen zeigen uns das immer deutlicher. ({6}) Die große Gefahr dabei ist, dass die sieben Jahre geltenden schützenden Übergangsregelungen hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer blitzartig unterlaufen werden. Wie wir alle wissen, gibt es die Dienstleistungsfreiheit. Auch eine Automobilwerkstatt ist ein Dienstleister. Er schickt fünf Mann hierher, die ein Auto reparieren, und schon ist die Regelung umgangen worden. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Des Weiteren droht die Verlagerung unserer eigenen Arbeitsplätze in die Beitrittsländer. Denn alles, was nicht kundennah gefertigt werden muss, kann in Zukunft viel günstiger in Mittel- und Osteuropa gefertigt werden. Darüber sollten wir uns ebenfalls im Klaren sein. Das wird auch der Fall sein, wenn wir nicht schnell umsteuern und Bedingungen schaffen, die den Unternehmen das Verbleiben in Deutschland erleichtern, statt ihnen ständig zusätzliche Belastungen aufzubürden. Ich habe heute in der gesamten Regierungserklärung des Bundeskanzlers nicht eine einzige Äußerung zum Thema neue Bundesländer gehört. Er hätte sich aber dazu äußern sollen, was in Ostdeutschland zu erwarten ist. Es ist zwar sehr enttäuschend, aber anscheinend interessieren ihn diese Probleme nicht. Der Kollege Scheuer hat völlig zu Recht festgestellt, dass der Bundeskanzler in der Weidener Erklärung - wie Sie wissen, Herr Scheuer, ist er in seinen Erklärungen immer großartig - angekündigt hat: Wo erforderlich, werden wir gegensteuern und abfedern. Aber was wird tatsächlich gemacht? - Nichts. Sonst hätten wir heute sicherlich etwas darüber erfahren. Das Einzige, was wir erfahren haben, ist, dass wir mit Steuererhöhungen rechnen müssen, weil die Eigenheimzulage endgültig abgeschafft werden soll. ({7}) Weitere Steuererhöhungen können wir in Deutschland nicht mehr gebrauchen. ({8}) Wo ist denn Ihre Hilfe für den Standort Deutschland geblieben? Wo bleibt Ihr Einsatz dafür, dass die Bedingungen in diesen Regionen verbessert werden? ({9}) Sie werden es noch schaffen, dass alle Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen. Sie werden es auch noch schaffen, dass keiner mehr ein Interesse daran hat, in Deutschland weiterzumachen. Wenn Sie glauben, Sie könnten diesen Standort dadurch verbessern, dass Sie in Zukunft eine Ausbildungsplatzabgabe einführen, dann werden Sie feststellen müssen, dass auch das letzte Unternehmen kein Interesse mehr daran hat, an diesem Standort zu investieren. Glauben Sie denn, irgendein Unternehmen würde aus Jux und Tollerei Arbeitsplätze verlagern? ({10}) Nur dann, wenn es dazu gezwungen ist, tut es das. Es ist ganz simpel: Sie zwingen die Unternehmen durch Ihr verantwortungsloses Handeln dazu. Nur dann, wenn ein Unternehmen überhaupt keine andere Chance mehr hat, weil es hier, in Deutschland, nicht mehr zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren kann, verlagert es Arbeitsplätze ins Ausland. Es tut dies nur unter diesen Bedingungen. Diese Bedingungen haben Sie mit Ihrer miserablen Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren erzeugt. ({11}) Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Ein Unternehmen verlagert Arbeitsplätze nur dann, wenn die Kosten für die Produktion in Deutschland nicht mehr durch die erzielbaren Preise gedeckt werden können. Es handelt so aus keinem einzigen anderen Grund. Es gibt schon heute viele Unternehmen, die partiell ihre Produkte im Ausland herstellen. Glauben Sie denn, man könnte auf ein einziges deutsches Auto noch „made in Germany“ schreiben? Nach den WTO-Richtlinien ist das überhaupt nicht mehr möglich, weil der wesentliche Teil deutscher Autos nicht mehr in Deutschland hergestellt wird. Wenn alle Teile eines deutschen Autos in Deutschland zu deutschen Kosten hergestellt würden, dann könnte kein einziges deutsches Auto mehr verkauft werden. Also produziert die deutsche Automobilindustrie wie viele andere Industriezweige partiell im Ausland. Ich möchte ein Beispiel nennen: Audi stellt in Deutschland keinen einzigen Motor mehr her; sie werden alle in Ungarn gebaut. Dadurch ist Audi in der Lage, seine Autos zu einem wettbewerbsfähigen Preis auf den Markt zu bringen. Sie sollten sich diesen sachlichen Gründen nicht verweigern. Sie sollten vielmehr die Konsequenzen daraus ziehen. Diese Konsequenzen können eigentlich nur lauten, dass wir in Deutschland so schnell wie möglich umsteuern und endlich anfangen müssen, wirkliche Reformen durchzuführen. Außer einer Steuererhöhung habe ich vom Bundeskanzler heute in einer über einstündigen Rede nicht ein einziges Wort zu einem konkreten Projekt gehört. ({12}) Was die deutsche Wirtschaft von Ihnen will, das sind konkrete Projekte. Sie zu entwickeln, das ist auch Ihre Aufgabe. Ich denke an Projekte, die den Arbeitsmarkt endlich entlasten, indem sie ihn von seinen Verkrustungen befreien, und an eine durchgreifende Steuerreform. Die Kollegin Merkel hat dazu heute Morgen konkrete Vorschläge gemacht. ({13}) All das ist für Sie anscheinend nicht existent. Sie wurschteln weiter und vertreiben auch noch den letzten Arbeitsplatz aus Deutschland. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) - Herr Kollege Küster, Frau Kollegin Lührmann hat das Wort. ({1})

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das nenne ich Fleißarbeit: Die CDU/CSU stellt der Bundesregierung sage und schreibe 113 Fragen zur Osterweiterung der Europäischen Union. Die schiere Zahl soll uns hier wohl beeindrucken. Aber Quantität ist eben nicht gleich Qualität. Und die lässt in Ihrem Fragenkatalog zu wünschen übrig. ({0}) Die Summe Ihrer Fragen lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Die Osterweiterung birgt für die Bundesrepublik Deutschland vor allem eines: ein unkalkulierbares Risiko. Von Frage 1 bis Frage 113, meine Damen und Herren der Union, lese ich zwischen den Zeilen Vorbehalte und eben nicht Freude über die historische Wiedervereinigung der Europäischen Union. ({1}) Sie befürchten eine massenhafte Migration. Sie fürchten die „Überdehnung“ der Europäischen Union und sie fürchten ein Mehr an Kriminalität. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lührmann, machen Sie bitte einen Moment Pause. Ich bitte die Abgeordneten in den Reihen der CDU/ CSU, ihre Konferenz einzustellen oder außerhalb des Saales fortzusetzen. ({0}) Im Übrigen möchte der Kollege Kretschmer eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kretschmer.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, bei aller Wertschätzung möchte ich Ihnen ein paar Fragen aus unserer Großen Anfrage stellen und Sie bitten, sie zu beantworten. ({0}) Was wird zum Beispiel aus den Grenzspediteuren, die am 1. Mai 2005 arbeitslos werden? Was wird zum Beispiel aus dem Sicherheitsdefizit, wenn die Zöllner abgezogen werden und der BGS nicht kommt, um für einen Ausgleich zu sorgen? Was sagen Sie dazu, dass es zum Beispiel Grenzstaus von 25 Kilometern und länger gibt - dies wird sich vom 1. Mai an nicht verringern - und dass die Bundesregierung trotzdem nicht plant, mehr Grenzübergänge zu öffnen oder die Tonnagebegrenzung für regionale LKWs zu erhöhen, oder dass eine Forschungskooperation nicht möglich ist, weil man nach deutschem Verwaltungsrecht polnischen und tschechischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen kein deutsches Geld geben darf? Das sind ganz konkrete Fragen, die nichts damit zu tun haben, dass wir etwas schlecht machen wollen. Wir wollen vielmehr, dass die Erweiterung vernünftig vorbereitet wird. ({1})

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Herr Kollege, soweit ich weiß, dürfen Sie nur eine Zwischenfrage stellen. Sie haben gerade den Vorwurf, den ich erhoben habe, mit der Summe Ihrer verschiedenen Befürchtungen und teilweise mit Ihren Übertreibungen hinsichtlich der Grenzöffnung bestätigt. Sie wissen sehr wohl, dass es koordinierte Programme der EU gibt, um die neuen Schengen-Grenzen innerhalb geregelter Übergangsfristen aufzubauen. Ich kann nur diesen Punkt herauspicken. Ansonsten bitte ich Sie, zusammen mit mir in den nächsten Minuten einen nüchternen Blick auf die Lage zu werfen. ({0}) Wird es denn wirklich so düster? Eines vorweg: Es ist richtig, diese Punkte aufzugreifen sowie die Ängste und Sorgen, die es in der deutschen Bevölkerung gibt, anzusprechen. Diese müssen ernst genommen werden. Das tun wir auch. Aber ich finde die Art, wie Sie in der Öffentlichkeit und insbesondere hier mit diesem Thema umgehen, unverantwortlich; ({1}) denn Sie spielen mit den Ängsten der Menschen und verstärken Vorbehalte, anstatt sie zu entkräften. Sie übertreiben die Risiken und erwähnen kaum die Chancen. Das ist fahrlässig. ({2}) Wenn Sie zum Beispiel über Migration reden - wie Sie das in Ihrer Zwischenfrage getan haben - dann klingt das so, als ob demnächst Millionen Osteuropäer auf den deutschen Arbeitsmarkt strömen würden. In verschiedenen Studien wie in der des DIW im Auftrag der Kommission hat man herausgefunden, dass lediglich 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung in den osteuropäischen Beitrittsländern bereit sind, auszuwandern. Das hängt noch von vielen ungeklärten Faktoren ab. Es gibt, wie Sie wissen, zum Beispiel lange Übergangszeiten bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Außerdem gilt es zu bedenken, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Mitgliedstaaten aller Voraussicht nach sehr positiv verlaufen wird. Übrigens, vor allem junge und gut ausgebildete Fachkräfte in den osteuropäischen Beitrittsstaaten planen, eventuell ihre Heimat gen Westen zu verlassen. Von deren Ehrgeiz und Motivation können wir in Deutschland nur profitieren. Ich möchte ebenfalls daran erinnern, dass die gleichen Ängste, die Sie jetzt im Zusammenhang mit der Osterweiterung artikulieren, auch vor der Süderweiterung geschürt wurden. Nichts dergleichen ist damals eingetreten. ({3}) Im Gegenteil: Die Übergangsfristen sind vorzeitig aufgehoben worden, weil Portugiesen, Spanier und Griechen aus den damaligen Mitgliedstaaten der EG zurückgegangen sind und nicht so wanderungswillig waren, wie man uns fabulistisch hat glauben machen wollen. Deswegen appelliere ich an die Bedenkenträger in Ihren Reihen: Lernen Sie aus der Vergangenheit und spielen Sie nicht populistisch mit den Ängsten der Menschen in Deutschland! ({4}) Im Hinblick auf Ihre wirtschaftlichen Bedenken kann ich nur sagen: Deutschland profitiert zusammen mit Österreich schon jetzt am stärksten von der engen Verflechtung mit den neuen Beitrittsländern. Osteuropa ist ein attraktiver Absatzmarkt für unsere Unternehmen. Es sind gerade die Grenzregionen, die mittelfristig den größten Nutzen von einem vereinfachten Handel und von der neuen Freiheit haben werden. Allerdings hat die EU am Vorabend der Erweiterung auch noch eine sehr entscheidende Aufgabe zu erledigen. Sie muss sich eine Verfassung geben. Nur mit einer Verfassung - hier teile ich ausnahmsweise Ihre Bedenken - wird die größere Europäische Union handlungsfähig bleiben. Deshalb bin ich sehr froh, dass in den letzten Tagen wieder Bewegung in den Verfassungsprozess gekommen ist. Ich erwarte und hoffe, dass sich die Regierungen noch in diesem Halbjahr einigen werden. ({5}) Denn die erweiterte EU ist nur mit einer neuen Verfassung auch in guter Verfassung. Richtig ist ebenfalls, dass sich die Europäische Union verändern muss und wird. Bei der Strukturförderung zum Beispiel müssen die Mittel natürlich auf die Regionen konzentriert werden, die am bedürftigsten sind, das heißt auf die neuen Mitgliedsländer. ({6}) Aber Panik ist in Deutschland nicht angesagt; denn die bedürftigen Regionen in Ostdeutschland werden noch einige Jahre Gelder aus Brüssel bekommen und die Grenzregionen erhalten schon jetzt eine besondere Förderung, um sich an die Veränderungen anpassen zu können. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn wir in Deutschland im Zusammenhang mit der Osterweiterung über den Gewinn und den Verlust sprechen, dann ist es ein beliebtes Spiel, gerade von Ihrer Seite, Nettobeiträge minus Milchquotenzuschuss plus Strukturfondsmittel zu rechnen. Aber diese Rechnung kann nicht aufgehen. Was wir durch die Erweiterung gewinnen, ist unbezahlbar, ist nicht in Geld auszudrücken. Überlegen Sie sich doch einmal, was wir verlieren würden, wenn die Erweiterung nicht käme! Wir würden politische Stabilität und historisch ein vereintes Europa verlieren. Deshalb sollte Ihnen eigentlich auch klar sein, wofür wir hier gemeinsam argumentieren sollten. Wir müssen die Menschen in diesem Land von den riesigen Chancen der Osterweiterung und eines geeinten Europas überzeugen. Dabei geht es mir nicht darum, Probleme kleinzureden, sondern mir geht es darum, konstruktiv zu sein. Wir haben die historische Aufgabe, die Menschen in Ost und West zu einen, statt neuen Neid und neues Misstrauen zu säen. ({7}) Nur so wird die europäische Einigung zu einem Erfolg. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Andreas Scheuer das Wort.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, danke für die Möglichkeit der Kurzintervention. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil ich damit aufräumen will, dass wir als Opposition in diesem Haus irgendwelche Blockaden im Kopf haben oder irgendwelche Friedenschancen und Sicherheitschancen nicht sehen. Wir sehen diese Friedenschancen, diese Sicherheitschancen, dieses vereinte Europa genauso wie Sie, Frau Kollegen Lührmann, es in Ihrer Rede gesagt haben. Wir sehen mittel- und langfristig auch die wirtschaftlichen Chancen. Aber dadurch, dass die Bundesregierung bei dem Prozess der EU-Osterweiterung ab dem 1. Mai 2004 die Möglichkeiten konkreter Maßnahmen und Handlungen verschläft, kommen wir in die Bredouille, dass genau diese schlechte Stimmung vor Ort entsteht. Erklären Sie einer Fließbandarbeiterin im Bayerischen Wald doch einmal, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren hat, weil bei den Nachbarn drüben billiger produziert werden kann! Erklären Sie den Menschen einmal, dass die Infrastruktur schlecht ist, weil die Bundesregierung im Bundesverkehrswegeplan zur EU-Osterweiterung nichts vorsieht! Erklären Sie den Menschen einmal, dass die Chancen für einen Wirtschaftsaustausch zwar da sind, aber die Infrastruktur - ich sage nur: A 6 Amberg, A 94 Passau - dem nicht entspricht. Die Menschen sehen die Chancen, aber sie sehen auch, dass die Bundesregierung nichts zur Verbesserung der Infrastruktur und zum Aufbau eines guten wechselseitigen Wirtschaftsklimas vorsieht. Ich könnte die Liste der Beispiele endlos fortführen. Und dann gibt es auch noch eine Beruhigungspille. Man kündigt ein Förderprogramm an. Das kommt dann aber nicht. Herr Staatsminister Bury, Wirtschaftsminister Clement hat in der „Passauer Neuen Presse“ ein Förderprogramm des Freistaats Bayern über 100 Millionen in allen Tönen gelobt und gesagt: In der Bayerischen Staatsregierung sind intelligente Menschen. Das ist der richtige Schritt. Wir auf Bundesebene haben leider kein Geld. Die Bayern sollen das alleine machen. Das ist doch nicht der richtige Schritt, um Ängste, die die Menschen vor Ort haben, aufzunehmen. Dafür bedürfte es konkreter Maßnahmen und konkreten Handelns. Das verlangen wir. Sie schaffen es aber nicht einmal, diese Fragen in einer überschaubaren Zeit zu beantworten, geschweige denn Antworten angesichts der Ängste der Menschen zu geben. Wir sehen die Chancen. Wir sehen alle Möglichkeiten, die wir durch die EU-Osterweiterung haben, aber wir müssen konkret handeln und Lösungen bieten. Nur dann werden wir Antworten angesichts der Ängste der Menschen liefern können. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lührmann, zur Erwiderung? - Bitte schön.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Kollege, ich habe nichts dagegen, wenn man konstruktiv diskutiert und konstruktiv nachfragt. Dafür ist das Instrument der Großen Anfrage auch gedacht. ({0}) Ich will Ihnen einmal eine Ihrer Fragen vorlesen. Sie können mir die Antwort auf diese Frage dann eigentlich selber geben. Die Frage 10 lautet: Rechnet die Bundesregierung nach der Osterweiterung mit einer Zuwanderung in die bundesdeutsche Arbeitslosigkeit, die daraus resultiert, dass die deutschen Lohnersatzeinkommen im Verhältnis zu den osteuropäischen Löhnen einen starken Zuwanderungsanreiz nach Deutschland ausüben? ({1}) Diese Frage können Sie sich aufgrund der aktuellen Rechtslage selbst mit Nein beantworten. Diese gilt ja jetzt schon für die Bürgerinnen und Bürger der gegenwärtigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ein Franzose etwa hat nicht das Recht, nach Deutschland zu kommen, um hier Sozialhilfe zu beziehen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deshalb schüren Sie auf populistische Weise Ängste, die in der Bevölkerung vorhanden sein mögen, wenn Sie solche Fragen wider besseres Wissen ständig wiederholen. ({2}) Deshalb fordere ich von Ihnen, die Chancen der Osterweiterung zu betonen und konstruktiv mit den Herausforderungen der Osterweiterung umzugehen, die sich zum Beispiel in Bezug auf die Infrastruktur ergeben, die wir bereitstellen sollen. Dieses fällt übrigens zum Teil auch in die Zuständigkeit der Länder. Sie wissen, dass im Bundesverkehrswegeplan eine Länderquote verankert ist. Mithilfe dieser können die Länder selbst Schwerpunkte setzen. Wir erwarten, dass die Prioritäten insbesondere in dem Bereich gesetzt werden, der von der Erweiterung berührt wird. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Engelbert Wistuba von der SPD-Fraktion.

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In genau 36 Tagen vollendet die Europäische Union die größte Erweiterungsrunde ({0}) in ihrer 53-jährigen Geschichte; das wurde heute schon erwähnt. Die vielfach beschworene historische Dimension dieses 1. Mai 2004 liegt darin, dass ab diesem Tag die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest geographisch überwunden wird. Viel mehr noch: Wir haben mit dem klaren Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und mit der VerwirkliEngelbert Wistuba chung der Idee eines gemeinsamen friedliebenden Kontinents einen weiten Schritt darüber hinaus getan. ({1}) Wie viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus habe auch ich in den letzten Wochen auf Einladung der Europäischen Kommission im Rahmen der „Initiative pro Erweiterung“ zahlreiche Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern aus meinem Wahlkreis zur anstehenden Osterweiterung geführt. Dabei sind mir zwei Dinge deutlich bewusst geworden: Erstens. Für die junge Generation in Deutschland ist Europa zu einer absoluten Selbstverständlichkeit geworden, die niemand in Zweifel stellt. Darüber bin ich sehr froh. ({2}) Zweitens. Gleichzeitig wird diese positive Grundeinstellung zu Europa aber zunehmend von Ängsten um die eigene Existenz überlagert. Dabei stehen Fragen zum Arbeitsmarkt und zu wirtschaftspolitischen Themen eindeutig im Vordergrund. Das stimmt mich nachdenklich, aber keinesfalls hoffnungslos; denn viele Fragen lassen sich durchaus zufriedenstellend beantworten. Mir scheint aber, es fehlt oftmals einfach an bereitwilligen Gesprächspartnern. Wir Politiker sollten uns mit der wichtigen Frage auseinander setzen, ob Europa vielleicht nicht mehr nur ein wünschenswerter Selbstläufer ist, sondern wie andere Politikfelder auch immer wieder neu erkämpft und bei den Menschen beworben werden muss. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle alle Kolleginnen und Kollegen auffordern, keine Kosten und Mühen zu scheuen, sowohl vor als gerade auch nach dem 1. Mai als Botschafter Europas durch die Lande zu ziehen und den Menschen in Deutschland ihre Ängste zu nehmen; denn Antworten gibt es mehr als genug. ({3}) Stichwort Arbeitsmarktzugang: Ja, es gelten flexible und zeitlich begrenzte Übergangsregelungen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die ein schrittweises Zusammenwachsen der Arbeitsmärkte ermöglichen. Dabei wurde ein Rahmen von maximal sieben Jahren abgesteckt als auch eine entsprechende Regelung für besonders betroffene Bereiche des Dienstleistungssektors getroffen, zum Beispiel für das Baugewerbe, für Innendekorateure oder auch für Gebäudereiniger. Gleichzeitig wurden entsprechende Möglichkeiten für eine bedarfsorientierte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften eröffnet. Jetzt zum Stichwort Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft: Auch hier ein klares Ja. Die Erweiterung muss Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben. Dabei gilt es jetzt insbesondere auch für kleine und mittlere Unternehmen, Ansatzpunkte zur Stärkung und Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu ermitteln und auszubauen. Ich möchte die wichtigsten Vorteile der Erweiterung für die deutsche Wirtschaft kurz hervorheben: Die EU-Osterweiterung schafft neue, größere und damit attraktivere Märkte. Insgesamt entsteht mit 450 Millionen Einwohnern der größte Binnenmarkt der westlichen Welt, in dem sich Personen, Waren, Kapital und Dienstleistungen frei bewegen können. ({4}) Die EU-Beitrittskandidaten und insbesondere die Nachbarländer Polen und Tschechien bieten dabei auch dem deutschen Mittelstand interessante Potenziale als Absatz- und Beschaffungsmärkte. Sie verzeichneten seit Mitte der 90er-Jahre ein dynamisches Wirtschaftswachstum mit jährlichen Zuwachsraten von mehr als 4 Prozent. Ihr Wachstum übertraf das der heutigen EU somit deutlich. Fast 10 Prozent der deutschen Exporte gehen bereits in diese Länder, die damit für den deutschen Export schon jetzt so bedeutend wie die USA sind. Von den sich weiter vertiefenden Wirtschaftsbeziehungen zu den Beitrittsländern geht zudem ein Wachstumsimpuls auch für den Binnenmarkt aus, der für viele Mittelständler einen wichtigen Absatzmarkt darstellt. Zu den ernst zu nehmenden Wahrheiten der EU-Osterweiterung gehört allerdings auch, dass sie neue Wettbewerber hervorbringen wird. Dabei werden von der Erweiterung vor allem technologisch fortgeschrittene und kapitalintensive Bereiche profitieren. Dagegen werden Wirtschaftsbereiche mit hohem Arbeitskostenanteil und unterdurchschnittlichen Qualifikationen unter Anpassungsdruck auch in ihrem Heimatmarkt kommen. Einen entscheidenden Aspekt gebe ich allerdings zu bedenken: Aus ökonomischer Perspektive erfolgt die Grenzöffnung nicht erst mit dem 1. Mai 2004; vielmehr ist sie bereits seit Beginn der 90er-Jahre in vollem Gange. ({5}) So kommt das Institut für Wirtschaftsforschung Halle, das IWH, in einer gestern vorgestellten Studie zu folgendem Schluss: Im Bereich des Einzelhandels sowie bei den haushaltsnahen Dienstleistungen nutzen die Bewohner der Grenzregionen schon seit 1991 rege die Angebote jenseits der Grenze. Auch hinsichtlich des Investitionsgeschehens sowie des Güterhandels ist nach dem 1. Mai 2004 nicht mit einer dramatischen Änderung der Situation zu rechnen. Chancen wie Herausforderungen der EU-Osterweiterung machen jedoch eine frühzeitige Anpassung für den Mittelstand notwendig. Die Bundesregierung verfolgt daher im Rahmen ihrer Informations- und Kommunikationsstrategie das Ziel, gemeinsam mit den Einrichtungen der Wirtschaft die Unternehmen zu sensibilisieren, damit sie zum einen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem angestammten heimischen Markt verbessern und zum anderen die neuen Geschäftsmöglichkeiten nutzen. Eigenkapitalschwächen sollen zum Beispiel durch Kooperationen mit mehreren Partnern kompensiert werden. Auch für die Grenzregionen bietet die EU-Osterweiterung große Chancen, Herr Hofbauer, da diese schrittweise aus ihrer Randlage heraustreten und von ihrer neuen Rolle als Bindeglied zu den Beitrittsländern wirtschaftlich profitieren können. Von der EU-Osterweiterung geht allerdings auch ein zusätzlicher struktureller Anpassungsdruck aus, von dem die Regionen an der Grenze zu den Beitrittsländern besonders betroffen sind. Zur Vorbereitung der Grenzregionen steht ein breites Spektrum von Maßnahmen seitens der EU, des Bundes und der Länder zur Verfügung. So können die Grenzregionen in der Förderperiode 2000 bis 2006 an Fördermitteln der EU-Programme in Höhe von insgesamt 16,3 Milliarden Euro partizipieren. Der größte Teil geht in den Ausbau der Infrastruktur; das verbessert auch die Standortbedingungen der kleinen und mittleren Unternehmen vor Ort. Die Vorteile der EU-Osterweiterung werden uns aber nicht in den Schoß fallen. Deshalb freut es mich, dass auch das IWH in seiner genannten Analyse zu dem Schluss kommt, dass unsere Unternehmen die Zeit der Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit aktiv nutzen müssen, wenn sie eine mittelfristige Chance auf dem erweiterten EU-Binnenmarkt haben wollen. Das bedeutet vor allem, ihre Qualität und ihren Service weiter zu verbessern, um sich von der Konkurrenz abheben zu können. Aktives Handeln, so das IWH, heiße übrigens auch, um Kunden aus Polen und Tschechien zu werben und in Geschäften, Restaurants, Reisebüros oder Handwerksbetrieben polnisch oder tschechisch zu sprechen. Die EU-Osterweiterung ist in ihrer Konstruktion keine Einbahnstraße von Ost nach West. Dass dieses Angebot auf Gegenseitigkeit auch von den Menschen in Deutschland entsprechend aufgenommen und genutzt wird und dass die leider noch existierenden Barrieren in den Köpfen überwunden werden, ist auch Aufgabe der Politik in diesem Land. In diesem Sinne rufe ich allen Kolleginnen und Kollegen zu: Die Ampeln stehen auf Grün, gehen wir voran! Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe-Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausbau von Förderungsangeboten für Kinder in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern - Drucksache 15/2580 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Faire Chancen für jedes Kind - Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an - Drucksache 15/2697 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbau und Förderung der Tagespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 15/2651 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern - Drucksache 15/1983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro- tokoll gegeben werden. Das sind die Reden der Kolle- ginnen und Kollegen Kerstin Griese, Rita Streb-Hesse, Caren Marks und Anton Schaaf von der SPD, Maria Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Eichhorn und Rita Pawelski von der CDU/CSU, Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen und Klaus Haupt von der FDP.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2580, 15/2697, 15/2651 und 15/1983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mülltrennung vereinfachen - Haushalte entlasten - Drucksache 15/2193 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss fürWirtschaft und Arbeit Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antragstellende FDP-Fraktion hat die Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute Abend die Gelegenheit haben, den Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mülltren- nung vereinfachen - Haushalte entlasten“ zu beraten. Ich denke, dass uns dieses Thema noch öfter beschäftigen wird. Vor knapp 15 Jahren waren die Müllberge bedrohlich hoch. Die Bundesregierung hat damals vor dem Hinter- grund dieses drohenden Müllnotstandes und angesichts der Tatsache, dass immer mehr Verpackungsabfälle an- fielen, eine Verpackungsverordnung erlassen. Sie hat da- mit die Notbremse gezogen. Die Hersteller und Vertrei- ber von Produkten wurden zur Zurücknahme ihrer Verpackung verpflichtet. Sie sollten angehalten werden, „vom Abfall her zu denken“, also eine Produktverant- wortung zu übernehmen. Dazu mussten die Verpackun- gen „in stofflich verwertbarer Qualität“ aussortiert wer- den. Die Trennung wurde im Zuge der Rücknahme durch das Duale System Deutschland organisiert, sodass neben der Restmülltonne in der Regel ein gelber Sack oder eine gelbe Tonne eingeführt wurde. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das vor allen Dingen einen höheren Trennaufwand. Es bedeutet aber auch, dass die Lizenz- gebühren für den Grünen Punkt im Prinzip über die Pro- duktverpackungen mitbezahlt werden müssen. 1) Anlage 3 Mit der Verpackungsverordnung wurden zweifellos große Erfolge und ökologische Verbesserungen erzielt. Der jährliche Verpackungsverbrauch ist zwischen den Jahren 2001 und 1991 um gut 672 000 Tonnen zurückgegangen. ({0}) Dank der Verpackungsverordnung wurden Müllberge verringert und der seinerzeit drohende Müllnotstand wurde verhindert. Seither hat sich viel verändert. Die Verpackungsverordnung ist technisch überholt und völlig veraltet. ({1}) Die dadurch veranlasste Mülltrennung muss ebenfalls überdacht werden. Früher war die manuelle Mülltrennung Grundvoraussetzung für eine hochwertige stoffliche Verwertung von Abfällen. Zwischenzeitlich gab es aber einen enormen technischen Fortschritt. Neuartige, vollautomatisierte Abfalltrenn- und -sortiersysteme wurden entwickelt. Es ist also nicht mehr erforderlich, den Abfall im bisherigen Umfang in den Haushalten per Hand zu trennen, um ihn stofflich in hochwertiger Weise verwerten zu können. ({2}) Diese Entwicklung muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass die manuelle Trennung nicht vernünftig funktioniert. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion musste die Bundesregierung einräumen, dass in Einzelfällen im Restabfall höhere Verpackungsmengen als im gelben Sack enthalten sind. Das muss man sich einmal vorstellen. Um es deutlich zu sagen: Die Rückkehr zu einer einzigen Mülltonne steht überhaupt nicht zur Diskussion. Selbstverständlich sollen Bioabfälle, Papier, Glas und problematische Abfälle getrennt gesammelt werden auch zukünftig. Aber alles andere kann mit modernen vollautomatischen Trenn- und Sortieranlagen wesentlich schneller, zuverlässiger und auch kostengünstiger erledigt werden. ({3}) Testläufe zeigen, dass bei der Mülltrennung in automatisierten Anlagen sogar mehr Wertstoffe und Verpackungsmaterialien verwertet werden können als bei der getrennten Sammlung über das DSD; denn diese Anlagen können den Müll sehr viel sauberer trennen, als es von Hand möglich ist. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Testläufe nicht in Versuchsanlagen durchgeführt worden sind, sondern in ganz normalen Anlagen, in denen im Augenblick im Wesentlichen Leichtverpackungen, also der Inhalt von gelben Säcken, sortiert werden. Bereits heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass im gelben Sack Restmüllanteile von bis zu 54 Prozent enthalten sind. In 2002 betrug die Menge der in Sammelsystemen für Leichtverpackungen gesammelten Abfälle rund 2,3 Millionen Tonnen. Der Verwertung wurden davon allerdings nur 1,4 Millionen Tonnen zugeführt. Das entspricht 58 Prozent der insgesamt gesammelten Menge. Dieser Überschuss von 1 Million Tonnen kommt durch Fehlwürfe zustande und ist de facto Restmüll. Das bedeutet also, dass schon heute maschinell Restmüll aussortiert und der Entsorgung zugeführt wird. Das bedeutet aber auch, dass zwischenzeitlich eine maschinelle Trennung funktioniert. ({4}) Deswegen halte ich fest, dass die haushaltsnahe Mülltrennung keine Voraussetzung mehr für eine hochwertige Abfallverwertung ist. Die Bürgerinnen und Bürger können also von unnötigem Sammelaufwand einerseits und von unnötigen Kosten andererseits entlastet werden und das Ganze ohne ökologische Abstriche. Im Gegenteil: Es könnte sogar eine bessere Verwertungsquote als bisher erreicht werden. ({5}) Ich fasse zum Schluss zusammen: Die technischen Möglichkeiten sind gegeben. Selbst wenn man jetzt der Meinung ist, man möchte weitere Details in zusätzlichen Versuchen klären, ist es jetzt zumindest nötig, politisch die Weichen zu stellen. Denn wenn wir jetzt nicht über diese Sache diskutieren, werden wir nicht in fünf Jahren die Abschaffung der gelben Tonne bzw. des gelben Sacks erreichen können. Dann wird das alles noch sehr viel länger dauern. Insofern stoßen wir diese Diskussion heute an, um beizeiten die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um die Bürgerinnen und Bürger entlasten zu können. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Bierwirth von der SPD-Fraktion.

Petra Bierwirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003049, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Getrennt sammeln, ja oder nein, Ökologie kontra Ökonomie, Liberalisierung mit oder ohne Daseinsvorsorge, Abfall als Ware oder doch eher als ein besonders zu beachtendes Gut, die Verantwortung der Abfallproduzenten und die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger - all das steckt in Ihrem Antrag, werte Kollegen von der FDP. Ich berichte Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass die FDP ihre Forderungen getreu dem Motto „Gewinne privatisieren, Verluste verstaatlichen“ gestrickt hat. Meiner Meinung nach steckt dieser Antrag voller Tücken und Behauptungen, die überhaupt noch nicht bewiesen sind; denn ich meine, der aktuelle Stand der Technik ist noch lange nicht an dem Punkt angekommen, wie Sie es uns gerade dargestellt haben. Es ist richtig: Es gibt kleine Versuche, die gezeigt haben, dass die Technik heute besser als gedacht ist. Aber von einem bahnbrechenden Innovationssprung, wenn man das erneute Zusammenwerfen von Abfällen so betrachten will, vermag ich nicht zu sprechen. ({0}) Wenn Sie die Versuchsauswertung richtig betrachtet haben, werden Sie bemerkt haben, dass die Firmen, die diese Versuche durchgeführt haben, selber gesagt haben - das kann man auch in Presseerklärungen lesen -, dass sie sehr dafür plädieren, die getrennte Erfassung, die jetzt stattfindet, nicht aufzugeben, zumal diese Versuche auch unter dem Gesichtspunkt „Beibehaltung der getrennten Erfassung“ durchgeführt worden sind. Diese ist in diesen Versuchen nicht aufgegeben worden. ({1}) Auch ich als Ingenieurin bin technisch begeisterungsfähig. Aber ich habe gelernt, Vorsicht walten zu lassen, wenn mir irgendjemand eine Technik als Allheilmittel anpreisen will. Sie wissen ja sicherlich, dass Ingenieure getreu dem Motto „Einem Ingenieur ist nichts zu schwör“ zu allem fähig sind. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet aber: Zu welchem Preis tun wir das? Wird am Ende der Kostendruck, der durch eine zu euphorisch gepriesene Technologie ausgelöst wird, über Lohn- und Ökodumping ausgeglichen? Hierzu nenne ich nur das kurze Wort: ALBA. Mich erschreckt ein wenig, dass die zwei Jahrzehnte andauernde Diskussion über die Abfallpolitik und die Hierarchie im Umgang mit Abfällen, also die Erkenntnis, dass in Abfällen Rohstoffe stecken, heute in einer so genannten Verbrennungsmanie enden soll. ({2}) Denn aus meiner Sicht bedeutet das Ende der Getrenntsammlung Verbrennung um jeden Preis inklusive Abfalltourismus. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Ich bin mir ganz sicher, dass auch Sie wissen, wohin diese Reise gehen soll. ({3}) Wir hätten uns dann den Umweg über die Verpackungsverordnung eigentlich sparen können. ({4}) Sie wollen, wie wir in Ihrem Antrag nachlesen können, lediglich Bioabfälle, Papier, Pappe, Karton und Glas weiterhin getrennt sammeln. Das hatten wir irgendwann schon. Aber die Produktverantwortung bliebe auf der Strecke; denn es besteht für Sie keinerlei Interesse, auch Materialverbunde und innovative Verpackungen wieder in den Stoffkreislauf zurückzuführen. Außer den genannten Fraktionen wollen Sie ja keine weiteren trennen. Natürlich - das wissen wir - können moderne Infraroterkennungssysteme schon heute Erstaunliches leisten. Aber die Menge, die nach Ihrem Modell über die Laufbänder gehen müsste - da bin ich mir ziemlich sicher -, wird die Fehlerhäufigkeit erhöhen, ({5}) sodass in meinen Augen eine sinnvolle, ökologische Verwertung dann nur noch eine Alibifunktion hätte. Damit bin ich an dem Punkt angelangt, dass Sie mit Ihrem Antrag eigentlich eine ganz andere Philosophie verfolgen. Wir alle wissen: Der Abfallmarkt hat seine Grenzen erreicht. Gewinne können nur dann noch vergrößert werden, wenn entweder an den Mitarbeitern gespart wird oder die Standards herabgesetzt werden. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Das ist der Zugriff auf die Gebührentöpfe der Kommunen. Am Ende dieser Kette steht der Griff in das Portemonnaie der Gebührenzahler. Die Neuausrichtung der Abfallpolitik in Ihrem Sinne führt zwangsläufig zu einer veränderten Zuständigkeit für die Abfälle nach heute geltendem Recht. Es sollen Ersatzbrennstoffe aus Müll hergestellt werden - über deren Qualität sollten wir ein anderes Mal sprechen, nicht heute - und diese sollen dann als energetische Verwertung aus dem gesamten Kuchen der Siedlungsabfälle herausgebrochen werden. Was heißt das? Den in der Regel kommunalen Müllverbrennungsanlagen blieben die kaum brennbaren Reste. Damit ist in meinen Augen ein Absatzmarkt für die privatisierten Ersatzbrennstoffe - denn verwertbare Abfälle werden von den Gerichten zunehmend in private Hände geschoben - gefunden. Der Zugriff auf den Gebührenhaushalt ist somit erfolgreich vollzogen. Ich möchte hier eine Lanze für die duale Abfallwirtschaft brechen. Wir haben eine gut funktionierende und gut organisierte Abfallwirtschaft. Wir sind Weltmeister im Trennen. Man kann im Bericht des Statistischen Bundesamtes mit den Zahlen von 2002, der gerade veröffentlicht wurde, nachlesen, dass nach wie vor gerade in den Privathaushalten eine sehr hohe Bereitschaft zur Trennung besteht. ({6}) Wir sind auch Weltmeister im Verwerten von Abfällen. Nicht alles ist ökologisch sinnvoll, was machbar erscheint, aber im Großen und Ganzen funktioniert die deutsche Abfallwirtschaft; sie ist gewährleistet. An anderer Stelle sollten wir uns einmal über Standards für die Verwertung unterhalten und klare Trennlinien zwischen privat und öffentlich organisierter Abfallwirtschaft ziehen. Die Getrenntsammlung als Baustein der Verwertungsindustrie werden wir nicht aufgeben. Eine große Mehrheit der Bevölkerung sieht den eigenen Umgang mit Abfall und die Mülltrennung als einen Kernpunkt der Umweltpolitik im Kleinen an. Ich denke, dass Getrenntsammlung auch ein erzieherisches Mittel ist, das bewirkt, einmal darüber nachzudenken, was für ein Konsumverhalten wir an den Tag legen. ({7}) Wenn Sie sagen, Sie wollen die Haushalte entlasten, dann freue ich mich, dass Sie auch mich bei der Hausarbeit entlasten wollen. Doch für mich ist es überhaupt kein Problem, den Müll zu Hause zu sammeln. ({8}) Wir sind das gewohnt. Das ist eine gute Sache. Wir lehnen Ihren Antrag ab. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Tanja Gönner von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tanja Gönner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003536, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwar über einen sehr kurzen Antrag, aber es ist ein Antrag mit weit reichenden Folgen für die Verbraucher und die gesamte Entsorgungswirtschaft. Seit über zehn Jahren sind vermutlich die hier Anwesenden der Ansicht, dass Mülltrennung eine sinnvolle Sache ist. Bei jedem Pappkarton, jedem Konservenglas und jeder Plastikverpackung, die man fein säuberlich getrennt einem der vielen farbigen Trenngefäße eines umweltbewussten Haushaltes zukommen lässt, hat man das Gefühl, wieder ein bisschen für die Zukunft unseres Planeten getan zu haben. So ironisch ich es jetzt auch formuliert haben mag: Das ist die Realität in Deutschland und zunehmend auch in Europa. Eine ganz banale, alltägliche Handlung liefert einen messbaren Beitrag zur Umweltbilanz unseres Landes. Diese Verhaltensweise haben wir alle in den vergangenen zehn Jahren den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland mit großem Erfolg vermittelt. Eine Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem März dieses Jahres über die Einstellung der Bevölkerung zur Reduzierung der Verwertungsanteile bei Verpackungsabfall bestätigt dies eindrucksvoll. 71 Prozent der Befragten sprechen sich heute für das Sammeln und das Recycling von Abfällen aus. 66 Prozent sind für eine Wiederverwertung trotz höherer Kosten gegenüber einer Verbrennung. Nur 24 Prozent sind hier für die Verbrennung. Besonders interessant ist die Einstellung der Bürger zur Getrennthaltung. 53 Prozent sind für eine Beibehaltung der Getrennthaltung und nur 17 Prozent dagegen. Diese Ergebnisse zeigen: Die Getrenntsammlung ist heute eines der erfolgreichsten Umweltschutzprojekte der Bundesrepublik Deutschland. Nun steht dieses Erfolgsrezept aufgrund neuer technischer Erkenntnisse auf dem Prüfstand und soll neu überdacht werden. Lassen Sie mich kurz an den Anfang der Entwicklung zurückkehren. Denn bevor man Altbewährtes über Bord wirft, sollte man sich bewusst machen, welche Bedeutung es hat. In den 80er- und 90er-Jahren waren Verpackungsabfälle das Symbol der Wegwerfgesellschaft und trugen erheblich zum damaligen Müllnotstand bei. Deutschland schien Anfang der 90er im Müll zu versinken. Politische Antworten waren gefragt. Sie wurden in Form des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes bzw. der Verpackungsverordnung gegeben. Die Einführung der Verpackungsverordnung durch CDU/CSU und FDP 1991 war ein großer Durchbruch. Produzenten und Verbraucher waren aufgefordert, Umweltschutz aktiv zu praktizieren. Die Unternehmen ließen sich durch die Produktverantwortung in die Pflicht nehmen, ihre Abfälle zu vermeiden und zu verwerten - mit Erfolg: Der jährliche Verpackungsverbrauch ist seit dem In-Kraft-Treten der Verpackungsverordnung um 1,4 Millionen Tonnen zurückgegangen. Allein im Bereich der Verkaufsverpackungen, die beim privaten Endverbraucher anfallen, ging der jährliche Verbrauch um rund 850 000 Tonnen zurück. Auch die Bürger engagieren sich ausgesprochen stark. Sie wurden zu Experten der Mülltrennung und machten so die Verwertung erst möglich. Jeder Einzelne leistete auf diese Weise einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Dies wirkte sich aber auch weitergehend auf das gesamte Umweltbewusstsein der Menschen aus. Nun aber genug zur Vergangenheit. In jüngster Zeit wird immer wieder, wie auch jetzt im Antrag der FDP, die Getrennterfassung infrage gestellt. Es wird als quasi erwiesen dargestellt, dass eine Getrenntsammlung technisch nicht mehr erforderlich, wirtschaftlich teurer und ökologisch verzichtbar sei. Es ist leicht, anhand kleinräumiger Vorversuche und Medienberichte solche Behauptungen aufzustellen. Aber halten sie einer grundsätzlichen Prüfung stand? ({0}) - Birgit Homburger, auch ich kenne eine Sortieranlage. ({1}) Die Sachlage gestaltet sich doch momentan folgendermaßen: Durch die Vorgaben der Verpackungsverordnung war die Wirtschaft gezwungen, die ihr übertragene Produktverantwortung zu übernehmen. Sie hat dies akzeptiert und mit großem Erfolg umgesetzt. Mithilfe weitreichender Investitionen in moderne Sortier- und Verwertungstechnologien konnten Leichtverpackungen sortiert und vor allem auch sortenreine Kunststofffraktionen zur wertstofflichen Verwertung extrahiert werden. Trotz all dieser Lobeshymnen ist dies kein Aufruf zur Stagnation. Ich bin nicht dafür, sich auf vergangenen Erfolgen auszuruhen und die Hände in den Schoß zu legen. Natürlich sind die Fortschritte in der Sortier- und Verwertungstechnologie äußerst interessant. Es sollte genau beobachtet werden, ob das Ziel, verwertbare Fraktionen auch aus Abfallgemischen auszusortieren, erreicht werden kann. Natürlich ist es ebenfalls sinnvoll, bei Vorlage einer gesicherten Datengrundlage die bestehenden Systeme dem neuesten Stand der Technik anzupassen. Genau da liegt der größte Stein des Anstoßes im Antrag der FDP. Wie der Anfrage der FDP an die Bundesregierung zu entnehmen ist, beruht die Datengrundlage der FDP im Wesentlichen auf einem „Plusminus“-Bericht und einem Pilotversuch eines Entsorgungsunternehmens in Nordrhein-Westfalen. ({2}) Diese Projekte können nur als Vorversuche bezeichnet werden. So werden sie auch von den entsprechenden Entsorgungsunternehmen genannt. Das kann aber keine ausreichende Basis für eine derartige Umstrukturierung der gesamten Entsorgungswirtschaft sein. Die Zielsetzung muss nach wie vor eine hochwertige Verwertung im besten ökologischen Rahmen sein. ({3}) In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt hat, zu folgendem Schluss kam: Im Ergebnis lässt sich … keine fachlich begründete Veranlassung ableiten, die bisher praktizierte Getrenntsammlung von Verkaufsverpackungen, auch der kleinteiligen Kunststoffverpackungen, aus ökologischen Gründen aufzugeben. Noch unverständlicher wird der Antrag der FDP für mich ({4}) aufgrund der Tatsache, dass bereits zahlreiche Testreihen und Pilotprojekte laufen, ihre Ergebnisse aber noch nicht vorliegen. Warum dieser voreilige Aktionismus? ({5}) In spätestens ein bis zwei Jahren werden wir zu den Fragen, die vor einer Aufgabe der Getrennthaltung beantwortet werden müssen, ausreichendes Material zur Verfügung haben. Erst dann werden wir in der Lage sein, eine wirklich sachkundige und zuverlässige Entscheidung zur Zukunft der Getrennthaltung zu treffen. ({6}) Es ist die Verpflichtung der Politik, nur anhand einer gesicherten Datenbasis zu handeln und nicht vorschnell Wunschvorstellungen hinterher zu jagen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen einige Beispiele nennen, damit deutlich wird, auf welch breiter Basis uns bald Daten zur Verfügung stehen werden, die wir abwarten sollten. Die Entsorgerwirtschaft, das Duale System Deutschland, einige Länder und andere Beteiligte haben sich Gedanken über die technische Weiterentwicklung der Sortier- und Verwertungstechnologien gemacht. Sie sind dabei, zu testen, inwieweit neue Sortier- und Aufbereitungstechnologien zu einer Vereinfachung der heutigen Erfassungsstruktur beitragen können. Zum Teil in Zusammenarbeit oder in Einzelinitiativen erproben sie die gemeinsame Sortierung von Leichtverpackungen und Restmüll sowie die Eignung des Trockenstabilatverfahrens für die gemeinsame Aufbereitung von Restmüll und Leichtverpackungen. Sie suchen dabei unter anderem Antworten auf folgende Fragen: Welche Mengen an verwertbaren Materialien können mithilfe moderner Sortiertechnologien erzielt werden? Wie gut ist die Materialqualität der aussortierten Abfallstoffe? Wie hoch sind die Einsparungen bei einer Vereinfachung der Erfassungsstruktur? Was kostet demgegenüber die Aussortierung des Restmülls? Welche weiteren Kosten wird es durch die Umrüstung der Anlagen, den Verlust von Arbeitsplätzen, die erhöhte Frequenz der Abholung des Restmülls etc. geben? So finden zum Beispiel zu folgenden Themen Untersuchungen statt: zur Sortierung von gemischten Abfällen aus Restmüll und Leichtverpackungen, zur Frage, inwieweit Trockenstabilat aus gemischten Müllfraktionen hergestellt werden kann, zur Zusammenführung von gelber Tonne und Elektroschrott und zur so genannten trockenen Kunststofftonne, also zur Sammlung aller Kunststoffabfälle in einer Tonne. Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich noch um einige Punkte verlängern. Aber diese Projekte decken all die Fragen ab, die momentan noch nicht geklärt sind. ({7}) Momentan können wir nur mit Sicherheit sagen, dass Mischungen aus Restmüll und Leichtverpackungen technisch sortierbar sind. Aber bezüglich der Qualität, der Verwertbarkeit und der Kosten der sortierten Produkte gibt es enorme Unsicherheiten. Aus diesem Grund ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum wir diese Ergebnisse nicht abwarten sollten. Über die technischen Probleme hinaus gibt es noch andere Aspekte, die der Klärung bedürfen, bevor wir anfangen, neue Konzepte für die Abfallwirtschaft zu gestalten. Der entscheidende Punkt sind dabei die Kosten. In Deutschland stehen derzeit Sortierkapazitäten für circa 2,5 Millionen Tonnen Leichtverpackungen zur Verfügung. Bei gemeinsamer, flächendeckender Erfassung müssten aber Kapazitäten für jährlich 15 Millionen Tonnen geschaffen werden. Es stellen sich also die Fragen, wie hoch die Kosten für ein solches System sind und wer sie übernehmen soll. Wie hoch mögliche Kosteneinsparungen sein könnten, weiß derzeit niemand. Im Gegenteil, eher steht zu erwarten, dass es bei gemeinsamer Sammlung und anschließender Aussortierung zu einem weiteren Kostenanstieg käme. ({8}) Zudem stellt sich die Frage, wie bzw. wem die Kosten zugeordnet würden. Als weiteren Punkt möchte ich auf die rechtliche Lage hinweisen. Sowohl die Verpackungsverordnung und das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz als auch die EU-Verpackungsrichtlinie schreiben derzeit eine Getrennterfassung vor. ({9}) Last, but not least ist da noch die Produktverantwortung. Auch sie würde durch die Aufgabe der Getrennterfassung letztlich ausgehebelt, und das in einer Zeit, in der die Diskussion auf EU-Ebene gerade auf mehr Produktverantwortung hinausläuft. Abschließend möchte ich sagen, dass ich froh bin, dass die FDP in ihrem Antrag von dem Tenor ihrer Kleinen Anfrage, der völligen Aufgabe der Getrennterfassung, abweicht und jetzt nur noch eine Abschaffung für bestimmte Abfallfraktionen fordert. Der Antrag bleibt zwar konkrete Ansätze schuldig, aber über eine Erweiterung der gelben Tonne um bestimmte Fraktionen aus der grauen Tonne - oder umgekehrt - können wir nach Abschluss der Pilotprojekte noch einmal diskutieren. Eine völlige Aufgabe der Getrennterfassung, also ein EinTonnen-System, bleibt meiner Ansicht nach vorerst Utopie. Die Möglichkeiten, die aufgrund der bisherigen Datengrundlage denkbar wären, erlauben maximal die Einsparung eines der Standardsammelsysteme. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit der letzten Forderung in Ihrem Antrag, die Bundesregierung solle „ein überarbeitetes Konzept für eine zukunftsfähige Abfallwirtschaftspolitik“ vorlegen, stimme ich voll und ganz überein. Diese Forderung ist ja leider schon sehr oft erfolglos an die Bundesregierung gestellt worden. Liebe Birgit Homburger, ({11}) in der gestrigen Ausgabe der „Stuttgarter Nachrichten“ durfte ich lesen, dass du dir absolut sicher bist, dass der gelbe Sack in fünf oder zehn Jahren abgeschafft sein wird. Da wir ja sehen, dass es erst in fünf oder zehn Jahren sein wird, frage ich: Warum nehmen wir uns nicht die Zeit, ({12}) ein, zwei Jahre abzuwarten, bis wir eine Datenbasis haben, auf der wir entscheiden können? Ich glaube, das wäre sinnvoller und entspräche verantwortlicher Politik. Was Ihre Auffassung zur Getrennterfassung angeht, bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten! Dann werden wir sehen, ob wir einer Forderung wie der Ihren zustimmen oder die Ergebnisse zu einer Optimierung bestehender Systeme nutzen können. Die Union ist momentan nicht bereit, eine funktionierende Infrastruktur zu gefährden, ohne dafür fundierte Gründe zu haben. Deshalb können wir dem Antrag in seiner Gesamtheit nicht zustimmen. Zum Abschluss: Wir alle kennen Gorbatschows Ausspruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Bei dem vorliegenden, schlecht abgesicherten Antrag ({13}) sollten wir aufpassen, dass dies nicht auch dem geschieht, der zu früh kommt. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Antje Vogel-Sperl von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vogel-Sperl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003651, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ist es durchaus zu begrüßen, dass sich die FDP mit alternativen Abfallkonzepten auseinander setzt und wir uns heute mit diesem Thema befassen. Auch wir Grüne sind selbstverständlich gegenüber neuen Verfahren und Techniken grundsätzlich aufgeschlossen. Allerdings müssen die Vorteile neuer Konzepte nachvollziehbar und belastbar belegt werden. ({0}) Da scheint mir der Antrag doch eher ein Schnellschuss zu sein. Er bezieht sich offensichtlich vor allem auf die Ergebnisse eines Großversuchs der Firma RWE Umwelt in Essen, der zwischen dem 11. und dem 14. Februar 2003 durchgeführt wurde. Dieser Versuch hat zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer nachgeschalteten, maschinellen Sortierung von gemischtem Siedlungsabfall aufgezeigt, eine wissenschaftlich fundierte, belastbare Datenbasis hat der Versuch allerdings nicht erbracht: So betrug die effektive Laufzeit des Versuchs gerade einmal 53 Stunden. ({1}) RWE Umwelt selbst bezeichnet die im genannten Sortierversuch eingesetzte Menge an Abfall als „überschaubar“. Das Unternehmen führt deshalb weiter aus, die Ergebnisse dürften eben nicht ohne Weiteres als repräsentativ eingestuft werden und bedürften einer weiteren Überprüfung. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre Feststellung Die derzeit in Deutschland praktizierte Form der Mülltrennung durch den Verbraucher ist also technisch weitgehend überholt und zu teuer. ist schlichtweg falsch und ich sage Ihnen, warum: Tatsache ist, dass bei der maschinellen Getrenntsammlung noch erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht, zum Beispiel bei der Verbesserung der Trennschärfe und Sortenreinheit der gewonnenen Fraktionen oder auch beim Ausbau entsprechend ökologisch hochwertiger Verwertungswege für die abgetrennten Fraktionen. ({3}) Im Übrigen plant die RWE Umwelt erst jetzt - zusammen mit dem DSD - einen Langzeitversuch zur nachträglichen Sortierung über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Ihre Schlussfolgerung, das Sortieren in den Haushalten von Hand sei sowohl ohne ökologische als auch ohne ökonomische Einbußen durch eine automatische Mülltrennung zu ersetzen, weil diese effizienter sei, ist derzeit nicht erwiesen. Ihre Forderung, die bisher praktizierte Getrenntsammlung könne teilweise entfallen, ist somit eindeutig verfrüht. Dies wird im Übrigen von RWE Umwelt selbst bestätigt. Auch die Verbände der Entsorgungswirtschaft haben sich bislang eher zurückhaltend geäußert. ({4}) Außerdem vermisse ich in dem Antrag die Auseinandersetzung mit anderen Abfallkonzepten, die derzeit mindestens genauso intensiv diskutiert und erprobt werden. Es gibt alternative Vorschläge, wie zum Beispiel die Erweiterung der bestehenden gelben Tonne zu einer Wertstofftonne. Das DSD prüft ein derartiges Konzept in Zusammenarbeit mit Alba in Leipzig. Solche Ansätze bleiben in Ihrem Antrag leider unerwähnt. ({5}) Solche Konzepte erwähnen Sie nicht. Ich finde, bei einer grundsätzlichen Debatte über die Zukunft der Getrenntsammlung ist eine umfassende und keine einseitige Betrachtungsweise notwendig. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie lassen in Ihrem Antrag außerdem die Frage offen, wie das Sammelgefäß zukünftig aussehen soll, grau oder gelb? ({6}) Mit anderen Worten: Wer wird denn dann für den nicht mehr getrennten Abfall zuständig sein, die öffentlichrechtlichen Entsorger oder die Privatwirtschaft? ({7}) Auch auf diese essenzielle Frage geben Sie in Ihrem Antrag keine Antwort. Sie fordern stattdessen die Bundesregierung auf, „ein überarbeitetes Konzept für eine zukunftsfähige Abfallwirtschaftspolitik in Deutschland vorzulegen“, bleiben aber selbst ein schlüssiges Konzept in Ihrem Antrag schuldig. Ihr Antrag zielt darauf ab, das ökologisch wichtige Thema Getrenntsammlung medienwirksam auszunutzen, ohne Antworten auf die aktuellen Fragen der Abfallwirtschaft, wie etwa auf die Frage nach dem Kartellrecht und der Zukunft des DSD, zu geben. ({8}) Aus all den genannten Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({9}) - Hören Sie doch zu! - Fakt ist, der Aufbau einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, deren zentrale Ziele die Ressourcenschonung und eine Steigerung der Ressourceneffizienz sind, erfordert auch künftig erhebliche, stetige private und öffentliche Investitionen. Wir sind in diesem Zusammenhang für alternative Abfallkonzepte offen und werden sie selbstverständlich eingehend prüfen. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit. Ich sage aber auch, dass dabei für uns immer zwei Fragen von zentraler Bedeutung sein werden: Ist das Konzept geeignet, Abfall zu vermeiden? Ist es ein Gewinn für die Umwelt? Das heißt: Ist es ökologisch vorteilhafter, weil es zu einer Verbesserung der Verwertung beiträgt? ({10}) An diesen Maßstäben haben wir neue Konzepte zu prüfen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nächster Redner ist der Kollege Gerd Bollmann von der SPD-Fraktion.

Gerd Bollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003508, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Homburger, auf die Qualität der Untersuchungen möchte ich nicht mehr eingehen, weil das meine Vorrednerinnen sehr ausführlich getan haben. Mülltrennung vereinfachen und Haushalte entlasten das hört sich im ersten Moment gar nicht schlecht an. Vereinfachung und Entlastung sind hehre Ziele, die in den gesellschaftlichen Grundkonsens und den Kontext der populistischen Forderungen der FDP passen. Aber genau wie bei der Forderung nach einer radikalen Steuervereinfachung verschleiern die Liberalen meines Erachtens auch hier die wahren Ziele. Die Konsequenzen der auf den ersten Blick simplen Forderung der FDP werden nicht erwähnt. ({0}) Was bedeutet die Durchführung für die Abfallwirtschaft und für die Abfallpolitik insgesamt? Wie sind die Auswirkungen auf unser Ziel der Abfallvermeidung und der Ressourcenschonung? Welche Folgen ergeben sich für die Produktverantwortung und die Verantwortung der Hersteller und Abfallproduzenten? Wie verändern sich die Zuständigkeiten für die Abfälle? Inwiefern müssen wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, die Verpackungsverordnung und die darauf beruhenden Bestimmungen sowie existierenden Strukturen verändern? Allein die Aufzählung dieser wenigen Fragen zeigt, dass die Folgen dieses Antrages zumindest weitreichender sein können. Ich denke, sie wären wesentlich weitreichender, als die FDP es uns in ihrem Antrag glauben machen will. ({1}) Schauen wir uns die praktischen Konsequenzen für die Verpackungsverordnung und die Produktverantwortung an. Mit der Verpackungsverordnung wurde den Herstellern die Verantwortung für die Verwertung der von ihnen produzierten Verpackungen und damit die Kosten übertragen. Damit ist die Produktverantwortung auf die Hersteller übergegangen. Der Handel sollte die Rücknahme organisieren. Um aber dem Handel die Kosten zu ersparen, wurde nicht zuletzt auf Betreiben der FDP das System des grünen Punktes eingeführt. Das Duale System Deutschland erblickte das Licht der Welt. Gleichzeitig wurde den Kommunen die Zuständigkeit für den Verpackungsmüll entzogen. Deshalb war es auch nur logisch, die Verpackungsabfälle getrennt zu erfassen. Nicht nur die organisatorische Zuständigkeit sprach für eine getrennte Erfassung, sondern auch ökologische Gründe sprachen dafür: Je reiner der gesammelte Stoff, desto größer ist die Chance, eine hochwertige Verwertung vorzunehmen. ({2}) Für uns ist die stoffliche Verwertung dort, wo sie sinnvoll angewandt werden kann, die hochwertigste Form. Die FDP schlägt hier aber nur die energetische Verwertung, also die Verbrennung vor. ({3}) Es stellt sich nun die Frage, ob die energetische Verwertung eine hochwertige Verwertung ist, die der stofflichen Verwertung gleichzustellen oder gar um jeden Preis vorzuziehen ist. Wir sind also wieder am Ausgangspunkt des Streites um das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz angekommen. Unter welchen Bedingungen findet die energetische Verwertung statt? Bereits vor 20 Jahren wollten viele Vertreter der Industrie Abfall als angeblich ökonomisch günstigste Variante verbrennen. ({4}) Die gründliche Diskussion hat ergeben, dass die stoffliche Verwertung und besonders die Abfallvermeidung ökologisch und ökonomisch, auch unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenschonung, meistens der beste Weg sind. Ebenso wollen wir die Produktverantwortung und die Abfallvermeidung nicht aufgeben. Mit dem großflächigen Produzieren von Ersatzbrennstoffen verabschieden wir uns von der klaren Zuordnung der Verantwortung und von einer Kreislaufwirtschaft, die diesen Namen verdient. Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung bedeuten, bereits bei der Herstellung darauf zu achten, dass hinterher möglichst wenig Abfall entsteht und dass eine stoffliche Verwertung möglich ist. Wer denkt darüber schon nach, wenn am Schluss ohnehin alles verbrannt wird? Wer am Ende für die Kosten aufkommt, wird von der FDP gar nicht erst beleuchtet. Wir lehnen die Übernahme der Kosten durch die Gesellschaft - oder besser gesagt: durch den Gebührenzahler - ab. ({5}) Wir wollen die Verwertung nicht um jeden Preis. Es ist keine Frage, dass es Kriterien für die hochwertige Verwertung geben muss. Ich habe den Eindruck, dass Sie, meine Damen und Herren von der FDP, nur an der Stelle privatisieren wollen, an der gut Geld zu verdienen ist. ({6}) Wir stehen technologischen Neuerungen immer positiv gegenüber, wenn sie auch für die Gesellschaft positiv einzusetzen sind. Wir werden die Folgen aber in jedem Fall im Auge behalten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2193 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carola Reimann, Walter Schöler, Carsten Schneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje Hermenau, Hans-Josef Fell, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems - Drucksache 15/2665 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge Braun, Dr. Maria Böhmer, Katherina Reiche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ressortforschung des Bundes effizienter gestalten und evaluieren - Drucksache 15/1981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Es ist vorgesehen, dass die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Carola Reimann von der SPD-Frak- tion, Helge Braun von der CDU/CSU-Fraktion, Hans- Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen und Ulrike Flach von der FDP-Fraktion zu Protokoll genommen werden.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2665 und Drucksache 15/1981 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 15/2649 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast von der SPD-Fraktion, Jürgen Herrmann und Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler von der FDP- Fraktion, Petra Pau, fraktionslos, und des Parlamentari- schen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper für die Bun- desregierung.2) 1) Anlage 4 2) Anlage 5 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ({5}) - Drucksache 15/2720 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({6}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Bernhard Brinkmann, SPD, Jochen- Konrad Fromme, CDU/CSU, Antje Hermenau, Bünd- nis 90/Die Grünen, und Dr. Günter Rexrodt, FDP.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2720 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? ({7}) Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die Berliner Afghanistan-Konferenz - eine neue Chance für mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau - Drucksache 15/2578 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({8}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fortsetzung des Engagements der Bundes- regierung für den Wiederaufbau- und Stabili- sierungsprozess in Afghanistan - Drucksache 15/2757 - 1) Anlage 6 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hier hat sich doch ein einsamer Redner gefunden. ({10}) Es ist der Kollege Ralf Brauksiepe von der CDU/CSUFraktion. ({11}) Somit eröffne ich die Aussprache und gebe dem Kollegen Brauksiepe das Wort.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In seiner wechselvollen Geschichte ist Afghanistan schon häufig an den Rand der politischen Aufmerksamkeit gedrängt worden. Dies haben viele Menschen und auch die internationale Staatengemeinschaft oft bitter bereut. Wir haben es hier noch geschafft, eine kontroverse Debatte zum Thema Mülltrennung zu führen. Ich begrüße, dass uns das gelungen ist. Ich bedaure aber, dass es nicht möglich ist, zu dem Thema eine Debatte zu führen, wie es in Afghanistan und in Zentralasien, einer Region, die auch für uns von vitalem Interesse ist, weitergeht. Das halte ich für bedauerlich. Dazu passt, dass das für die Anträge federführende Ministerium, wie ich gehört habe, durch die persönliche Referentin der Parlamentarischen Staatssekretärin vertreten ist. Umso mehr freue ich mich, das der Parlamentarische Staatssekretär des BMVg dieser Debatte beiwohnt. ({0}) - Das stimmt. - Dabei bietet diese dritte AfghanistanKonferenz - normalerweise legen wir bei solchen Konferenzen großen Wert auf parlamentarische Beteiligung - in der nächsten Woche eine große Chance, dem Wiederaufbauprozess in Afghanistan gerade vor dem Hintergrund der geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen neuen Schwung zu verleihen, einen Schwung, den das Land im Übrigen dringend braucht. Wir halten es für eine durchaus gute Tradition, dass Deutschland bei den Wiederaufbaubemühungen der internationalen Gemeinschaft eine führende Rolle eingenommen hat. Unabhängig davon, ob Deutschland wirklich am Hindukusch verteidigt wird, haben wir das völlig legitime Interesse, dass von dort keine Gefahren für die Menschen in unserem Land ausgehen. Insofern unterscheidet sich das Engagement der Bundesregierung in Afghanistan wohltuend von der Ohne-uns-Haltung, die die Bundesregierung beim Wiederaufbau des Irak leider noch immer überwiegend einnimmt. Das sei hier einmal herausgestellt. Die Berliner Afghanistan-Konferenz sollte deshalb Anlass sein, das Engagement der internationalen Gebergemeinschaft verstärkt fortzusetzen und gleichzeitig für mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau Afghanistans zu sorgen. ({1}) Die Notwendigkeit, hier zu Verbesserungen zu kommen, steht nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass im Zusammenspiel zwischen der neuen afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in der Tat in Afghanistan viel erreicht worden ist. Ausgehend von einer in jeder Hinsicht desaströsen Lage, in der sich dieses geschundene Land nach dem 11. September 2001 befunden hatte, hat Afghanistan die besten Perspektiven für eine politisch friedliche, wirtschaftlich erfolgreiche und an den Menschenrechten orientierte Entwicklung seit Jahrzehnten. Das Talibanregime, das dem Terrornetzwerk alQaida als Heimstätte diente, war eben nicht nur eine Bedrohung für die gesamte Welt; vielmehr hat dieses Regime, das nicht durch Wahlen, sondern durch Waffengewalt an die Macht gekommen war, in erster Linie den Menschen in Afghanistan selbst Lebens- und Zukunftsperspektiven genommen. Von diesem Regime hat die internationale Gemeinschaft das afghanische Volk befreit. Bei aller berechtigten Kritik an der internationalen Gemeinschaft ist immer darauf hinzuweisen, dass in erster Linie und mit zunehmendem Abstand zum 11. September 2001 die Afghanen und ihre maßgeblichen politischen Persönlichkeiten in zunehmenden Maße selbst für die Entwicklung ihres Landes verantwortlich sind und ihrer Eigenverantwortung gerecht werden müssen. Uns jedenfalls alarmieren Berichte, die wir aus den Reihen der Wiederaufbauhelfer bekommen, wonach sich viele, die mit großem Idealismus und viel Engagement nach Afghanistan gehen, um dort am Wiederaufbau teilzunehmen, bisweilen als Bittsteller gegenüber den afghanischen Behörden oder auch als Melkkühe vorkommen. Es muss gerade im Interesse der Menschen in Afghanistan unsere gemeinsame Aufgabe sein, von den politisch Verantwortlichen vor Ort zu verlangen, dass es zu einer Besserung und dass in den offenbar überall gegenwärtigen bürokratischen Dschungel Bewegung kommt. ({2}) Die rot-grüne Bundesregierung wird es nicht gerne hören, aber richtig bleibt es dennoch: Gravierende Koordinierungs- und Effizienzdefizite beginnen vor unserer eigenen Haustür. ({3}) Die Bundesregierung hat es versäumt, eine zentrale Koordinierungsinstanz für ihre Hilfsaktivitäten zu bestimmen. Die am Wiederaufbau beteiligten Ressorts wie BMZ, AA und Innenministerium zeichnen sich häufig durch gegenseitige Abgrenzung und durch Zersplitterung ihrer Bemühungen anstatt durch enge Koordinierung und Kooperation aus, ({4}) was durch die hier bereits mehrfach erörterte problematische haushaltstechnische Konstruktion, die Sie im Widerspruch zum Grundsatz der Haushaltstransparenz gewählt haben, noch verschärft wird. Es kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, dass das Auswärtige Amt Finanzmittel in Höhe von 30 Millionen Euro aus dem BMZ-Etat zur Durchführung eigener Aktivitäten in Afghanistan erhält, hiervon aber einen erheblichen Teil an das BMI für von dort gesteuerte Maßnahmen weiterleitet und letztlich niemand weiß, wer wofür zuständig ist. Das ist ein schlechtes Beispiel für Koordination „made in Germany“. ({5}) Darüber hinaus zeigt sich leider, dass der wieder erstarkte Drogenanbau zu einem immer größeren Problem für einen nachhaltigen und friedlichen Wiederaufbau Afghanistans wird. Auch darauf weisen unsere NGOs zu Recht hin. Es ist richtig und war in vergangenen Debatten unstrittig, dass die Bundeswehr keine Drogenanbaubekämpfungsarmee ist. Aber es muss uns langsam mehr zu dem Thema einfallen, als nur zu sagen, dies sei nicht Aufgabe der Bundeswehr. Der Drogenhandel ist die wirtschaftliche Basis für viele Warlords und für deren blutige Gefechte. Das Problem muss dringend angegangen werden. Es überlagert sonst dauerhaft unsere Wiederaufbaubemühungen. Mit der Schaffung dauerhafter lukrativer alternativer Einkommensquellen muss endlich begonnen und mit der Vernichtung der Drogenanbaugebiete muss Ernst gemacht werden. Das ist die gemeinsame politische Verantwortung der Gebergemeinschaft. Das ist keine Aufgabe, für die allein die Briten zuständig sind, wo wir beruhigt zuschauen können und mit der wir nichts zu tun haben. Der Erfolg des Ganzen hängt von dem Erfolg auf diesem Gebiet ab. ({6}) Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine friedvolle und insgesamt positive Entwicklung des Landes wird es auch sein, dass all das, worauf sich die Loya Jirga bei der Schaffung einer neuen Verfassung geeinigt hat, nun mit Leben erfüllt wird. Ich denke dabei insbesondere an die Verwirklichung der Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Es darf dabei nicht bei wohlklingenden Worten bleiben. Auch hier ist die Einmischung der internationalen Gemeinschaft, sofern sie notwendig ist, völlig legitim. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, sich bei der bevorstehenden Konferenz für den Abschluss eines neuen mehrjährigen Kooperationsabkommens für Afghanistan unter möglichst breiter Geberbeteiligung einzusetzen und dies mit einem konzeptionell und finanziell angemessenen deutschen Engagement zu untermauern. Wir dürfen uns, was unsere bisherigen Leistungen angeht, nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Wir erwarten darüber hinaus gerade auch als Entwicklungspolitiker eine bessere Verzahnung der zu Recht hoch angesehenen Aufbauarbeit unserer Bundeswehr mit den entwicklungspolitischen Maßnahmen zum Wiederaufbau des Landes. Die vor Ort immer wieder anzutreffenden Vorbehalte aus den Reihen des BMZ gegenüber allem, was irgendwie militärisch ist, müssen endlich der Vergangenheit angehören. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit selbst Mitglieder der Bundesregierung die unbefriedigende Zusammenarbeit gerade mit dem BMZ kritisieren. Wir sind dankbar, wenn uns diese Hinweise gegeben werden. Da wir fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten, ist man versucht, noch einige drastische Zitate zu bringen. Ich will es jedoch bei dem Hinweis bewenden lassen. Ich bin froh, dass die Zusammenarbeit zwischen dem AA und dem Verteidigungsministerium offenbar vernünftig funktioniert. Das BMZ spielt dabei immer wieder eine Außenseiterrolle. Das muss sich ändern. ({7}) Gerade auch vor dem Hintergrund unseres verstärkten militärischen Engagements über Kabul hinaus beim PRT in Kunduz, das wir als Unionsfraktion bei allen berechtigten Bedenken letztlich unterstützt und mitgetragen haben, ist es notwendig, zu Verbesserungen zu kommen. Unsere seit Jahren erhobene Forderung nach einer besseren Koordinierung der Hilfeaktivitäten innerhalb der Bundesregierung wie auch mit der internationalen Gebergemeinschaft bleibt für uns selbstverständlich auf der Tagesordnung. Wenn ich den leider wieder einmal etwas übereilt zusammengeschusterten Antrag von RotGrün zu dieser Debatte lese - bedauerlicherweise spricht ja niemand dazu -, dann stelle ich fest, dass dieses Problem von der Regierung ähnlich eingeschätzt wird wie von uns. Sie haben etwas andere Formulierungen in Ihrem Antrag. Danach soll alles noch besser werden; die Koordinierung soll noch besser und effizienter werden. Das will wohl heißen, dass es erhebliche Probleme gibt. Ich bin froh, dass wir uns in dieser Frage einig sind, wie beim Vergleich der beiden Anträge überhaupt festzustellen ist, dass es in der Substanz deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Eigentlich hätten Sie sich auch einen Ruck geben und dem Antrag der Union zustimmen können. Denn so sehr unterscheidet sich Ihr Antrag nicht von unserem. Ihnen wäre dadurch sicherlich kein Zacken aus der Krone gebrochen. Besonders dringend scheint es uns darüber hinaus zu sein, in koordinierter Weise alle Anstrengungen zu unternehmen, damit in ganz Afghanistan bald glaubwürdige Wahlen in einem sicheren Umfeld stattfinden können. Wir sehen darin auch einen wichtigen Meilenstein für eine konsequente entwicklungsfördernde landesweite Durchsetzung der neuen afghanischen Verfassung und des in ihr verankerten Schutzes der Menschenrechte. ({8}) Dabei sind die führenden afghanischen politischen Persönlichkeiten sicherlich gut beraten, auch nach den Wahlen keine Entscheidungen mit 51-prozentigen Mehrheiten zu suchen, sondern den Wiederaufbau mit einem möglichst breiten Konsens zwischen den verschiedenen Volksgruppen im Lande voranzutreiben. Das ist bekanntlich nicht leicht; es stellt vielmehr ein großes Problem dar. Ich denke hierbei vor allem auch an das nach wie vor spannungsträchtige Verhältnis zwischen den Paschtunen als größter ethnischer Gruppe einerseits und den anderen ethnischen Minderheitengruppen andererseits, die sich, wie wir wissen, auch untereinander nicht immer einig sind. Gerade mit dem paschtunischen Teilvolk kommt es häufig zu Spannungen. Dieser Konsens ist im Übrigen auch eine wichtige Voraussetzung für die von uns angestrebte sichere und freiwillige Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge und Vertriebenen, die in ihrer Heimat dringend gebraucht werden und die sich in ihren Heimatregionen sicher fühlen müssen. Wir wissen alle: Es bleibt noch viel zu tun in und für Afghanistan. Die Berliner Konferenz in der nächsten Woche bietet dafür eine wichtige Chance. Ich gehe davon aus, dass darüber in diesem Haus Einigkeit besteht. Mir ist gesagt worden, ich solle nicht - nicht einmal in objektiver Weise - noch weiter über den rot-grünen Antrag reden; das sehe die Geschäftsordnung nicht vor. Von daher will ich abschließend festhalten: Wir wünschen dieser Konferenz von Herzen allen Erfolg im wohlverstandenen deutschen, europäischen bzw. westlichen Eigeninteresse und vor allem im Interesse der Menschen in Afghanistan, die diesen Erfolg dringend benötigen und verdient haben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Reden der Kollegen Detlef Dzembritzki von der SPD, Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, und Harald Leibrecht, FDP, nehmen wir zu Protokoll. Damit schließe ich die Aussprache.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2578 und 15/2757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2578 - Tagesordnungspunkt 14 - soll abweichend von der ehemaligen Tagesordnung federführend an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel Bahr ({0}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Initiative des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der UNO zur Förde- rung des Sports nachhaltig unterstützen - Drucksache 15/2418 - 1) Anlage 7

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Sportausschuss ({0}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden, und zwar handelt es sich um die Reden der Kol- legen Axel Schäfer von der SPD, Klaus Riegert und Peter Letzgus von der CDU/CSU, Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, und Detlef Parr von der FDP.1) 1) Anlage 8 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. März 2004, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. ({1}) Die Sitzung ist geschlossen.