Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/13/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute bringen wir ein Kernstück unserer Familienpolitik in dieser Legislaturperiode auf den Weg. Mit der Reform von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub machen wir deutlich: Familien sind bei dieser Bundesregierung gut aufgehoben. ({0}) Der Gesetzesentwurf sieht entscheidende Verbesserungen für Familien vor. Da wir eine Debatte darüber sicherlich noch bekommen werden, möchte ich Sie alle aufrufen, eine bessere Bezeichnung für das Wort „Erziehungsurlaub“ zu suchen. Die Bezeichnung „Erziehungszeit“ können wir leider nicht verwenden, da sie sozialrechtlich anders definiert wird. Suchen Sie also alle mit! Mit der Reform des Erziehungsurlaubs wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Väter und Mütter erleichtert. Eltern erhalten mehr Wahlmöglichkeiten für eine individuelle Lebensgestaltung. Mit der Erhöhung der Einkommensgrenzen und der Kinderzuschläge erhalten zukünftig wieder mehr Familien in unserem Land Erziehungsgeld. ({1}) Sie von der Opposition haben über viele Jahre angekündigt, dass Sie die Einkommensgrenzen erhöhen wollen. Es ist aber nie etwas passiert. Wir machen das jetzt. Wir machen eine Familienpolitik, die die Realität in unserem Land im Blick hat. Wir vollziehen mit diesem Gesetzesentwurf die längst überfällige Abkehr vom bisherigen Erziehungsgeldgesetz, das immer noch von der traditionellen Aufgabenverteilung in der Familie mit der Zuweisung der Kinderbetreuung an die Mütter und der Ernährerrolle an die Väter ausgeht. Denn dieses Modell hat heute bei den jungen Menschen, sowohl bei den jungen Frauen als auch bei den jungen Männern, ausgedient. Das zeigen zum Beispiel auch die Ergebnisse der Shell-Studie sehr deutlich. Dem werden wir gerecht. Für die durchweg gut ausgebildeten jungen Frauen ist das berufliche Engagement heute eine Selbstverständlichkeit. Junge Frauen wollen heute beides: Beruf und Familie. Aber auch bei den jungen Männern rangieren Partnerschaft und Familie gleichberechtigt neben dem Beruf. Auch die jungen Väter wollen heute mehr Zeit für ihre Kinder haben; das ist sehr gut so. ({2}) Aber wir wissen, dass es bei den Vätern noch eine erhebliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt. Über 90 Prozent der anspruchsberechtigten Mütter, aber nur wenige Väter nehmen Erziehungsurlaub. Über 98 Prozent der Eltern im Erziehungsurlaub sind Frauen. Unser Ziel ist, gerade das zu ändern und das Verhältnis zugunsten der Väter zu verbessern. ({3}) Mit diesem Gesetz machen wir auch mit der Wahlfreiheit für Eltern bei der Gestaltung der Aufgabenverteilung in der Familie Ernst. Deshalb werden künftig Väter und Mütter gemeinsam Erziehungsurlaub nehmen können. Das bisher starre System des Erziehungsurlaubs, bei dem sich die Eltern entscheiden mussten, welcher der Partner ihn in Anspruch nimmt, ist damit passé. Das ist eine ganz Präsident Wolfgang Thierse entscheidende Verbesserung, die man fast schon als revolutionär bezeichnen kann. ({4}) Mehr Flexibilität erhalten Eltern auch durch das neue Angebot, mit Zustimmung des Arbeitgebers ein Jahr des Erziehungsurlaubs zwischen dem dritten und achten Geburtstag des Kindes zu nehmen, um beispielsweise das erste Schuljahr begleiten zu können. Wir erweitern die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit im Erziehungsurlaub von derzeit 19 Stunden auf bis zu 30 Wochenstunden für jeden Elternteil, der Erziehungsurlaub nimmt. Darauf haben Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Rechtsanspruch. Bei einem gemeinsamen Elternurlaub können Vater und Mutter zusammen jetzt also bis zu 60 Stunden pro Woche arbeiten. Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, warum wir uns für genau dieses Modell der gemeinsamen Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs mit dem Angebot, ihn auch als „Teilzeiturlaub“ gestalten zu können, entschieden haben. Wenn man sich in Europa umguckt, wie die verschiedenen Modelle gewirkt haben und ob sie wirklich dazu geführt haben, dass mehr Väter Erziehungsurlaub nehmen, muss man feststellen, dass selbst im Musterland Schweden, das uns gleichstellungspolitisch um Welten voraus ist, das dortige Modell nicht viel gebracht hatte. Dort gab es bereits ein Jahr Erziehungsurlaub mit einer Lohnersatzleistung als Alternative zur Erwerbsarbeit, aber keinen Teilzeitanspruch. Ergebnis war, dass auch in Schweden über 90 Prozent der Frauen Erziehungsurlaub in Anspruch nahmen. Deshalb setzen wir so sehr auf die gemeinsame Inanspruchnahme mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Bei dieser Regelung müssen Eltern, die Erziehungsurlaub nehmen, nicht ganz aus dem Beruf aussteigen. Das ist gerade für viele Frauen sehr wichtig, die im Erziehungsurlaub Teilzeit arbeiten wollen. Dieses Gesetz ist also nicht nur familienfreundlich, sondern auch sehr frauenfreundlich. Der Bundesregierung geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, bei denen für Mütter und Väter die Zugänge zu beiden Welten, zu Beruf und Familie, offen sind und die auch Übergänge zwischen diesen beiden Welten möglich machen. Aber auch Unternehmen werden von diesen Regelungen profitieren. Der weiterhin bestehende Kontakt zum Beruf, das Nicht-aussteigen-Müssen aus dem Beruf während des Erziehungsurlaubs, die höhere Zufriedenheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die höhere Motivation - das alles sind doch Faktoren, die, wie wir wissen, für Betriebe positiv zu Buche schlagen. ({5}) Familienfreundlichkeit und betrieblicher Vorteil vertragen sich durchaus miteinander. Daher fordere ich die Unternehmen auf, zur Abwechslung einmal Familienfreundlichkeit auch als Väterfreundlichkeit zu praktizieren. Unter Familienfreundlichkeit werden ja meistens Regelungen verstanden, die den Müttern helfen, Beruf und Familie zu vereinbaren. Wir sollten uns auch einmal ein Stückchen mehr auf die Väter konzentrieren; denn auch Väter gehören zur Familie, nicht nur als virtuelle Väter, sondern als ganz real existierende. ({6}) Mit dem vorliegenden Gesetz wird es in Deutschland zum ersten Mal einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben. Ich möchte es ganz klar sagen: Familienpolitik hat mit diesem Gesetz eine hohe Hürde genommen. Es gibt jetzt einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während des Erziehungsurlaubs. Dieser Anspruch gilt in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten, wenn dem keine dringenden betrieblichen Gründe entgegenstehen. Nun wissen Sie alle, dass diese Regelung nicht unumstritten war. Viele Arbeitgeber wollten überhaupt keinen Rechtsanspruch. Andere meinten, wenn schon ein solcher Rechtsanspruch eingeführt werden müsse, dann solle er für Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten oder - besser noch - ab 100 Beschäftigten gelten. Mit der nun vorgesehenen Regelung für Betriebe ab 15 Beschäftigte erreichen wir 75 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Das ist ein Ergebnis, das sich wirklich sehen lassen kann. ({7}) Es ist auch ein Zeichen an die Unternehmen in unserem Land, sich mutiger und innovativer für neue Modelle zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzusetzen und sich auch an die Väter zu wenden. Sie profitieren davon, wie positive Beispiele zeigen. Wir wissen längst, dass flexible Arbeitszeitmodelle Innovationsschübe in den Unternehmen auslösen. Ich weiß durchaus, worüber ich rede: Ich habe lange genug als Arbeitssenatorin in dieser Stadt gearbeitet. Damals haben wir viele solcher Modelle auf den Weg gebracht. Das war für beide Seiten sehr positiv, sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unternehmer. ({8}) Politik für Familie muss auch in der Arbeitswelt ansetzen. Wenn sie das nicht tut, ist sie nicht glaubwürdig. ({9}) Genau dort setzen wir mit der Reform des Erziehungsurlaubs und mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit an. Familien brauchen gemeinsame Zeitstrukturen. Sie brauchen Zeit für gemeinsame Gespräche. Nur so können Kinder und Jugendliche Fürsorge und persönliche Zuwendung erfahren. Nur so können Eltern ihnen jene Werte des menschlichen Zusammenlebens vermitteln, die für die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend sind. Wir verbessern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ganz entscheidend die Rahmenbedingungen für die Eltern, damit sie diesen Ansprüchen gerecht werden können. Da wir wissen, wie viel Familie jungen Menschen bedeutet - das war ein sehr interessantes Ergebnis der Shell-Studie -, muss sich Politik auch darauf einstellen und Möglichkeiten schaffen, damit Familien Zeit füreinander haben und damit es in der Arbeitswelt zu entsprechenden Veränderungen kommen kann. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir genau den Bedürfnissen der Menschen gerecht. Das besagt nicht nur die Shell-Studie. Wir haben vor einiger Zeit eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. Danach waren 68 Prozent der Befragten der Meinung, dass mehr getan werden müsse, damit auch Väter Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Sogar 81 Prozent der Befragten sprachen sich für einen Anspruch auf Teilzeitarbeit im Erziehungsurlaub aus. Wir sorgen also mit unserem Gesetz dafür, dass die Übernahme der Elternverantwortung nicht gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf andere Gestaltungsmöglichkeiten. Gerade das ist es, was junge Leute in unserem Land zu Recht von uns erwarten. Dem wollen wir gerecht werden. ({10}) Es ist für mich eine Frage der Chancengleichheit von Familien in unserer Gesellschaft, wenn Familien nicht auf Dinge verzichten müssen, die für andere selbstverständlich sind. Chancengleichheit beginnt auch damit, dass die finanziellen Verhältnisse der Familien mit geringen und mittleren Einkommen verbessert werden. Genau das tun wir mit diesem Gesetzentwurf auch: In Zukunft werden wieder mehr Eltern Erziehungsgeld erhalten. Das ist ein Verdienst dieser Regierung. ({11}) Nach 14 Jahren Stillstand, in denen sich nichts getan hat, erhöhen wir die seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im Jahre 1986 unverändert gebliebenen Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des Kindes. ({12}) - Es ist so: Die Einkommensgrenzen sind nicht erhöht worden. Wir erhöhen sie jetzt um etwa 10 Prozent. ({13}) Wir erhöhen auch den Kinderzuschlag stufenweise um jährlich 14 Prozent. Das ist ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt. ({14}) Das ist notwendig, weil derzeit nur noch etwa 50 Prozent der Familien ab dem siebten Lebensmonat des Kindes den vollen Betrag des Erziehungsgeldes erhalten. Ich will noch auf eine weitere Verbesserung hinweisen. Wir haben den jungen Familien folgendes Budgetangebot unterbreitet: Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, bekommen ein höheres Erziehungsgeld von dann 900 DM; derzeit sind es maximal 600 DM. Es gibt insbesondere in den neuen Bundesländern eine Menge Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub nehmen; für diese Eltern erhöhen sich die finanziellen Zuwendungen ganz erheblich, nämlich um 50 Prozent. Dieser Gesetzentwurf fügt sich somit in die Reihe der Maßnahmen ein, die wir zur Verbesserung der finanziellen Situation der Familien bereits auf den Weg gebracht haben, und zwar vom ersten Tage unserer Regierung an. Sie wissen: Wir haben das Kindergeld erhöht und es hat erhebliche Verbesserungen durch das Steuerentlastungsgesetz gegeben. In diesem Jahr wird eine durchschnittliche Familie mit zwei Kindern insgesamt um gut 2 000 DM entlastet. Im Jahr 2001 werden es fast 3 000 DM und im Jahr 2005 über 4 000 DM sein. Mit diesen Mosaiksteinen verbessern wir die finanzielle Situation der Familien weiterhin. Das kann sich sehen lassen und die Familien in unserem Land wissen es zu schätzen. ({15}) Wir reden eben nicht nur darüber, wie wichtig uns Familien sind, sondern wir tun auch etwas: Wir entlasten die Familien finanziell und wir nehmen die notwendigen strukturellen Verbesserungen vor, damit die Familien mehr Wahlmöglichkeiten haben. Die geschätzten Mehrkosten des Bundes für diese Reform zugunsten der Familien betragen jährlich etwa 300 Millionen DM. Diese Novellierung ist durch eine gemeinsame Kraftanstrengung der gesamten Bundesregierung und der Regierungsfraktionen zustande gekommen. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen für ihr Engagement zum Wohle der Familien auch in Zeiten angespannter öffentlicher Haushalte danken. Ich denke, auch die Familien werden diesen Dank aussprechen. ({16}) Wir machen mit diesem Gesetzentwurf deutlich: Diese Regierung will den Menschen Mut zur Familie machen. Wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, die Frauen und Männern mehr Optionen in ihrer Lebensgestaltung eröffnet und die bessere Bedingungen schafft, um Familienleben und Arbeitswelt zu vereinbaren. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Diemers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000388, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Palmenstrand, Sandburgen bauen an der Ostsee, Ferien auf dem Bauernhof und Wanderungen im Schwarzwald - das ist Urlaub. Zeit für Kinder zu haben, den Erziehungsauftrag mit all seinen Schwierigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen wahrzunehmen und auch die schwierigen beruflichen PerspekBundesministerin Dr. Christine Bergmann tiven nicht aus den Augen zu verlieren sind dagegen kein Urlaub. ({0}) Es ist keineswegs Urlaub, ein krankes Kind zu pflegen, wenn es quengelig ist, wenn es liebebedürftig ist oder wenn es zahnt. Es ist natürlich, dass es zahnt; aber es ist für die Familien kein normaler Alltag, sondern eine besondere Situation mit außergewöhnlichen Belastungen. Nicht durchschlafen zu können, sich zu sorgen, nicht abschalten zu können, immer für das Kind da zu sein - ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Daher ist es erstaunlich, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die aktuelle Diskussion um die Umbenennung des Begriffs „Erziehungsurlaub“ ignorieren. Aber, Frau Ministerin, Sie haben uns ja gerade aufgefordert, einen besseren Begriff zu finden. Eigentlich müsste es bekannt sein, dass die CDU/CSU für den Begriff „Erziehungszeit“ plädiert. ({1}) Wir wollen mit der zeitgemäßen Begriffsänderung deutlich machen, dass es sich nicht um eine Erholungsphase für Mütter und Väter handelt, sondern dass den Eltern mehr Zeit für die Familie, für die Kinder gegeben werden sollte. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Interessen und Bedürfnisse der Kinder werden in Ihrem Gesetzentwurf nur mangelhaft gewahrt - auch wenn Sie das anders ausdrücken -, da sie als eigene kleine Persönlichkeiten eine nur untergeordnete Rolle spielen. Ich verdeutliche dies anhand der Schilderung einer Familiensituation. Klassische Familie: Vater, Mutter, Kind. Beide Elternteile gehen arbeiten, sagen wir, zum Beispiel, der Vater 40 Stunden, die Mutter 30 Stunden - so wie Sie es in Ihrem Entwurf vorschlagen. ({3}) Die Mutter geht also zum Beispiel täglich von 9 bis 15 Uhr arbeiten oder sie geht ganztägig arbeiten und hat pro Woche einen freien Tag. ({4}): Der Vater bleibt zu Hause!) In ihrer verbleibenden freien Zeit erledigt sie die Hausarbeit, die Einkäufe, Behördengänge, ({5}) alles - kurz gesagt -, was klassischer Weise bei demjenigen Partner hängen bleibt, der etwas mehr Freizeit hat. Auch die jungen Mütter, die hier im Parlament sind, können ein Lied davon singen, und insbesondere die alleinerziehenden. ({6}) Ach ja, da war ja noch das Kind. Das Kind - vielleicht im Alter von sechs oder 18 Monaten - ist mindestens sieben Stunden - An- und Abfahrt inklusive - bei einer Kinderbetreuung, welcher Art auch immer. Wenn Sie auf Mütter und Väter gehört hätten, wüssten Sie, dass eine derartige Konstellation puren Stress bedeutet. Die erste Reaktion auf diese Schilderung müsste eigentlich sein: Wir müssen unbedingt den Erziehungsurlaub bzw. die Erziehungszeit einführen. Dem müsste ich entgegnen: In den 30 Stunden bzw. 70 Stunden für beide Elternteile ist der Erziehungsurlaub nach den Plänen der SPD und der Bündnisgrünen schon enthalten. Und ich füge hinzu: Dies ist das alte linke Dogma von außerhäuslicher Erwerbsarbeit beider Elternteile um jeden Preis. ({7}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zwar findet Ihre Forderung nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit auch in unseren Reihen Unterstützung, vehemente Unterstützung, aber nicht die Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 19 Stunden auf 30 Stunden. Das würde nämlich bedeuten, dass bei gleichzeitigem Anspruch auf Erziehungsgeld bis zu 70 Stunden pro Woche gearbeitet werden könnte. Wohlgemerkt: bei Inanspruchnahme der Erziehungszeit durch ein Elternteil. ({8}) Dieser Ausbau höhlt das Ziel, den Grundgedanken und die ursprüngliche Philosophie des Erziehungsurlaubs aus, nämlich trotz Berufsleben mehr Zeit für die Betreuung und Erziehung der Kinder insbesondere in den ersten Lebensjahren zu haben und durch das Erziehungsgeld den Verlust des verloren gegangenen zweiten Einkommens etwas auszugleichen. ({9}) Wir stimmen mit Ihnen überein, ({10}) dass die Schaffung der Möglichkeit der gemeinsamen Erziehungszeit von Mutter und Vater verstärkt angestrebt werden muss. Wenn es aber ein Anreiz für die Väter sein soll, dass sie neben der Erziehungszeit möglichst viel außerhäuslich arbeiten dürfen, läuft doch irgendetwas falsch. Ich frage Sie - Frau Ministerin, Sie haben ja von der Wichtigkeit der gemeinsamen Zeit gesprochen -: Wie viel Zeit verbringen denn die Familien überhaupt noch miteinander? ({11}) Selbst bei 30 Stunden wird es schwierig, das Kind - ich spreche von dem Kleinkind - wach anzutreffen, insbesondere in den ersten Lebensmonaten. Außerdem wird suggeriert, dass die Erziehung der Kinder keine wesentliche Veränderung des Alltagslebens bedeutet. Wir schlagen Ihnen vor, dass nur bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Erziehungszeit - unabhängig von der Verteilung zwischen den Partnern; das ist der Unterschied zu Ihrem Entwurf - im Sinne des Kindeswohls eine maximale Obergrenze von 60 Stunden außerhäuslicher Erwerbsarbeit möglich wird. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pläne zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes weisen zugegebenermaßen auch gute Ansätze auf, die die CDU bereits im letzten Jahr in ihrem familienpolitischen Papier formuliert hat. ({13}) Hierzu gehört die Möglichkeit zur variablen Einteilung der Erziehungszeit in den ersten acht Lebensjahren, um zum Beispiel in der schwierigen Phase der Einschulung wieder mehr Zeit für das Kind zu haben. ({14}) Aber es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei - ich sage das in aller Deutlichkeit, weil immer wieder der Versuch unternommen wird; Sie werden das von Fachleuten, Verbänden und Eltern bestätigt bekommen -: Die ersten Lebensjahre prägen das Leben eines Kindes so stark, ({15}) dass auf eine möglichst umfassende Betreuung durch die Eltern nicht verzichtet werden kann. Keine außerhäusliche Kinderbetreuung kann die Eltern voll ersetzen. Das hat überhaupt nichts mit einer Kochtopfmentalität zu tun, wie Sie es uns in den 80er-Jahren ja immer vorgehalten haben. Hier geht es um das Wohl des Kindes. Natürlich müssen wir die Rahmenbedingungen verbessern. Durch Ihr Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wird die nötige Wahlfreiheit für Mütter und Väter nicht geschaffen. Ganz im Gegenteil: Sie zementieren, dass Frauen auch mit Kleinkindern arbeiten gehen müssen. ({16}) Ich bin der Meinung, wir müssen alles tun, um die Wahlmöglichkeiten auszubauen, sodass sich Frauen zum Beispiel ohne Angst vor Karriereknicken und ohne große finanzielle Einbuße für eine Erziehungszeit entscheiden oder eben Berufstätigkeit und Erziehung - allerdings kindgerecht - unter einen Hut bekommen können. Das gilt natürlich genauso für die Väter. Die CDU/CSU hat seit 1986, auch wenn es hier immer heißt, in den 16 Jahren sei nichts passiert, im Bundeserziehungsgeldgesetz die staatlichen Leistungen, wie zum Beispiel die Anrechnung von Erziehungszeiten, stetig verbessert. ({17}) Die Dauer des Erziehungsurlaubs, wie es damals noch hieß, wurde von zehn Monaten auf heute drei Jahre ausgeweitet. Wir geben es gerne zu: Finanzprobleme haben uns in den letzten Jahren unserer Regierungszeit leider gehindert, zum Beispiel das Erziehungsgeld von 600 DM und vor allem die Einkommensgrenzen zu erhöhen. Uns war aber auch bewusst, eine Erhöhung bringt nur dann etwas, wenn zur Finanzierung der Beträge die Familien nicht an anderen Stellen stärker belastet werden. ({18}) Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielsweise die Ökosteuer. ({19}) Sie erhöhen nun das Erziehungsgeld auf 900 DM. Das hört sich gut an, hat aber einen ziemlich unangenehmen Haken: Die Erziehungszeit wird auf ein Jahr beschränkt. ({20}) Was ist, wenn sich Eltern, von der scheinbar höheren Summe geblendet, für die Zahlung von 900 DM über ein Jahr entscheiden und in sechs Jahren feststellen, dass zur Einschulung des Kindes ein weiteres Erziehungsjahr mit finanzieller Unterstützung sinnvoll wäre? Ich frage mich auch, wie viele Eltern trotz der Erhöhung der Einkommensgrenzen überhaupt in den Genuss der 900 DM kommen, wenn sie durch die erhöhte Zahl der Arbeitsstunden auch ein erhöhtes Einkommen haben. ({21}) Budgets haben sich im Gesundheitswesen nicht bewährt. Sie sollten auch in der Familienpolitik davon keinen Gebrauch machen. ({22}) Auf diesen Punkt wird aber mein Kollege Herr Holetschek noch entsprechend eingehen. ({23}) Zum Schluss möchte ich doch noch einmal ein Wort zur Anzahl der erlaubten Wochenarbeitsstunden sagen. Über die sich daraus ergebenden höheren Einkommen und die damit verbundenen höheren Abgaben freuen sich, laut Ihren eigenen Aussagen, insbesondere die gesetzlichen Krankenversicherungen. Für wen machen Sie denn Ihre Gesetze? Sie können doch ein Leistungsgesetz für Familien nicht unter dem Aspekt verändern, dass sich am Ende nur die Sozialkassen über die Mehreinnahmen freuen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich appelliere daher an uns alle - ich sage bewusst: an uns alle -: Wir sollten bei aller Notwendigkeit, Regelungen zur Ermöglichung einer gleichberechtigten Lebensgestaltung von Frauen und Männern zu treffen - dafür habe ich seit vielen Jahrzehnten gekämpft -, ({24}) das Wohl des Kindes nicht außer Acht lassen. Ich danke Ihnen. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Diemers, ich habe mir schon die Frage gestellt, wie Sie es wohl schaffen könnten, gegen diesen guten Gesetzentwurf zu argumentieren. Jetzt muss ich feststellen, dass es Ihnen nicht besonders gut gelungen ist. ({0}) Einen neuen Begriff für das Gesetz zu finden oder den Sozialismus auszurufen, wenn Mütter neben der Kindererziehung auch der Erwerbsarbeit nachgehen, ist nicht sehr überzeugend. Ich habe da andere Sorgen. ({1}) Ich frage mich, wie es denn eigentlich um die Demokratie der Geschlechter bestellt ist, wenn eine Maßnahme zu 98 Prozent von einem Geschlecht, nämlich von den Frauen, und zu weniger als 2 Prozent von dem anderen Geschlecht, nämlich den Männern, in Anspruch genommen wird. Ich behaupte: schlecht. Gemeint ist hiermit der Erziehungsurlaub. Es gibt in der Tat aber auch Gründe, warum so wenig Väter von ihrem Recht, wenigstens einen Teil des Erziehungsurlaubes zu nehmen, Gebrauch machen. Noch immer sind ihre Einkommen meist weit höher als die der Ehefrauen. Die Frage, wer für die Erziehung des Kindes aus dem Beruf aussteigt, stellt sich faktisch nicht, soll nicht das Familieneinkommen bedrohlich sinken. Den wenigen Vätern, die ihre Arbeitszeit wegen der Kinder reduzieren wollten, zeigten die Arbeitgeber bisher die kalte Schulter. So waren es meist die Frauen, die in der Regel für drei Jahre - die Hälfte davon für immer - aus ihrer Erwerbsarbeit ausgestiegen sind. Dieses haben Politik und Gesellschaft bewusst oder zumindest billigend in Kauf genommen. Väter hatten nie ein Problem, Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Sie wurden weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitsamt gefragt, wie sie denn ihre Kinder während der Erwerbsarbeit versorgten. ({2}) Diese Frage wurde immer nur an berufstätige und arbeitssuchende Frauen gerichtet. Nun ist ja die Geduld der Frauen sprichwörtlich. Die einseitige Zuweisung der Familienarbeit zeigt aber gerade bei den jungen Frauen Wirkung. Sie verweigern sich nämlich. Vor die Alternative gestellt, zwischen Beruf oder Kindern entscheiden zu müssen, treffen sie die Entscheidung für den Beruf. Dies besagt eine neue Studie. So wundert es nicht, dass künftig jede dritte Frau kinderlos bleiben wird und dass die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahre 2020 - Zahlen belegen dies - um 10 Millionen schrumpfen wird. Fragt man allerdings die jungen Frauen nach ihren Zukunftsperspektiven, so ist die Antwort von bestechender Klarheit: Sie wollen einen existenzsichernden Beruf und eine Familie; sie wollen Zeit für Hobbys und bürgerschaftliches Engagement. Eine partnerschaftliche Aufteilung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit ist also das Gebot der Stunde. Darum freue ich mich, dass wir heute so etwas wie eine kleine Revolution im Bundestag einleiten können. ({3}) Herr van Essen, ich finde es in der Tat revolutionär, wenn Männer, die ihre Identität häufig über ausgedehnte Arbeitszeiten, Überstunden oder Unabkömmlichkeit definieren, als Väter - ebenso wie die Mütter - einen Anspruch auf Reduzierung ihrer Arbeitszeit um bis zu 30 Stunden während des Erziehungsurlaubs haben. Das ist mit dem Recht verbunden, zur vollen Arbeitszeit zurückzukehren. Wir wollen, dass Väter und Mütter zudem die Möglichkeit haben, gleichzeitig den Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen. Frau Diemers, „gleichzeitig“ heißt: Vater und Mutter zusammen, also kein Sozialismus. Diese Vorschriften stärken insbesondere die Rechte der Väter; denn wegen des überkommenen Rollenverständnisses haben es Väter bisher ungleich schwerer, ihre Arbeitgeber von der Verkürzung ihrer Arbeitszeit zu überzeugen, als es bei Frauen der Fall ist. Diese Diskriminierung von Männern wollen wir mit dem heutigen Gesetzentwurf beenden. Davon profitieren alle. ({4}) Es profitieren die Männer, weil sie eine wichtige Bereicherung ihres einseitig auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Lebens erfahren - aus dem „Big Boss“ wird der „Big Daddy“ -; die Kinder profitieren, weil sie nicht länger in einer vaterlosen Gesellschaft leben müssen; ({5}) die Frauen profitieren, weil sie nicht mehr allein für die Familien- und Erziehungsarbeit zuständig sind. Letztendlich profitieren auch die Betriebe, weil sie qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an sich binden können. Zudem wird auf die besonderen Belange der Betriebe Rücksicht genommen. Sie erhalten nämlich das Recht, von den Bestimmungen abzusehen, wenn dringende betriebliche Gründe der Reduzierung der Arbeitszeit von Eltern entgegenstehen. Deshalb finde ich es schade, dass auf Druck der Wirtschaft dieser Rechtsanspruch nur für Beschäftigte in Betrieben ab 16 Vollzeitbeschäftigten oder ab 32 Teilzeitbeschäftigten gilt. Damit werden fast 90 Prozent der Betriebe und 8 Millionen Beschäftigte von dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ausgeschlossen. Wie gut gerade kleine Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigten mit teilzeitbeschäftigten Frauen arbeiten, zeigt die Tatsache, dass in diesen Betrieben die Teilzeitquote von Frauen bei 78 Prozent liegt. Die Eingabe der Handwerkskammer, das Gesetz erst für Betriebe ab 50 Beschäftigte gelten zu lassen, spricht Bände. Es heißt doch nichts anderes als: Wir sind für das Gesetz, aber bitte nicht bei uns. - Oder kennen Sie viele Handwerksbetriebe mit über 50 Beschäftigten? Die Möglichkeit, ein Jahr des Erziehungsurlaubs bis zum achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch zu nehmen, ist ein wichtiger Reformschritt; denn noch immer haben Eltern bei der Einschulung ihrer Kinder Probleme. Gerade im ersten Schuljahr stehen die Kinder bereits nach zwei oder drei Stunden häufig wieder vor der Wohnungstür. An eine Erwerbsarbeit - auch nicht in Teilzeit ist dabei nicht zu denken. Bis zu einer verlässlichen Betreuung in der Grundschule oder in Horten brauchen wir neben Ganztagsschulen flexiblere Arbeitszeiten der Eltern mindestens bis zum achten Lebensjahr des Kindes. Dass dieses dritte Jahr des Erziehungsurlaubs rechtlich nicht abgesichert ist, weil es von der individuellen Zustimmung eines Arbeitgebers abhängig ist, ist ein Problem, das wir in einer Anhörung noch näher beleuchten sollten. Aber die positiven Aspekte des Gesetzentwurfs sind unübersehbar. Wir setzen zugleich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 1998 um, in dem gefordert wurde, dass der Staat die Voraussetzung dafür schafft, dass die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgaben nicht zu beruflichen Nachteilen führt und dass ein Nebeneinander von Erziehung und Erwerbsarbeit, Frau Diemers, für beide Elternteile ermöglicht wird. Dazu hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgefordert. Dies haben wir in unserem Entwurf getan. Wir hoffen, dass die 20 Prozent der Väter, die sich schon jetzt dazu bekennen, dieses Angebot auch annehmen. ({6}) Ebenfalls wird die finanzielle Situation der Kinder mit diesem Gesetz verbessert. Auch wenn die Einkommensgrenzen nur um circa 10 Prozent und die Kinderzuschläge für Mehrkinderfamilien 2001 zunächst um 14 Prozent, in Stufen bis 2003 aber bis auf 6 000 DM erhöht werden, ist dies in Zeiten von Sparhaushalten mehr, als die alte Bundesregierung in zwölf Jahren des Bestehens des Bundeserziehungsgeldgesetzes auf den Weg gebracht hat. ({7}) Sie haben es zugelassen, dass seit 1986 von ehemals 96 Prozent heute gerade einmal 47 Prozent der Eltern das ungeschmälerte Erziehungsgeld erhalten. ({8}) Nun kritisieren Sie uns, dass wir zu wenig tun! ({9}) - Wir haben das getan. Ich hätte auch gerne mehr, aber Sie merken doch wohl, dass Sie sich eigentlich für das kritisieren, was Sie selbst in drei vollen Legislaturperioden unterlassen haben. ({10}) Wenn jetzt die CDU/CSU drei Jahre lang 1 000 DM monatlich fordert - das sind im Jahr 15 Milliarden DM Mehrkosten -, scheint mir das eher ein Oppositionsreflex zu sein als ein ernsthafter Vorschlag. ({11}) Ich frage Sie: Wer hat Sie denn eigentlich daran gehindert, in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit das umzusetzen, was Sie uns heute vorschlagen? - Wir waren das nicht. ({12}) Besonders zynisch ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag der bayerischen Schwesterpartei. Sie arbeitet quasi mit Zuckerbrot und Peitsche. Leider sehe ich heute niemanden hier von den Familienpolitikerinnen. Wer so lebt, wie es sich die CSU vorstellt und es vorschreibt, wird belohnt. Wer es sich erlaubt, andere Familienformen zu leben, wird bestraft. Verheiratete Mütter sollen 1 000 DM monatlich erhalten, Alleinerziehende vielleicht auch. Aber für Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwachsen, soll es kein Familiengeld geben. Das ist einfach nur schäbig. ({13}) Verehrte Kolleginnen aus Bayern - leider sehe ich Sie nicht -, sind Sie wirklich so realitätsfremd, dass Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass gerade bei lesbischen Paaren sehr häufig Kinder aufwachsen? Welchen Grund haben Sie dafür, diese Kinder zu diskriminieren? ({14}) Auch von der F.D.P., die uns in einem heute eilig eingebrachten Antrag ({15}) - ja, gestern Abend, per Fax - auffordert, das Erziehungsgeld auf 800 DM zu erhöhen, habe ich in den vergangenen Jahren - das waren ja sehr viele der Regierungsbeteiligung, Frau Lenke - derartige Forderungen vermisst. ({16}) Wie kleinkariert sind Sie eigentlich, dass Sie in ein Gesetz schreiben wollen, dass ein Wechsel der Steuerklasse ein Jahr vor der Geburt bei der Auszahlung des Mutterschaftsgeldes nicht berücksichtigt werden darf? Frau Kollegin Lenke, ich glaube, da ist die Steuerfachfrau mit Ihnen durchgegangen. ({17}) Welches Bild haben Sie eigentlich von der bösen Mutter, die durch eine Steuerklassenveränderung 30 DM Mutterschaftsgeld zusätzlich erhält? Hätten Sie in der Vergangenheit mit dieser Verve Steuerverkürzungstatbestände bei den großen Einkommen verfolgt, hätten Sie uns hier nicht einen so maroden Haushalt hinterlassen. ({18}) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P., so gerne ich aus familienpolitischer Sicht Ihre Vorschläge zur Erhöhung der Leistung positiv bewerten möchte, ich kann sie nicht ernst nehmen, weil sie zu durchsichtig sind. Mit solchen Schauanträgen ohne ernsthafte Vorschläge für eine Finanzierung ({19}) werden Sie auch die Wähler und Wählerinnen in Nordrhein-Westfalen nicht gewinnen. Das durchschauen die Menschen einfach. ({20}) Wir bieten ein verlässliches Konzept für eine partnerschaftliche Gestaltung der Erziehungsarbeit. Wir unterstützen Eltern darin, dass aus ihrem Kinderwunsch auch Realität werden kann. Wir unterstützen Frauen in ihren Ansprüchen auf eine existenzsichernde Arbeit und wir sichern eigenständige Ansprüche für eine auskömmliche Alterssicherung. Endlich haben Eltern eine wirkliche Wahlfreiheit. ({21}) Ich hoffe, dass wir im Laufe der Beratung noch dazu kommen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Guten Morgen! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1986 ist das Bundeserziehungsgeldgesetz in Kraft getreten. Es regelt unter anderem, dass Mutter oder Vater während des Erziehungsurlaubes Teilzeit arbeiten können, und auch die Höhe und die Dauer des Erziehungsgeldes. Hervorzuheben ist - es wird sicherlich auch Ihre Zustimmung finden, dass man das hier noch einmal sehr deutlich sagt -, dass in den ersten drei Lebensjahren Kündigungsschutz besteht. ({0}) Das war 1986 sicherlich ein Grund, dieses Gesetz zu formulieren und zu verabschieden, damit die Mütter wirklich Arbeitsplatzschutz haben. Darüber sind wir uns ja einig. Wenn die Ministerin sagt: „Es geht los“ und Frau Schewe-Gerigk von der großen Leistung spricht, die hier stattfindet, frage ich Sie: Haben Sie in der Vergangenheit eine parlamentarische Initiative zur Erhöhung des Erziehungsgeldes gemacht? ({1}) Haben Sie da etwas gemacht? ({2}) - Jedes Jahr parlamentarisch? Das werde ich noch einmal nachprüfen. Wir wollen uns dann im Ausschuss einmal darüber unterhalten, was Sie damals gefordert haben und was Sie heute fordern. Denn heute sind Sie in der Verantwortung. ({3}) Meine Damen und Herren, die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Änderungen sind wieder einmal nicht der große Wurf. Das sage ich hier ganz deutlich. ({4}) Daraus macht auch die Rhetorik, die Sie heute vorbringen, nicht unbedingt mehr. Sie haben auch im letzten Jahr, als uns das Bundesverfassungsgericht den Auftrag gegeben hat, die steuerliche Entlastung von Familien zu überprüfen, nur sehr wenig für die Familien getan und sind an der unteren Grenze geblieben. ({5}) Ich möchte zu dem vorliegenden Entwurf des Bundeserziehungsgeldgesetzes kommen. Sie formulieren politische Ziele, an denen Sie sich auch messen lassen müssen. Erstens zu den strukturellen Verbesserungen beim Erziehungsgeld und beim Erziehungsurlaub. Das ist in Maßen passiert. Das gebe ich gerne zu und das finde ich auch so in Ordnung. Bei einem zweiten Punkt werden wir nicht den erhofften Erfolg haben. Sie wollen den Anreiz für Väter, Erziehungsurlaub zu nehmen, erhöhen. Meine Damen und Herren, zu Beginn möchte ich noch einmal anmerken, dass Sie immer noch den Begriff „Erziehungsurlaub“ verwenden. Etwas anderes ist Ihnen nicht eingefallen. Wenn Sie so lange und so gründlich an diesem Gesetz gearbeitet haben, wie Frau Schewe-Gerigk gesagt hat, frage ich mich, warum Ihnen da kein anderer Begriff eingefallen ist. Das wurde jedenfalls nicht geändert. Wir haben „Erziehungszeit“ vorgeschlagen. Wir werden uns jedenfalls nicht mit Ihnen auf den Begriff „Erziehungsurlaub“ einigen - ganz einfach, weil es die Männer bei diesem Begriff noch schwerer haben, diesen so genannten Urlaub zu nehmen. Wir alle, die wir Kinder erzogen haben, wissen, dass das kein Urlaub ist, dass das - verdammt noch mal - Arbeit ist. ({6}) Von daher lassen Sie uns - das ist keine Wortklauberei einen anderen Begriff finden. So geht das nicht. Der jetzige Begriff ist diskriminierend für Männer und für Frauen. Nun zum Inhalt dieses Gesetzes. Unseres Erachtens wird das Ziel nicht erreicht, dass nämlich 98,5 Prozent der Väter mit diesem Gesetz überzeugt werden, Erziehungszeit zu nehmen. Mit einer angebotenen Reduzierung der Arbeitszeit von nur sieben Stunden wöchentlich wird die Erziehungszeit nämlich nicht gelebt und nicht praktiziert werden können. ({7}) Das ist keine Teilzeitarbeit, sehr geehrte Frau Ministerin, das ist eher Vollzeitarbeit. Sie mögen damit den Versuch unternehmen, Männern einen Einstieg in ihre Erziehungszeit durch geringe zeitliche Reduzierung der Wochenarbeitszeit schmackhaft zu machen. Aber eine echte Entlastung für die Frauen, die heute leider immer noch den größten Teil der Erziehungsarbeit übernehmen, wird das nicht sein. Uns Frauen wird es leider nicht helfen. Durch das Gesetz werden die bestehenden hohen Hürden nicht abgebaut. Ich weiß, das können Sie nicht; das werden wir sicher auch nicht können. Aber wir müssen andere Möglichkeiten finden. Die Hemmnisse sind der drohende Karriereknick und das Unverständnis von vielen von uns, auch Männern das einmalige Erlebnis zuzugestehen, für die Erziehung ihrer Kinder in den ersten Lebensjahren umfassend verantwortlich zu sein. Daran müssen wir alle gesellschaftspolitisch arbeiten. Meine volle Aufmerksamkeit hat der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit in Ihrem Gesetz. Das ist neu. Wenn man sich aber nicht einigt, soll es - das steht in Ihrem Gesetzentwurf - vor Gericht ausgefochten werden. Ich denke, das ist keine gute Lösung; das sollten wir nicht machen. Ich will noch einen Punkt in Ihrem Gesetz ansprechen, der auch etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun hat. In der letzten Woche hat mich die treuherzige Aussage der Staatssekretärin auf meine Frage, wie die Betriebsgröße von 15 Mitarbeitern beim Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit zustande gekommen sei, empört. Sie sagte: Wir haben mit dem Wirtschaftsminister diskutiert, ab welcher Größe Unternehmen diese Art von Flexibilisierung ... verkraften können. Das bezieht sich also auf den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Sie sagte weiter: Wir sind mit dem Wirtschaftsminister einer Meinung, dass es für Betriebe ab 15 Mitarbeitern keine Probleme gibt. Sie stellen das also politisch fest, und damit ist das dann so! ({8}) Ich kann Ihnen eins sagen: Das stimmt nicht. ({9}) Wir haben entsprechende Gespräche geführt: Es ist unmöglich! Ich möchte noch zu unserem Initiativantrag kommen und fasse deshalb zusammen: SPD und Grüne haben einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einige Verbesserungen bringt, aber wenig innovativ ist. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben wenig Raum, Arbeitszeiten individuell auszuhandeln, und zwar während der ganzen Erziehungszeit. Da sind Sie einfach zu kurz gesprungen; das sollten wir in den Ausschüssen noch einmal gemeinsam überdenken. Deshalb hat die F.D.P. heute einen eigenen Antrag eingebracht. Das ist keine Absicht und hat nichts mit Wahlen zu tun, wir sind einfach nicht früher fertig geworden. ({10}) - Ich bin zwar Rheinländerin, komme aber aus Niedersachsen. Dort haben wir keine Wahl. Wir haben diesen Antrag eingebracht und wollen konstruktiv mitarbeiten. Wir wollen dabei aber ganz deutlich blau-gelbe Markierungspunkte setzen. ({11}) - Ja, genau. Dazu komme ich noch, ich habe ja noch eine Minute Redezeit. Wir wollen weg von dem Erziehungsurlaub und wollen deutlich machen, dass es eine Anstrengung - und eine Freude! - ist, Kinder zu erziehen. Wir wollen keinen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, denn wir wollen als Alternative eine sehr flexible Teilzeitregelung. Vielleicht machen die CDU und die CSU dabei mit. Wir wollen das Erziehungsgeld einkommensabhängig auf höchstens 800 DM monatlich sowie die Einkommensgrenzen erhöhen. Ich bin seit Beginn dieser Legislaturperiode frauenund familienpolitische Sprecherin. Wenn ich mir deutlich mache, wie die Diäten 1986 ausgesehen haben, als das Bundeserziehungsgeldgesetz auf den Weg gebracht worden ist, und wie sie jetzt aussehen und die Einkommensgrenzen für die Frauen bzw. Mütter, die Erziehungsurlaub oder Erziehungszeit nehmen, dagegenhalte, dann meine ich, dass wir „kräftig“ etwas machen müssen. Vielleicht kommen wir ja gemeinsam zu etwas. Wir wollen die Erziehungszeit ausweiten, wollen diese zusätzliche Zeit aber nicht nur auf das letzte Jahr beschränken. Sie haben gesehen, dass wir flexibilisieren wollen. Damit meine ich nicht nur die Flexibilisierung in der Woche. Vielmehr sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wesentlich flexibler innerhalb eines Jahres mit ihrer Arbeitszeit umgehen. Frau Schewe-Gerigk, ich muss Ihnen etwas dazu sagen, dass Sie sich über unseren Punkt 6, der bei der Berechnung des Mutterschaftsgeldes Änderungen vorsieht, lächerlich machen. Wenn Sie sich genauer informieren, werden Sie feststellen, dass die Findigen belohnt werden und dass die, bei denen die Frauen ganz brav ihre Steuerklasse V und deren Männer Steuerklasse III haben, weniger bekommen, als wenn sie drei oder sechs Monate vorher ihre Steuerklasse geändert hätten. ({12}) Wir wollen nicht die Findigen belohnen. Wir wollen, dass der Gesetzgeber alle Frauen richtig behandelt und dass es eine steuerliche Gerechtigkeit gibt. ({13}) Da ich Fachfrau bin, sollten Sie das nicht lächerlich machen, sondern sich erst einmal ins Gesetz einarbeiten. ({14}) Als Letztes ein Appell: Sie sollten die Vereinfachung der Zuständigkeiten auch bei den Ländern überprüfen. Denn wir sind mobil. Wir werden zum Beispiel in Mettmann geboren, wohnen dann in Hamburg und ziehen später nach München. Von daher sollten die Ansprechpartner gleich sein. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Lassen Sie uns alle Ihren und unseren Vorschlag intensiv beraten. Vielleicht kommt dabei ein vernünftiges und hilfreiches Ergebnis für die Menschen in unserem Land heraus. Dann hätten wir hier im Bundestag unsere Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger gut erledigt. Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In ihrer Koalitionsvereinbarung haben SPD und Grüne betont, dass Beruf und Kinderbetreuung wieder besser miteinander vereinbar sein müssen. Angekündigt wurde eine umfassende Reform des Erziehungsgeldgesetzes. Das, was die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat, sind allenfalls - das muss man klar sagen erste Schritte zu einer solchen Reform - mehr leider nicht. Die Höhe des Erziehungsgeldes bleibt unverändert bei 600 DM. Das ist nach wie vor nur ein Taschengeld. Davon kann niemand leben. Seit 1986 haben sich die Lebenshaltungskosten um 33 Prozent erhöht. Nicht einmal das ist ausgeglichen worden. Die Folge ist, dass sich die Bezieherinnen von Erziehungsgeld - auch künftig werden dies in erster Linie Frauen sein - in jedem Falle in finanzieller Abhängigkeit von Staat oder Ehemann wieder finden. Alleinerziehende werden im Normalfall zu Sozialhilfeempfängerinnen mit all den Folgen, die das hat: Kündigung der Lebensversicherungen und Verbrauch des Gesparten. Das ist ein Skandal und daran hat die jetzige Bundesregierung nichts geändert. ({0}) Im vorliegenden Entwurf eines Erziehungsgeldgesetzes wird nach wie vor davon ausgegangen, dass Kinder in der traditionellen Kleinfamilie, also bei ihren biologischen Eltern, aufwachsen. Immer mehr Kinder jedoch - das dürfte eigentlich allen hier im Raum bekannt sein - werden außerhalb der Ehe geboren und wachsen bei Alleinerziehenden, bei so genannten Stiefeltern oder bei ihren lesbischen bzw. schwulen Eltern auf. Es ist überfällig, dass der Gesetzgeber dieser Vielfalt an Lebensformen Rechnung trägt und die Bedingungen für soziale Eltern verbessert. ({1}) Das heißt, dass der Anspruch auf Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch auf andere Bezugspersonen des Kindes übertragbar sein sollte. Eindeutig positiv sind die ersten Schritte zur Flexibilisierung des Erziehungsurlaubs und auch die Erhöhung der zulässigen Teilzeitarbeit während des Erziehungsurlaubs auf 30 Stunden pro Woche. Wir begrüßen auch die Möglichkeit, künftig das Erziehungsgeld zu budgetieren. Wir meinen, das ist ein klares Signal an Frauen, ihre Erwerbstätigkeit nicht volle drei Jahre am Stück zu unterbrechen. Denn wer heute zwei Jahre und länger aus dem Beruf aussteigt, gilt als dequalifiziert und ist in der Konkurrenz mit Männern um gut bezahlte und Aufstiegschancen versprechende Arbeitsplätze hoffungslos unterlegen. Da helfen auch keine Gleichberechtigungsgesetze und noch so gut gemeinte Frauenförderpläne. Darüber hinaus ist festzustellen: Kindern tut es durchaus gut, im Rahmen gemeinschaftlicher Kinderbetreuung Kontakte zu Gleichaltrigen zu haben und ein Stück weit der Überbehütung durch die eigenen Eltern zu entkommen. ({2}) Meine Damen und Herren, damit bin ich bei einem Problem, auf das in dem vorliegenden Regierungsentwurf leider nicht eingegangen wird: Eltern, die all diese angebotenen Neuregelungen nutzen wollen, stehen vor einem schier unlösbaren Problem. Wohin mit den Kindern, wenn die Eltern ihren Teilzeitanspruch einlösen wollen? Diese Frage lässt die Bundesregierung leider unbeantwortet. Wir alle hier kennen die nach wie vor besonders im Westen, aber zunehmend auch im Osten bestehende Notlage bei der öffentlichen Kinderbetreuung. Es fehlen Plätze sowohl für die ganz Kleinen als auch für die Hortkinder. Nur in einem sehr geringen Teil der Kitas stehen Ganztagsplätze zur Verfügung. Es fehlen also die Rahmenbedingungen, um wenigstens die von der Bundesregierung geplanten kleinen Schritte für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung überhaupt zum Tragen zu bringen. Damit wird im Übrigen - auch das will ich hier deutlich sagen - das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom November 1998 ignoriert, in dem ganz klar gefordert wurde, das Angebot an institutioneller Kinderbetreuung zu verbessern. Das ist die entscheidende Fehlstelle im Konzept der Bundesregierung. ({3}) Der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen bleibt auch künftig das wirksamste Instrument, um Frauen zum Ausstieg aus der Erwerbsarbeit zu zwingen. Die Bundesregierung nennt als Ziel ihrer Reform, Männer mehr an der Familienarbeit beteiligen zu wollen. Ich meine, dass die bloße freundliche Aufforderung an Männer und das Angebot, den so genannten Erziehungsurlaub gleichzeitig mit der Partnerin zu nehmen oder Teilzeit zu arbeiten, im Einzelfall durchaus hilfreich sein können. Was aber ist, wenn kein Krippenplatz frei ist und sich die Frage stellt, wer mit dem Kind zu Hause bleibt? Für Väter waren die negativen Folgen einer Berufsunterbrechung wie Karriereknick, Statusverlust und materielle Einbußen bislang Grund genug, dankend abzuwinken. Das wird sich nur dann ändern, wenn Männer einen individuellen, nicht übertragbaren Rechtsanspruch auf Freistellung zur Betreuung ihrer Kinder erhalten, der konsequenterweise verfällt, wenn sie davon keinen Gebrauch machen. Ein solcher Rechtsanspruch könnte Männer ebenfalls auch unterstützen, ihren vielfach geäußerten Wunsch nach aktiver Elternschaft gegenüber ihrem Arbeitgeber oder ihren Kollegen zu vertreten. ({4}) Der Vorschlag der Bundesregierung belässt die Verantwortung für Kinder bei den Frauen. Auch in seiner novellierten Form wird dieses Gesetz dazu führen, dass Frauen in der Phase der Familiengründung aus der Berufstätigkeit herauskomplimentiert werden, sie den Weg frei machen für die berufliche Karriere ihres Mannes und aller übrigen Männer. Das Bundeserziehungsgeldgesetz bleibt das, was seine Kritiker und Kritikerinnen von Anfang an befürchtet haben: ein Handicap für Frauen im Beruf. Die von der PDS hier vorgelegten Vorschläge - im Übrigen haben wir uns schon im Februar dazu positioniert, Frau Lenke - eröffnen die wirkliche Chance, Frauen wie Männern die Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit zu ermöglichen. Berufstätige Eltern erhalten nach unserem Konzept tatsächlich die Wahlfreiheit zwischen einer vollen Erwerbstätigkeit, einer zeitweisen Freistellung oder einer vorübergehenden Arbeitszeitreduzierung entsprechend den altersspezifischen Bedürfnissen ihrer Kinder und der eigenen, individuellen Lebensplanung. Beruf und Kinder sollen nicht mehr nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig lebbar sein. Wir wollen deutliche Anreize setzen, dass die Freistellungsansprüche zwischen Frauen und Männern verbindlich geteilt werden, indem diese zum Teil nicht übertragbar sind. Das ist ein klares Signal vor allem an die Väter: Soll der Freistellungsanspruch nicht verfallen, müssen sie ihren Teil im Interesse ihrer Kinder einlösen. Eltern können den Erziehungsurlaub am Stück oder in einzelnen Zeitabschnitten, nacheinander oder gleichzeitig nehmen. Wir wollen ein Recht auf Teilzeitarbeit für Eltern. Die Zahlung einer Lohnersatzleistung bzw. einer Grundsicherung soll verhindern, dass Familien während der beruflichen Freistellung größere finanzielle Einbußen haben und dass Alleinerziehende von Sozialhilfe abhängig werden. ({5}) Ich sage es noch einmal: Das beste Vereinbarkeitsgesetz verfehlt sein Ziel, wenn die Frage der Kinderbetreuung nicht verlässlich gelöst wird. Deshalb gehört für uns zur Vereinbarkeit der Rechtsanspruch auf öffentliche und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Wir wissen natürlich um die Finanzsituation der Kommunen und fordern deshalb - das ist in unserem Antrag nachzulesen -, dass sich der Bund endlich an den Kosten für die Kinderbetreuung beteiligt. Die Kosten, die durch unser Konzept entstehen, sind nicht gering. Wer aber die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung wirklich will, der darf über die Kosten nicht schweigen. Ich möchte zum Schluss die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir in den Ausschussberatungen noch die eine oder andere Nachbesserung an der Vorlage der Bundesregierung vornehmen werden. Danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion, das Wort.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meinen ersten Sätzen möchte ich auf das eingehen, was Frau Diemers und Frau Lenke dem Hohen Haus gesagt haben. Einiges davon hat mich schon sehr überrascht, man muss schon fast sagen: belustigt. Frau Lenke, wann hören Sie endlich mit dem Märchen auf, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die jetzige Regierung kritisiert hat, und gestehen ein, dass die Finanzpolitik der alten Regierung für Familien Gegenstand dieses Urteils war? ({0}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir schon ohne dieses Urteil zum 1. Januar dieses Jahres das Kindergeld um 30 DM erhöht hatten und dass wir im ersten Schritt der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils noch einmal 20 DM draufgesattelt haben. Im Jahre 2002 werden wir diesem Urteil voll nachgekommen sein. Dann werden wir zum ersten Mal davon reden können, dass die Familienpolitik den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts voll gerecht wird. ({1}) Frau Lenke, Sie haben weiter gefragt, welche parlamentarischen Initiativen wir in der Vergangenheit in Bezug auf das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub ergriffen hätten. Ich muss Ihnen sagen: Christa Schenk Wir haben in der 13. Wahlperiode einen umfassenden Antrag vorgelegt, der fast gleich lautend mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf war. Frau Diemers, Sie hätten Gelegenheit gehabt, diesem Antrag zuzustimmen. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass das fast das Gleiche war wie das, was in Ihrem Papier „Lust auf Familie“ steht, dann weiß ich nicht, warum Sie sich damals dagegen entschieden haben, diesen Antrag zu unterstützen. Es ist, was die Zeitabläufe betrifft, doch wohl eher so, dass Sie bei uns abgeschrieben haben, und nicht umgekehrt. Aber wie dem auch sei: Es ist eine gute Sache und ich fordere Sie deswegen heute auf, dem Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Lesung zuzustimmen. ({2}) Was mich sehr belustigt, Frau Diemers, sind Ihre sehr engagierten Auslassungen zum Begriff „Erziehungsurlaub“. Ich erinnere mich nicht daran, dass unsere Fraktion diesen Begriff geprägt hat. Vielmehr haben Sie ihn geprägt. Sie haben ihn 16 Jahre lang benutzt und waren immer stolz auf dieses Gesetz. Sie sind von der Ministerin Bergmann bereits eingeladen worden, sich an einer neuen Begriffsfindung zu beteiligen. Tun Sie das doch bitte; dann kommen wir vielleicht zu einem entsprechenden Namen für dieses Gesetz. ({3}) Ich möchte noch einmal betonen: Es geht mir nicht darum, über Begriffe zu streiten, sondern es geht um Inhalte. ({4}) - Gut. Dann frage ich mich, wie das Bewusstsein 16 Jahre lang geprägt worden ist. Dann ist wohl 16 Jahre lang das Bewusstsein dafür geschaffen worden, es sei für Mütter eine schöne erholsame Zeit und sie könnten sich von den Beschwernissen des Berufslebens ausruhen, wenn sie sich der Erziehung ihrer Kinder widmen. ({5}) Genau damit wollen wir aufhören, und zwar nicht, weil wir Ideologie betreiben wollen, Frau Diemers, sondern weil wir sehen, wie die Menschen leben und wie sie leben möchten. Die Menschen zeigen uns, dass sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen. ({6}) Genau deswegen wollen wir nach 14 Jahren Stillstand, in denen den Eltern ein gesetzlicher Rahmen geboten worden ist, der ihre Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkt hat, wieder Flexibilität einführen. Wir wollen, dass Väter und Mütter selbst entscheiden können, ({7}) ob und in welchem Umfang sie für die Erziehung ihrer Kinder Arbeitszeit reduzieren wollen. Wir wollen vor allen Dingen, dass Väter und Mütter nicht miteinander aushandeln müssen, wer von beiden nun diese Reduzierung der Arbeitszeit vornimmt. Beide sind Eltern und beide sollen ihren Beitrag sowohl zur Erziehung als auch zur finanziellen Absicherung der Familie leisten können. Mit der Neuordnung, die wir heute vorlegen, vollziehen wir einen Paradigmenwechsel - das ist schon gesagt worden; es kann aber nicht oft genug betont werden -, ({8}) der nachhaltig das Zusammenleben der Menschen mit prägen wird. Endlich wird deutlich, dass Kinder ein Recht auf beide Eltern haben, dass Väter und Mütter ein Recht auf Familie und Erwerbsarbeit haben. Nicht zuletzt wird deutlich, dass Betriebe und Unternehmen die Pflicht haben, zur Bewältigung dieser gesellschaftlich wichtigen Aufgabe beizutragen. ({9}) Deswegen bin ich froh, dass ein Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 30 Stunden wöchentlich geschaffen wird. Das heißt nicht, dass man ich hatte heute Morgen den Eindruck, dass es bei vielen so angekommen ist - auch 30 Stunden arbeiten muss, sondern dass man höchstens 30 Stunden arbeiten darf und für die restliche Zeit für die Erziehung des Kindes freigestellt wird. Dadurch wird eine große Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten für die Familien eröffnet. Ich verstehe auch an dieser Stelle die Kritik der CDU, die man vorab schon lesen konnte, und der ihr nahe stehenden Familienverbände nicht. Wieso wenden Sie sich gegen größere Gestaltungsfreiräume? Sie werfen uns vor, das Lebensmodell Berufstätigkeit zu präferieren. Dazu kann ich nur sagen: Niemandem wird es nach dem Gesetz verwehrt, sich beruflich ganz freistellen zu lassen, um sich der Betreuung seines Kindes zu widmen. Niemand wird auch dazu gezwungen, sich die Erziehungszeiten mit seinem Partner zu teilen. Die volle Breite der Entscheidungsmöglichkeiten wird durch unser neues Gesetz erst hergestellt. Vorher war es so, dass das von der CDU bevorzugte Modell „Mutter bleibt zu Hause und erzieht Kind“ ohne Probleme möglich war, während alles andere sehr problematisch war. ({10}) Wir wollen unser Familienbild den Menschen nicht aufdrücken; vielmehr reagieren wir auf die Notwendigkeit der Veränderung. Diese wird uns aufgezeigt durch das tatsächliche Verhalten der Betroffenen und äußert sich in den Lebenserwartungen von Jugendlichen. Laut Shell-Studie, die eben schon einmal zitiert wurde, sagen 75 Prozent der befragten Jugendlichen „Für mich werden Familie und Beruf immer gleich wichtig sein, es soll sich die Waage halten“, ({11}) - und zwar Mädchen und Jungen zu fast gleichen Teilen. Wenn junge Menschen zu fast 75 Prozent äußern, ihre Lebensplanung sehe Gleichzeitigkeit von Familie und Beruf vor, wenn 39 Prozent der Frauen den Erziehungsurlaub nicht voll ausschöpfen und wenn nur 1,5 Prozent der Männer Erziehungsurlaub nehmen - trotz anderer eigener Vorstellungen -, dann muss der Gesetzgeber darauf reagieren. ({12}) Deshalb ist es auch kein „Spartopf“ - wie die CDU uns vorwirft -, wenn wir das Angebot machen, für eine verkürzte Erziehungsurlaubszeit eine Erhöhung des Erziehungsgeldes in Anspruch nehmen zu können. Nein, die 165 000 Frauen und Männer, die in den vergangenen Jahren nach einem Jahr in den Beruf zurückgekehrt sind, waren in der Vergangenheit ein Spartopf des Finanzministers Waigel. ({13}) Natürlich ist dieses eine Jahr, das für die Budgetierung entscheidend ist, wie die Erfahrung zeigt, auch ein entscheidender Zeitraum in der Entwicklung von Kindern sowie für den Erhalt des Arbeitsplatzes und der Qualifizierung. Aber ich möchte noch einmal betonen: Wir haben kein Modell zur Förderung von Fremdbetreuung vorgelegt, sondern für eine möglichst umfassende Betreuung durch beide Elternteile. Ich habe bei dieser Fragestellung immer eine Petition vor Augen, die ich als Mitglied des Petitionsausschusses zu bearbeiten hatte. Da wollte ein Elternpaar, beide Angestellte im öffentlichen Dienst, ihre Arbeitszeit jeweils auf 24 Stunden reduzieren. Der Deutsche Bundestag und der Petitionsausschuss hatten beschlossen, diese Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Das heißt, der Bundestag hat sich voll hinter das Anliegen dieses Elternpaares gestellt. Nur, die damalige Bundesregierung in Gestalt von Frau Nolte wollte dies nicht. Sie war der Meinung, es sei für das Kind zuträglicher, wenn ein Elternteil maximal 19 Stunden arbeite und der andere Elternteil 40 Stunden. Zusammen mit eventuell anfallenden Überstunden wäre dieses Elternpaar leicht auf mehr als 60 Stunden gekommen. Das sollte letzten Endes zuträglicher für das Kind sein als der Wunsch beider Eltern, zusammen nur 48 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wenn dahinter nicht die pure Ideologie steckt, dass es eigentlich gewünscht ist, wenn die Mutter zu Hause bleibt und das Kind betreut! Wir dagegen reden von den Anliegen der Menschen, und diesem wollen wir gerecht werden. ({14}) Für das betroffene Elternpaar kommt unser Gesetzentwurf leider zu spät. Aber ich denke, dass uns noch sehr viele Eltern dankbar sein werden. An dieser Stelle muss aber deutlich gesagt werden: Es ist eine Illusion, zu glauben, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit sei möglich ohne einen weiteren flexiblen Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen. So passgenau wird die elterliche Arbeitszeit nicht mit den Bedürfnissen von Kindern vereinbar sein, schon gar nicht bei Alleinerziehenden. Darum müssen wir diesen Punkt im Auge behalten und alle Kraft darauf verwenden, hier erheblich nachzubessern. ({15}) Wenn der heute vorgelegte Gesetzentwurf seine volle Wirkung erzielen will, müssen auch die Länder und Kommunen ihren Anteil an den Hausaufgaben leisten. Aber das kann, bitte schön, nicht „Landeserziehungsgeld“ heißen. Vielmehr muss es um Betreuungseinrichtungen für unter 3-Jährige, für Schulkinder, um Tagesmüttermodelle usw. gehen. ({16}) Auch die Unternehmen müssen sich die Frage stellen, welchen Anteil sie leisten können, um Betreuungseinrichtungen für die Kinder ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereitzuhalten. Denn dies ist ja durchaus im Interesse der Unternehmen. Dass wir trotz hoher Arbeitslosigkeit einen Mangel an hoch qualifizierten Kräften haben, ist in diesen Tagen kein Geheimnis. Es dürfte sicherlich im Interesse der Unternehmen sein, gut qualifizierten Frauen den Zugang oder den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Auch dies sollte ein Aspekt verantwortungsvoller Unternehmenspolitik sein. Es geht also bei unseren Vorschlägen zum Erziehungsurlaubsgesetz um eine möglichst breite Berücksichtigung der Interessen aller, die am Erziehungsprozess beteiligt sind. Natürlich steht dabei das Interesse des Schwächsten in der Konstellation, nämlich des Kindes, an zentraler Stelle. Deshalb begrüße ich es, dass die Möglichkeit vorgesehen ist, das dritte Erziehungsurlaubsjahr bis zum achten Lebensjahr des Kindes flexibel einzusetzen. Dies soll nur mit Zustimmung des Arbeitgebers möglich sein, also nicht als Rechtsanspruch abgesichert werden. Ich halte dies für eine realistische Lösung. Natürlich wäre es wünschenswert, in für die Familie oder das Kind besonders belastenden Situationen Anspruch auf eine Auszeit zu haben. Aber wie bei allen Regulierungen muss darauf geachtet werden, dass positiv gemeinte Regelungen nicht zum Hindernis zum Beispiel in Form eines Einstellungshemmnisses werden, sondern dass sie tatsächlich das bringen, was man erreichen will, nämlich größeren Gestaltungsfreiraum für die Menschen. ({17}) Zum Antrag der PDS, der genau in diese Richtung geht, möchte ich deutlich sagen: Man kann sich natürlich vieles wünschen, aber Ihre Vorschläge, die Sie festzementieren wollen, erschweren es den Frauen und Männern, die diese Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen, in Arbeit zu kommen oder zurückzukommen. Die neu geschaffene Möglichkeit, dem Vater Erziehungsurlaub während der Mutterschutzfrist zu gewähren, ist auch im Sinne des Kindes und des Vaters. Das eröffnet die Chance, durch frühzeitige VerantwortungsHildegard Wester übernahme ein intensives Verhältnis zwischen Vater und Kind wachsen zu lassen. Es ist eigentlich schade, dass Tony Blair von diesem Recht jetzt anscheinend doch nicht Gebrauch machen will. Es wäre schon gut, wenn gerade viel beschäftigte Männer hier ein deutliches Zeichen setzen würden. ({18}) Er hätte für viele europäische Männer ein Vorbild sein können. Ich hoffe, unser neues Gesetz wird trotzdem ein wenig dazu beitragen, mit dem Mythos zu brechen, dass wichtige Männer überall unverzichtbar sind, nur nicht bei ihrem Kind. ({19}) Auch beim finanziellen Teil des Gesetzentwurfes kommen wir einen guten Schritt voran. Die Einkommensgrenzen werden erhöht. Das war überfällig. Seit 1986 ist in dieser Richtung nichts getan worden. Das haben wir heute vielfach gehört. Ich kann nur sagen: Mich wundert es, woher Sie das moralische Recht nehmen, uns wegen der recht bescheidenen Erhöhung des Erziehungsgeldes zu kritisieren, die wir uns ehrlichen Herzens abgerungen haben und die wir ehrlichen Herzens anbieten. Wir zeigen sogar eine Perspektive für die nächsten zwei Jahre auf, um damit deutlich zu machen, dass die Lebenshaltungskosten für Kinder wie auch die Einkommen steigen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden diesen Weg fortsetzen und wir bitten Sie herzlich, uns dabei zu unterstützen und damit etwas für die Familien und die Gestaltungsfreiheit der Familien in unserem Lande zu tun. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Klaus Holetschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003153, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns das Recht herausnehmen, Sie zu kritisieren, liegt einfach daran, dass Sie in der Regierung sind und sich an dem messen lassen müssen, was Sie versprochen haben. Das ist relativ einfach. Jeder, der Verantwortung übernimmt, muss sich diesem Maßstab stellen und dem werden Sie, meine Damen und Herren, nicht gerecht. ({0}) Wir können das Schwarze-Peter-Spiel relativ lange betreiben und ihn hin und her schieben: Sie haben im Moment die Verantwortung und hier im Parlament die Mehrheit. Sie müssen diese Entwürfe vorlegen und sich auch der Kritik stellen. Danach können wir uns in der Sache auseinander setzen. Wir müssen es uns aber nicht antun, ständig den schwarzen Peter hin und her zu schieben. Es ist völlig unbestritten, welche familienpolitischen Leistungen die CDU/CSU in 16 Jahren erbracht hat. ({1}) Meine Damen und Herren von der zukünftigen Opposition, Sie werden in den nächsten zweieinhalb Jahren das, was wir in den Jahren unserer Regierungszeit erreicht haben, nicht schaffen. Erfreulicherweise liegt der Entwurf jetzt endlich vor, der lange angekündigt war. Erfreulicherweise enthält er auch viele Elemente, die in den Grundsatzpapieren der CDU und der CSU enthalten sind. Das freut uns und wir brauchen nicht zu diskutieren, wer voneinander abschreibt. Es ist schön, dass darin zum Beispiel die Anhebung der Einkommensgrenzen, die Flexibilisierung des Erziehungsurlaubes und der Anspruch auf Teilzeittätigkeit enthalten sind. Dies ist ein positiver Ansatz. Diesen werden wir auch positiv begleiten. Es gibt natürlich auch einige Kritikpunkte, Dinge, die wir nicht mittragen können. Ich halte die Budgetregelung für verfehlt, und zwar zum einen, weil hiermit ein Anreiz für diejenigen geschaffen wird, die sich nur ein Jahr rund um die Uhr um ihre Kinder kümmern, und zum anderen, weil die Regelung sehr kompliziert ist. ({2}) Die Berechnung des Erziehungsgeldes ist so kompliziert, dass die Eltern nicht mehr selber einschätzen können, was sie bekommen, sich aber trotzdem nach der Geburt entscheiden müssen. Es fehlt auch eine Härtefallregelung, meine Damen und Herren, weil wir in der Praxis sehen werden, dass es nicht immer einfach ist, alles vorauszuplanen und vorauszusehen. Sie haben auch nicht daran gedacht, dass durch diese Regelung eine erhöhte Beratungskapazität notwendig wird. Wenn Sie eine bürgerfreundliche Politik machen wollen, dann müssen Sie in Zukunft auch den Ämtern sagen, dass die, die kommen, einen erhöhten Beratungsbedarf haben. ({3}) Ich möchte zum zweiten Punkt kommen. Wenn Sie die Erhöhung der Einkommensgrenzen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass die verheirateten Eltern deutlich benachteiligt werden. Während die Einkommensgrenze für Alleinerziehende mit einem Kind deutlich über dem steuerfreien Existenzminimum liegt, befindet sie sich bei verheirateten Eltern deutlich unterhalb des steuerlichen Existenzminimums. Auch das muss man ansprechen. Wenn Sie einen neuen Entwurf vorlegen, hätten Sie diesen Punkt berücksichtigen können. ({4}) Noch problematischer wird diese Einkommensgrenze für jedes weitere Kind. ({5}) Hierzu möchte ich sagen, meine Damen und Herren, dass Sie wieder zulasten kinderreicher Familien sparen. Das ist aber Ihre Politik insgesamt. Hier vollzieht sich der Paradigmenwechsel: Sie verlassen das Wertefundament, indem Sie die Familie nicht mehr als Keimzelle der Gesellschaft sehen. Sie setzen auf Zuwanderung, statt auf Hilfen und Rahmenbedingungen für Familien mit Kindern. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie sollten auch das Verfassungsgerichtsurteil berücksichtigen, das es im November 1998 gegeben hat. Auch da kennen Sie die Problematik von Alleinerziehenden und deren Besserstellung. Ich darf auf die Minderungsquote eingehen. Sie werden die Erhöhung der Einkommensgrenzen teilweise durch Einsparung bei Erziehungsgeldempfängern mit mittlerem Einkommen erzielen, weil Sie die Minderungsquote von 40 auf 50 Prozent erhöht haben. Auch das muss angesprochen werden, meine Damen und Herren. Des Weiteren fehlt die Dynamisierung bei diesem Gesetzentwurf, die es bei anderen Sozialleistungen gibt. Wo haben Sie die? ({7}) Auch die Erhöhung der wöchentlich erlaubten Erwerbstätigkeit von 19 auf 30 Stunden - das hat die Kollegin Diemers bereits angesprochen - ist nicht im Sinne des Gesetzes, die Betreuung des Kindes durch die Eltern finanziell zu erleichtern. Sie legen dieses Gesetz anders aus und gehen nicht mehr auf die Wurzeln Ihrer Regelung zurück. ({8}) Das einstufige Antragsverfahren, Frau Bergmann, haben Sie einmal vorgesehen. Es ist schade, dass Sie sich in der Fraktion nicht durchsetzen können. Es wurde bereits angesprochen, dass die Regelungen immer komplizierter werden und dass viele Eltern manchmal verzweifeln, wenn sie die Anträge ausfüllen müssen. Deshalb wäre die Rückkehr zum einstufigen Antragsverfahren, in dem vorgesehen ist, einen Antrag für die gesamte Zeit des Bezuges von Erziehungsgeld zu stellen, eine wirkliche Erleichterung, ein möglicher Gewinn für die Familien und auch für die Behörden gewesen. Ich stelle fest: Meine Damen und Herren, wir begrüßen jede Verbesserung, die Sie für Familien erreichen. Sie haben hierbei unsere volle Unterstützung. Sie sollten aber endlich eine nachhaltige, zukunftsorientierte und innovative Familienpolitik betreiben. Dazu, meine Damen und Herren, gehören ein klares Bekenntnis zur Familie mit Kindern, eine konkrete Antwort auf geänderte Lebensbedingungen der Familien und eine konzeptionelle Neuausrichtung. Diese Neuorientierung kann in der Bündelung verschiedener Leistungen, wie zum Beispiel des Kindergeldes und des Erziehungsgeldes, zu einem Familiengeld bestehen. Dadurch soll die materielle Leistungsfähigkeit der Eltern erhöht werden, die Gleichwertigkeit von Erziehung und Erwerbsarbeit besser zum Ausdruck kommen und die Familienförderung transparenter werden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, meine Damen und Herren. ({9}) - Wir werden diesen Vorschlag weiter konkretisieren. Es ist ein Vorschlag, der in die Zukunft geht, Frau Kollegin Schewe-Gerigk. Wir wollen einmal an die Zukunft denken. ({10}) Wahrscheinlich sieht die Zukunft so aus, dass Sie dann nicht mehr an der Regierung sind. Dann werden wir unsere Gedanken selber umsetzen. In der Zwischenzeit sollten Sie versuchen, Ihre Familienpolitik nicht daran auszurichten, dass Sie in die eine Tasche hineinstecken, was Sie aus der anderen herausholen. ({11}) Ich will noch einmal die Ökosteuerbelastung ansprechen. Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, meine Damen und Herren, so müssen Sie sich sagen lassen, dass die Familien, die auf dem flachen Land auf das Auto angewiesen sind, unter dieser Ökosteuer leiden. Es nützt ihnen nichts, wenn Sie auf der einen Seite Angebote machen und auf der anderen Seite die steuerliche Belastung erhöhen. Das ist keine familienfreundliche Politik für unser Land, meine Damen und Herren. ({12}) Frau Ministerin, glaubwürdige Familienpolitik versteht die Herausforderung dieser gewaltigen Querschnitts- und Gemeinschaftsaufgabe nicht als Stückwerk. Wir brauchen einen neuen Ansatz, der den Familien das gibt, was sie brauchen, nämlich eine verlässliche Unterstützung, einen intensiven Rückhalt und einen umfassenden Schutz in der Gesellschaft. Sie bleiben auch hier hinter den Versprechungen der Koalitionsvereinbarung zurück. Sie haben dort geschrieben, Sie beabsichtigten, „das Erziehungsgeld mit besonderen Maßnahmen weiterzuentwickeln“. Was übrig bleibt, meine Damen und Herren, sind viele Fragen und Ungereimtheiten. Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu den vorliegenden Anträgen der PDS sagen. Ich lese hier von der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf ganztägige außerhäusliche Kinderbetreuung von der Geburt bis zum Ende des 4. Schuljahres und bis zum Ende des 8. Schuljahres auf öffentlich geförderte Freizeitgestaltung. Oder: Das Gesetz will umfassende außerhäusliche Kinderbetreuung zur „Normalbiografie“ festschreiben und Kinderbetreuung als gesellschaftliche Aufgabe definieren. Meine Damen und Herren von der PDS, Sie sollten endlich erkennen, dass der real existierende Sozialismus vorbei ist ({13}) und dass Sie die Familienpolitik nicht planwirtschaftlich gestalten können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es erstaunt mich doch sehr, dass ich hier im Bundestag zu hören bekomme, wie sich Herr Holetschek enthusiastisch für die Unterstützung und Beratung der Familien einsetzt, während ausgerechnet in seinem Wahlkreis das Frauenhaus, das gerade auf Unterstützung und Beratung setzt und das zurzeit kurz vor dem finanziellen Aus steht, den eigenen Abgeordneten um Hilfe anging. Herr Holetschek stahl sich aber davon und sagte, dafür sei er nicht verantwortlich. Das ist doppelzüngig; so etwas sollte man nicht machen. ({0}) Herr Holetschek, ich weiß, das schockiert Sie. Aber Sie sollten sich in Ihrem eigenen Wahlkreis einmal erkundigen. Es erstaunt mich auch, dass Sie in Ihrer Rede mit keinem Wort auf das eingegangen sind, was die Frau Ministerin uns vorhin in einer sehr eindrucksvollen Aufzählung vorgeführt hat: all die Steuerentlastungen, die wir bereits im vergangenen Jahr im Plenum beschlossen hatten, ebenso wie die Kindergelderhöhung, ({1}) sogar eine Kindergelderhöhung für Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Wir haben gesagt, dass wir Politik für die Kinder und im Sinne der Kinder machen. Das haben wir schon umgesetzt. ({2}) Wir sind auf einem guten Weg. Die ersten Schritte haben wir hinter uns, weitere Schritte folgen. Aber das scheint Ihnen ja leider entgangen zu sein. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neue Shell-Studie macht eine bemerkenswerte Entwicklung deutlich: Bei Jugendlichen beiderlei Geschlechts ist ein verstärktes Interesse an Familie und Kindern, aber auch an Berufstätigkeit vorhanden. Die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf steht im Vordergrund. Die Jugend von heute will berufstätig sein und Karriere machen, um sich selbst zu verwirklichen, aber zur selben Zeit nicht auf Familie und Kinder verzichten. Sie sieht die Familie als einen Ort der Geborgenheit, des Rückzugs, des Vertrauens an. Daher muss es die Aufgabe der Politik sein, diesem Interesse nachzukommen. Tatsächlich hat die Jugendstudie festgehalten, dass sich die Wertehaltungen von Mädchen und Jungen nach und nach annähern, auch wenn Frauen ab einem bestimmten Alter nach wie vor stärker kinder- und familienorientiert sind. Das nähert sich aber auch bei jungen Männern an, während Machos - der Mann geht arbeiten, die Frau an den Herd - bei der Jugend out sind. ({4}) Vorgestanzte Rollenklischees sind nicht mehr zeitgemäß. Das ist eine Herausforderung an die Politik. Mit unserem Gesetzentwurf, in dem es um Teilzeitarbeit und um Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, sind wir auf der Höhe der Zeit. Wir setzen mit ihm wichtige Maßnahmen für Frauen um. ({5}) Aber ein Punkt muss uns nach wie vor zu denken geben: Die Studie zeigt auch, dass ausgerechnet junge Frauen von 22 bis 24 Jahren sehr resigniert sind, weil sie befürchten, dass ihr Wunschziel nicht erfüllt werden kann, dass sie keinerlei Chance haben, Familie und Beruf wirklich unter einen Hut zu bringen. Dabei fehlt es ganz bestimmt nicht, wie die PDS meint, am gesellschaftlichen Druck auf die Partner der jungen Frauen. Es fehlt den Männern nicht an Bereitschaft mitzumachen. Tatsächlich fehlt es an Rahmenbedingungen, Chancen und Wahlmöglichkeiten. Genau an diesen Wahlmöglichkeiten müssen wir arbeiten. ({6}) Mit dem Entwurf der Koalition soll den Eltern Zeit für ihre Kinder gesichert werden. Er soll Rahmenbedingungen für eine gleichberechtigte Teilung der Erziehung zwischen den Eltern schaffen. Aber wir müssen in diesem Bereich auch schon über künftige Schritte nachdenken, wie zum Beispiel über die Kinderbetreuung, die Sie in Ihrem Antrag aufgreifen. Auch wir wissen, dass die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden müssen, wenn die Chancengleichheit von Männern und Frauen und von Familien hergestellt werden soll. Wir wissen auch, dass der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten wichtig für die Entwicklungschancen der Kinder ist. Aber zum Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist von den Kollegen der Opposition bis jetzt leider noch nichts Neues vorgetragen worden. ({7}) Einen Bauchladen an Wohltaten enthält Ihr Vereinbarkeitsgesetz. Es ist teuer, aber gerecht ist es nicht. Wir dürfen heute keine ideologische Scheu vor Teilzeitarbeit haben. Wir dürfen nicht irgendetwas fordern, was utopisch ist und von dem wir wissen, dass es in der kommenden Zeit sowieso nicht umgesetzt werden kann, wie zum Beispiel eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Das ist zwar ein tolles Versprechen, aber es ist weder realistisch noch pragmatisch. In einem Punkt muss ich Ihnen Recht geben: Die Karrierechancen von Teilzeitbeschäftigten sind noch immer gemindert. Teilzeitarbeit ist in Deutschland noch nicht anerkannt und hat sich hier noch nicht durchgesetzt. Aber wir dürfen die Teilzeitarbeit deswegen nicht abwerten; vielmehr muss es unsere Aufgabe sein, Möglichkeiten zu schaffen, damit mehr Menschen in Teilzeit gehen, Teilzeitarbeit aufzuwerten, die Chancen in diesem Bereich zu verbessern, Teilzeitarbeit in der Öffentlichkeit nach vorne zu bringen und attraktiv zu machen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Deligöz, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, nur noch ein Schlusssatz: Wir sind uns bewusst, dass zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft vieles dazugehört: Kinderbetreuung, Teilzeitarbeit, Kinderzeit und Elternzeit. Mit dem vorliegenden Gesetz gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung. Diesen entscheidenden Schritt sollten wir unbedingt gemeinsam vollziehen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Antrag der PDS auf staatliche Kinderbetreuung und Freizeiteinrichtungen liest, bei dem kommt angesichts des Füllhornes angeblicher kinderfreundlicher Maßnahmen richtig Freude auf. ({0}) - Kollegin Schenk, ein solcher Antrag kann eigentlich nur von der PDS gestellt werden; denn im Klartext heißt er: Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid! Der Staat wird euch erlösen. Selbstverständlich gibt die PDS keine Antwort auf die Frage, woher das Geld kommen soll, mit dem der Staat die Erlösung bewirken soll. ({1}) Dieser Antrag - das möchte ich hier deutlich sagen bestätigt den Eindruck, den der Bundesparteitag Ihrer Partei bei mir hinterlassen hat: ({2}) Sie beschäftigen sich nicht mit realitätsnahen Problemlösungen, sondern mit Wunschdenken. ({3}) Natürlich wäre angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen, die auch Sie beobachten, einiges wünschenswert. Ja, Sie haben Recht: Wir brauchen mehr Ganztagsschulen und Ganztagseinrichtungen auch zur Entlastung junger Familien. Es ist unbestritten, dass solche Einrichtungen und solche öffentlichen Freizeitangebote auch zur Entwicklung der Kompetenz und der Identität der Kinder beitragen können. Es ist auch unbestritten: Wir brauchen mehr innovative pädagogische Konzepte mit Altersmischung in Zusammenarbeit mit Nachbarschaftszentren. Das ist durchaus erstrebenswert. Besonders der Wunsch nach niedrigen Beiträgen für die Betreuungseinrichtungen stößt auf meine Sympathie. Selbst Ihrem Ziel der langfristigen Beitragsfreiheit würde ich sehr gern zustimmen - im Schlaraffenland, aber nicht im Deutschen Bundestag. Immerhin konnten Sie von der PDS sich zu so viel Realitätssinn durchringen, dass Sie feststellen: Ihr Programm überlastet die Kommunen und sie wären damit hilflos überfordert. ({4}) Es ist schon sehr großzügig von Ihnen, dass sie schließlich der Bundesregierung die Vorlage eines Finanzierungskonzeptes für Ihren Wunschzettel überlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch klar: Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig sein will, dann muss sie Kindern mehr Chancen bieten. Ja, Deutschland muss kinder- und familienfreundlicher werden; deshalb hat die F.D.P. mit ihrem Familienpapier und ihrem heute eingebrachten Antrag, in dem es auch um Erziehungsgeld geht, wichtige, aber vor allem praktikable Vorschläge gemacht. ({5}) Wir Liberalen verkennen nicht, dass Familie im weitesten Sinne der wichtigste Ort für Kinder ist, um soziale Kompetenz zu erwerben. Ein staatlicher Kinderbetreuungsplatz kann zwar eine große Hilfe sein, aber niemals die Nähe individueller, ganz persönlicher Bezugspersonen wie der Eltern ersetzen. Das unverzichtbare Engagement des Einzelnen für Kinder kann nicht allein durch Gesetze und staatliche Vorschriften verordnet werden. ({6}) Der Staat muss Rahmenbedingungen setzen, die die Chance erhöhen, dass Kinder in einem intakten sozialen Umfeld aufwachsen. Deshalb sind die F.D.P.-Vorschläge geeignet, junge Familien zu entlasten, ohne aber die Last den Unternehmen oder dem Staat undifferenziert aufzuerlegen. ({7}) Denn, meine Damen und Herren von der PDS, die zusätzliche Belastung öffentlicher Kassen, wie Sie sie mit Ihren Anträgen demagogisch fordern, ist doch letztlich, wenn Sie ehrlich sind, eine Belastung für diejenigen, denen sie eigentlich zugute kommen soll: der jungen Generation. Wir befinden uns in Deutschland längst in der großen Gefahr, die Wohltaten von heute durch Hypotheken zulasten kommender Generationen zu finanzieren. ({8}) Kinderfreundliche Politik, Frau Schewe-Gerigk, bedeutet aus unserer Sicht eben auch, den künftigen Generationen Perspektiven offen zu halten und neue zu eröffnen. ({9}) Deshalb wird die F.D.P. jede realistische Bemühung in dieser Hinsicht unterstützen, aber jede populistische Traumtänzerei ablehnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der Union, das eine ist es, ein Papier zu schreiben und zu beschließen, in dem es um Lust auf Familie geht; das andere ist es, tatsächlich eine Politik zu machen, die die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die Lust auf Familie, die junge Menschen zweifelsohne haben, anhält, sodass der Kinderwunsch nicht immer diametral zur möglichen Erwerbstätigkeit steht. Dass Sie diese Vereinbarkeit nicht herstellen wollen, ({0}) sieht man daran, dass Sie bis heute keinen einzigen Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf, den Sie offensichtlich schlecht finden, eingebracht haben. ({1}) - Auch wenn Sie schreien, liebe Kollegen von der Union: Ich weiß, dass Sie noch in einem Selbstfindungsprozess sind. Herr Biedenkopf hat dies heute im Hinblick auf die Renten festgestellt. Nötig ist dieser Prozess auch hinsichtlich Familien. Vielleicht brauchen Sie noch einige Zeit. Wenn Sie das ernst nehmen, was Sie auf Ihren Parteitagen - auch auf den kleinen Parteitagen - beschließen, dann versuchen Sie einmal, den Vorstellungen junger Menschen von Familie entgegenzukommen und entsprechende Chancen zu schaffen. ({2}) Sie sprechen davon, mit diesem Gesetzentwurf solle ein Zwang zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit geschaffen werden. Ich verstehe nicht ganz, was damit gemeint ist. Sollen wir etwa die innerhäusliche Erwerbsarbeit fördern? Wahrscheinlich meinen Sie, dass Mütter nach der Geburt ihres Kindes am besten zu Hause bleiben sollen, um sich dort um den Nachwuchs zu kümmern. Nein, meine Damen und Herren, 80 Prozent der jungen Menschen und auch der jungen Familien sagen: Wir wollen beides; wir wollen Erwerbsarbeit und wir wollen Familienarbeit miteinander teilen. Die jungen Mädchen sagen: Ich möchte einen Beruf, ich möchte darin in meiner Qualifikation tätig sein, ich möchte einen Mann haben, möchte Kinder haben, aber der Mann muss sich die Erziehungsarbeit mit mir teilen. ({3}) Dann kommt das Entscheidende, was gesagt wird: Aber wenn es so ist, dass ich, wenn ich Kinder habe, zunächst einmal auf einen Start in meinem Beruf verzichten muss und hier dauerhaft ausgeschlossen werde, dann entscheide ich mich zuerst dafür, in meinen Beruf einen Fuß zu setzen und dort meine Frau zu stehen, und nicht für die Kinder. Ich glaube, wir sollten das ernst nehmen. Ich finde, dass junge Menschen - genau wie sie das wollen - das Recht haben müssen, Kinder zu gebären, Kinder aufzuziehen, und ich appelliere an die Verantwortung der Väter, hier mehr zu tun. ({4}) Frau Kollegin Diemers, es geht doch nicht darum, dass wir, wie Sie sagen, den Vätern jetzt möglichst viel außerhäusliche Erwerbsarbeit neben der Erziehungsarbeit aufhalsen wollten. Ich wäre ja froh, wenn wir darüber schon einmal reden könnten. 1,6 Prozent der Väter verzichten bisher auf die volle Erwerbstätigkeit, um ihre Kinder zu erziehen. Es geht doch gerade darum, diese Zahl zu erhöhen, und da spricht doch keiner davon, Kollegin Lenke, dass wir mit diesem Gesetz direkt 90 Prozent erreichen würden. Wenn wir in ein oder zwei Jahren hier feststellen könnten, 5, 6, 7, 8, 9, 10 oder 15 Prozent der Väter teilen sich die Erwerbsarbeit und die Familienarbeit, dann würde ich sagen: Uns ist wirklich etwas gelungen, und dieser Gesetzentwurf hat etwas auf den Weg dahin gebracht, was wir in der Familie und was wir auch in der Erziehung wollen. ({5}) Deshalb haben wir in dem Gesetz Möglichkeiten eingebaut, die es Vätern erleichtern, sich an der Familienarbeit zu beteiligen. Ich persönlich bin eine große Anhängerin davon und habe dafür auch immer gekämpft, dass wir den Erziehungsurlaub vom ersten Tag der Geburt an ermöglichen, und zwar aus einem bestimmten Grund. Wenn die Mutter im Mutterschutz ist, das Kind geboren ist und der junge Vater sagen kann: „Ich bleibe vier Wochen ganz zu Hause, ich nehme Erziehungsurlaub oder ich gehe für zwei Monate, in denen meine Frau noch zu Hause ist, auf halbe Stundenzahl“ - das kann er jetzt machen -, dann - so sage ich Ihnen - ist diese Zeit, in denen der Vater gemeinsam mit der Mutter die Erziehung und die Betreuung des Kindes vornehmen kann, wichtig für das Wecken der Bereitschaft des Vaters zu sagen: Ich mache das, ich bleibe einen Tag in der Woche zu Hause und kümmere mich ganz um mein Kind. Wenn wir in zwei, drei Jahren - der erste Bericht wird das zeigen - erreicht haben, dass es mehr Väter geworden sind, dann haben wir viel für unser Ziel getan; dann haben wir Chancen eröffnet. Wir geben den Menschen darüber hinaus Chancen, ({6}) Frau Kollegin Diemers, indem wir sagen: Du musst nicht ganz zu Hause bleiben, du musst nicht auf 19 Stunden oder weniger heruntergehen. - Das ist doch so gewesen: Es lag ja nicht nur an den jungen Vätern, sondern die finanzielle Situation, dass die Frauen heute immer noch rund ein Drittel weniger verdienen als die Männer, hat doch die Familien dazu gezwungen, dass die Frauen zu Hause blieben. Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, dass jedes der beiden Elternteile bis zu 30 Stunden arbeiten kann. ({7}) Ich sage Ihnen eines, Frau Kollegin Lenke: Vor zwei Tagen kam ein Angestellter des Bundestages zu mir und sagte: Ich finde es richtig toll, was Sie da machen. Meine Frau und ich haben bereits ein Kind und wollen noch ein Kind haben. Und durch die vorgesehene Erhöhung der Einkommensgrenzen ist es möglich, dass ich einen Tag zu Hause bleibe - ich gehe auf 30 Stunden -, und meine Frau kann an diesem Tag ihre Weiterbildung machen, denn wir wollen, dass sie irgendwann auch wieder ganz in den Beruf kommt. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen, denn ohne die Erhöhung der Einkommensgrenzen hätte ich das nicht machen können. Wenn uns das demnächst ganz viele sagen und überall dort, wo wir sind, diese jungen Väter kommen, ja, was glauben Sie, was sich dann für die Gesellschaft verändert hat, und was glauben Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was sich eigentlich für die Erziehung eines Kindes geändert hat! Dieses Kind lernt, dass Partnerschaft in der Ehe bedeutet, dass Vater und Mutter da sind, aber beide auch eigenständige Wesen sind, die ihre eigene Existenz sichern können. Ich glaube, das prägt die Kinder besser als die Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren machen mussten. ({8}) Sie sprachen außerdem die Frage der Einkommensgrenzen an. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass wir weiß Gott die Einkommensgrenzen gerne auf 60 000 oder 70 000 DM angehoben und liebend gerne ein Erziehungsgeld in Höhe von 1 000 oder 1 500 DM eingeführt hätten; aber, wie es der Herr Kollege Haupt richtig gesagt hat, die Frage ist, wie wir mit dem Geld, das dem Staat zur Verfügung steht, umgehen und ob wir tatsächlich eine nachhaltige Politik machen. Sie, Frau Kollegin Diemers, sagen, sie hätten gerne Erhöhungen vorgenommen, aber Finanzprobleme hätten sie gehindert. Sie haben dabei allerdings vergessen zu sagen, dass Sie uns diese Finanzprobleme vererbt haben, als wir die Mehrheit erhielten, ({9}) wir aber trotz dieser Finanzprobleme - 1,5 Billionen DM Schulden, meine Damen und Herren von der ehemaligen Koalition, und 90 Milliarden DM nur für Zinsen in diesem Jahr - gehandelt haben. ({10}) Wenn wir diese Lasten abbauen, dann haben wir auch das Geld dafür, um den Familien endlich all das zu geben, was sie brauchen. Dann hätten wir sogar das Geld dafür, eine kostenlose Kinderbetreuung in den Kindergärten anzubieten. ({11}) - Das wollen wir auch; das dauert nur noch eine Weile. Wir haben die Einkommensgrenzen erhöht, 220 000 junge Eltern von derzeit etwa 690 000, die Erziehungsgeld in Anspruch nehmen, werden mehr Geld erhalten. Das ist entscheidend. Insbesondere haben wir trotz der geringen Finanzspielräume festgelegt, dass die Einkommensgrenzen in Familien mit zwei und mehr Kindern erhöht werden. Wir haben auch noch in einigen anderen Bereichen Ungerechtigkeiten beseitigt, die Sie nie beseitigt haben: Wir haben endlich klargestellt, dass Erziehungsgeld auch dann gezahlt wird, wenn die Eltern Arbeitslosengeld beziehen; das haben Sie nie gemacht. Wir haben klargestellt, dass für jedes behinderte Kind in einem Haushalt ein Pauschalbetrag angerechnet wird, sodass auch so die Einkommensgrenzen erhöht werden; auch das haben Sie nie gemacht. Sie haben die Familien mit mehreren behinderten Kindern in dieser Hinsicht im Stich gelassen. Sie können sehr gerne kritisieren, dass mit diesem Gesetz zu wenig auf den Weg gebracht wurde. Ich aber bin stolz darauf, dass wir anderthalb Jahre nach Übernahme der Regierungsverantwortung hier diesen Gesetzentwurf beraten. Dieser wird sehr viel mehr für die Familien bringen als die schönen Worte, die man in Ihren Anträgen findet. ({12}) Ich komme jetzt noch auf einen letzten Punkt zu sprechen, den auch die Kollegin Lenke angesprochen hat. Sie, Frau Kollegin Lenke, haben bezweifelt, dass es keine Schwierigkeiten mache, in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit umzusetzen. ({13}) - Da gibt es natürlich eine Grenze; wir gehen davon aus, dass Betriebe ab 16 Beschäftigten dieses können, sofern Ulla Schmidt ({14}) nicht außergewöhnliche betriebliche Belange dem entgegenstehen. Sie müssen sich schon anschauen, was da steht. Warum haben wir diese Grenze festgesetzt? Wir glauben, dass für einen Unternehmer in einem kleinen Betrieb, in dem ein Beschäftigter Teilzeitarbeit beantragt - obwohl auch in kleineren Betrieben sehr viele Teilzeit arbeiten damit zu viel Bürokratie verbunden ist, insbesondere wenn nach einer Ablehnung ein Arbeitsgerichtsverfahren stattfindet. Darauf haben wir Rücksicht genommen. Ab 16 Beschäftigten kann man Teilzeit einrichten oder eine Ablehnung entsprechend rechtfertigen. Ebenso wie hier habe ich auch in allen Diskussionen mit Vertretern des BDI oder anderen gesagt: Die Industrie sieht heute, welche Fehler sie in der betriebsnahen Ausbildung von Menschen in den Informations- und Kommunikationstechnologien gemacht hat. Wenn sie jetzt nicht Rahmenbedingungen schafft und wirklich darauf schaut, wie Beruf und Familie familienfreundlich miteinander vereinbart werden können und wie das hohe Qualifikationspotenzial der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland von heute erhalten bleiben kann, auch wenn sie über viele Jahre Teilzeit arbeiten, dann würde sie den gleichen Fehler machen, den sie in den letzten Jahren gemacht hat, indem sie sich immer mehr von der Ausbildung verabschiedet hat. Heute beklagt sie aber, dass wir einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften haben. Ein wirklich guter Unternehmensgeist und eine vernünftige unternehmerische Planung müssten vorwärts weisend sein, indem sie Frauen und Männern ermöglichen, mehr Zeit für ihre Familien zu haben. Unsere Unternehmenspolitik ist Gesellschaftspolitik. Deswegen begrüßen wir diesen Entwurf. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Schmidt, können Sie mir die Grenze von 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Betriebes sachlich begründen? Für mich ist sie willkürlich.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Man muss natürlich eine Grenze setzen. Darin liegt immer ein wenig Willkür. Ich glaube nur, dass ein Betrieb mit 16 oder mehr Beschäftigten dies leisten kann. Es gibt ja kaum Betriebe, die zwischen 16 und 20 Beschäftigte haben. Eine größere Zahl von Betrieben hat über 20 Beschäftigte. Schauen Sie sich die entsprechenden Statistiken an! ({0}) - Ich lebe mitten in Deutschland. Ich weiß, wie das Leben hier ist. Wir glauben, dass es Betrieben ab dieser Grenze besser möglich ist, Teilzeitarbeitsplätze einzurichten, weil sie über mehr Beschäftigte verfügen. Wenn jemand sagt, das sei in seinem Betrieb nicht möglich, dann muss er das schriftlich begründen, sodass der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin eine Möglichkeit hat, dagegen vorzugehen. Aber es gilt: Je größer ein Betrieb ist, desto besser kann er die neuen Regelungen verkraften. Ich hätte gerne die Grenze bei 10 Beschäftigten gesetzt. Die Grenze von 15 Beschäftigten ist ein Kompromiss. Aber trotzdem ist diese Grenze genauso willkürlich wie die von 13 oder 17 Beschäftigten. Die Grenze hängt damit zusammen, dass wir Kleinbetriebe ausnehmen wollen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin Lenke?

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Schmidt, Ihre Erklärung befriedigt mich sehr, weil ich nun kein Vorurteil mehr habe. Ich habe jetzt vielmehr die Gewissheit, dass Sie glauben, dass die Betriebe ab 15 Mitarbeitern dieses schaffen können. Ich finde es aber traurig, dass Sie auf bestimmte Betriebe nicht abheben. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie müssen eine Frage stellen.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich frage Sie: Haben Sie mit Ihrer Regelung auch die Betriebe ab 15 Mitarbeitern gemeint, die überwiegend Frauen eingestellt haben, weil Frauen qualifiziert und in ihrer Arbeit verlässlich sind? Diese Tatsache haben Sie meines Erachtens bei der Festlegung der niedrigen Grenze, ab der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit besteht, nicht bedacht.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Lenke, 70 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten. Es gibt darüber Statistiken, in denen man die Zahlen nachlesen kann, was Ihr Kollege einmal tun sollte. Rund 30 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten in Betrieben mit unter 10 Beschäftigten. In diesen Betrieben gibt es viel Teilzeitarbeit. Für sie wäre es aber eine große Belastung, wenn dort der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit bestehen würde. Ich glaube, dass in kleinen Betrieben sehr viel mehr durch das Miteinanderreden zu erreichen ist. Wenn wir feststellen, dass es für Mütter und Väter in Betrieben unter 15 Beschäftigten ein großes Problem ist, im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber eine Teilzeitarbeit zu bekommen, dann müssen wir darüber reden. In diesem Falle würde aber die Grenze nach unten und nicht nach oben gesetzt. Ulla Schmidt ({0}) In größeren Betrieben kann diese Teilzeitregelung auch im Einvernehmen - besser durchgesetzt werden. Wir werden in zwei oder drei Jahren einen Bericht über die Wirksamkeit dieses Gesetzes vorlegen. Dann können wir sehen, ob es wirkt oder ob wir etwas tun müssen. In diesem Punkt bin ich nicht bange; denn es gehört dazu, zu Veränderungen bereit zu sein und auf Fehlentwicklungen zu reagieren, wenn man etwas Neues macht. Es ist zunächst einmal ein Riesenerfolg, dass wir den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit in Betrieben ab 15 Beschäftigten haben. Mir schwebt vor, dass wir wie die Niederländer, die immer als Vorbild für unsere Wirtschaft dienen, den Teilzeitanspruch für alle Beschäftigten verankern. Das wäre mir noch viel lieber. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf einige Aspekte der Debatte aufnehmen. Ich möchte mit Ihnen, Frau Ministerin Bergmann, beginnen und gleichzeitig Frau Schewe-Gerigk ansprechen. Sie beide haben davon gesprochen, dieses Gesetz sei eine kleine Revolution. Aber mit dieser Revolution hätten Sie noch keinen deutschen Bahnsteig gestürmt. ({0}) Diese Novelle zum Bundeserziehungsgeldgesetz ist doch die Magerstufe einer familienpolitischen Reform, Reform light. Ein seltenes Phänomen: wenig Licht, viel Schatten. Wir haben ja das Positive an diesem Gesetzentwurf anerkannt:AnhebungderEinkommensgrenzen-abernursehr bescheiden -, Flexibilisierung des Erziehungsurlaubs aber sehr in Maßen -, Anspruch auf Teilzeittätigkeit während des Erziehungsurlaubs - okay. Aber sehr weit reicht dieser Entwurf nicht. ({1}) Wenn man Sie an all Ihren Verheißungen, Ankündigungen und Ihrer Kritik von gestern an der Vorgängerregierung misst, ist dieser Entwurf nur eine Maus, die der Berg geboren hat, und trägt nicht sehr weit. ({2}) Was wir übrigens - der Kollege Holetschek hat es bereits gesagt - einfach nicht akzeptieren, ist, dass die wirklich bahnbrechenden familienpolitischen Leistungen, von denen man sagen kann, dass sie in den 80er-Jahren revolutionär und neu waren, geleugnet werden: Einführung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs - wir sagen lieber: Erziehungszeit; im Gegensatz zu Ihnen sind wir bereit zu lernen -, Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der Rente, Ausbau des Familienleistungsausgleichs. Das war revolutionär! ({3}) Dann kam die Zäsur. Frau Schmidt, Sie haben hier wieder von den 1,5 Billionen DM gesprochen, was ich nicht mehr hören kann. Sie wissen doch, dass diese 1,5 Billionen DM im Wesentlichen die Abbruchlasten des konkursreifen Sozialismus in der DDR sind. ({4}) Es ist schwierig für Sie - das war es auch für die Vorgängerregierung -, Familienpolitik zu gestalten. Das muss man akzeptieren. Aber es gilt, eine neue Zäsur zu setzen. Frau Lenke hat Recht: Ihr Gesetzentwurf ist kein großer Wurf und keine große Zäsur. Aber ich will mich noch mit etwas anderem auseinander setzen. Man kann nicht über Haltungen und Werturteile streiten. Werturteile stehen in der Zustimmungskonkurrenz der Bürgerinnen und Bürger. Man muss sie nur offen legen und transparent machen. Ich bin Frau Wester dankbar, dass sie als eine der wenigen gesagt hat, der Gesetzentwurf beinhalte einen Paradigmenwechsel. Im Wesentlichen bewegen Sie sich in den Bahnen der Vorgängerregierung. Es sind die Ecksteingesetze, die Sie jetzt weiter gestalten. Aber es ist schon ein Paradigmenwechsel. Wenn Sie beispielsweise einen klaren Anreiz setzen, indem Sie 900 DM Erziehungsgeld zahlen, wenn man es nur ein Jahr in Anspruch nimmt ({5}) - das sage ich ja -, führt das faktisch dazu, dass der Anreiz, sich dem Kind längere Zeit zu widmen - was wir wollten, weil wir meinen, das Kind braucht in den prägenden ersten Jahren besondere Zuwendung -, schwindet. Sie rücken die Schiene des Erwerbslebens in den Vordergrund. Wir denken die Reform anders als Sie. Wir denken sie vom Kinde her. ({6}) Wir sagen, es ist für das Kind besser, wenn in seinen prägenden ersten Jahren ein Elternteil oder beide Partner für die Erziehungsarbeit zur Verfügung stehen. Sie setzen die Anreize fälschlich genau in die entgegengesetzte Richtung. Das ist der Paradigmenwechsel, der in Ihrem Gesetz spürbar wird. ({7}) Ein bisschen mehr Fantasie wäre doch wünschenswert. Sie beklagen mit Recht - das hängt auch mit dem Zustand der Einkommensverteilung und des Familienleistungsausgleichs, wie er heute, im Status quo ist, zusammen -, dass so wenig Väter Erziehungsurlaub nehmen. Hier einen Ulla Schmidt ({8}) Anreiz ins Gesetz einzubauen, indem wir sagen: „Die Eltern, die die Erziehungsarbeit in der frühkindlichen Phase partnerschaftlich miteinander leisten, sollen auch etwas mehr Erziehungsurlaub haben“, wäre doch prüfenswert. Wie wäre es denn mit einem Partnerschaftsbonus für die Eltern, die diesen Erziehungsurlaub teilen? Das wäre ein Anreiz für mehr Partnerschaft. Den vermisse ich in wesentlichen Passagen Ihres Gesetzes. Wir halten es auch für ganz bedenklich, dass Sie die Einkommensgrenzen für Alleinerziehende gegenüber verheirateten Eltern überproportional erhöhen. ({9}) Das ist eine Schlechterstellung, eine Benachteiligung verheirateter Eltern, die wir nicht akzeptieren. Im Übrigen glauben wir, dass diese Ungleichbehandlung sehr schnell am Eisberg des Verfassungsrechts schrammen könnte. Wir stehen auch der Bestimmung und der Wirkung dieses Gesetzes ganz kritisch gegenüber, dass die erhöhten Einkommensgrenzen im Wesentlichen von den Erziehungsgeldempfängern mit mittlerem Einkommen finanziert werden. Was ist das für eine Revolution, wenn wir Umverteilung zwischen Eltern machen? Das ist doch zu kurz gesprungen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({10}) Vieles andere, was im Raum ist, was jetzt realisiert werden müsste, kommt in Ihrem Entwurf nicht zum Tragen. Der Kollege Holetschek hat es gesagt. Wie ist es mit der Dynamisierung von Familienleistungen? Wie ist es ich habe das bereits ausgeführt - mit einem Anreiz im Sinne eines Partnerschaftsbonus? Wie ist es mit der Förderung wirklicher Partnerschaft zwischen den Eltern? Hier will ich mit einem granitenen Vorurteil aufräumen, das in mehreren Diskussionsbeiträgen rot-grüner Sprecher genannt worden ist. Die Union ist dafür, die Rahmenbedingungen so zu gestalten und so zu verbessern, dass die Entscheidungsfreiheit der Eltern gefördert wird, gestärkt wird. Wir wollen die wirklich faire Wahlchance, wann, wie, wo und ob Familie und Beruf miteinander vereinbart werden sollen. Wir halten Ihnen vor, dass Sie in Wahrheit diese Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit nicht wollen. Sie wollen die Entscheidung - siehe die verunglückte Budgetregelung in Ihrem Gesetz - in eine ganz bestimmte Richtung lenken. Sie können sich nur vorstellen: außerhäusliche Betreuung so bald als möglich, so lange wie möglich und zurück ins Berufsleben so früh wie möglich. Unser Vorschlag ist: Denken Sie die Reform vom Kind her. Das Kind braucht Bezugspersonen, ({11}) Nähe, Betreuung durch die Eltern. Die Anreize, die Sie setzen, sind alle falsch. ({12}) Also keine Revolution, aber gewisse Elemente eines Paradigmenwechsels weg von einer gewollten und zu wünschenden Entscheidungsfreiheit, die zu stützen wir uns durch Ausbau und Aufbau der richtigen Rahmenbedingungen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Familienleistungsausgleich, zum Anliegen machen müssten. So gesehen begegnen wir diesem Entwurf sehr kritisch. Sie haben nach Anträgen gefragt. Wir werden unsere Gegenvorstellungen im Gesetzgebungsverfahren zur Geltung bringen. Wir werden Alternativen sichtbar machen, auch die Werturteile, auch die Wertentscheidungen, die alternative Vorstellungen tragen. Daran liegt uns sehr. Es geht um die unterschiedlichen Grundansätze, um die Grundeinstellung zu Familie und Kindern und wirklicher Partnerschaft in der Debatte zu verdeutlichen. ({13}) Gehen wir in diesem Sinne ans Werk! Viel, Frau Bergmann - den Bergmannsgruß „Glück auf!“ mag man bei diesem Gesetz gar nicht sagen -, liegt uns allerdings als Grundlage nicht vor. Danke. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Christa Wolf das Wort. ({0}) - Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist nicht das erste Mal, dass ein solcher Lapsus passiert, Frau Präsidentin. Das ist kein Problem. Sehr geehrter Herr Kollege Weiß, Sie haben eben die Debatte benutzt, um abermals eine These in die Welt zu setzen, die von Ihrer Seite des Hauses häufig wiederholt wird, nämlich dass die 1,5 Billionen DM Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland auf das so genannte kommunistische Erbe zurückgingen. Ich will Ihnen sagen: Diese Aussage wird durch ständiges Wiederholen nicht richtiger. ({0}) Es gibt keinerlei Zweifel daran - meine Fraktion und meine Partei haben daran auch nie einen Zweifel gelassen -, dass es eine international nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft gegeben hat. Das wissend ist eine Währungsunion in Gang gesetzt worden, die ohne Anpassungsfristen und ohne entsprechende Modalitäten diese Wirtschaft total in den Ruin geführt hat. Zu Beginn der deutschen Einheit war die alte Bundesrepublik Deutschland schon mit 900 Milliarden DM verschuldet. Als die Deutsche Bahn privatisiert worden ist, hat es eine Übernahme der Schulden gegeben. Das ist in den Bundeshaushalt als Schuldposten übernommen worden. Bei der Privatisierung von DDR-Unternehmen ist es nie geschehen, dass man Gerald Weiß ({1}) deren Schulden so komplett übernommen hat. Die Schulden der Treuhandanstalt haben am Ende 256 Milliarden DM betragen. Sie wollen doch nicht behaupten, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Arbeit der Treuhandanstalt mit einem anderen Ergebnis zu beenden. Wenn es eine komplette Marktumverteilung gibt, dann ist es klar, dass eine international nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft nicht in eine Marktwirtschaft hineinwachsen kann. Wenn man ein Potenzial von qualifizierten Menschen lieber alimentiert, als es nutzbar zu machen - über diesen Punkt werden wir noch im Rahmen des neuen Punktes auf der Agenda zu sprechen haben -, dann ist völlig klar, was an Verschuldung entstehen muss. Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, dass Sie die Öffentlichkeit nach wie vor bezüglich dessen irreführen, was in die deutsche Einheit eingebracht worden ist. Wir haben auch Potenziale eingebracht; wir haben nicht nur ein Minus eingebracht. Das muss die Öffentlichkeit ausgehend von diesem Haus bitte zur Kenntnis nehmen. ({2}) Ein letzter Satz. Die Außenschulden der DDR haben zu Beginn der Währungsunion - das ist keine Berechnung, die die PDS angestellt hat; die Bundesbank hat sie angestellt - 19 Milliarden DM betragen. Auch dieses möge die Öffentlichkeit ausgehend von der heutigen Debatte bitte zur Kenntnis nehmen. Alle Horrorszenarien sind in der Tat fehl am Platze. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Weiß, bitte.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Luft, ich möchte mich eigentlich nur ungern mit Ihnen auseinander setzen. ({0}) - Erstens habe ich es nicht besonders gerne, mit der PDS zu reden. ({1}) Zweitens stehen Sie für viele Irrtümer - Zahlenirrtümer und Irrtümer in der Sache - in der DDR von gestern. ({2}) Sie waren, glaube ich, die Dame, die den Sanierungsbedarf der DDR-Wirtschaft einmal auf 3 Milliarden DM beziffert hat. Lasst Zahlen sprechen! Ich lasse Zahlen auch im Übrigen sprechen: Die Gesamtheit der DDR-Auslandsschulden, des Umstrukturierungsbedarfs, des Folgemittelbedarfs etwa auf dem Sektor der Angleichung der Sozialversicherungssysteme - alles zusammen wiegt 900 Milliarden DM. Da 900 Milliarden DM der größere Teil von 1,5 Billionen DM sind, ist richtig, was ich sagte, nämlich dass der größte Teil der Schuldenlast, mit der wir es zu tun hatten und mit der es die heutige Regierung zu tun hat, das Erbe der untergegangenen DDR darstellt. Danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3118, 14/2758 und 14/2759 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3192 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/3118 über- wiesen werden. Einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps - Drucksache 14/3012 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik folgenabschätzung Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Guido Westerwelle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrümpeln - Drucksache 14/3023 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Das ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat angekündigt, den seit 1973 existierenden Anwerbestopp aufzuheben ({0}) und damit die seit mehr als 25 Jahren erste staatlicherseits veranlasste Zuwanderungswelle zu organisieren. Die CDU/CSU-Fraktion beantragt, diese unvorbereitete und unkoordinierte Aktion der Bundesregierung abzulehnen. ({1}) Es ist etwas mehr als zwei Monate her, dass Minister Riester hier im Deutschen Bundestag auf eine entsprechende Anfrage der CDU/CSU-Fraktion wörtlich mitgeteilt hat: Wie in den anderen Branchen muss auch im Bereich der Datenverarbeitung das Problem der ausreichenden Gewinnung von Fachkräften durch Maßnahmen am inländischen Markt gelöst werden. Die Zulassung von Arbeitnehmern aus dem Ausland würde die Ursachen des Mangels nicht beheben, sondern allenfalls kurzfristig verdecken. Ich bin einmal gespannt, wie Minister Riester heute hier im Bundestag versucht, uns das Gegenteil zu erklären. ({2}) Meine Damen und Herren, ich bin ebenso gespannt, wie sich der ehemalige stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Riester zu den Äußerungen der Gewerkschaften in Deutschland stellen wird, zum Beispiel zum Artikel des Vorsitzendender IGMetall, dessenStellvertreter erwar,der in der Zeitschrift „Metall“ gerade erklärt hat, die Green Card sei eine rote Karte für die Arbeitslosen. Herr Zwickel hat zwar selten Recht, aber an dieser Stelle hat er Recht. ({3}) Gleichauf der DGB-Vorsitzende Schulte: „Die Forderung ist angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen nicht nachvollziehbar“, oder der DAG-Vorsitzende Issen: „Man kann nicht einfach die Schleusen öffnen.“ Jeder, der sich mit Arbeitsmarktfragen beschäftigt, weiß, dass dies eine falsche Lösung für die bestehenden Probleme ist und dass es deshalb nicht richtig ist, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt dadurch lösen zu wollen, dass wir den Entwicklungsländern ihre neu ausgebildeten Eliten wegkaufen. ({4}) Einwanderung kann keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik ersetzen. Es hat niemand etwas dagegen, dass in dem einen oder anderen Bereich Fachleute nach Deutschland kommen. Das ist schon heute so. Das geht mit dem bestehenden Instrumentarium. Aber jetzt eine staatliche Einwanderungspolitik betreiben zu wollen - und das ohne Konzept, ohne ausreichende Vorbereitung und vor allen Dingen ohne ein Gesetz, das heißt ohne Einbeziehung des Deutschen Bundestages -, ist der falsche Weg. Deshalb stelle ich fest: In dieser Frage wird vonseiten RotGrün versucht, die Bevölkerung der Bundesrepublik systematisch zu täuschen. ({5}) Wer sagt denn, dass es im Bereich der Computertechnologie wirklich 75 000 offene Stellen gibt? Jede Kollegin und jeder Kollege, die oder den ich gebeten habe, einmal zu Hause im Arbeitsamt nachzufragen, wie die Situation aussieht, kommt mit völlig anderen Zahlen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, in Nürnberg sagt dazu wörtlich: Das sind allenfalls grobe Schätzungen, die nur Sinn machen, um die immer wieder auftretenden Engpässe plakativ in die Öffentlichkeit zu tragen und Aktionen auszulösen. Das ist es wahrscheinlich. Es geht nicht darum, die Probleme zu lösen, sondern darum, eine ganz bestimmte öffentliche Kampagne zu fahren. Eines allerdings ist wahr: Die Industrie hat in den letzten Jahren zu wenig ausgebildet und versucht jetzt, von ihren Versäumnissen abzulenken. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie sich einmal mit diesem Thema beschäftigen, dann werden Sie schnell zu der Erkenntnis kommen, dass in diesem Jahr 47 000 Personen in Deutschland für diesen Bereich ausgebildet werden. Davon kommen 32 000 aus Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, 6 000 aus den Informatikstudiengängen unserer Universitäten, 2 000 aus den Berufsfachschulen, aber nur 7 000 aus der dualen Ausbildung, also aus der Industrie. Da liegt das Problem, nirgendwo anders - und da muss es auch gelöst werden, nicht im Ausland. ({7}) Da wird behauptet, es gebe in Deutschland keine Arbeitskräfte, die man auf diese freien Stellen, die es unzweifelhaft gibt, vermitteln kann. Wahr ist aber, dass es mehr als 30 000 arbeitslose Computerexperten in Deutschland gibt. Wahr ist, dass es mehr als 50 000 arbeitslose Ingenieure gibt. Wahr ist, dass wir jedes Jahr 12 Milliarden DM für Umschulung und Weiterbildung ausgeben. Aber anstatt sich jetzt darauf zu konzentrieren, die freien Stellen mit diesen Leuten zu besetzen, wird gesagt: Das geht nicht, wir brauchen Leute aus dem Ausland. Wer aber einmal nachhakt, warum diese Leute nicht eingestellt werden, ({8}) der kommt zu der Erkenntnis - ich beziehe mich auf den Artikel aus der „Computerwoche“: Mit 40 auf dem Abstellgleis! -, dass die entsprechenden Firmen sagen: Wir stellen keinen über 35-Jährigen ein. Jetzt sind wir bei einem in diesem Zusammenhang ganz spannenden Punkt. Es kann nicht sein, dass wir zu einer Gesellschaft werden, die bereits 40-Jährigen mitteilt, sie seien zu alt, moderne Berufe auszuüben. Dies ist nicht zu verantworten, und allein deshalb brauchen wir in diesem Bereich eine andere Politik. ({9}) Da behaupten Sie, man müsse sofort Leute aus dem Ausland holen, weil die Stellen jetzt zu besetzen seien, und Ausbilden würde zu lange dauern. Nun weiß ich noch, was ich als Minister in diesem Hause gesagt und was ich getan habe. Ich weiß zum Beispiel, dass ich 34 neue Berufe eingeführt habe - davon manche in diesem Bereich -, in denen sich zurzeit 35 000 junge Menschen in Ausbildung befinden, ({10}) während Ihr Bundeskanzler damals in Hildesheim einen ganzen Informatikstudiengang abgeschafft hat - mit der Begründung, es gebe zu viele Informatiker in Deutschland. ({11}) Das ist die Wahrheit. ({12}) Ich habe die Aktion „Schulen ans Netz“ ins Leben gerufen. Damit haben wir in unseren Schulen überhaupt erst den Einstieg in das Internetzeitalter geschafft. ({13}) Während Herr Clement jetzt in Nordrhein-Westfalen sagt, er wolle für jede Klasse bis zum Jahre 2003 einen Internetzugang, sagen Sie: Die Experten müssen sofort kommen. ({14}) Das verstehe einmal jemand: Unsere Klassen haben bis zum Jahr 2003 Zeit, aber die Experten aus dem Ausland sollen sofort kommen. Das, was Sie hier verkaufen wollen, ist die falsche Politik. ({15}) Beschäftigen wir uns doch einmal damit, wie die Wirklichkeit aussieht. ({16}) Ich sage es übrigens mit ein Stück Scham und mit Trauer: ({17}) In Bayern sind inzwischen 87 Prozent der Schulen mit Computern ausgestattet, in Baden-Württemberg 100 Prozent. ({18}) In Nordrhein-Westfalen aber sind es leider nur 45 Prozent. Das zeigt, wo das Problem liegt. Weil Rot-Grün die Zukunft verschläft, kommen wir in der Sache nicht weiter. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Ganz konkret: An der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal kann der Studiengang „Angewandte Informatik“ nicht eingeführt werden, weil die Genehmigungen von der nordrhein-westfälischen Landesregierung nicht vorgelegt werden. An der RWTH Aachen wird der neue internationale Studiengang, zusammen mit den belgischen und niederländischen Freunden, nicht eingerichtet, weil die entsprechenden Genehmigungen durch RotGrün in Düsseldorf nicht vorliegen. An der Universität Dortmund muss der Fachbereich Informatik eine Professur, 4,5 Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter und 2,5 Stellen für Nichtwissenschaftler abgeben. Das ist die Realität, die Sie zu übertünchen versuchen, indem Sie Experten aus dem Ausland holen. Sie sollten eher nach dem Motto verfahren: mehr Ausbildung statt Einwanderung. ({0}) Völlig unverständlich ist, wenn die Fernuniversität Hagen, die eigentlich das Paradestück ist, das wir in Deutschland in dem Bereich haben, 50 Stellen im Rahmen eines so genannten Qualitätssicherungspaktes abgeben muss. Das zeigt, dass wir viel mehr Anstrengungen machen müssen, um unseren Kindern Möglichkeiten zu geben, in diesen modernen Berufen ausgebildet zu werden, ({1}) und dass das der einzige Weg ist, die freien Stellen langfristig und mittelfristig zu besetzen. ({2}) 35 000 junge Leute sind zurzeit bereits in den damals von mir durchgesetzten Berufen in Ausbildung. Die ersten 7 000 kommen in diesem Jahr aus der Ausbildung. Alles das beweist, dass es falsch ist zu behaupten, die Stellen könnten nicht besetzt werden. Sie können besetzt werden mit Arbeitslosen im Bereich der Computerberufe. Sie können besetzt werden mit neu ausgebildeten jungen Leuten. Sie können besetzt werden mit Umschülern und Leuten, die weitergebildet werden müssen. Daher gibt es eine Chance, mit dem sicherlich vorhandenen Problem auch kurz- und mittelfristig fertig zu werden. Deshalb sage ich: Die Debatte wird nicht mehr enden. Wir werden hier im Deutschen Bundestag über die Frage der Regelung von Zuwanderung diskutieren müssen und zu Lösungen kommen müssen, weil solche unkoordinierten und unvorbereiteten Aktionen nicht nur verunsichern, sondern den falschen Weg in die Zukunft zeigen. ({3}) Dann will ich Ihnen ein weiteres Zitat aus der „Computerwoche“ 13/2000 vorlesen. Da werden Meinungen, unter anderem eines Sali S., aufgeführt. Ich zitiere das einmal: ({4}) Obwohl ich als Inder selbst in Deutschland studiert habe, ({5}) muss ich doppelt so gut sein wie ein Deutscher, damit ich die Hälfte von dem verdiene, was er verdient. Ich kenne einige Inder, die für 1 200 DM im Monat arbeiten. Es geht nur um billige Arbeitskräfte. Keiner kann mir etwas anderes weismachen. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn das der Hintergrund ist, wenn jetzt mit Unterstützung von Rot-Grün Lohndumping in Deutschland stattfinden soll, ({7}) dann sind wir an einem Punkt angekommen, an dem eben nicht Zukunft gestaltet wird, sondern an dem Menschen schlicht in die falsche Richtung geführt werden. ({8}) Dass Sie um das Ganze wissen, hat Herr Wiefelspütz gerade in diesen Tagen deutlich gemacht. Er hat nämlich gesagt - ich zitiere aus der „Rheinischen Post“ -: Mit den Greencard-Plänen hat der Bundeskanzler eine Kettenreaktion ausgelöst, deren Folgen er kaum bedacht hat. Er hat einen Dominostein umgeschmissen und der klackert jetzt durchs Land. ({9}) Ich sage Ihnen: Mit solchen Themen kann man nicht so umgehen, wie es der Bundeskanzler bei der CeBIT gemacht hat. Vielmehr muss darüber diskutiert werden und da müssen Regelungen gefunden werden. Die zukünftigen Spielregeln müssen in einem vom Deutschen Bundestag zu verabschiedenden Gesetz festgehalten werden. ({10}) Ich weiß, dass Sie die ganze Sache nervös macht; ({11}) denn Sie wissen genau, dass die Menschen im Ruhrgebiet und anderswo spüren, dass sie letztlich von Ihnen allein gelassen werden mit ihren Ängsten vor Fusionen, vor dem Verlust des Arb eitsplatzes und dem Verlust von Zukunft. ({12}) Ich stehe nicht an - da können Sie versuchen, so viel Meinungsterror zu machen, wie Sie wollen -, diese Ängste ernst zu nehmen und den Menschen zu sagen: Zukunft geht auch menschlich. Es ist notwendig, solche Äußerungen aufzunehmen; denn Modernisierung geht nur, wenn man Menschen mitnimmt und nicht über sie hinwegregiert, wie Sie das zurzeit versuchen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({13}) Lassen Sie mich abschließend etwas sagen, was sehr deutlich macht, dass es sich nicht nur um eine nicht koordinierte und nicht vorbereitete Aktion handelt, sondern wahrscheinlich sogar um eine Aktion wider besseres Wissen. ({14}) Ich zitiere einmal aus der „FAZ“ vom 17. August 1995. Dort heißt es in dem Artikel „Fremde Federn“ wörtlich: Morgen könnte es durch die Internets für Unternehmen lohnender sein, Ingenieurleistungen in Indien zu kaufen und den deutschen Konkurrenten zum Arbeitsamt zu schicken. ({15}) Volkswirtschaftlich wäre das eine Katastrophe. Weiter heißt es: Die Arbeitswelt insgesamt und die Menschen in ihr werden sich verändern. Sozialdemokraten müssen sich hier einmischen und den Mut haben, die Arbeitswelt von morgen mitzugestalten. Sonst könnten wir in eine entsinnlichte Welt hineinwachsen. Dieser Artikel ist von Gerhard Schröder, 17. August 1995. ({16}) Das zeigt: Der Mann ist nicht nur beliebig. ({17}) Er weiß nicht nur nicht, wovon er redet, sondern dieser Mann tut etwas wider besseres Wissen. Green Card ist eben ein Signal der Ohnmacht und nicht ein Signal des Aufbruchs. ({18}) Rot-Grün weiß das. Deshalb lehnen wir dies ab. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Tauss das Wort. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hätte Herr Rüttgers den Mut, in einer laufenden Debatte auf Fragen zu antworten, dann könnte man sich Kurzinterventionen sparen. ({0}) Herr Kollege Rüttgers, zunächst einmal: Sie werden Ihrer Verantwortung, mit dem, was Sie hier vortragen, nicht gerecht. Laut Shell-Studie sind 25 Prozent der Jugendlichen in unserem Land ausländerfeindlich. Statt denen zu sagen, was an Koordination und Kooperation mit intelligenten Köpfen in einer globalisierten Welt auf sie zukommt, hetzen Sie Jugendliche auf. Das größere Problem aber ist, dass Sie in vielen Bereichen die Unwahrheit verbreiten. So sagen Sie, die Schulen in Baden-Württemberg seien zu 100 Prozent am Netz. Wissen Sie: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast! - Wenn in einer baden-württembergischen Schule nur ein einziger Computer stand - das war die Politik der CDU/F.D.P.-Regierung: einen PC an die Schulen zu bringen -, dann hieß es, diese Schule sei am Netz. So stellen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns die Ausstattung von Schulen mit Computern nicht vor, lieber verehrter Kollege Rüttgers. ({1}) Und zu der Behauptung, Sie hätten die Schulen ans Netz gebracht: Gut, Sie hatten nie einen Computer. Sie wissen nicht, was das Internet ist. Vom „Spiegel“ mussten Sie sich vor dem PC Ihrer Mitarbeiterin fotografieren lassen. Deswegen mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie von Computern nichts verstehen; das war schon, als Sie noch Forschungsminister waren, offensichtlich. Nur, Ihr Programm war, 10 000 Schulen ans Netz zu bringen. Wir bringen im Moment 44 000 Schulen ans Netz ({2}) und sorgen dafür, dass die Gebühren der Schulen dafür sinken. In Ihrem Verantwortungsbereich waren die Gebühren ein Hauptgrund dafür, dass die Schulen von Internetnutzung wieder abgelassen haben - ohne dass Sie sich um diese Probleme auch nur annähernd gekümmert hätten. Das ist die Wahrheit und nicht das, was Sie mit Ihrer Ausländerhetze hier betreiben. ({3}) Im Übrigen ist nur ein Blinder gegen Inder. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Darf ich Sie alle bitte ermahnen, dass es zumindest so leise sein muss, dass man den nächsten Redner hören kann. Das ist jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundesminister Walter Riester.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Rüttgers, ich kann gut nachvollziehen, dass dem Wahlkämpfer die Nerven blank liegen. ({0}) Aber trotzdem: Der Deutsche Bundestag debattiert heu- te über ein Zukunftsprogramm. Es geht um die Schaf- fung zusätzlicher Arbeitsplätze in einer Zukunftsbranche, Herr Rüttgers. Es geht mittelbar also auch um die Steige- rung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Qualität der Arbeit in der Zukunft. Um dies zu erreichen, hat die Bundesregierung beschlossen, die Grenzen des Ar- beitsmarktes für einen begrenzten Personenkreis, nämlich für 20 000 IT-Spitzenkräfte, für eine Beschäftigung von bis zu fünf Jahren zu öffnen. Dieser Beschluss entspricht dem politischen Willen der Bundesregierung, die Entwicklung eines boomenden Be- reiches - in Absprache mit den Fachbranchen - nicht zu bremsen. Die Bundesregierung hat rasch reagiert. Wir werden verhindern, dass der aktuelle Mangel an Spitzen- kräften zum Engpass für die Schaffung von Arbeitsplät- zen wird. Diese Engpässe werden wir beseitigen. Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers Engpässe!) Denn die Branche sagt ganz eindeutig - daran zweifeln wenige -, dass jeder Experte in diesem Bereich, wenn er denn tätig wird, die Schaffung weiterer vier bis fünf Arbeitsplätze auslöst. Darum geht es. ({1}) Lieber Herr Rüttgers, ich komme gerne zurück auf Ihren Hinweis, der Arbeitsmarkt werde jetzt erstmals geöffnet. Herr Rüttgers, wo waren Sie denn, als die alte Regierung unter Ihrer Mitwirkung mit zwölf osteuropäischen Ländern Regierungsvereinbarungen über 54 000 Bauarbeiter, Stahlarbeiter und Landarbeiter getroffen hat? ({2}) 43 000 davon sind im Moment noch bei uns tätig. Ich würde Ihnen gern sagen, wie viele davon in NRW sind. Das war doch nicht im Interesse des Arbeitsmarktes. Ich weiß auch nicht, ob es unmittelbar im Interesse Deutschlands war. Ich kritisiere das nicht - um das deutlich zu machen -, denn man kann das machen, um dem Arbeitsmarkt dieser Länder zu helfen. Aber ich halte es für unmöglich, lieber Herr Rüttgers, dass diese Vereinbarungen ohne Konditionen gemacht worden sind. Die Schaffung nicht eines einzigen Ausbildungsplatz hat man zum Inhalt der Vereinbarungen gemacht. ({3}) Wir haben die Genehmigung für 20 000 Spitzenkräfte, die zu zusätzlicher Beschäftigung führen werden, daran gebunden, dass zusätzlich 20 000 Ausbildungsverhältnisse angeboten werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer ({4}) Meine Damen und Herren, das ist zusätzlich zu dem, was wir in den letzten Monaten mit der Branche vereinbart haben, und zusätzlich zu dem Zuwachs an Ausbildungsplätzen, der sich dort wie nirgends sonst entwickelt. Sie haben auch Unrecht, Herr Rüttgers, wenn Sie nur auf das duale Ausbildungssystem abheben. ({5}) Nein, die Mängel - das wollen wir deutlich aufzeigen - liegen natürlich auch in der Hochschul- und Fachhochschulausbildung. Aber ich will hier gar nicht nachkarten. Natürlich gibt es Defizite auf breiter Ebene, aber die können Sie nicht nur der Industrie anlasten. Diese haben andere mitzutragen. Aber heute darüber zu rechten, wo überall die Fehler lagen - vor allen Dingen, wenn Sie das tun - grenzt an eine Heuchelei, die kaum zu überbieten ist. ({6}) Wenn das dann die Basis für eine inhaltliche Auseinandersetzung in Wahlkampfzeiten ist und Sie in NordrheinWestfalen die Ängste schüren, die Sie hier unters Volk bringen, müssen Sie sich über Retourkutschen, die dann von manchen Stammtischen kommen, nicht wundern. ({7}) Bitte schlagen Sie sich dann nicht in die Büsche, sondern stehen Sie zu dem, was Sie im Moment ankurbeln. ({8}) Ich will Ihnen gern sagen, wie viele im Moment in den Branchen arbeitslos sind, für die es Regierungsabkommen gab, die Sie mitgetragen haben. Wir haben im Moment 148 000 Arbeitslose in der Land- und Forstwirtschaft. Wir haben 202 000 Arbeitslose - übrigens viele davon in Nordrhein-Westfalen - in der Eisen und Stahl schaffenden Industrie. Dort sind im Moment 7600 auf der Basis der von Ihnen abgezeichneten Regierungsvereinbarungen aus Polen und anderen Ländern tätig. Ich kritisiere das nicht, ich stehe dazu. Aber ich mache keine so verlogene Politik, wie ich das im Moment aus Ihrem Wahlkampf höre. ({9}) Wenn Sie mit den Verhetzungsparolen nicht aufhören, werde ich die Arbeitslosenzahlen Nordrhein-Westfalens in diesem Bereich für die einzelnen Arbeitsamtsbezirke aussortieren und zur Verfügung stellen. Dann erklären Sie Ihre Politik von vorgestern den Leuten von heute. ({10}) Aber hören Sie bitte mit diesen Kampagnen auf. ({11}) Diese Kampagnen machen nicht nur die Zukunft kaputt, sondern stoßen Leute in die Vergangenheit und hetzen sie auf. Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, die Nervosität eines Wahlkämpfers, ({12}) die heute überdeutlich zu hören war, zu korrigieren. ({13}) Wir stehen dazu, in begrenztem Umfang, klar ausgewiesen, Spitzenkräfte mitarbeiten zu lassen, um an zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten das zu entfalten, was wir dringend nötig haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Aber gerne. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine solche Debatte hat nur Sinn, wenn die, die Sie mit einer Maßnahme oder einer Reaktion bedrohen, auch verstehen können, was Sie meinen, was Ihre Alternative sein soll. ({0}) Ich möchte Sie bitten, uns noch einmal zu erklären, was Sie im konkreten Fall bei den einzelnen Arbeitsämtern in Nordrhein-Westfalen tun wollen. Sie haben das etwas verschlüsselt gesagt. Es ist eine wichtige Botschaft. Ich möchte hier gerne Klarheit haben. Sie haben gesagt, Sie wollen die Arbeitslosen bei den einzelnen Arbeitsämtern sortieren oder aussortieren. Das möchte ich noch einmal geklärt haben.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Das will ich Ihnen gern erklären. Als Erstes möchte ich Ihnen aber erklären, was wir im Moment für Arbeitslose machen und nicht nur versprechen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat im letzten Jahr für diesen Bereich 1 Milliarde DM in Weiterbildungsmaßnahmen gesteckt. Wir haben diesen Betrag in diesem Jahr um 200 Millionen DM aufgebessert. ({0}) - Ich komme gerne darauf zurück, wenn Sie mir jetzt einmal zuhören wollen. ({1}) Ich sage nicht „aussortieren“, ({2}) sondern ich sortiere gern einmal in den Arbeitsamtsbezirken, wie viele Arbeitslose wir in den Bereichen haben, für die wir Regierungsabkommen haben und wo wir tatsächlich Arbeitslose unterbekommen: Bau, Stahl, Landwirtschaft. Darüber können wir sprechen. In Anbetracht Ihrer Hetzkampagnen sage ich Ihnen dazu eines: Ich stehe zu den alten Regierungsabkommen, weil ich die Menschen nicht verunsicheren will, aber ich wehre mich vehement gegen das, was im Moment in Nordrhein-Westfalen abläuft, wo man Menschen verunsichert und Kampagnen macht, die menschenunwürdig sind. ({3}) Nun können wir wieder zur Zukunftsdebatte übergehen, weil dieser Bereich eine, wenn nicht die Schlüsselindustrie ist, die für die Entwicklung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen zentrale Bedeutung hat. Natürlich ist es richtig, dass es in der Vergangenheit viele Versäumnisse gegeben hat: im Bereich der Hochschulausbildung, der Fachhochschulausbildung, aber auch im Bereich des dualen Ausbildungssystems - leider nicht nur in diesem Bereich. Aber daraus müssen wir doch lernen. Wir können es nicht einfach verdrängen. Wir können uns auch nicht erlauben, nur über die Fehler der Vergangenheit zu reden, was einer neuen Regierung ja ganz leicht fallen würde. Wir müssen schauen, wohin die Entwicklung in Zukunft gehen soll. Es gibt in keinem anderen Bereich - wir haben am Mittwoch die Ausbildungsplatzbilanz des letzten Jahres ausgewiesen - einen so starken Zuwachs. Im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ist bereits im letzten Jahr vereinbart worden, die vorhandenen 26 500 Ausbildungsverhältnisse im IT-Bereich auf 40 000 anzuheben. Ich sagte Ihnen bereits, dass wir eine weitere Zusage von 20 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen haben. ({4}) Das sind insgesamt 60 000 Ausbildungsplätze. Das hat diese Regierung geschaffen. Deswegen ist dieser eigenartige Slogan „Ausbildung statt Einwanderung“ - Sie haben das einmal viel schlimmer formuliert - so etwas von hinterfotzig, ({5}) so etwas von Verdrängen der Realität, dass es kaum zu überbieten ist. Aber diese Debatten, lieber Herr Rüttgers, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, wir werden Ihnen auch nicht in die Vergangenheit folgen, sondern wir werden weiterhin eine zukunftsgerichtete Politik für Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze in diesem Land betreiben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist vor allen Dingen deshalb bemerkenswert, weil sie eine verkehrte Welt darstellt. Herr Riester vertritt - es erstaunt mich, dass man das noch erleben darf - als Repräsentant der Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit und Herr Rüttgers befürchtet ein Lohndumping in Deutschland. ({0}) Dies, was hier gerade stattfindet, ist außerordentlich beeindruckend. Verkehrte Welt. Es ist im Grunde genommen eine Diskussion, die nur noch unter Wahlkampfaspekten zu erklären ist. ({1}) Da bemühen sich zwei Politiker jeweils auf einem Feld Kompetenz hinzuzugewinnen, auf welchem sie bislang keine hatten. Unter dem Strich bleibt leider vor lauter Wahlkampfpopulismus die Zukunftsdebatte auf der Strecke. ({2}) Das ist ein großer Fehler in dieser Debatte. ({3}) Herr Kollege Tauss, Sie haben eine Ihrer unnachahmlichen Kurzinterventionen gemacht - mit unnachahmlich meine ich nicht, dass wir sie nachahmen möchten -, in der Sie darauf hingewiesen haben, Sie würden sich darum bemühen, die Gebühren für den Internetzugang an den Schulen zu senken. Dabei haben Sie möglicherweise etwas vergessen: Die Tatsache, dass wir jetzt über Gebühren im Zusammenhang mit dem Internet überhaupt reden können, ist auf die Privatisierungspolitik der letzten Legislaturperiode zurückzuführen, nicht auf die jetzigen Initiativen an den Schulen. ({4}) Diese Debatte sollte aus unserer Sicht vor allen Dingen Anlass dafür sein, dass wir uns über die zukünftige Migrationspolitik Gedanken machen. Meiner Meinung nach liegt in dieser Debatte unter dem Strich eine ganz große Chance. Diese Chance kann man ergreifen oder man kann sie verpassen. ({5}) Ich glaube, es hilft uns überhaupt nichts, wenn die eine Seite der anderen Seite ihre jeweiligen Versäumnisse aus der Vergangenheit vorrechnet. ({6}) Sie werden die Arbeit der alten Bundesregierung anders bewerten als wir. Sie werden auch die Vorgänge in Niedersachsen anders bewerten, als wir es tun. Das hilft uns nicht weiter. Die Fragen, denen wir uns in einer globalisierten Welt, in der es nicht nur um harte Standortfaktoren, sondern auch um einen Wettbewerb der Bildungssysteme geht, stellen müssen, lauten: Wie kann man die Talente des eigenen Landes motivieren und wie holt man die klügsten Köpfe für die besten Chancen ins eigene Land? Das ist mittlerweile internationaler Wettbewerb. ({7}) Wenn uns das nicht gelingt, wird die deutsche Wirtschaft auf der Strecke bleiben. Das Gesamtbild ist bei der Union Gott sei Dank nicht so einheitlich, wie es von Herrn Rüttgers gezeichnet wurde. ({8}) Es gibt beispielsweise Äußerungen des sächsischem Wirtschaftsministers, die ich begrüße und ausdrücklich unterstütze. Er hat sich eindeutig von der Kampagne „Kinder statt Inder“ abgesetzt. Er sagt, Rüttgers habe sich offensichtlich verrannt. Ich glaube - Herr Kollege Rüttgers -, dass das stimmt. Sie haben sich verrannt ({9}) und sollten die Gelegenheit nutzen, im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze eine Korrektur vorzunehmen. Es wäre gut, wenn Sie diese Debatte dazu nutzten. Bei aller berechtigten Kritik an der rot-grünen Bundesregierung - auch was deren verfehlte Politik angeht - appelliere ich an Sie: Nutzen Sie die heutige Gelegenheit, Ihre Kampagne „Kinder statt Inder“ zu beenden! ({10}) Es ist besser, dass ein indischer Computerspezialist nach Deutschland kommt, als dass ein deutsches Unternehmen nach Indien geht. Über diese Frage müssen wir in Deutschland eine Auseinandersetzung führen. ({11}) Ich möchte die neue Bundesvorsitzende der Union, Frau Merkel, zitieren, die am 8. April dieses Jahres in einem Interview auf die Frage, wie sie sich zu der geplanten Anwerbung von 20 000 Computerspezialisten stelle, sagte: „Das werden wir nicht grundsätzlich ablehnen“. Diese differenzierte Haltung sollte auch die Haltung dieses Hauses sein. Es geht nicht darum, die Einwanderung nach Deutschland auszuweiten, sondern es geht um eine systematische Migrationspolitik in Deutschland. Die Einwanderung muss endlich besser begrenzt und gesteuert sowie an eigenen, wohlverstandenen nationalen Interessen unseres Landes ausgerichtet werden. ({12}) Das tut jede moderne Industrienation. Wir scheuen bisher davor zurück und das ist eindeutig ein Fehler. Das Versäumnis liegt aus unserer Sicht, Herr Minister Riester, in dem, was Sie bisher vorgelegt haben. Der Bundeskanzler reist zur Computermesse CeBIT, ({13}) ist vorher von entsprechenden Wirtschaftsexperten aufgebracht worden und legt prompt seinen Green-Card-Vorschlag auf den Tisch. ({14}) Leider ist es ein Konzept ohne System und Methode. Es wird einfach eine Zahl genannt. Das, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat, entspricht nicht den Ankündigungen des Kanzlers: Das Green-Card-Modell der Bundesregierung ist nicht schnell, unbürokratisch und flexibel, sondern umständlich, bürokratisch und kleinkariert. ({15}) Das ist das entscheidende Defizit, das von denen, die sich in der Wirtschaft engagieren bzw. dort tätig sind, genau gesehen wird. Es reicht nicht aus, wenn man alle drei Monate eine neue Branche mit einem Mangel an Arbeitskräften entdeckt und dann - diesmal was es auf der CeBIT; nächstes Mal geschieht es vielleicht auf der Grünen Woche irgendeine Zahl hinausposaunt. Wir brauchen syste-matische Regelungen, mit denen die Einwanderung nach Deutschland gesteuert und berechenbar gemacht wird, damit die Menschen in allen Ländern - vor allen Dingen auch in unserem eigenen Land - wissen, woran sie sind. ({16}) Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass ich jemals in die Situation kommen würde, die Lektüre des Wahlprogramms der SPD zu empfehlen. ({17}) Auf Seite 44 des Bundestagswahlprogramms der Sozialdemokraten heißt es: Deshalb wollen wir eine wirksame gesetzliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Sie muss die Arbeitsmarktlage, die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und humanitäre Gesichtspunkte berücksichtigen. Auch Herr Rüttgers spricht von der Notwendigkeit einer Einwanderungsregelung. Lassen Sie uns doch endlich in den Ausschüssen darüber beraten. Heute Nachmittag steht der Gesetzentwurf der F.D.P. auf der Tagesordnung. Sie waren im Ausschuss nicht bereit, über die Details zu beraten. Ihre Antwort war Ablehnung, weil Sie, die Vertreter beider Volksparteien, Angst vor einer qualifizierten Auseinandersetzung haben, die aber im Interesse unserer deutschen Arbeitsplätze mehr als notwendig wäre. ({18}) Die befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für ausländische Spezialisten, die Sie, Herr Riester, vorgeschlagen haben, ist doch keine Green Card. Die Amerikaner lachen sich über den Begriff „Green Card“ in diesem Zusammenhang kringelig. Das ist doch keine intelligente Anwerbung der klügsten Köpfe der Welt, damit sie in Deutschland Arbeitsplätze schaffen. Das, was Sie mit Ihrer zeitlichen Befristung vorgelegt haben, ist in Wahrheit nichts anderes als das Saisonarbeiterprinzip, hochgerechnet auf drei Jahre. Nichts anderes haben Sie vorgelegt! ({19}) Darin besteht das große Manko Ihrer Regelung. Es besteht damit leider die Gefahr, dass die Chance der gegenwärtigen Debatte verpasst wird. Wir sollten diese Auseinandersetzung dazu nutzen, eine Debatte über ein Einwanderungsgesetz zu führen, das steuert, begrenzt und die Zuwanderung auch an den eigenen Interessen, wie etwa an bestimmten Notwendigkeiten in Mangelberufen, ausrichtet.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte, gerne.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich hätte es mir auch nicht vorstellen können, dass wir uns zumindest partiell über den Unfug des Herrn Rüttgers einig sind. So verändern sich die Einschätzungen, wenn sich die Koalitionen verändern. Sie haben nun behauptet, die vorgesehene Regelung bringe nichts. Haben Sie zur Kenntnis genommen - vielleicht haben Sie in Ihrem Büro Ähnliches erlebt -, dass es im Moment eine ganze Reihe junger hoch qualifizierter Computerfachkräfte gibt, die zum Teil in Deutschland studiert haben, die aber Deutschland nach ihrem Studium verlassen sollen, obwohl sie selber sagen: „Wir würden gerne für zwei oder drei Jahre in Deutschland bleiben, wir würden dann auch gerne in unserer Heimat mit einem deutschen Unternehmen kooperieren, oder wir würden nach unserem Studium hier gerne ein Projekt realisieren.“? Sind Sie nicht der Auffassung, dass genau solche Leute uns auch weiterhelfen können und dass die Zahl derer, die sich dafür interessieren, doch wesentlich größer ist, als Sie behauptet haben?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Sie gehen offenbar von der Annahme aus, dass Hunderttausende von hoch qualifizierten indischen Computerspezialisten auf gepackten Koffern sitzen und nur darauf warten, nach Deutschland auswandern zu können, um hier ihr Wissen einzubringen. ({0}) Solche hoch qualifizierten ausländischen Computerspezialisten haben nicht nur Chancen in Deutschland, sondern beispielsweise auch im Silicon Valley in Kalifornien. Das ist der Wettbewerb der Systeme. Wenn wir die wirklich intelligenten Computerspezialisten im Interesse der Wirtschaft und der Arbeitsplätze nach Deutschland holen wollen, dann müssen die Rahmenbedingungen für diese Spezialisten auch stimmen. Diese Bedingungen stimmen nicht, wenn Sie eine bürokratische, reglementierte und vor allen Dingen befristete Regelung beschließen, wie das die rot-grüne Koalition in diesem Hause jetzt vorhat. ({1}) Ich will übrigens einen anderen Aspekt ausdrücklich würdigen, nämlich die in der heutigen Diskussion angesprochene Kopplung mit der Ausbildung in der Wirtschaft. Diese Kopplung ist sinnvoll. Wir als Freidemokraten begrüßen ausdrücklich, dass es der Bildungsministerin nach eigenen Angaben gelungen ist, mit der Wirtschaft eine Kopplung zu vereinbaren, sodass diese mehr Computerlehrlinge ausbildet. Von 25 000 ist die Rede. Das sollte über die Parteigrenzen hinweg ein Grund zur Freude sein. ({2}) Nur, die Idee, das werde uns sofort helfen, stimmt eben nicht. Bis aus einem zehnjährigen Computertalent ein 20jähriger Computerspezialist geworden ist, vergehen nun einmal nach Adam Riese zehn Jahre, und bis dahin ist der Zug aufgrund der schnellen Entwicklung im Bereich der Computertechnologie abgefahren. ({3}) Deswegen müssen wir jetzt schnell und kurzfristig, vor allem systematischer als bisher handeln. Herr Kollege Tauss, da Sie danach gefragt haben: Der indische Finanzminister ist vor kurzem in Berlin gewesen. Er hat darauf hingewiesen - das beantwortet Ihre Frage im Grunde genommen -, dass seine Landsleute in den USA oder in Kanada bessere Voraussetzungen finden. Wenn heute zwischen 75 000 und 100 000 Arbeitsplätze in der Branche der Informationstechnologie unbesetzt sind und wenn jährlich nur 10 000 Absolventen unsere Universitäten verlassen, dann ist das „Start-up-Unternehmen“, das Existenzgründungsunternehmen in Nordrhein-Westfalen längst vom Markt verschwunden, bis dieses Programm greift. Wir müssen jetzt eilig handeln, gegensteuern und die Zuwanderungspolitik auf eine verlässliche, berechenbare Grundlage stellen. Wir Freidemokraten wollen nicht mehr Zuwanderung; vielmehr wollen wir eine Begrenzung und eine bessere Steuerung der vorhandenen Zuwanderung. Wir möchten, dass sich Zuwanderung an den Interessen unseres Landes - auch an wirtschaftlichen - ausrichtet. ({4}) Es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen: Wir lassen zu viele von denjenigen nach Deutschland herein, die wir nicht so gut gebrauchen können; aber wir lassen nicht diejenigen herein, die wir dringend brauchen, zum Beispiel für den Bereich weltweit nachgefragter Computertechnologie. ({5}) Was wir fordern, beinhaltet keinen Widerspruch. Wer behauptet, wir könnten nur den Weg der Ausbildung und nicht gleichzeitig den der Anwerbung qualifizierter Arbeitnehmer gehen, macht einen Fehler. Es geht nicht um eine Kampagne „Kinder statt Inder“. Diese Kampagne ist genauso falsch wie Ihre Hire-and-fire-Politik auf dem Gebiet der Computertechnologie. ({6}) Es geht darum, dass wir endlich begreifen: Die deutschen Arbeitsplätze haben nur dann eine Chance, wenn wir bereit sind, die klügsten Köpfe für unser Land zu gewinnen. Dafür sind zwei Aufgaben zu erfüllen: Die Aufgabe der Bildungspolitik ist, zu qualifizieren, die eigenen Talente zu fördern. Die Bildungspolitik von Bund und Ländern - Bildungspolitik ist nun einmal überwiegend Länderangelegenheit - muss besser werden. Zugleich besteht die Herausforderung, möglichst viele derjenigen Talente nach Deutschland zu holen, die wir in Deutschland dringend brauchen. VizepräsidentinDr.AntjeVollmer:HerrWesterwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dieter Wiefelspütz?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Westerwelle, sind Sie nicht der Meinung, dass wir dieses sehr wichtige konkrete Projekt, das der Bundeskanzler angestoßen hat, einfach einmal gemeinsam pragmatisch-praktisch und unideologisch umsetzen und ({0}) dass wir damit Erfahrungen sammeln sollten? Sollten wir nicht diesem ersten Schritt, der in der Tat für viele etwas ganz Neues ist - ich finde das sehr positiv -, weitere folgen lassen? Wäre das nicht besser, als jetzt eine sehr grundsätzliche Debatte über die Einwanderungspolitik zu führen? Damit ist die Gefahr verbunden, ein ganz konkretes und praktisches Konzept wie die Green Card, das Sie im Grunde für richtig halten, zu zerreden, Herr Westerwelle. ({1}) Dr. Guido Westerwelle F.D.P.: Die Idee, ausländische Intelligenz nach Deutschland zu holen, damit hier bei uns Arbeitsplätze entstehen und die deutschen Firmen nicht ins Ausland auswandern, ist richtig. Die Umsetzung, die bislang von Ihrer Regierung vorgelegt worden ist, dient aber nicht diesem Ziel, sondern wird das Gegenteil erreichen. ({2}) Sie ist bürokratisch, sie ist unflexibel und sie ist nicht attraktiv genug. Wir bräuchten eine Attraktivität, die es beispielsweise bei der zeitlichen Befristung nicht gibt. ({3}) Da Sie dazwischenrufen, möchte ich Ihnen nur sagen: Wir haben im Innenausschuss - reden Sie doch nicht so, als gäbe es diese Debatten nicht - in zwei Sitzungen, glaube ich und auch in anderen Ausschüssen die Vorstellungen der Bundesregierung gehört. Bei uns hat der Innenminister selber gesessen. Ich will Ihnen doch gar nicht abstreiten, dass die Idee, Intelligenz nach Deutschland zu holen, richtig ist. Aber das, was Sie machen, ist bislang absolut untauglich. Lassen Sie sich auf ein vernünftiges Konzept ein! Dann reden wir parlamentarisch darüber. Das wissen Sie doch. So haben wir uns doch auch in den Ausschüssen eingelassen. Aber es reicht nicht, einfach so die Idee zu haben, Finger in den Wind, ({4}) da gibt es eine entsprechende Messe, da wird ein Mangel geortet, wo es doch im gesamten mittelständischen Bereich ebenfalls Fachkräftemangel gibt! Da verweigern Sie jede Antwort. Das ist in meinen Augen ein falscher Weg. ({5}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Arbeitsplätze in Deutschland sichert nicht, wer die Grenzen abschottet. Arbeitsplätze in Deutschland sichert, wer die eigenen Talente fördert und wer ausländischen Experten in Deutschland eine Chance gibt. Aber das ist nur umsetzbar, wenn an anderer Stelle die Zuwanderung begrenzt, gesteuert wird und wenn sie sich an eigenen Interessen ausrichtet. Das ist im Grunde genommen die Aufgabe der Moderne. Das ist bei der Migrationspolitik die eigentliche Antwort, die dieses Haus geben muss. Wenn dieses Wahlkampfgewitter, wenn dieses gegenseitige Hin und Her nach der Wahl in NordrheinWestfalen einmal ein Ende hat, begreifen wir hoffentlich, es geht in Wahrheit nicht darum

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin! Hoffentlich begreifen wir- Dr. Guido Westerwelle ({0}) -EntschuldigenSie,HerrKollege, ichmuss Ihnensagen,-

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege Westerwelle, bitte keine längere Debatte!

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß, dass Ihnen differenziertes Denken schwerer fällt, ({0}) aber es muss erlaubt sein, in diesem Parlament auch ein paar differenzierte Gedanken vorzutragen. ({1}) Das passt Ihnen nicht, aber es ist notwendig. Die Wahrheit liegt hier nun einmal nicht bei schwarz und weiß, rechts und links, gut und böse, ({2}) sie liegt in einer differenzierten, vernünftigen Politik, die systematischer als das ist, was Sie vorlegen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller. ({0})

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Rüttgers, mit Ihrer Rede heute vor diesem Haus haben Sie, wie ich finde, leider eine gute Gelegenheit verpasst. ({0}) Sie hätten nämlich die einmalige Gelegenheit gehabt, in der Green-Card-Debatte zur Vernunft zurückzukehren. ({1}) Stattdessen haben Sie erneut bewiesen, dass es Ihnen in dieser Diskussion längst nicht mehr um eine ernsthafte politische Auseinandersetzung geht. Sie wissen nämlich sehr genau, dass Sie in Nordrhein-Westfalen nicht mehr die geringsten Chancen haben, die Landtagswahl zu gewinnen auch nicht mit dieser erbärmlichen Postkartenaktion. Geben Sie doch zu, dass das nur das letzte Aufgebot ist, das Sie hier noch einmal in die Öffentlichkeit bringen. ({2}) Weil Sie wissen - das ist für mich in dieser Rede auch noch einmal deutlich geworden -, dass Sie die Wahl nicht mehr gewinnen können, ({3}) versuchen Sie jetzt wie Roland Koch in Hessen, aus fremdenfeindlichen Stimmungen Stimmen für die CDU zu machen. Das finde ich das Üble an der Kampagne, Herr Rüttgers! Deshalb sollten Sie diese Kampagne schnellstens einstellen. ({4}) Ich bin allerdings überzeugt, dass Ihnen das nicht gelingen wird. Die Lage sieht anders aus. Nordrhein-Westfalen ist nicht Hessen und die Menschen verstehen mehr und mehr, dass Ihre Sprüche nichts, aber auch gar nichts zur Lösung der Probleme in unserem Land beitragen. Denn laut Umfragen unterstützen 65 Prozent der Menschen in Nordrhein-Westfalen die Initiative der rot-grünen Bundesregierung und Ihre Postkartenaktion wird von der Mehrheit der Menschen abgelehnt. Deshalb, Herr Rüttgers und meine Damen und Herren von der CDU, zur Sache! Kommen Sie doch zur Sache! In Ihrer Verantwortung hat die Kohl-Regierung in ihren letzten vier Jahren die Bildungsausgaben um fast eine halbe Milliarde DM zusammengestrichen. Sie, Herr Rüttgers, waren als so genannter Zukunftsminister im Kabinett Kohl für die Berufsbildung zuständig - das haben Sie hier ja auch noch einmal deutlich gemacht - und Sie - nicht nur die Industrie! - haben damit die Lücke bei den Fachkräften in der IT-Branche maßgeblich mit zu verantworten. Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, die Entwicklung in diesem Bereich zu erkennen und die Weichen richtig zu stellen. ({5}) Doch was haben Sie getan? Nichts. Sie, Herr Rüttgers, haben ja hier mit dem Einstieg ins Internet-Zeitalter ein wenig geprotzt. Von wegen! Deutschland liegt bei der Anzahl der privaten Internetanschlüsse heute auf dem neunten Platz in Europa. Laut OECD liegen wir auf Platz 29, bilden also das absolute Schlusslicht bei den Investitionen in diesen Zukunftsbereich. Das ist das Ergebnis Ihrer Arbeit. Das zeigt sehr eindrucksvoll: Sie haben während Ihrer Ministerzeit kläglich versagt. Mit Ihrer unsäglichen Kampagne wollen Sie nur von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken. ({6}) Sie haben auch noch die gesamte Wirtschaft gegen die CDU aufgebracht. Es gibt dazu unendlich viele Zitate. Das eine oder andere möchte ich Ihnen nicht ersparen. IBM-Chef Staudt sagte zum Beispiel: Die Kampagne von Rüttgers ist platt und nicht akzeptabel. Für unseren politischen Willensbildungsprozess ist die Diskussion in NRW eine Schande. ({7}) BMW-Vorstand Teltschik schämt sich für Ihren Slogan. ({8}) Auf Ihr heuchlerisches Argument, wir dürften den Entwicklungsländern nicht ihre Fachkräfte abwerben, hat Ihnen ja der Finanzminister Indiens die richtige Antwort gegeben. Er sagte nämlich am Montag in Berlin, sie hätten 50 Millionen, davon könnten sie einige ruhig abgeben; Herr Rüttgers solle sich da mal keine Sorgen machen. Recht hat der Mann. ({9}) Die Regierung in Indien hat nämlich schon vor einigen Jahren erkannt, dass hier Entwicklungschancen liegen, und hat deshalb in diesen Bereich investiert, hat Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen. Genau das haben Sie versäumt. Aber nicht nur die Wirtschaft ist gegen Sie, was Ihnen ja egal ist, wie Sie immer wieder betonen, ({10}) sondern auch in Ihren eigenen Reihen steht kaum jemand hinter Ihrer Aktion. Herr Cartellieri zum Beispiel - gerade mit 99 Prozent zum Schatzmeister der CDU gewählt ist für die Initiative der Bundesregierung und begrüßt sie ausdrücklich. Kajo Schommer, sächsischer Wirtschaftsminister und Vorsitzender der Wirtschaftsministerkonferenz, meint, dass Sie sich da offensichtlich verrannt haben und dass die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers richtig ist. Man kann da nur sagen: Der Mann weiß als Wirtschaftsminister offensichtlich, wovon er spricht. Wenn wir nicht schnell handeln, wird die Entwicklung einer ganzen Zukunftsbranche weiter an Deutschland vorbeigehen. Genau das will diese Bundesregierung mit der Initiative verhindern. So ähnlich sieht das auch der neue CDU-Generalsekretär, der Kollege Ruprecht Polenz - der heute gar nicht erst gekommen ist -; er wird mit der Bemerkung zitiert: Der Wahlkampfslogan „Rüttgers - der Mensch“ hört sich angesichts der Rüttgers - Kampagne auf einmal wie ein verständnisloses „Mensch, Rüttgers“ an. Recht hat er, der Kollege Polenz. Herr Wissmann äußerte in einem Interview auf die Frage, ob er Ihre Kampagne unterstützt, sehr klar, kurz und präzise: Mir gefällt der erste Teil der Parole besser: mehr ausbilden. Frau Merkel hat jetzt - trotz Wahlkampf in NRW - auf dem Parteitag einen Kurswechsel angekündigt. Sie sagte, die CDU werde die Anwerbung von 20 000 Computerfachleuten nicht länger ablehnen. ({11}) Ich möchte Frau Merkel und Herrn Merz, die jetzt nicht mehr da sind, fragen: Warum wird Herr Rüttgers dann nicht zurückgepfiffen und dieser Antrag, mit dem wir uns leider beschäftigen müssen, nicht zurückgezogen? ({12}) Trotz der öffentlich verkündeten Einsicht müssen wir uns nämlich mit diesem Pamphlet beschäftigen. Man muss sich einmal das auf der Zunge zergehen lassen, was da schon in der Überschrift steht: Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps. „Nichts überstürzen!“ ruft uns die CDU heute zu. Träumen Sie eigentlich immer noch? Heute fehlen 70 000 IT-Fachkräfte. Wir wollen diesen Mangel beheben, Sie aber reden davon, man solle nichts überstürzen. Das heißt, Sie wollen immer noch so weitermachen wie in den 16 Jahren Ihrer Regierung. Das ist eine tolle Botschaft. ({13}) Wir jedenfalls werden den Kurs ändern. Wir investieren pro Jahr 1 Milliarde DM zusätzlich in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir erhöhen die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für Qualifizierungsmaßnahmen im IT-Bereich nochmals um 200 Millionen DM auf 1,2 Milliarden DM. Vor allem hat die rot-grüne Bundesregierung mit der Wirtschaft die Schaffung von 60 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in der Informationsbranche bis 2003 vereinbart. Gleichzeitig wollen und müssen wir kurzfristig mit der Green Card dafür sorgen, dass hoch qualifizierte Menschen aus diesem Bereich ohne bürokratische Hürden nach Deutschland kommen können, damit durch sie die Entwicklung hier vorangebracht werden kann und so neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden. Herr Westerwelle, wir brauchen dafür wirklich nicht die klugen Ratschläge der F.D.P. Die F.D.P. hatte bis 1998 30 Jahre lang in der Regierung die Gelegenheit, all das, was Sie uns vorgeschlagen haben, durchzusetzen. ({14}) - Wir sind erst 18 Monate, also viel weniger als 30 Jahre, an der Regierung. - Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Herr Möllemann seinerzeit als Bildungsminister mehr als einmal angekündigt hat, er werde zurücktreten, wenn er nicht mehr Geld bekäme. Er hat fast nie mehr Geld bekommen. Er ist stattdessen Wirtschaftsminister geworden und musste dann zurücktreten, weil er private offensichtlich nicht von dienstlichen Interessen unterscheiden konnte. So weit zur F.D.P. ({15}) Zurück zur CDU: Wenn es nach Ihnen ginge, würden noch weitere Unternehmen ins Ausland abwandern. Aber Unternehmen, die ins Ausland gehen, nehmen ihre Arbeitsplätze und auch ihre Ausbildungsplätze mit. Deshalb Kerstin Müller ({16}) brauchen wir Ausbildung und Einwanderung. Wir brauchen eine Qualifizierungsoffensive und die Green Card.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christa Luft?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke,FrauKolleginMüller. Sie geben mir doch in der Einschätzung sicher Recht, dass die rot-grüne Regierung nicht gerade privatisierungsabstinent ist. Ich will diesen Sachverhalt jetzt gar nicht bewerten. Ich will aber fragen: Warum entschließt sich die Bundesregierung nicht dazu, eine ureigene Aufgabe der Wirtschaft, nämlich für die Ausbildung von jungen Menschen zu sorgen, zu reprivatisieren? Ich begrüße es, dass es ein Sonderprogramm für die Ausbildung junger Menschen gibt. Aber dadurch wird die Wirtschaft von ihrer ureigenen Aufgabe entpflichtet. Es gibt Kopfprämien für Unternehmen, die Lehrlinge ausbilden. Jetzt gibt es die Aktivität bezüglich der Green Card. Meine Frage ist: Wäre es nicht denkbar, dass wir endlich eine Offensive starten, damit die Wirtschaft ihre ureigene Aufgabe, nämlich junge Menschen auszubilden, wieder übernimmt, dass wir also eine Reprivatisierung vornehmen? Könnten Sie sich vorstellen, dass jene Unternehmen, die von der Einstellung ausländischer Spezialisten profitieren werden - diese haben ja in ihren Heimatländern Ausbildungskosten verursacht -, in einen gemeinsamen Topf einzahlen, aus dem Ausbildung hier weiter gefördert werden kann? Es ist ja eine Entlastung der Unternehmen, wenn in ihnen Spezialisten arbeiten, die auf Kosten anderer Länder ausgebildet wurden. ({0})

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Konzept der Bundesregierung ist, beides zu tun. Wir haben das JUMP-Programm ins Leben gerufen. Wir haben im Rahmen der D-21-Initiative vereinbart, dass 60 000 Ausbildungsplätze im IT-Bereich zusätzlich geschaffen werden. Man braucht beides: bessere Rahmenbedingungen für mehr Ausbildungsplätze - die haben wir als Gesetzgeber schon geschaffen - und natürlich die Verpflichtung der Wirtschaft, in den Betrieben selber mehr auszubilden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit den Vereinbarungen, die sowohl bezüglich der Green Card als auch bezüglich der Ausbildungsplätze auf freiwilliger Basis mit den Arbeitgebern getroffen wurden, im Jahre 2003 sehr gute Ergebnisse vorweisen können. Meines Erachtens ist die Vorgehensweise der Bundesregierung richtig. ({0}) Meine Fraktion möchte natürlich, dass die Green Card ein attraktives Angebot ist, die den Menschen auch eine längerfristige Perspektive nicht verschließt, die nicht auf einem Hochschulabschluss für die Arbeitserlaubnis besteht ({1}) und die es erlaubt, dass sich diese Menschen selbstständig machen können. So können wieder neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dafür werden wir uns einsetzen. ({2}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie werden sehen: Rot-Grün wird gemeinsam dafür sorgen, dass ein guter Entwurf vorgelegt wird, mit dem alle zufrieden sein werden und dem auch Sie zustimmen können. ({3}) Und, Herr Rüttgers, Sie sollten endlich begreifen, dass der Einwand Lohndumping wirklich absurd ist. Es geht um hoch qualifizierte Fachkräfte, die wir brauchen und um die wir werben müssen. Sie sind nicht auf Deutschland angewiesen, weil sie überall auf der Welt Arbeit finden. Dass Sie trotzdem von Lohndumping reden, zeigt mir, dass Sie nichts, aber auch gar nichts verstanden haben. ({4}) Von Frau Merkel und Herrn Merz hört man seit Tagen ein schallendes Jein zur Green Card. Auf der einen Seite wollen Sie die Green Card, auf der anderen Seite stehen Sie zu Herrn Rüttgers. - Ich finde, nicht nur in diesem Punkt, sondern auch insgesamt ist der Kurs der so genannten neuen CDU nach wie vor völlig unklar. Vielleicht darf ich Ihnen zum Schluss einen Ratschlag aus der Bibel empfehlen. Nach Matthäus, Kapitel 5 Vers 37 - das sollte Ihnen als CDU ja genehm sein -, heißt es: „Euer Ja sei ein Ja, Euer Nein ein Nein, alles andere stammt vom Bösen.“ Wenn Ihre Ankündigungen ernst gemeint sind, dann ziehen Sie nicht nur Ihren Antrag zurück, dann ziehen Sie auch Herrn Rüttgers aus dem Verkehr. Damit würden Sie nicht nur Ihrer Partei, sondern auch unserem Land einen guten Dienst erweisen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich bis jetzt in dieser Debatte gehört habe, weist auf eine politisch höchst spannende, aber gleichzeitig auch eine sehr brisante Gemengelage hin. Da werden auf der einen Seite Beschäftigungs- und Qualifizierungsprobleme mit Fragen der Einwanderung und des Asylrechts vermischt und dabei übertriebene Hoffnungen geweckt und auf der anderen Seite genauso massiv Ängste geschürt. Die von Bundeskanzler Schröder auf der CeBIT medienwirksam präsentierte deutsche Green Card ist weder ein superschneller Megachip noch ein indischer Kerstin Müller ({0}) Killervirus, wie der Kollege Rüttgers den Wählerinnen und Wählern in NRW einreden möchte. Was Sie heute hier in dieser Frage geboten haben, war wiederum dumpfe Demagogie und entsprach durchaus Ihrer rechtspopulistischen Kampagne. ({1}) Der notwendigen öffentlichen Aufklärung in dieser Frage haben Sie damit einen Bärendienst erwiesen. Worum geht es also? Es geht nicht um die „überstürzte“ Aufhebung des Anwerbestopps, wie der Unionsantrag behauptet. Es geht darum, für einen befristeten Zeitraum in aller Welt Spitzenkräfte für die IT-Branche anzuwerben; von etwa 20 000 ist die Rede. Im Prinzip ein normaler Vorgang, schon heute möglich und vielfach praktiziert. Warum also die Aufregung? Ich will Ihnen gerne erklären, was uns an Ihrem Vorstoß Sorge macht. Die jetzt losgetretene Debatte ist doch eine Ohrfeige für die einheimischen Arbeitslosen, die deutschen und die ausländischen. Ihnen wird gesagt: Ihr seid fürs Erste raus aus dem Geschäft, ihr seid nicht mehr qualifizierbar - so Arbeitgeberpräsident Hundt - und in der Regel, das ist das Entscheidende - zu alt. Das motiviert nicht, das grenzt aus. ({2}) Wir alle wissen doch, dass auf den Arbeitsämtern zwischen Rostock und Konstanz mehr arbeitslose EDV-Fachleute herumsitzen, als jetzt angeworben werden sollen. Das sind eben nicht nur Lochkartensortierer, sondern viele von ihnen lassen sich sehr kurzfristig für den aktuellen Bedarf fit machen. Wie ist das überhaupt mit dem Bedarf? Da hört man in der Tat jeden Tag neue Zahlen; jetzt sollen es schon 150 000 sein. Ich finde die Datenlage höchst unsolide und deshalb auch die ganze Diskussion leichtfertig, und sie greift zu kurz. Sie schafft alles andere als Vertrauen und Verständnis in der Bevölkerung und sie trägt wenig dazu bei, dass diejenigen, die schließlich als Arbeitskräfte und Menschen zu uns kommen sollen, ohne Ressentiments aufgenommen werden. ({3}) Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Das eigentliche Problem an der Debatte - das hat sich auch schon gezeigt - sind nicht nur die heute fehlenden Computerspezialisten, sondern ist auch die seit langem überfällige Qualifizierungsoffensive. Daran hat der Kollege Rüttgers seinen gehörigen Anteil. Es ist doch völlig zutreffend, wenn die Fachleute kritisieren, dass die Green Card im Prinzip nichts anderes ist als die rote Karte für das deutsche Bildungswesen und eine erschreckende Konzeptionslosigkeit in der Hochschul- und der Wissenschaftspolitik offenkundig macht. ({4}) Aber - das muss genauso deutlich gesagt werden -: Die Branche, die heute die Spezialistenlücke beklagt, hat sie weitgehend selbst verursacht. ({5}) Es kann ja sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die IT-Branche explosionsartig entwickelt. Doch es ist ein Armutszeugnis für die dort tätigen Manager, wenn sie erst jetzt - sozusagen als Gegenleistung für die Green Card neue Ausbildungsplätze und betriebliche Weiterbildungskapazitäten bereitstellen. Deshalb denke ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier im Kern um etwas ganz anderes. Gerade in den IT-Branchen dominiert doch das Konzept der olympiareifen Beschäftigten, die ohne Rücksicht auf Arbeitszeit, auf Gesundheit oder gar den Tarifvertrag für eine kurze Zeitspanne ihres Arbeitslebens Spitzenleistungen erbringen, um im Alter von 40 Jahren oder noch jünger ausgemustert zu werden. Es geht hier einfach darum, dass nicht nur Höchstqualifikationen gefragt sind, sondern auch junge, ledige, rund um die Uhr verfügbare und vor allen Dingen billige Arbeitskräfte. ({6}) Da kann man es sich nicht so einfach machen, wenn man hört, wie ausländische Spezialisten in der Bundesrepublik bezahlt werden. Wir glauben eben nicht, dass die GreenCard-Regelung die Ausnahme im Standortwettbewerb wird, sondern - das sage ich ganz deutlich - wir fürchten, dass daraus ein Türöffner für die Deregulierung der Arbeitsmärkte wird, und zwar weltweit. So ist es denn auch kein Zufall, dass gleich die generelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert wird. Ich verweise hier nur auf Äußerungen des Präsidenten des Deutschen Handwerks oder auf den F.D.P.-Antrag. Folgerichtig meldet sich natürlich eine Fülle anderer Branchen, die im Standortpoker auch einen Vorteil mit Menschen erhaschen wollen, für die bei uns weder ein Ausbildungsplatz noch ein Studienplatz bereitgestellt werden musste. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich finde es erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass unsere Wirtschaft, insbesondere die großen Unternehmen, beim Einkaufen von Menschen die gleichen Freiheiten beansprucht wie beim Import von Bananen und Mikrochips. ({7}) Insbesondere die großen Unternehmer sparen Qualifizierungskosten, kaufen die Menschen dort, wo sie am billigsten sind, und werden sie wieder los, wenn sie den Scheitelpunkt ihrer Leistungsfähigkeit überschritten haben. Ich finde das einen ziemlich erbärmlichen Vorgang. Ich frage: Welche Gegenleistung erbringt eigentlich die Wirtschaft? Meine Kollegin Luft hat ja schon einen diesbezüglichen Vorschlag gemacht. Ich finde es schon befremdlich, dass es Ihnen offenbar gar nichts ausmacht, dass den ärmsten Ländern die Fachleute weggekauft werden. Das ist ein schlechter Beitrag zu einer vernünftigen Entwicklungspolitik. ({8}) Lassen Sie mich abschließend einen letzten Gedanken sagen: Mit der Green Card ist auch die Einwanderungsdebatte neu in Gang gekommen - wenn auch gegen den Willen der Bundesregierung. Sie findet ja, dass gar kein Zusammenhang besteht. Wir sagen jedoch: Wer Arbeitskräfte holt, muss den Menschen in unserem Land Arbeitsund Lebensrechte garantieren. ({9}) Es kann doch nicht sein, dass die Nützlichkeitskriterien für Einwanderung allein von der Wirtschaft diktiert werden. Die PDS hat bei der Einwanderung einen anderen Gestaltungsanspruch. Wir wollen, dass der Mensch im Mittelpunkt der Einwanderungspolitik steht und nicht Standortfragen und Profitinteressen. ({10}) Eines - lassen Sie mich das zum Abschluss sagen wollen wir ganz sicher nicht - das schimmert insbesondere durch die Diskussionen der CDU/CSU-Fraktion -: Wir wollen nicht, dass mit der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz das Asylrecht ausgehebelt wird. ({11}) Menschen in Not müssen Schutz und Aufnahme finden immer. Sie sind nicht quotierbar. Den Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen sage ich: Wenn der Preis für ein Einwanderungsgesetz die endgültige Abschaffung des Grundrechts auf Asyl ist, dann ist der PDS dieser Preis zu hoch. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für den Bundesrat erhält nun der bayerische Staatsminister des Innern, Günther Beckstein, das Wort. ({0}) Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich bedanke mich zunächst für die so freundliche Begrüßung eines anderen Organs der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Ich möchte gleich in die Sache einsteigen: Wir diskutieren zwei Probleme, die zwar eng miteinander verbunden sind, die aber durchaus unterschiedliche Aspekte haben: einerseits die kurzfristigen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und andererseits die generelle Politik von Zuwanderung. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass insbesondere vonseiten der SPD Krokodilstränen vergossen werden und dass diese beiden generellen Fragen in einer unangemessenen Weise miteinander vermischt werden. Dazu gehört dann natürlich auch noch die Frage von Asyl und Missbrauch von Asyl. Diese Vermischung ist schon allein dadurch begründet, dass der Bundeskanzler, als er das eine Problem angesprochen hat, Begriffe des anderen Problems verwendet hat. Um ein Mittel zur Lösung kurzfristiger Arbeitsmarktprobleme zu nennen, hat er von Green Card gesprochen. Jeder weiß, dass Green Card die Frage genereller Einwanderung betrifft. ({3}) Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Uns hat das nicht sonderlich überrascht. Herr Kollege Stiegler wird Ihnen erzählen, wie man es in Bayern nennt, wenn ein Problem allgemein, nebulös, unpräzise angesprochen wird. Bei uns in Bayern heißt das: Der „schrödert herum“. ({4}) So war es auch im konkreten Fall. Das aktuelle Problem lautet natürlich: Wie gehen wir damit um, dass wir eine Internationalisierung im Bereich der Wissenschaft haben und brauchen? Wie gehen wir mit Mängeln und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt um? Die Unionsinnenminister haben sich vor einigen Tagen getroffen und bestätigt, dass das natürlich ein Problem sei. Wir waren aber übereinstimmend der Meinung, dass sowohl der Begriff „Green Card“ als auch das, was als große Aktion dahinter steht, der falsche Weg ist. Natürlich brauchen wir eine Lösung des Problems des Engpasses auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben bereits eine Arbeitsaufenthalteverordnung, die in bestimmten Bereichen funktioniert und in anderen Bereichen viel zu kompliziert ist. Zunächst möchte ich Ihnen sagen, wie wir beispielsweise in Bayern versucht haben, das Problem, das auch wir in den vergangen Jahren hatten, zu lösen. Wir haben gesagt: Wir brauchen eine Internationalisierung der Universitäten. Wir brauchen mehr ausländische Studenten an unseren Universitäten. Wir brauchen mehr Wissenschaftler, die nach Deutschland kommen. Wir brauchen aber auch das Umgekehrte: dass mehr Professoren und Studenten deutscher Universitäten ins Ausland gehen. Wir haben ohne den Begriff „Green Card“ eine Lösung gefunden, und zwar aufgrund des geltenden Rechts: Wenn uns die Universitäten sagen, sie bräuchten jemanden, dann - jetzt horchen Sie gut zu; dazu braucht man keine monatelangen Diskussionen mit völlig falschen Vorstellungen, denn Folgendes kann bereits heute gemacht werden - wendet sich die Universität an das Ausländeramt und sagt, dass sie eine bestimmte Person brauche. Das Ausländeramt hat dann eine Woche Zeit, etwaige Bedenken zu äußern. Wenn diese Möglichkeit nicht innerhalb der genannten Frist wahrgenommen wird, gilt die Zusage der Aufenthaltserlaubnis als erteilt. ({5}) Übrigens war das eine Idee, die wir damals mit Herrn Rüttgers durchgesetzt haben. ({6}) Im Bereich der Arbeitsaufenthalteverordnung haben wir eine Überbürokratisierung, die eine monatelange Suche auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt und die völlig untauglich ist. ({7}) Deswegen haben wir als Unionsinnenminister einheitlich gesagt - Herr Kollege Bosbach war bei diesen Beratungen dabei -: Im Hinblick auf kurzfristige Engpässe auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir eine praktikablere und unbürokratischere Lösung als die der bestehenden Arbeitsaufenthalteverordnung. Dann können wir die anstehenden Probleme lösen. Dazu müssen aber noch einige Punkte, die von Herrn Rüttgers angesprochen worden sind, geklärt werden, nämlich dass der Bedarf an Fachleuten ermittelt und vorgelegt werden muss, dass es sich um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt und dass diejenigen, die dann kommen, dieselben tariflichen Konditionen bekommen und nicht als Billiglohnkräfte aus dem Ausland betrachtet werden. ({8}) Es ist doch völlig blauäugig zu glauben, dass das allein aus Menschenfreundlichkeit verlangt wird. Das Problem Hochlohnland hat doch eine massive Bedeutung. Nach unserer Überzeugung muss ferner überlegt werden, wie eine Einwanderung über die Green Card mit der Erweiterung der Europäischen Union vereinbar ist. Ich halte es für völlig unverständlich, dass darüber nicht ernsthaft diskutiert wird. Die Erweiterung der Europäischen Union wird den europäischen Arbeitsmarkt von bisher 300 Millionen auf 500 Millionen Menschen ansteigen lassen. Die Osterweiterung wird nicht in 10, 20 oder 30 Jahren erfolgen, sondern 2002, 2003 oder 2005. Man kommt nicht auf die Idee, solche Fragen im Zusammenhang mit der vor der Türe stehenden Osterweiterung zu lösen und damit im Vorgriff auf die Osterweiterung Flexibilisierungen zu ermöglichen, die wir brauchen, um die Übergangsprobleme, die gerade auf dem Arbeitsmarkt der neu in die EU kommenden Länder entstehen werden, abmildern zu können. Das sind Dinge, die wir auf jeden Fall ansprechen müssen. ({9}) Das ist mit der Diskussion über den irreführenden Begriff Green Card überhaupt nicht in vernünftiger Weise angegangen worden, ganz abgesehen davon, dass wir im Rahmen der bisherigen Verfahrensweise sehr viel besser mit der Frage, ob ein Familiennachzug erfolgen soll oder nicht, umgehen können. Hier geht es um die kurzfristige Lösung eines Problems. Ich stelle dazu fest: Ich halte es für richtig, dass Herr Rüttgers dieses Problem - natürlich in zugespitzter Art und Weise - angesprochen hat, um damit deutlich zu machen: Wir können die Scheinheiligkeit der „Herumschröderei“ nicht ertragen, ({10}) die Einbürgerung über die Green Card als kurzfristige Übergangslösung von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt darzustellen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Beckstein, vielleicht können Sie sich einmal festlegen: Wer hat denn nun Recht, Herr Rüttgers oder Richard von Weizsäcker, der dessen Verhalten und Aktion als „Haider-würdig“ bezeichnet hat? Legen Sie sich bitte einmal fest! Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ich halte es für völlig unsinnig, Herrn Rüttgers in die Nähe von Herrn Haider zu stellen. Dazu kann ich nur sagen: Jeder aus der SPD, der die Mitverantwortung dafür trägt, ein ganzes Volk wie das der Österreicher unter Quarantäne zu stellen, hat sich an dem Ziel der Europäischen Union versündigt. ({1}) Sie sollten einmal mit dem ehemaligen österreichischen Innenminister Schlögl von der SPÖ sprechen, was er von der Aktion, die von Herrn Schröder im Rahmen der EU angerichtet worden ist, hält, angesichts dessen, dass in Österreich nach dem Willen der damaligen Großen Koalition die Erweiterung der EU durch Volksabstimmung geklärt werden muss. Und da führen Sie eine solche Maßnahme durch! Ich bin in Deutschland bekannt dafür, dass ich die Auseinandersetzung mit den Republikanern härter angegangen bin als jeder andere. ({2}) Herrn Rüttgers in die Nähe von Herrn Haider zu stellen halte ich für unanständig und das sollten Sie sich in Ihr Stammbuch schreiben. ({3}) Jetzt komme ich zu dem generellen Problem, das Herr Schröder - ob aus Unwissenheit, „Herumschröderei“ oder auch ganz bewusst - mit dem Begriff Green Card ausgelöst hat. Dieses Problem beinhaltet die folgende Frage: Wie gehen wir in einer Welt der Globalisierung der Wirtschaft und angesichts der demographischen Entwicklung der nächsten Jahre generell mit der Frage der Einwanderung um? Herr Westerwelle - das ist in der Tat richtig -, diese Frage haben Sie bereits in der letzten Legislaturperiode im Rahmen eines von Ihnen geforderten Einwanderungsgesetzes angesprochen. Ich habe mich immer dagegen gewendet. Ich teile zwar Ihr Anliegen - Sie haben das heute wiederholt -, dass Sie nicht mehr Zuwanderung, sondern eine andere wollen. Aber Sie haben nicht angesprochen, dass dafür bestimmte Instrumente unabdingbar sind. Denn man kann Einwanderung, die dem Umfang nach Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({4}) gleich bleibt, nur dann verändern, wenn man das rechtliche Instrumentarium massiv verändert. Da ist als Erstes zu nennen: Heute gibt es natürlich eine massive Armutszuwanderung. Ich spreche ganz bewusst nicht, wie andere, von Wirtschaftsflüchtlingen, sondern von Armutsflüchtlingen; denn diese Menschen sind von anderen Kontinenten, aus anderen Ländern, wo sie in bitterer Armut gelebt haben, nach Deutschland gekommen, weil sie dem Ruf des Asyls gefolgt sind - in der überwiegenden Zahl der Fälle allerdings unter Zuhilfenahme von kriminellen Schleuserbanden -, und wollen sich hier ein Stück des Wohlstandes sichern. Dies muss eingeschränkt werden und das geht nicht nur durch schöne Worte, sondern hier muss eine Veränderung des heute geltenden Grundrechts auf Asyl vorgenommen werden. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ja.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, sind wir uns darüber einig, dass, wenn ein Recht wie das Asylrecht missbraucht wird - wer wollte das bestreiten? -, dies dafür spricht, den Missbrauch zu bekämpfen, und nicht dafür, das Recht abzuschaffen? ({0}) Zweitens. Stimmen wir auch darin überein, dass - wenn man ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz machen will, über das wir in der letzten Legislaturperiode mehrfach verhandelt haben - nicht schon dadurch eine die Zuwanderung begrenzende Wirkung erzielt wird, dass sich das Recht auf Zuwanderung und der Asylantrag gegenseitig ausschließen? Ist es also nicht geradezu ein Anreiz für diejenigen, die den Weg über das Asyl gehen könnten, obwohl er für sie gar nicht gedacht ist, diesen Weg nicht in Anspruch zu nehmen, weil sie wissen, dass sie sich die Zuwanderungschance ein für alle Mal nehmen, wenn sie einen Asylantrag stellen? ({1}) Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({2}): Herr Kollege Westerwelle, der zweite Gedanke ist gut gemeint. Jeder weiß aber, dass, wenn man sagt, jemand habe etwas gut gemeint, dies nicht immer ein Lob ist. Es ist gut gemeint, aber grundfalsch, zu glauben, dass Millionen von Menschen, die gerne nach Deutschland kämen - unter Zuhilfenahme des Asyls und sonstiger Wege, zum Beispiel durch Schleuserbanden -, diese Chance nicht nutzen würden, weil andere, nämlich hochspezialisierte Wissenschaftler, die wir auf dem Arbeitsmarkt benötigen, die Möglichkeit der Zuwanderung erhalten. Das ist doch eine Illusion. ({3}) Der frühere türkische Innenminister Mentese hat mir gesagt: Als die Anwerbelisten der Türkei bezüglich der Einwanderung geschlossen worden sind, waren 6 Millionen Menschen registriert. Ich bin nächste Woche beim türkischen Innenminister und werde mir erlauben, ihn zu fragen, wie seine Einschätzung ist. Der türkische Botschafter jedenfalls hat mir auf meine Frage gesagt: Das sind soziologisch völlig unterschiedliche Gruppierungen. Im Übrigen ist es nicht miteinander kompatibel, auf der einen Seite hochspezialisierte Wissenschaftler aus eigenem Interesse ins Land zu holen und auf der anderen Seite die Armutswanderung unterbinden zu wollen. Deshalb darf dies meines Erachtens nicht geschehen. Zu Ihrer zweiten Frage: Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie sagen, man dürfe nicht das Recht insgesamt abschaffen. Ich hebe hervor, dass derjenige, der wie ich dafür eintritt, unser Grundrecht auf Asyl, Art. 16 a des Grundgesetzes, in eine institutionelle Garantie umzuwandeln, keine Ermessens-, Billigkeits- oder Gnadenregelungen will. Ich halte es aber nicht für richtig, dass wir als einziges Land der Welt, als einziges Land der EU glauben, mit Art. 16 a unseres Grundgesetzes allen Menschen dieser Erde ein Grundrecht zur Verfügung stellen zu müssen, während alle anderen Länder sagen: Wir kommen dem Schutz durch die Genfer Konvention in einer anderen Weise nach. Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich habe an den Verhandlungen, die 1993 zur Änderung des Grundrechts auf Asyl geführt haben, teilgenommen. Eine vernünftige, wesentlich weiter gehende Reduzierung des Grundrechts auf Asyl werden Sie nicht erreichen. Wir müssen auf ein anderes Verfahren übergehen, um den wirklich Verfolgten möglichst in wenigen Wochen, spätestens aber in drei bis vier Monaten Asyl zu gewähren. Wir dürfen denen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, nicht die Chance geben, durch Inanspruchnahme eines weltweit einmaligen Rechtswegs über drei oder vier Instanzen und unter Nutzung anderer Wege, zum Beispiel der Petitionsausschüsse der Länder und des Bundes, ihren Aufenthalt zulasten der Allgemeinheit auf drei, fünf oder acht Jahre auszudehnen, um dann anschließend über Altfallregelungen reden zu können. Das darf nicht gehen. Darum brauchen wir eine Änderung. Eine solche ist schon deswegen dringend erforderlich, damit wir in Europa nicht nur eine einheitliche Mindestregelung bekommen, sondern in formeller und materieller Hinsicht zu einem einheitlichen europäischen Asylrecht kommen. ({4}) Wir müssen uns auch einmal ansehen, wie es in Frankreich oder in den Niederlanden konstruiert ist, wo es den formellen Rechtsweg über Verwaltungsgerichte nicht gibt, sondern wo zum Beispiel Kommissionen, die parlamentarisch verantwortlich sind, über Entscheide befinden. Herr Schily hat eine Idee öffentlich geäußert, die von den Ideen, die ich für richtig halte, nicht so weit entfernt ist. Man sollte durchaus überlegen, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder auch die Beratungsorganisationen der Kirchen in eine solche Kommission mit hineinzunehmen. Dann werden Sie feststellen, Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({5}) dass das neue System auf mehr Akzeptanz stößt als das heutige, das weltweit als ein System bekannt ist, das missbraucht werden kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage? Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte. - Da wir schon sehr in Verzug sind - das wissen alle Kollegen -, bitte ich insgesamt darum, etwas kürzer zu fragen und auch etwas kürzer zu antworten.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben kritisch angemerkt, dass wir in Deutschland mit dem entsprechenden Grundrecht auf Asyl und den hier maßgebenden rechtsstaatlichen Verfahren - ich füge hinzu: im Übrigen nachhaltig reduziert - ein erhebliches Problem durch eine Vielzahl von Asylbewerbern hätten. Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in zahlreichen anderen europäischen Staaten bezogen auf die Anzahl der Einwohner der Anteil der Erstasylantragsteller wesentlich höher ist? In der Schweiz beispielsweise ist er mehr als dreimal so hoch und in Belgien und den Niederlanden mehr als doppelt so hoch. Wie bringen Sie das denn damit in Einklang, dass Sie hier weiteren Einschränkungen beim Asylrecht das Wort reden? ({0}) Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}): Herr Kollege, ich würde Ihnen empfehlen, auch mit Herrn Bundesminister Schily eine Diskussion zu führen, der sich zu dieser Frage mehrfach öffentlich geäußert hat. Jemand, der praktische Erfahrungen hat, wird eine solche Frage, wie Sie sie gerade gestellt haben, nicht stellen. ({2}) Vielmehr weiß er, welche Probleme es bereitet, Zehntausende von Asylbewerbern in Sammelunterkünften in einem Land unterzubringen. Er weiß auch, dass das Problem bei uns schärfer ist als in jedem anderen europäischen Land. Hinzu kommt, dass wir Bosnier und Kosovo-Albaner in großer Zahl aufgenommen haben und dass die Zahl der Asylbewerber im Jahre 1999 nur deshalb zurückgegangen ist, weil für die Kosovo-Albaner zu nahezu 100 Prozent ein völlig anderes Verfahren angewendet worden ist, indem sie nämlich faktisch als Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen worden sind, während das in der Schweiz anders gehandhabt worden ist. In der Schweiz zählen sie zu den Asylbewerbern. Deswegen kann ich nur sagen: Reden Sie das Problem nicht herunter, sondern nehmen Sie die Interessen unseres Landes wahr und lösen Sie die Probleme! ({3}) Damit sind wir beim zweiten Bereich. Ich hätte erwartet, dass Herr Riester etwas dazu sagt, da er vor zwei Monaten auf die Frage des Kollegen Singhammer geantwortet hat, die Bundesregierung sei der Auffassung, dass die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen an ausländische EDV-Spezialisten nicht erleichtert werden sollte. Er hat das dezidiert dargestellt, auch im Vergleich zu anderen Branchen. Natürlich erleben wir es, dass die Wirtschaft massive Wünsche äußert, dass sie sagt, wir bräuchten in einer globalisierten Weltwirtschaft auch einen globalen Arbeitsmarkt. Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen - da stimme ich Herrn Rüttgers auch an dieser Stelle zu ({4}) im Interesse der Menschen in unserem Lande - das sind nicht nur Deutsche; das sind erst recht auch türkische und frühere jugoslawische Gastarbeiter, die vor 30 oder 40 Jahren hierher gekommen sind und die in höherem Maße arbeitslos sind als die einheimische Bevölkerung - dafür sorgen, dass Sozialstandards oder Arbeitslohnstandards nicht auf Weltniveau reduziert werden. Wir haben die Aufgabe, einen Weg zu finden, wie wir die Situation im eigenen Bereich verbessern können. Ich kann Ihnen sagen - das tue ich mit allem Selbstbewusstsein -, dass Bayern diese Frage, gerade im IT-Bereich, früher und umfangreicher angefasst hat. ({5}) Die Bundesregierung hat heute dargestellt, dass in diesem Bereich 1 Milliarde DM zur Verfügung gestellt wird. Der Freistaat Bayern hat seit 1994 im Rahmen seiner Hightech-Offensive für Forschung und qualifizierte Ausbildung und für Qualifizierungsmaßnahmen im IT-Bereich 8 Milliarden DM aus Privatisierungserlösen ausgegeben 8 Milliarden DM in Bayern! Deswegen ist es kein Zufall, dass München heute Weltstandard hat, während die Probleme in Nordrhein-Westfalen massiv sind. ({6}) - Herr Kollege Stiegler, wenn Sie in Bayern reden, sagen Sie das doch mit demselben Stolz, weil Sie wissen, dass die Leute Sie wegjagen würden, wenn Sie Ihr eigenes Land schlecht machen würden. ({7}) Das zentrale Problem ist: Wie senken wir die Zuwanderung, die die Sozialkassen belastet, und steuern auf diese Weise die Zuwanderung, die uns nützt? Wenn man das polemisch sagen will: Wir müssen weniger von denen haben, die uns ausnutzen, und mehr von denen, die uns nützen. ({8}) Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({9}) Das ist eine riesige Aufgabe. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin BullingSchröter? - Ich möchte noch einmal alle Kolleginnen und Kollegen auf das hinweisen, was ich schon eben gesagt habe: Wir sind sehr in Zeitverzug. Der Minister bekommt durch Ihre Zwischenfragen eine üppige Redezeit. ({0}) Ich möchte eigentlich keine weiteren Fragen mehr zulassen - aber bitte schön.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich werde meine Frage auch ganz kurz fassen. - Herr Minister, Sie haben ausgeführt, dass die Ausbildungssituation in Bayern sehr gut ist. Meine Frage: Werden die Elektronikkonzerne in Bayern, zum Beispiel Siemens, auf diesem Wege keine Kolleginnen und Kollegen aus der Computerbranche einstellen? Ist es schon gesichert, dass die bayerischen Unternehmen die Green Card nicht in Anspruch nehmen werden? ({0}) Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}): Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, Sie haben bei dem ersten Teil meiner Rede nicht zugehört. Ich habe nämlich dargelegt, dass wir - in der Vergangenheit wie in der Zukunft - aktuelle Fragen regeln. Dafür ist das Vorhaben, das jetzt diskutiert wird, nicht hilfreich und vor allen Dingen der Begriff „Green Card“ völlig falsch. Wir nutzen die bisherige Rechtssituation aus, um aktuelle Fragen zu beantworten, und machen dabei deutlich, dass Ausbildung strikten Vorrang hat vor Zuwanderung. ({2}) Jetzt noch einmal zu der Frage: Wie gehen wir mit Zuwanderung unter den Aspekten der Globalisierung und des demographischen Wandels um, wie können wir unseren eigenen Nutzen stärker in den Mittelpunkt stellen und anderweitige Inanspruchnahme reduzieren? Ich habe die Problematik der Änderung des Asylrechts deswegen angesprochen, weil von den circa 100 000 Asylbewerbern pro Jahr nach den Angaben des zuständigen Mitglieds der Bundesregierung mehr als 90 Prozent nicht asylberechtigt sind, sondern unter das Motiv Armutswanderung fallen und damit das Asylrecht missbrauchen. Nach unseren Erfahrungen sind drei Viertel von ihnen unter Inanspruchnahme von kriminellen Schleusergruppen hergekommen. Dieser Anteil muss reduziert werden. Ein weiterer Bereich muss angesprochen werden, wenn man das Problem insgesamt angehen will: die Frage des Familiennachzugs. Natürlich wird eine Partei, die das „C“ in ihrem Namen führt, den Aspekt der Familie immer besonders berücksichtigen. ({3}) Es kann doch aber nicht richtig sein - was wir im Moment feststellen -, dass ein zunehmender Anteil der bei uns langfristig lebenden Türken ihre Kinder zur Erziehung in dieTürkeischickt,entwederweildas-ähnlichwiebeiunsden Großeltern zufällt oder weil - dies wird jedermann bestätigen, der sich damit beschäftigt - viele Eltern die Sorge haben, dass die Kinder bei uns „verwestlicht“ und verdorben werden, ({4}) dass diese Kinder dann aber im Alter von 15, 16 oder 17 Jahren zurückkommen, ohne ausreichende schulische Ausbildung, ohne berufliche Ausbildung. Sie landen dann zumeist in Zentren, wo wir bereits heute unter Gettobildung leiden. In diesem Zusammenhang habe ich den Gedanken des Kollegen Cem Özdemir ganz interessant gefunden, der gesagt hat: Wenn Familienangehörige zu einem relativ späten Zeitpunkt nachziehen, sollten Sprach- und Integrationskurse zur Voraussetzung der Zuwanderung gemacht werden. Das ist eine vernünftige Idee, über die man sich unterhalten sollte. ({5}) Ich spreche einen weiteren Bereich an, wohl wissend, dass dies ein ganz sensibler Punkt ist: Wenn wir die Zukunftsfragen ehrlich ansprechen wollen, dann müssen wir uns bewusst sein, dass wir einen Missbrauch des Art. 116 des Grundgesetzes abzuwehren haben, und die sich daraus ergebenden Probleme offen ansprechen. Wenn ich für Spätaussiedler gemäß Art. 116 des Grundgesetzes eine Sprachprüfung verlange, wird das auch in anderen Bereichen möglich sein. Wir sehen, dass zwar der Träger des Rechts nach Art. 116 des Grundgesetzes die Sprachprüfung macht, aber mancher Familienangehörige nicht. Auch dies sollten wir beachten. Ich biete hier an, dass die Bundesländer, jedenfalls diejenigen, die sich damals als B-Länder-Vertreter mit uns getroffen haben, in einen fairen und offenen Dialog über Veränderungen des gesamten Rechts in diesem Bereich eintreten. Wir sollten mehr danach gehen, wer uns nützt, und weniger danach, wer uns ausnutzt. ({6}) Das heißt, der Bezug von Sozialhilfe und auch Kriminalität sollten schneller als Ausweisungsgründe gelten. Herr Stiegler, es sollte einem nicht immer in den Rücken gefallen werden, wenn man Intensivstraftäter ausweist. Ein Draufsatteln von weiteren Bevölkerungsgruppen als Zuwanderer, ohne die Armutswanderung entscheidend zurückzuführen, ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Es ist aber richtig, die generellen Fragen zu diskutieren. Das Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({7}) ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten Monaten und Jahren zu stellen haben. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt der Herr Minister Schily das Wort.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Man soll an das Gute im Menschen glauben. ({0}) Deshalb irre ich mich hoffentlich nicht, Herr Kollege Rüttgers, wenn ich meine, dass Ihnen Ihre Rede heute eigentlich selber peinlich war. Ich meine, dass man das Ihrer Körperhaltung ein wenig entnehmen konnte. ({1}) Sie waren früher als Minister gerade für die so genannten Zukunftstechnologien zuständig. Sie haben den wunderschönen Titel des Zukunftsministers zu führen versucht. ({2}) Heute müssen wir feststellen: Sie sind der Vergangenheitsminister oder eher der Vergangenheitspolitiker. ({3}) Wir wissen alle: Die IT-Branche ist die Schlüsselbranche des beginnenden 21. Jahrhunderts. Hier entstehen nach Aussagen der Wirtschaft weltweit circa 600 000 Arbeitsplätze. In Deutschland gibt es - das ist unbestreitbar und ich glaube hier eher den Angaben der Wirtschaft und anderer Institutionen als dem, was Sie, Herr Kollege Rüttgers, hier vorgetragen haben - einen aktuellen Mangel an Spitzenkräften auf diesem Gebiet. Übrigens werden in der deutschen Wirtschaft Spitzenkräfte mit Spitzengehältern bedacht. Deshalb hat das Ganze mit Lohndumping überhaupt nichts zu tun. ({4}) Dies nur nebenbei. Die Vorschläge des Bundesverbandes der Deutschen Industrie lauten so: Um eine unbürokratische Anwerbung sicherzustellen, müssen wir gar nicht groß mit Qualifikationszeugnissen und Ähnlichem arbeiten, sondern können einfach an der Höhe der angebotenen Vergütung ablesen, ob jemand eine Spitzenkraft ist oder nicht. Also reden Sie doch kein dummes Zeug über Lohndumping und Ähnliches. ({5}) IT-Spitzenkräfte sind - das ist inzwischen eine Binsenweisheit geworden - von ausschlaggebender Bedeutung für die Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Ich bin dem Kollegen Westerwelle sehr dankbar für das, was er hier - wie ich finde - völlig richtig dargestellt hat. Aber auch uns ist klar: Ohne IT-Spitzenkräfte kann unsere Wirtschaft im globalen Wettbewerb nicht mithalten. Sie steht im globalen Wettbewerb gut da. Wir dürfen unseren Standort nicht immer herunterreden. Aber auf diesem Gebiet gibt es einen aktuellen Bedarf, den wir decken müssen. Der Rückstand auf diesem Sektor ist auch nicht einzugrenzen. Die Defizite, die dort vorhanden sind, strahlen auf andere Sektoren aus. Das muss man ebenfalls bedenken. Wer über Arbeitsmarkt und Ähnliches spricht, sollte wissen - das ist die Einschätzung von Fachleuten - jede IT-Spitzenkraft, die wir anwerben, wird drei bis fünf Arbeitsplätze schaffen. Sie belastet also nicht den Arbeitsmarkt, sondern sie entlastet ihn. ({6}) Herr Kollege Rüttgers, deshalb stimmt auch Herr Jagoda, der Ihrer Partei angehört, diesem Vorhaben zu, der im Gegensatz zu Ihnen etwas vom Arbeitsmarkt versteht. ({7}) Meine Damen und Herren, rasches Handeln ist notwendig. Wir könnten uns jetzt lange in Ausführungen, wo Mangel in Bezug auf Ausbildung besteht und wer dafür verantwortlich ist, ergehen. Das wäre eine interessante Diskussion. Aber die Bundesregierung tut etwas. Herr Catenhusen wird sicherlich einiges dazu sagen. Ich glaube, dass das, was wir auf diesem Gebiet geleistet haben ich finde, dass sich Herr Westerwelle in Anerkennung dessen, was meine Kollegin Bulmahn tut, fair verhalten hat -, sehr beachtlich ist. Man muss wissen, dass das Programm, das wir auflegen, zwei Seiten hat: auf der einen Seite eine aktuelle Anwerbung von IT-Spitzenkräften und auf der anderen Seite eine Aufstockung des Ausbildungsprogramms. Beides gehört zusammen. Man darf das eine nicht verschweigen. ({8}) Aber wir sollten möglichst rasch und unbürokratisch handeln. Hier bin ich für jeden Vorschlag dankbar. Herr Kollege Beckstein, Sie haben heute einen interessanten Vorschlag gemacht. Wir haben bei anderen Gelegenheiten die Möglichkeit, darüber zu reden. Ich nehme ein solches Gesprächsangebot immer gern an. Wir gleichen das, was wir tun, auf arbeitsrechtlichem und auf aufenthaltsrechtlichem Gebiet ganz sorgfältig mit dem, was uns aus der Wirtschaft gesagt wird, ab. Wir sind in einem engen Kontakt. Es wird demnächst in der Initiative D 21, also im Bereich der IT-Technik, ein Gespräch der Kabinettsmitglieder und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geben. Hier wird geprüft, ob dies die beste und praktischste Lösung ist, die sofort greift. Wir sollten eine pragmatische Lösung finden die innerhalb des bestehenden Rechts umgesetzt werden kann. Das ist möglich. Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({9}) Wir sollten in diesem Fall auf die deutsche Neigung verzichten, alles zur Grundsatzfrage zu erklären. ({10}) Man kann natürlich über Grundsatzfragen reden. Ich komme am Schluss darauf zurück. Jetzt geht es aber um eine schnelle, unbürokratische und praktische Lösung. Ich betone noch einmal: Wir handeln im Interesse der deutschen Wirtschaft. Herr Rüttgers, man kann es Ihnen nicht ersparen: Die härteste Kritik, die an Ihnen geübt worden ist, stammt aus den Kreisen der Wirtschaft. Das ist nun einmal so. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Herr Stihl, hat zu den Äußerungen von Herrn Rüttgers gesagt: Ich halte das für eine ziemlich starke verbale Entgleisung. Es ist mir gleichgültig, welcher Nationalität ein solcher Fachmann ist. Wenn er deutschen Firmen helfen kann, sich im Weltkonzert der neuen Technologien zu behaupten, dann ist er für mich höchst willkommen. Recht hat Herr Stihl und Unrecht hat Herr Rüttgers. So ist die Lage. ({11}) Herr Henkel hat gesagt: „Sprüche wie ,Kinder statt Inder, sind einer Industrienation unwürdig.“ ({12}) Meine Damen und Herren, Herr Hundt hat gesagt: Der ehemalige Zukunftsminister redet an den Erfordernissen des Fachkräftemangels vorbei. Seine Äußerungen sind erbärmlicher Populismus. ({13}) Meine Damen und Herren, Sie haben binnen kürzester Zeit Ihre europapolitische Kompetenz eingebüßt. Dass Sie sich inzwischen auch als wirtschaftsfeindliche Partei gebärden, ist allerdings ein Ereignis, das es zu würdigen gilt. ({14}) Herr Westerwelle hat mit Recht einen Hinweis auf eine Äußerung von Frau Merkel gegeben, die ich begrüße schade, dass sie heute nicht anwesend ist - und in der sie Herrn Rüttgers zurechtgewiesen hat. ({15}) Irgendwie müssen Sie sich - Herr Merz, dass muss ich an Ihre Adresse sagen - entscheiden: Hat Frau Merkel Recht oder hat Herr Rüttgers Recht? Das passt nicht zusammen. Deshalb sollten Sie vor der Wahl für Ordnung sorgen. Meine Damen und Herren, es ist interessant, was der Kollege Beckstein heute vorgetragen hat, wenn es auch ein bisschen verschlungen war. Manchmal konnte man sich in den Wortgirlanden, die Sie vorgetragen haben, nicht zurechtfinden. Aber das ist Ihre Art, in diesem Fall fränkische Art, vielleicht ein bisschen altfränkisch. ({16}) Ich glaube, Herr Beckstein hat in einem Punkt Recht: Wir können einer Grundsatzdiskussion über diese Fragen nicht ausweichen und wir müssen diese Diskussion vorurteilsfrei führen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass inzwischen auch in der Opposition Lockerungsübungen stattfinden. ({17}) Mittlerweile dämmert sogar Ihnen, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Dieser Punkt kommt ja auch schon in Ihren Überlegungen vor. Wir tun gut darran, diese Fragen frei von Tabus und Vorurteilen miteinander zu erörtern. Ich führe zu diesem Thema eine ganze Reihe von - übrigens fraktionsübergreifenden - Gesprächen, deren Ergebnis ich nicht vorgreifen will. Wir müssen auch bedenken, dass wir die Lösung solcher Fragen in die europäische Politik einbetten müssen. Es gibt keine isolierte deutsche Innenpolitik mehr. Das wissen wir spätestens seit Tampere. Das war der erste Gipfel, der sich erfreulicherweise ausschließlich mit innenund justizpolitischen Themen beschäftigt hat. Deshalb bedarf es einer Europäisierung der Politik über die Fragen von Zuwanderung, Asyl und der vorübergehenden Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen. Es ist bekannt, dass im Amsterdamer Vertrag dieses Themenfeld vergemeinschaftet ist und in die so genannte „erste Säule“ gehört. Es ist ein umfassendes europäisches Gesamtkonzept notwendig. Wir sollten uns bemühen, dafür einen breiten Konsens zu finden. Der entscheidende Punkt dabei wird sein, ob es uns gelingt, von einer Zuwanderungssituation, die sich der Steuerung weitgehend entzieht, zu einer Zuwanderungspolitik überzugehen, die aktiv und offensiv gestaltet wird. ({18}) Wenn wir diese Politik gewissermaßen nur erleiden, werden wir mit den Problemen nicht fertig werden. Wir müssen vielmehr etwas tun, was wir in der Vergangenheit schon an manchen Stellen auf einer breiten Konsensgrundlage, und zwar unter humanitären Vorzeichen, getan haben. Ich will Ihnen zum Schluss ein Beispiel vortragen: Wir haben uns in einer Krisensituation in Mazedonien, wo Menschen in Not waren und die Lage aus den Fugen zu geraten drohte, entschlossen - ebenso wie andere Länder -, vorübergehend eine Reihe von Menschen als Bürgerkriegsflüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wir haben damals 15 000 Menschen aufgenommen. Wir haben dabei nicht auf mögliche Klageverfahren oder Rechtsansprüche geachtet, sondern wir haben eine Situation aktiv gestaltet aus eigenem Entschluss, eigener Moral und eigenem Gewissen ({19}) und nach geltendem Recht. Wir haben eine gute Aktion gemacht. ({20}) In diesem Sinne müssen wir Politik verstehen - und zwar in verschiedenen Richtungen. Ich halte es für erfreulich, dass Herr Beckstein in einer sehr sachten, aber mutigen Erklärung auch das Problem der Aussiedler angesprochen hat. Obwohl er es sehr sachte und im Hintergrund getan hat, habe ich - so glaube ich zumindest verstanden, was er meint. ({21}) Insofern müssen wir - gerade 50 Jahre nach dem erfreulichen Zusammenbruch des Naziregimes - alle Felder vorurteilsfrei ansprechen, manche Fragen zu Beginn dieses Jahrhunderts neu stellen und nach passenden Antworten suchen. Wenn dieses Gespräch in einer positiven Weise verläuft und wir zu einem breiten Konsens gelangen, wäre ich dafür sehr dankbar. Von meiner Seite gibt es das Angebot zu diesem fairen Dialog. Ich hoffe, dass auch das Angebot von Herrn Beckstein ernst gemeint ist. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was heute zum Thema „Deutschland als Einwanderungsland“ und zum Einwanderungsgesetz gesagt wurde, stimmt mich optimistisch, dass wir in dem Maße, in dem wir anerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, vernünftige Gesetze machen, die dieser Tatsache auch Rechnung tragen. Ich kann für meine Fraktion erklären, dass wir bereit und offen sind, die Diskussion darüber zu führen und einen Konsens zu erzielen. Wir brauchen eine breite Mehrheit dafür. Aber eines ist mit uns nicht zu machen, nämlich ein Koppelgeschäft zwischen dem Grundrecht auf Asyl und einem Einwanderungsgesetz. Wer das versucht, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler; denn er wirft zwei Dinge in einen Topf, die so nicht zusammengehören. Die anderen Themen, um die es heute geht, sind die Green Card und die Diskussion, die Herr Rüttgers vom Zaun gebrochen hat. Ich fange mit der Bezeichnung „Green Card“ an: Herr Beckstein, Sie haben sehr deutlich darauf hingewiesen, die Green Card sei gar keine Green Card. Aber Herr Schröder wäre mit seiner Forderung auf der CeBIT nicht durchgedrungen, wenn er gesagt hätte, er möchte gerne ein EB-1-Visum für alle einführen. Er hat den populäreren Namen „Green Card“ benutzt und damit der Debatte nach meiner Ansicht eine vernünftige Richtung gegeben. Aber wir sollten nicht über den Namen streiten, sondern sachlich darüber reden, ob der Vorschlag vernünftig ist oder nicht. ({0}) Schlechte Nachrichten für Herrn Rüttgers: Ich glaube nicht, dass das Bundesland Bayern im Bundesrat einer solchen Regelung im Weg steht. Was erklärte der Bayerische Ministerpräsident nach einer Kabinettssitzung - bei dieser dürften Sie, Herr Beckstein, anwesend gewesen sein - im März dieses Jahres? Die Bayerische Staatsregierung ist grundsätzlich mit der von Bundeskanzler Gerhard Schröder angekündigten zeitlich befristeten Anwerbung von Computerspezialisten einverstanden. Dies geht im Prinzip in die richtige Richtung. Das muss man unterstreichen. Außer Herrn Rüttgers redet auch kein anderer CDU-Abgeordneter zu diesem Thema. Er musste heute seine Position alleine darstellen, weil er sich isoliert hat, weil er einen schweren Fehler gemacht hat und weil er mit seinen Vorstellungen, die völlig an der Realität vorbeigehen, versucht, Stimmung zu machen. Er weiß, dass die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für ihn in jedem Fall verloren ist, wenn er das Thema nicht in dieser Weise aufgreift, wie er es bisher getan hat. Tatsächlich stehen wir mitten in einem globalen Wettbewerb um die fähigsten Köpfe. Die Deutschen beteiligen sich an diesem Wettbewerb. Das können Sie daran erkennen, dass junge Deutsche - selbstverständlich - in andere Länder gehen, ({1}) und zwar nicht nur in die Vereinigten Staaten, sondern auch in die skandinavischen Länder und nach Frankreich, um dort im IT-Bereich zu arbeiten. Das, was dieses Land unter der Regierung von Helmut Kohl und unter der Ägide von Innenminister Kanther falsch gemacht hat, war, sich nicht an diesem Wettbewerb zu beteiligen, unseren Arbeitsmarkt abzuschotten und den Wettbewerb um die fähigsten Köpfe anderswo stattfinden zu lassen. Wir haben diesen klugen Menschen bislang keine Möglichkeit gegeben, ihren Traum in Deutschland zu verwirklichen. Das will die rot-grüne Bundesregierung ändern. ({2}) Die Zahlen sprechen für sich: In den Vereinigten Staaten wurden im Jahr 1999 115 000 EB-1-Visa ausgestellt. In diesem Jahr planen die Vereinigten Staaten sogar, 195 000 dieser Visa auszustellen, während wir in Deutschland es mit der berühmten Anwerbe-Ausnahme-Verordnung immerhin auf die „stattliche“ Zahl von 899 gebracht haben. Wenn wir so weitermachen, ist Deutschland eines der Verliererländer beim Kampf um Marktanteile am IT-Bereich. ({3}) Deswegen brauchen wir eine zügige Regelung. Eine solche Regelung wird die Koalition auf den Weg bringen, und zwar mit Unterstützung der CDU-regierten Länder und der SPD-regierten Länder und ohne Herrn Rüttgers. ({4}) Zu Herrn Rüttgers fällt mir Folgendes ein: Es wird immer gesagt: Wem der Herr ein Amt gibt, dem gibt er Verstand. Es ist zweifelhaft, ob das tatsächlich so ist. Aber bei Herrn Rüttgers weiß man, dass der Umkehrschluss auf jeden Fall richtig ist: Seit er das Amt des Zukunftsministers niedergelegt hat, kommt von ihm kein vernünftiger Vorschlag mehr, sondern nur das nach meiner Meinung unsinnige Gerede zum Thema Green Card und Einwanderung. Wir haben in der letzten Legislaturperiode über das Thema Internet diskutiert. Wir haben auch erste Schritte unternommen - daran war Herr Rüttgers beteiligt -, Deutschland für das Informationszeitalter fit zu machen. Nur, er hat aufgehört, als ein paar Schulen einen Computer bekommen haben. Ihm war es egal, dass die Schulen, nachdem sie diesen einen Computer hatten, noch sehr viel Geld in Form von Telekommunikationsgebühren und anderem zahlen mussten. Wir wollen, dass jede Schule, möglichst jede Schulklasse kostenlos ins Internet kommen kann. Die rot-grüne Bundesregierung hat es gemeinsam mit der Industrie geschafft, durchzusetzen, dass nicht nur eine kleine Zahl, sondern alle Schulen kostenlos ins Internet kommen. Damit wird deutlich: Es gibt keinen Gegensatz zwischen Green Card und Ausbildung. Das eine ist genauso wichtig wie das andere. Diejenigen Menschen, die nach Deutschland kommen, werden zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Es ist mehrfach gesagt worden: Wer nach Deutschland kommt, der setzt Wachstumskräfte frei und schafft im Schnitt drei bis fünf Arbeitsplätze. ({5}) Wenn Sie uns nicht glauben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - die meisten glauben uns ja; Herr Rüttgers, der den Saal verlassen hat, ist aufs Sünderbänkchen zu setzen -, dann glauben Sie Herrn Zimmermann, dem Chef vom DIW, der gesagt hat: Die gezielte Einwanderungspolitik ist eine der wesentlichen Ursachen für den US-Wirtschaftsboom. Amerika hat sich systematisch um die besten Leute in der ganzen Welt gekümmert. Die Deutschen haben das bisher nicht gemacht. Das will diese Regierung ändern. Sie hat dabei die volle Unterstützung meiner Fraktion. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen. Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dass diese Debatte durchaus ihr Gutes hat; denn nur Unbelehrbare wie der wahlkämpfende Jürgen Rüttgers leugnen noch heute, dass Deutschland gut beraten ist, für die nächsten Jahre hoch qualifizierte IT-Fachkräfte, die weltweit gesucht und umworben werden, für eine Arbeit in Deutschland zu gewinnen. ({0}) Das ist ein Stück der neuen Wirklichkeit, die die Globalisierung und die Wissensgesellschaft weltweit geschaffen haben. Die Zahlen für Amerika besagen, dass allein dort bis Januar nächsten Jahres 1,6 Millionen neue Jobmöglichkeiten entstehen werden. 850 000 davon werden nicht besetzt werden können. Das Problem, über das wir reden und auf das wir eine schnelle Antwort finden müssen, hat sich nicht erst gestern ergeben. Die Wirtschaft in Deutschland hat - das ist keine Frage - bis Mitte der 90er-Jahre die Dynamik von Internet und Multimedia sträflich unterschätzt. Sie trägt durchaus Verantwortung für den geringen Anteil junger Menschen, die sich in diesen Jahren für ein Studium der Informatik entschieden haben. Sie ist für die geringe Zahl von Absolventen, also hoch qualifizierter junger Menschen, in diesem Bereich mitverantwortlich. Vergessen wir aber nicht, dass schon 1997, vor drei Jahren, die Wirtschaft auf der CeBIT vor einem Fachkräftemangel im IT-Bereich gewarnt hat. Herr Kohl und Herr Rüttgers umgaben sich von 1994 an mit einem hochrangig besetzten Technologierat. Dort wurde natürlich auch über die Informationsgesellschaft gesprochen; aber der Fachkräftemangel, vor allem bei Spitzenkräften - dem heute dringlichsten Engpass auf unserem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft -, kam in dieser illustren Runde bis 1998 nicht auf die Tagesordnung. Es ist kein Wunder, dass auch die Kürzung des Bildungs- und Forschungshaushaltes des Bundes um 700 Millionen DM von 1994 bis 1998 zu dieser Misere beigetragen hat. Ich darf darauf hinweisen, dass in derselben Zeit, in der Herr Rüttgers seinen Haushalt um 11,2 Prozent gekürzt hat, Nordrhein-Westfalen seine Ausgaben für Bildung und Wissenschaft um über 27 Prozent, von 22 Milliarden DM auf 28 Milliarden DM, gesteigert hat. Wäre Herr Beckstein noch da, sollte man ihm sagen, dass die Zahl der Studierenden in Nordrhein-Westfalen höherals inBayernundBaden-Württembergzusammenist. ({1}) Das zum Thema „Bildungsmarkt Deutschland“. Die Bundesregierung hat nach der Wahl schnell gehandelt. Wir haben das Thema Fachkräfte vielfältig auf die Tagesordnung gesetzt: im Bündnis für Arbeit, im Ingenieurdialog, in der Initiative „D 21“. Man hat heute wieder gemerkt, wie Herr Rüttgers argumentiert: Er unterschlägt natürlich, dass die Wirtschaft in der Vereinbarung über die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen zugleich Verpflichtungen eingegangen ist. Insgesamt 60 000 neue Ausbildungsplätze im IT-Bereich - im dualen System - sind das Ergebnis unserer Politik für die Kinder und für die jungen Menschen in unserem Lande. ({2}) Wir haben im Herbst ein Aktionsprogramm zur Entwicklung der Informationsgesellschaft aufgelegt, in dem die Bundesregierung jährlich 1,1 Milliarden DM für diese Zwecke bereitstellt. Herr Rüttgers hat seinerzeit ein symbolisch nettes Produkt in die Welt gesetzt, die Aktion „Schule ans Netz“. Sie war sicherlich gut gemeint; aber im Nachhinein muss man sagen: In drei Jahren insgesamt 60 Millionen DM für diesen Zweck zu mobilisieren war der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. ({3}) Was Rüttgers und die alte Regierung nicht zustande bekommen haben, ist vor allem das, was wir jetzt schaffen, nämlich ein strategisches Bündnis der Bundesregierung mit der gesamten informationstechnischen Wirtschaft, indem wir miteinander vereinbaren, dass bis zum nächsten Jahr jede Schule in der Bundesrepublik am Netz ist, ({4}) indem wir vereinbaren, dass bis 2004 40 Prozent der Bevölkerung in unserem Land ans Netz kommen. Die Tarife bewegen sich, „flat rates“ werden möglich. Das sind alles Dinge, über die die alte Regierung natürlich auch deshalb nicht nachdenken konnte, weil Ihr Zukunftsminister weder Kenntnisse vom Computer noch vom Internet hatte. ({5}) Das merkt man bis heute in seinen Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema. Als Frau Bulmahn und ich ins Ministerium einzogen und unsere erste Frage war, wo eigentlich unser PC sei, wo unser Laptop für unsere Arbeit sei, haben wir erstaunte Blicke der Mitarbeiter sehen müssen. Das war doch interessant. Nun muss ich zugeben: Die Rohrpost, die es im Bundeskanzleramt gab, gab es im Forschungsministerium immerhin schon nicht mehr. ({6}) Meine Damen und Herren, ich denke, die Union hat in den letzten Monaten und Wochen einen Lernprozess durchgemacht. Am Anfang standen sehr kritische Fragen, es gab auch fundamentale schroffe Ablehnung. Es gab auch kritische Fragen aus den Gewerkschaften - keine Frage. Aber man kann doch feststellen: Am 28. Februar lehnte Edmund Stoiber - so dpa - die Green Card für ausländische Computerexperten strikt ab. Herr Beckstein tönte damals - nicht heute -: unverantwortlich. Überstürzt und konzeptionslos war doch nicht unsere Politik, sondern Ihre Reaktion. Am 15. März - man höre und staune - begrüßte Edmund Stoiber in der „Süddeutschen Zeitung“ mittlerweile schon die Green Card als Schritt in die richtige Richtung. Diesen Lernprozess begrüßen wir sehr, wir begrüßen auch den Sinneswandel von Frau Merkel, die am Montag dieser Woche erklärt hat, die CDU habe keine grundsätzlichen Einwände gegen diese Aktion. Sicherlich ist Ihr Schatzmeister Cartellieri, der nach eigenem Bekunden den Bundeskanzler nachdrücklich zu diesem Schritt gedrängt hat, ja aufgefordert hat, in dieser Frage ein hilfreicher Berater gewesen. Man stellt sich doch die Frage, für wen Herr Rüttgers heute eigentlich geredet hat. Der Eindruck entsteht doch: Die Spitze der Union ist längst eines Besseren belehrt worden. Sie weiß, dass sie Herrn Rüttgers bis zum 14. Mai aussitzen muss, und Sie von der Union, die Sie heute geklatscht haben, sind doch selbst zum großen Teil der Überzeugung, dass es auch für Sie gut ist, dass diese elende Diskussion und Kampagne mit der Wahlniederlage von Herrn Rüttgers am 14. Mai ein Ende finden werden. ({7}) Die letzte Ohrfeige hat Herr Kollege Rüttgers gestern bekommen. Die Industrie- und Handelskammer in Köln aus seiner Gegend - hat nachdrücklich die Initiative der Bundesregierung unterstützt. Eine für ihn peinlichere Reaktion kann Herr Rüttgers - so glaube ich - nicht erleben. ({8}) Ich will noch zu einer weiteren Polemik von Herrn Rüttgers Stellung nehmen. Es ist schon ein starkes Stück, wenn im Wissenschaftsministerium in Düsseldorf am 6. April ein Antrag auf einen gemeinsamen Bildungsgang von deutschen, niederländischen und belgischen Personen eingeht und Herr Rüttgers hier in anmaßender Weise beklagt, dass diesem Antrag noch nicht entsprochen worden ist. Soll man das wirklich ernst nehmen? ({9}) Zum Thema Lohndumping. Es steht doch fest, dass für 50 Prozent der Arbeitsplätze im IT-Bereich im engeren Sinne Leute mit Hochschulqualifikation erforderlich sind. Wir brauchen hier viel stärker als in anderen Bereichen einen starken Anteil hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Unser Problem ist, dass unter den über 30 000 IT-Fachkräften nur sechs Prozent mit Hochschulabschluss sind. Im Kern haben wir in Deutschland 2 400 arbeitslose Informatiker. Deshalb ist klar: Wir brauchen mehr Jugendliche, die hier eine Berufsausbildung beginnen, wir können über jeden froh sein, der in den nächsten Jahren einen Abschluss in einem IT-Beruf macht. Jeder junge Student, der jetzt seinen Abschluss macht, wird doch zum Teil schon vor Ende des Studiums weggekauft und diejenigen, die jetzt mit Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit umgeschult werden, haben eine gute berufliche Perspektive. Aber das reicht in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Catenhusen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Bitte.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Catenhusen, Sie haben eben betont, dass es in der IT-Branche vor allem Menschen mit Hochschulabschluss geben müsse. Was sagen Sie denn zu der Feststellung des SPD-Fraktionschefs, die in der „FAZ“ vom 13. April wiedergegeben wird? Er soll gesagt haben, die SPD-Fraktion lege auch keinen allzu großen Wert auf formale Hochschulabschlüsse, sondern neben der Orientierung an formalen Hochschulabschlüssen allein, wie sie im Entwurf von Arbeitsminister Riester zunächst vorgesehen sei, werde daran gedacht, sich an den gezahlten Gehältern für Fachleute aus dem Nicht-EURaum zu orientieren. Diese liegen ja wohl nicht sehr hoch.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Der Teufel liegt immer im Detail, Frau Luft. Übrigens ist meine Prognose ganz klar: Es werden nicht hauptsächlich Inder sein, sondern zu uns werden vor allem hoch qualifizierte Experten aus dem osteuropäischen Raum kommen. Das weiß doch jeder. ({0}) Die „Inder-Debatte“ von Herrn Rüttgers ist auch in dieser Hinsicht völlig verlogen, weil er den Eindruck erweckt, als ob wir die Inder deshalb holten, weil sie Hindus sind, und wir uns neben den Problemen mit der islamischen Minderheit noch ein weiteres Problem mit einer Hindu-Minderheit aufhalsen wollten. Diese Art von Demagogie, die Herr Rüttgers hier vollzieht, kann ich nur folgendermaßen charakterisieren: Er ist kein Haider, aber er zündelt mit Haider-Methoden, weil er weiß, dass er auf andere Weise keine Chance mehr hat. ({1}) Nun zur Antwort auf Ihre Frage, Frau Luft: Das Problem ist, wir müssen im Zusammenhang mit der Anerkennung von weltweit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen prüfen, ob auf unbürokratischem Weg schnell geklärt werden kann, was das Hochschuldiplom aus Bangladesch oder woher auch sonst wert ist. Wenn wir da auf bürokratische Hürden stoßen, haben wir eine andere Option zur Verfügung, nämlich über Einkommenshöhen auf dem Arbeitsmarkt das Qualifikationsniveau festzulegen. Das ist kein Gegensatz, sondern das sind Alternativen. Hier besteht Klärungsbedarf. ({2}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines deutlich machen: Die Debatte um eine befristete Arbeitserlaubnis für hoch spezialisierte Arbeitskräfte lenkt unseren Blick darauf, dass wir für die Sicherung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunft immer stärker auch auf Fachkräfte aus anderen Ländern angewiesen sein werden. Im Zeitalter der Globalisierung und der Wissensgesellschaft agieren nicht nur Konzerne global, sondern es ist auch längst ein globaler Arbeitsmarkt von Experten entstanden, um die sich im Wettbewerb vor allem die Industriestaaten bemühen. Wenn in Indien ein Bildungssystem existiert, das weit über den Bedarf hinaus hoch qualifizierte Experten ausbildet und ein Teil dieser Menschen aus guten Gründen, übrigens auch unterstützt von der eigenen Regierung, auf diesen globalen Arbeitsmarkt drängt, dann ist die klassische Diskussion, zum Beispiel um Braindrain wie in den 70er-Jahren, hier völlig fehl am Platze. ({3}) Indien profitiert davon, dass es eine starke Gruppe von Indern gibt, die die Computerindustrie in Silicon Valley mit aufgebaut haben. ({4}) Wir werden auf die Dauer davon profitieren, dass in unseren Unternehmen hoch qualifizierte Spezialisten arbeiten, die anschließend in ihren eigenen Ländern unsere Geschäftspartner werden. ({5}) Deshalb mein letzter Satz. Wir wissen alle, dass wir hier über eine sensible Frage reden. Wir brauchen in dieser Frage eine Koalition der Vernunft, um gemeinsam durch Aufklärung das gesellschaftliche Klima weiterzuentwickeln, Ängsten zu begegnen und auch den jungen Menschen die Zukunftschancen, die sich für sie damit ergeben, deutlich zu machen. Wir müssen behutsam Schritt für Schritt gehen. Eines geht allerdings nicht: mutigere Schritte auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik zu fordern und zugleich bei passender Gelegenheit schamlos Ängste zu schüren, parteipolitisch zu instrumentalisieren und auszuschlachten. ({6}) Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben es jetzt selbst in der Hand, ob Sie Teil einer Koalition der Vernunft ({7}) zusammen mit Wirtschaft, Gewerkschaft und Kirchen und den anderen Parteien in diesem Hause werden wollen und können.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Catenhusen, der Satz ist wirklich reichlich lang.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ich denke, die Chancen werden nach der Wahlniederlage von Herrn Rüttgers besser sein als vorher. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Doris Barnett für die SPDFraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müsste ich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion fragen, ob sie ganz sicher sind, dass ihr Antrag jetzt von allen bei ihnen geteilt wird, oder ob er vielmehr nur eine Mehrheits- oder Minderheitsmeinung beinhaltet; denn täglich lesen wir in der Presse Stellungnahmen von nicht ganz unbedeutenden CDU-Leuten, die mal für, mal halbherzig gegen das Sofortprogramm der Bundesregierung sind, mal differenziert und mal plump argumentieren. Was Sie da treiben, nennt man einen Schlingerkurs. Dafür verliert ein Autofahrer seinen Führerschein. ({0}) Einen „politischen“ Führerschein werden Sie weder mit Ihrem Kurs noch mit Ihrem Antrag machen können. Deshalb meine gut gemeinte Anregung an Sie: Reden und schreiben Sie nicht wider besseres Wissen dauernd so, als ginge es bei der Frage bezüglich der IT-Spezialisten um einen Gegensatz! Das ist nämlich nicht der Fall; denn das Sofortprogramm, das die Bundesregierung mit der Wirtschaft am 13. März vereinbart hat, enthält bereits deutliche Akzente für die Ausbildung unserer Jugendlichen und für die Weiterbildung der Beschäftigten und der Arbeitslosen in unserem Lande. Es geht also nicht um die Green Card - ich sollte vielleicht im CDU-Jargon besser sagen: um die Inder Card - anstelle von Ausbildung oder Beschäftigung von weitergebildeten Arbeitslosen, sondern um eine sinnvolle Verknüpfung. ({1}) Ihre Anträge zu den Punkten Ausbildung und Weiterbildung kommen zu einem reichlich späten Zeitpunkt. Darüber hinaus richten sich diese Anträge an die falsche Adresse. Sie dürfen nicht die jetzige Bundesregierung zum Handeln auffordern, sondern Sie müssen sich selbst fragen, was Sie alles versäumt haben. Ich muss die Mitglieder der abgewählten Regierung daran erinnern, dass wir in der letzten Legislaturperiode in der Enquete-Kommission „Informationsgesellschaft“ schon jede Menge Erkenntnisse gewonnen und Handlungsvorschläge entwickelt haben, die aber offenbar nicht in das Konzept des alten Zukunftsministers passten. ({2}) Die neue Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Mit dem Bündnis für Arbeit und mit unserem IT-Sofortprogramm haben wir gehandelt. Wir führen jetzt endlich eine bildungspolitische Debatte, wie wir in unserem Land junge Schulabgänger für die richtige Qualifikation gewinnen können ({3}) und wie wir die Einsicht in lebenslanges Lernen und Weiterbildung im Betrieb fördern, damit wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst über den Umweg Arbeitslosigkeit in Weiterqualifizierungsmaßnahmen bringen müssen. ({4}) In den vier IT-Berufen werden schon jetzt im dualen System - ich sage es ganz langsam zum Mitschreiben insgesamt 26 500 junge Menschen ausgebildet. ({5}) Alleine 1999 wurden insgesamt 12 837 neueAusbildungsverträge abgeschlossen. ({6}) Unser Ziel ist es, dass statt 40 000 im Jahre 2003 60 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen werden. Dazu muss die Wirtschaft ihre gegebene Zusage halten, entsprechende Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Wir werden die Unternehmen nicht aus der Pflicht zur betrieblichen Ausbildung entlassen. Gott sei Dank zeigen ja die Tarifabschlüsse, dass der richtige Weg beschritten wird. Das Gleiche gilt für die Weiterbildung. Wenn schon in einer Boombranche, in der die Halbwertszeit des Wissens gerade einmal fünf Jahre beträgt, die Beschäftigungsaussichten so gut sind, wie sie uns die Wirtschaft prognostiziert, dann dürfen wir vonseiten der Politik auch erwarten, dass hier eine Eigenanstrengung in Sachen Weiterbildung erfolgt. In diesem Zusammenhang danke ich der F.D.P., dass sie uns mit ihrem Antrag in dieser Beziehung unterstützt. Alle reden doch davon, dass unsere bundesrepublikanischen Schätze nicht im Boden liegen, sondern in den Köpfen der Menschen schlummern. Also müssen wir diese Schätze auch heben und dürfen die Menschen nicht mit 40 Jahren in die Ecke stellen. Deshalb können wir auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - ich muss fragen, was denn überhaupt „älter“ bedeutet und ab wann man älter ist; wir alle sind wahrscheinlich zu alt - und auch auf die älteren Arbeitslosen im Zuge dieser rasanten Entwicklung nicht verzichten. Allerdings stehen und fallen die Beschäftigungschancen mit der Bereitschaft der Unternehmen, deren Wissen up to date zu halten. Auch das ist Inhalt des Sofortprogramms, nämlich diese Menschen einzustellen und nicht generell durch Jüngere oder durch Arbeitskräfte aus dem Ausland zu ersetzen. An dieser Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen: IT-Spezialisten, meine Herren, sind nicht ausschließlich männlichen Geschlechts. ({7}) Weil diese neuen Technologien gerade für Frauen Chancen für eine Neuverteilung ihrer Arbeitszeit, zum Beispiel durch Telearbeit und durch Teilzeitarbeit, und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten, muss der Frauenanteil bei der Ausbildung und Beschäftigung deutlich erhöht werden. ({8}) Nicht umsonst unternehmen wir auch bei der Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes Anstrengungen, Frauen - es dürfen auch Väter sein - während der ersten Lebensjahre der Kinder in großzügiger Weise Teilzeitarbeit zu ermöglichen, damit sie, die Frauen, den Anschluss nicht verlieren und die Unternehmen möglicherweise ihre besten Mitarbeiter. ({9}) Wir müssen jetzt alle dazu beitragen, dass unsere jungen Menschen Interesse an diesen zukunftsträchtigen Berufsfeldern haben. Deren Studienneigung können wir nur dann erhöhen, wenn die jungen Menschen wissen, dass ihre Studienzeit gut angelegt ist und dass sie anschließend auch Beschäftigung finden. Deshalb liegt es jetzt auch an den nachfragenden Unternehmen, Signale zu geben: den akuten Bedarf jetzt durch ausländische Spitzenkräfte zu decken, aber bei der weiteren Planung auf heimische Kräfte zu setzen. ({10}) Bis dahin - ein Studium dauert nun einmal, selbst bei verkürzter Studienzeit, zwischen drei und fünf Jahren - sollten wir alle an einem Strang ziehen und sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen: die Umqualifizierung von Arbeitslosen aus anderen, verwandten Fachrichtungen, die Einstellung auch von älteren Arbeitslosen und die verstärkte Weiterbildung von allen Arbeitnehmern. Dies ist nicht nur eine Aufgabe der Bundesanstalt, sondern eben auch der Betriebe. ({11}) Zwar hat die Bundesanstalt hier gute Ergebnisse vorzuweisen - sie vermittelte je nach Region immerhin zwischen 70 und 100 Prozent der Weitergebildeten -, aber Aus- und Weiterbildung können wir, auch wenn es jetzt nur um den IT-Bereich geht, nicht generell der Bundesanstalt für Arbeit aufs Auge drücken. Trotzdem stellen wir uns der Verantwortung für die arbeitslos Gemeldeten. Die Bundesanstalt für Arbeit wird ihre Weiterbildungsanstrengungen noch einmal verstärken. Der Minister sagte es heute Morgen schon. Statt 35 000 Teilnehmern werden wir 40 000 Teilnehmer ins Programm bringen. Das kostet natürlich auch etwas mehr. Ich bin gespannt, ob wir dafür Ihre Unterstützung bekommen. ({12}) Die Zukunft gewinnen wir nicht mit Nörgeln und Postkartenaktionen, ({13}) sondern mit Mut und dem Willen, Probleme jetzt schnell und unbürokratisch zu lösen. ({14}) Die Bundesregierung handelt genau nach dieser Maxime, während Sie von der Opposition - nicht alle - noch schlingern und vor lauter Übersteuern und Überfrachten plötzlich mit der ganz eng eingegrenzten IT-Spezialisten-Nachfrage in der Zuwanderungs- und Ausländerecke landen. Das macht Sie nicht zukunftsfähig, sondern zu den Bedenkenträgern des Jahres. Vielen Dank. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3012 und 14/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 14/282 ({2}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Guido Westerwelle, Ulrich Heinrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 14/207 ({4}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Naumann und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({5}) - Drucksache 14/279 ({6}) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({7}) - Drucksache 14/758 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9}) - Drucksache 14/3165 Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Rainer Funke Sabine Jünger Ich weise darauf hin, dass wir nachher über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Grundgesetzes namentlich abstimmen werden. Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hermann Bachmaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Worte sollen nach dem Willen der großen Mehrheit des Bundestages zum Schutz der Tiere in die Verfassung aufgenommen werden. Darauf haben sich alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU verständigt. Der Bundestag beschäftigt sich heute nicht zum ersten Mal mit diesem Anliegen. Schon in den letzten beiden Legislaturperioden haben sich Bundestag und Bundesrat mit diesem wichtigen Gesetzgebungs- und Verfassungsanliegen auseinander gesetzt. Seit Anfang 1999 liegen uns wiederum Gesetzentwürfe der einzelnen Fraktionen und des Bundesrates vor. Wir halten es, wie es die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Ausdruck bringt, für sinnvoll, den Schutz der Tiere als Staatsziel dem bereits im Jahre 1994 in die Verfassung aufgenommenen Staatsziel Umweltschutz anzufügen. Bei der abschließenden Entscheidung des Bundestages nach den Beratungen der Verfassungskommission im Jahre 1994 ist eine Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im Grundgesetz am hartnäckigen Widerstand von CDU/CSU gescheitert. Lediglich eine wortreiche, aber letztlich unverbindliche Entschließung wurde damals verabschiedet. ({0}) Deren Ziel war es, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und zu verschleiern, dass zumindest die Führung der Union einen verfassungsrechtlich legitimierten und im Grundgesetz verankerten Tierschutz mit allen Mitteln verhindern will. ({1}) Heute droht diesem für einen wirksamen Tierschutz zentralen Anliegen wieder das gleiche Schicksal. ({2}) Mit zum Teil höchst widersprüchlichen Erklärungen haben die Verantwortlichen der Unionsfraktion gestern mitgeteilt, dass sich die größte Oppositionsfraktion auch heute weigern will, dem Tierschutz endlich seinen ihm angemessenen Platz in unserer Verfassung zuzuweisen. ({3}) Dabei wissen wir nicht zuletzt aus dem Brief, den Frau Merkel noch am 4. Januar dieses Jahres an den Präsidenten des Deutschen Tierschutzbundes geschrieben hat, dass es innerhalb der Union - und uns ist nicht entgangen: auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion - unterschiedliche Auffassungen, wie es in dem Brief hieß, zur Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz gibt. Wir wissen, dass es Angehörige Ihrer Fraktion gibt, die gern zugestimmt hätten. Ich komme noch einmal darauf zurück. Wir fragen uns natürlich, was die Fraktions- und Parteispitze der Union bewegt, so nachhaltigen Druck auch auf diejenigen Abgeordneten der Union auszuüben, die gern dem von uns vertretenen Anliegen zu der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag verhelfen würden. ({4}) Die 1994 genährte Illusion, der verfassungsrechtliche Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen umfasse auch - wie es damals wörtlich hieß - „prinzipiell“ den Tierschutz, ist mittlerweile längst widerlegt. Auf die drängenden Fragen, die sich bei unnötigen Tierversuchen, quälenden Tiertransporten und im Bereich der Massentierhaltung stellen, gibt der verfassungsrechtliche Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen alleine keine Antwort. ({5}) Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Juni 1997 wissen wir expressis verbis, dass der Tierschutz in den oft schwierigen Abwägungsprozessen mit grundgesetzlich geschützten Belangen unter den Tisch fallen muss. Wenn aber der Tierschutz endlich seine ihm angemessene Stellung innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes erhält, werden Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichte dieses Anliegen schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht außer Acht lassen können. ({6}) Das scheint wohl auch der wahre Grund für den hartnäckigen Widerstand zu sein, mit dem sich eine mächtige Minderheit gegen die von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung gewünschte Verfassungsergänzung stemmt. ({7}) Dabei geht es nicht darum, den Tierschutz mit einem Vorrang vor anderen wichtigen Verfassungsgütern auszustatten. Es geht lediglich darum, dass der Tierschutz endlich einen ihm angemessenen Platz in unserer Verfassung erhält, damit er nicht gegenüber anderen Belangen schon von vornherein unter die Räder kommt. ({8}) Es reicht eben nicht aus, Herr Geis, in § 1 unseres durchaus fortschrittlichen Tierschutzgesetzes festzulegen, dass Tiere als Mitgeschöpfe geschützt sind und ihnen wie es so schön heißt - ohne vernünftigen Grund keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden dürfen. Es reicht auch nicht aus, dass wir heute schon in acht Landesverfassungen, unter anderem in Bayern und bald auch in Baden-Württemberg, den Tierschutz als Staatsziel verankert haben und dass wir schon vor zehn Jahren im Bürgerlichen Gesetzbuch auf Anregung des damaligen Vizepräsidentin Petra Bläss Justizministers Engelhard festgelegt haben, dass Tiere nicht als Sache anzusehen sind. Wenn wir es mit einem wirksamen Tierschutz ernst meinen und ihm auch seine Daseinsberechtigung im Konfliktfall nicht streitig machen wollen, muss er endlich als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden. ({9}) Denn in unserer Verfassung haben wir alle zentralen Grundwerte und Grundüberzeugungen, die unsere Gesellschaft prägen, niedergelegt. ({10}) Nehmen wir den Tierschutz nicht endlich in die Verfassung auf, werden alle noch so schönen einfachgesetzlichen Regelungen, Staatsziele in Landesverfassungen, Entschließungen des Bundestages und alle sonstigen vielfältigen Bekenntnisse und Sonntagsreden zum Tierschutz letztlich doch Makulatur bleiben. ({11}) Vor knapp 30 Jahren wurde dem Bund durch eine Verfassungsänderung die Gesetzgebungskompetenz für den Tierschutz übertragen, weil Bundestag und Bundesrat erkannt hatten, dass es sich um eine Aufgabe handelt, die einer bundesweiten Regelung bedarf. Einerseits sind seitdem unser Wissen und unsere Erkenntnisse über die Leidens- und Empfindungsfähigkeit von Tieren erheblich gewachsen. Andererseits werden wir aber immer wieder Zeugen von geradezu barbarischen Tiertransporten, unnötigen Tierversuchen oder anderen Formen der Tierquälerei. ({12}) Wir Sozialdemokraten gehören nicht zu denjenigen, die so tun, als ob wir diese ganzen Missstände durch die drei Wörter beseitigen könnten, um die wir unsere Verfassung in Art. 20 a gerne ergänzt hätten. ({13}) Wir wissen aber auch, dass es einen auf Dauer angelegten und seine Wirkung stetig entfaltenden Tierschutz nicht geben wird, wenn sich unsere Verfassung bei diesem für eine humane Gesellschaft unverzichtbaren Anliegen in Schweigen hüllt. ({14}) Sinn und Zweck von Staatszielen ist es nicht, die Welt von heute auf morgen umzukrempeln. Ihr Ziel ist es, Grundorientierungen zu geben und Wertmaßstäbe zu setzen, die bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und bei den Entscheidungen der Gerichte zu berücksichtigen sind. ({15}) - Dann können Sie doch zustimmen, wenn Sie dem Verfassungsrang verleihen wollen, Herr Geis. ({16}) Aber vor dem entscheidenden Akt einer Verankerung in der Verfassung schrecken Sie zurück. Das haben Sie bei der ersten Lesung in einem Zwischenruf auch wunderschön zum Ausdruck gebracht. Lesen Sie einmal nach! Dieser Zwischenruf ist entlarvend. ({17}) Es ergeben sich nicht selten Konflikte zwischen den nicht immer leicht in Einklang zu bringenden Verfassungszielen. Aufgabe von Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz ist es aber, die oft unterschiedlichen Wertmaßstäbe miteinander so in Einklang zu bringen, dass die einzelnen in der Verfassung verankerten Zielsetzungen ihre jeweils angemessene Berücksichtigung finden. An die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion appellieren wir deshalb, frei und unabhängig, wie es bei Verfassungsfragen so grundsätzlicher Bedeutung eigentlich selbstverständlich sein sollte, zu entscheiden. Ich bin mir sicher und weiß es aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Vorhaben auch, dass es bei Ihnen nicht wenige gibt, die einer Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im Grundgesetz lieber heute als morgen zustimmen würden. Auch wenn wir nicht verkennen, dass die Geschlossenheit einer Fraktion im parlamentarischen Alltag von großer Bedeutung ist, sollte es entsprechend der Tradition des Bundestages wenigstens bei wichtigen Verfassungsfragen zu Entscheidungen kommen, die vorrangig an dem jeweils zur Entscheidung anstehenden Anliegen orientiert sind. Bei der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz geht es nicht um Machtfragen zwischen Regierung und Opposition. Diesem Ziel sollten wir uns alle unabhängig von unserem jeweiligen politischen Standort verpflichtet fühlen. ({18}) Wer einen auf Dauer angelegten wirksamen Tierschutz wirklich will, muss dafür auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Diese Bitte richte ich besonders auch an die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion. Herzlichen Dank. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Röttgen. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich zu der sachlichen Auseinandersetzung in dieser Debatte komme, liegt mir und liegt uns sehr daran zu betonen, worüber wir heute nicht streiten. Wir streiten nicht über die Bedeutung und den grundlegenden Stellenwert, den der Tierschutz in unserer Gesellschaft hat. ({0}) Von niemandem, der Herz und Verstand hat, wird der grundlegende Konsens in unserer Gesellschaft in Zweifel gezogen. Das ist der Konsens, dass der Schutz der Tiere ein essenzieller Bestandteil jeder humanen Gesellschaft ist, dass die Anerkennung der Würde der Tiere zu den zivilisatorisch-kulturellen Elementen unserer Rechtsordnung zählt und dass wir Christen sagen, dass die Tiere Teil der Schöpfung sind und daher eine eigene Würde haben, der wir gerecht werden müssen. ({1}) Das ist die Wertschätzung, die wir als CDU/CSU dem Tierschutz in der Gesellschaft einräumen, und zwar nicht als Lippenbekenntnis. Dies ist für uns vielmehr die Grundlage einer aktiven konkreten Tierschutzpolitik, die die Vorgängerregierung, die im Ergebnis ein weltweit konkurrenzlos hohes Niveau des Tierschutzes vorweisen kann, gerade in den letzten Jahren betrieben hat. ({2}) Ich betone das übrigens nicht deshalb, um hier rechthaberisch zu sein oder um zu bestreiten, dass es noch Defizite gibt. Die gibt es und die müssen wir abbauen. Ich betone dies, um klarzumachen, worüber wir heute streiten: nicht über den Tierschutz, sondern darüber, welche Wege geeignet sind, um in unserem Land den Tierschutz noch weiter zu verbessern. ({3}) Das ist die Streitfrage. Wir alle wissen, dass dieses Thema nicht nur eine Frage des Verstandes ist. Tierschutz ist auch etwas, was unser Gefühl anspricht. Das ist nicht nur verständlich, sondern es ist auch gut so, dass das Leiden der Tiere, das es gibt, auch unser Gefühl anspricht. Aber das befreit uns nicht von der Pflicht, unseren Verstand ganz nüchtern zu gebrauchen angesichts der Frage: Was können wir denn konkret und effektiv tun, damit es mehr Tierschutz gibt? Diese Frage müssen wir ganz nüchtern beantworten. ({4}) Nach den sehr langen Beratungen, nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss und nach intensiven Gesprächen sind es im Kern zwei Gründe, warum wir sicher sein können, dass mit einer Staatszielbestimmung kein Beitrag zu einem effektiven Tierschutz geleistet wird. Der erste Grund ist: Wir müssen - auch nach der Sachverständigenanhörung - zur Kenntnis nehmen, dass eine Staatszielbestimmung in ihrer Allgemeinheit, in der Weite ihrer Formulierung ungeeignet ist, konkreten Tierschutz herbeizuführen. Tierschutz ist entweder konkret oder er ist gar nichts. ({5}) Durch ein im Grundgesetz verankertes Staatsziel Tierschutz wird die Käfigfläche einer Legehenne nicht um einen Quadratzentimeter größer. ({6}) Hier könnten Sie handeln. Es gibt in diesem Bereich zwar EU-Regelungen, aber die legen nur Mindeststandards fest. Sie könnten hier mehr tun. Da wo die Bundesregierung etwas verändern könnte, da handelt sie nicht. Sie tut nichts Konkretes für den Tierschutz. Sie flüchtet sich vielmehr in nebulöse Aktionen. ({7}) Wir werfen der Bundesregierung vor, dass sie sich ein tierschutzpolitisches Alibi erarbeiten möchte. Die Bilanz der Regierung im Tierschutz ist null. Sie hat noch nichts geleistet. Machen Sie keine großen Worte, sondern handeln Sie konkret dort, wo Sie können! Ändern Sie zum Beispiel die Hennenhaltungsverordnung. Das müssen Sie tun, wenn Sie etwas erreichen wollen. ({8}) Der zweite Grund ist: Tierschutz ist heutzutage nicht mehr national, sondern nur noch europäisch und international machbar ({9}) - genau -, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens ist der Tierschutz bereits heute Gegenstand der europäischen Gesetzgebung. Es ist nicht mehr so wichtig, was in dieser Hinsicht in den nationalen Verfassungen steht. Vielmehr ist entscheidend, was in der entsprechenden europäischen Richtlinie dazu steht. Darum hat sich Ihre Vorgängerregierung unter dem Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert dafür eingesetzt, dass der Tierschutz im EGRecht verankert wird. Er hat dabei enorme Fortschritte erzielt. ({10}) Die frühere Bundesregierung war dafür, den Tierschutz im EG-Vertrag zu verankern. Wir haben uns nicht durchsetzen können, weil es in Europa kulturelle Unterschiede gibt. Aber wir haben eine verbindliche Protokollerklärung erreicht. Diese europarechtliche Anerkennung des Tierschutzes ist mehr, als Sie jemals für den Tierschutz getan haben. ({11}) Wir würden uns freuen, wenn die jetzige Bundesregierung ähnliche Aktivitäten in Europa unternehmen würde, wenn sie so wie wir auf europäischer Ebene für den Tierschutz kämpfen und hier nicht nur billige Reden halten würde. ({12}) Da müssen Sie handeln. Da wo Sie handeln könnten, tun Sie aber nichts. Die Strategie der Durchsetzung unserer hohen nationalen Standards auf europäischer und internationaler Ebene ist auch deshalb zur Herbeiführung eines effektiven Tierschutzes erforderlich, ({13}) weil die betroffenen Einrichtungen und Betriebe unser Land verlassen werden, wenn wir nur national die Standards erhöhen. Diese Gefahr müssen wir sehen. ({14}) Das ethische Dilemma höherer nationaler Standards im Tierschutz ist, dass es im Ergebnis möglicherweise zu weniger Tierschutz kommt, weil die Tierversuche dann in anderen Ländern durchgeführt werden. Diesem Dilemma muss sich jeder stellen. Darum müssen wir auf europäischer Ebene handeln, da wird die entscheidende Schlacht geschlagen. ({15}) All das, was ich bisher gesagt habe, trifft auch auf die Problematik der Tierversuche zu. Tierversuche sind weitgehend international geregelt. Wir haben europa- und weltweit die schärfsten Bestimmungen. ({16}) Danach sind Tierversuche nur zu bestimmten Zwecken erlaubt. Neben der Grundlagenforschung geht es im Kern um den Schutz der menschlichen Gesundheit. ({17}) Zwei Drittel unserer Bevölkerung sagen: Unter den geltenden engen Restriktionen, also nur zu den genannten Zwecken und wenn der Tierversuch wissenschaftlich nicht zu ersetzen und darüber hinaus ethisch vertretbar ist - das sind die engen, weltweit einmaligen Voraussetzungen für Tierversuche -, und in Abwägung der Sachverhalte sind wir für Tierversuche. ({18}) Meine Damen und Herren, wir werfen Ihnen nicht nur vor, dass das Projekt, das Sie propagieren, wirkungslos ist, weil es keinen konkreten Tierschutz beinhaltet. Besonders ärgerlich ist vielmehr, dass Sie den Menschen etwas vormachen. ({19}) Mit diesem Vorhaben wird den Bürgern in unserem Lande suggeriert: Wenn wir den Tierschutz in die Verfassung aufnehmen, haben wir einen enormen Fortschritt gemacht. Genau das aber ist nicht der Fall. Sie machen den Menschen etwas vor. Das ist kein verantwortlicher Umgang mit den Bürgern in unserem Land, kein verantwortlicher Umgang mit dem Anliegen des Tierschutzes - Sie erarbeiten sich nur ein tierschutzpolitisches Alibi, nehmen den Druck vom Thema Tierschutz - und auch kein verantwortlicher Umgang mit der Verfassung unseres Landes. Dies ist der letzte Gesichtspunkt, den ich anführen möchte: Unsere Verfassung lebt von ihrer konkreten Verbindlichkeit. Es ist kein Zufall, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes weitgehend keine Staatsziele vorgesehen haben, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Sie wollten eine konkrete Verfassung, ({20}) keine Verfassung, die Programme beinhaltet, die viele Worte macht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Röttgen, ich muss Sie an Ihren eigenen Satz erinnern. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Diese Verbindlichkeit, diese Wertschätzung unserer Verfassung wollen wir erhalten. Wir wollen die Verfassung nicht mit Programmsätzen beladen, von denen die Bürger enttäuscht sein müssen. Wir treten weiter für die ethische Dimension des Tierschutzes und für eine konkrete, aktive Tierschutzpolitik ein. ({0}) Führen Sie die Politik Ihrer Vorgängerregierung weiter! Dann machen Sie sich auch um den Tierschutz in unserem Land verdient. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kollegen Röttgen ist tatsächlich kaum fassbar - verlogen und widersprüchlich bis ins Letzte. ({0}) Hier wird - und das von einem Juristen - die Verbindlichkeit der Verfassung eingeklagt. Greifen wir einmal einige Artikel heraus, zum Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Sind das etwa rechtliche Grundlagen, die eine Verbindlichkeit beinhalten? Kann die Würde des Menschen im Einzelfall nicht verletzt werden? All dies hat doch zum Ziel, eine bestimmte ethische Grundhaltung auszudrücken und einfach gesetzliche Bestimmungen zur Geltung zu bringen. ({1}) Genau das soll durch die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung erreicht werden. Sie wissen es doch ganz genau: Nur darum geht es. Es ist nicht von einer Erhöhung der Standards die Rede. Ich fand es im Übrigen interessant, dass Sie gesagt haben, höhere Standards könnten das ethische Gleichgewicht der Bevölkerung möglicherweise durcheinander bringen. Oder wie haben Sie es verstehen wollen? ({2}) Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. An unseren Landwirtschaftsminister gerichtet fordern Sie in einem Entschließungsantrag die höheren nationalen Standards. Gleichzeitig aber sagen Sie, dass dies die europäische und die sonstige Rechtsprechung erheblich durcheinander bringen könnte, und das noch eingedenk der Tatsache, dass die Verfassungsänderung das überhaupt nicht bewirkt. ({3}) Die Widersprüchlichkeit bezieht sich nicht nur auf Ihre Äußerungen zu dem Vorhaben, diese drei Worte in der Verfassung zu ändern, sondern auch ganz konkret und direkt auf die Aussagen von nicht unbedeutenden Persönlichkeiten Ihrer eigenen Partei. Sie animieren mich dazu, einen Brief von Dr. Jürgen Rüttgers an den Tierschutzbund vorzulesen. ({4}) - Er hat sich versteckt. - Da heißt es: Bei mir persönlich laufen Sie mit Ihrem Anliegen, den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen, offene Türen ein. Ich habe mich schon früh dafür eingesetzt, dass die CDU ihre bisherige Haltung in dieser Frage revidiert; ({5}) denn ich weiß, dass der Tierschutzgedanke bei vielen Mitgliedern der CDU und Wählern hohe Wertschätzung genießt. Der Landesvorstand der CDU-NRW hat 1999 einen Beschluss gefasst, wonach das Staatsziel Tierschutz in die Verfassung aufgenommen werden soll. Dieser Beschluss sieht vor eine Ergänzung des Art. 20 a GG. Der Artikel soll um den Passus „und die Tiere“ erweitert werden. ({6}) Das ist genau das, was wir Ihnen hier anbieten. Das heißt, ein größeres Entgegenkommen bei all den Diskussionen gibt es wahrhaftig nicht. Übrigens kann man noch hinzufügen - Frau Wöhrl ist auch da -: Am 24. März 2000 gab es im Bayerischen Landtag einen Antrag der CSU zur Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz. In diesem sprach sie sich ebenfalls für die Ergänzung des Art. 20 a des Grundgesetzes aus. - Das zu Ihrer Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz. ({7}) - Jawohl. Wider besseres Wissen und in Kenntnis der anders lautenden gerichtlichen Entscheidungen begründet die Union ihr Abstimmungsverhalten reichlich abstrus. Die alten Begründungen zur Verfassungsdiskussion von 1994 haben ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass CDU und CSU das Anliegen, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen, unterstützen. So hat es die CDU in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich festgehalten. Genauso ist zu konstatieren, dass die gerichtlichen Urteile in den letzten sechs Jahren belegt haben, dass dieses, Ihr ursprüngliches Anliegen nicht erfüllt ist. Es hat nach der Änderung der Verfassung 1994, als der Tierschutz nicht aufgenommen wurde, ein eindeutiges Urteil gegeben, in dem die Verfassungsrichter explizit gesagt haben: Da der Tierschutz nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden ist, gibt es eine entsprechende Rechtsgrundlage für die einfachgesetzliche Regelung des Tierschutzgesetzes nicht. Das ist Ihnen alles bekannt. Diese Verfassungsentscheidungen sind übrigens im Laufe der Jahre wiederholt und verfestigt worden. Das heißt, Ihre ursprüngliche Absicht, den Tierschutz aufzunehmen, haben Sie nicht erfüllt. Das ist belegt. Gleichzeitig begründen Sie einen Fraktionszwang damit, ({8}) dass Sie sagen - das hat Klaus Lippold, stellvertretender Fraktionsvorsitzender am 12.April 2000 getan -, in Bezug auf den Tierschutz werde keine Gewissensentscheidung, sondern eine Sachentscheidung getroffen. Dazu muss man sagen: Genau das ist der Geist der CDU. Es hat sich nichts geändert, noch nicht einmal nach der Entscheidung von 1990, wonach Tiere eben keine Sache sind. ({9}) Insofern ist der Entschließungsantrag der CDU/CSUFraktion, der heute zur Abstimmung steht, geradezu lächerlich. ({10}) Übrigens hat Ihr Kollege Christian Wulff im Hinblick auf die europäische Dimension, die Sie einfordern und die wir vollstens unterstützen und umsetzen, seine Auffassung, dass der Tierschutz in die Verfassung aufgenommen werden sollte, damit begründet, dass Deutschland damit effektiver für europäische Tierschutznormen eintreten könne. Das ist eine berechtigte Einlassung. ({11}) CDU und CSU bleiben bei ihrer Betonpolitik und demontieren sich gleichzeitig selbst. Die große Mehrheit der Bevölkerung, der Deutsche Bauernverband, die Bundestierärztekammer und viele unterschiedliche - prominente und weniger prominente - Persönlichkeiten unterstützen dagegen die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung auch heute. Darunter sind so unterschiedliche Menschen das können Sie alles in der „Berliner Zeitung“ von heute nachlesen; etliche, wenn auch natürlich nicht alle, unterstützen im Allgemeinen die CDU - wie die Schauspieler Uschi Glas und Will Quadflieg, wie Reinhold Messner, der Autor Franz Alt, die „Zeit“-Herausgeberin Dr. Marion Gräfin Dönhoff, die Bischöfin Maria Jepsen, der Altbundestrainer Berti Vogts. Das heißt, die CDU entscheidet sich mit ihrem Nein zur Verfassungsänderung dafür, sich gegen die große Mehrheit der Bevölkerung zu stellen. Und sie untergräbt mit ihrem Nein - das will ich noch einmal betonen - zur Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung die rechtlichen Grundlagen des geltenden Tierschutzgesetzes. ({12}) Die Betriebe und die Forschungseinrichtungen, die sich bereits heute an das geltende Tierschutzgesetz halten - das ist die absolut überwiegende Mehrzahl -, werden im Wettbewerb weiter benachteiligt. Sie müssen sich doch einmal überlegen, wen Sie eigentlich schützen: ein paar Verrückte, die sich jenseits des Gesetzes stellen. ({13}) Genau das ist doch der Effekt Ihres Verhaltens. ({14}) Wir appellieren an die Abgeordneten der CDU/CSU, trotz des anders lautenden Fraktionsbeschlusses der Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen ({15}) und damit endlich dem zur Durchsetzung zu verhelfen, was das Tierschutzgesetz schon immer fordert, nämlich das Tier als Mitgeschöpf und als Lebewesen zu respektieren und als solches zu behandeln. In der Debatte eben, in der Herr Rüttgers geredet hat, war von der roten Karte die Rede. ({16}) Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass die Bevölkerung der CDU/CSU in diesem Punkt die rote Karte zeigt. Natürlich werden wir im Übrigen die einfachgesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen und überprüfen. Für die rechtlichen Konsequenzen sind dann Sie verantwortlich. Als Letztes: Sie haben die rechtliche Verbindlichkeit unserer Verfassung angesprochen. Acht Bundesländer haben bislang den Tierschutz in ihre Verfassung aufgenommen. NRW wird nach einer gescheiterten Abstimmung dazukommen - so steht es im Koalitionsvertrag und das hat man dort auch zugesichert -, genauso wie BadenWürttemberg. Das heißt, die Mehrheit der Länder hat eine Rechtsauffassung, die mit Ihrer Meinung auf Bundesebene überhaupt nicht mehr zu vereinbaren ist. Darum ist es nicht das letzte Mal, dass wir uns über dieses Thema hier unterhalten. Danke schön. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre schon schön, wenn wir am Ende dieser Debatte sagen könnten: Endlich, nach all den Mühen, haben wir es geschafft, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. ({0}) Denn kaum ein anderes verfassungsrechtliches Thema berührt die Bevölkerung mehr als der Tierschutz. Das sieht man an den zahlreichen Petitionen, wie ich aus persönlicher Erfahrung hinzufügen kann. Denn als ich in den 80erJahren vier Jahre lang Obmann im Petitionsausschuss war, habe ich gemeinsam mit Frau Berger für die Verbesserung des Tierschutzes gekämpft. Damals ging es um die Tiertransporte. Wir haben Erfolg gehabt. ({1}) - Das ist richtig, lieber Herr Geis. Aber auch an dieser Frage des allgemeinen Tierschutzes wird deutlich, dass eine verfassungsrechtliche Absicherung erfolgen muss. Denn die Bevölkerung erwartet, dass der Tierschutz einen höheren Rang bekommt, als er heute einnimmt. ({2}) Deswegen haben wir als F.D.P. - als erste Fraktion in dieser Legislaturperiode - hier im Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht. In den Berichterstattergesprächen mit den Koalitionsfraktionen haben wir einen gemeinsamen und, wie ich finde, vernünftigen Weg gefunden, um den Tierschutz in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern und den Tierschutz mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen gleichzustellen, was auch der Einstellung der Bevölkerung entspricht. Die Mehrzahl der Menschen in unserem Land will nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen schützen, sondern hat ein besonderes Verhältnis zu den Tieren, die sie deshalb besonders geschützt sehen will. Wir sind als Juristen und auch als Verfassungsrechtler aufgerufen, diesem Lebensgefühl der Menschen entsprechend zu handeln. Deswegen ist es richtig, den Schutz der Tiere als Staatsziel zu postulieren, ({3}) sodass der Gesetzgeber, Gerichte und die Verwaltung bei der Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Zielen das Staatsziel Tierschutz einzubeziehen haben. ({4}) Diese Regelung des Art. 20 a des Grundgesetzes müste auch mit den Zielen der CDU, einer christlichen Partei, übereinstimmen. Deswegen werbe ich hier noch einmal dafür, sich nicht länger gegen die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung zu sträuben. ({5}) Geben Sie wenigstens die Abstimmung frei. ({6}) Denn viele in Ihrer Fraktion sind mit uns der Auffassung, dass dieses Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben werden soll. ({7}) Wir wollen lediglich in unserem Grundgesetz etwas dokumentieren, was für die allermeisten Menschen längst tägliche Erfahrung ist: Tiere leben und bereichern unser Leben, aber sie leiden auch. Beim Umgang mit Tieren ist Menschlichkeit gefragt. ({8}) Die Art und Weise, wie man mit Tieren umgeht, sagt auch etwas über die Lebenseinstellung einer Gesellschaft aus. ({9}) Diese offene Formulierung, die wir im Konsens mit den Koalitionsparteien gefunden haben, ermöglicht es, die Belange und den Schutz der Tiere deutlich zu machen und so einen Ausgleich zwischen berechtigten Interessen von Menschen und Tieren zu erreichen. Diese Regelungen und vorzunehmenden Abwägungen sind auch darauf gerichtet, die berechtigten Interessen von Forschung und Lehre hinreichend zu berücksichtigen, wie das heute schon der Fall ist. Das Staatsziel Tierschutz wird insbesondere für den einfachen Gesetzgeber ein Hinweis darauf sein, welchen Rang der Tierschutz zukünftig einnehmen soll. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, dass Kollegen unseres Hauses der vorgeschlagenen Kompromisslösung in Art. 20 a des Grundgesetzes vielleicht nicht zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum x-ten Male die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz. Das ist ein Thema, das viele Gemüter bewegt und von dem wir alle wissen, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung hinter dieser Forderung steht. Ich hoffe, wir kommen doch noch zu einem guten Schluss. ({0}) - Wenn Sie etwas fragen möchten, können Sie sich melden. ({1}) Sie sehen: Ich bin immer noch eine Optimistin, obwohl ich Ihren Antrag sehr schlecht finde. Auch in der letzten Legislaturperiode wurde die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz auf die Tagesordnung gesetzt. Die PDS hatte dazu einen eigenen Antrag eingebracht. Doch die damalige Regierungskoalition verhinderte eine Abstimmung, um ihren Bundestagswahlkampf nicht mit diesem Thema zu belasten. Denn für die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz gab es damals keine Mehrheit in der Koalition. Seitens der CDU/CSU gab es damals eine strikte Ablehnung. Man wollte sichschließlichnichtdieWahlergebnissevermiesen. Das hat nicht geklappt, meine Damen und Herren; natürlich auch aus anderen Gründen. Ich wünsche Ihnen nach der heutigen Abstimmung, dass auch die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen Ihr Wahlverhalten gebührend würdigen werden. ({2}) Wie sehr das Thema Tierschutz vielen Menschen am Herzen liegt, zeigen die vielen Briefe, die wir gerade in letzter Zeit wieder erhalten haben. Im Unterschied zu manchen anderen Protestaktionen waren es hier überwiegend Bürgerinnen und Bürger und nicht nur Verbandsfunktionäre und Unternehmer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilder von den furchtbaren Tiertransporten, von Tierversuchen oder von der Enge in den Legehennenbatterien erschüttern diese Republik immer wieder. ({3}) Ich frage Sie: Was tun wir eigentlich dagegen, dass diese Missstände endlich abgeschafft werden? Ein richtiger Schritt wäre die Verankerung des Tierschutzes in Art. 20 a des Grundgesetzes. Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft muss endlich gegen den Tierschutz abgewogen werden können. ({4}) Alle, die mit diesem Thema zu tun haben, wissen, dass dieser Schritt einen Schwanz von Konsequenzen für die Rechtsprechung nach sich ziehen würde, einen juristischen Schwanz, der den elenden Bedingungen bei Tiertransporten ein Ende bereiten und die Pharmariesen mit ihren massenhaften und oft unnötigen Tierversuchen in die Schranken weisen könnte. ({5}) Wenn ich mir den letzten Tierschutzbericht ansehe, dann kann ich feststellen, dass Tierversuche wieder zunehmen, gerade an Primaten. Das heißt doch im Klartext: Wir brauchen endlich die Grundgesetzänderung, damit Unternehmen eben stärker nach alternativen Methoden suchen, damit an Tieren nicht mehr so viel geforscht wird, nur um eine Promotion zu schreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Bundestag liegen heute eine Reihe von Anträgen vor. Auch die PDS hat in dieser Legislaturperiode wieder einen Antrag eingebracht. Wir hoffen und wünschen, gemeinsam mit vielen Tierschützern in der Bundesrepublik, dass sich die CDU/CSU endlich an die Debatten der letzten fünf Jahre erinnert und dem fraktionsübergreifenden Anliegen stattgibt. ({6}) Mit welcher Scheinheiligkeit sie aber im Moment in dieser Frage agiert, wurde mir bei einer Podiumsdiskussion vorletzte Woche in Nordrhein-Westfalen klar. Der Vertreter der CDU-Landtagsfraktion führte aus, dass seine Fraktion immer der Meinung war, es genüge, dass Art. 20a Grundgesetz, also Schutz der Umwelt, den Tierschutz beinhalte. Das sei aber irgendwie falsch ausgelegt worden, was nun auch irgendwie klar sei. Und die CDU müsse deshalb noch weiter beraten. ({7}) Ich halte diese Argumentation für absolut lächerlich. Denn die Diskussion über diese Grundgesetzänderung geht schon sehr, sehr lange. ({8}) Das Argument, dass dann Forschungsinstitutionen ins Ausland abwandern würden, ist ein Totschlagargument, welches immer wieder gebraucht wird und das immer dann bedient wird, wenn es um Entscheidungen geht, die von irgendeiner Seite nicht gewollt sind. ({9}) Gerade eine Forschung mit alternativen Methoden könnte für die Bundesrepublik ein Standortvorteil sein, weil sie Impulse für neue, intelligente Nachweisverfahren und Tests gibt. ({10}) Sie würde auch den Druck von Studentinnen und Studenten nehmen, die sich weigern, an unsinnigen Tierversuchen teilzunehmen. Der Nachweis für Alternativmethoden, den diese jungen Leute laut Tierschutzgesetz leider erbringen müssen, wäre dann einfacher zu beschaffen. Mit einer Änderung des Grundgesetzes könnte sich außerdem - nach Einschätzung von Tierschutzverbänden - die Hennenhaltungsverordnung in eine positive Richtung verändern. ({11}) Denn die jetzt geplante Verordnung orientiert sich ausschließlich an EU-Normen. Das heißt, wichtige Aussagen der Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Hennenhaltungsverordnung wie die, dass Hühner scharren und picken und die Möglichkeit haben müssen, im Sand zu baden, werden im Referentenentwurf der Hennenhaltungsverordnung nicht gerecht. Nach diesem Entwurf würden Hühner nach wie vor auf eine sehr kleine Fläche gepfercht, und zwar nicht mehr auf ein DIN-A4-Blatt, nun käme noch die Fläche eines Geldscheins hinzu. Ich finde, das ist ein Skandal. ({12}) In der Anhörung wurde dazu übrigens klar und deutlich von einigen Sachverständigen vorgebracht, dass der Entwurf dem Bundesverfassungsgerichtsurteil so nicht gerecht wird. Herr Röttgen, Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, eine bessere Hennenhaltungsverordnung zu machen. ({13}) Sie haben es nicht gemacht. Dann polemisieren Sie doch nicht hier. Und letztlich ist mir auch nicht verständlich, warum die CDU/CSU in verschiedenen Ländern den Tierschutz in der jeweiligen Landesverfassung verankert hat, aber dann, wenn es um eine Gesamtetablierung des Tierschutzes im Grundgesetz auf bundesweiter Ebene geht, blockiert. In Bayern wurde er sogar über eine Volksabstimmung in die Verfassung gebracht. ({14}) Wie ich meine Bayern kenne, werden sie die Logik der CSU an dieser Stelle für heuchlerisch halten. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Geben Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß und zeigen Sie, dass der Begriff „Schutz der Schöpfung“ in Ihrer Partei ein Zuhause hat. ({15}) Wenn Sie das nicht tun, ist wieder einmal klar, welche Lobbyinteressen Sie vertreten. ({16}) Das muss einmal so klar gesagt werden. Mich würde sehr interessieren, was diejenigen Ihrer Abgeordneten, die Mitglieder von Tierschutzverbänden sind, dazu sagen werden. In Ihrer Partei gibt es sogar Mitglieder, die Vorsitzende von Tierschutzverbänden sind, wie zum Beispiel Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl, die aber offensichtlich zu diesem Thema nicht reden darf. ({17}) Noch ein paar Worte zu Ihrem Antrag, in dem Sie ausführen, dass zur weiteren Verbesserung des Tierschutzes konkrete Initiativen ergriffen werden sollen. Es ist doch in diesem Hause mittlerweile klar, dass wir dies tun werden. Ich frage Sie: Warum können Sie dann der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz nicht zustimmen? Des Weiteren sind wir uns auch darüber einig, WTO-Verhandlungen in dieser Sache zu führen. Es gibt also keinen Grund, warum Sie der Grundgesetzänderung nicht zustimmen könnten. Ich halte das für unsozial und unchristlich. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Röttgen, ich habe vorhin gedacht, dies sei Ihre neue Politik, die Sie jetzt - gerade in Nordrhein-Westfalen - vertreten wollen, nämlich fest auf dem gleichen Standpunkt wie 1994 zu bleiben. An Ihrer Argumentation hat sich nichts, aber auch überhaupt nichts verändert. ({0}) Wenn Sie uns vorwerfen, die von uns gestellte Bundesregierung habe in den letzten anderthalb Jahren nicht genug für den Tierschutz getan, dann schauen Sie doch einmal, was dieser Minister, der hier sitzt, in Europa erreicht hat. ({1}) - Funke. Der Herr Minister Funke wird gleich zu diesem Thema reden. Warten Sie ab. - Wenn Sie in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit nur etwas davon erreicht hätten, was sich in Europa in diesem Bereich getan hat, könnten Sie stolz sein. ({2}) Herr Röttgen, wenn Sie behaupten, die SPD täusche die Wähler, dann muss ich Ihnen sagen: Sie täuschen die Wähler. Dies gilt insbesondere für Ihren Kollegen Rüttgers. Ich habe in der Presse über einen Antrag von Herrn Rüttgers gelesen, in dem er fordert, das Staatsziel Tierschutz müsse kommen. ({3}) - Wieso? Diesen Antrag haben Sie doch gar nicht in die Beratungen eingebracht. ({4}) Sie hätten ihn doch ganz offiziell einbringen können. ({5}) Wir haben doch jahrelang gestritten. ({6}) - Herr Geis, Sie haben doch in der letzten Debatte als Zwischenruf sehr deutlich gemacht, was Sie wirklich wollen. Ich würde Ihnen einmal empfehlen, zu verhindern, dass Herr Rüttgers zu Wahlkampfzeiten so etwas aus der Tasche zieht. Frau Merkel verspricht dem Deutschen Tierschutzbund, Ihre Partei werde auf dem Parteitag darüber reden. Herr Rüttgers erhebt die Forderung, er wolle das Staatsziel Tierschutz. Er nannte in der Presse keine Formulierung, aber ich kannte die Formulierung. ({7}) Darin liegt die Täuschung der Menschen in unserem Land, die Sie betreiben. Sie bringen heute einen Antrag ein, in welchem Sie konkret eine Verbesserung des Tierschutzes fordern. Ich habe heute gehört, wir brauchten das alles nicht. Wir haben - darüber sind wir uns alle einig - ein hervorragendes Tierschutzgesetz. Aber, Herr Geis, es geht um die konkrete Abwägung, die Sie beispielsweise bei der Kunstfreiheit oder der Forschungsfreiheit immer einfordern. Wenn ich in der einen Waagschale eine einfachgesetzliche Regelung in Form eines guten Tierschutzgesetzes habe und mit der Forschungsfreiheit in der anderen Waagschale dies alles abwäge, wiegt die letztere immer schwerer und gewinnt daher immer. ({8}) - Ja, aber dann wird abgewogen. Dann kann man sagen: Wir haben unseren Teil dazu beigetragen. Was Sie in den letzten Jahren den Menschen vorgemacht haben, ist wirklich ganz schlimm. Wir reden immer über den Maßstab, an dem wir uns selber messen wollen. Für mich ist die Frage - der Kollege Funke hat es eben angesprochen -, ob der Tierschutz in der Verfassung verankert wird, eine Frage der Werte in unserer Gesellschaft. ({9}) - Stimmt, aber man sollte wenigstens anfangen, die Werte in der Verfassung zu verankern, hinter denen eine breite Mehrheit der Bevölkerung steht. Zwei Drittel stehen hinter der Forderung, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Es wäre gut, wenn auch Sie dabei wären. ({10}) Ich bleibe bei meiner Meinung: Der Tierschutz ist ein Maßstab für den moralischen Standard unserer Gesellschaft. ({11}) Der Schutz leidensfähiger Tiere ist für den Menschen eine Verpflichtung. Weil ich und die SPD-Bundestagsfraktion diese Verpflichtung sehr ernst nehmen, bitten wir Sie eindringlich, heute unserem Antrag und der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zuzustimmen. ({12}) - Ich möchte Ihnen an einem Gerichtsurteil deutlich machen, wie schwierig der Abwägungsprozess ist: Ein Künstler macht ein Happening. Er taucht einen Wellensittich in Mayonnaise, um zu sehen, welche Spuren dieses Tier auf dem Papier hinterlässt. Es wird vor Gericht klar festgestellt: Das ist ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Aber der Richter kann den Künstler nicht verurteilen, weil es Kunst war und die künstlerische Freiheit vorgeht. Sagen Sie mir doch einmal, wie in einem solchen Fall vernünftig abgewogen werden soll! Ich finde das schwierig. ({13}) - Das sagen Sie immer. Aber wir müssen auch für die entsprechende rechtliche Grundlage sorgen. ({14}) Ich möchte deutlich machen: In den letzten Jahren gab es immer wieder Anhörungen, Podiumsdiskussionen und Berichterstattergespräche über den Tierschutz. Die SPDBundestagsfraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die F.D.P. und auch die PDS haben sich bemüht, einen Konsens zu finden, den Sie mitgehen können. Ich habe bislang immer fest daran geglaubt, dass die Entscheidung über die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung eine Gewissensentscheidung ist. Gestern musste ich leider feststellen, dass Ihnen die Fraktionsspitze konkrete Vorgaben macht, wie Sie hier abzustimmen haben. ({15}) - Dann frage ich zurück: Hat die Fraktionsspitze vielleicht Angst, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen nach ihrem Gewissen entscheiden und sich damit „richtig“ entscheiden könnten? Oder gilt das Gewissen bei Ihnen nichts mehr? ({16}) Ich bitte Sie sehr herzlich, den Kolleginnen und Kollegen die Entscheidung freizustellen und ihnen den Rücken zu stärken, damit wir endlich den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz aufnehmen können. ({17}) Ich möchte noch ein Wort zur Glaubwürdigkeit sagen, weil diese während der gesamten Debatte immer wieder eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, dass Politik und Politiker bei der Entscheidung über die Frage, ob der Tierschutz als Staatsziel verankert werden soll, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen können. Immer dann, wenn Tierschützer Politiker vor den Wahlen auf das Thema Tierschutz ansprechen, wird dieses Thema sehr hoch gehängt. Aber immer dann, Herr Geis, wenn es konkret wird und darüber abgestimmt werden soll, sind die früheren Versprechen nicht mehr wahr. ({18}) Ich möchte die Kollegen daran erinnern, wie es vor 1998 war: Die SPD-Bundestagsfraktion hatte einen Entwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes eingebracht, ebenso Bündnis 90/Die Grünen. Die F.D.P. hatte teilweise eigene Vorstellungen. Auch als sie noch eine Regierungskoalition mit der CDU bildete, konnten wir gut mit den F.D.P.-Abgeordneten reden. Schließlich standen Sie vor der Frage: Wie viel Tierschutz wollen Sie denn wirklich? Wir mussten leider feststellen, dass erst auf Druck der SPD-regierten Länder im Vermittlungsausschuss wenigstens teilweise mehr Tierschutz durchgesetzt werden konnte, weil Ihre Fraktion blockiert hat. ({19}) Mit Ihrem Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, täuschen und enttäuschen Sie die Menschen in unserem Lande. ({20})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Werner Lensing für die CDU/CSU-Fraktion.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Zu der heute anstehenden, außerordentlich bedeutenden und folgenreichen Grundsatzentscheidung, den Tierschutz als Staatsziel in unserer Verfassung zu verankern, möchte ich in vier Punkten präzise und klar Stellung beziehen. Punkt eins. Die bis in die 12. Legislaturperiode hineinreichende, tiefgründige Diskussion über eine Verankerung des Staatsziels Tierschutz und auch die Aussprache am heutigen Tage haben zu folgenden Erkenntnissen geführt: Ein Staatsziel Tierschutz ist erstens für die Lösung der eigentlichen Probleme wirkungslos, ({0}) zweitens für die Verfassung wenig hilfreich und drittens für die deutsche tierexperimentelle Forschung geradezu gefahrvoll. ({1}) Über eines sollten wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg im Klaren sein: Die eigentlichen unerträglichen Vergehen gegen Tiere werden mit einer verfassungsmäßigen Verankerung des Tierschutzes nicht einmal im Ansatz bekämpft. ({2}) Punkt zwei. Die folgenreichste Wirkung einer Verankerung des Staatsziels Tierschutz liegt jedoch in einer unverhältnismäßig großen Benachteiligung der Forschung und dies gilt angesichts der Tatsache, dass in keinem Land der Welt Tierversuche einer so engen und lückenlosen Kontrolle wie bei uns unterliegen. Deshalb ist aus der begründeten Sicht der Forschung eine Staatszielverankerung geradezu kontraproduktiv. Warum? Wird doch von allen großen Forschungsgesellschaften wiederholt und begründet festgestellt, dass ein Staatsziel Tierschutz unmittelbare und handfeste Auswirkungen auf sämtliche Genehmigungsverfahren für die tierexperimentelle Forschung haben dürfte. Schließlich müsste die Rangfolge zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und dem Staatsziel Tierschutz stets im Einzelfall festgestellt werden. Selbst wenn die zahllosen Verfahren und die Flut von Musterprozessen im Endeffekt für die Wissenschaft positiv ausgehen würden, so entstünde mit einem heutigen Ja zur Verankerung eine erhebliche mehrjährige Rechtsunsicherheit, die letztendlich zur Aufgabe von Forschungsvorhaben oder gar zu deren Verlagerung ins Ausland führen wird. ({3}) Frau Bulling-Schröter, das sind Fakten, die Sie gar nicht bestreiten können. Die Konsequenzen lägen dann auf der Hand: Absenkung des Niveaus tierexperimenteller Forschung, Behinderung internationaler Zusammenarbeit, Fehlen von Planungssicherheit bei Forschungsprojekten, Qualifikationsdefizite des wissenschaftlichen Nachwuchses und schließlich auch Verschlechterung des Tierschutzes insgesamt. Es dürfte uns nicht wundern, wenn unter einer solchen forschungsfeindlichen Stimmung die Auslagerung von Forschungskapazitäten ins Ausland stattfindet. Der damit verbundene Schwund an Arbeitsplätzen für hoch qualifizierte Arbeitskräfte und die damit einhergehende Reduzierung von Berufschancen junger Wissenschaftler führen - darüber müssen wir uns im Klaren sein - zu einem gefährlichen Teufelskreis. Man kann nicht auf der einen Seite den Anschluss Deutschlands an die Weltspitze bei den Biotechnologien fordern, auf der anderen Seite aber immer wieder neue Hemmnisse für die Forschung aufbauen. ({4}) Punkt drei. Zugegeben: Die Anzahl der für den Bereich der Forschung getöteten Tiere mutet auf den ersten Blick wie eine gewaltige und mahnende Phalanx an. Ich verstehe das sehr wohl. Doch entspricht die Zahl der für die tiermedizinische Forschung benötigten Tiere lediglich einem 1 000stel aller getöteten Tiere. Das ist für die Menschheit vermutlich das wichtigste 1 000stel schlechthin. ({5}) Die anderen 99,9 Prozent werden geschlachtet und anschließend verspeist, bei der Jagd erlegt oder beim Angeln geködert. Hierbei ist nicht einmal die riesige Zahl der Tiere eingerechnet, die - dies geschieht viel zu häufig unter lang andauernden und qualvollen Bedingungen - in der Schädlingsbekämpfung getötet oder in Tierasylen eingeschläfert werden. Wo bleibt denn hier der Aufschrei des Entsetzens in all den Fraktionen, die heute für die Formulierung eines Staatsziels Tierschutz plädieren? Allein die Tatsache, dass die Anzahl der Tierversuche zurückgegangen ist, spricht eindeutig für das verantwortungsethisch geprägte Bemühen der Wissenschaft, wo immer möglich auf Ersatzmethoden auszuweichen und Versuchstiere nur noch dort zu verwenden, wo ihr Einsatz dies ist durch gesetzliche Vorgaben teilweise geregelt - unabänderlich ist. Mein vierter Punkt. Bei aller Kritik gegenüber den Tierversuchen sollten wir auch diese Tatsache niemals übersehen - hier denke ich an Frau Höfken, Herrn Bachmaier und auch an Herrn Funke -: Die meisten unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger verdanken häufig ihr Leben, ihre Gesundheit und die Aussicht auf eine lange Lebenszeit nicht zuletzt den modernen Verfahren einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin. ({6}) Deren Geschichte wiederum lehrt uns, dass die Forschung in der Gegenwart und in der Zukunft auf Tierversuche nicht wird verzichten können. Ich möchte noch ein Weiteres sagen, meine Damen und Herren: Wenn wir die Tierversuche durch eine Staatszielverankerung weiter gefährden oder zumindest verlangsamen, dann müssen wir auch Folgendes zur Kenntnis nehmen. Wir verzichten dann zumindest weitgehend auf Antibiotika, auf Herz- und Kreislaufmittel, auf bestimmte Narkoseverfahren, auf Operationstechniken. Und auch dies sollten wir beachten: Die von Tierversuchsgegnern so vehement kritisierte Hirnforschung an Primaten dient der Vermeidung der Lebensbedrohung von Menschen, nicht der von Tieren; und sie dient erst recht nicht der reinen und willkürlichen - wie man das hört Wissensbefriedigung des jeweiligen Forschers. Wenn wir bei Versuchen - natürlich auf freiwilliger Basis - Menschen das zumuten, was wir wiederholt den Tieren nicht zumuten mögen, dann - so muss ich sagen - feiert der Wahnsinn einsame Triumphe. Schließlich noch ein Gedanke, der mir besonders am Herzen liegt: Wir haben zu beachten, dass wir uns in dieser Diskussion nicht von emotionalem Überschwang verleiten lassen dürfen in der Absicht, etwas vermeintlich Gutes für den Tierschutz tun zu wollen. Wir dürfen kein Sonderopfer für die Forschung bringen, das vielleicht den Tieren nützt, den Menschen aber nicht. Wir dürfen die Verhältnismäßigkeit unserer Maßnahmen nicht aus den Augen verlieren. Vielmehr sollte ein verantwortungsethisch motivierter, rationaler Diskurs im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung stehen. Ich bitte Sie daher im Namen aller, die einen effektiven Tierschutz - ich sage das sehr deutlich: einen effektiven Tierschutz - fördern möchten, dem Entschließungsantrag meiner Fraktion - gegebenenfalls mit innerem Jubel, weil auf Sachverstand und Einsichtsfähigkeit basierend - zuzustimmen. ({7}) In diesem Sinne danke ich Ihnen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es ist zwar etwas ungewöhnlich, wenn die Präsidentin fragt, wer jetzt reden möchte, aber da der Kollege Ströbele inzwischen eingetroffen ist, frage ich - - Aha, der Kollege Heinz Schmitt hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wurden heute nochmals wichtige Gründe für eine Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz genannt. Wir haben erneut auch die Argumente gegen die vorgebrachten Bedenken miteinander erörtert. Ich möchte hier auf den Einwand eingehen, eine solche Grundgesetzänderung würde die Forschung in Deutschland beeinträchtigen. Niemand in diesem Hause beabsichtigt, Forschung zum Wohle des Menschen zu behindern oder gar einzuschränken dort, wo sie notwendig ist. Es geht nicht um eine Aushebelung des § 7 des Tierschutzgesetzes, in dem die Zulässigkeit von Tierversuchen geregelt ist. Es geht schon gar nicht darum, Forscherinnen und Forscher aus dem Land zu treiben, wie Sie das, Herr Röttgen und Herr Lensing, vorhin in Ihren rückwärts gewandten Reden behauptet haben. ({0}) Das alles sind unzulässige und polemische Übertreibungen. Was den Forschungsbereich betrifft, so möchte ich in Erinnerung rufen, dass auch heute noch in Deutschland jährlich ungefähr 1,5 Millionen Tiere zu Versuchszwecken und bei der Entwicklung von Arzneimitteln und Kosmetika, bei der Grundlagenforschung, in der anatomischen Ausbildung und auch für den Umweltschutz „verbraucht“ werden, wie es so makaber in den Berichten heißt. Ich unterstelle keinem Wissenschaftler, dass er sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist, was die Durchführung von Tierversuchen betrifft. Aber es lassen sich auch Beispiele anführen, bei denen zweifelhafte Tierversuche durchgesetzt wurden und werden, obwohl Experten deren Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit verneint hatten. Mit der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz wollen wir erreichen, dass Tierschutz in einem solchen Fall der Abwägung von Rechtsgütern nicht schon allein wegen seines fehlenden Verfassungsranges in schöner Regelmäßigkeit hintenangestellt wird, etwa hinter der Freiheit der Forschung. Hier muss in Zukunft eine objektivere Abwägung möglich sein. Meine Damen und Herren, ich denke, es ist der Mühe wert, dass wir die Zahl der Tierversuche auch in Zukunft weiter senken; dies ist sicherlich auch möglich. Es ist uns natürlich bewusst, dass in verschiedenen Forschungsbereichen, etwa der medizinischen Grundlagenforschung, noch keine Alternativen zu Tierversuchen erkennbar sind. Es gibt aber eine ganze Reihe von Beispielen für Ersatzmethoden, mit deren Hilfe zukünftig auf Tierversuche verzichtet werden könnte. Es gibt große Fortschritte bei der Entwicklung von Tests an Zell- und Gewebekulturen, die bereits auf ihre Funktionalität geprüft und die anerkannt sind und die Tierversuche zunehmend ersetzen können und überflüssig machen können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt und fördert ja auch aktiv solche Beiträge zur Streichung bzw. Reduktion der Zahl von Tierversuchen. Heute können Sonnencremes oder hautreizende Chemikalien und die Wirkung von Medikamenten auch ohne Tierversuche im Reagenzglas oder durch Computersimulation getestet werden. Wir sollten bei den heutigen Beratungen auch nicht vergessen, dass wir mit einer Stärkung des Tierschutzes dazu beitragen, dass solche Alternativmethoden schneller entwickelt und auch schneller als Standards angenommen und eingerichtet werden können. Wenn wir es also mit der Verantwortung für das Mitgeschöpf Tier ernst meinen, müssen wir auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Tierversuche in der Forschung allmählich entbehrlich werden und dass es weniger Qualen in den Versuchslabors gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalition bietet eine für Wissenschaft und Forschung verträgliche Lösung, da er Forschung unter Verwendung von Tierversuchen auch dort weiterhin zulässt, wo sie notwendig ist. Ich weiß, dass nicht nur die Bevölkerung und die Kolleginnen und Kollegen der Koalition dies so sehen, sondern dass die Notwendigkeit dieser Grundgesetzänderung auch von einer Mehrheit dieses Hauses quer durch die Fraktionen bejaht wird. Deshalb bitte ich Sie um eine Entscheidung, die Ihrem Gewissen entspricht. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege HeinrichWilhelm Ronsöhr.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohl kein anderer Berufszweig ist so eng mit Tieren verbunden wie die Landwirtschaft. Im Zuge der Spezialisierung in unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch und Tier nicht mehr wie in früheren Agrargesellschaften Allgemeingut, sondern ist häufig vom Leben der Bevölkerung abgekoppelt. Dies führt manchmal dazu, dass in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Tierhaltung reflexartig Begriffe wie Massentierhaltung, Hochleistungszüchtung und dergleichen mehr auftauchen. Wer auch nur ein wenig Einblick in die landwirtschaftliche Praxis hat, weiß um die Unsachlichkeit solcher Bezeichnungen. Ich bin dem Landwirtschaftsminister, Herrn Funke, sehr dankbar, dass er auf der Grünen Woche in Berlin den Begriff „Massentierhaltung“ sehr stark relativiert hat. Wer nämlich das erste Tier falsch hält, der hält auch ein zweites und drittes Tier falsch. Wer aber das erste Tier richtig hält, hält auch das hundertste oder zweihundertste Tier richtig. ({0}) Wir müssen diese Debatte zum Anlass nehmen, um solche Diskussionen zu versachlichen; denn wir müssen uns auch in der Diskussion um den Tierschutz das Verständnis für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung bewahren. Es ist nicht nur die vermeintliche Schieflage des öffentlichen Bildes von der Landwirtschaft, dass ich heute diese Debatte zum Anlass nehme, mich als Landwirt und Agrarpolitiker ausdrücklich für den Tierschutz auszusprechen. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, das Tier als Mitgeschöpf zu achten. ({1}) Ich weiß als Landwirt, dass man von einem Tier die gewünschte Leistung nur erwarten kann, wenn man das Tier gut und mithin auch tierschutzgerecht behandelt. Die Landwirtschaft ist in unserer Gesellschaft mit Blick auf die Nutztierhaltung gleichsam zum Dienstleister für unsere Bevölkerung geworden. Aber die meisten Bürger bringen diese Nutztierhaltung nur mit Endprodukten der Landwirtschaft in Verbindung. So wissen die meisten Verbraucher heute nicht mehr, woher ihre Nahrung kommt und wie sie erzeugt wird. Die Bevölkerung nahm und nimmt auch teilweise noch heute eine gewisse Anonymität von Lebensmitteln in Kauf. Inzwischen wollen aber viele - dankenswerterweise sicher sein, dass Lebensmittel tierschutzgerecht erzeugt werden. Man muss nur an die Protestwelle angesichts der Missstände bei den Tiertransporten oder an andere Diskussionen denken. ({2}) Darin liegt eine Chance für die Landwirtschaft, wobei diese Chance manchmal viel zu groß dargestellt wird. Was in theoretischen Diskussionen gesagt wird, ist nicht immer eine reale Größe. Dennoch glaube ich, dass es für die Agrarpolitik wichtig ist, dem Tierschutz eine hohe Priorität einzuräumen. ({3}) Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben dies in unserer Regierungsverantwortung getan. Wir werden es auch weiter tun. Wir haben eines der modernsten und schärfsten Tierschutzgesetze der Welt geschaffen. Wir diskutieren im Deutschen Bundestag über den Tierschutzbericht. Wir haben Verbesserungen im Tierschutz - ich nehme da die jetzige Bundesregierung gar nicht aus - auf europäischer Ebene erreicht. Ich glaube, dass diese Verbesserungen für uns alle ungemein wichtig sind. Viele Tierschützer - ich sage das hier ausdrücklich - haben sich dankenswerterweise für die Verbesserung des Tierschutzes konstruktiv eingesetzt. ({4}) Ich glaube, dass Norbert Röttgen Recht hat. Wir müssen das Augenmerk auf die Weiterentwicklung des Tierschutzes auf europäischer Ebene richten. Wir brauchen diese Weiterentwicklung auf der europäischen Ebene, damit an der einen Stelle ein Mehr an Tierschutz nicht an der anderen Stelle zu einem Mehr an nicht tierschutzgerechter Haltung im Wettbewerb führt. ({5}) Der Prozess, der in Amsterdam mit Regelungen über Tiertransporte begonnen worden ist, muss fortgesetzt werden. Ich fordere dieses Parlament auf, weiterhin Motor des Tierschutzes über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu sein. Ich glaube, dass wir das auch in Zukunft sein werden. Heinz Schmitt ({6}) ({7}) Nun komme ich zu der Forderung, den Tierschutz ins Grundgesetz aufzunehmen. Nach den entsprechenden Briefen verbinden viele mit der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz die Vorstellung, dass es die tierquälerische Haltung im Ausland nicht mehr gäbe und keine Fernsehbilder mehr über nicht tiergerechte Pferdetransporte in Polen und in Italien zu sehen wären. Aber das kann eine Grundgesetzänderung nicht leisten. ({8}) Viele haben es jedoch ständig in die Grundgesetzänderung hineindiskutiert. Eines sage ich hier einmal kritisch. Ich habe viele Tierschutzdiskussionen mitgemacht und hier gesagt, wie ich persönlich zum Tierschutz stehe. Ich habe erlebt, dass man den Landwirten und den Wissenschaftlern gesagt hat, es habe keine Auswirkungen, wenn der Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen wird. Dann habe ich aber auch erlebt, dass man vor Tierschützern gesagt hat, dass das ungeheure Auswirkungen habe. So plakativ dürfen wir mit Grundgesetzänderungen nicht umgehen. ({9}) Das Grundgesetz ist die Grundlage unseres Staatswesens. ({10}) Wenn man für Änderungen des Grundgesetzes eintritt, dann sollte man das auch wirklich begründen. Diese Begründung habe ich hier leider nicht erfahren. ({11}) Deswegen werde ich, wie viele in meiner Fraktion, dieser Grundgesetzänderung auch nicht zustimmen, obwohl wir, glaube ich, hier im Deutschen Bundestag gemeinsam für den Tierschutz eintreten. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich danke zunächst für die Flexibilität bei der Gestaltung der Rednerliste. Die Haltung vieler, auch Abgeordneter, zu Tieren und zum Tierschutz ist nicht immer offen und ehrlich. Wohl kaum einer der Abgeordneten würde die eigene Katze, den eigenen Haushund oder den Goldhamster der Familie zum Quälen ins Tierversuchslabor geben. ({0}) Viele haben im Kino mitgelitten, wenn der Hund Beethoven versucht hat, sich dem Tierlabor und den Tierfängern zu entziehen. Warum eigentlich, wenn doch Tierversuche so unvermeidbar notwendig sind? Halb Berlin hat mit den Gorillababys Bokito und Mpenzi mitgefühlt, als in der letzten Woche in der „BZ“ die Schlagzeile erschien: „Verhungert Baby-Gorilla im Berliner Zoo?“ Was wäre wohl geschehen, wenn Forscher den Jungtieren, mit denen ganz Berlin gelitten hat, die Augen zugenäht hätten, nur für die Forschung? Die Kolleginnen und Kollegen hätten dieses Tierexperiment wohl auch an diesem Podium nicht zu verteidigen gewagt. Ein Sturm der Entrüstung hätte solche Reden hinweggefegt. Mit der heute zur Abstimmung stehenden Grundgesetzänderung soll nicht der Mensch als Krone der Schöpfung entthront werden, beileibe nicht. Das eigentlich Notwendige ist inzwischen auf das Realisierbare zusammengeschrumpft. Es geht nur noch darum, eine faire Chance für die Tiere vor den Gerichten zu wahren. ({1}) 1994 hatte ein Berliner Hochschullehrer beantragt, neugeborenen Affen - deshalb ist das, was ich vorhin gesagt habe, gar nicht so fern hergeholt - für die Forschung die Augenlider zunähen zu dürfen. ({2}) Der Senat von Berlin verweigerte die Genehmigung. Der Forscher hat den Gerichtsprozess wegen des Grundrechts der Forschungsfreiheit gewonnen. ({3}) Er durfte seine Tierversuche durchführen und Affen nach der Geburt die Augenlider zunähen. Tausende von Affen leiden und sterben in den Versuchslabors. 1996 waren es 1 500. Jährlich sollen allein 10 000 gezüchtet werden, um in den Versuchslabors in Europa eingesetzt zu werden. Das ist nur eine Tierart; viele andere sind genauso davon betroffen. ({4}) Der Verband der Arzneimittelhersteller fürchtet, dass „allein der Umstand der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz zu einer verfassungsrechtlichen Neubewertung der Grenzen der Forschungsfreiheit führen“ könne, „mit all ihren Auswirkungen auf das verwaltungsrechtliche Genehmigungsverfahren und ihrer gerichtlichen Überprüfung“. Ich kann dazu nur sagen: Mit der Aufnahme der drei Wörtchen „und die Tiere“ ins Grundgesetz wollen wir erreichen, dass Gerichtsverfahren gegen unmenschliche Tierversuche in Zukunft nicht mehr so häufig an der Forschungs- und Kunstfreiheit scheitern. Ich frage Herrn Rüttgers - den ich jetzt hier gar nicht sehe -: Was ist eigentlich der Spitzenkandidat von Nordrhein-Westfalen noch wert, wenn er im Deutschen Bundestag nicht mehr das artikulieren darf, was die CDU Nordrhein-Westfalens noch in ihren Antrag an den letzten Parteitag geschrieben hat, ({5}) dass nämlich die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung die Bedeutung des Tierschutzes in unserem Gemeinwesen ({6}) und den Verfassungsrang des Tierschutzes in Abwägung mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern deutlich machen würde? Deshalb wollte auch die CDU von Nordrhein-Westfalen das. Hier dürfen sie das nicht einmal mehr artikulieren, geschweige denn, dass sie nach ihrem Gewissen abstimmen dürfen. Das will ihnen ihre Fraktion verbieten. Das ist nicht fair und das ist nicht human und das ist schon gar nicht im Interesse der Tiere. ({7}) Dahinter dürfen sich die Kollegen und Kolleginnen der CDU von Nordrhein-Westfalen bitte nicht verstecken. ({8}) Tierversuche wird es auch nach einer solchen Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz geben. Ich sage: leider. Aber die Tierversuche werden einer strengeren Überprüfung unterworfen. Es muss dann eine Abwägung stattfinden zwischen der Forschungsfreiheit, der Kunstfreiheit auf der einen Seite - die kann da nicht maßlos und grenzenlos gegenüber den Tieren gelten - und dem Tierschutz auf der anderen Seite. ({9}) Diese Grundrechte müssen dann gegenüber dem Staatsziel des Grundgesetzes, die Tiere zu schützen, abgewogen werden. Damit wird den Tieren ein bisschen mehr die Chance für ein Leben ohne Qual und ohne Leiden eröffnet. ({10}) Uns wird von coolen Forschern der Universität Marburg vorgeworfen, das Thema Tierschutz und Rechte der Tiere werde sehr emotional betrachtet. Ich sage: Das mag sein. Was ist daran so schlimm? Da halten wir es doch mit dem Philosophen Jean Jacques Rousseau, immerhin ein Erfinder der Menschenrechte, der auch schon aus der bei Mensch und Tier verwandten Empfindungs- und Leidensfähigkeit abgeleitet hatte, dass die Tiere vor unnötigen Schmerzen und Leiden wirksam bewahrt werden müssen. Deshalb appellieren wir an die Abgeordneten der letzten Fraktion, die sich noch nicht dazu bereit gefunden hat, das mitzutragen: Seien Sie human. Seien Sie nicht unmenschlich. Helfen Sie mit, den Schutz der Tiere in die Verfassung aufzunehmen, wenigstens als Ziel des Handelns und des Engagements dieses Staates. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Dass der Tierschutz uns allen am Herzen liegt ({0}) ich gehe einmal davon aus, dass er allen uns hier Anwesenden am Herzen liegt -, ({1}) glaube ich, ist unbestritten. Und doch, lieber Herr Kollege Bachmaier, hat mich sehr hart getroffen, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, wir wollten mit allen Mitteln verhindern, dass der Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen wird - dass der Tierschutz passiert, so haben Sie sich ausgedrückt. Das halte ich schon für schlimm. Es ist ja nicht so, dass wir nicht schon seit langem Tierschutz betrieben haben. Wir haben viele Gesetze gemacht. Ich bin dem Kollegen Ronsöhr sehr dankbar. Er hat das sehr deutlich dargestellt, sodass ich das im Einzelnen gar nicht mehr sagen muss. Der Tierschutz hat natürlich immer etwas mit Gefühlen und auch mit Empfindungen zu tun. Deshalb sage ich noch einmal: Ich habe Verständnis dafür, dass es die Menschen sehr emotional empfinden. Aber Tierschutz ist eben ein bisschen mehr. Ich persönlich bin mit Tieren groß geworden. In unserer Familie gab es immer und gibt es bis heute Tiere. Tierschutz ist mir also auch ein persönliches Anliegen. ({2}) Ich habe kein Problem damit. Aber wird denn das Ziel, Tiere durch die Einfügung eines Staatsziels in das Grundgesetz besser zu schützen, tatsächlich erreicht? Oder ist die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung nicht etwas vordergründig? Wenn uns der Tierschutz wirklich wichtig ist, brauchen wir Gesetze, die die Tiere konkret schützen. Die notwendigen Verbesserungen kann man nur über Einzelgesetze erreichen. ({3}) Mit der Novellierung des Tierschutzgesetzes noch in der letzten Wahlperiode wurde in diesem Sinne ein erster und ein, wie ich glaube, sehr wichtiger und richtiger Schritt getan. Weitere Verbesserungen - das ist für uns auch keine Frage - müssen folgen. Noch mehr zu tun ist unser Nahziel. Ein einfaches Gesetz würde für den Tierschutz viel mehr Wirkung erzielen als jegliche Verankerung. ({4}) Wir müssen etwas gegen illegale Tierversuche und nicht artgerechte Tiertransporte tun. All dies verlangt konkrete Gesetze und nicht eine verbale Aussage im Grundgesetz nach dem Motto: Wir nehmen es als Staatsziel auf und haben damit unsere Aufgabe erfüllt. Unser Ziel muss sein - ich habe es vorhin gesagt: wir haben dafür schon einiges getan -, dass die strengen deutschen Tierschutzbestimmungen stärker als bisher kontrolliert werden und dass wir eine bessere Abstimmung auch im Rahmen der Europäischen Union erreichen. Damit schützen wir unsere Tiere besser als mit jeglicher Verankerung im Grundgesetz. Wir wollen Tierschutz nicht verhindern, sondern durch Gesetze praktizieren. Die eigentliche politische Aufgabe liegt doch in der europaweiten Durchsetzung des hohen Standards des Tierschutzes bei uns. Dort müssen wir zu Verbesserungen und Veränderungen kommen, die das Leid der Tiere lindern; das wäre der eigentliche politische Durchbruch. Das muss unser Ziel sein. Hierauf sollte die Bundesregierung ihre Energie etwas stärker konzentrieren. Wir wollen eine Tierschutzpolitik, die konkrete Fortschritte bringt und die Tiere tatsächlich schützt. Wir sind für Tierschutz und nicht gegen Tierschutz. Wir sind für den Schutz eines jeden einzelnen Tiers. Unser Ziel ist, die Tiere im Einzelnen und im Konkreten zu schützen. Dies erreichen wir aber eben nicht durch eine formale Aufnahme im Grundgesetz, sondern nur durch konkrete Maßnahmen und Gesetze zum Schutz der Tiere. Tierschutz, meine Damen und Herren, darf nicht an Grenzen enden. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Tierschutz - das ist ein Konsensthema - hat jetzt durch die Abstimmung im Bundestag die Chance, noch einmal besonders hervorgehoben und berücksichtigt zu werden. Die Zeit dazu ist reif. ({0}) Während der Arbeit der Verfassungskommission Anfang der 90er-Jahre waren es 170 000 Eingaben, die den Tierschutz so stark wie kaum ein anderes Vorhaben in diesem Hohen Hause in den Vordergrund gestellt haben. Wenn wir in der Geschichte zurückgehen, dann erkennen wir, dass es unter der alten Regierung - nicht mehr unter der sozial-liberalen, sondern unter der christlich-liberalen mit dem Justizminister Engelhard - gelungen ist, im Bürgerlichen Gesetzbuch eine Änderung vorzunehmen, sodass die Tiere nicht mehr als Sache behandelt werden: Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden... Die Zeit schreitet weiter. 1994 haben wir es in der Verfassungskommission nicht geschafft, den Tierschutz zusammen mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlage im Grundgesetz zu verankern. Auch aus Umfragen wird deutlich, dass die Bevölkerung zu über 77 Prozent dafür ist, dass das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz verankert wird. ({1}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich nehme nicht an, dass Sie sich mit den restlichen 23 Prozent zufrieden geben wollen. ({2}) Sie wollen ja mit dabei sein. Auch Sie wollen sicherlich dem Auftrag der Bevölkerung an uns, das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz zu verankern, zustimmen. ({3}) Wir haben mittels einer schlanken Formulierung, die den Tierschutz dann stärkt, wenn es einen Abwägungsprozess zwischen einem Grundrecht und einer einfachgesetzlichen Regelung gibt, eine klare Positionierung vorgenommen. Das wissen die Damen und Herren Juristinnen und Juristen ganz genau. Dieser Abwägungsprozess findet natürlich laufend statt. Dabei verliert der Tierschutz regelmäßig. Der Tierschutz bleibt in diesem Abwägungsprozess auf der Strecke. ({4}) Damit das in Zukunft nicht mehr so ist, möchten wir, dass in Zukunft im Rahmen der Rechtsprechung, also bei richterlichen Entscheidungen, der Tierschutz als Staatsziel nicht als Grundrecht - eine stärkere Beachtung bekommt. ({5}) Ich habe hier gehört, das sei ein symbolischer Akt. Diese Aussage kann man vertreten; ich vertrete sie nicht. Die Gründe dafür habe ich soeben genannt. Gleichzeitig ist zu hören, es sei zu befürchten, es komme zu einer Wettbewerbsverzerrung bzw. Wettbewerbsverschlechterung der deutschen Landwirte. Ja, was ist nun? Ist dies ein symbolischer Akt oder eine Wettbewerbsverzerrung? Dies ist ein Widerspruch in sich. ({6}) Man sollte wissen, was und wohin man will. Wenn man den Tierschutz in den Landesverfassungen verankert, dann sollte man wissen, welche Konsequenzen hier im Bundestag zu ziehen sind. Wenn man den Tierschutz auf Europaebene stärken will und ihm in den Kommunen, in den Bundesländern und spätestens seit dem Treffen in Seattle auch auf WTO-Ebene einen ganz wichtigen Rang einräumen will - dafür wir alle sind -, dann verstehe ich nicht die Logik, dass ausgerechnet der Souverän, der Deutsche Bundestag, dann, wenn er dazu aufgerufen ist, den Tierschutz konsequenterweise auch in der Verfassung als Staatsziel vorzusehen, in dieser Frage widersprüchlich handelt. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, ich muss Sie jetzt einmal bremsen. Es gibt nämlich eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Heinrich, Sie haben eben ausgeführt, dass einerseits festgestellt worden ist, die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung sei ein symbolischer Akt, und andererseits, dies führe zu einer Wettbewerbsverzerrung. Sie haben gesagt, das eine schließe das andere aus. Sagen Sie doch bitte einmal, was Sie ausschließen: den symbolischen Akt oder die Wettbewerbsverzerrung?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage Ihnen - das habe ich bereits unterstrichen -, dass es keine Symbolik ist, den Tierschutz in dieser Form als Staatsziel zu formulieren und in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern. Diese Verankerung wollen wir, weil wir eine in einem Abwägungsprozess zu treffende Entscheidung vorzeichnen wollen. Wir können das Ergebnis dieser Entscheidung nicht bestimmen, aber vorzeichnen. Auch wir müssen uns in Zukunft bei weitergehenden Gesetzesvorhaben an diesem Staatsziel orientieren. Wir können dann nicht mehr so tun, als gebe es dieses Staatsziel nicht. Nun zum Widerspruch zur Wettbewerbsfähigkeit, den Sie angesprochen haben, Herr Kollege Ronsöhr: Wir setzen uns nicht nur in den Ländern, sondern auch national, auf europäischer Ebene und auf der Ebene der WTO für einen entsprechenden Standard beim Tierschutz ein - auch im Sinne der Wettbewerbsgleichheit. ({0}) Das ist der politische Auftrag, den wir zu erfüllen haben. ({1}) Meine Damen und Herren, mit der Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung ist Schluss mit künstlerischen Darbietungen, mit Happenings und Inszenierungen, bei denen Tiere zur Schau gestellt und gequält werden, bei denen Tiere zu Tode kommen. ({2}) Das wird aufgrund dieses Abwägungsprozesses in Zukunft nicht mehr stattfinden können. ({3}) Denn wenn sich der Deutsche Bundestag auf die Seite der Tiere stellt, ({4}) und zwar mit mehr als nur einfachgesetzlichen Regelungen, dann werden wir ihre Lage verbessern können. Lassen Sie mich eines zum Schluss sagen: Die Millionen von Menschen, denen es ein großes Anliegen ist, dass der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen wird, können sich nicht irren; denn sie alle haben Erfahrungen mit Tieren und leider Gottes auch Tierquälereien gesehen. Darum geht es und deshalb müssen wir als Parlament uns eindeutig auf die Seite der Tiere stellen. Ich werbe - Sie merken es, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - nachhaltig um Ihre Stimme. Es wäre in Ihrem Sinne, im Sinne des Tierschutzes und auch im Sinne des Ansehens des deutschen Parlaments, wenn wir dieses Zeichen gemeinsam setzten. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte ein Wort von Herrn Kollegen Heinrich aufgreifen. Er hat seinen Beitrag mit dem Satz begonnen, Tierschutz sei ein Konsensthema. Dieser Satz ist richtig. Ich nehme ein anderes Wort meines Kollegen Norbert Röttgen auf, der sehr zutreffend gesagt hat: Wir streiten nicht über das Ja oder das Nein zum Tierschutz, wir streiten über die Wege. Was sind die richtigen Wege, auch vonseiten der Gesetzgebung, also des Parlaments, um für den Tierschutz möglichst viel und möglichst Gutes zu tun? In dieser Frage, Herr Heinrich, hat sich seit der Zeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, die Sie angesprochen haben, nichts verändert. Auch die Hearings in der letzten Legislaturperiode haben dies deutlich gemacht. Es hat sich jedenfalls nichts geändert, was dafür sprechen könnte, heute - im Gegensatz zu der damaligen Entscheidung - eine solche Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufzunehmen. Eine Staatszielbestimmung wird ganz offenkundig wieder - diese Debatte belegt es - völlig überschätzt. ({0}) Die Geschichte unseres Grundgesetzes zeigt es: Das Grundgesetz ist bekanntlich mit Staatszielbestimmungen immer sehr, sehr zurückhaltend und vorsichtig gewesen, weil diese in aller Regel Verfassungspolitik, aber nicht stringentes Verfassungsrecht darstellen. Den Tieren hilft aber nur stringentes Recht und nicht - ich drücke es einmal so aus - weitgehend zur Kosmetik, zur Lyrik einladende Verfassungspolitik. Das war der entscheidende Grund dafür, warum wir damals gesagt haben - und wir haben uns richtig entschieden -: Es hilft den Tieren und auch dem Tierschutz nicht, wenn man eine Staatszielbestimmung der jetzt wieder in die Diskussion gebrachten Art formuliert und ins Grundgesetz aufnimmt. Die Argumente, die in dieser Debatte vorgetragen worden sind, belegen das nur allzu deutlich. Hier ist von verschiedenen Rednern der Eindruck erweckt worden, als gäbe es in unserem Land gar keinen Tierschutz, sondern nur Tierquälerei, schreckliche Tierversuche. Einige haben darauf hingewiesen, dass es gerichtliche Urteile gibt. Das sind in der Tat wichtige Urteile. Herr Ströbele spricht davon, man müsse endlich dahin kommen, dass das Tier vor das Verwaltungsgericht kommt. ({1}) Meine Damen und Herren, das ist doch nicht der richtige Weg. Es geht um die materiellrechtlich richtigen Regelungen. Der Weg dorthin ist das Tierschutzgesetz, das einfache Gesetzesrecht. ({2}) Wer es mit den Tieren wirklich gut meint - ich gehe davon aus, Herr Heinrich, dass in dieser Frage wirklich Konsens in diesem Hause besteht -, der geht die richtigen Wege, indem er gegebenenfalls das Tierschutzgesetz weiter verbessert. Er geht vor allem - wie Norbert Röttgen deutlich gemacht hat - den schweren Weg nach Europa, den wir in der vergangenen Legislaturperiode mit Nachdruck gegangen sind, auf dem wir aber leider noch nicht zu Ende gekommen sind. Wir müssen die unterschiedlichen Kulturen sehen. Wir müssen, was den Tierschutz angeht, für unsere Auffassungen werben. Wir müssen dort die rechtlichen Erfolge erzielen. Aber wir dürfen uns nicht in der Illusion verlieren, dass uns eine nationale Staatszielbestimmung, die wirklich nur einen sehr, sehr begrenzten normativen Effekt haben kann, weiterhilft. Ich fürchte, das wird zum Alibi und nicht zu dem, was hier im Konsens und zu Recht eingefordert wird. ({3}) Deshalb: Gehen wir den schweren Weg. Es ist nämlich viel schwerer, in der einfachen Gesetzgebung und auch in Europa Schritt für Schritt das zu erkämpfen, was wir unseren Tieren schulden. ({4}) Lassen Sie mich noch ein Wort zur Forschung sagen. Hüten wir uns davor, falsche Konflikte aufzubauen! Der Forscher ist heute in manchen Beiträgen gleichsam als der Feind des Tieres dargestellt worden. Meine Damen und Herren, das ist doch nicht wahr. Die Forschung ist notwendig; das weiß jeder. Aber wo gibt es denn ein so ausgeprägtes, rechtlich gebundenes, dem Tierschutz verpflichtetes Ethos in der Forschung wie in Deutschland? Das gibt es in keinem anderen Land dieser Welt. ({5}) Ich wehre mich dagegen, dass die Forscher hier verunglimpft werden. Sie haben genau die gleichen ethischen Prinzipien, mitunter sogar viel mehr als mancher, der leichthin von diesem oder jenem in dieser Szenerie spricht. Es ist nämlich leicht, in diesem Feld zu reden, Bekenntnisse abzugeben. Aber es ist schwer, Verantwortung zu tragen, verantwortlich zu handeln. Dafür werbe ich, dafür werben wir: Verantwortung ist das gefragte Thema, Verantwortung da, wo es unbequem ist, Verantwortung da, wo es um konkrete, wirksame, stringente normative Erfolge geht. Gehen wir diesen Weg gemeinsam! Dazu lädt unsere Resolution ein. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Herr Bundesminister Karl-Heinz Funke.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte einige Stichworte aufgreifen, die in dieser Debatte gefallen sind. Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass die Koalitionsfraktionen und die F.D.P.-Fraktion den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen wollen. In der Tat, Herr Heinrich, wird es Zeit, das zu tun. Ich sage das mit großem Nachdruck. ({0}) Ich füge hinzu, dass ich in weiten Teilen das unterschreiben kann - lediglich die Schlussfolgerung ist für mich eine andere -, was der Kollege Ronsöhr hier zum Tierschutz, insbesondere zur Nutztierhaltung in der Landwirtschaft, gesagt hat. Das ist unstrittig. Ich hätte eigentlich erwartet, dass er in der Logik seiner Rede gesagt hätte: Gerade deshalb muss der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz. ({1}) - Dazu komme ich gleich noch! Es ist hier überhaupt nicht die Rede davon gewesen, dass dann, wenn man den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz hätte, keine spezialgesetzlichen Regelungen mehr erforderlich wären. ({2}) Es hat niemand gesagt, dass das jetzt schon das Ende wäre. Das wäre es natürlich nicht. ({3}) - Das hat wirklich niemand gesagt. Ich habe aufmerksam zugehört. Der Kollege Ronsöhr hat das nicht gesagt und die anderen Redner auch nicht. Herr Professor Scholz, es hat auch niemand gesagt, dass der Forscher gleichsam der Feind des Tieres sei. Das ist in dieser Debatte wirklich nicht gesagt worden. ({4}) - Nein, auch Herr Ströbele hat nicht gesagt, dass der Forscher der Feind des Tieres sei. ({5}) Im Übrigen darf man auch nicht unterstellen, dass der Standort Bundesrepublik Deutschland für die Biotechnologie gefährdet ist, wenn der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen wird. ({6}) Ich führe schon seit einigen Jahren Diskussionen, auch mit Wissenschaftlern, über dieses Thema. Gerade der tierversuchsfreien Biotechnologie, so habe ich selbst kritische Beobachter im Ohr, gehört die Zukunft. Das sagen die ganz eindeutig und das ist von der Sache her gesehen auch so. ({7}) Mit einer etwaigen Gefährdung des Forschungsstandortes hat diese Diskussion nun wirklich überhaupt nichts zu tun. Über den Beitrag von Herrn Röttgen habe ich mich ich will es sehr vorsichtig sagen - gewundert. Bei einer artgerechten Ablage von Reden wäre dafür der Papierkorb geeignet. ({8}) - Ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit. Es ist schon seltsam - Herr Ronsöhr hat ihm ja Gott sei Dank indirekt auch widersprochen -, sich hier hinzustellen und zu sagen: Machen Sie doch eine Hennenhaltungsverordnung, Sie haben es ja in der Hand, im Wege der Spezialgesetzgebung etwas für den Tierschutz zu tun. - Ich wäre gespannt, was ausgerechnet Sie dazu sagten, wenn wir eine Verordnung auf den Tisch legten, die weit über das hinausginge, was wir dazu in der Richtlinie auf europäischer Ebene vereinbart haben. ({9}) - Er hat ja uns aufgefordert, eine entsprechende Verordnung zu machen, also sozusagen nationales Handeln angemahnt. ({10}) - Ach, hat er nicht? Dann habe ich ihn auch an der Stelle falsch verstanden. Ich nehme das so zur Kenntnis. ({11}) Ich unterstreiche nämlich das, was der Kollege Ronsöhr gesagt hat, dass man beides, nationale Regelungen und Wettbewerbsfähigkeit, gegeneinander abwägen muss. Herr Professor Scholz, Sie haben ein Argument genannt, das in meinen Augen gerade dazu führen muss, den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Sie haben wörtlich gesagt - ich finde das richtig -, dass Staatszielbestimmungen nur einen begrenzten normativen Effekt haben. Also haben sie auch einen normativen Effekt, wenn auch einen begrenzten. Angesichts der Diskussion über den Tierschutz wäre es, so glaube ich, schon sehr gut, wenn diese Staatszielbestimmung im Grundgesetz einen normativen Effekt zur Folge hätte, und sei er auch noch so begrenzt. ({12}) Das ist für mich ein weiteres Argument dafür, es aufzunehmen. ({13}) - Ich komme noch zu dem Argument, dass wir ja das Tierschutzgesetz haben. ({14}) In der Tat haben wir es, und ich will ausdrücklich anerkennen, dass frühere Bundesregierungen, viele Landesregierungen und der Bundesrat mit seinen Initiativen hier sehr viel Gutes bewirkt haben. Das ist alles unstrittig. Aber jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich der Auffassung bin, dass der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz sollte: zum einen wegen dieses normativen Effektes, zum anderen aber auch, weil eine solche Staatszielbestimmung im Grundgesetz meiner Auffassung nach bewusstseinsstiftend ist. ({15}) Das ist vielleicht sogar ein zentraleres Argument und wichtiger als die formaljuristische Argumentation. Denn im Sinne des Tierschutzes ist es notwendig, ständig und neu das Bewusstsein für das Mitgeschöpf Tier zu stiften. ({16}) Ich will Ihnen das - mein Namensvetter Funke wies schon darauf hin - ein bisschen historisch begründen: Wenn man sich einmal mit alten Gesetzestexten, etwa der deutschen Länder, zum Schutz von Tieren - auch bei Transporten beschäftigt, dann stellt man fest, dass viele gesetzliche Regelungen des 19. Jahrhunderts weiter waren, als wir heute sind. Ich könnte das Stück für Stück belegen. Das heißt, das Bewusstsein, wie man mit Tieren umgeht, war aus verschiedenen Gründen vor mehr als 100 Jahren offenkundig weiter entwickelt als heute. Fragen Sie einmal junge Leute - ich mache das sehr gerne -, ob sie denn noch den Satz „Quäle nie ein Tier zum Scherz, ...“, den wir zu Hause lernten, fortsetzen können. Viele junge Menschen scheitern bei der Aufgabe, diesen Satz fortzusetzen. Insofern geht es nicht darum, dass wir formales Recht zu schaffen haben, sondern darum, die Bewusstseinsbildung in Gang zu bringen, ({17}) damit Tiere so behandelt werden, wie sie in einer zivilisierten Gesellschaft behandelt werden müssen. ({18}) - Nein, es hängt nicht nur vom Grundgesetz ab. ({19}) Das ist völlig klar. Aber es hängt auch vom Grundgesetz ab, meine Damen und Herren. ({20}) Wenn Ihnen das alles nicht reicht, sage ich Ihnen, was ich konkret möchte: Ich möchte, dass dann, wenn in der Schule im Fach Gemeinschaftskunde oder im politischen Unterricht über Grundgesetzartikel geredet wird, auch über das Staatsziel Tierschutz anhand grundgesetzlicher Texte geredet, Unterricht gemacht, diskutiert wird. Dann erreichen wir eine Bewusstseinsänderung auf diesem Gebiet. ({21}) - Wenn Sie das alles überhaupt nicht beeindruckt, ist es wohl so, dass Sie das schlicht und einfach nicht wollen. Das nehme ich zur Kenntnis. Diesen Eindruck hatte ich auch bei manchem Beitrag. Sie wollen dies einfach nicht und schieben die formaljuristischen Aspekte der Staatszielbestimmung im Grundgesetz vor. ({22}) Ich bedaure das sehr. Ich möchte wirklich auch vor dem Hintergrund des pädagogischen Aspekts dafür werben, dies ins Grundgesetz aufzunehmen. Es ist in unserer Gesellschaft nun einmal so, dass viele Menschen nicht mehr auf natürliche Art und Weise mit Tieren aufwachsen, wie es früher in jedem Haus, auf jedem Hof, in jedem Dorf, sogar in der Stadt selbstverständlich war. Das haben wir nicht mehr. Darum fehlt es vielen an dem entsprechenden Bewusstsein, an der Einstellung. Man verhält sich auf der einen Seite sehr abstrakt, theoretisch, vielleicht auch kuschelnd, verklärend, geradezu idyllisch - genauso falsch -, auf der anderen Seite aber so, dass Tiere leiden und gequält werden. Dies geschieht nicht deshalb, weil man es will und mit Absicht herbeiführt, sondern weil das Bewusstsein dafür zu unterentwickelt ist. Das ist der Punkt. ({23}) Meine Damen und Herren, ich bitte, noch einmal zu überlegen, vielleicht noch einmal selber abzuwägen. Ich glaube, einer Gesellschaft wie der unseren stünde es gut an, wenn wir hier im Bundestag das machten, was die große Mehrheit der Menschen und was auch die Tiere, könnten sie sich denn artikulieren, von uns erwarten. Diese herzliche Bitte habe ich. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Damit schließe ich die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir nach der namentlichen Abstimmung erfahren, wie es dann genau weitergeht. Ich bitte die Kollegen also, hier im Raum zu bleiben. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, Staatsziel Tierschutz. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 446 Stimmen, erfordert. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch jemand anwesend, der seine Stimme nicht abgegeben hat? Ich bitte die Schriftführer, mir zu sagen, wann ich die Abstimmung schließen kann. - Ich schließe damit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung für wenige Minuten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes, Staatsziel Tierschutz, bekannt. Abgegebene Stimmen 603. Mit Ja haben gestimmt 392, mit Nein haben gestimmt 205. ({0}) Es gab sechs Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt, weil die notwendige Zweidrittelmehrheit von 446 Stimmen nicht erreicht wurde. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 602 davon ja: 391 nein: 205 enthalten: 6 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({4}) Bernhard Brinkmann ({5}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({6}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Annette Faße Lothar Fischer ({7}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({8}) Harald Friese Anke Fuchs ({9}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({10}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({11}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({12}) Walter Hoffmann ({13}) Iris Hoffmann ({14}) Frank Hofmann ({15}) Ingrid Holzhüter Eike Maria Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Volker Jung ({16}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({17}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({18}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({19}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Michael Müller ({20}) Jutta Müller ({21}) Christian Müller ({22}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({23}) Gerhard Neumann ({24}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({25}) Birgit Roth ({26}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({27}) Ulla Schmidt ({28}) Silvia Schmidt ({29}) Dagmar Schmidt ({30}) Wilhelm Schmidt ({31}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({32}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({33}) Brigitte Schulte ({34}) Reinhard Schultz ({35}) Volkmar Schultz ({36}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({37}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Simone Violka Ute Vogt ({38}) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({39}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({40}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Jürgen Wieczorek ({41}) Helmut Wieczorek ({42}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Heino Wiese ({43}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({44}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({45}) Waltraud Wolff ({46}) Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU ({47}) Elmar Müller ({48}) Hans-Otto Wilhelm ({49}) Dagmar Wöhrl BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gila Altmann ({50}) Volker Beck ({51}) Matthias Berninger Grietje Bettin Annelie Buntenbach Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({52}) Katrin Dagmar GöringEckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Antje Hermenau Kristin Heyne Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Kerstin Müller ({53}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Claudia Roth ({54}) Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({55}) Werner Schulz ({56}) Christian Simmert Christian Sterzing Jürgen Trittin Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({57}) F.D.P. ({58}) Ernst Burgbacher Ulrike Flach Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({59}) Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({60}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({61}) Detlef Parr Gerhard Schüßler Marita Sehn Dr. Max Stadler PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Roland Claus Heidemarie Ehlert Dr. Ruth Fuchs Dr. Klaus Grehn Dr. Gregor Gysi Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Angela Marquardt Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel Gustav-Adolf Schur Dr. Winfried Wolf Nein CDU/CSU Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({62}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({63}) Dankward Buwitt Cajus Caesar Manfred Carstens ({64}) Peter H. Carstensen ({65}) Leo Dautzenberg Hubert Deittert Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({66}) Axel E. Fischer ({67}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich ({68}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther ({69}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({70}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({71}) Hansgeorg Hauser ({72}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Josef Hollerith Dr. Karl-Heinz Hornhues Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Manfred Kolbe Norbert Königshofen Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr.-Ing. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({73}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({74}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({75}) Julius Louven Dr. Michael Luther ({76}) Dr. Martin Mayer ({77}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({78}) Bernd Neumann ({79}) Claudia Nolte Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({80}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard ({81}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({82}) Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Adolf Roth ({83}) Dr. Christian Ruck Volker Rühe Anita Schäfer Dr. Wolfgang Schäuble Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({84}) Andreas Schmidt ({85}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Diethard Schütze ({86}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Horst Seehofer Heinz Seiffert Bernd Siebert Werner Siemann Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl Michael Stübgen Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({87}) Gerald Weiß ({88}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({89}) Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({90}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Aribert Wolf Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer Wolfgang Zöller Enthalten CDU/CSU Ilse Aigner Jochen Borchert Dr. Hans-Peter Friedrich ({91}) Siegfried Helias Elke Wülfing F.D.P. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Bierling, Hans Dirk Bühler ({92}), Klaus Haack ({93}), Karl-Hermann Irmer, Ulrich CDU/CSU CDU/CSU SPD F.D.P. Kossendey, Thomas Raidel, Hans Rauber, Helmut CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu den Gesetzentwürfen der Fraktionen der F.D.P. und der PDS sowie des Bundesrates zur Änderung des Grundgesetzes. Der Ausschuss hatte empfohlen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207, 14/279 und 14/758 für erledigt zu erklären. Dazu wird aber vorrangig das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht. Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bitte, die Plätze einzunehmen, weil nach der Geschäftsordnungserklärung wieder abgestimmt werden muss. Dafür benötige ich Übersicht. Herr Kollege Heinrich, Sie haben das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nachdem der gemeinsame Gesetzentwurf leider Gottes keine Zweidrittelmehrheit gefunden hat, wollen wir, dass die ursprünglichen Anträge, die schon im Ausschuss behandelt wurden und die zurückgezogen wurden, weil man sich auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt hatte, an den Ausschuss zurücküberwiesen werden und dort weiterberaten werden. Wir halten dies für dringend notwendig, um den Prozess in der Sache weiterführen zu können. Ich beantrage das im Namen der Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen, der PDS-Fraktion und selbstverständlich auch im Namen der F.D.P.Fraktion. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es wird beantragt, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207, 14/279 und 14/758 an die bisher schon damit befassten Ausschüsse zurückzuüberweisen. Wer stimmt für den Antrag auf Zurücküberweisung an die Ausschüsse? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS, der F.D.P. und mit einigen Stimmen aus der CDU/CSU gegen mehrere Stimmen aus der CDU/CSU ({0}) ist beschlossen worden, dass die Gesetzentwürfe an die Ausschüsse zurücküberwiesen werden. ({1}) Es ist somit klar, dass heute über die Gesetzentwürfe in der Sache nicht abgestimmt wird. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- sache 14/3197. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ent- schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Sind Sie damit einverstanden, dass eine persönliche schriftliche Erklärung des Abgeordneten Stöckel gemäß §31 der Geschäftsordnung zu Protokoll genommen wird?) - Das ist der Fall. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f - es han- delt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte - auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaft der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn in der Westeuropäischen Union - Drucksache 14/3076 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Steueransprüchen und der Bekanntgabe von Schriftstücken - Drucksache 14/3077 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 10. März 1998 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Südafrika über die Seeschifffahrt - Drucksache 14/3091 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Bericht der Bundesregierung gemäß Artikel 13 Abs. 6 Satz 1 GG - Drucksache 14/2452 - Überweisungsvorschlag: Gremium gemäß Artikel 13 Abs. 6 Grundgesetz e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998 - Drucksache 14/2471 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer *) Anlage 2 Technikfolgenabschätzung hier: „Umwelt und Gesundheit“ - Drucksache 14/2848 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 m auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski, Ronald Pofalla, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Maßnahmen zur akustischen Wohnraumüberwachung - Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Artikel 13 Abs. 6 GG und § 100 e Abs. 2 StPO - Drucksachen 14/1146, 14/2383 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({8}) Norbert Geis Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Neunundvierzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/2486, 14/2555 Nr. 2.1, 14/3131 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? ,- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Einhundertvierzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/2487, 14/2555 Nr. 2.2, 14/3132 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 6/99 - Drucksache 14/3116 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz Der Ausschuss empfiehlt, eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({12}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/3117 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 145 zu Petitionen - Drucksache 14/3108 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 146 zu Petitionen - Drucksache 14/3109 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 146 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 147 zu Petitionen - Drucksache 14/3110 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 148 zu Petitionen - Drucksache 14/3111 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 149 zu Petitionen - Drucksache 14/3112 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 150 zu Petitionen - Drucksache 14/3113 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 150 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 151 zu Petitionen - Drucksache 14/3114 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 151 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 152 zu Petitionen - Drucksache 14/3115 Wer stimmt zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 152 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist angenommen worden. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Hildebrecht Braun ({21}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes ({22}) - Drucksache 14/48 ({23}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({24}) - Drucksache 14/2019 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Wolfgang Bosbach Dr. Guido Westerwelle Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über eine gesetzliche Steuerung der Einwanderung nach Deutschland wird seit langem geführt und die F.D.P. ist der Meinung, dass nach allen diesen Diskussionen nun die Zeit des Handelns gekommen ist. Wir müssen der unübersichtlichen Einwanderungspolitik, die das politische Klima in Deutschland seit Jahren belastet, eine klare und transparente Linie entgegensetzen. ({0}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Gerade hier ist Perspektive statt Pannenhilfe, Verlässlichkeit statt Flickschusterei gefragt. ({1}) Deshalb ist die Zeit reif für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, ({2}) für ein Gesetz, mit dem die Zuwanderung nach Deutschland gesteuert, begrenzt und stärker an den legitimen Interessen unseres Landes und seiner Bürger ausgerichtet wird. Dies ist im Übrigen in vielen anderen Ländern längst Selbstverständlichkeit. Nur so wird der Zuzug von Ausländern berechenbar und sozial verträglich. Deshalb sieht unser Gesetzentwurf, bei dem wir uns vor allem am australischen Modell orientiert haben, das sich seit vielen Jahren bewährt hat, Folgendes vor: Unter Einbeziehung aller relevanten Zuwanderungsgruppen sollen in Zweijahresabständen jährliche Gesamthöchstzahlen festgesetzt und innerhalb dieses Rahmens Teilquoten für verschiedene Gruppen - auch für Arbeitszuwanderer, je nach Bedarf auf dem Arbeitsmarkt festgelegt werden. Unser Gesetzentwurf beinhaltet also die Möglichkeit, an unserem Bedarf orientiert zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zuzuwandern. ({3}) Dass es diesen Bedarf gibt, hat die Diskussion über die Computerfachleute, aber auch die Reaktion insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft gezeigt. Die Bestimmung von Bedarf und Kriterien ist eine politische Entscheidung, die von einer unabhängigen Kommission, in der alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind, vorbereitet wird. Damit wollen wir unseren wohlverstandenen nationalen Interessen mehr Raum geben; denn bei der Entscheidung über die Aufnahme eines so genannten Arbeitszuwanderers sind Alter, Qualifikation und berufliche Erfahrung, Integrationsfähigkeit und finanzielle Absicherung des Antragsstellers besonders zu berücksichtigen. Daneben wollen wir aber an den humanitären Verpflichtungen festhalten. Die Asylbewerberzahlen werden mit der Gesamthöchstzahl der Zuwanderer verrechnet, sodass diese in jedem Fall eingehalten wird. Asyl und Zuwanderung - das ist mir ein ganz wichtiger Punkt - sollen sich aber gegenseitig ausschließen. Wer einen Asylantrag stellt, muss wissen, dass er dann keinen Antrag mehr auf Zuwanderung stellen kann. ({4}) Für Zuwanderungswillige macht es daher keinen Sinn mehr, einen aussichtslosen Asylantrag zu stellen und damit das Asylrecht zu missbrauchen. Dadurch können die ohnehin schon stark zurückgegangenen Asylbewerberzahlen noch einmal reduziert werden. Unter diesen Umständen - das darf ich hinzufügen - gibt es keinen Grund, von unserem individuellen Asylrecht in Art. 16 des Grundgesetzes abzurücken. ({5}) Wenn der Vorschlag Gerhard Schröders zur so genannten Green Card etwas Gutes bewirkt hat, dann ist es die Tatsache, dass Bewegung in die bisher starren Fronten gekommen ist. Die Union hat die Scheindiskussion darüber aufgegeben, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, und fängt endlich an, sich an der Realität zu orientieren. Zahlreiche Äußerungen aus der jüngsten Zeit belegen das. Stellvertretend nenne ich nur den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, der am Wochenende gesagt hat: Die Frage lautet längst nicht mehr „Zuwanderung - ja oder nein?“, sondern die Frage lautet „Zuwanderung - geregelt oder ungeregelt?“. Genauso sehen wir das auch. ({6}) Es gibt aber noch zu viele Bremser. Die Postkartenaktion von Herrn Rüttgers zeigt, dass die Union in weiten Teilen noch immer rückwärts gewandt, defensiv und noch dazu wirtschaftsfeindlich agiert. ({7}) Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen zu leisten. Ausgerechnet die SPD zögert neuerdings, sich zu einer transparenten Einwanderung zu bekennen. ({8}) In ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl heißt es noch unter der Überschrift „Zuwanderung sozial verträglich steuern“: Integration kann nur gelingen, wenn die Grenzen der Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft beachtet werden. Deshalb wollen wir eine wirksame gesetzliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Sie muss die Arbeitsmarktbelastung, die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und humanitäre Gesichtspunkte berücksichtigen. ({9}) Nichts anderes schlagen wir vor. ({10}) Jetzt heißt es bei der SPD: In dieser Legislaturperiode soll es keine gesetzliche Zuwanderungsregelung geben. Das nenne ich eine merkwürdige Umsetzung von Wahlversprechen. ({11}) Die Grünen, um damit auf die zweite Koalitionspartei zu sprechen zu kommen, tun sich übrigens mit dem Thema ähnlich schwer. Neuerdings hört man vorsichtige Äußerungen, man sei für eine gesetzliche Zuwanderungsregelung, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. Wie fast immer gibt man eigene Überlegungen bei Widerstand des Koalitionspartners sofort auf. ({12}) Die Ausländerbeauftragte hält sich wie in vielen anderen Fragen auch auffallend zurück. Eine liberale Ausländerbeauftragte wie Cornelia Schmalz-Jacobsen hat in ihrem Amt deutlich mehr Mut bewiesen. Das war für sie selbstverständlich. ({13}) Sie hat im Übrigen - ich bin sehr stolz darauf - den Gesetzentwurf der F.D.P. maßgeblich mit erarbeitet. Die Grünen scheuen zudem vor der Selbstverständlichkeit zurück, dass es völlig legitim ist - und in anderen Ländern als absolut normal angesehen wird -, wohlverstandene nationale Interessen bei der Zuwanderung zu berücksichtigen. ({14}) Sie wollen das Tor für Zuwanderer noch immer möglichst weit aufmachen, statt die notwendige Steuerung und Begrenzung vorzunehmen. Nun wird gerne gesagt, man müsse die Einwanderung europäisch regeln. Selbstverständlich gehört für eine Europäische Union, in der es keine Binnengrenzen mehr gibt, die Frage der Zuwanderung, der Ausländer- und Asylpolitik schon aus sachlichen Gründen zwingend zu den auf europäischer Ebene zu regelnden Fragen. ({15}) Im Vertrag von Amsterdam sind die rechtlichen Voraussetzungen für die schrittweise Umsetzung einer europäischen Regelung geschaffen worden. Die F.D.P. als Europapartei setzt sich sehr für eine europäische Migrationspolitik ein. ({16}) Das schließt jedoch keineswegs aus, dass wir auf nationaler Ebene das tun, was wir tun können und was wir für richtig halten. ({17}) Wir sollten uns also nicht hinter Europa verstecken. Ich stelle fest: Als einzige Partei in Deutschland bekennt sich die F.D.P. zu einer geregelten, durchschaubaren und an den Interessen unseres Landes orientierten Zuwanderung. Wir wollen mehr Zugangsmöglichkeiten für diejenigen Ausländer, die wir - aus welchen Gründen auch immer - benötigen, und gleichzeitig die Zuwanderung derjenigen begrenzen, bei denen das nicht der Fall ist, ohne unsere humanitären Verpflichtungen aufzugeben. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege van Essen, Ihre Redezeit.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Übrigen stelle ich fest das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin -: Wir stehen mit unserer Forderung nicht alleine. Wir wissen, dass eine große Mehrheit in der Bevölkerung die Situation genauso sieht. Deshalb sind wir sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unserer vernünftigen Regelung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt die Staatssekretärin Frau SonntagWolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es klingt zwar nach Aufbruch, was der Kollege van Essen gesagt hat. Aber eigentlich handelt es sich fast schon um ein Stück Gesetzesgeschichte, weil wir diesen Gesetzentwurf heute endgültig zu den Akten legen. ({0}) Dieser Gesetzentwurf, Herr van Essen, hat schon eine ziemliche Staubschicht angesetzt, und zwar so sichtbar, dass die F.D.P.-Fraktion ihn zu einem Antrag umgemodelt hat, über den wir heute Morgen beraten haben. ({1}) Diese Anträge sind inhaltlich weitgehend identisch. Aber es hilft nichts: Die Vorherrschaft in der Diskussion um die Frage, die uns im Moment bewegt, nämlich warum und unter welchen Bedingungen Zuwanderung bei uns gesteuert werden soll und kann, erreichen Sie damit nicht. Denn längst bestimmt die Bundesregierung mit einem ganz anderen Schwerpunkt die Debatte. Das haben Sie, Herr van Essen, immerhin eingeräumt. Es geht ja hier und heute um die Deckung eines akuten Bedarfs in einem begrenzten Umfang, indem ausländische Computerspezialisten ins Land geholt werden, ({2}) und gleichzeitig - ich betone: gleichzeitig - um die Ausund Weiterbildung von einheimischen Kräften. ({3}) Mit einem Einwanderungsgesetz hat das aber nichts zu tun. Das braucht Zeit, sorgfältige Argumentation und die Abstimmung mit den europäischen Partnerstaaten. Kurz gesagt: Dieses wäre eine langfristige - ich betone: langfristige - Perspektive. Aber immerhin zeigt uns der Gesetzentwurf der Freien Demokraten, wie man es besser nicht machen sollte. ({4}) Mit Ihrem Vorschlag hätten Sie ein Preisausschreiben für besondere Umständlichkeit gewinnen können. Da Sie ja keine zusätzliche Einwanderung nach Deutschland auslösen wollen, errichten Sie ein kompliziertes Regelwerk mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen und sonstigen Höchstzahlen. Sie wollen vor- und nachsteuern. Zu allem Überfluss soll darüber ein Bundesamt für die Regulierung der Zuwanderung thronen. ({5}) Das ist keine Einwanderungspolitik, sondern Einwanderungsbürokratie. ({6}) Eine solche wollen wir nicht. ({7}) Mindestens ebenso bedenklich, Herr Kollege Niebel, ist Ihr Umgang mit dem Familiennachzug. Sie wollen zwar das geltende Recht nicht grundsätzlich zur Disposition stellen, aber Sie wollen diesen Zuzug mit den sonstigen Aufnahmequoten verrechnen. Das kann nur darauf hinauslaufen, dass sich die Einreise von Angehörigen um Jahre verzögert. Das würde nicht nur eine besondere Härte bedeuten, sondern wohl auch den grundgesetzlich garantierten Schutz von Ehe und Familie betreffen. Auch das kann unsere Billigung nicht finden. Wir haben es schließlich mit Menschen zu tun und nicht mit Spielfiguren, die man wie beim Malefiz-Spiel - je nach Kalkül - vor und zurückschieben kann. Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gerhardt, in diesen Tagen fordert, in Deutschland müsse man bei Einwanderungsfragen mehr Weitsicht walten lassen, dann muss ich Sie ganz herzlich bitten, Ihr eher engstirniges Zuwanderungsbegrenzungsgesetz ({8}) ganz schnell zu vergessen und auszumustern. ({9}) Viel bemerkenswerter finde ich allerdings, was sich bei der CDU abspielt. Wenn man sich alte Debattenbeiträge anschaut, dann kann man erkennen, dass noch vor ein paar Monaten Ihre Redner jeder gesetzlichen Zuwanderungsregelung ein Nein entgegendonnerten. Inzwischen sind Sie ganz schön durcheinander gewirbelt worden. Auf das markige Nein von damals folgt nun Frau Merkels vorsichtiger Schwenk zum Ja. Das würde ja nichts machen, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sich entschließen würden, über diese gesamte schwierige Thematik in der kommenden Zeit einen ruhigen und sachbezogenen Disput zu führen. Wir sollten uns zum Ziel machen, einerseits den politisch Verfolgten und den Bürgerkriegsflüchtlingen wie bisher Schutz zu gewähren - dazu gehört auch der Zuzug und Familiennachzug der Spätaussiedler -, andererseits aber den Spielraum auszuloten, in dem wir die Zuwanderung aktiver als bisher steuern und gestalten können. Aus diesem sorgfältigen Abwägen des Für und Wider kann durchaus ein geeignetes und schlüssiges Handlungskonzept werden - wir wünschen uns dazu einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens -, allerdings unter zwei Voraussetzungen: Erstens. Es gibt schon jetzt auf EU-Ebene absehbare Regelungen - ich nenne als Stichwort die Familienzusammenführung -, deren Folgen wir ebenso abwägen müssen wie die mögliche Arbeitskräftewanderung, die mit der geplanten Osterweiterung der Europäischen Union einhergehen kann. Also muss man sich doch in aller Ruhe mit dieser Sache befassen. Zweitens. Diese Sachdiskussion kann nur gelingen das ist mein letzter Satz, mein Appell -, wenn führende Politiker der Union sich auch in Wahlkampfzeiten von Demagogie und Desinformation durch Slogans wie „Mehr Ausbildung statt Einwanderung“ endlich unverzüglich lossagen. Bitte tun Sie das! ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erwin Marschewski. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Feststellungen. Erstens. Die Zuwanderung nach Deutschland ist weiterhin hoch. Sie ist zu hoch. Sie ist vor allem ungeregelt. Ja, wir wollen politisch Verfolgte und Hilfe Suchende aufnehmen; das ist klar. Aber es kommen zu viele Menschen, die keine Beschäftigung bei uns finden, und es kommen zu wenige, die unser Land dringend bräuchte. Zweite Bemerkung. Der Bundesminister des Innern hat dies offensichtlich erkannt. Er handelt jedoch nicht. Dritte Bemerkung. Der Gesetzentwurf der F.D.P., das so genannte Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, ist leider untauglich. Ich werde das gleich belegen. Er löst die Zuwanderungsprobleme nicht einmal im Ansatz. Dieser Gesetzentwurf geht ins Leere; er ist undurchführbar und deswegen erfolglos. ({0}) Der Gesetzentwurf ist erfolglos - ich habe dies schon sehr oft bei Beratungen im Fachausschuss gesagt, Herr van Essen -, weil ohne Änderung des Grundgesetzes keine Höchstzahl für Zuwanderer festgelegt werden kann. Denn niemand kann doch die Zahl derer begrenzen, die unter Berufung auf Art. 16 a des Grundgesetzes nach Deutschland kommen, es sei denn, der Bundesinnenminister macht seine Ankündigung endlich wahr, das subjektive Asylgrundrecht durch eine institutionelle Garantie zu ersetzen. Wir jedenfalls, Herr Bundesinnenminister, sind bereit, dies zu tun; hier und heute, Herr Schily. ({1}) Ihr Gesetzentwurf ist deswegen erfolglos, Herr van Essen, weil nach derzeitiger Grundgesetzlage eine Begrenzung des Familienzuzuges nicht realisierbar ist und weil eine weitere Einschränkung des Aussiedlerzuzuges wegen Art. 116 des Grundgesetzes zu Recht nicht statthaft ist. Ihr Gesetzentwurf ist weiterhin schon deswegen undurchführbar, weil er die Zahl der abgelehnten Asylbewerber, die nicht abgeschoben werden, unberücksichtigt lässt. Das sind doch Hunderttausende, weil die Länder, insbesondere von Grünen und SPD regierte, diese nicht abschieben, obwohl sie das Asylrecht missbraucht haben und es somit aushöhlen. Deswegen wiederhole ich: Ja, wir wollen politisch verfolgte und hilfebedürftige Menschen aufnehmen, das ist wahr. Aber es kommen mehr Menschen nach Deutschland, als wir ins Wirtschaftsleben integrieren können. Das würde doch bedeuten, Herr van Essen, dass die von Ihnen geforderte Zuwanderungshöchstzahl auf Jahre hinweg null wäre. Das wissen Sie doch, Herr Kollege. Sie wissen, dass dieser Gesetzentwurf untauglich ist, und trotzdem verbleiben Sie bei diesem untauglichen Gesetzentwurf, ({2}) wie auch die Bundesregierung in Fragen der Begrenzung der Zuwanderung nichts Taugliches, sondern nur Untaugliches angeboten hat. Richtig ist die Erkenntnis des Bundesinnenministers: Die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung ist überschritten. Das ist richtig, Herr Schily, denn unseren Integrationsmöglichkeiten bei fast 1 Million ausländischer Sozialhilfeempfänger in Deutschland sind Grenzen gesetzt. Deswegen sagen wir, Herr Bundesinnenminister: nicht reden, endlich handeln; der Worte sind genug gewechselt! ({3}) Wer den Willen hat, Herr Schily, Zuwanderung zu steuern und zu beschränken, nicht populistisch, sondern ernsthaft, nicht mit untauglichen Mitteln, nicht zaghaft, sondern wirkungsvoll, der sagt Ja zu unseren Vorschlägen. Diese Vorschläge sind: Die Zuwanderung nach Deutschland muss gesteuert werden. Nur so ist eine Zuwanderung möglich, die auch im Interesse unseres Landes liegt. Das geht nicht auf dem bloßen Verordnungswege. Das geht nicht durch überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps. Das geht nur durch eine gesetzliche Regelung zur Steuerung der Zuwanderung. Da ist auf Dauer ein Gesetz notwendig, ({4}) weil es sich um eine für Deutschland wesentliche Entscheidung handelt, Herr Kollege. ({5}) Wahr ist natürlich, dass Bedarf an Fachkräften vorhanden ist. Wahr ist aber auch, dass die jungen Menschen in Deutschland oft mangelhaft ausgebildet worden sind. Dafür sind die Bundesländer verantwortlich. Auch das ist wahr. ({6}) Wahr ist, dass der Bedarf an Fachkräften vorhanden ist, nicht nur im IT-Bereich, sondern auch in anderen Wirtschaftszweigen, angefangen vom Krankenpfleger über den Biotechnologen bis hin zum Dachdecker. Deswegen ist es einfach nötig, die Ausbildung zu verbessern. ({7}) Es ist aber auch nötig - Herr van Essen, da sind wir eigentlich einer Meinung -, den Bedarf zu ermitteln und Zuwanderungszahlen festzulegen. Umgekehrt ist eine Begrenzung der Zuwanderung nötig, also eine Begrenzung der illegalen Zuwanderung und eine Begrenzung der legalen Zuwanderung. Es ist also vonnöten, die bisher unbeschränkte Zuwanderung zu begrenzen. Da kann nichts ausgenommen werden. Da hat der Bundesinnenminister Recht. Dies gilt für Asyl, dies gilt für den Familiennachzug und dies gilt auch für die Spätaussiedler. Wenn wir es nicht tun, Herr Bundesinnenminister, aber vor allen Dingen meine Damen und Herren der Koalition, dann werden wir durch Europa früher oder später, spätestens in zwei, drei Jahren, dazu gezwungen werden. Denn wenn wir das nicht machen, bleiben die Haupttore für illegale Zuwanderung offen. Die Folge ist ganz eindeutig: Wir haben kaum Spielraum für Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen oder aus anderen Gründen des öffentlichen Interesses. Zuwanderungsbegrenzungen bedeuten aber weiterhin eine konsequente Anwendung des Ausländerrechts. Dies hat für die Einreise wie für die Abschiebung zu gelten. Dabei werden weitere Einschränkungen vonnöten sein. Wir werden das Nachzugsalter einschränken müssen. Das gilt auch für die Wiederkehroption und das gilt vor allen Dingen für die Asylfolgeanträge. In diesem Zusammenhang ist völlig kontraproduktiv, wenn jetzt eine europäische Familienzusammenführungs-Richtlinie vorliegt, die den Familienbegriff erneut auf homosexuelle Paare und vor allen Dingen auf Leute erweitert, die in Deutschland nur ein Jahr Aufenthaltsrecht haben. Herr Bundesinnenminister, ich freue mich, dass Sie im Innenausschuss gesagt haben, Sie kämpften gegen diese Richtlinie. Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn Sie Ihre Fraktion davon überzeugen - was Sie in der Vergangenheit mit Ihren Vorschlägen zu Asylrechtsänderungen, mit Ihren Feststellungen nicht geschafft haben. Die Kluft zwischen Ihnen und der SPD-Fraktion ist riesengroß, das haben die Beratungen im Innenausschuss ergeben. ({8}) Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Grünen. Herr Özdemir, Sie werden gleich versuchen, das zu verkleistern. Aber es stimmt: Die Kluft zwischen Ihnen und dem Innenminister ist riesengroß. Nötig ist auch eine Einschränkung bei der Altfallregelung. Wir wollen nicht ständig neue Altfallregelungen, weil Tausende hier bleiben dürfen - als Prämie für Asylmissbrauch und illegale Einwanderung. ({9}) Erwin Marschewski ({10}) - Herr Kollege, generelle Altfallregelungen erhöhen den Asylmissbrauch und sie fördern illegale Zuwanderung. Das ist doch unbestritten. Fragen Sie den Kollegen Penner, der noch bis zum morgigen Tag beratend unter uns weilt. ({11}) Gerade deswegen müssen wir auch die legale Zuwanderung einschränken. Meine Damen und Herren, wer illegale Zuwanderung stoppen will, der muss, bevor es eine einheitliche europäische Regelung gibt, das Asylbewerberleistungsgeld einschränken. Sie kennen doch das Nord-SüdGefälle. Es kann doch nicht sein, dass wir, wenn in Italien 100, 200 DM pro Monat für Asylbewerber gezahlt werden - ich sage nicht, dass das der richtige Betrag ist -, hier ein Mehrfaches zahlen. Solange wir das tun und nicht ändern, wird der Zuwanderungsstrom nach Deutschland nicht abreißen und Schlepper werden zulasten Deutschlands und zulasten der Ausländer kassieren. IndiesemZusammenhangistmir-ichwiederholedies völlig unverständlich, dass Sie zu einer Begrenzung des Schleppertums Nein gesagt haben, dass Sie zu der Einführung von Warndatei und AusländerzentralregisterErweiterungsgesetz Nein gesagt haben. Der Bundesinnenminister hat eine vorurteilsfreie Diskussion angeboten. Diese hat aber nicht stattgefunden; er konnte gar nicht im Ausschuss sein. Die unbegrenzte Zahl von Gutmenschen auf Ihrer Seite, Herr Kollege, hat wieder obsiegt. Es wäre nötig gewesen, den Schleppern, die die Menschen im Ausland ausbeuten, das Handwerk zu legen und sie, wenn sie nach Deutschland kommen, ihrer Straftaten zu überführen. Zu diesem wichtigen Vorhaben haben Sie Nein bzw. die Gutwilligen bei Ihnen haben im Ausschuss immerhin erwähnt, sie wollten einen eigenen Gesetzentwurf einbringen, weil sie die Glanztat der Union irgendwie verhindern wollten. ({12}) Zuwanderungsbegrenzungs- oder Zuwanderungssteuerungspolitik bedeutet Folgendes: Erstens. Wir wollen die illegale Zuwanderung und den illegalen Zuzug, aber auch den legalen Zuzug begrenzen. Zweitens. Wir müssen neben einer besseren Ausbildung der jungen Deutschen für bestimmte Wirtschaftszweige Angebote an ausländische Fachkräfte machen. Frau Staatssekretärin, das ist kein neuer Vorschlag der Union. Ich habe diesen Vorschlag schon immer unterbreitet. Unser Problem ist nur, dass alles auf den Tisch muss. Ich ziehe heute - das ist wahr - einen Nutzen aus der nun gegebenen politischen Lage. Ich sage allen Fraktionen wir können gerne mit der F.D.P. reden -: Wir brauchen Gespräche über die Steuerung der Zuwanderung, über Gesamthöchstzahlen und -quoten, über Zuwanderungsbegrenzung, über das Ob und Wie der Zuwanderung, aber auch über Gesetzesänderungen - von der Änderung des Ausländerrechtes über die Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften bis hin zur Änderung des Grundgesetzes. ({13}) Denn das ist für unser Land dringend notwendig. Der Herr Bundesinnenminister hat völlig Recht: Es darf keine Denkverbote geben und es kann auch keine Denkverbote geben. Aber - und da unterscheiden wir uns von Ihnen, Herr Schily - am Ende müssen Taten stehen. Nachdenken und Sprüche allein reichen nicht aus. Sie müssen Ihre Fraktion überzeugen. Wir stünden an Ihrer Seite, wenn Sie versuchten, diese Gesetze zu realisieren, wenn Sie versuchten, die Zuwanderung zu stoppen, und wenn Sie versuchten, eine Einwanderungsregelung zu schaffen. Dabei ist zu berücksichtigen: Politisch Verfolgte und Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, sollen, ja, müssen in unser Land kommen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Abgeordnete Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der sich vieles in sehr rascher Folge ändert. Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sind hochgradig verunsichert über das Tempo der Veränderungen. Wenn ich die Debatte von gerade eben betrachte, dann muss ich sagen, dass sie auch etwas sehr Beruhigendes hat: Die Union bleibt, wie sie ist; Herr Marschewski bleibt, wie er ist. Da können die Asylbewerberzahlen runtergehen, da kann die Zahl der Aussiedler runtergehen, da kann sich der Wanderungssaldo als die Zahl derer, die zuwandern, gemessen an denen, die abwandern, umkehren - trotzdem bleibt die Union dabei: Es ist zu viel Zuwanderung; es sind zu viele Asylbewerber. Der Art. 16 des Grundgesetzes ist geändert. Die Union würde wahrscheinlich selbst dann, wenn nur noch ein Flüchtling an Deutschlands Türen anklopfen sollte, immer noch eine Debatte dazu organisieren und sagen, es gebe zu viel Zuwanderung. ({0}) Ich glaube, der Beitrag von Herrn Marschewski hat gezeigt: Die Union fällt als Gesprächspartner in der Debatte über Zuwanderung leider - ich sage das wirklich mit Bedauern - noch auf nicht absehbare Zeit aus. Es wäre demgegenüber wünschenswert, dass wir in dieser Debatte endlich über Parteigrenzen hinweg zu vernünftigen Konzepten und Lösungen kämen. Für meine Fraktion - und ich nehme an, für die Mehrheit des Hauses - sage ich ganz eindeutig: Die Zuwanderung in Deutschland muss geregelt werden. Wir brauchen neue gesetzliche Instrumente. Herr van Essen, wir haben aus der Debatte um das Staatsangehörigkeitsrecht eines gelernt: Eine Debatte, die nicht genügend vorbereitet ist, würde uns in der gegenwärtigen Situation - Sie haben ja die Rede gerade Erwin Marschewski ({1}) verfolgen dürfen - nicht weiterhelfen. Lassen Sie uns gemeinsam die Diskussion um das neue Einwanderungsrecht führen! Ich bin froh, dass Sie einen Gesetzentwurf gemacht haben. Auch wenn wir uns hinsichtlich mancher Fragen unterscheiden, glaube ich, dass manches von dem, was Sie gesagt haben, es wert ist, weiterdiskutiert zu werden. Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben selber Eckpunkte vorgelegt. Wir werden mit unserem Koalitionspartner das Gespräch über diese Punkte suchen. Ich bin mir ziemlich sicher: In der nächsten Legislaturperiode werden wir in der Koalitionsvereinbarung einer wieder aufgelegten rot-grünen Koalition das Ziel der Einbringung eines Einwanderungsgesetzes festlegen. Es wird sich in einem Punkt zentral von dem unterscheiden, was Sie vorgelegt haben: Es wird nämlich nicht „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ heißen. Das scheint mir ein sprachlicher Missgriff zu sein. Denn wer „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ formuliert, der drückt damit aus, dass es sich um etwas Negatives handelt, um etwas, wovor man Angst haben könnte. Sie haben in Ihrer Rede genau das Gegenteil dessen gesagt, was Sie hier eingebracht haben. Sie haben nämlich zu Recht darauf hingewiesen, dass Zuwanderung auch etwas mit eigenen Interessen zu tun hat. ({2}) Zuwanderung hat etwas damit zu tun, dass wir dort, wo wir Bedarf haben, diesen Bedarf befriedigen. Ich möchte aber hinzufügen, dass wir auch daran denken müssen, dass wir humanitäre und soziale Verpflichtungen haben. Die Mischung aus all dem, das ist für uns ein Zuwanderungsbzw. Einwanderungsgesetz. In diesem Sinne lade ich alle diejenigen, die guten Willens sind, dazu ein, jetzt eine sachliche Debatte darüber zu führen, damit wir das Ergebnis dieser Debatte spätestens in der nächsten Legislaturperiode in ein Gesetz gießen können. ({3}) Ganz kurz möchte ich noch auf die Debatte von heute Morgen eingehen. Herr Marschewski, eines Ihrer Lieblingswörter in anderen Debatten ist das Wort „Ganoven“. In dieser Debatte war es das Wort „begrenzen“. Ich habe während Ihrer Rede eine Strichliste geführt: Sie haben 17mal das Wort „begrenzen“ verwendet; ich erhebe dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manches ist in dieser Debatte begrenzt; das stimmt mit Sicherheit. Begrenzt sind insbesondere die Beiträge eines Spitzenkandidaten Ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich mir das anhöre, was da im Einzelnen zum Thema Zuwanderung und Integration gesagt wird, dann habe ich das Gefühl: Da spricht einer über ein Thema, von dem er nicht viel weiß, oder er spricht wider besseres Wissen. Zudem habe ich das Gefühl: Wenn Herr Rüttgers vom Surfen im Internet spricht, dann stellt er sich wahrscheinlich vor, dass man einen Eimer Wasser über den Computer ausleert. ({4}) Wenn er von „Code eingeben“ spricht, dann denkt er wahrscheinlich eher an irgendetwas Unappetitliches. Man sollte also von dem Thema, über das man spricht, ein bisschen Ahnung haben. Das erleichtert manchmal die Kommunikation, vor allem die mit den Wählerinnen und Wählern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Leutheusser-Schnarrenberger?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. Ich habe Sie nicht gesehen, Entschuldigung.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich teile ja voll Ihre Einschätzung, dass man hier wirklich zum Thema sprechen sollte. Deshalb frage ich Sie: Warum wollen Sie sich den gesamten Rest der Legislaturperiode mit den Argumenten, die wir schon in der letzten Legislaturperiode ausgetauscht haben, auseinander setzen? Warum nutzen Sie nicht die Vorgabe seitens der Bundesregierung in Bezug auf die Green Card zu einer ganz grundsätzlichen Debatte über die Einwanderung nach Deutschland auf der Basis der Argumente und Regelungen, die wir dazu, wie Sie eben ausgeführt haben, brauchen? ({0})

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, Sie haben völlig Recht. Sie werden sich wundern: Ich stimme Ihnen und auch Herrn van Essen zu. Die Initiative des Kanzlers auf der CeBIT wird uns - ob wir das wollen oder nicht - mitten in die Debatte über das Thema Zuwanderung führen. Das ist auch gut so. Nur, ich möchte diese Debatte vorbereitet und gut organisiert wissen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sind. Sie wissen genauso gut wie ich - Sie waren ja einmal Ministerin und haben sich in diesen Themen engagiert; das weiß ich -: In der gegenwärtigen Situation ein Einwanderungsgesetz einzubringen, wäre schlecht. Es wäre ein Gesetz, das seinen Namen nicht verdient. Ich möchte ein gutes Gesetz, ein Gesetz, das dazu führt, dass die Besten der Besten zu uns kommen. Ich möchte ein Gesetz, das transparent ist. Ich möchte ein Gesetz, in dem beispielsweise die Frage der Integrationsleistungen gelöst wird, ({0}) indem wir, so wie das die Holländer getan haben, Sprachund Integrationskurse in Angriff nehmen. Ein solches Gesetz werden wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht hinbekommen. Aber wir werden diese Debatte ab heute führen. Wir werden bereits in dieser Legislaturperiode Vorstufen festlegen. Das, was wir im IT-Bereich tun, ist ja, wenn Sie so wollen, eine Vorstufe dazu. Das Thema ArbeitserlaubnisCem Özdemir pflicht - diese Frage spielt auch in Ihrer Fraktion eine wichtige Rolle - muss ebenso wie der Bereich Sprach- und Integrationskurse in diesem Zusammenhang dringend angesprochen und einer Lösung zugeführt werden. Hier würde ich mir wünschen, dass wir die bestehenden ideologischen Gräben, dass wir Aussiedler, Flüchtlinge und Familienzusammenführungsfälle unterschiedlich behandeln, überwinden. Wenn wir Sprach- und Integrationskurse anbieten, dann kann es nur ein Kriterium geben: Ist der- oder diejenige, der oder die das machen möchte, ein Analphabet bzw. eine Analphabetin oder ein Akademiker bzw. eine Akademikerin? Nur das kann ein Kriterium sein, wie man die betroffenen Menschen einteilt. Ob jemand aus Kasachstan, aus Russland, aus der Türkei oder aus Bosnien kommt, das kann nicht das trennende Kriterium für die Gewährung von Sprach- und Integrationskursen sein. Auch hier besteht die Einladung, solche Kurse anzubieten. Dafür brauchen wir die Länder. Dies wäre gut. Denn eines der größten Probleme in der Gesellschaft im Hinblick auf Integration ist, dass die Menschen sagen, dass die Sprachkenntnisse nicht so sind, wie sie sein sollten. Wir haben einen konkreten Vorschlag. Lassen Sie uns darüber reden, wie wir dies finanzieren und rechtlich umsetzen können. Aber lassen Sie uns die Diskussion über dieses Thema nicht so führen, wie wir es bisher gemacht haben: Der Bund schiebt es auf die Länder, die Länder schieben es auf den Bund und gemeinsam schieben wir es zu den Kommunen. - Das hilft in der Sache nicht weiter. ({1}) Zurück zum Thema. Ich möchte Ihnen widersprechen, Herr van Essen: Es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, dass die Zuwanderung bisher völlig ungesteuert sei. Sie wissen, dass wir ein hochkompliziertes Gesetzesgerüst haben. Ich denke an das Ausländerrecht, das Asylrecht, das EUAufenthaltsrecht, das Kontingentflüchtlingsrecht etc. Dazu gehört auch der Arbeitskräftezuzug. Man kann sich darüber unterhalten, ob die Instrumente ausreichen oder ob wir andere Instrumente brauchen. Es ist aber nicht so nur, damit in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck entsteht -, dass es bislang eine unkontrollierte Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gibt. Im Gegenteil: Viele Gesetze haben Sie mit verfasst. Insofern kann ich mich nur darüber wundern, dass die Union mit dem, was sie 16 Jahre lang selber zu verantworten hatte, heute offensichtlich gar nichts mehr zu tun haben möchte. Da meine Redezeit gleich abläuft, noch eine Bitte: Ich habe vorhin gesagt, dass wir eine Debatte um die Zuwanderung bekommen werden. Das ist auch gut so. Wir wollen diese Debatte offensiv führen. Eines aber, werden Sie mit uns nicht machen können: Wir werden nicht zulassen, dass die Debatte missbraucht wird, um auf dem Rücken der Betroffenen das, was von Art. 16 des Grundgesetzes, dem Recht auf Asyl, noch übrig ist, zu schleifen. Wir bestehen darauf, dass Art. 16 als Individualanspruch weiter besteht. Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregierung mit Unterstützung beider Koalitionsfraktionen auf dem Regierungsgipfel in Tampere dafür eingesetzt hat, die Asyl- und Flüchtlingspolitik europäisch zu harmonisieren. Das, was Sie immer gesagt haben, setzen wir jetzt um. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es bestand der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Machen wir nun eine Nachfrage daraus, die Sie noch beantworten können.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Özdemir, kann es sein, dass Sie sich bei dieser Debatte eigentlich nur um die Beantwortung einer Kernfrage drücken, nämlich davor, welche Zuwanderer gut für unser Land sind und welche nicht?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das tue ich nicht, Frau Kollegin. Es tut mir Leid, wenn bei Ihnen dieser Eindruck entstanden ist. Ich habe dies ganz klar gesagt. Ich schicke Ihnen gerne unseren alten Gesetzentwurf, um den Eindruck zu korrigieren, dass wir die wirtschaftlichen Gesichtspunkte bisher nicht berücksichtigt hätten. Ich sage es ganz offen: Es geht um soziale, humanitäre und selbstverständlich auch wirtschaftliche Aspekte. Natürlich hat unsere Industrie ein Recht darauf, ihre Bedürfnisse zu formulieren und zu sagen, wo Arbeitskräftebedarf besteht. Wir werden darüber eine sehr spannende Diskussion zwischen den Entwicklungspolitikern auf der einen Seite und den Wirtschaftspolitikern auf der anderen Seite führen. Wir wollen auch keinen Braindrain. Wir wollen nicht Ausbildungskosten sparen, wir wollen nicht die Besten der Besten zu uns holen und die Länder der Dritten Welt weiter destabilisieren. Deshalb ist es so, wie wir es machen, richtig: Wir holen Leute ins Land, aber unter Berücksichtigung des Bedarfs. Gleichzeitig nehmen wir nicht den Druck weg, hier auszubilden. Das ist genau das richtige Konzept. Genauso muss ein Einwanderungsgesetz formuliert sein.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Kollege Marschewski gibt Ihnen Gelegenheit, noch eine Antwort zu geben.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin unschuldig.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Özdemir, Sie haben zu meiner Freude gesagt, wir hätten eine Zuwanderungsbegrenzung beispielsweise im Ausländerrecht und im Asylrecht. Bestätigen Sie, dass Sie diese Gesetze, die wir gemeinsam mit der F.D.P. gemacht haben, jahrelang bekämpft und einhellig abgelehnt haben?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann es Ihnen offen und frei sagen: Ich bin nicht mit allem zufrieden, was Sie gemacht haben. Zum Beispiel im Asylrecht gibt es einen massiven Änderungsbedarf. Ich könnte Ihnen Leitz-Ordner-weise Briefe von Bürgermeistern Ihrer Partei und auch der CSU zeigen, in denen steht, welcher Asylfall ganz besonders schlimm sei und warum gerade diese Person nicht abgeschoben werden dürfe. Ich will Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Sind nicht auch Sie wie ich und meine Fraktion der Meinung, dass es nicht sein kann, dass Frauen, die verfolgt werden, nur weil sie Frauen sind - im Iran zum Beispiel wurde Frauen Säure ins Gesicht geschüttet -, bei uns kein Asyl bekommen. Das sind die Fälle, die nachher in der Statistik als nicht akzeptierte Asylbewerber aufgeführt werden. Sind Sie nicht der Meinung - es handelt sich nicht um viele Fälle -, dass wir für diese Frauen eine bessere Lösung brauchen als die bisherige? Es geht hier nicht um grundsätzlich neue Instrumente, sondern darum, dass wir im praktischen Bereich nachbessern müssen. Ich möchte ein zweites Beispiel nennen - da weiß ich viele Ihrer Kollegen mit mir einig -: die nichtstaatliche Verfolgung. Dies ist ebenfalls ein wichtiges Thema, das Sie nicht in Angriff genommen haben. Auch hier sehe ich Änderungsbedarf. Ist es denn sinnvoll, dass ein Islamist in Algerien, der vom Staat verfolgt wird, bei uns Asyl bekommt, dass die Personen aber, die vor den Islamisten fliehen, die sich gegen religiöse Fundamentalisten wehren, kein Asyl bekommen, weil es sich um eine nichtstaatliche Verfolgung handelt? Sind nicht auch Sie der Meinung wie wir und übrigens auch die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und viele andere, dass hier Änderungsbedarf besteht? Alle diese Punkte werden wir ansprechen. Wir sind uns nicht immer mit unserem Koalitionspartner einig. Trotzdem bin ich der Meinung, dass dies auf die Tagesordnung gehört. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bitte um Verständnis, Herr Kollege Marschewski. Ich habe Sie noch nach der Nachzeit als Fragesteller zugelassen. Ich glaube, wir versuchen jetzt, zum nächsten Redner zu kommen. ({0}) Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte eine Vorbemerkung zur Debatte von heute Morgen und zu der Frage „Einwanderungsgesetz - ja oder nein?“ machen. Es geht nicht an, dass die CDU diese Frage so repressiv diskutiert, wie Herr Marschewski es heute getan hat, dass sie die Diskussion mit dem Ziel führt, das Asylrecht restlos aufzuheben, und dass Herr Beckstein und Herr Rüttgers fremdenfeindliche und populistische Politik auf Kosten von Menschen betreiben, die sich hier nicht wehren können und die auch im Lande selbst große Schwierigkeiten haben, sich zu wehren. Ich bin der Meinung, dass so etwas nicht stattfinden darf. Ich kann nur hoffen - das sage ich auch als gewählte Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen -, dass die Wählerinnen und Wähler Ihrer Politik eine Absage erteilen. ({0}) Doch jetzt zum Thema. Bei der Diskussion um Zuwanderung geht es meiner Meinung nach in der Tat um viele Ziele. Erstens. Die rechtliche Situation der Menschen, die zu uns kommen, muss verbessert werden. Dazu gehört die Wiederherstellung des Asylrechts. Herr Özdemir, es darf nicht nur davon geredet werden, sondern es muss auch gehandelt werden, wenn es um die Anerkennung von frauenspezifischen Fluchtgründen geht. ({1}) Ebenso muss gehandelt werden, was die nichtstaatliche Verfolgung angeht, die übrigens in anderen EU-Ländern Normalität ist. Warum wird hier nicht endlich angepasst? Zweitens. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen so etwas wie ein Niederlassungsrecht. Auch die Grünen haben es einmal gefordert. Ich halte es für sehr wichtig, das wieder aufzugreifen. Ebenso wird man prüfen müssen, ob das Staatsbürgerschaftsrecht, das reformiert worden ist, tatsächlich die Einbürgerung erleichtern wird. Drittens. Die soziale Situation der Menschen, die zu uns kommen, ist unbedingt verbesserungswürdig. Ich denke an das Asylbewerberleistungsgesetz, das abgeschafft werden muss. Ich denke vor allen Dingen an das Arbeitsverbot für Flüchtlinge, die hier beispielsweise Asyl beantragen oder aber als Migrantinnen und Migranten leben, sowie an die Benachteiligung insbesondere der NichtEU-Bürger auf dem Arbeitsmarkt. ({2}) Das ist aus unserer Sicht unsozial und inhuman und muss im Zuge einer Einwanderungspolitik ebenfalls geregelt werden. Viertens. Wir brauchen größere Anstrengungen, was die Integration der Millionen Menschen angeht, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Ich sage noch einmal, was wir schon oft gesagt haben: Wir werden Rassismus und Ausländerfeindlichkeit nur bekämpfen können, wenn wir diesen Menschen wirklich die gleichen Rechte geben, wie Deutsche sie haben, und nicht auf ihren Pass schauen. ({3}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., wir haben über Ihren Gesetzentwurf schon oft diskutiert. Er hat mit Einwanderung nicht viel zu tun. Der Name sagt es bereits: Es heißt „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“. Ich frage Sie: Wie können Sie eigentlich von Zuwanderungsbegrenzung sprechen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass Zuwanderung nötig ist? Ich teile nicht die Ansicht von Herrn Marschewski, dass wir zu viel Zuwanderung haben. Nicht nur UN-Experten sagen nämlich, dass - aus verschiedenen Gründen unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen - jährlich mindestens 500 000 Menschen einwandern müssen, während die Nettozuwanderung tatsächlich gegenwärtig im Grunde genommen bei Null liegt. Sie wissen ganz genau, dass es in Ihrem Gesetzentwurf keinen Spielraum gibt, um Zuwanderung zuzulassen. ({4}) Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Es gibt seit 1990 eine Konvention über die Wanderarbeiter. Diese Konvention ist seit 1990 weder von der damaligen CDU/CSU-F.D.P.-geführten Bundesregierung noch von der neuen rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet worden. Diese Konvention schreibt ganz klar Gleichberechtigung auch dann vor, wenn Menschen aus wirtschaftlichen Gründen in anderen Ländern gebraucht werden. Diese Konvention stellt klar, dass sie die gleichen Löhne erhalten, also Dumpinglöhne vermieden werden müssen. Ich kann die weiteren Bestimmungen aus Zeitgründen gar nicht alle aufzeigen. Aber ich meine, das wären die Schritte, die wir als Erstes gemeinsam gehen sollten, anstatt, wie die Bundesregierung, das zu versuchen, was hier in den 60er-Jahren bereits stattgefunden hat. Sie wissen ganz genau, dass Ihre Politik gegenwärtig wieder durch den Spruch gekennzeichnet werden kann: Es wurden Arbeitskräfte gefordert, aber es kamen Menschen. - Ich fordere Sie auf, für diese Menschen, wenn Sie sie als Arbeitskräfte herholen, Gleichstellung zu garantieren; das bedeutet, dass sie sozial und rechtlich gleichgestellt werden. An die Adresse der F.D.P. möchte ich in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen:

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Jelpke, es wird Zeit.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme gleich zum Schluss. Eine Zuwanderungsbegrenzungspolitik darf nicht zulasten der Menschenrechte gehen. Das aber machen Sie, wenn Sie - wie es Ihr Gesetzentwurf vorsieht - die im Wege des Familiennachzuges Eingereisten auf eine Gesamthöchstzahl anrechnen, wenn die Menschen die Kosten der Integrationsfördermaßnahmen selbst tragen sollen und wenn der Zuzug auf Kosten von anderen Ausländern oder von Aussiedlern geht. Das tragen wir auf gar keinen Fall mit. Das ist auch kein ernsthafter Beitrag zur Einwanderungspolitik. Danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Marschewski, nicht erst seit Ihrer sehr beeindruckenden Rede hier habe ich sehr intensiv an Sie denken müssen, sondern auch schon letzte Woche, als ich ein Umfrageergebnis gelesen habe, das vom Institut für Demoskopie in Allensbach veröffentlich worden ist. Bei dieser Umfrage sind Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gefragt worden, wie es sich denn so mit dem Erdball und der Sonne verhalte, welcher Himmelskörper sich um welchen drehe. Und siehe da, 10 Prozent der Befragten sind der Meinung gewesen, die Sonne drehe sich um die Erde. Da habe ich mich gefragt, ob denn wohl auch der Herr Marschewski zu dieser Gruppe gehören mag. Herr Marschewski, wenn man sich Ihre Reden - nicht nur die heutige, sondern auch die der Vergangenheit näher anschaut, so muss man zu der Auffassung kommen: Wahrscheinlich halten Sie die Erde nicht einmal für eine Kugel, sondern immer noch für eine Scheibe. ({0}) - Nein, das ist kein Mobbing, keine Sorge. ({1}) - Da können eher Sie noch etwas lernen, Herr Marschewski. Herr Marschewski, Sie haben - deswegen habe ich das gesagt - Probleme mit der Realität in diesem Lande, und zwar nicht etwa nur bezüglich des Umgangs mit Zuwanderung; Sie haben - das verschärft die Sache - schon Probleme, die Realität insgesamt sachgerecht wahrzunehmen. Es hätte nicht der Debatte heute Vormittag bedurft, um das feststellen zu können. Sie sollten darüber nachdenken, ob man den Slogan der CDU „Mitten im Leben“ nicht in „Völlig daneben“ ändern sollte. Ich kann Ihnen nur empfehlen, ({2}) das im Landtagswahlkampf in NRW auf Ihre Plakate schreiben. ({3}) Was die Diskussion über den Umgang mit Zuwanderung angeht, die in unserem Land bedauerlicherweise stark emotionalisiert geführt wird, sind Sie nicht gut beraten, sich in der Weise dazu zu äußern, wie Sie das getan haben. Erst haben Sie jahrelang in Deutschland dafür Sorge getragen, dass der Zug in die falsche Richtung fährt, und dann haben Sie sich - das hat die Debatte über die dringend notwendige Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im letzten Jahr deutlich gemacht - bei der Kurskorrektur auf die Bremse gestellt. Ich kann Ihnen von der CDU/CSU nur empfehlen, sich von Denkweisen zu lösen, die Zuwanderung in erster Linie als Bedrohung sehen, anstatt die Chancen zu begreifen Chancen, die wir aufgreifen und gestalten müssen, wenn wir mit dieser Frage vernünftig umgehen wollen. Daher ist es nicht besonders hilfreich, dass wir in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen einen „Ex-Zukunftsminister“ erleben, der Äußerungen von vorgestern macht. Was wir derzeitig in Sachen Debattenkultur erleben, ist eine echte „Rolle Rüttgers“. Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Sache hinweisen, die mich wirklich sehr beschäftigt und bei der ich mich darüber wundere, dass Sie da nicht ein wenig vernünftiger sind: Die Aussagen von Herrn Rüttgers in Bezug auf indische Staatsbürger bzw. Anhänger der größten Religionsgemeinschaft Indiens, des Hinduismus - er hat gesagt, man müsse nicht auch noch Hindus nach Deutschland holen, haben in der indischen Presse zu großer Aufmerksamkeit und auch zu großer Verärgerung in der Öffentlichkeit geführt. Wer schon dem Argument nicht zugänglich ist, dass es immer verkehrt ist, auf dem Rücken von Ausländerinnen und Ausländern Wahlkampf zu machen, ({4}) der sollte wenigstens dem Argument zugänglich sein, dass Herr Rüttgers ganz elementare deutsche Interessen verletzt, wenn er sich so äußert. ({5}) Es ist nicht nur so, dass wir die hier kurzfristig zu beschäftigenden Computerexperten dringend brauchen, damit die Wirtschaft in Deutschland den Anschluss nicht verpasst und eine Weiterentwicklung vornehmen kann. Wir exportieren zudem Jahr für Jahr Güter in einem Wert von etwa 4 Milliarden DM nach Indien. Unser Land ist ein Exportland. Wir sind darauf angewiesen, dass es in anderen Ländern Partner gibt, die mit uns Handel treiben. Das, was Herr Rüttgers gemacht hat, schädigt nicht zuletzt die auswärtigen Beziehungen unseres Landes. ({6}) Das, was Sie machen, ist nicht nur innenpolitisch misslich, sondern hat auch außenpolitische Konsequenzen. Wir von der Koalition müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass dadurch die Wahrnehmung unserer Interessen, die wir in Bezug auf Indien haben, nicht gefährdet wird. Ich will nur eine Zahl nennen: In den letzten Jahren hat es 2 000 Joint Ventures zwischen deutschen und indischen Unternehmern gegeben. Das sind Kooperationen, die wir ausbauen wollen, weil gerade der indische Markt ein rasant wachsender Markt ist. Wie leichtfertig hier mit den Chancen umgegangen wird, die wir dort haben, ist schon abenteuerlich. ({7}) Ich will die Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, insbesondere noch für eines nutzen, nämlich um deutlich zu machen, dass wir die verschiedenen Aspekte der Zuwanderung und auch die verschiedenen Gruppen von Menschen, die zu uns kommen, sehr genau auseinander halten müssen. Herr Marschewski, Sie haben versucht, alles in einen Topf zu werfen und daraus eine eher unappetitliche Suppe zu fabrizieren. Das macht - wenn wir uns die Zahlen ansehen - keinen Sinn. Herr Marschewski, es wäre nicht verkehrt, wenn Sie sich auf einem falschen Weg gelegentlich ein Stück weit von der Realität einholen ließen. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, können wir feststellen: Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Nicht-EUBürgerinnen und -Bürgern, die seit dem Anwerbestopp von 1973 nach Deutschland gekommen sind, um hier Arbeit aufzunehmen. Deswegen werden wir seitens der SPD den F.D.P.-Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes nicht mittragen können. Ich glaube, dass dies abgesehen von Ausnahmen - generell so lange so bleiben muss, wie wir eine derart hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland haben. ({8}) Wir haben 4 Millionen Arbeitslose. Das ist ein schweres Erbe. Wir haben positive Daten hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung. Wir sind zuversichtlich, dass wir am Ende der Wahlperiode eine deutlich niedrigere Arbeitslosenquote haben werden, übrigens - wie es sich abzeichnet - nicht dank der Opposition. ({9}) Eines aber ist völlig klar: Eine generelle gesetzliche Änderung zum Zwecke der Ermöglichung der Arbeitsaufnahme von Ausländerinnen und Ausländern aus Ländern außerhalb der EU in Deutschland ist in Verantwortung für die Lage auf dem Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu realisieren. ({10}) - Natürlich sehen wir uns wieder, Herr Hirche. Wenn ich Sie nicht wiedersehen würde, würde ich Sie auch sehr vermissen. ({11}) Wenn wir den Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, beschließen würden, hätte das insbesondere zwei Auswirkungen, die schlecht wären. ({12}) Zum einen würden bei den Menschen, die interessiert sind, nach Deutschland zu kommen, Erwartungen geweckt, die wir angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt, die nach wie vor bedrückend ist, gar nicht einlösen könnten. Zum anderen wecken Sie Ängste in der Bevölkerung - obwohl es keinen Grund gibt, diese Ängste zu wecken -, ({13}) weil die Leute glauben, durch Ihr Gesetz würde sich wirklich etwas an dem Zuwanderungsgeschehen ändern. ({14}) Ich verkenne überhaupt nicht und weise sehr gern darrauf hin, dass wir mittel- und langfristig sicherlich ein Zuwanderungsgesetz benötigen. Das hat etwas mit einer sich verbessernden wirtschaftlichen Entwicklung, aber insbesondere damit zu tun, dass die Geburtenraten sinken, dass eine zunehmend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Es ist völlig klar - dazu bedarf es keiner Studie der UNO oder der Bertelsmann-Stiftung, das wissen wir auch so; man kann es aber als hilfreiches Material hinzuziehen -, dass wir uns mittel- und langfristig darüber Gedanken machen müssen, wie wir neben der Zuwanderung, die aus humanitären, grundgesetzlich gebotenen Gründen erfolgt, Zuwanderung aus staatlichem Interesse mit Blick auf den Arbeitsmarkt möglich machen können. Was Sie hier machen, ist Augenwischerei, weil Sie glauben machen wollen, dies wäre kurzfristig ein Thema. Das ist es nicht. Ich will auf eines hinweisen. Ich habe mich über das gewundert, was Herr Westerwelle heute Morgen gesagt hat. Er hat gesagt, dass es Leute gebe, die kommen und die wir brauchen. Dann gebe es Leute, die wir nicht brauchen. Das war auch das Thema einer Zwischenfrage der Kollegin Bonitz. Ich glaube, dass wir sehr gut beraten sind, zwischen humanitär und grundgesetzlich gebotener Zuwanderung, etwa aufgrund des Asylrechtes, und der Gruppe der Zuwanderer, die mit dem Ziel, Arbeit aufzunehmen, nach Deutschland kommen, zu differenzieren. Hier will ich Ihnen, Herr Hirche, ganz konkret sagen: Das, was in Ihrem Gesetzentwurf steht, ist meines Erachtens gegen den Sinn und gegen den Wortlaut des Grundgesetzes, ({15}) weil Sie dort unter anderem fordern: Der Familiennachzug zu Ausländerinnen und Ausländern, die einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, sollte quotiert werden. ({16}) In Art. 6 des Grundgesetzes - ich bin kein Jurist, kann aber sehr gut lesen - steht: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Herr Hirche, wenn Sie mir sagen wollen, dass das nur für deutsche Familien und für deutsche Ehepaare gilt, dann sagen Sie das bitte. Wenn das aber für Ausländerinnen und Ausländer gilt, können Sie so etwas nicht quotieren. Dann können Sie den Leuten nicht sagen: Die Familie ist für uns ein grundgesetzlich geschützter Wert, aber ihr könnt mit der Zusammenführung noch zwei Jahre warten, weil die Quote erfüllt ist. ({17}) Herr Marschewski würde am liebsten noch eine Quote für Asylbewerber einführen. Man müsste sich dann wohl letztlich dafür einsetzen, die Bibel zu ändern. Dann würde der barmherzige Samariter nicht mehr Halt machen und dem Schwerverwundeten helfen, vielmehr würde er sagen: Vielleicht komme ich im nächsten Jahr zur selben Zeit vorbei. Wenn du immer noch dort liegst, helfe ich dir möglicherweise. - Das ist zynisch, christlich ist es nicht. ({18}) Das ist nicht vernünftig. Diese Haltung ist vor allen Dingen überhaupt nicht von den Zahlen gedeckt. Ich will sie noch einmal nennen. Vor einigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, darauf hinzuweisen; ich mache es jetzt aber noch einmal, weil immer so getan wird, als gäbe es einen Änderungsbedarf beim Asylrecht. 1992 hatten wir 400 000 Asylbewerber. 1993 hatten wir 300 000 Asylbewerber. Dann hat eine große Koalition in Bonn beschlossen, das Asylrecht zu ändern. Seitdem haben wir jährlich etwa 100 000 Asylbewerber. Wenn man die Zahlen, die uns aus diesem Jahr vorliegen, hochrechnet, dann werden wir vermutlich auf 80 000 Asylbewerber am Ende des Jahres kommen. Wer angesichts solcher Zahlen - Herr Kollege Özdemir hat vollkommen Recht - darauf hinweist, dass sie zu hoch sind, der unterschätzt die Integrationsmöglichkeiten eines Landes mit 80 Millionen Einwohnern, der verkennt auch, dass wir als Demokraten die Zuwanderung aus humanitären Gründen weiterhin ermöglichen müssen. ({19}) - Das muss man unterscheiden. Das ist wohl wahr. Ich muss zum Schluss kommen, meine Damen und Herren. Ich denke, dass wir über diese Legislaturperiode hinaus eine Koalition der Vernünftigen brauchen, die an diesem Thema ein echtes Interesse haben und darüber nicht nur im Vorfeld von Wahlen diskutieren. Wir sollten hier keine Schaumschlägereien machen. Das Thema ist viel zu wichtig. Wir brauchen mittelfristig ein Zuwanderungsgesetz, das nicht nur quantitativ der Zuwanderung Rechnung trägt. Wir brauchen insgesamt ein Integrationskonzept. Die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, dürfen nicht wiederholt werden. Vor kurzem habe ich mit einer türkischen Staatsbürgerin aus meinem Wahlkreis gesprochen, die sehr schlecht Deutsch spricht. Sie sagte mir in ihrem gebrochenen Deutsch: Als ich in den 60er-Jahren gekommen bin, habe ich meinem Chef gesagt: Ich möchte Deutsch lernen. Er hat mir gesagt: Du bist nicht hier, um Deutsch zu lernen, sondern du bist hier, um zu arbeiten. Solche Fehler müssen wir künftig vermeiden. Wir wissen, die Mehrheit derer, die zu uns kommt, wird auf Dauer bleiben. Dann müssen wir auch die Integrationsmöglichkeiten, die wir anbieten, deutlich verbessern. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Marschewski das Wort. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Herr Hirche hat Recht. Es wäre schön, wenn wir zu einer gemeinsamen Lösung kämen. Dazu wäre natürlich Sachlichkeit geboten. ({0}) Wir schlagen ein Zuwanderungssteuerungsgesetz vor. Die F.D.P. schlägt ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz vor. Die Regierungskoalition sagt zu beidem gar nichts. Sie bleibt untätig, wie im gesamten Bereich der Ausländerpolitik, wie in vielen anderen Bereichen des Bundesministers des Innern. Das ist wahr. ({1}) Ich hätte es gern gesehen, wenn der Bundesinnenminister sich an die Spitze der Bewegung gestellt und gesagt hätte, was er im Innenausschuss ausgeführt hat. Wir waren gar nicht verschiedener Meinung, Herr Bundesinnenminister. Wenn wir die Frage der Zuwanderungssteuerung behandeln, dann muss natürlich alles auf den Tisch - mehr sage ich doch nicht -: Es muss das Asylrecht auf den Tisch, es muss die Grundgesetz-Frage auf den Tisch, es müssen arbeitsrechtliche Vorschriften auf den Tisch, es muss das Ausländerrecht auf den Tisch. Das ist doch keine Frage, meine Damen und Herren. ({2}) - Ich bin mehrfach angesprochen worden, Herr Kollege Schmidt, und musste mich daraufhin zu Wort melden, zumal ich auch Recht habe. ({3}) Diese Dinge gehören auf den Tisch und ich erwarte, dass die Bundesregierung mit einem Vorschlag kommt. Ich sage Ihnen heute schon: Wir werden Sie in nächster Zeit per Antrag auffordern, uns ein Zuwanderungsteuerungsgesetz vorzulegen, und zwar mit allem, was auf den Tisch muss, natürlich auch mit Höchstquoten und Gesamtquoten, weil es nötig ist, die Zuwanderung nach Deutschland zu regeln. Ich bleibe dabei: Erstens. Wir wollen politisch Verfolgten und Bedrängten helfen. ({4}) Zweitens. Es kommen zu viele Menschen zu uns, die hier keine Beschäftigung finden. Drittens. Es kommen zu wenige zu uns, die wir brauchen. ({5}) - Schreien Sie doch nicht andauernd dazwischen. Des Weiteren hat mich der Kollege Özdemir ausdrücklich darauf angesprochen, dass ich mich zu dem Problem der iranischen Frauen äußern solle. Herr Kollege Özdemir, wenn Sie sagen, die Frauen bekämen kein Asyl, so ist auch das nur die halbe Wahrheit; denn Sie wissen, dass diese Frauen ebenso wie diejenigen, die etwa in Algerien von nicht staatlichen Einrichtungen, die Staatsgewalt ausüben, verfolgt werden, natürlich nicht abgeschoben werden. Unsere Gesetzesleistung war ja gerade, sicherzustellen, dass sie nicht abgeschoben werden. Legen Sie als Regierung doch einen Antrag vor. Wir diskutieren darüber. Ich bin in diesen zwei Punkten durchaus Ihrer Meinung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Marschewski, jetzt ist Ihre Redezeit abgelaufen.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir diskutieren darüber. Aber dazu gehört auf der anderen Seite auch eine generelle Regelung der Zuwanderungsbegrenzung. Das müssen wir gemeinsam machen, weil der Integrationskraft des deutschen Volkes Grenzen gesetzt sind. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Man kann Kurzinterventionen zu konkreten Redebeiträgen - dann kann der angesprochene Redner antworten - und auch zur ganzen Debatte machen. Aber wie auch immer, Herr Kollege Marschewski: nie länger als drei Minuten. ({0}) Das nur noch einmal zur Festigung der Regeln. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes, Drucksache 14/48. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2019, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. abgelehnt worden. Daher entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg führen - Drucksachen 14/2908, 14/3163 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Karl Lamers Rita Grießhaber Ulrich Irmer Dr. Dietmar Bartsch ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann und der Fraktion der PDS Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag - Drucksache 14/3190 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute hat die Duma hinter verschlossenen Türen darüber beraten, ob sie endlich den START-II-Vertrag ratifizieren wird. Morgen wird sie im Plenum beraten. Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass die Duma bereit ist, der Abrüstung neue, wesentliche Elemente hinzuzufügen. Wir können der Duma dazu gratulieren, wenn sie morgen diesen Schritt geht. Dieser Schritt läge in der Tradition der Abrüstungsprozesse. Deswegen sagen wir den Kolleginnen und Kollegen der Duma: Es ist gut, dass ihr morgen so beschließt, damit der START-II-Prozess endlich weiter vorankommt. ({0}) Das würde auch genau dem Tenor dessen entsprechen, was wir, die Koalition, Ihnen vorgeschlagen haben. Es würde übrigens - Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, haben eben geklatscht - einen Punkt entkräften, den Ihr Antrag enthält: Sie unterstellen, dass die Duma bzw. dass Russland nicht in der Lage wären, den Nichtverbreitungsvertrag so voranzutreiben, wie wir von der Koalition es uns wünschen. Ich bitte Sie, zu überdenken, ob Ihr Antrag nicht zumindest in diesem von Ihnen formulierten Punkt falsch ist. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und besonders Sie, lieber Kollege Lamers - Sie werden wohl nachher für Ihre Fraktion sprechen -: Halten Sie an dem Grundkonsens fest, den wir in den 60er-Jahren gefunden haben, nämlich an dem Nichtverbreitungsvertrag, der 1969 abgeschlossen wurde. Sie erinnern sich sicherlich noch: Es war die große Leistung von John F. Kennedy, die Abrüstung zum gemeinsamen internationalen Thema gemacht zu haben. Wir haben im Deutschen Bundestag über 30 Jahre hinweg an dem gemeinsamen Grundkonsens festgehalten. Auch als wir in der Opposition waren, haben wir immer der Auffassung zugestimmt, dass der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt, unterstützt und vorangetrieben werden muss. Nach meiner Meinung wäre es gut, wenn der Bundestag durch eine gemeinsame Entschließung die Bundesregierung dazu bringen könnte, die Position des Deutschen Bundestages bei den jetzigen Verhandlungen in New York zu vertreten. Ich bitte Sie herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS und von der CDU/CSU: Bleiben Sie bei diesem Grundkonsens! Unterstützen Sie die Bundesregierung, damit sie in New York das Richtige tut, nämlich den Prozess der Abrüstung voranzutreiben! ({1}) Warum bitte ich Sie um Ihre Unterstützung? Ich bitte Sie darum, weil der Nichtverbreitungsvertrag der einzige international anerkannte Vertrag ist, der die vollständige nukleare Abrüstung zum Ziel hat. Ich wiederhole: die vollständige nukleare Abrüstung. Wir haben diesem Vertrag nicht nur zugestimmt, sondern die Bundesrepublik Deutschland hat auch selbst entschieden, dass wir niemals Nuklearwaffen besitzen wollen. Das ist Grundkonsens. Diesen können wir bei den Verhandlungen in New York am besten stärken, wenn wir im Anschluss an diese Debatte eine gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages verabschieden könnten. ({2}) An diesem Konsens sollten wir wirklich festhalten. Ich hoffe, dass dies auch für uns alle so bleiben wird. Der Vertrag wurde zum entscheidenden Instrument des internationalen kooperativen Widerstands gegen die Verbreitung von Atomwaffen. Dieses Instrument war im Grunde genommen doch erfolgreich, und dass das so kam, war überraschend; denn das konnte man in den 60erJahren noch gar nicht erkennen. Sie erinnern sich: John F. Kennedy fürchtete zu Beginn der 60er-Jahre, dass es in wenigen Jahrzehnten, also gegen Ende des Jahrhunderts, 30 oder sogar 40Atomwaffenstaaten geben könnte. Das ist nicht eingetreten. Es ist deswegen nicht eingetreten, weil der Nichtverbreitungsvertrag so erfolgreich gewesen ist. Er ist deswegen so erfolgreich gewesen, weil sich die Atommächte gemeinsam verpflichtet haben, den Nichtverbreitungsvertrag zu stärken, zu unterstützen und auch in den schwierigsten Zeiten, in den 80er-Jahren, am Grundkonsens des Nichtverbreitens festgehalten haben. Das war der große Erfolg dieses Vertrages. Das hat auch dazu geführt, dass der Grund für das gelegt werden konnte, was notwendig gewesen ist, nämlich für ein kooperatives Zusammenspiel zuerst der unterschiedlichen Atomstaaten. Der Grundgedanke der Kooperation hat dazu geführt, dass es - nicht zu vergessen: nach Vorbereitung der damaligen sozialliberalen Koalition - schließlich 1975 in Helsinki gelungen ist, den Prozess der KSZE in Gang zu setzen, der darauf gerichtet war, das, was in den drei entscheidenden und zentralen Körben festgelegt war, voranzubringen, nämlich Abrüstung und ökonomische Zusammenarbeit voranzutreiben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer und schließlich auch das Thema der Menschenrechte in den Mittelpunkt der Weltgemeinschaft zu stellen. Dies war die Grundlage dafür, dass seither die Kooperationsbeziehungen zwischen den Staaten auf der Erde vorangetrieben worden sind. Wir sollten auch nicht vergessen: Der Beginn dieser Kooperation war der Nichtverbreitungsvertrag. Ich bitte - gerade jene, die angesichts zweifellos berechtigter Kritik andere Voten anstreben - herzlich darum, einen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen. Ich will noch einen Punkt hinzufügen und erklären, was an den bisherigen Maßnahmen erfolgreich gewesen ist. Die Atommächte haben sich bisher an den Vertrag gehalten. Neben den fünf offiziellen Atommächten sind in der letzten Zeit noch drei weitere inoffizielle hinzugekommen, nämlich Israel, Indien, Pakistan und - nicht zu vergessen - Südafrika. Nehmen wir den Fall Südafrika: Dieses Land hat politisch entschieden, seine sechs Sprengkörper zu demontieren, dem Vertrag beizutreten und sich für die Inspektionen der Wiener Internationalen Atomenergie-Agentur zu öffnen. Man muss einmal - an die Adresse der Union gerichtet - klar sagen: Südafrika hat sich äußerst kooperativ verhalten, indem es dem Vertrag beigetreten ist und dafür gesorgt hat, dass der gesamte Kontinent Afrika zu einer atomwaffenfreien Zone werden konnte. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, herzlich darum: Nehmen Sie die Debatte um atomwaffenfreie Zonen ernst. Es gibt nicht nur Lateinamerika, es gibt auch Afrika, es gibt die Antarktis, es gibt andere Teile der Erde, die bereit sind, sich dem Nichtverbreitungsvertrag, dessen elementarer Bestandteil die atomwaffenfreien Zonen sind, kooperativ zu öffnen und sicherzustellen, selbst keine Atomwaffen zu erlangen. Nehmen Sie doch diese kritische Bemerkung gegenüber dem im Vertrag selbst festgelegten Grundsatz zurück. Insofern noch einmal der Appell: Eine gemeinsame Abstimmung wäre sicherlich sehr sinnvoll, weil es die Position der Bundesregierung insgesamt stärkt. Die anderen Staaten, die im Zusammenhang mit Nuklearwaffen erwähnt werden, haben Waffenprogramme oder haben Raketenentwicklung betrieben - oder beides ohne bisher die Schwelle einer Nuklearexplosion überschritten zu haben. Zu diesen Staaten gehört zum Beispiel das Land, das gegenwärtig berechtigterweise am stärksten in die Kritik geraten ist, nämlich Nordkorea. Bis zum Ende des Golfkrieges gehörten auch der Irak sowie - so vermuten zumindest die USA - der Iran dazu. Diese drei Länder haben jedoch den Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben - im Unterschied zu Israel, Indien und Pakistan. Die bevorstehende Konferenz in New York - das wäre ein weiteres Argument, sie zu stärken - will das bestehende und immer weiter verfeinerte Regime der Nichtverbreitung überwachungstechnisch prüfen, weiterentwickeln und insbesondere politisch stärken. Die Atomwaffentests von Indien und Pakistan waren die Auslöser bzw. Verstärker für diese Konferenz. Beide Staaten gehören - ebenso wie Israel und Kuba - zu den vier Nichtunterzeichnern des NVV. Gegenwärtig gelingt es wohl nicht, beide Staaten dazu zu bewegen, dem Vertrag beizutreten. Wir sollten dabei jedoch nicht das Ziel aus dem Auge verlieren. Deshalb halten wir - dies bekräftigt unser Antrag - an den notwendig voranzutreibenden Zwischenschritten fest: Testmoratorium, CTBT, Exportkontrollen für sensitives Nuklearmaterial und - nicht zuletzt - die Beteiligung von Indien und Pakistan an Verhandlungen mit dem Ziel, die Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke zu beenden. Durch diese formulierten Zwischenziele soll also nicht das Endziel, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, aus den Augen verloren werden. Die Zwischenschritte sollen dazu dienen, das Ziel genauer zu präzisieren und jetzt konkrete Schritte dafür einzuleiten, dem Endziel näher zu kommen. Der NVV verbindet - das ist nach meiner Meinung eine für die damalige Zeit unglaublich wichtige Verknüpfung die Nichtverbreitung, die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, für die die Wiener Behörde mit zuständig ist, und die nukleare Abrüstung miteinander. Vor allem die Leistungen der Atommächte in der Abrüstung werden allerdings von vielen Nichtkernwaffenstaaten als unzureichend empfunden. Wenn man sich in die Position Indiens begibt und mit den Augen Indiens andere Mächte betrachtet, dann ist das Argument ja nicht ganz von der Hand zu weisen. Die späten 80er-Jahre und die frühen 90er-Jahre haben Hoffnungen geweckt, dass der Abrüstungsprozess stärker vorankommt. Das ist so leider nicht realisiert worden. Heute sind viele ernüchtert und schauen doch etwas skeptisch auf diesen Abrüstungsprozess. Der gute Wille der Atommächte wird häufig bezweifelt. Das genau ist der Grund, warum New York so wichtig ist. Der Vertrag droht politisch zerrieben zu werden. Höchst bedeutend wäre es also, wenn START II durch die beiden Großmächte ratifiziert würde - die Duma macht jetzt den richtigen Schritt - und START-III-Verhandlungen aufgenommen würden. Darüber hinaus sollte auch der Teststoppvertrag besonders durch Russland und die USA ratifiziert werden, die damit den weiteren Staaten mit entwickelter nuklearer Industrie ein Beispiel geben, sich dem auch anzuschließen. Des Weiteren wünschen wir, dass in New York beschlossen wird, dass endlich über ein rechtsverbindliches Ende der Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke verhandelt wird. Diese unterschiedlichen Punkte sind konkrete Schritte, um den Nichtverbreitungsvertrag durch Materialisierung jener Schritte auch voranzutreiben. Wir erwarten deshalb von der Bundesregierung, dass sie alles unternimmt, um bilateral und innerhalb der NATO mit den USA darüber zu reden, wie es verhindert werden kann - das ist sicherlich ein Punkt, der uns alle bewegt und auch sicherlich noch Schwierigkeiten bereiten könnte -, dass das geplante nationale Raketenabwehrsystem National Missile Defense in Russland, in China und auch in den Schwellenländern eine neue nukleare Aufrüstung Gert Weisskirchen ({3}) auslöst. Wir stehen also in diesem Jahr vermutlich vor einem schwierigen Prozess. Ich hoffe, dass die Bundesregierung Stärke zeigt und versucht zu überzeugen, damit der amerikanische Präsident an diesem Punkt noch einmal überdenkt, ob das gegenwärtig der richtige Schritt ist. Wir sollten ihm deutlich machen, soweit wir es können: Bitte, denken Sie darüber noch einmal neu nach, mindestens aber denken Sie darüber nach, ob nicht der neue Präsident der USA darüber entscheiden sollte. Dann hätten wir noch einmal Zeit gewonnen, um mit der neuen Administration darüber zu reden. Unser Interesse jedenfalls ist es, kooperative Beziehungen zu stärken und voranzutreiben. Wir fürchten, dass ebenjene Kooperationsbeziehungen wenigstens zeitweise durch die Durchsetzung von National Missile Defense gestört werden könnten. Wir bitten unsere Kollegen im Kongress in den USA, darüber noch einmal neu nachzudenken. ({4}) Aber falls - das sollten wir auch einmal mit berücksichtigen - der amerikanische Präsident den Aufbau eines solchen Systems beschließt, sollte sichergestellt werden, dass das kooperative Geflecht - das jahrzehntelang getragen hat, das gehalten hat, das auch schwierige Phasen gut überstanden hat - der militärischen Sicherheit der Nuklearmächte untereinander nicht gefährdet wird. Ich hoffe sehr, dass eine Lösung gefunden wird - manchmal hört man es; ich weiß nicht, ob es nur eine Rede ist; vielleicht steckt ja mehr dahinter; vom Verteidigungsministerium ist niemand hier -, wonach auch Russland mit beteiligt werden kann, wenn es denn realisiert werden sollte. Ich glaube, dass wir darüber zumindest noch einmal neu diskutieren müssen, und ich wünsche mir, dass die amerikanische Präsidentschaft auch darüber noch einmal mit sich selbst zu Rate ginge. Deutschland hat jedenfalls ein überragendes Interesse daran, dass die Großmächte ihre Kooperationsbeziehungen untereinander ausbauen. Nur so können künftig auch die atomaren Kurzstreckenwaffen in Europa wegverhandelt werden. Denn wenn ein neuer Aufrüstungsprozess in Gang gesetzt würde - zum Beispiel durch National Missile Defense -, dann könnte und müsste man fürchten, dass auch die Kurzstreckensysteme bei uns in Europa leider eben nicht wegverhandelt würden, sondern dass alle anderen möglichen Waffensysteme in einen neuen Aufrüstungsprozess mit hineingezogen werden könnten. Unser Antrag zielt also darauf ab, dass die erste Überprüfungskonferenz seit der Entscheidung, diesen Vertrag unbefristet zu verlängern - das haben wir übrigens im Deutschen Bundestag in Bonn noch gemeinsam beschlossen -, jetzt in New York dafür sorgt, dass der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt wird. Damals haben wir das Richtige getan - wir aus der Opposition heraus und Sie als Regierungskoalition. Das war auch gut so. Fünf Jahre später wird nun in New York überprüft, ob die damaligen Beschlüsse bezüglich der Prinzipien und Ziele der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung und der Stärkung des Überprüfungsprozesses umgesetzt wurden. Alle Bundesregierungen haben sich zu dem Ziel der Nichtverbreitung bekannt. Will die Union das - ich hoffe nicht infrage stellen? Das kann ich mir eigentlich nicht denken. Diese Debatte wird die Opposition wieder an diesen langjährigen Grundkonsens erinnern und ihn erneut befestigen. Gewiss trifft es zu, dass eine kernwaffenfreie Welt nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn die Sicherheitsbedürfnisse der Kernwaffenstaaten überzeugend auch ohne Kernwaffen befriedigt werden können. Das ist natürlich ihr allererstes Interesse. Dieses Ziel, eine kernwaffenfreie Welt zu schaffen, kann nur dann realisiert werden, wenn es wirklich konkrete Wege gibt, die zur nuklearen Abrüstung führen, und wenn der Wille dazu international gewachsen ist. Richtig ist aber auch: Es gibt viele realistische Schritte, die man gehen kann, ohne bereits über die vollständige nukleare Abrüstung entschieden zu haben. Unser Antrag zielt darauf ab. Bei all diesen konkreten Schritten und schon gar nicht in New York dürfen wir aus dem Auge verlieren, worum es wirklich geht und was das überragende Ziel der Nichtverbreitung ist, nämlich die Welt von allen Atomwaffen freizumachen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Karl Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen aus dem Jahre 1968 ist ein Eckpfeiler der internationalen Sicherheitspolitik in unserer Zeit. Längst ist die Welt aus dem Stadium herausgewachsen, in dem einzelne Staaten allein für ihre nationale Sicherheit sorgen konnten. Deshalb bleibt nach wie vor das Ziel richtig, mit einem Kontrollregime erstens die Verbreitung von Nuklearwaffen und Nukleartechnologie zu verhindern, zweitens die Zahl der Kernwaffenstaaten so klein wie möglich zu halten und drittens den Abrüstungsprozess auch bei diesen Waffen zügig fortzusetzen. Dies war auch Ziel der von CDU/CSU und F.D.P. getragenen Bundesregierung. Wir haben hart daran gearbeitet und viel dafür getan. Wir stehen nach wie vor zu dieser Politik und zu den Zielen, die der Nichtverbreitungsvertrag verfolgt. ({0}) Es wäre allerdings unrealistisch, zu glauben, dass diese Einstellung in aller Welt vorherrschend ist. Pakistan und Indien sind die Staaten, die in der letzten Zeit nukleare Sprengsätze gezündet und so ihren Anspruch angemeldet haben, als Atommächte behandelt zu werden. Nordkorea konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sein Streben nach Nuklearwaffentechnologie fortzusetzen. Wir würden uns auch wünschen, dass verschiedene Länder, vor allem Indien, Pakistan, Kuba und Israel, den NichtverGert Weisskirchen ({1}) breitungsvertrag ratifizieren und so einen Beitrag zur Sicherheit in der Welt leisten. Meine Damen und Herren, alle Inhalte des Vertrages tragen wesentlich zur Sicherheit in der Welt bei und sind deshalb auch in diesem Hause nicht umstritten. Die 6. Überprüfungskonferenz am Sitz der Vereinten Nationen in New York von Ende April bis Mitte Mai ist auch aus unserer Sicht, Herr Professor Weisskirchen, ein wichtiger Schritt im Hinblick auf mehr Sicherheit in der Welt und auf die Fortsetzung der Abrüstung der Nuklearpotenziale. Dass es heute nicht zu einem Konsens zwischen uns kommt, liegt nicht daran, dass wir dieser Überprüfungskonferenz nicht allen Erfolg wünschen, sondern daran, dass Sie einen Antrag vorgelegt haben, der in vielen Punkten nicht konsensfähig ist. Darum geht es; das möchte ich an einzelnen Beispielen darlegen. ({2}) Wir stimmen der Zielsetzung zu, die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg zu führen. Wir stimmen allerdings zum Beispiel Punkt 7 Ihres Antrages in dieser undifferenzierten Form nicht zu, in dem die Schaffung von kernwaffenfreien Zonen, verknüpft mit einem Nichtverbreitungsvertrag, gefordert wird. Aus unserer Sicht führt die Deklarierung von atomwaffenfreien Zonen - man erinnert sich an die Sprache der Vergangenheit ({3}) nicht automatisch zu mehr Sicherheit vor Nuklearwaffen. Eine freiwillig verkündete oder gar eine von außen aufgezwungene atomwaffenfreie Zone kann mehr Sicherheit schaffen. Sie kann aber auch die Abhängigkeit des jeweiligen Landes oder einer Region von dem Wohlwollen eines Nuklearstaates erhöhen. Eine atomwaffenfreie Zone bedeutet nicht generell eine Perspektive für mehr Sicherheit, wenn andere ihre Nuklearwaffen behalten. ({4}) - Frau Beer, ich glaube, Sie können noch viel aus dieser Debatte lernen, wenn Sie genau zuhören. ({5}) Natürlich wissen wir, dass es auch in unserem Interesse liegt, Staaten und Kontinente wie etwa Südamerika, von denen Herr Weisskirchen gesprochen hat und in denen es keine Nuklearwaffen gibt, in diesem Status zu belassen. Das ist auch Ziel unserer Politik. Wir wenden uns aber dagegen, dass der Begriff atomwaffenfreie Zone - man muss sich diesen Begriff einmal auf der Zunge zergehen lassen; er wurde während des Kalten Krieges von der Sowjetunion arg strapaziert; so lange liegt es noch gar nicht zurück ({6}) ein Jahrzehnt nach dem Ende dieses Konfliktes wieder in der Politik auftaucht. Auch mit Sprache kann man Politik machen und Bewusstsein prägen. Darauf wollen wir hinweisen. ({7}) Ich weiß, dass Sie jetzt mit dem Begriff Sicherheitsgarantie gegenüber Nichtkernwaffenstaaten kontern auch das ist in Ihrem Antrag enthalten -, mit dem Staaten und Menschen in atomwaffenfreien Zonen suggeriert wird, allein ein Stück Papier, ein Vertrag, sei im Laufe der Geschichte ein Garant für Sicherheit vor Nuklearwaffeneinsatz und für territoriale Unverletzlichkeit. Dieser Begriff der Sicherheitsgarantie war schon vor 1990 Gegenstand der Politik. Wäre es der Sowjetunion damals mit diesen verlockenden Angeboten gelungen, einzelne NATO-Staaten aus dem Bündnis herauszubrechen, dann wäre es in diesem Bereich nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit der betroffenen Staaten gekommen. Dem wirkte einzig und allein die Nukleargarantie der NATO entgegen. Über mehr als 50 Jahre war und ist dies der eigentliche Garant für die Sicherheit und für die Stabilität in Europa. ({8}) Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich möchte jetzt die ansprechen, Herr Weisskirchen, die diesen Antrag formuliert haben. Haben diejenigen, die diesen Antrag formuliert haben und die hier um Zustimmung werben, Frau Beer, überlegt, welche Sicherheitsgarantien ein Staat gegenüber einem Nichtkernwaffenstaat übernimmt, wenn er eine so unpräzise Formulierung, wie sie in diesem Vorschlag enthalten ist, unterschreibt? Muss der Sicherheitsgeber dann, so frage ich Sie, in jedem Fall als Garant eintreten, wenn ein Angriff auf einen Nichtkernwaffenstaat erfolgt? Wie weit gehen die vertraglichen Bindewirkungen und die Sicherheitsgarantien? Wird hier ein Automatismus vereinbart? - Sehen Sie, das ist es, was uns an diesem Antrag stört: unklare, unpräzise Formulierungen und ihre vielleicht fatalen Folgewirkungen. ({9}) - Wenn Sie Ihren Zuruf beendet haben, setze ich meine Rede fort. Die funktionierende Nuklearstrategie der NATO ist seit vielen Jahren der Garant für unsere Sicherheit. Die rotgrüne Koalition fordert in diesem Antrag die Offenlegung aller Nukleardoktrinen, also auch die der NATO. Auch das ist ein undifferenziert vorgetragenes Argument, dem wir in dieser sehr auslegungsfähigen und damit missverständlichen Form nicht zustimmen können. Gewiss ist es die Politik der NATO, seit dem Ende des Kalten Krieges mit Offenheit und Transparenz zum Abbau von Spannungen beizutragen und so das jahrzehntelang vorhandene Misstrauen zwischen den Militärbündnissen abzubauen. Aber die Frage ist doch: Was heißt Offenlegung? Kann sie so weit gehen wie zum Beispiel im Kosovo-Konflikt, dass nämlich sämtliche Schritte und Maßnahmen der Allianz gegen den Aggressor Milosevic groß und breit in allen Medien diskutiert wurden, bevor überhaupt eine militärische Aktion erfolgte? General Naumann hat dazu sehr beeindruckend Stellung genommen und darauf hingewiesen, dass Milosevic aufgrund der öffentlichen Diskussion bereits abends wusste, was am nächsten Tag militärisch geschehen sollte. Wenn die rot-grüne Koalition - ich muss sagen: mehr oder weniger geschickt und undifferenziert - die Offenlegung der Nuklearstrategie der NATO in den Zusammenhang des Nichtverbreitungsvertrages hineinmogelt, dann kann das nur stutzig machen und vielleicht auch den Grund haben, dass man letztlich die Abschaffung dieser Strategie erreichen will. HerrStaatsminister, ichwilldanichtnachtarocken,nicht nachsetzen, aber icherinneredochandenVorstoß IhresMinisters im letzten Jahr bei der Jubiläumstagung der NATO, als er versucht hat, die Erstschlagoption der NATO abzuschaffen und aus der Bündnisstrategie herauszukippen. Ein Jahr später, heute, ist Russland dabei, sich aus dieser jahrzehntelangen Tradition zu verabschieden, nämlich den Verzicht auf den nuklearen Erstschlag aufzugeben und abzuschaffen. Das muss Sie doch nachdenklich stimmen, nachdem Sie gerade im letzten Jahr noch versucht haben, Herr Staatsminister Volmer, genau dies zu erreichen und das Bündnis in diesem Punkt zu schwächen. Das nur als Ergänzung dazu, dass im vergangenen Jahr über die Initiativen des grünen Außenministers im Bündnis Irritationen und große Differenzen entstanden sind. Wir wollen die NATO als Garant unserer Sicherheit in vollem Umfang erhalten und fortentwickeln. Wir wenden uns, Frau Beer, Herr Weisskirchen, auch gegen den Schlussabsatz des zweiten Abschnitts Ihres Antrags, in dem von einem „Prüfprozess“ die Rede ist. Der in der NATO eingeleitete Prüfprozess in Bezug auf die Nuklearstrategie kann und darf nach unserer Überzeugung nicht dazu führen, dass die NATO-Strategie Stück um Stück demontiert wird. Rot-Grün rufe ich zu: Sie dürfen nicht einmal imAnsatz den Eindruck erwecken, dass NATO und nukleare Abrüstung einen Gegensatz darstellen. Denn die NATO hat mit den unterschiedlichenAbrüstungsabkommen gezeigt, dass sie bereit und fähig ist, ihr Nuklearpotenzial wesentlich zu verkleinern. Seit Ende der 80er-Jahre wurden die nuklearen Mittelstreckenraketen und die nuklearen Gefechtsfeldwaffen vollständig aus dem europäischen NATO-Gebiet abgezogen. Auch die Zahl der noch verbliebenen Nuklearwaffen ist wesentlich reduziert worden. Der Antrag der rot-grünen Koalition ist von unserer Seite nicht zustimmungsfähig. Ich sage noch einmal: Dafür tragen Sie die politische Verantwortung, weil Sie im Vorfeld nicht den Versuch gemacht haben, hier zu einem Konsens zu kommen. Entfernen Sie alles, was unsere Solidarität mit unseren NATO-Partnern infrage stellt! Mischen Sie nicht Äpfel mit Birnen, indem Sie den Eindruck erwecken, die NATO sei eher ein Hindernis auf dem Weg zu weniger Nuklearwaffen in der Welt! Genau diesen Eindruck erweckt dieser Antrag. Sagen Sie doch, dass die NATO Tausende von Nuklearwaffen abgezogen und verschrottet hat und dies beispielhaft für wirkliche Abrüstung weltweit ist! Seien Sie ehrlich und geben Sie zu, dass Sie sich mit diesem Antrag mit politischen Gegnern anlegen wollen, indem Sie zwei eigentlich nicht miteinander zu vereinbarende Dinge mischen und so den Zwang erzeugen, dass wir zustimmen, wenn wir von Ihnen nicht anschließend als Gegner des Nichtverbreitungsvertrages bezeichnet werden wollen. Wir sind keine Gegner, denn wir wollen den Erfolg dieser Konferenz - um das noch einmal zu sagen. Ich möchte deswegen abschließend für meine Fraktion festhalten: uneingeschränktes Ja zu dem Nichtverbreitungsvertrag und zum Teststoppvertrag; das ist völlig klar. ({10}) Nein aber zu Ihrer Absicht, in einer ganz undifferenzierten und nicht hinnehmbaren Weise Politikinhalte wie die atomwaffenfreien Zonen und die Nuklearstrategie der NATO mit dem Nichtverbreitungsvertrag in Zusammenhang zu bringen, die besser auch in Zukunft differenziert und mit Augenmaß betrachtet werden sollten. Meine Damen und Herren, das sind die Gründe, aus denen wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir fordern Sie auf, wenn Sie dies wollen und politisch für richtig halten, den Antrag zurückzuziehen und mit uns zusammen einen neuen Antrag zu formulieren, ({11}) der alle Zweifel beseitigt, vollständige Klarheit schafft über Absichten und Wirkungen, zu denen wir uns bekennen. ({12}) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Lamers, nur so viel: Ich finde es schwierig, dass Sie in einer aktuellen Situation, die überaus problematisch ist - ich werde gleich etwas dazu sagen -, versuchen, übrigens zum ersten Mal seit Jahren im Deutschen Bundestag, aus der Frage der Nichtweiterverbreitung und der nuklearen Abrüstung parteipolitisches Kalkül zu ziehen. ({0}) Das ist ein Rückschritt im nationalen Verständnis Dr. Karl-A. Lamers ({1}) ({2}) über die Notwendigkeit der Reduzierung der Atomwaffen. Dann zu dem, was Sie hier gegen atomwaffenfreie Zonen angeführt haben: Nennen Sie mir doch einmal die Nachteile für eine Region, die zum Glück noch atomwaffenfrei ist. Diese Ideologie, die Sie heute angeführt haben, ist ein Abschied von der Rüstungsbegrenzung und der Rüstungskontrolle. Das sind Alarmzeichen. - So weit dazu. Die Situation ist ernst; ich will nur auf die Eckpunkte eingehen: Ich erinnere an unsere Debatte vor fünf Jahren, vor der letzten Überprüfungskonferenz, in der wir gemeinsam die Gefahren und Risiken, aber auch die großen Chancen formuliert haben. Ich glaube, dass man konstatieren muss, dass die Rüstungskontrolle in diesem Bereich heute in einer Krise steckt, die sich möglicherweise auch auf der bevorstehenden NVV-Konferenz deutlich zeigen wird. Ich stelle fest, dass die Lage der atomaren Abrüstung und Rüstungskontrolle Besorgnis erregend ist. Ich möchte gerne die wenigen Punkte, die dafür entscheidend sind, nennen. Nun kann nicht allein das Verhalten der Kernwaffenbesitzer als Grund für diese destabile Situation genannt werden, obwohl wir natürlich nach wie vor fordern, dass sich die so genannten Havens endlich an der Verpflichtung aus dem Art. VI orientieren und weiter nuklear abrüsten. Es ist natürlich eine Tatsache, dass Staaten wie der Irak, Nordkorea oder Libyen versuchen, in den Besitz von Kernwaffen zu kommen, bzw. durch die Vergrößerung von Reichweiten tatsächlich eine Bedrohung in den Bereichen Proliferation und Angriff darstellen. Diese Probleme darf man nicht negieren. Man muss sich mit ihnen auseinander setzen. Sie sind eine sicherheitspolitische Destabilisierung für die jeweiligen Regionen der Länder. Wir haben die indischen und pakistanischen Atomtests erleben müssen, die wider alle Vernunft die nukleare Karte regionalpolitisch missbraucht haben und dadurch das Nichtverbreitungsregime gefährden. Wir raten aber zum rationalen, vernünftigen Umgang mit diesen Entwicklungen. Das heißt aus unserer Sicht zunächst der Verzicht auf die Dämonisierung der so genannten Schurkenstaaten und die Stärkung der rüstungskontrollpolitischen Elemente. Herr Lamers, das hätte ich heute von Ihnen erwartet. Ein Regime, das vom Scheitern bedroht ist, kann man doch nicht in der Form, wie Sie es gemacht haben, parteipolitisch an die Wand reden. ({3}) Wir müssen aber auch sehen, dass der republikanisch dominierte US-Kongress den Abschluss eines Vertrages über einen Atomteststopp verweigert hat, dass er ihn blockiert und dass die Vereinigten Staaten möglicherweise durch die National Missile Defense Initiative den ABM-Vertrag gefährden. Den ABM-Vertrag zu gefährden heißt, die gesamte nukleare Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik möglicherweise zum Scheitern zu bringen. Überlegen Sie doch einmal, welche Folgen das hat! Herr Kollege Lamers, Sie können sich freuen, wenn Sie in Zukunft überhaupt noch irgendwo eine atomwaffenfreie Zone finden. Doch auch die russische Position - das will ich hier noch ansprechen - ist nicht frei von Ambivalenzen. Kollege Weisskirchen hat die Duma angesprochen. Sie hat bisher den START-Prozess blockiert. Wir hoffen inständig, dass morgen tatsächlich eine Wende dieser Blockade erfolgt und die Ratifizierung gelingt. ({4}) Damit wäre der Weg für START III frei. Doch wir müssen auch nach den Motiven dafür fragen. In Russland wie in den USA wird über eine neue Rolle von Atomwaffen nachgedacht. Solange Atomwaffen noch einen hohen Prestige- und Statuscharakter haben, fällt es dem wirtschaftlich angeschlagenen Russland, dessen Rüstungsindustrie noch zu den intakten Bereichen gehört, schwer, auf diese Waffen zu verzichten. Russland übernimmt im Moment spiegelbildlich die Strategie des Westens aus dem Ost-West-Konflikt - nicht zuletzt als Reaktion auf die Erweiterung der NATO. Wir müssen uns konfliktreich, aber im Dialog, mit dem Hochschaukeln von Rüstungspotenzialen aus den Zeiten des Kalten Krieges auseinander setzen. Wir müssen uns sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Russen ins Benehmen setzen. Kollege Lamers, gerade uns als einem Land, das ganz bewusst für immer auf den Besitz eigener Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, steht es doch an, bei diesen gefährlichen Entwicklungen den Zeigefinger mahnend, wenn auch in Kooperation, zu erheben. Vor dem Hintergrund dieser Problembeschreibung sollten wir uns in dem genannten Bereich insbesondere um Folgendes bemühen - ich appelliere an Sie mitzumachen -: Die Atomwaffen besitzenden Staaten müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und das Gebot aus dem NVV endlich umsetzen. ({5}) Wir müssen uns für die Universalisierung der bestehenden nuklearen Rüstungskontrollverträge, insbesondere bei Indien und Pakistan, einsetzen, um neue Eskalationen zu verhindern. Der NATO-Prüfprozess zur Nuklearstrategie, den der Kollege Lamers - ich will nicht „verpennt“ sagen - verschlafen hat, ({6}) muss sich an den Zielen des NVV orientieren. Es sind kritische Töne auch innerhalb der NATO gehört worden. Sie haben dazu geführt, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden ist. Auch die NATO hat ein Interesse daran, von einer neuen Nuklearpolitik, die nicht mehr zu bändigen ist, Abstand zu nehmen. Deswegen ist sie gehalten, sich an den Abrüstungsprozess zu halten. Dort gibt es einen Konsens, den Sie heute gebrochen haben. Das ist schade. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gert Weisskirchen hat natürlich Recht, dass wir bei Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik die Gemeinsamkeiten betonen sollen. Deswegen will ich zu Beginn deutlich machen, was uns verbindet. Allerdings werde ich am Schluss auch deutlich machen müssen, weswegen wir dem vorgelegten Antrag nicht zustimmen können. Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen war das erste grundlegende Abkommen zur Abrüstung in der Welt überhaupt. Im Jahr 1968 fürchteten viele - übrigens zu Recht -, dass statt der damals fünf Atommächte wohl bald bis zu 30 Staaten im Besitz von Atomwaffen sein würden, wenn sich nicht nahezu die ganze Welt darauf verständigte, keinen weiteren Staaten den Zugang zu Atomwaffen zu ermöglichen. Der Vertrag wurde in der Tat zur Erfolgsstory. 187 Staaten sind ihm beigetreten - darunter auch Länder wie Argentinien, Brasilien und Südafrika, aber auch die Ukraine, Kasachstan und Weißrussland. Das sind Staaten, die entweder schon Atomwaffen hatten oder doch sehr nahe daran waren. Nur Indien, Israel, Pakistan und Kuba haben sich bisher noch nicht angeschlossen. Die Unterschrift unter den Vertrag gibt allerdings noch keine hundertprozentige Gewissheit über das Verhalten des unterschreibenden Staates, wie Entwicklungen im Irak oder in Nordkorea deutlich machen. Dennoch sind seit dem Abschluss dieses Vertrages die Nukleargefahren für die Welt ohne Zweifel geringer geworden. ({0}) Dass die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie Japan - zwei wirtschaftlich starke Nationen mit großem wissenschaftlichen Know-how - auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet hat, hat viele kleinere Staaten ermutigt, ihrem Beispiel zu folgen. Dies war gut für den Weltfrieden, denn noch immer verbinden manche Staaten mit dem Besitz von Atomwaffen die Vorstellung, sie würden damit wichtiger, mächtiger oder gar sicherer. Das geistige Umweltgift des Nationalismus ist wohl die zentrale Triebfeder, die Staaten wie Indien und Pakistan mit ihrem Dauerzankapfel Kaschmir trotz immenser Kosten in die Entwicklung von Atombomben getrieben hat. Nicht unerwartet hatte Präsident Clinton bei seinem Besuch in Indien vor wenigen Wochen keinen Erfolg, als er die Inder aufforderte, von ihrem Atomrüstungsprogramm abzulassen. Konnte doch Indien darauf verweisen, dass es viermal so viele Einwohner wie die USA hat, die ihrerseits nach wie vor ein riesiges Atomwaffenarsenal unterhalten und den Atomtestverbotsvertrag nicht ratifiziert haben. Dieses Beispiel zeigt, dass die nach dem Vertrag in Kauf genommene Aufteilung der Welt in Waffenbesitzer und Habenichtse durchaus problematisch ist. Dieses Konzept ist aber wohl noch auf lange Sicht ohne Alternative. Die USA erschweren durch ihre nationale Politik des letzten Jahres die Bemühungen, den Nichtverbreitungsvertrag endgültig zum Erfolg zu führen. So haben die Weigerung des Senats, den Atomtestverbotsvertrag zu ratifizieren, und die Erklärung der führenden Politiker der USA, in Abweichung vom ABM-Vertrag ein Antiraketensystem auf amerikanischem Boden zu installieren, genau die falschen Signale gegeben. Wenn sich schon die Supermacht USA trotz ihrer weltweit konkurrenzlosen Ressourcen und trotz ihres Arsenals an Atomwaffen und Trägerraketen bedroht fühlt, so stärkt die Beobachtung dieses Umstands die Bedenken anderer Nationen, ob man auf scheinbare zusätzliche Sicherheit durch eigene Raketenprogramme oder gar Atombomben verzichten kann. In dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen werden all diese Gefahren erkannt und es wird insoweit der Wille ausgedrückt, die Abrüstungspolitik der Vorgängerregierung fortzusetzen. Die F.D.P. kann diesem Antrag dennoch aus folgenden Gründen nicht zustimmen: Erstens. In diesem Antrag werden kernwaffenfreie Zonen als ein geeignetes Mittel zur Festigung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet. Ich frage die SPD: Was hat Sie geritten, dass Sie diesen Problembegriff, der, da er aus der Zeit des Kalten Krieges stammt, sehr negativ besetzt ist, wieder aufgenommen haben? ({1}) Wo sollen denn welche kernwaffenfreien Zonen errichtet werden? In Afrika, Südamerika oder vielleicht nicht doch auch in Westeuropa? ({2}) Damit würden wir die Flexibilität der NATO-Strategie aufgeben, die uns während des Kalten Krieges den Frieden bewahrt hat. Warum denn überhaupt diese geographische Einengung auf Zonen? Wir halten an der Vision des Vertrages im Hinblick auf eine kernwaffenfreie Welt fest und wir wollen auf dem Weg dorthin dafür sorgen, dass außer in den jetzigen fünf Kernwaffenstaaten und auf dem NATO-Gebiet nirgends Kernwaffen stationiert werden. Wozu dann noch die Festlegung von Zonen? Das ist nicht hilfreich. Wir wollen auch nicht, dass nach dem unglückseligen Versuch des Außenministers Fischer, den NATO-Partnern sein völlig untaugliches Konzept des Verzichts auf die Option eines atomaren Ersteinsatzes und damit eine grundlegende Änderung des strategischen Konzeptes aufs Auge zu drücken, neuerlich Irritationen von Deutschland aus in die NATO gebracht werden. ({3}) Wir wollen es Bundesminister Scharping gerne ersparen, erneut Wogen im transatlantischen Verhältnis glätten und die vom deutschen Außenminister angefachten Kohlen aus dem Feuer holen zu müssen. ({4}) Die NATO-Strategie ist vor einem Jahr neu gefasst, aktualisiert und einmütig beschlossen worden. Die Sicherheitspolitiker der SPD haben bisher keinen Zweifel daran gelassen, dass sie zu diesem strategischen Konzept stehen. Sie sollten jetzt nicht einen Antrag einbringen, der ernsthafte Zweifel daran erkennen lässt. ({5}) Die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist längst nicht mehr nur ein Thema der Vereinbarung von Staaten, die früher die absolute Kontrolle über diese Waffen hatten. Kein Mensch weiß, wo exakt jeder Einzelne der circa 20 000 Gefechtsköpfe herumliegt, die die Sowjetunion ihren Nachfolgestaaten hinterlassen hat. Internationaler Terrorismus und eine fehlende berufliche Perspektive von Menschen, die Zugang zu spaltbarem Material und zu Atomwaffen hatten, stellen mittlerweile wohl das größte Gefahrenpotenzial im Bereich der Kernwaffen dar. Hierzu wird in dem vorliegenden Antrag nichts gesagt. Das gemeinsame Vorgehen aller Vertragsstaaten bei der Verhinderung von quasi privater Verbreitung von Atomwaffen ist aber das Gebot der Stunde. Die Konferenz in New York muss sich auch hiermit beschäftigen - und dies mit allem Nachdruck. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heidi Lippmann von der PDS-Fraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Wir werden den Regierungsantrag unterstützen, da in Abschnitt I unter den Punkten 1 bis 7 viele richtige und auch wichtige Aspekte aufgeführt sind. Zusätzlich aber haben wir einen eigenen Entschließungsantrag eingebracht, ({0}) weil wir einige Dinge klarer ansprechen wollen und uns ein konsequenteres Verhalten der Bundesregierung wünschen. Unter I. 6. des Regierungsantrags steht, dass der ABMVertrag „eine Grundvoraussetzung für Fortschritte nuklearer Abrüstung“ sei. Dies ist vollkommen richtig, das unterstützen wir. Da aber die USAgegenwärtig dabei sind, diesen Vertrag durch den geplanten Aufbau einer nationalen Raketenabwehr auszuhebeln - das wurde schon von den Kollegen angesprochen -, bedeutet dies das Ende dieses Eckpfeilers der Rüstungskontrolle; und das zieht unweigerlich eine neue Aufrüstungsspirale im Bereich der Kernwaffen nach sich. Auch wir hoffen, dass die Duma den START-II-Vertrag ratifizieren wird, doch die Gefährdung des ABM-Vertrages durch das National-Missiles-Defense-Program bleibt natürlich bestehen. Herr Kollege Lamers, auf Ihre Rede hin möchte ich Ihnen doch einmal empfehlen, sich mit der neuen Nukleardoktrin der Russen auseinander zu setzen, ({1}) die Putin am 4. Januar dieses Jahres verabschiedet hat. Dann werden Sie sehen, dass Ihre Interpretation nicht ganz zutreffend ist. - Wir wollen, dass dies unmissverständlich ausgedrückt und nicht herumgeeiert wird. Dieselbe Kritik betrifft Punkt II des Regierungsantrages. Darin wird die „Fortentwicklung der Sicherheitsgarantien gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten zu einem vertraglich abgesicherten Instrument“ gefordert. Das ist gut und schön, wir unterstützen dies auch. Aber alle Fachleute wissen, dass die neue Nukleardoktrin der USA den Einsatz von Kernwaffen gegen Staaten, die sich B- oder C-Waffen zulegen wollen oder im Verdacht stehen, solche Waffen herzustellen, zumindest nicht ausschließt. Das aber verstößt gegen die Sicherheitsgarantien, die lauten, dass Kernwaffen unter keinen Umständen gegen Nichtkernwaffenbesitzer eingesetzt werden dürfen. Man müsste sich also auch in diesem Punkt mit den USAanlegen. Genau dies ist im Regierungsantrag nicht so deutlich enthalten. Deswegen wünschen wir uns hier eine Verstärkung. Herr Staatsminister, sollten Sie an der Konferenz in New York teilnehmen, so hoffe ich, dass Sie dies mit auf Ihren Weg nehmen. Dasselbe Spiel haben wir auch beim dritten Spiegelstrich, bei der Überprüfung der Nukleardoktrinen „auf ihre Vereinbarkeit mit dem Ziel der Abrüstung und Nichtverbreitung“. Man kann sich vorstellen, dass hier gerade an die Infragestellung der Ersteinsatzoption der NATO gedacht ist. Aber nachdem man in der NATO mit einem ersten Vorstoß schmählich gescheitert ist, wird, statt Klartext zu sprechen, auch an dieser Stelle verwässert. Wir wollen, dass die Regierung in dieser Sache beharrlich dranbleibt. Wer den Ersteinsatz von Atomwaffen ins Kalkül zieht, kann nicht glaubhaft an der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle arbeiten. ({2}) Im Unterschied zur Regierung wollen wir ein praktisches Bemühen um nukleare Abrüstung sehen. Alle in Deutschland stationierten Sprengköpfe müssen abgezogen bzw. verschrottet werden, und das schnellstmöglich. ({3}) Es genügt nicht, kernwaffenfreie Zonen zu einem probaten Mittel zu erklären - so steht es im Regierungsantrag -; man muss dies vielmehr in konkrete Schritte umsetzen. Ich denke, dass wir uns bei dieser Forderung einig sind. Hildebrecht Braun ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließlich sollte die Bundesregierung unseres Erachtens das Bemühen um die vollständige nukleare Abrüstung dadurch unterstreichen, dass alle Formen der so genannten nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO aufgekündigt werden. Das würde die Glaubwürdigkeit des Engagements gegen den atomaren Rüstungswahnsinn erheblich erhöhen. Wir werden Ihrem Antrag zustimmen. Wenn Sie unseren Antrag als Verstärkung und Ergänzung unseres gemeinsamen Bemühens verstehen - damit spreche ich die linke Seite des Hauses an -, dann dürfte es Ihnen nicht allzu schwer fallen, unserem Antrag zuzustimmen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Herrn Staatsminister Ludger Volmer das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Ende des Kalten Krieges hat sich für uns in Europa das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch Kernwaffen drastisch verringert. Damit ist für viele die Bedeutung des 30 Jahre alten nuklearen Nichtverbreitungsvertrags in den Hintergrund getreten. Leider gilt dies nicht für andere Regionen der Welt. Die indischen und pakistanischen Nukleartests vom Mai 1998 waren ein herber Rückschlag, mit dem sich die Staatengemeinschaft nicht abfinden wird. Die nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung sind heute ebenso wichtig wie zu Zeiten des Kalten Krieges. ({0}) Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahre 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Allerdings stehen vier Länder, nämlich Kuba, Indien, Israel und Pakistan, dem Vertrag immer noch fern. Die Bekämpfung der nuklearen Proliferation und die Fortführung der nuklearen Abrüstung werden nur zu erreichen sein, wenn auch diese Staaten dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beitreten. Die Universalität des Vertrages bleibt das vorrangige Ziel. Auf der bevorstehenden Überprüfungskonferenz werden wir uns nachdrücklich darum bemühen, dieses Ziel zu erreichen. Das nukleare Nichtverbreitungsregime ist aber auch durch andere Entwicklungen erheblich belastet worden. Dazu gehören vor allem die im Irak aufgedeckten Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen sowie die Entwicklung weitreichender militärischer Raketentechnologie in verschiedenen Ländern. Sie wirkt politisch sehr destabilisierend, weil sie dem Verdacht auf die mögliche Existenz geheimer Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen neuen Auftrieb geben könnte. Im Gegensatz zur konventionellen Rüstungskontrolle, bei der unsere Abrüstungsbemühungen zu Erfolgen wie der Anpassung des KSE-Vertrages führten, sieht es im nuklearen Bereich leider weniger gut aus. Die Genfer Abrüstungskonferenz stagniert. Der Atomtestverbotsvertrag konnte bisher nicht in Kraft treten, weil wichtige Staaten den Vertrag noch nicht ratifiziert haben. Ebenso kritisch steht es um die Aufnahme von Verhandlungen über das Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen oder anderen Kernsprengkörpern, die so genannten Cutoff-Verhandlungen. Die Bundesregierung verstärkt daher ihren Appell an alle beteiligten Staaten, diesen Stillstand jetzt zu überwinden. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die zwar nicht proliferationsrechtliche, aber proliferationspolitische Problematik von Forschungsreaktoren, in denen hoch angereichertes Uran verwendet wird. Die rasche Fortsetzung der nuklearen Abrüstung ist von überragender Bedeutung. Zwar haben die USA und Russland ihre nuklearen Arsenale nach dem Ende des Kalten Krieges mehr als halbiert und Frankreich sowie Großbritannien einseitige Abrüstungsschritte unternommen. Aber seit der letzten Überprüfungskonferenz stockt der Prozess. Dies liegt vor allem daran, dass die russische Duma dem START-II-Vertrag bisher ihre Zustimmung versagt hat. Wir freuen uns daher über aktuelle, hoffnungsvolle Zeichen, dass die Duma den START-II-Vertrag am morgigen Freitag endlich ratifizieren will. ({1}) Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass sich zentralasiatische Staaten, die früher der Sowjetunion angehörten, nun zu atomwaffenfreien Zonen erklärt haben. Mit der Duma-Entscheidung wäre der Weg für weitere substanzielle Abrüstungsschritte im Rahmen eines zukünftigen START-III-Vertrages frei, der unmittelbar anschließend in Angriff genommen werden sollte. Dies wäre ein positives Signal für die Überprüfungskonferenz von New York. Neben einer umfangreichen Bestandsaufnahme wird man dort hauptsächlich Wege aufzeigen müssen, wie den wachsenden Gefahren der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel, vor allem der nuklearen Waffen, zukünftig wirksamer begegnet werden kann. Die Bundesregierung setzt dabei weiterhin in erster Linie auf politische und diplomatische Mittel, das heißt die Stärkung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge sowie der darauf aufbauenden Exportkontrollsysteme. ({2}) Die Verträge müssen universelle Geltung erhalten sowie umfassend implementiert und zuverlässig verifiziert werden. Militärische Mittel dagegen können erst dann Bedeutung erlangen, wenn alle anderen Instrumente versagt haben. Ihre Einführung darf jedoch vorhandene Abrüstungsund Rüstungskontrollverträge nicht in ihrer Substanz gefährden. Sie darf nicht dazu führen, dass neue nukleare Rüstungsspiralen in Gang gesetzt werden. ({3}) Dies gilt auch konkret für den ABM-Vertrag, über dessen Zukunft zwischen Russland und den USA gegenwärtig gesprochen wird. Wir meinen, dass dies einvernehmlich geschehen und eine Vertragsanpassung nur gemeinsam mit weiteren substanziellen Abrüstungsschritten im Rahmen eines zukünftigen START-III-Vertrags realisiert werden sollte. Auf der Überprüfungskonferenz sollten daher konkrete Maßnahmen zur Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung im Vordergrund stehen. Ziel ist ein realitätsadäquater Katalog praktischer Schritte in einem einvernehmlich beschlossenen Abschlussdokument. Besonders wichtig wird dabei die enge Zusammenarbeit mit unseren EU-Partnern sein. Auf unsere Initiative hin gelang es zum ersten Mal, zu einer gemeinsamen Position der EU zu Fragen der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung zu kommen, die voraussichtlich heute Nachmittag formell beschlossen wird. Dies gibt der EU neuen Handlungsspielraum und setzt ein wichtiges Beispiel für die Vertragsstaatengemeinschaft. Die EU selber wird so auf der Überprüfungskonferenz wesentlich besser dazu beitragen können, zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Die Bundesregierung wird sich - hoffentlich mit Unterstützung des gesamten Hauses - auch weiterhin für das Ziel der vollständigen Abschaffung aller Atomwaffen einsetzen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungs- vertrag zum Erfolg führen“, Drucksache 14/3163. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2908 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- onsfraktionen und der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3190 mit dem Titel „Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ab- gelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldzustandsbericht der Bundesregierung 1999 - Ergebnis des forstlichen Umweltmonitoring - Drucksache 14/3090 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1}) - zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Hilfsprogramm für die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den Orkan „Lothar“ - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Rasche und wirksame Hilfe für Waldbesitzer - zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Wright, Iris Follak, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Winfried Hermann und der Fraktion BÜNDNIS90/ DIE GRÜNEN Waldschäden durch die Orkane im Dezember - Drucksachen 14/2570, 14/2583, 14/2685, 14/3045 Berichterstattung: Abgordneter Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der diesjährigen Walddebatte, die heute am späteren Abend noch durch die Debatte zum Tropenwaldbericht ergänzt wird, begleitet uns die Erkenntnis, dass trotz Anstrengungen zwar geringfügige Verbesserungen beim Waldzustand erreicht werden konnten, weitere Anstrengungen jedoch kontinuierlich nötig sind und keinesfalls Entwarnung gegeben werden kann. Um es vorweg und unumwunden zu sagen: Der Waldzustandsbericht des Jahres 1999 zeigt weiterhin einen kritischen Waldzustand. Dennoch meine ich - das will ich gerne detailliert ausführen -: Die Bundesregierung ist auf einem guten Wege, durch Ansätze in verschiedenen Politikbereichen den Waldzustand bzw. auf diesen einwirkende Kriterien zu verbessern. Natürlich freuen wir uns über jeden einzelnen Lichtblick, über jede Verbesserung, so zum Beispiel darüber dass der Anteil der deutlichen Schäden in keiner Baumart mehr den höchsten Stand hat. Hingegen will ich aber auch nicht negieren, dass der Anteil der Bestände ohne Schäden bei der Buche bei lediglich 21 Prozent und bei der Eiche bei nur 20 Prozent liegt, also erschreckend hoch ist. Jeden, der glaubt, sich an den kritischen Waldzustand gewöhnen zu können, oder sich diesen besser redet als er ist, jeden, der glaubt, Umweltverbesserungsmaßnahmen seien nicht mehr oben auf die Tagesordnung zu setzen, kann ich nur warnen: ({0}) Der Waldzustand hat sich zwar nicht verschlechtert, aber von einer Verbesserung zu reden wäre bereits übertrieben. Insbesondere die anhaltend negativen Ergebnisse der Bodenzustandserhebung im Wald müssen aufschrecken. Hier ist nicht weniger festzustellen als eine flächendeckende Versauerung, eine Disharmonie im Verhältnis von Kohlenstoff zu Stickstoff ({1}) und eine kritische Konzentration von Schwermetallen. Dies gefährdet nicht nur die Stabilität des Waldes maßgeblich, sondern kann auch zu einer Gefährdung von Quell- und Grundwasser führen. Somit ist nachdrücklich festzuhalten, dass Wald natürlich weit mehr als die Summe der Bäume ist. Gerade die Multifunktionalität des Waldes ist nicht hoch genug zu schätzen und die Anstrengungen zum Schutz des Waldes dürfen uns nicht hoch genug sein. ({2}) Es ist, verehrte Kollegen der Opposition, absolut schädlich, die Ökosteuer zu diffamieren, anstatt sie als kreativen Anstoß ({3}) zur Reduzierung des Treibstoffverbrauchs im individuellen Kfz-Verkehr zu begreifen. ({4}) Es genügt auch nicht, sich immer wieder vorzubeten, unsere deutschen Umweltschutzauflagen und -maßnahmen seien ausreichend oder gar überzogen, die Düngemittelverordnung zur Minderung von Stickstoffeinträgen sei jetzt absolut ausgereizt. Es genügt nicht, sich vorzubeten, die deutsche Forstpolitik, die sehr föderal gestaltet ist, also die bayerische und die niedersächsische Waldbaupolitik, sei eh so gut, dass sie gar nicht verbessert werden könnte. ({5}) Das ist alles nicht so gut. Gut sein heißt nicht, nicht noch besser werden zu können. ({6}) Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieber Herr Minister Funke, müssen wir: noch besser werden. Besser kann man nur werden, wenn man sich selbst in die Pflicht nimmt, sich aber auch von außen reinschauen und kontrollieren lässt. Ich spreche die Zertifizierung an. Erst hat sie keiner gewollt. Es hieß: Brauchen wir nicht, weil wir eh die Besseren sind, wollen wir nicht, weil es uns nichts bringt und uns nur Mühe macht, bekommen wir nicht, weil wir eh die Mehrheit haben. Das war einmal. Wir brauchen die Zertifizierung, wir wollen sie und wir bekommen sie. ({7}) Hier danke ich dem Ministerium, das sich eingesetzt und verdient gemacht sowie moderierend die Zertifizierungsdiskussion positiv begleitet und vorangebracht hat. ({8}) Zeit, sehr verehrter Herr Kollege Ronsöhr, Freiherr von Schorlemer, wurde allemal vertan. Denn bis zum Regierungswechsel waren die Abwehrmechanismen festgezurrt. Für mich ist das Thema Zertifizierung keineswegs abgehakt. Wir bekommen die Zertifizierung, weil der Markt sie nachfragt. Aber das darf es nicht gewesen sein. Zertifizierung ist keinesfalls Selbstzweck, sondern Ziel und Hintergrund müssen die Fortentwicklung der Nachhaltigkeit und die angemessene Verbesserung der ökonomisch, ökologisch und sozial relevanten Qualitäten des Waldes sein. Neben der Erfüllung glaubwürdiger Zertifizierungskriterien sind die Politik der Luftreinhaltung sowie die Maßnahmen der Überwachung des Zustandes unseres Waldes dringend fortzusetzen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition und lieber Kollege Hornung, auch wenn es schmerzt: Ein Weg zur Luftreinhaltung ist auch die ökologische Steuerreform, die zu einer Reduzierung des Treibstoffverbrauchs und zu einem Innovations- und Entwicklungsschub beigetragen hat und weiter beitragen wird. ({10}) Das EEG, das Erneuerbaren-Energie-Gesetz, die Förderprogramme für erneuerbare Energien und das 100 000Dächer-Solar-Programm sind ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Energiewende und zur Klimaschutzpolitik, die wir insbesondere auf europäischer Ebene forcieren müssen. ({11}) Schwefelfreiheit im Dieselkraftstoff, vermehrter Gütertransport auf der Schiene, weitere Minderung der Ammoniakemissionen aus der Landwirtschaft müssen folgen. Klimaschutz ist eine ständige Aufgabe und ich weiß, dass wir diesen Klimaschutz nicht allein national bewerkstelligen können. Wohl sehe ich, dass im europäischen Vergleich des Waldzustandes in weiten Teilen Deutschlands signifikante Verbesserungen, hingegen in fast allen europäischen Regionen signifikante Verschlechterungen zu verzeichnen sind. Das zeigt der Waldzustandsbericht auf Seite 37. Dies will ich jedoch nicht zum Ausruhen nutzen, sondern als europäische Aufgabe Ihnen, sehr verehrter Herr Minister, auch in den Europäischen Rat mitgeben. Und hier ist auch die EU-weite Harmonisierung der Energiebesteuerung voranzubringen. ({12}) Liebe Kollegen, es ist viel liegen geblieben. Es gibt viel zu tun. Wir packen es an. ({13}) Noch einiges zu den Sturmschäden aufgrund des Orkans „Lothar“, weil wir diese Anträge auch behandeln: Frankreich, Baden-Württemberg und Bayern wurden enorm geschädigt. Die heutige Walddebatte möglicherweise nochmals zu einer Südschienen-Wahlkreis-Betroffenheits-Debatte auszuweiten ({14}) und diese zu instrumentalisieren, nützt nichts. Lassen Sie es einfach, liebe Kollegen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wright, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er kommt nicht aus einem der betroffenen Gebiete. Deshalb möchte ich dem Kollegen Ronsöhr einmal vortragen, was wir bereits gemacht haben. Vielleicht erübrigt sich dann seine Frage. Danke, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Also keine Zwischenfrage?

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier bereits die Debatte geführt, und sind uns nicht einig geworden. Dass bei einer solchen Naturkatastrophe jede Hilfe als zu wenig erscheint, ist das eine, dass aber jede Hilfe doch auch willkommen sein muss, ist das andere. Es ist geholfen worden, und es wird weiter geholfen. Der Minister ist nicht nur unmittelbar danach in das Sturmgebiet gereist. Die Bundesregierung hat auch ein ganzes Bündel von Sofortmaßnahmen angeschoben und darüber hinaus ein Sonderhilfsprogramm von 30 Millionen DM aufgelegt. Liebe Kollegen, ich hoffe, es hat sich jetzt auch bis zu Ihnen herumgesprochen: Diese 30 Millionen DM sind vermehrbar. Die Kreativität der betroffenen Länder durch Ko-Finanzierung und, wie geschehen, durch eigene Sonderhilfsprogramme ist gefordert. Hier hinkt der Vergleich mit dem vom Oder-Hochwasser betroffenen Land Brandenburg. Dieser Vergleich ist einfach schmählich und kleinlich. ({0}) Noch etwas zum Praktischen aus den Sturmgebieten: Erkundigungen haben ergeben, dass die Räumungsarbeiten unter schwierigsten Bedingungen dennoch zügig vorangehen. Hier gilt meine Anerkennung den Einsatzkräften, den Waldbauern, den Facharbeitern vor Ort. Probleme bestehen jedoch beim zügigen Abtransport aus den Sturmschadensgebieten. Damit die bundesweite Einschlagsbeschränkungsverordnung ihre marktstabilisierende Wirkung entfalten kann, sind größere Sturmholzmengen auch in weiter entfernte Holzverbrauchszentren zu liefern. Dabei kann eine zeitlich befristete Ausnahmegenehmigung für höchst zulässige Gesamtgewichte bei Holztransporten angewandt werden. Ich baue darauf, dass sich im Ländle und in Bayern die Bürokraten den Praktikern nicht in den Weg stellen und der zügige Fortgang gewährleistet ist. Denn - und das ist auch eine erfreuliche Nachricht - 70 Prozent des Sturmholzes sind vermarktungsfähig, und der Holzmarkt hat sich bislang glücklicherweise als aufnahmefähig erwiesen. Ich danke Ihnen sehr. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Reinhard von Schorlemer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Reinhard Schorlemer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wright, Sie haben in der Zusammenfassung der Beurteilung des Waldzustandsberichtes praktisch das hervorgehoben, was auf Seite 5 zusammenfassend beschrieben worden ist: Die Politik der Luftreinhaltung sowie die Maßnahmen der Überwachung des Gesundheitszustandes unseres Waldes müssen deshalb fortgesetzt werden. Ich habe mir gerade vorgestellt, was gewesen wäre, wenn wir vor zwei Jahren diesen Satz vorgelesen hätten: Welch eine Empörung, welch eine Entrüstung, welch eine Dramaturgie wären dann vonseiten der jetztigen Koalition hier vorgeführt worden! ({0}) Wenn man in der Regierung ist, sieht manches anders aus. Das ist nun einmal so. Sie erleben es jetzt entsprechend. ({1}) Drei ganz entscheidende Sätze im Waldzustandsbericht sind für mich die folgenden: Auf dieser Erkenntnis aufbauend konnte sich in Deutschland seit mehr als 200 Jahren eine Forstwirtschaft entwickeln, die die Nachhaltigkeit der Holzproduktion und deren periodische Planung und Kontrolle verfolgte. Es entstand der „Wirtschaftswald“. Heute versteht man unter Nachhaltigkeit die dauerhafte Bereitstellung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Wirkungen und Leistungen des Waldes. Herr Minister, ich empfehle Ihnen, dass Sie gerade diese drei Sätze auch dann sehr ernst nehmen, wenn wir das Thema Zertifizierung behandeln. Ich bin froh, Frau Kollegin Wright, dass Sie das angesprochen haben. Natürlich wird es eine Zertifizierung geben. Der Prozess war langwierig, weil wir ihn zusammen mit den Betroffenen durchlaufen wollten. Wir wollten nichts aufstülpen, wir wollten es nicht durch Fremdkontrolle erreichen, sondern wir wollten es mit den Betroffenen gemeinsam machen. ({2}) Wir wollten es nicht nur national, sondern international machen. Das heißt, wir wollten es praktisch von Finnland bis nach Griechenland erreichen, um zum Beispiel im PEFC zu europäischen Standards zu kommen. Ich bin dankbar, dass beispielsweise mein Heimatland Niedersachsen oder das Land Rheinland-Pfalz durch ihre Landwirtschaftsminister erklärt haben, dies sei der richtige Weg, wie wir zu einer Zertifizierung mit den Betroffenen kommen könnten. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht es aber mit dem politischen Rahmen für die Forstwirschaft aus? Ich rufe bei solchen Debatten immer wieder ins Gedächtnis, wie sich das Waldeigentum zusammensetzt: dass der Privatwald 46 Prozent ausmacht, der Staatswald 34 Prozent und der Kommunalwald 20 Prozent. Die 1,3 Millionen Waldbesitzer haben eben nicht alle 500 oder 1 000 Hektar, sondern das sind im Durchschnitt Betriebe mit rund 5 Hektar. ({4}) - Herr Kollege Heinrich gehört auch zu den 1,3 Millionen Waldbesitzern. In der Frage der Waldpolitik hören wir dann allerdings konkret, dass eine Neubewertung der Einheitswerte vorgenommen werden soll. Dies bedeutet höhere Grundsteuer, dort, wo vorhanden, höhere Kammerbeiträge oder andere höhere Abgaben, die nach dem Einheitswert berechnet werden. Auch gibt es höhere Berufsgenossenschaftsbeiträge. Kleinwaldbesitzer werden zum Beispiel durch Anhebung der Grenze von 150 auf 450 DM überproportional belastet. Wir wissen auch, dass die von Ihnen so gepriesene und von Frau Wright gerade angeführte Ökosteuer dem Ökosystem Wald zusätzliche Kosten aufbürdet, was angesichts seiner großen Leistungen in der Luftund Wasserreinigung widersinnig ist. ({5}) Auf unsere Kritik wird von der Bundesregierung sehr schnell auf die Haushaltssituation hingewiesen. Das könnte man ja akzeptieren. Aber dazu steht natürlich total in Widerspruch, dass wir auf der anderen Seite von Herrn Trittin hören, dass er gleichsam zum Nulltarif Wald an Umweltverbände verschenken, verscherbeln und verschleudern will. ({6}) Wir müssen auch den Schwarzwaldbauern und anderen Geschädigten sagen, dass durch die Änderung des § 34 b des Einkommensteuergesetzes durch die Koalition ein schlechterer Steuersatz zu mehr Belastungen führt. ({7}) Bei der Holzvermarktung kann und muss der Holzabsatzfonds eine fördernde Rolle spielen. Nur dafür zahlen die Betriebe der Forst- und Holzwirtschaft Beiträge ein. Sie sind übrigens die einzigen Einzahler. So wird in Zusammenarbeit zwischen Holz- und Forstwirtschaft durch Verbreiterung der Absatzmärkte die Ertragssituation verbessert. Auch hier sollte der alte Satz gelten: Mehr selbstentwickeltes Handeln und weniger staatlicher Einfluss tut allen gut. Die fürchterlichen Folgen des Orkans „Lothar“ in Süddeutschland sind für die Waldbesitzer eine riesige Belastung. Ich sage ganz offen: Als der im Frühjahr angekündigte Besuch des Bundeskanzlers im Schwarzwald aus Termingründen abgesagt wurde, war mir klar: Mehr Hilfen gibt es nicht. Hier läuft kein Drehbuch à la Holzmann ab. ({8}) Sie, Herr Minister, mussten dann die für die Betroffenen schlechteren Nachrichten verkünden und verteidigen. Ich weiß aus eigener Kenntnis, wie das anders gemacht werden kann. Wir haben es im Sturmwinter 1990 besser gemacht. Als ein Orkan 1972/73 Millionen Festmeter Holz in Niedersachsen niedergemacht hat, ist damals einvernehmlich von Bundestag und Bundesregierung - damals gab es dort eine sozial-liberale Mehrheit - ein großes Hilfsprogramm aufgelegt worden. Damit konnte den Waldbauern sichtbar geholfen werden. Das scheint jetzt im Schwarzwald nicht in ähnlicher Weise zu gelingen. ({9}) Herr Minister, ich verkenne überhaupt nicht: Sie haben sich bemüht und Sie bemühen sich weiterhin. Ich möchte Ihr Wollen und Ihr Engagement bezüglich der Hilfe überhaupt nicht infrage stellen. ({10}) Aber wenn man auf der Regierungsbank sitzt, dann - das ist das Schicksal, wenn man dort sitzt - entscheiden nicht wohlfeile Worte, sondern einzig und allein Taten, die unten ankommen. ({11}) Herr Minister, Sie werden sich auch mit den Fragen auseinander setzen müssen: Was habe ich erreicht? Habe ich den Finanzminister überzeugt? Sie werden sich trotz Ihrer guten Ansätze zum Beispiel bei der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes fragen müssen: Was habe ich angekündigt? Was ist unten angekommen? Was habe ich in der Regierung, insbesondere gegenüber Herrn Trittin, durchgesetzt? ({12}) Diesen Fragen haben Sie sich, Herr Minister, zu stellen. An diesen Fragen wird Ihre ganz persönliche forstpolitische Arbeit bewertet werden. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke vom Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit zwei Beratungsgegenständen, nämlich mit dem Waldzustandsbericht 1999 und mit mehreren Anträgen zur Sturmkatastrophe „Lothar“ in Baden-Württemberg, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, außer dass es sich bei beiden Beratungsgegenständen um den Wald handelt. Aber wenn man Ursachenanalyse in den beiden Themenbereichen betreibt, dann wird man vielleicht feststellen, dass sie enger beieinander liegen, als es uns allen lieb ist. Der Waldzustandsbericht 1999 mahnt uns, den Blick erneut auf die Schäden im Ökosystem zu richten, die direkt durch den von Menschen verursachten Schadstoffausstoß entstehen. Alle Interpretationsspielräume hinsichtlich einer leichten Verbesserung des Waldzustandes in einzelnen Regionen oder des Zustandes einzelner Baumarten, die es in der Tat gibt, dürfen nicht über die deutliche Sprache des Berichts hinwegtäuschen: Wir muten unserem Ökosystem nach wie vor zu viel zu. Ich weigere mich, die Tatsache, dass alles nicht noch viel schlimmer ist, als man vor Jahren befürchtet hat, als Erfolg zu verbuchen, so wie es die CDU/CSU immer wieder versucht. Der Zustand des Waldes hat sich bei einigen Baumarten seit Mitte der 90er-Jahre auf einem schlechten Niveau eingependelt. Allerdings hat sich beispielsweise der Zustand der Eichen weiter verschlechtert: Fast die Hälfte dieser Baumart weist starke Schäden auf. An diesem Beispiel zeigt sich, dass man mit einer monokausalen linearen Betrachtung bei der Lösung des Problems nicht vorankommt. Das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren wie Schadstoffe, Trockenheit und Klimaveränderungen, mit denen wir auch in Mitteleuropa verstärkt zu tun haben, muss mehr Beachtung finden. Dieser notwendigen Weiterentwicklung der Waldzustandsbetrachtung trägt der vorliegende Bericht Rechnung. Er stellt erstmals die Untersuchungen zu den Ursache-Wirkung-Beziehungen breit dar. Das wird bei der Entwicklung von Maßnahmen in der Zukunft eine große Rolle spielen müssen. Hinzu kommt, dass wir über den eigenen Tellerrand schauen und international angewandte Methoden der Ökosystembetrachtung in den Waldzustandsbericht 1999 einfließen lassen. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] Das so genannte Critical-Loads-Konzept wird inzwischen auch im Waldzustandsbericht genutzt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dieses System bereits 1996 gefordert, das dazu dient, festzustellen, wie sich die Schadstoffentwicklung im Ökosystem Wald darstellt. Eine weitere Forderung war, entsprechende Gegenstrategien zu entwickeln. Dies wird hoffentlich die Diskussion - weg von der ideologischen Auseinandersetzung über leichte Verbesserungen oder Verschlechterungen von Jahr zu Jahr dahin gehend konzentrieren, dass wir verstärkt über Maßnahmen zum Klimaschutz beraten. ({0}) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dazu in den vergangenen Jahren immer wieder verschiedene Strategien vorgelegt. Ich erinnere an die Ozonminderungsstrategie. Ozon ist, was die Waldschadensproblematik anbetrifft, erst in den letzten Jahren verstärkt in das Bewusstsein gerückt. Man hatte ursprünglich gar nicht angenommen, dass die steigenden Ozonwerte in den Sommermonaten auf den Waldzustand so deutliche Auswirkungen haben könnten. Darüber wird inzwischen diskutiert und Ozonminderungsstrategien werden in diesem Haus in den nächsten Wochen und Monaten noch eine Rolle spielen. Dann wird die Unterstützung von all denjenigen, die sich heute positiv für den Waldschutz aussprechen, gefragt sein. ({1}) Stichwort Klimaschutz: Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sehr wohl Erfolge vorzuweisen haben. Maßnahmen sind eingeleitet worden, die sich nicht kurzReinhard Freiherr von Schorlemer fristig, aber hoffentlich mittelfristig auf den Zustand der Wälder niederschlagen werden. Das Ökosystem ist so komplex, dass dafür niemand eine Garantie abgeben kann. Aber durch die Ökosteuer, durch die Förderung der regenerativen Energien und durch Bestrebungen, den Verkehr umweltfreundlicher zu gestalten, insbesondere durch die Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, werden wir bei der CO2-Minderung und auch bei der NOX-Reduzierung vorankommen. ({2}) Wenigstens darüber, dass all dies nur gemeinsam mit denjenigen, die die Wälder pflegen und damit ihr Einkommen erzielen, zu erreichen ist, können wir in diesem Hause einen Konsens finden. Die Debatte über die Unternehmensteuerreform werden wir im Ausschuss noch intensiv führen. Heute haben wir andere Beratungsgegenstände. Ich möchte auf einen Punkt, der angesprochen worden ist, Bezug nehmen, und zwar auf die Zertifizierung. Die Zertifizierung verfolgt das Ziel, ein Label, also eine Kennzeichnung, zu entwickeln, um Holz besser zu vermarkten, um Holz am Bau - dort ist es sinnvoll; es ist ein ökologischer Baustoff - stärker einzusetzen. Mit diesem Ziel diskutieren wir seit mehreren Jahren eine Zertifizierung. Es haben sich bedauerlicherweise verschiedene Zertifizierungssysteme entwickelt. Ich hätte es lieber gesehen, wenn man sich ideologiefrei auf eines hätte verständigen können. Das war aber in Deutschland leider nicht möglich. An dieser Debatte stört mich massiv, dass man versucht, die beiden Siegel gegeneinander auszuspielen, um seine parteitaktischen Spielchen auf dem Rücken der Forstwirtschaft auszutragen. ({3}) Man kann über das eine oder andere Zertifizierungssystem dieser oder jener Meinung sein. Was aber aus meiner Sicht nicht geht, ist das, was Landwirtschaftsminister von CDU und CSU in den vergangenen Wochen unternommen haben, indem sie sich an eine Baumarktkette, die beabsichtigt, das FSC-Siegel einzuführen, gewandt haben und unter Androhung von „moralischer Keule“ dieses Unternehmen aufgefordert haben, bestimmte Siegel dort nicht so einzusetzen, wie die Unternehmen es planen. Ich komme ja aus einem anderen Land als die meisten Kollegen von CDU und CSU, aber einen solchen Eingriff in freie marktwirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen hätte ich Ihnen - ehrlich gesagt - nicht zugetraut. ({4}) Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Ich hoffe, dass sich die Unternehmen von solchen populistischen Briefen von Ministern, von Regierungen der CDU/CSU nicht beeindrucken lassen und ihre unternehmerischen Entscheidungen weiterhin so treffen, wie sie erforderlich sind. Denn die Zertifizierungssysteme sollen sich am Markt durchsetzen und nicht in den Landesregierungen in BadenWürttemberg oder in Bayern. ({5}) Damit möchte ich überleiten zu der Debatte, die wir hier bereits geführt haben über die Schäden durch den Sturm „Lothar“ in Baden-Württemberg im Dezember des letzten Jahres. Ich denke, dass hier deutlich geworden ist, dass die Bundesregierung und die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die betroffenen Waldbesitzer intensiv unterstützen. ({6}) Diese haben wirtschaftliche Verluste erlitten, zum Teil sind auch menschliche Verluste zu beklagen gewesen. Aber wir versuchen, die wirtschaftlichen Schäden für diese Waldbesitzer aufzufangen. Hier hat auch die Landesregierung von Baden-Württemberg durchaus positive Ansätze entwickelt und Hilfen für die Waldbesitzer gegeben. Ich fände es positiv, wenn dies gemeinsam von Bundesregierung und Landesregierung weiterentwickelt würde; denn es reicht nicht aus, laut den Rachen aufzusperren - wie Sie das getan haben - und zu schreien: Es muss mehr sein, es muss mehr sein! 30 Millionen DM an Hilfen für die Waldbesitzer sind viel zu wenig! Das ist eigentlich gar nichts! Das ist eine Debatte, die den Waldbesitzern in keinster Weise hilft. Es sind jetzt Gelder bereitgestellt worden über das hinaus, was die Bundesregierung insbesondere bei der Begrenzung des jetzt auf den Markt kommenden Holzes sehr schnell und unbürokratisch getan hat. Des Weiteren ist es jetzt notwendig, die 30 Millionen DM zum einen kozufinanzieren, um die Summe zu erhöhen, die den Waldbesitzern dann tatsächlich zur Verfügung steht, ({7}) das heißt, seitens des Landes und seitens der EU-Ebene kozufinanzieren - das ist eine Bestrebung, die von uns intensiv weiter verfolgt werden wird -, und zum anderen dafür zu sorgen - statt hier einfach nur in platter Polemik nach mehr Geld zu rufen -, dass das Geld bei den Betroffenen ankommt. ({8}) Es hilft nichts, diese Gelder irgendwo auf dem Papier stehen zu haben, wenn es nicht in gemeinsamen Anstrengungen gelingt, sie auch zielgenau bei den Waldbauern das ist aus meiner Sicht das, worauf wir uns im Moment konzentrieren sollten -, bei den Kleinwaldbesitzern in Baden-Württemberg und in Bayern ankommen zu lassen, damit die in ihren Betrieben dann auch tatsächlich entsprechende Maßnahmen für die wirtschaftliche Sicherung ergreifen können. ({9}) Das ist das, was aus meiner Sicht den Betroffenen, der Holzwirtschaft und dem Wald am meisten nützt. Daran werden die Bundesregierung und die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD weiter arbeiten und die Maßnahmen, die im Bereich der CO2-Reduktion zur Verhinderung einer deutlichen Zunahme von Stürmen in der Zukunft notwendig sind, konsequent fortführen. Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Lothar“ hält in Baden-Württemberg noch rund hundert Tage nach dem schrecklichen Ereignis die in den Wäldern arbeitenden Menschen in Atem. Bei 1 829 Unfällen sind bisher dreizehn Tote zu verzeichnen. Man kann sich kaum einen schwierigeren Job als den der Aufarbeitung dieses Sturmholzes vorstellen. Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir auch an die Familien denken und mit den Familien fühlen, die neben der Existenzbedrohung auch noch das Schicksal Toter und Verletzter in ihren Familien zu beklagen haben. ({0}) Rund 5 000 Menschen sind derzeit in Baden-Württemberg in Aktion, die zum Beispiel auch aus vielen Revieren in anderen Bundesländern kommen. Auch hier sei mir ein herzlicher Dank an die Länder gestattet. Die überregionale Zusammenarbeit ist beispielhaft. Hier heißt es Solidarität zu üben. Diese Solidarität können wir derzeit in Baden-Württemberg erfahren. Dafür sind wir sehr dankbar. ({1}) Insgesamt sind 25 Millionen Festmeter gefallen. Das ist eine gewaltige Menge. Die Aufarbeitung stellt einen Wettlauf mit der Zeit dar, denn neben dem Problem des Aufarbeitens selber droht jetzt ganz aktuell der Käferbefall; die Prognosen dazu sehen nicht gut aus. Man probiert im Rahmen von Forschungsvorhaben aus, ob man durch Brandrodungen damit fertig werden kann. Die enorme Menge an Schwachholz, Reisig und all dem, was ohnehin zurückbleibt, bietet natürlich Käfern allerbeste Möglichkeiten zum Nisten. Man versucht ganz gezielt, neue schlagkräftige Methoden auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass wir bei diesen forstwirtschaftlichen Einsätzen neue Erkenntnisse sammeln können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider Gottes muss man auch über Geld reden. Es ist nun einmal so, dass Existenzen nicht mit guten Worten wieder auf eine solide Basis gestellt werden können, sondern Existenzen, die in Gefahr sind oder gar vernichtet wurden, kann man nur mit Geld einigermaßen wieder auf die Füße stellen. Dabei helfen die von Baden-Württemberg bereitgestellten 100 Millionen DM und das sehr ausgeklügeltes Programm, das über Beifuhr-, Polterungs-, Nasslager- und Entrindungshilfe sowie Flächenräumungspauschalen läuft, außerdem Investitionen für Holzkonservierungsanlagen, Grundinstandsetzung forstwirtschaftlicher Wirtschaftswege, Naturverjüngung, Vorbau und Wiederaufforstung fördert. Diese ganze Latte von Maßnahmen wird finanziell entsprechend unterstützt. Dazu kommt noch die Möglichkeit, ein zinsverbilligtes Darlehen über drei Jahre zu 4,5 Prozent mit einer Mindestdarlehenssumme von 10 000 DM und maximal 60 DM je Festmeter Sturmholz zu erhalten. Ich spreche davon so ausführlich, weil mir sehr viel daran liegt, dass hier keine Polemik betrieben wird, sondern sachliche Argumente beigebracht werden. Vor diesem Hintergrund kann man darum bitten, dass die zusätzliche finanzielle Last von staatlicher Seite wenigstens mit ausgeglichen wird. Es sind ja Schäden mit einer Gesamthöhe von über 2 Milliarden DM zu beklagen. Das Kreditprogramm des Bundes - wir kennen es bietet gegenüber den 4,5 Prozent Zinsen beim Kreditprogramm von Baden-Württemberg nochmals um einen weiteren Prozentpunkt verbilligte Kredite an. Auch die Bundeshilfe in Höhe von 30 Millionen DM ist schon zur Sprache gekommen; diese Hilfen werden mit 30 Millionen DM europäischer Mittel und mit 20 Millionen DM baden-württembergischer Mittel auf insgesamt 80 Millionen DM aufgestockt werden. Dieses ist im Vergleich zur Schweiz gering. Bei uns werden etwa 5 DM pro Festmeter Sturmholz ausgegeben, in der Schweiz sind es etwa 100 DM. Man redet immer sprichwörtlich von der reichen Schweiz. Offensichtlich haben die auch ein etwas besseres Gespür dafür, was ihre Waldbauern leisten, und zwar für uns alle und nicht nur für ihren eigenen Geldbeutel. ({2}) Damit möchte ich zum Waldzustandsbericht überleiten und mich ausdrücklich bei der Bundesregierung für den ausgezeichneten Bericht bedanken. Wenn man sich ein paar Stunden Zeit nimmt und ihn studiert, erhält man in der Tat Informationen, die eine gute Basis und Grundlage bilden, um die Dinge herauszufinden, die in Zukunft verändert werden müssen, damit all die positiven Funktionen des Waldes, Erholungs- und Schutzfunktionen, erhalten bleiben, die wir benötigen. Insbesondere die Stickstoffeinträge machen mir ein bisschen Sorge. Häufig stellen wir voller Staunen fest, dass unsere Quellen in Bereichen landwirtschaftlicher Nutzflächen weniger Nitratbelastung haben als ausgerechnet Quellen in den Wäldern. Man fragt sich dann, woher das kommt. ({3}) Da düngt doch niemand. Es wird dennoch gedüngt: Vom Himmel kommen zwischen 9 und 50 Kilogramm Reinstickstoff, Nitrat und Ammoniak sowie alle möglichen anderen Stickstoffe pro Hektar und Jahr. ({4}) Man könnte jetzt meinen, der Wald nehme diese Stoffe auf, das Wachstum werde entsprechend stärker und damit sei alles neutralisiert. Nein, das ist nicht so. Ich habe in vielen Diskussionen immer wieder versucht, folgenden Sachverhalt zu erklären: Wir düngen in der Landwirtschaft der Pflanze sozusagen so viel ins Maul, wie sie aufnehmen kann. Damit wird das Grundwasser geschont. Beim Wald haben wir diese Möglichkeit aber nicht; denn das Düngen erfolgt direkt und ohne unser Zutun. Der Wald kann maximal 8 bis 15 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr aufnehmen. Das heißt: Wir haben im Durchschnitt pro Hektar einen Überschuss von mehr als 10 Kilogramm Stickstoff jährlich. Wenn also die Aufnahmefähigkeit des Bodens erschöpft ist, werden diese Stoffe ins Grundwasser ausgewaschen. Wir haben dann das Phänomen, dass selbst in Regionen, in denen kein Stickstoff ausgebracht wird, eine Grundwasserbelastung vorhanden ist, die unseren europäischen Normen nicht entspricht und weit über den Grenzwert der entsprechenden Richtlinie hinausgeht. Diese Tatsachen müssen uns zu denken geben. Deshalb müssen wir in diesem Punkt besonders ansetzen. Den Schaden nachher mit Waldkalkungen zu beheben ist eine Notmaßnahme, die sicherlich sehr teuer ist. Ich meine, es wäre wichtiger, die Ursache - sprichwörtlich - an der Wurzel zu bekämpfen. ({5}) Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass wir den Ammoniakausstoß reduzieren. Herr Präsident, wenn Sie erlauben, möchte ich noch eine Bemerkung machen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, gerne.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Schwefel, ein weiterer entscheidender Schadstoff, hat seine Ursache im Bereich des Kraftfahrzeugverkehrs. Die Versäuerung der Böden geht immer noch weiter; wir haben sie immer noch nicht im Griff. Als agrarpolitischer Sprecher sage ich, dass wir uns auch im Stickstoff- und Ammoniakbereich anstrengen müssen. Wir können zwar der Kuh die Verdauung nicht verbieten - das würde zu weit gehen -, aber wir können vielleicht das, was wir zum Schluss in den Behältern sammeln, ein bisschen sinnvoller verwenden. In diesem Zusammenhang möchte ich die Initiative der Koalition loben. Dass die Förderung der Biogasanlagen verbessert wird, ist ein positiver Aspekt, der zur Entgiftung der Gülle beiträgt. Da der Herr Präsident schon ganz kritisch schaut, möchte ich mich zum Schluss für Ihre Aufmerksamkeit bedanken ({0}) und möchte uns wünschen, dass wir den Zustand des Waldes, der eine wichtige Funktion hat, in Zukunft verbessern können, damit unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Da alle Seiten des Hauses so aufmerksam zugehört haben, war ich mit Blick auf die Redezeit etwas großzügiger. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege - Entschuldigung: die Kollegin - Kersten Naumann von der PDS-Fraktion. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich das zweite Mal darüber gestolpert bin.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich könnte jetzt eigentlich „Frau Präsidentin“ sagen. Aber ich verkneife mir das. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das würde meine Chance auf Wiederwahl erhöhen. ({0})

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS-Fraktion hat ihre Position zu den Hilfsprogrammen für die Sturmschäden durch den Orkan „Lothar“ schon in der ersten Lesung dargelegt. Wir betonen nochmals, dass wir den vorgesehenen Maßnahmen zustimmen werden. Wir halten sie allerdings nicht für weitgehend genug. Auch das haben wir schon begründet. Die von uns kritisierte Inkonsequenz der Regierung zeigt sich auch beim Waldzustandsbericht. Die Waldkatastrophe, die beim Auftreten der ersten Waldschäden befürchtet wurde, ist zwar nicht eingetreten. Dennoch zeigt sich insgesamt eine schleichende, wenn auch abgemilderte Verschlechterung des Waldzustandes. Die Anstrengungen zur Luftreinhaltung haben nur sehr begrenzt zu positiven Ergebnissen geführt. Das gilt besonders für die Schwefeleinträge. Bei den Säureeinträgen ist der Rückgang unzureichend. Beim Stickstoff verharren die Einträge weiterhin auf einem hohen Niveau. Der Schadensdruck übersteigt wesentlich das Maß dessen, was die Wälder langfristig verkraften können. Ein Risiko für eine Schädigung besteht bei Säuren auf 90 Prozent und bei Stickstoff auf 99 Prozent der Waldfläche. Wie die Forschung gezeigt hat, ist mit dieser Feststellung nicht die Vielzahl der Einflussfaktoren der neuartigen Waldschäden erfasst. Sie sind aber Hauptfaktoren, die zur Veränderung der biologischen Vielfalt, zur Verschiebung der Artenzusammensetzung, zu Nährstoffungleichgewichten, zu Nährstoffverlusten und zur Verminderung der Baumvitalität führen. Da als Hauptquellen der Stickstoffeinträge der Kraftfahrzeugverkehr und die landwirtschaftliche Tierhaltung ausgemacht wurden, müssen vor allem hier politische Maßnahmen angesetzt werden. Dringend notwendig ist die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. ({0}) Das betrifft sowohl den Ausbau des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs als auch den Wirtschaftsverkehr. Dazu ist eine entsprechende Verlagerung der Mittel im Bundeshaushalt, ergänzt durch steuerliche Begünstigungen, erforderlich. Die Landwirtschaft muss durch Veränderung der Tierhaltungsformen und die Reduzierung des Tierbesatzes auf unter zwei Tiereinheiten je Hektar den Stickstoffausstoß mindern. Ein möglicher Schritt wäre die Überwindung der starken Spezialisierung der Betriebe. Es sind jedoch weitaus mehr Schritte notwendig, die allgemein bekannt sind. Doch auch für die Regierung Schröder gilt: Wirtschaftswachstum, Konkurrenzfähigkeit und Verschlankung des Staates haben Vorrang vor dem Schutz der Wälder und der Umwelt. Die Bauern würden gern umweltgerechter produzieren, doch die Bundesregierung fordert von ihnen, sich für den Weltmarkt fit zu machen und weiter zu intensivieren. Ihre Politik lässt kein Geld für den Ausgleich ökologischer Vorhaben übrig. Selbst Naturschutzgebiete will sie privatisieren. Als ein zunehmendes Problem, besonders in den neuen Bundesländern, erweist sich die nachhaltige Waldnutzung. Über 98 Prozent der privaten Waldbesitzer in Deutschland haben unter 50 Hektar Wald; es sind durchschnittlich 4,3 Hektar. Die Nutzung der in den deutschen Wäldern vorhandenen Biomasse könnte wesentlich zur Verbesserung der Rohstoff- und Energiebilanz sowie zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes beitragen. ({1}) Im Forstamt Minden gibt es positive Erfahrungen, wie durch Waldwirtschaftsgenossenschaften und Holzabsatzfonds die Rohholzbereitstellung verbessert, ({2}) die Einnahmen aus dem Wald erhöht und ein Umbau der Waldbestände erreicht werden können. Ermöglicht wurde das durch eine Rundumdienstleistung für Kleinstwaldbesitzer durch das Forstamt. Eine zielgerichtete Förderung von Waldgemeinschaften ist nicht nur für die Waldbesitzer von Vorteil, sondern auch ein wirksamer Beitrag zum Natur- und Umweltschutz. Besonders in den neuen Bundesländern muss dieser Prozess gefördert werden, bevor über die Verschlankung der Forstverwaltungen nachgedacht wird. ({3}) Es ist dringend notwendig, das durch das BML angeregte Thüringer Modell zur Erweiterung der Dienstleistungen und der Zusammenschlüsse der Waldbesitzer gründlich auszuwerten und breit zu fördern. Die Initiative der PDS Brandenburg zur Unterstützung der kleinen privaten Waldbesitzer, die im Landtag von allen Parteien unterstützt wird, sollte deshalb beispielgebend sein. ({4}) Der notwendige Waldumbau ist untrennbar mit der Durchsetzung eines europäischen Nachhaltigkeitszertifikats und der Erarbeitung eines nationalen Forstprogramms zu verbinden. Minister Funke hat diese Themen zwar schon einmal in einem Interview aufgegriffen; im parlamentarischen Raum haben sie jedoch noch keine Rolle gespielt. Vielleicht liegt es daran, dass die EU die Ausreichung von Mitteln für die forstliche Förderung noch nicht an ein nationales Forstprogramm gebunden hat. Die PDS fordert deshalb Minister Funke auf, die Erarbeitung eines solchen Programms auf die Agenda zu setzen und damit im neuen Jahrtausend eine neue Qualität in einer nachhaltigen Forstpolitik einzuleiten. Ich komme zurück auf eine Aussage des Waldzustandsberichtes: “Der Wald erfüllt unverzichtbare Funktionen für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft.“ Diese Funktionen dürfen nicht den Marktkräften überlassen werden. Nachhaltige Forstpolitik ist gefragt. ({5}) Minister Funke, in diesem Zusammenhang wünsche ich Ihnen einen erholsamen Waldspaziergang in gesunden Wäldern. Ich hoffe, dass Sie dort neue Ideen und vor allem Tatendrang für eine nachhaltige Forstpolitik entwickeln werden. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christel Deichmann von der SPD-Fraktion das Wort.

Christel Deichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002638, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr von Schorlemer, wenn Sie angesichts unserer Bemühungen, besonders schützenswerte Flächen auch zukünftig für diese Zwecke vorzuhalten und zu bewahren, von Verschleuderung von Wald sprechen, finde ich das ziemlich heftig. ({0}) Ich erinnere Sie nur an die Worte des ehemaligen Umweltministers Töpfer, der in diesem Zusammenhang vom Tafelsilber der deutschen Einheit sprach. Aber ich denke, darüber werden wir an anderer Stelle noch intensiv zu reden haben. ({1}) - Wald ist mehr als die Summe von Bäumen. ({2}) Ich wiederhole das gerne und bewusst und möchte auf die vielfältigen Funktionen des Waldes aus der Sicht des Naturschutzes eingehen. Der Wald ist eines der wertvollsten großflächigen Landökosysteme in Mitteleuropa. Ein funktionierendes Waldökosystem filtert bis zu vierfach höhere Schadstoffmengen aus der Luft, als Offenlandschaften dies vermögen. Die Schadstoffe werden zwar aus der Luft herausgefiltert, doch je höher die Konzentration ist, umso größer sind die Einwirkungen auf den Wald. Die Schäden an den einzelnen Bäumen sind selbst für Laien erkennbar. Stellen Sie sich unter einen Baum und sehen Sie hoch in die Krone. Oftmals ist es beängstigend, wie lichtdurchlässig das ursprünglich dichte Blätterdach schon geworden ist. Viel verheerender als die offensichtlichen Schäden sind für uns die zunächst unsichtbaren Wirkungen. Die Schadstoffe reichern sich im Boden an, führen zu Versauerung, beeinträchtigen und verschieben die Nährstoffversorgung und tragen zu tiefgreifenden Veränderungen der Waldökosysteme bei. Trotz vieler Verbesserungen ist das Schadensniveau auch 1999 insgesamt immer noch zu hoch gewesen; Entwarnung kann also lange nicht gegeben werden. Der Waldzustandsbericht weist unter anderem auch Auswirkungen der Waldschäden auf die biologische Vielfalt aus. Mit den Stickstoffeinträgen und der Bodenversauerung verändern sich Standortbedingungen. Arten, die mit stickstoffarmen und basischen Bedingungen sehr gut zurechtkommen, werden durch Stickstoff liebende und konkurrenzkräftigere Arten schlichtweg verdrängt. Wir sind dabei, die genetische Vielfalt unserer Wälder stark zu reduzieren und setzen die vorhandenen Ökosysteme vielfach aufs Spiel. Noch sind unsere Wälder ein wahrer Fundus an Vielfalt. Wir müssen alles daran setzen, diesen Fundus zu erhalten. ({3}) Viele Auswirkungen unseres Tuns werden erst nach Jahren sichtbar. Ein Baum stirbt langsam. Handeln ist dringend geboten, um die Auswirkungen unterlassener Maßnahmen der Vergangenheit - insbesondere der alten Bundesregierung - zum Schutz der Wälder zu beheben. Mit der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe, der Unterzeichnung des UNECE-Protokolls zur Bekämpfung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon, der Einführung der Ökosteuer sowie der Klimaschutzziele usw. hat die Koalition erste Maßnahmen eingeleitet, die auch zur Verbesserung des Waldzustandes beitragen. ({4}) Die Wirkungen des Ökosystems Wald sind - wie gesagt vielseitig und lang anhaltend, wenn denn der Wald gesund ist. Um Naturschutzaspekte stärker in die forstwirtschaftliche Nutzung einzubinden, ist es erforderlich, die Naturnähe der Wirtschaftswälder weiter auszubauen und annähernd flächendeckend zu erfüllen. Naturschutzfachlich fundierte Konzepte zum Erhalt der biologischen Vielfalt sind dabei noch stärker in die forstwirtschaftliche Praxis zu integrieren. In Anerkennung der forstlichen Leistungen für die Gesellschaft wurde durch die Europäische Union und die Bundesregierung die Fortsetzung der forstlichen Förderung beschlossen. Nicht nur Wiederaufforstung ist bedeutend, auch Erstaufforstungen bieten gute Chancen für die Verbesserung unserer Umweltsituation. Mit der Neuanlage von Wald kann aktiv Landschaftsplanung betrieben werden. Schutz, Pflege und Entwicklung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts und der Nutzbarkeit der Naturgüter als Beitrag zur Sicherung unserer Existenzgrundlagen sowie Bewahrung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft sind Chancen für zukünftige Generationen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wald und Forstwirtschaft und Naturschutz gehören zusammen und bilden gegenseitig eine gute Ergänzung. Lassen Sie uns die Chance nutzen, die in nachhaltiger, naturnaher Waldbewirtschaftung liegen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Albert Deß von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig - das ist heute auch schon öfter angesprochen worden -: Der Wald erfüllt in Deutschland und weltweit wichtige Funktionen. Werden Wälder vernichtet, verschwindet damit auch ein Stück lebenswerter Zukunft. Die Zerstörung von Wäldern kann unterschiedliche Ursachen haben. Riesige Waldflächen werden gerodet oder durch Brandrodung vernichtet, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu schaffen. Dieses Thema werden wir heute Abend beim Tropenwaldbericht noch ansprechen. Durch Schadstoffe werden Waldbestände mehr oder weniger geschädigt. Auch durch Naturgewalten wie den Orkan „Lothar“ können Waldbestände flächendeckend zerstört werden. Der Waldzustandsbericht der Bundesregierung ist eine gute Gelegenheit, vor aller Öffentlichkeit über den Zustand und die Ursachen der Schädigung unserer Wälder zu diskutieren. Die Ergebnisse des Berichts geben keinen Anlass, in Euphorie auszubrechen. Es besteht aber auch kein Grund, in Weltuntergangsstimmung zu verfallen, wie es die Grünen und auch manche Umweltverbände immer wieder getan haben, vor allem als wir an der Regierung waren. ({0}) „Der Wald stirbt“ - das war eine der unverantwortlichen grünen Parolen der Vergangenheit. Dazu zitiere ich Bundeskanzler aD. Helmut Schmidt, der in der „Bild“-Zeitung im September 1996 schrieb: Vieles, was die Grünen auf ihre Fahnen geschrieben haben, ist abwegig, war aber nicht von vornherein als abwegig erkennbar. Da haben sie beispielsweise jahrelang über das Waldsterben lamentiert - aber der Wald ist nicht gestorben. Im Gegenteil: Er ist vital. In Deutschland gibt es derzeit genauso viele Baumarten wie zur Zeit von Jesus Christus. Eines ist klar: Unseren Wald erhalten nicht diejenigen, die über ihn viel reden und lamentieren, sondern diejenigen, die ihn hegen und pflegen. Am allerwenigsten sind das die selbst ernannten Umweltschützer und Aktivisten von Ökoparteien. ({1}) Es sind unsere Waldbauern und Forstbesitzer, unsere Förster und Waldarbeiter, die unsere Wälder erhalten. ({2}) Ihnen gilt unser Dank für ihre oft nicht leichte Arbeit; das möchte ich hier im Bundestag einmal erwähnen. ({3}) Die Aussage „Der Wald stirbt“ halte ich für verantwortungslos. Warum soll ein Waldbesitzer denn in den Wald investieren, wenn ihm jahrelang erzählt wird, dass der Wald stirbt? Tatsache ist, dass der Wald durch Schadstoffeinwirkungen zum Teil krank ist. Einem Kranken kann man in vielen Fällen helfen. Der Waldzustandsbericht 1999 zeigt, dass sich unsere Wälder auf dem Weg der Besserung befinden. Bayern hat bereits in den 70er-Jahren damit begonnen, die Kraftwerke mit moderner Umwelttechnik auszustatten, um die Schadstoffemissionen zu senken. Hätten SPD-regierte Bundesländer genauso früh wie die CSU reagiert, hätten wir heute einen noch besseren Waldzustandsbericht. ({4}) Es gibt dazu ganz genaue Fakten. Die Schwefeldioxidemissionen in Bayern wurden von 1976 bis 1997 von 729 000 Tonnen auf 95 200 Tonnen pro Jahr gesenkt. Das sind 1997 87,8 Prozent weniger Schwefeldioxidemissionen als 1976. ({5}) Was hat das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen in dieser Zeit zustande gebracht? ({6}) Außer schlauen Reden sehr wenig. ({7}) Im Freistaat Bayern und in Baden-Württemberg wurden die meisten Kraftwerke bereits mit moderner Umwelttechnik ausgestattet, als es die Grünen noch gar nicht gab. Deshalb ist es auch falsch, wenn behauptet wird, dass erst mit dem Entstehen der Grünen der Umweltschutz erfunden wurde. Wer hat in Deutschland und Europa dem Umweltschutz im Fahrzeugbereich zum Durchbruch verholfen? ({8}) Es war die von der CDU/CSU und F.D.P. getragene Bundesregierung, die der Markteinführung des Katalysators zum Durchbruch verholfen hat. Zuständig war damals der Minister Zimmermann. ({9}) Die für den Wald schädlichen Emissionen konnten dadurch nachhaltig gesenkt werden. Zur Absenkung der Stickoxidemissionen hat Bayern 1995 ein Stickstoffprogramm aufgelegt. Von 1996 bis 1998 wurden über 76 Millionen DM Fördermittel und über 12 Millionen DM an zinsverbilligten Darlehen für die Anschaffung moderner Ausbringungstechnik für landwirtschaftliche Wirtschaftsdünger ausgegeben. Durch dieses im CSU-regierten Bayern aufgelegte Stickstoffprogramm 2000 werden bereits jetzt jährlich 40 000 Tonnen Ammoniakemissionen vermieden. Welches SPD-geführte Bundesland hat ein solches umweltnützliches Programm finanziert? Fehlanzeige in ganz Deutschland! ({10}) SPD-geführte Bundesländer haben natürlich eine andere Haushaltssituation. So hat beispielsweise NordrheinWestfalen eine doppelt so hohe Pro-Kopf-Verschuldung wie Bayern. In Nordrhein-Westfalen ist deshalb trotz einer Umweltministerin von den Grünen für solche Umweltprogramme kein Geld vorhanden. ({11}) Bei Rot-Grün wird Umweltschutz nicht durch finanzielle Förderung vorangebracht, sondern ausschließlich durch Auflagen, Gebote und Verbote. Das ist nicht der richtige Weg, um die Schadstoffe zu reduzieren und damit den Wald in Deutschland weiter gesunden zu lassen. ({12}) Entscheidend für die Pflege und Gesunderhaltung des Waldes ist eine auf Dauer existenzfähige Forstwirtschaft. Die rot-grüne Bundesregierung betreibt eine soziale und steuerliche Kahlschlagpolitik, die nicht nur die Existenz landwirtschaftlicher Betriebe, sondern auch die forstwirtschaftlicher Betriebe gefährdet. Die Absenkung der Vorsteuerpauschale betrifft auch die Waldbauern. Die Ökosteuer belastet auch unsere Forstbetriebe einseitig, und die sozialen Einschnitte betreffen vor allem die einkommensschwächsten Waldbesitzer. Es darf nicht sein, dass sturmgeschädigte Waldbauern von der rot-grünen Bundesregierung steuerlich abkassiert werden. Der Bund hat sich zwar bereit erklärt, Bundesmittel für die sturmgeschädigten Waldbesitzer bereitzustellen. Mit 1 DM je Festmeter Sturmholz ist diese Hilfe aber mehr als bescheiden. Die rot-grüne Bundesregierung ist aufgefordert, den Waldbesitzern, die zum Teil in ihrer Existenz gefährdet sind, die gleiche Hilfe zu geben, die die französische Regierung ihren sturmgeschädigten Bauern gibt. ({13}) Die Hilfe der rot-grünen Bundesregierung ist nur ein Fünftel dessen, mit dem die CDU/CSU-geführte Bundesregierung den Waldbesitzern damals bei den durch die Orkane „Wiebke“ und „Vivian“ entstandenen Schäden geholfen hat. Daran, Herr Minister Funke, muss sich die rotgrüne Regierung messen lassen. ({14}) In diesem Fall wäre eine Nachbesserung der Hilfe durch die rot-grüne „Nachbesserungsregierung“ dringend erforderlich. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Bundesminister Karl-Heinz Funke das Wort.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich brauche hier keine Zahlen mehr aus dem Waldzustandsbericht zu nennen. Die sind schon dargestellt worden. Im Übrigen sind sie in diesem Bericht sehr detailliert - Herr Heinrich, ich bedanke mich in diesem Zusammenhang für Ihren Hinweis schriftlich aufgeführt. In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden - Herr von Schorlemer, dies gehört in der Tat dazu -, dass sich der Zustand unserer Wälder seit 1991 allmählich verbessert hat. Ich meine, man darf ruhig sagen, dass der Anteil der Flächen mit deutlichen Schäden 1999 bei 22 Prozent statt wie im Jahre 1991 bei 30 Prozent lag. Klar ist aber auch, dass das überhaupt kein Grund ist für eine Entwarnung. Denn es ist so, dass die Entwicklung im Mittel aller Baumarten und auch der Regionen - Herr Kollege Deß, da bildet Bayern im Übrigen keine Ausnahme in gewisser Weise stagniert. Ich nehme an dieser Stelle gerne die Gelegenheit wahr, all die Zahlen, die hier genannt worden sind, einmal mit denen in anderen Ländern zu vergleichen. Sie haben - sicherlich aus bestimmten Gründen; vielleicht auch nicht ausschließlich auf Nordrhein-Westfalen abgestellt und andere Länder nicht in diesen Vergleich einbezogen. ({0}) - Ich wollte schon sagen, dass das sicherlich abgestimmt gewesen ist. Insoweit verstehe ich das ja auch. ({1}) - Ich bin dankbar. Ich hätte mich außerstande gesehen, dann, wenn Sie Zahlen aus Niedersachsen genannt hätten, zu sagen: In Niedersachsen ist es besser als in Bayern. ({2}) - Ja, ich hätte mich außerstande gesehen, es zu widerlegen, wenn Sie für Niedersachsen schlechtere Zahlen genannt hätten. Ich vermute allerdings, dass Sie die Zahlen von Niedersachsen deshalb nicht genannt haben, weil sie besser sind als die von Bayern. ({3}) Es ist aber immer so: Man sucht so lange, bis man das Land gefunden hat, das im Vergleich schlechter abschneidet als das eigene. ({4}) - Da ist etwas dran, Herr Hornung; das gebe ich als Niedersachse gerne zu. Was die Besiedlung mit Baumarten anbelangt, liegen wir natürlich entschieden hinter Bayern und Baden-Württemberg zurück. ({5}) Meine Damen und Herren, das, was der Kollege von Schorlemer hier vorgetragen hat, nehme ich durchaus ernst. ({6}) - Dem widerspreche ich doch gar nicht, ganz im Gegenteil. - Ich will aber darauf hinweisen - das gehört zum Gesamtkontext Klimaschutz -, dass zum Beispiel das Multikomponentenprotokoll, das die Bundesregierung Ende vergangenen Jahres in Göteborg unterzeichnet hat, ein wichtiger Beitrag zur Luftreinhaltungspolitik ist. Dies führe ich an, weil gesagt wurde - und zwar zu Recht -, dass auf diesem Sektor so weiter zu verfahren sei. Ich bin auch dankbar für die Hinweise zum Programm für erneuerbare Energien, zum 200-Millionen-DM-Programm. All das sind Schritte, um die Situation des Waldes insgesamt zu verbessern, und das hat diese Bundesregierung getan, niemand sonst. ({7}) Ich füge hinzu, dass wir in den Debatten über den Waldzustands- oder die Waldschadensberichte in den Länderparlamenten, aber auch im Bundestag Gott sei Dank in weiten Bereichen Konsens feststellen konnten. Ich sage „Gott sei Dank“, weil ich es für richtig halte, dass wir alle gemeinsam dem Wald eine aktive Rolle beim Klimaschutz zukommen lassen. Ich will hervorheben, dass wir heute über ein entsprechendes Monitoring in der Lage sind - gleichzeitig will ich all jenen besonders danken, die von der technischen Seite her dabei geholfen haben -, den Waldzustandsbericht in dieser Art zu fertigen und Vergleiche anzustellen. Mittlerweile haben wir, übrigens europaweit, Dauerbeobachtungsflächen, die es ermöglichen, Analysen zu erstellen und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Ich denke, dass das Geld, das seitens des Bundes, der Europäischen Union und der Länder hierfür zur Verfügung gestellt worden ist, sinnvoll investiert ist. Herr Heinrich, ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie die Hilfen für Baden-Württemberg umfassend dargestellt haben. Es ist völlig klar - alles andere wäre eine Sensation gewesen -, dass die Opposition beklagt, dies sei zu wenig. Es ist nun einmal so - da schließe ich mich Herrn von Schorlemer an, der dies zu Beginn seiner Rede in anderer Weise so ausgedrückt hat -, dass für diejenigen, die in der Regierung Verantwortung tragen, vieles anders aussieht und von ihnen anschließend auch anders formuliert werden muss, als wenn man sich in der Opposition befindet. Man will ja auch in die Bundesregierung, um diese Seite einmal kennen zu lernen, Herr Kollege von Schorlemer. ({8}) Dann ergeben sich plötzlich völlig neue Situationen, man sieht sich mit neuen Argumenten konfrontiert oder muss das, was man bisher total kritisiert hat, verteidigen. Das sind eben unterschiedliche Rollen. Ich gebe Ihnen aber durchaus Recht, dass bei der Diskussion über den Wald schon einmal die eine oder andere Schieflage herbeigeredet worden ist, nicht immer, aber teilweise durchaus, auch was die Dramatik anbelangt. Ich will mich jetzt nicht mit der Zertifizierung befassen - dieses Stichwort ist gefallen -; dazu ist schon einiges gesagt worden. Ich gebe gerne zu, dass ich in Nuancen die eine oder andere Position nicht teile bzw. dass ich eine Position einnehme, die sich unterscheidet ({9}) - Ich weiß nicht, ob ich nahe bei der Opposition bin, Herr Kollege Heinrich. Es sind mehrere Gruppen in der Opposition. Insoweit wüsste ich nicht, wo ich mich zuordnen sollte. Man müsste einmal abwarten, wohin Sie mich sozusagen tragen. Ich gebe aber zu, dass ich, was die Frage der Zertifizierung anbelangt, ganz entschieden auf der Seite bin, die sachlich richtig liegt. ({10}) Letztlich soll ja auch der Markt mitentscheiden. Ich glaube, dies ist vernünftig. Ich halte es nicht für gut, wenn wir in diese Diskussion, auch im Hinblick auf die Frage der Zertifizierung, zu viel Politik bzw. Ideologie hineintragen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Deß, bitte schön.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Funke, sind Sie, da Sie kritisiert haben, dass ich Niedersachsen nicht erwähnt habe, bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es in Ihrem Waldzustandsbericht in Bezug auf Bayern heißt: „In den letzten vier Jahren hat sich der Kronenzustand der Waldbäume in Bayern erkennbar stabilisiert“, während es in Bezug auf Niedersachsen heißt: „Das Gesamtergebnis der Erhebung zeigt keine Veränderungen zum Vorjahr.“? Dies heißt doch, dass sich der Zustand in Bayern verbessert hat. ({0})

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Herr Kollege Deß, mit einer solchen Bemerkung habe ich gerechnet. Darum habe ich den zuständigen Abteilungsleiter gebeten, mir den gesamten Bericht zu geben. ({0}) - Nein, den von diesem Jahr. Ich habe nachgeschlagen, was in Bezug auf die Länder Niedersachsen und Bayern dort geschrieben steht, und habe die von Ihnen zitierten Sätze auch gelesen. Dies führte bei mir zu der Konsequenz, das, was dort im Hinblick auf Niedersachsen erwähnt wurde, nicht zu zitieren. ({1}) Ich bitte Sie allerdings, nicht nur den Satz, den Sie mit Bezug auf Bayern zitiert haben, sondern auch die Anschlusssätze zu lesen, in denen die Aussage des von Ihnen zitierten Satzes nämlich stark relativiert wird. ({2}) Dies müssen Sie zugeben. Insoweit räume ich ein: Sie haben exakt das zitiert, was Ihnen hilft, und die Relativierungen weggelassen. ({3}) Dass Sie so vorgegangen sind, gestehe ich Ihnen zu. Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Vorgehensweise bemerkt habe. Ich hatte diesen Teil des Berichts vorsorglich gelesen, weil ich mit einer derartigen Bemerkung gerechnet habe. ({4}) Meine Damen und Herren, ich möchte zu den Orkanschäden Folgendes sagen: Es ist klar, dass beklagt wird, dass der Umfang der in diesem Zusammenhang aufgebrachten Leistungen zu gering sei. Die dort geleisteten Arbeiten werden aber auch anerkannt. Dafür möchte ich mich bedanken und mich ausdrücklich den Dankesworten von Herrn Heinrich anschließen. Im Übrigen habe ich gehört, dass die Koordination dort manchmal nicht so ablief, wie sie eigentlich hätte ablaufen können und müssen. Deshalb haben wir uns mündlich und schriftlich an die Landesregierung gewandt. Ich hoffe, hier ist mittlerweile Besserung eingetreten. Von allen ist anerkannt worden, dass wir im Rahmen der Möglichkeiten, die wir hatten, sehr schnell und umfassend sowie in ständigem Kontakt und ständiger Absprache zwischen Landes- und Bundesregierung, zwischen den Fachleuten und auf der Arbeitsebene geholfen haben. Dies sollte man nicht gering schätzen. Wir haben sehr schnell und zügig reagiert. ({5}) Ich unterstreiche das, was die Kollegin Lemke dazu gesagt hat: Wir können froh sein, dass das, was wir im Bereich des Holzmarktes befürchtet haben, in dieser Schärfe und Dramatik - ich sage dies in aller Vorsicht: bis jetzt - nicht eingetreten ist. ({6}) Vielleicht haben die umfassenden Maßnahmen und Absprachen, auch die mit den anderen Bundesländern, sich beim Holzeinschlag zurückzuhalten, mit dazu beigetragen, dass die gegenwärtige Situation auf dem Markt bis jetzt noch besteht. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Siegfried Hornung von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesminister hat soeben eingestanden, dass die Bundesregierung noch einiges zu leisten hat. Daher werde ich ihm jetzt vielleicht etwas gnädiger angehen, als ich es sonst getan hätte. Der Orkan „Lothar“ hat am 26. Dezember 1999 mit Spitzengeschwindigkeiten von über 200 km/h im Südwesten über unser Land hinweg schwere Verwüstungen an Waldbeständen angerichtet. Die gesamte Forstwirtschaft hat katastrophale Schäden zu verkraften. In der Bundesrepublik Deutschland sind insgesamt 30 Millionen Festmeter Holz angefallen. Von diesen insgesamt 30 Millionen Festmetern Schadholz liegen circa 25 Millionen Festmeter in Baden-Württemberg und circa 4,3 Millionen Festmeter in Bayern. Das heißt, der Orkan hat allein in Baden-Württemberg mit dem Niederwurf von mindestens dem dreifachen Jahreshiebsatz einen Schaden von 1,5 Milliarden DM angerichtet. Nach einem solchen Schadensereignis stellt sich natürlich die Frage nach dessen Bewältigung. Für viele bäuerliche Waldbesitzer ist das Lebenswerk mehrerer Generationen vernichtet worden. Wir dürfen diese Menschen mit diesen außergewöhnlichen Belastungen jetzt nicht allein lassen. ({0}) Außerdem hat es bei der Holzaufarbeitung in BadenWürttemberg - ich habe mir die Zahlen von der Berufsgenossenschaft jetzt noch einmal geben lassen - acht Todesfälle von bäuerlichen Unternehmern gegeben. Ich weiß von einem Fall: Ein 22-jähriger Bauernsohn ist unter den Toten. Die Zahl, die Sie, Herr Heinrich, genannt haben, mag stimmen; denn hier kommen die Gemeinden und der Staatswald noch hinzu. Die Waldbauern sollten jetzt zumindest bei der Schadensbegrenzung und Wiederaufforstung die Solidarität des Deutschen Bundestages erfahren. Der Wald und seine Besitzer brauchen gerade wegen der für die Allgemeinheit umsonst und nachhaltig erbrachten Wohlfahrtswirkungen jetzt die Unterstützung der Allgemeinheit. Der Wald erfüllt Sozialfunktionen und gehört damit zu den Eigentumsarten, die am stärksten sozial belastet sind. Das darf keine Einbahnstraße sein. Hier kommt die Unglaubwürdigkeit besonders der Grünen zum Ausdruck. Im Fordern sind sie groß, im Helfen sind sie klein, besonders seit sie in der Regierungsverantwortung sind. ({1}) Die grüne These „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“ gilt auf dem Regierungssessel wohl nicht mehr. ({2}) Im Gegenteil: ({3}) Einige „Naturschützer“ sehen in der Sturmkatastrophe schon ein natürliches Ereignis, das der Wald verkraftet. Sicher, in 120 Jahren. Das können aber nur solche sagen, die nicht betroffen sind. Wenn nun schon ein Streit auch vor Ort entsteht, ob die Forstverwaltung „Nasslager“ in diesen Regionen einrichten darf, um Sturmholz zu lagern und den Markt zu entlasten, zeigt sich, dass es diesen so genannten Schützern überhaupt nicht um den Wald und schon gar nicht um die Waldbauern geht. ({4}) Erst Anfang März hat der Bundeslandwirtschaftsminister nach starkem politischen Druck von uns 30 Millionen DM als Sonderprogramm für Orkanschäden im Forst zugesagt, während Baden-Württemberg und Bayern den Waldbesitzern insgesamt 115 Millionen DM an Hilfe gewähren. Was sind 30 Millionen DM gegenüber einem entstandenen Schaden von 1,5 Milliarden DM allein in Baden-Württemberg? Was können die betroffenen Waldbauern im Süden dazu, dass sie auf der rechten Seite des Rheins leben, während die Sozialisten auf der anderen Seite des Rheins wirklich mit Eigenmitteln und auch über EU-Mittel ihren Bauern helfen? An der rot-grünen Regierung Frankreichs könnte sich unsere Bundesregierung ein Beispiel nehmen. ({5}) Mit ein bisschen Kanzlerschau, vor Ort geplant, ist da nicht geholfen. Der Bundeslandwirtschaftsminister muss sich schon fragen lassen, wie groß sein Einfluss auf Bundeskanzler Schröder überhaupt ist. Den Bauern werden einerseits auf allen Ebenen mit einer rot-grünen Schredderpolitik und einer Brutalität Fördermittel gekürzt, die ihresgleichen sucht. Andererseits gibt sich der Bundeskanzler bei einer anderen Klientel - das ist heute schon gesagt worden - gerne als Retter der kleinen Leute. Wie bei Holzmann wird dafür das Millionenfüllhorn ausgeschüttet. Wie sich doch die Zeiten ändern! Die frühere unionsgeführte Bundesregierung hatte bei den Stürmen „Vivian“ und „Wiebke“ 1990 tatsächlich geholfen, indem sie bei weniger Schaden allein den Waldbesitzern in Baden-Württemberg etwa 60 Millionen DM zur Verfügung gestellt hatte. Demgegenüber sind die jetzt vom Bund zugesagten 30 Millionen DM für mehrere Bundesländer ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es bleibt ein Missverhältnis zwischen damals und heute. Es ist deshalb längst überfällig und notwendig, dass eine wirkliche Hilfe und Unterstützung für die betroffenen Waldbesitzer auch seitens des Bundes und der EU gestartet wird. Ich appelliere an Sie, Herr Minister Funke, setzen Sie sich doch mit etwas mehr Akribie dafür ein, dass die Maßnahmen der Länder rasch bewilligt werden, damit neben den Bundesmitteln auch EU-Mittel ihren Einsatz finden. Die CDU fordert in ihrem Antrag „Hilfsprogramm für die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den Orkan „Lothar“, die Auflegung eines mehrjährigen Sonderprogramms für die Beseitung von Orkanschäden mit 60-prozentiger Finanzierung durch den Bund. Diese Mittel sind zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Die Union hat sich dafür eingesetzt, dass die Mittel für diese Hilfen nicht aus dem Topf des Agraretats genommen werden, der heute ohnehin schon wie eine Zitrone ausgequetscht ist. Außerdem müssen angesichts des überhöhten Holzangebotes alle Maßnahmen ergriffen werden, um den Holzmarkt zu stabilisieren. Nun ist es mittlerweile April geworden und eine weitere Gefahr droht durch die Borkenkäfer. Um solche Nachfolgeschäden zu verhindern, müssen jetzt verstärkt die Sturmwürfe aufgearbeitet werden. Die CDU hat als einzige Fraktion Maßnahmen zur Verhinderung des Borkenkäferbefalls in ihren Antrag aufgenommen. So sehen wir praxisnahe Politik. ({6}) Die Union setzt sich in diesem Sonderfall ebenfalls für zinslose Kredite für in ihrer Existenz bedrohte Betriebe der Privatwaldbesitzer ein, damit diese wenigstens die Liquidität haben, um die Aufarbeitung der riesigen Holzmengen überhaupt bewältigen zu können. Wir fordern deshalb zur steuerlichen Erleichterung den Ein-Achtel-Steuersatz für Kalamitätsnutzungen. Die Schadensbewältigung wird uns noch mehrere Jahre beschäftigen. Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ brauchen wir einen separaten Block für die Unterstützung bei der Bewältigung der Sturmschäden, während die übrigen Mittel normal auf die Länder zu verteilen sind. Bei solchen Sturmschäden, die weder versichert sind noch von den Waldbesitzern beeinflusst werden können, bedarf die Forstwirtschaft unserer Hilfe und unserer Solidarität. Das sind wir ihr schuldig. Diese Unterstützung zu geben, ist eine politische Herausforderung, die wir aufgenommen und in unserem Antrag umgesetzt haben. Wir bitten Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Zunächst zu Tagesordnungspunkt 6 a: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3090 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3095 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun zu Tagesordnungspunkt 6 b: Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu den Waldschäden durch Orkane im Dezember 1999 auf Drucksache 14/3045 unter Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2685 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einem Hilfsprogramm für Sturmschäden im Wald durch den Orkan „Lothar“ auf Drucksache 14/3045 unter Buchstabe b: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2570 abzulehnen. ({0}) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zu einer raschen und wirksamen Hilfe für Waldbesitzer auf Drucksache 14/3045 unter Buchstabe c: Der Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/2583 abzulehnen.WerstimmtfürdieseBeschlussempfehlung?Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat ({1}) - Drucksache 14/3159 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit Sozialordnung ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Walter Riester.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf festigt die Bundesregierung das Vertrauen der Rentnerinnen und Rentner in den Eingang der Rentenzahlung am letzten Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten. Dieses Vertrauen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht beschädigt werden. Es ist durch die Wertstellungspraxis der Banken in den vergangenen Jahren gewachsen. Hier darf es keine Enttäuschung, keine Verunsicherung der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger geben. Der Gesetzentwurf stellt sicher: Die Rentnerinnen und Rentner können ihre zum Monatsersten fälligen Zahlungsverpflichtungen aus ihrer Rente für den jeweiligen Monat erfüllen. Sie werden deswegen von ihrem Geldinstitut nicht mit Sollzinsen belastet werden. Mir kommt es darauf an, hier Klarheit herzustellen. Der Gesetzentwurf verpflichtet die Träger der Rentenversicherung, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Rentnerinnen und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des jeweiligen Zahlungsverfahrens schon am letzten Bankgeschäftstag vor dem regulären Fälligkeitstermin über ihre Rente verfügen können. Lassen Sie mich kurz die Gründe skizzieren, die die Bundesregierung bewogen haben, gesetzgeberisch initiativ zu werden. Die Rentnerinnen und Rentner haben schon jetzt einen gesetzlichen Anspruch darauf, ihre Monatsrenten im Voraus zu erhalten, und zwar zum Ersten eines jeden Monats. ({0}) Die Rentenversicherungsträger haben dementsprechend schon heute dafür Sorge zu tragen, dass die Rentnerinnen und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des Verfahrens am Ersten jedes Monats über ihre Rente verfügen können. Um eine solche fristgerechte Auszahlung der Renten sicherzustellen, sind die Rentengelder den Banken in der Vergangenheit stets einen Tag vor ihrer eigentlichen Fälligkeit zugeleitet worden. Dieses Verfahren hatte nach Erlass des Wertstellungsurteils des Bundesgerichtshofs im Jahre 1997 zur Folge, dass die Banken aufgrund einer unterschiedlichen Auslegung des Urteils unterschiedlich verfuhren: Ein Teil der Banken schrieb den Rentnerinnen und Rentnern ihre Rente weiterhin am Ersten des jeweiligen Monats gut, ein anderer Teil jedoch schon am Letzten des Vormonats. Dadurch verbuchte ein Teil der Banken einen Zinsgewinn für sich, der eigentlich den Rentenversicherungsträgern zustand, während die Rentnerinnen und Rentner selbst unterschiedlich behandelt wurden. Die Situation widersprach aus Sicht der Rentenversicherungsträger der - unter anderem auch vom Bundesrechnungshof geforderten - wirtschaftlichen Optimierung des Rentenzahlverfahrens. In Verhandlungen zwischen dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, dem Rentenservice der Deutschen Post und den Banken wurde daher im zweiten Halbjahr 1999 ein Verfahren vereinbart, wonach der sich aus dem Wertstellungsurteil des Bundesgerichtshofs ergebende Zinsgewinn generell den Rentenversicherungsträgern zugute kommen sollte. FürdieRentnerinnen und Rentner sollte dadurch gleichzeitig der Zustand wieder hergestellt werden, der vor dem Wertstellungsurteil des Bundesgerichtshofes bestand. Für den Teil der Rentnerinnen und Rentner, der seine Rente in den letzten Jahren schon vor dem Letzten des Vormonats gutgeschrieben bekam und sich darauf einstellen konnte, dass laufende Überweisungen bereits am Letzten des Vormonats ausgeführt wurden, bedeutete dies jedoch eine gravierende Änderung, eine Verschlechterung, die wir so nicht hinnehmen konnten. Angesichts der Gesetzesinitiative, die wir nun ergriffen haben, haben sich die Rentenversicherer darauf eingestellt, das alte Verfahren wieder einzuführen. Nun möchte ich noch kurz auf die Frage des vermeintlichen Zinsgewinns eingehen. Die Rentenversicherer sagen zunächst einmal nicht zu Unrecht, durch das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wertstellungsgutachten hätten sie bei diesem Verfahren einen Zinsgewinn von 16 Millionen DM realisiert. Auf der anderen Seite muss man sehen, meine Damen und Herren, dass es um 22 Millionen Rentenzahlungen geht. Der Zinsgewinn macht also pro Rentenzahlung im Jahr etwa 75 Pfennige oder pro Rentenzahlung rund 7 Pfennige aus. Dafür möchte ich keine Verunsicherung von 17 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in Kauf nehmen. ({1}) Ich bin sehr für ein wirtschaftlich effizientes Verfahren. Ich bin auch sehr dafür, ein bestehendes Gesetz mit den jeweiligen technischen Möglichkeiten einzuhalten. Aber so, wie dort verfahren worden ist - auch noch mit der Unzulänglichkeit, dass die Rentnerinnen und Rentner nicht informiert worden sind; unser Haus ist auch nicht befasst worden, aber das lasse ich einmal beiseite -, geht es nicht. Deswegen haben wir schnell gehandelt und sind der Meinung, dass die Sicherheit bei 22 Millionen Rentenzahlungen beziehungsweise die Sicherheit von 17 Millionen Rentnern mehr wert ist als der Zinsgewinn, der in dieser Frage unterstellt worden ist. Daher bitte ich Sie, dem Gesetz zuzustimmen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Heinz Schemken.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion, dass der Gesetzentwurf den richtigen Weg darstellt. Sicherlich ist auch richtig, dass das gewachsene Vertrauen nicht erschüttert werden darf, weil es sich hier um eine Praxis handelt, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Es geht um die Rentenzahlung am letzten Geschäftstag der Banken - vor dem Monatsersten. Das gilt für die Renten sowohl der Rentenversicherungsträger als auch der Unfallversicherungsträger. Dieses Gesetz verpflichtet sie, die Regelung, die bisher üblich war, in Zukunft beizubehalten, sodass der Rentner rechtzeitig über die ihm zustehende Rente verfügen kann. Die Rentenversicherungen haben nun - interessanterweise in dieser Zeit - versucht, die Rentenzahlung etwas zu strecken. Das bringt natürlich Geld. Der Minister hat schon auf die Summe hingewiesen; es können sicherlich einige 10 Millionen DM sein. Aber darum geht es nicht. Es geht insbesondere darum, dass der Rentner im Hinblick auf seine Zahlungsverpflichtungen am Monatsersten disponieren kann, damit er nicht Sollzinsen bezahlen muss. Was die Habenzinsen angeht, so erfolgt die Wertstellung hier hat sich die Praxis schon wohltuend geändert - auch noch am Freitagnachmittag. Auch dies ist für den einzelnen Rentner sicherlich wichtig: Er muss rechtzeitig über die Rente verfügen können und darf nicht mit Kontokorrentzinsen belastet werden. Die Rentner, die bisher darauf bauen durften, erhalten durch diese Gesetzesinitiative Sicherheit. In Zukunft wird also die frühere Überweisungspraxis beibehalten werden können. Dabei geht es im Übrigen um Sonntage, um Feiertage und auch um verlängerte Wochenenden, an denen Banken nicht tätig sind. Das ist die eine Seite des Vertrauensschutzes, den der Minister hier völlig zu Recht herausgestellt hat. Aber es gibt auch einen anderen Teil des Vertrauensschutzes. ({0}) - Ja, ich habe schon gesagt, dass es der richtige Weg ist. In einer Fragestunde habe ich bereits nachgefragt, wie weit hier überhaupt noch die Post AG eingeschaltet wird. Aber darüber müssen wir sicherlich in den Ausschussbesprechungen noch reden. Nun komme ich aber zu einem anderen Teil des Vertrauensschutzes. Es gab nämlich einen enormen Vertrauensverlust: Noch vor drei Monaten wurde eine Rentenerhöhung angekündigt, die den Rentnern die volle Kaufkraft erhalten sollte. ({1}) Aber dies ist nicht eingetreten. Wie sich nun herausstellt, werden die Renten noch nicht einmal in Höhe der Inflationsrate angepasst. Die Rentenerhöhung fällt um 1 Prozent niedriger aus als vom Bundesarbeitsminister versprochen. Sie ist also weit geringer als angekündigt. Sie bringt dem Rentner präterpropter noch nicht einmal einen 10-DMSchein. Hier ist das Vertrauen erschüttert. Das ist der Punkt. ({2}) Die jetzige Rentenerhöhung ist die drittniedrigste seit 1957 und die geringste seit der Wiedervereinigung. Wäre es bei der nettolohnbezogenen und damit leistungsbezogenen Anpassung der Renten geblieben, dann wäre die Rentenerhöhung doppelt so hoch gewesen. ({3}) Dies ist also ein eklatanter Vertrauensbruch. Das Rentenauszahlungsgesetz ist dagegen vertrauensbildend. Da gebe ich Ihnen Recht, Herr Minister. Aber in Ihrer kurzen Regierungszeit gab es schon vier solcher Fehlmeldungen. Das kann das Vertrauen der Rentner natürlich nicht stärken. Ich denke an das Wort des Kanzlers und auch an das des Arbeitsministers. Ich möchte abschließend feststellen: Die heutigen Rentner, die weitgehend der Aufbaugeneration zuzuordnen sind, haben mit harter Arbeit in schwieriger Zeit ihre Rente verdient. ({4}) Ich bin der Meinung, dass diese Renten nicht gekürzt werden dürfen. Bei aller Anerkennung des vorgelegten Gesetzes muss auch dies zu dieser Stunde gesagt werden. Wir sollten in nächster Zeit miteinander im Ausschuss versuchen, dies neu zu regeln. Das ist mein Angebot. Schönen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schemken, das, was Sie hier gerade gemacht haben, ist genau das, was wir im Moment nicht brauchen. Das Rentenauszahlungsgesetz ist notwendig, um Rechtssicherheit zu schaffen. Es muss gewährleistet werden - der Minister hat das ausgeführt -, dass alle Rentnerinnen und Rentner gleich behandelt werden. Eine einheitliche Regelung stellt sicher, dass alle Rentnerinnen und Rentner zum gleichen Termin ihre Rente erhalten und dass nicht die einen zufällig besser und die anderen zufällig schlechter gestellt werden. Das ist gerade für diejenigen wichtig, die wenig Rente beziehen. Auch sie haben Zahlungsverpflichtungen, denen sie nachkommen müssen, möglichst ohne Sollzinsen zu zahlen. Die große Verunsicherung, die im Februar dieses Jahres durch die Forderung der Rentenversicherungsträger nach einem anderen Auszahlungstermin ausgelöst wurde, hat mit unterschiedlichen Dingen zu tun. Sie hat zum Beispiel mit der Art und Weise zu tun, in der die Debatten über die Rente im Deutschen Bundestag geführt werden und die nicht einer vernünftigen und konstruktiven Atmosphäre entspricht, um die wir uns bei den Rentenkonsensgesprächen bemühen. Das verunsichert die Rentnerinnen und Rentner zusätzlich. Nach meiner Meinung sollten wir die Debatte nicht in der bisherigen Weise fortführen. ({0}) Die Renten- und Unfallversicherungsträger werden verpflichtet, am letzten Werktag vor dem Monatsersten die Rente auszuzahlen. Aufgrund der Beschleunigung im modernen Zahlungsverkehr der Banken hat sich die Dauer verkürzt, bis eine Gutschrift auf dem Konto erscheint. Wir wollen natürlich auch verhindern, dass die Banken - kostenlos - zulasten der Rentnerinnen und Rentner und zulasten des Vertrauens spekulieren, das wir brauchen. Ich hoffe, dass wir das Vertrauen und die Verlässlichkeit gemeinsam wieder herstellen wollen. Wir machen mit dem jetzt vorgelegten Gesetz einen ersten Schritt in diese Richtung. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber dieser Schritt ist angesichts der großen Reform notwendig, die wir noch vor uns haben. Sie sollten diesen Schritt nicht diffamieren, indem Sie im Bundestag eine alte Debatte immer wieder neu aufrollen und alte Argumente immer wieder neu vorbringen. Aus meiner Sicht sind wir in unseren Konsensgesprächen schon sehr viel weiter. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Geben Sie zu, dass dies ein richtiger und guter Schritt ist. Alles andere sollten wir dort verhandeln, wo wir es gemeinsam verhandeln wollen. Mit der Art und Weise, in der Sie an dieser Stelle agieren, diffamieren Sie sich selbst. Ich bitte Sie herzlich: Seien Sie an dieser Stelle ehrlich und konstruktiv zugleich und geben Sie zu, dass dieser Schritt richtig ist. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riester, „dumm gelaufen“, so sagt man landläufig zu solchen Fehlentscheidungen. ({0}) Klammheimlich sollten die Mitarbeiter der Rentenversicherungsträger die Renten einen Tag später auszahlen, als dies bisher bei den meisten Rentnern der Fall gewesen ist. Sie sollten es hinter dem Rücken des Ministers und des Parlaments tun. Wie es in dieser Republik nun einmal ist: Der „Bild“Zeitung bleibt fast nichts verborgen und schon ist ein handfester Skandal produziert. Dies, Herr Riester, hat Sie nun zum Handeln gezwungen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten diesen Fehler ohne diese Art von öffentlicher Aufregung und Verunsicherung der Rentner vernünftig korrigiert. Die Rentenversicherungsträger hatten natürlich - Sie haben das eben ausgeführt - das Gesetz auf ihrer Seite. Im Gesetz steht, dass am Ersten eines jeden Monats für den laufenden Monat ausgezahlt werde. Richtig ist aber auch, dass die Banken bisher nicht in der Lage gewesen sind, die Anweisung auf das Konto taggenau vorzunehmen. Aus diesem Grund wurde die Rente in den meisten Fällen bereits einen Tag früher ausgezahlt. Nun sollen die Rentner ihr Geld einen Tag früher erhalten. Die F.D.P. begrüßt das. Die Umsetzung des Plans erfordert eine Änderung des Gesetzes. Wir können dem uns vorliegenden Entwurf in der Fassung, in der er in die Ausschüsse geht und - wenn das Ministerium richtig gearbeitet hat - aus diesen wieder herauskommt, zustimmen. Wichtig ist, dass die Verunsicherung der Rentner aufhört. Wichtig ist mir aber auch, dass wir nicht jede Kleinigkeit zum Anlass nehmen, zusätzliche Aufregungen zu produzieren. Herr Kollege Schemken, wir schätzen Sie sehr, aber vieles von dem, was Sie hier gesagt haben, hat mit dem Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung behandelt wird, nichts zu tun. ({1}) Rentenkürzungen stehen heute nicht auf dem Programm. Auf dem Programm steht vielmehr, dass die Rentner ihr Geld mit Sicherheit jeweils einen Tag vor dem Beginn des neuen Monats bekommen. ({2}) Deswegen sollten wir dies auch so akzeptieren. Wir versuchen auf jeden Fall, durch eine sachbezogene Diskussion die Aufregung aus diesem Thema herauszunehmen. Lassen Sie uns deshalb dieses Gesetz im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung so reibungslos behandeln, wie dies in unserem Ausschuss in anderen Bereichen sehr häufig der Fall ist. Wir jedenfalls sind dazu bereit. Ich hoffe, auch die CDU/CSU macht mit. Danke schön. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Peter Dreßen, SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich nicht zu Wort gemeldet, wenn nicht der zweite Redeteil von Ihnen, Herr Kollege Schemken, inakzeptabel gewesen wäre. Ihr Beitrag war nun wirklich ein bisschen dreist. Ihre Ausführungen muss man einfach zurückweisen. ({0}) Sie wissen genauso wie ich, dass in all den Jahren, in denen es die Rentenversicherung gibt, als Bezugsgröße für die Erhöhung das vorangegangene Jahr herangezogen wurde. Das geht auch nicht anders. Wir wissen doch heute überhaupt nicht, wie hoch die Inflationsrate am Ende des Jahres sein wird. Es kann durchaus passieren, dass im nächsten Jahr die Inflationsrate wesentlich niedriger sein wird, obwohl als Bezugsgröße die höhere Inflationsrate des laufenden Jahres genommen wird. Ihre Behauptungen waren insofern ein starkes Stück. ({1}) Ich will Ihnen noch etwas entgegenhalten: Wir werden nie das tun, was Ihnen passiert ist. 1996 haben unter Ihrer Regierung Rentner - vor allem Frauen - Rentenbescheide bekommen, die beispielsweise eine Rente von 700 DM auswiesen. Ein Jahr später, als sie dann die Rente tatsächlich bekommen haben, haben sie einen Abschlag bis zu 300 DM gehabt. Herr Kollege Schemken, so etwas werden Sie bei uns nie erleben, ({2}) dass gerade die Renten, die ohnehin schon niedrig sind, noch um 200 bis 300 DM nach unten gehen. Das war nun wirklich ein starkes Stück. Sie haben sicherlich auch in Ihrem Wahlkreis diese Frauen im Büro gehabt und mussten sie betreuen. Ich hätte nur gern gewusst, was Sie ihnen gesagt haben. Ich habe gesagt: Das, was sich die Regierung da leistet, ist eine Unverfrorenheit. ({3}) Aber leider hatten wir damals keine Mehrheit, um das zu verhindern, was Sie sich geleistet haben. Dann will ich Ihnen noch eines sagen: In den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit, von 1994 bis 1998, machten die Erhöhungen - ich sage das, weil Sie das erwähnt haben - Pfennigbeträge aus; sie lagen unter der Inflationsrate. Wir können das Jahr für Jahr genau nachweisen. Ihre Erhöhungen lagen unter der Inflationsrate. Wir erhöhen jetzt die Renten entsprechend der Inflationsrate - zwei Jahre lang. Wir haben versprochen, dass wir danach wieder zur Nettolohnanpassung zurückkehren. Sie wissen: Das, was die SPD verspricht, hält sie auch ({4}) gerade in der Rentenversicherung. In der Rentenversicherung haben wir noch immer alles gehalten. Kollege Laumann, wir haben im Wahlkampf versprochen, dass wir die Fremdleistungen aus der Rentenversicherung herausnehmen. ({5}) Das ist passiert. Wir finanzieren die Fremdleistungen heute aus Steuermitteln; sie werden heute aus der Ökosteuer finanziert. Und wir haben die Renten in Ordnung gebracht, ({6}) wie wir es den Leuten gesagt haben. Wir haben bei der Rentenversicherung natürlich auch im Vorfeld Ordnung geschaffen. Wir haben gesagt, dass jeder, der arbeitet, seinen Beitrag in die Rentenversicherung einbringen muss. Unter heftigem Widerstand und Protest von Ihnen haben wir die 630-DM-Regelung in der Rentenversicherung eingeführt - zum Guten. ({7}) Und Sie sehen, welche Erfolge wir nebenbei auch noch in der Krankenversicherung haben. ({8}) Ich meine also, dass Sie sich wirklich ein Stück davon abschneiden können, wie man eine solide Rentenpolitik ohne Verunsicherung der Rentner macht - etwas, was man Ihnen leider immer wieder vorwerfen musste. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS gebe ich nun der Kollegin Monika Balt das Wort.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ein schlechter Scherz auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner und Herr Minister Riester sprach von einem „Testversuch“, der Gott sei Dank wieder abgebrochen werden musste: Erst beschließt die Regierungskoalition im Haushaltssanierungsgesetz die Abkopplung der Rentenentwicklung von der Nettolohnentwicklung ({0}) bei gleichzeitiger Mehrbelastung der Rentnerinnen und Rentner durch die Ökosteuer, was ja real einer RenDr. Irmgard Schwaetzer tenkürzung gleichkommt - aber darüber werden wir ja morgen debattieren -, und dann zahlen die Rentenversicherungsträger die Renten zum Ersten des laufenden Monats mit dem Ziel aus, rund 16 Millionen DM an Zinseinkünften zulasten der Rentnerinnen und Rentner zu erwirtschaften. Mir kann hier niemand erzählen, dass das Bundesarbeitsministerium über dieses Vorgehen nicht wenigstens informiert war. ({1}) Aber: Hier wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Aufgrund der massiven Proteste der Betroffenen und der medialen Öffentlichkeit erfolgte im darauf folgenden Monat die Rückkehr zur ursprünglichen Regelung und diese soll nunmehr gesetzlich verankert werden. Das macht auch Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn viele der Seniorinnen und Senioren sind Mieterinnen und Mieter und begleichen ihre Miete im Bankeinzugsverfahren. Viele der Seniorinnen und Senioren kommen mit ihrer monatlichen Rente gerade so über die Runden. Sie staunten nicht schlecht und waren ziemlich empört, als ihr Kontoauszug ohne ihr eigenes Verschulden einen Negativsaldo aufwies mit der Folge, dass sie auch noch Überziehungszinsen zu zahlen hatten. Wenn man den Botschaften der Rentenkonsensgespräche, von denen wir ja immer noch bewusst ausgegrenzt werden, glauben kann, dann bastelt man dort nur an der Leistungsseite der gesetzlichen Rente herum - und das nicht zum Vorteil der Rentnerinnen und Rentner. Nun machen ausgerechnet die Rentenversicherungsträger einen kühnen Vorstoß in die Richtung, die mehr Geld in die Rentenkasse bringen soll. Löblich, aber so nicht! Die PDS unterbreitete kürzlich in der Öffentlichkeit Überlegungen und realisierbare Vorschläge, wie mehr Geld in die Rentenkasse, in die gesetzliche Rentenversicherung gelangen könnte. Unserer Meinung nach müssen bisher nicht versicherte Personenkreise schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. ({2}) Die Krise der Rentenfinanzen ist heute vor allem eine Krise der Bemessungsgrundlage, der Bruttolöhne und der Bruttogehälter. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme wächst seit rund 20 Jahren im Durchschnitt deutlich langsamer als die Wertschöpfung der Unternehmen. Die Berechnungsgrundlage wird relativ schmaler, weil der Faktor Arbeit für die betriebliche Wertschöpfung im gesellschaftlichen Durchschnitt an Bedeutung verliert. Die Lohnsumme allein ist daher kein ausreichender Maßstab mehr für die wirtschaftliche Leistungskraft eines Unternehmens und damit für seine Beteiligung am gesellschaftlichen Solidarausgleich. Auch hierzu hat die PDS Vorschläge gemacht. Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss eines sagen: Rentenreform ist Gesellschaftspolitik. Beziehen Sie die PDS mit ein! Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Heinz Schemken. ({0})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass ich hätte schweigen sollen. Hier ist die vertrauensbildende Maßnahme sehr hoch angesiedelt worden. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, dass ich jetzt noch einmal auf die Gesamtproblematik eingehe. Ich habe es nicht so gesagt, wie es Herr Dreßen dargestellt hat. ({0}) Herr Dreßen, da beißt keine Maus ‘nen Faden ab: Durch zweimalige Rentenanpassung in Höhe der Inflationsrate sinkt das Rentenniveau von 70 auf 67 Prozent. Das ist Fakt. Fakt ist auch, dass der Rentner dieses Ergebnis aufgrund wiederholter Klarstellungen und Antworten in den letzten anderthalb Jahren von Ihrer Seite - das beginnt beim Kanzler und hört beim Minister auf - so nicht erwarten konnte. Darin liegt ein Vertrauensbruch. Das ist meine Meinung. Dabei bleibe ich. Ich habe es in Mark und Pfennig dargelegt. Diese Aufstellung ist auch nicht widerlegt worden. Darüber hinaus darf ich noch einmal feststellen: Durch zweimalige Anpassung gemäß der Inflationsrate durchbrechen wir das System, ohne dass wir einen übergreifenden Konsens über eine Rentenreform hergestellt hätten. Dies bedauern wir nach wie vor. Natürlich wirken wir mit. Das habe auch ich zuletzt gesagt. Ich sehe dieses Thema aber in einem größeren Zusammenhang. Diese Haltung lasse ich mir nicht nehmen. Schönen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung der Kollege Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Schemken, wir sollten gemeinsam festhalten - da gebe ich Ihnen Recht -, dass die Rente auf ein Niveau von 67 Prozent sinken kann. Haben Sie aber einmal überlegt, wo wir gelandet wären, wenn Ihr demographischer Faktor gezogen hätte, der ja auch nur willkürlich gegriffen war, weil er nur halb so groß war wie nötig? Sie wären damit bei einem Rentenniveau von 64 Prozent gelandet. ({0}) Jeder willkürlich gegriffene Ansatz kann natürlich immer verändert werden. Wenn Sie den demographischen Wandel komplett berücksichtigt hätten, wären Sie sogar unter 60 Prozent gelandet. Das hätten wir nicht mitgemacht. Aber mit dem offiziell von Ihnen festgesetzten Faktor, der einen Teil des demographischen Wandels berücksichtigte, wäre man bei 64 Prozent gelandet. Ich bin heilfroh, dass das vom Tisch ist. Ich hoffe, dass wir uns in den Rentenkonsensgesprächen so weit einig werden, dass die Rente auf einem Niveau liegen muss, von dem jeder Mensch leben kann. Man kann heute natürlich einem 50-Jährigen nicht zumuten, dass er Eigenvorsorge betreibt. Auch Sie wissen, dass solche Änderungen nur langfristig möglich sind. Ich bin eigentlich guten Mutes, dass wir, wenn wir in der Kommission nüchtern und sachlich miteinander diskutieren, auch zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/3159 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Hierzu gibt es kei- ne anderweitigen Vorschläge. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Markus Meckel, Werner Schulz ({0}) sowie weiterer Abgeordneter Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit - Drucksache 14/3126 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffentlichkeit zugänglich machen - Drucksache 14/3120 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Günter Nooke das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Gruppenantrag fordern wir die Bundesregierung auf, auf der Berliner Schloßfreiheit ein Einheits- und Freiheitsdenkmal zu errichten. Es ist die Forderung nach einem positiven Nationaldenkmal, das davon erzählen und zeugen soll, wie die Deutschen 1989/90 zur Freiheit und zur Einheit fanden. Ja, wir betreten damit politisches Neuland. Wir fordern ein positives nationales Symbol. Die Initiative dazu kam im Mai 1998 aus der Mitte der Gesellschaft, aus Ost und West: von Florian Mausbach, dem Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, von dem Journalisten Jürgen Engert, Lothar de Maizière und mir. Aber es zeigte sich, dass wir anders als erwartet breite Zustimmung bei den Repräsentanten unserer höchsten Verfassungsorgane und bei zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fanden. Was für uns damals ein besonders ermutigendes Zeichen war: Die positiven Reaktionen kamen sowohl von Parteilosen als auch von bekannten, ehemals oder noch aktiven Parteipolitikern verschiedenster Couleur. Als sich damals beispielsweise Richard Schröder, Klaus von Dohnanyi, Ignatz Bubis, Josef P. Kleihues, Hans-Olaf Henkel oder Lothar Späth - um nur sechs Namen zu nennen - unserer Idee angeschlossen haben, war klar, dass dieser Vorschlag so ernst genommen wurde, wie er gemeint war. Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 war im Grunde die einzige erfolgreiche Freiheitsrevolution in der deutschen Geschichte. Die erste inhaltliche Forderung dieser Revolution war die nach der deutschen Einheit. Beides war, ja, ist von historischer Bedeutung. Wir sollten daran auch in der Mitte der Bundeshauptstadt erinnern und damit auch eine Herausforderung für die Zukunft formulieren. ({0}) Wir schlagen vor, für die Errichtung dieses Einheitsund Freiheitsdenkmals einen internationalen Wettbewerb auszuschreiben, der unter der Losung „Freiheit und Einheit“ stehen sollte, wie sie in jenen Tagen formuliert wurde: „Wir sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk!“ Die Kulturnation Deutschland braucht für ihre Erinnerungskultur nicht nur das Gedenken an die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und den Massenmord an den Juden. Sie braucht auch die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur des SED-Regimes. Aber erst recht braucht sie dann auch - neben Gedenkstätten und Mahnmalen - Freudenmale, die den Freiheitswillen der Menschen symbolisieren und an die Überwindung der Diktatur erinnern. Es geht uns also nicht um eine neue Debatte über Denkmäler und eine Diskussion darüber, ob Denkmäler noch zeitgemäß sind. Die öffentliche Debatte hat die Kritiker schon lange widerlegt. Uns liegt an einer Debatte und an der Herausforderung, wie wir, die Bürger und ihr Staat, unsere Nation, damit umgehen, der Erinnerung der Freiheit in Einheit zu gedenken. In der alten Bundesrepublik hatte diese Forderung noch Verfassungsrang. Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution das Defizit an demokratischen Revolutionen in der deutschen Geschichte behoben. Das ist Grund genug, dass hier und heute 177 Abgeordnetenkollegen des Deutschen Bundestages die Bundesregierung in die Pflicht nehmen wollen, für ein solches Denkmal die Verantwortung zu übernehmen. ({1}) Ich garantiere Ihnen: Die Bürgerinnen und Bürger werden Sie weiter dazu drängen. Was den Ort anbelangt, so kann man und wird man sicherlich darüber diskutieren. Eine kurze Begründung unserer Vorschlages sei hier gleichwohl gestattet. Der verlassen erscheinende Schlossplatz bildet wieder die natürliche Mitte des wieder vereinigten Berlins und damit auch die politische institutionelle Mitte der Bundesrepublik. Hier ließe sich aus topographischer und historischer Sicht Einiges dazu sagen. Man denke nur an die Ereignisse eines Vorläufers der 1989er Herbstrevolution, nämlich die 1848er Revolution zur Erlangung von Demokratie. Diese spielte sich auch und vor allen Dingen um diesen Platz herum ab. Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 in der DDR hatte viele Zentren, von denen manche - denken Sie nur an Plauen, Leipzig oder Dresden - den Berlinern sogar weit voraus waren. Aber für uns Zeitgenossen ist hoffentlich noch gegenwärtig, dass der große Demonstrationszug von über 750 000 Menschen am 4. November 1989 auf dem Weg Unter den Linden gen Westen über diesen Platz, also quasi vor dem Sockel der Schlossfreiheit, abbog. Von da aus ging es wieder zurück zur Kundgebung auf den Alexanderplatz. Der Einheitsbeschluss der frei gewählten Volkskammer fand nicht einmal einen Steinwurf weit von diesem jetzt noch kahlen Sockel im damaligen Palast der Republik statt. Unweit davon, im Kronprinzenpalais, wurde wenig später der Einigungsvertrag unterzeichnet. So, wie die deutsche Einheit im Anschluss an die friedliche Revolution von 1989 ein knappes Jahr später erfolgte, könnte ein solches Denkmal den bereits im 19. Jahrhundert vorhandenen Einheitswillen in anderer Weise symbolisieren. Mit der Errichtung eines Denkmals auf dem für den Zweck eines Reiterstandbildes für Wilhelm I. gebauten Sockel wird jener Ort des Einheitswillens gleichsam demokratisch vollendet. Sie können es auch so formulieren: Wir sollten den Mut haben, diesen Sockel im hegelschen Sinne demokratisch aufzuheben und mit neuem Leben zu erfüllen. Dieser Ort ist viel zu wichtig, als dass er vielleicht nur Abstellplatz für Baucontainer oder Anlegeplatz für Kaffeefahrten mit den Spreedampfern sein sollte. ({2}) Es ist der Logenplatz deutscher Geschichte. Ob das Gewölbe darunter auch geöffnet werden sollte, ist dabei völlig zweitrangig. Manchmal provoziert allerdings eine allzu prinzipielle Kritik an der Initiative für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal die Frage, ob sich dahinter nicht eine prinzipielle Ablehnung der friedlichen Revolution verbirgt. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Antrag zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit gerade in dem Jahr, in dem wir den zehnten Jahrestag der deutschen Einheit begehen werden, ausgesprochen zeitgemäß ist. Denn bei aller Diskussion und zuweilen gerade hier in diesem Hause scharfen Auseinandersetzungen über die richtige Politik, die seit zehn Jahren im wiedervereinigten Deutschland gemacht wurde: Ich zweifle nicht daran, dass die Tatsache der 1990 erfolgten Wiedervereinigung, dass die politische Willensbekundung zum Ende der staatlichen Teilung auch heute von der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem Land positiv gesehen wird. ({3}) Darüber können weder Analysen über noch bestehende Unterschiede zwischen Ost und West, weder mehr oder weniger kunstvolle Essays über die mentalen Schwierigkeiten des Zusammenwachsens der beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten noch diverse Prognosen, nach denen der Prozess der inneren Einheit sich noch über Generationen hinziehen würde, hinwegtäuschen. Auch wenn die Deutschen, wie zu vermuten ist, noch lange Zeit über die Wege des Zusammenwachsens diskutieren werden, so steht doch deren berechtigter positiver Bezug auf eines der wichtigsten Ereignisse des soeben vergangenen Jahrhunderts bereits heute fest: Wir haben nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Verpflichtung, auf die freiheitlichen und demokratischen Bewegungen in unserer Geschichte hinzuweisen und diese im öffentlichen Bewusstsein zu halten. ({4}) Vielleicht gibt es vor dem Hintergrund mancher Diskussionen über die Härten und Schwierigkeiten der mit der deutschen Einheit verbundenen tagespolitischen Erfordernisse sogar eine Notwendigkeit. Diese besteht darin, mit einem solchen Denkmal diese großartige Freiheitsbewegung, die ohne die Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa nicht denkbar gewesen wäre, für manche erst wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sehr geehrte Damen und Herren, der Gründungsmythos des vereinten Deutschlands ist nicht ein vermeintlicher oder ehrlicher Antifaschismus. Und schon gar nicht beinhaltet ein solcher Gründungsmythos den Sieg des Westens über den Osten. Der Gründungsmythos, der in dem zu errichtenden Denkmal auf der Berliner Schloßfreiheit symbolisiert werden und für alle sichtbar und erkennbar gemacht werden soll, beinhaltet den - schließlich erfolgreichen - Kampf für Freiheit und Demokratie. Deshalb kann ein solches Denkmal weder zur Pilgerstätte für Rechte oder für Linke werden, sondern - ähnlich wie die Kuppel dieses Hohen Hauses - nur zu einem Mekka der Demokraten. ({5}) Als Berliner füge ich hinzu: Vielleicht wird es auch so etwas wie die Spanischen Treppen in Rom, wo sich Menschen einfach gern treffen. So gesehen ist dieses Denkmal auch nie in Opposition zu irgendwelchen anderen Symbolen der demokratisch verfassten Bundesrepublik zu verstehen. Wir wollen kein Antidenkmal zum Holocaust-Mahnmal errichten. Aber wir lassen uns als Nation nicht auf die zwölf schrecklichen Jahre Nazidiktatur festlegen. Die Hülle des Begriffs „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ ist mit Inhalt und - ich scheue mich nicht vor dieser Formulierung - mit Bedeutung zu füllen. Ich bin überzeugt davon, dass es in dieser Frage einen vielleicht sonst nicht üblichen großen Konsens unter sonst demokratischen Konkurrenten gibt. Ich bitte Sie stellvertretend für die 177 Abgeordnetenkollegen aus vier Fraktionen, die diesen Antrag einbringen und bei denen ich mich noch einmal ausdrücklich bedanken möchte, diesem demokratischen Konsens durch ihre Unterstützung und aktive Teilnahme bei der Umsetzung Ausdruck zu verleihen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Markus Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir schlagen heute ein Freiheitsund Einheitsdenkmal vor, um der Ereignisse vor zehn Jahren zu gedenken und uns darüber zu freuen und für dieses Freudenereignis einen entsprechenden Ort zu schaffen. Wir haben in den letzten Monaten bei verschiedenen Ereignissen gemerkt, dass wir Deutsche wahrhaft Schwierigkeiten haben, angemessene Formen der Erinnerung und des Gedenkens zu finden, sowohl beim Erinnern und beim Gedenken an eigenes Unrecht, an Schuld als auch bei so erfreulichen Ereignissen, wie es nun einmal Mauerfall, eine friedliche Revolution und deutsche Einheit sind. Noch im Jahre 1948 zum Gedenken an den Jahrestag 1848 hat Carlo Schmidt erklärt, dass wir Deutsche eben keine gelungene Revolution haben. Jetzt haben wir eine. Dies ist ein wesentlicher Teil unserer Identität, unseres Gemeinund unseres Selbstverständnisses. Gerade nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts ist dies nun wahrhaftig ein Geschenk - ein Geschenk, zu dem der eine oder andere und dann doch sehr viele ihren Teil beigetragen haben, aber das keiner von uns aus eigener Kraft erreichen konnte. Dies war eine Konstellation, die die große Mehrheit des deutschen Volkes glücklich gemacht hat. Wenn ich sage, dass wir Schwierigkeiten haben, so zeigt sich dies an einer Kleinigkeit: indem wir etwa dieses Denkmal gemeinsam vorschlagen, die Reihenfolge der Begriffe aber unterschiedlich setzen - manchmal ein und dieselbe Person. Der Antrag selbst ist überschrieben mit „Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals“, und im Text selber schreiben wir von einem „Freiheits- und Einheitsdenkmal“. Der Zusammenhang von Freiheit und Einheit ist eine ganz wesentliche Sache, über die wir miteinander nachdenken sollten, vielleicht sogar miteinander streiten sollten, die von ganz zentraler Bedeutung ist und für die Gestaltung dieses Denkmals sein wird. Ich habe vor einigen Jahren in Bonn im Plenum schon einmal sagen hören, dass man sich freue, dass wir, die 16 Millionen Ostdeutschen, durch die Einheit die Freiheit erhalten hätten. Ich muss einfach sagen: Das war falsch. Denn erst war die Freiheit und dann war die Einheit. Weil wir im Osten Selbstbestimmung errungen haben, war und wurde die Einheit möglich, und zwar durch einen selbstbestimmten Weg der Ostdeutschen. ({0}) Diese Zusammenhänge sind Teil unserer Identität geworden, Teil unseres Erbes. Wir merken, dass wir noch viel miteinander reden müssen, um festzustellen, dass wir auch zu gemeinsamen Selbstverständnissen kommen, dass wir diese Zusammenhänge gemeinsam und wirklich zusammen beschreiben können. Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir über diese Zusammenhänge bei der Gestaltung dieses Denkmals und bei der Diskussion über dieses Denkmal - wir werden noch viele Diskussionen haben - laut nachdenken. Es soll ein Denkmal sein, das für uns alle, für unser Gemeinwesen, eine Bedeutung hat. Es soll kein Heldenmal sein. Mein Freund Gunter Weißgerber hat uns ein wichtiges Argument gegen den vorliegenden Vorschlag genannt. Er sagte: Es ist gut, dass gerade ihr, die ihr damals beteiligt wart, ein solches Denkmal vorschlagt. Es wird später bestimmt kommen. Aber sollt ihr selber euch ein Denkmal errichten? Seine Frage hat mich durchaus nachdenklich gemacht. Ich denke aber, es geht eben nicht darum, dass wir ein Heldendenkmal für den einen oder den anderen errichten. Es geht darum, dass wir dieses nationalen Ereignisses, an dem Tausende, an dem die Bevölkerung in Ost und in gewisser Weise auch in West beteiligt waren, miteinander gedenken und diesem Freudenereignis einen Ort geben. Wenn von Einheit und Freiheit gesprochen wird, so hat dies eine lange Tradition. 1848 habe ich als Stichwort schon genannt. Auch damals ging es um Einheit und um Freiheit. Die Diskussion in Deutschland war während des ganzen 19. Jahrhunderts von diesen beiden Begriffen geprägt. Das erste Nationaldenkmal war ein Einheitsdenkmal, jedoch kein Freiheitsdenkmal. Es kam durch ganz andere Zusammenhänge zustande. Deshalb ist es wichtig, das Streben nach Einheit und Freiheit anhand der Ereignisse von vor zehn Jahren heute neu zu beschreiben. Wenn bei dem geplanten Denkmal vielleicht auch von einem Nationaldenkmal geredet werden kann - ich scheue mich nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen -, dann macht dies gleichzeitig deutlich, dass die Ereignisse der 14 Monate vom Sommer 1989 bis zum Oktober 1990 keine nationalen, gegen die anderen Völker gerichteten Ereignisse waren; denn die friedliche Revolution im Herbst war Teil der ost- und mittelosteuropäischen Revolution, die den Ostblock zersprengt hat. Bei dieser Revolution hat nicht der Westen im Sinne eines Blockes gesiegt. Vielmehr haben sich Freiheit und Demokratie durch den Willen der Menschen durchgesetzt. ({1}) Auf der anderen Seite ist es ein Einheitsdenkmal, weil die deutsche Einheit eben durch Mitwirkung der Nachbarn zustande gekommen ist. Durch den Zwei-plus-Vier-Prozess eingebunden in Europa, wollte die deutsche Einigung ein Impetus für das Zusammenwachsen in Europa sein und ist es dann auch gewesen. Der Fall der Mauer ist nicht nur für uns, er ist weltweit das Symbol für das Ende der Teilung Europas und für den Beginn des Zusammenwachsens, für das Ende des Kalten Krieges geworden. Ich denke, dass dies eine ganz wesentliche Dimension ist. Es lohnt sich und es ist wichtig, sie in dieser Weise in Form zu gießen. ({2}) Über den Ort ist nachzudenken. Wir haben den Vorschlag gemacht, das Denkmal am Schloßplatz zu errichten. Ich denke, das ist ein guter Ort, weil er in gewisser Weise die Tradition von Einheit und Freiheit neu bestimmt. Natürlich braucht es Zeit, bis wir ein Konzept haben, wie der Schloßplatz insgesamt gestaltet werden wird. Was wird mit dem Schloss? Ich selber bin sehr dafür, dass es wieder aufgebaut wird, zumindest was die äußere Form, den stadtarchitektonischen Rahmen anbelangt. Ich denke dabei auch an die Bauakademie oder eben die Gewölbe, über die hier noch zu reden sein wird. All dies braucht natürlich ein Gesamtkonzept. Jedenfalls denke ich, dass der Schloßplatz ein guter Ort wäre. Wir werden im Prozess des Nachdenkens möglicherweise dazu kommen müssen, zu sagen: Entweder wir warten noch eine Weile, bis alles zusammen gemacht werden kann, oder wir müssen einen anderen Ort suchen. Ich muss gestehen, ich halte auch das nicht für ausgeschlossen. Auch andere Orte bieten sich durchaus an. Ich will kurz nennen, was mir so einfällt. Hinter uns, im Osten des Reichstages, verlief zwischen Reichstag und dem alten Reichstagspräsidentengebäude die Mauer. Warum nicht an diesem Ort, an einer entsprechend guten Stelle ein solches Denkmal aufstellen? Auch das halte ich für möglich. Ein anderer möglicher Ort wäre auf der anderen Seite des Schlosses - heute noch des Palastes der Republik, der nun etwas fahl und verlassen dasteht -, in dem Park, in dem heute noch Marx und Engels stehen. ({3}) Es ist die Frage, ob nicht auch das ein Ort im Zentrum Berlins ist, der durch ein solches Denkmal neu gestaltet werden kann und dann auch eine neue Bestimmung erhält. Ich glaube, dass diese verschiedenen Vorschläge bedacht und debattiert werden müssen. Ich hoffe sehr, dass uns dies in der Weise gelingt, dass dieses Projekt nicht einfach nur auf die lange Bank geschoben wird, sondern dass wir konzentriert und sachlich miteinander darüber diskutieren und dann - hoffentlich noch in diesem Jahr - zu einer Klärung kommen, wie und in welchen Schritten wir diese Vorschläge umsetzen können. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Cornelia Pieper.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn mir vor zehn Jahren jemand erzählt hätte, dass ich hier im Deutschen Bundestag vor fast leeren Reihen gemeinsam mit meinen Kollegen aus den Fraktionen der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD einen Antrag zur Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals einbringe, hätte ich das nicht geglaubt. Deswegen bedauere ich es ein bisschen, dass wir es nicht geschafft haben, dieses Thema zum Jubiläum zehnten Jahrestages des Falls der Mauer oder der freien Volkskammerwahlen einzubringen. Denn ich glaube, dass die historische Bedeutung dieser Ereignisse vollkommen unbestritten ist. ({0}) Wir brauchen uns dafür auch nicht zu schämen. Ganz im Gegenteil: Dies ist für uns ein freudiges Ereignis. Ich erinnere an die Worte von Professor Richard Schröder anlässlich des Jubiläums „Zehn Jahre freie Volkskammerwahlen“. Da hat er hier im Deutschen Bundestag gesagt, uns als Deutsche fehle manchmal - auch im Zusammenhang mit der deutschen Einheit - die Fähigkeit zur Freude. Was ist das denn für ein Ereignis, das gerade wir als Ostdeutsche erlebt haben? Wir sprechen über ein Ereignis, was seinesgleichen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte und weltweit sucht. ({1}) Nicht nur in Europa, sondern auch weltweit ist es mit Anerkennung aufgenommen worden, was die Ostdeutschen damals im Rahmen der friedlichen Revolution geleistet haben. Denn noch nie ist es durch eine Revolution auf friedlichem Wege, sozusagen durch den Druck auf der Straße, gelungen, eine Diktatur zu stürzen und den Weg in einen freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zu ebnen. Die Franzosen haben Ende des vergangenen Jahres, also kurz vor der Jahrhundertwende, in einer Umfrage erklärt, dass für sie nach dem Flug des Menschen zum Mond das herausragendste Jahrhundertereignis der Fall der Mauer und die friedliche Revolution bzw. die deutsche Einheit gewesen ist. ({2}) Ich finde es bemerkenswert, wie unsere europäischen Nachbarn dieses Ereignis sehen. Wir haben allen Grund, uns darüber zu freuen und anzuerkennen, was die Völker Mittel- und Osteuropas vor zehn Jahren mit ihren Freiheitsbewegungen - sei es die Solidarnosc, sei es Glasnost - geleistet haben. Sie haben uns als Ostdeutsche damit die Kraft gegeben, diese friedliche Revolution auf den Weg zu bringen. Die Ereignisse vom Herbst 1989 und die deutsche Einheit sind ein Glücksfall für uns Deutsche und für unsere Geschichte - zum einen natürlich deswegen, weil mit der Einheit Deutschlands ein Jahrhundert der Kriege und der totalitären Systeme beendet wurde, zum anderen deswegen, weil die Worte „deutsches Volk“ und „deutsche Nation“ nicht mehr mit Schande, sondern von uns Deutschen wieder mit einem gewissen patriotischen Stolz verwendet werden können. Hinzu kommt, dass damit die Worte der Präambel in der Verfassung der alten Bundesrepublik Wirklichkeit geworden sind. So mancher hat damals nicht mehr daran geglaubt; auch daran will ich erinnern. Liberale haben immer für das Bekenntnis zur deutschen Einheit gestanden. In diesem Zusammenhang haben in der Vergangenheit unter anderem liberale Außenminister mit ihrer Entspannungspolitik Pflöcke eingeschlagen. Deswegen meinen wir zu Recht: Wenn es denn ein Verfassungsauftrag der Bundesrepublik Deutschland war, dass die deutsche Einheit wieder hergestellt wird, hat die Bundesregierung die Verpflichtung, über ein Symbol, wie es ein Denkmal ist, deutlich zu machen, dass dieses Ziel erreicht wurde und dass uns das noch immer wichtig und eine Herzenssache ist. Dies ist ein Denkmal, das nicht nur den Weg der Deutschen in die Freiheit und Einheit dokumentiert. Es ist ein Denkmal der lebendigen Demokratie. Es ist ein Denkmal für die Zivilcourage von Menschen in diesem Land. Es enthält die Botschaft, dass nur durch eine starke Demokratie, durch die Beteiligung der Bürger, die Grundlagen für einen liberalen Rechtsstaat gesichert werden können. ({3}) Es ist mir wichtig, das hier herauszustellen, weil dieses Thema meines Erachtens noch immer eine hohe Aktualität genießt. Die Debatten über Denkmäler waren immer emotionalisiert - das haben wir erst vor kurzem im Deutschen Bundestag erlebt -, aber fanden stets in der Öffentlichkeit statt. Genau das kann die Debatte über dieses Denkmal im zehnten Jahr der deutschen Einheit leisten. Sie soll nämlich nicht nur hier im Parlament, sondern auch im Volk geführt werden. Auch darüber, wie wir mit der Vollendung der inneren Einheit vorangekommen sind, ist eine Debatte des gesamten Volkes wichtig. Die Bereitschaft zur Freude über das Ereignis selbst sollte uns über die Grenzen hinaus gelingen. Das ist aus meiner Sicht auch das Ziel dieses Antrages. In diesem Sinne wünsche ich mir eine lebendige Debatte über ein Denkmal, welches der Freiheitsmetropole Berlin mit der Identität stiftenden Erinnerung an die Jahre 1989 und 1990 gut zu Gesicht steht. Ich bedanke mich noch einmal bei den Mitinitiatoren, insbesondere bei Günter Nooke und Markus Meckel, die für diesen Antrag schon in der letzten Legislaturperiode gekämpft haben. Vielen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Werner Schulz spricht nunmehr für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Pieper, möglicherweise fehlt uns die patriotische Emphase für dieses Ereignis. Es ist aber vielleicht auch ganz gut, dass wir darüber so nüchtern und sachlich diskutieren, als ginge es um einen technischen Vorgang. Früher sind in diesem Haus wesentlich markigere Sprüche geklopft worden, wenn es darum ging, ein Nationaldenkmal zu errichten. Ich glaube auch nicht, dass uns die Fähigkeit zur Freude fehlt; das wird uns immer leicht unterstellt. Möglicherweise fehlt uns die Fähigkeit, diese Freude dauerhaft aufrechtzuerhalten, sie dauerhaft im Bewusstsein zu halten. Denn die Freude über die Vereinigung, die Freude über den Mauerdurchbruch hat es doch gegeben; wir haben es erlebt, und zwar überall. Es gab Freudenfeste. Die Leute haben getanzt, auf der Mauer und vor dem Brandenburger Tor. Viele fragen sich: Warum ist das weg? Warum ist das heute nicht mehr im Bewusstsein? Warum reden wir über das Kleinkarierte, über das Klein-Klein der deutschen Einheit? Warum können wir uns an diesem großen, an diesem epochalen Ereignis nicht mehr erfreuen? Ich glaube, auch das kann ein Denkmal in gewisser Weise wieder ins Bewusstsein rücken, wach halten. Ich habe diesen Antrag mit initiiert, weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir den gesamten, komplizierten und wechselvollen Werdegang unserer Nationalgeschichte bei der Um- bzw. Neugestaltung von Berlin zum Ausdruck bringen, dass wir uns Mühe geben, nicht nur die schrecklichen, sondern auch die glücklichen Kapitel unserer Nationalgeschichte festzuhalten. ({0}) Das verlangt hohe Sensibilität. ({1}) - Wenn Sie mich freudig wünschen, dann tue ich das - keine Frage. Aber Sie merken, dass ich versuche, die Sätze nicht abzulesen, sondern aus meinem Kopf zu holen. Und das ist meist mit Stirnrunzeln verbunden. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Dafür gibt es sogar eine Verlängerung der Redezeit. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist ja richtig lieb. Es geht um eine sensible Darstellung der schrecklichen Kapitel. Wir haben in letzter Zeit viel darüber diskutiert; ich erinnere beispielsweise an das Holocaust-Denkmal. Eines der sensibelsten Denkmäler in Berlin ist übrigens das Denkmal zur Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz. Durch das Glasfenster im Boden sieht man auf die verschwundene Bibliothek. ({0}) Ich wünsche mir, dass uns dies hier genauso gelingt, dass wir die Epoche machenden Gedanken von Freiheit und Einheit zum Ausdruck bringen. Ich betone das, was Markus Meckel gesagt hat, weil es mir sehr nahe und sympathisch ist: Wir müssen bei diesem Denkmal auf die Rangfolge der Begriffsbestimmung achten. Für mich kommt zuerst die Freiheit und dann die Einheit; denn wir haben zuerst die Freiheit errungen und dann die Einheit erreicht. ({1}) Diese Reihenfolge sollten wir einhalten; daran müssen wir erinnern. Im Sinne eines Imperativs, wenn auch nicht eines kategorischen, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass wir die Freiheit verloren haben, warum dies geschehen ist und wie mühsam es war, sie wieder zu erringen. Ich glaube, es lohnt sich, dieses „Denk mal darüber nach“, wie das geschehen ist, wach zu halten. Dies ist der Sinn eines Denkmals. Ich tue mich mit Denkmälern wirklich schwer. Lange habe ich überlegt, ob ich diesen Antrag unterzeichnen soll. Denn wir Ostdeutschen sind in dieser Hinsicht etwas geschädigt. Wir sind mit Denkmälern überreichlich bedacht worden. Es gab eine Epoche, in der wir mit Denkmälern vollgeschüttet wurden. In Ostdeutschland stehen noch die in Bronze gegossenen und in Stein gemeißelten Irrtümer einer ganzen Epoche. In Deutschland gibt es außerdem reichlich Denkmäler, die ihre Bedeutung und ihren Sinn verloren haben oder die vom Stolz vergangener Epochen künden und heute nicht mehr nachvollziehbar sind. Aber es gibt kaum ein Denkmal, das diese beiden Triebkräfte bzw. Motivationen, die Freiheit und die Einheit, symbolisiert. Wenn wir diesen Wettbewerb ausschreiben, stellt dies für die Künstler eine wirklich schwierige Herausforderung dar. Ich bin mir nicht sicher, ob wir Entwürfe bekommen werden, die diese Aspekte abdecken. Ich halte aber nichts davon, in der Diskussion zu sagen: Dafür ist es zu früh. Das kann man nicht machen. Die Helden setzen sich hier einen eigenen Sockel. Es gibt keine Helden der Freiheit und der Einheit, und falls doch, dann gäbe es von 1848 bis 1990 sehr viele. Es handelt sich um einen sehr langen Kampf, den diese Nation geführt hat, um ihre Freiheit und Einheit zu erreichen. In unserer Nationalhymne taucht im Übrigen das Wort „Einigkeit“ auf. Diese Einigkeit haben wir noch nicht erreicht. Vielleicht fehlt in diesem Zusammenhang noch etwas an dem Denkmal. ({2}) - Recht haben wir. Ganz recht. Die Einigkeit, die innere Einheit stehen noch aus. Aber ich glaube, es lohnt sich, diese beiden Gedanken umzusetzen. Das ist eine große Herausforderung für den Künstler. Es ist auch eine neue Art in der Denkmalkultur, dass wir keine Personen mehr auf Sockel stellen. Die Zeit der tonnenschweren Bronzeskulpturen ist möglicherweise vorbei. Dies ist eine europäische Herausforderung und hat eine europäische Dimension. Es könnte ein Symbol der Berliner Republik und des gewachsenen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses sein. Das würde ich mir sehr wünschen. Ich hoffe, dass wir eine belebtere Diskussion führen und ein volleres Haus bekommen, wenn es um die Entscheidungen geht. Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Situation auch so deuten, dass die Diskussion um dieses Denkmal nicht mit einer solchen Spannung geführt wird wie die, die wir im Zusammenhang mit dem Kunstwerk, das wir im Innenhof des Reichstages aufstellen wollen, geführt haben. ({3}) Möglicherweise ist der Konsens heute viel größer, sodass sich einige Kollegen die Entscheidung leicht gemacht haben, an dieser Diskussion nicht teilzunehmen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um jeglichen Irrtum auszuschließen, möchte ich zu Beginn und sehr grundsätzlich betonen: Die Demokratiebewegung von 1989 und 1990 in der DDR war und bleibt ein herausragender Bestand deutscher, ja europäischer Geschichte. Denn sie war eine osteuropaweite Volksbewegung. Vielleicht stimmen Sie mir zu, wenn ich sage: Der Geist dieser demokratischen Volksbewegung ist am besten und am konsequentesten im täglichen demokratischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger in der so entstandenen neuen Bundesrepublik aufgehoben. ({0}) Denn die Courage und das verändern wollende Engagement im letzten Jahr der DDR gehören zur bewahrensund übertragsenswerten Mitgift der neuen Bundesländer und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Errichtung eines Nationaldenkmals der friedlichen Revolution, wie sie beantragt ist, käme nicht nur, wie der Kollege Weißgerber in die Debatte einbrachte, zur falschen Zeit, sondern widerspräche auch dem, was das Denkmal zu bedenken vorgibt. Der Aufbruch, der im Herbst 1989 stattfand, war weder ein zentrales noch ein nationales Ereignis. Er hatte obendrein relativ wenig mit dem vorgeschlagenen Denkmalort zu tun. Wenn es denn besondere Orte gibt, deren Bedeutung hervorhebenswert wäre, dann wären dies doch wohl eher der Alexanderplatz oder der Leipziger Ring. Warum sollte man nicht dort und mit dem authentischen „Wir sind das Volk“ an diese Zeit und an das, was hiermit in die neue Bundesrepublik eingebracht wurde, erinnern? ({1}) Ich teile aber auch die Meinung und achte die Bescheidenheit von Jens Reich, der vor Monaten im Kontext einer Debatte hier im Bundestag für sich beanspruchte, nicht er habe am meisten bewegt und bewirkt, denn seine Bekanntheit und Prominenz habe ihm manches erleichtert. Seine Achtung, so Jens Reich, gelte vor allem den vielen Frauen und Männern zwischen Sonneberg und Rügen, die ihre Belange mutig in die eigenen Hände genommen haben. Wenn Sie dann die grundlegenden Papiere, die Aufrufe aus jener Zeit nachlesen, vom Neuen Forum oder von Demokratie Jetzt, sei es auch von der SDP ({2}) - sie hieß doch so - oder auch von oppositionellen Plattformen der auseinander brechenden SED, wer sich das alles in Erinnerung ruft, wird sich schwerlich vorstellen können, wie deren Anliegen und wie die Akteure selbst mit einem Nationaldenkmal auf dem Schloßplatz in Übereinstimmung zu bringen sind. ({3}) - Kollege Nooke, natürlich. Ich weiß, dass einige zur Einheit Deutschlands aufgebrochen sind. Trotz alledem hat sich der Ruf „Wir sind das Volk“ erst im Verlaufe dieser Bewegung zum Ruf „Wir sind ein Volk“ gewandelt. ({4}) Nun noch ein letzter Gedanke. Ich meine den Platz, auf den sich beide Anträge beziehen. Wir werden noch viel Gelegenheit haben, zum Thema zu debattieren. Ich teile den Ansatz von Rita Süssmuth - der heute nachzulesen war - dass der Platz, wo einst Kaiser Wilhelm I. hoch zu Ross thronte, eine neue Bestimmung braucht, und zwar nicht nur der leer stehenden Sockel, sondern die gesamte Spreeinsel. Wir haben vor Wochen einen Vorschlag für die Bestimmung und Belebung des Schlossplatzes eingebracht. Wir denken, ein Bürgerforum gehört dorthin. Der vorliegende Antrag der PDS ist ein Mosaiksteinchen zur Schaffung dieses Bürgerforums. Danke schön. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Eckhardt Barthel.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren. Ich habe jetzt die Schwierigkeit, von den Höhen einer Denkmalsdiskussion in die Tiefen eines verschütteten Gewölbes zurückzuführen, weil das der Antrag verlangt. Das ist nicht einfach, aber gestatten Sie mir zu der anderen Sache einen Satz. Ich habe diesen Gruppenantrag mit unterschrieben. Alle, die bisher gesprochen haben, waren direkt Betroffene. Ich war es nicht. Ich war auf der anderen Seite der Mauer. Ich bin für dieses Denkmal, weil ich meine: Im Stadtbild muss dieses Ereignis zu sehen und sinnlich zu erfahren sein. Deswegen halte ich es für nötig. Wo das ist und wie es gemacht wird, darüber müssen wir noch eine Diskussion führen. Es gibt einiges, bei dem ich durchaus andere Positionen habe. Aber ich glaube, das wird sich aus der Diskussion ergeben. Nun zu dem Gewölbe. Meine Damen und Herren Antragsteller, es geht eben nicht um diesen Kontext, den Sie, Frau Pau, in Ihrem Antrag genannt haben. Sie beziehen das auf das gesamte Schloßareal und die Spreeinsel. Sie beantragen, dass kurzfristig ein Gewölbe eröffnet werden soll, von dem - das möchte ich wetten - höchstens zwei oder drei Leute im Saal wissen, wo das ist und wie das aussieht. ({0}) - Jetzt sind wir drei. Das finde ich in Ordnung. Das ist schön. Ich finde es den anderen gegenüber unfair, dass sie über etwas entscheiden sollen, was sie gar nicht kennen. ({1}) - Herrschaftswissen. Auch ich war dort früher nicht drin. Aber ich kann nur jedem empfehlen, dort einmal hinzugehen. Es ist beeindruckend, wenn man sich einmal dort hinunterquält. Dieses Gewölbe könnte durchaus einmal so etwas wie in Leipzig die Sachsenbastei werden, wenn man das Geld hat. Aber Ihre Idee, wie Sie sie in Ihrem Antrag formulieren, losgelöst von der Konzeption des Schloßplatzes und allem drumherum, diesen Gedanken, es kurzfristig eröffnen zu wollen, halte ich für eine schlichte Illusion. Das ist nicht machbar. ({2}) Es klingt bei Ihnen so, als bräuchte man dort nur ein paar Tapeten zu kleben und den Fußboden zu kehren, vielleicht einen Lichtschalter anzubringen. Wenn man es sieht, erkennt man, dass man erst einen Meter Erde herausbringen muss, damit man gerade so durch einige Gänge gehen kann. Das ist eine gewaltige Arbeit. Der Eindruck ist: Dies muss in der Gesamtkonstellation des Schloßplatzes genutzt werden. Dafür trete ich mit Leidenschaft ein. Aber es soll jetzt kein singuläres Objekt werden, von allem losgelöst. Sie haben auch kein Nutzungs- und Finanzierungskonzept. Ich weiß nicht, wie Sie das machen wollen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja gern, natürlich.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Barthel, können Sie sich nicht vorstellen, dass die Berlinerinnen und Berliner sowie natürlich auch andere Leute genau an diesem Ort, dann, wenn sie ihn nutzen können, eine ganz eigene Kreativität an den Tag legen werden, ganz eigene Ideen entfalten werden, wie sie diesen Ort nutzen können, und zwar genau im Sinne dessen, was hier die ganze Zeit beschworen wird, nämlich im Sinne der Kreativität des Volkes der damaligen DDR bei ihrer Befreiung? Sie würden diesen Ort ganz frei in Besitz nehmen und nutzen und dann in die zukünftige Nutzung des Platzes einbeziehen. Können Sie sich das nicht vorstellen?

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist sehr allgemein. Es gibt viele Orte, an denen solche Gefühle entwickelt werden können. ({0}) Das würde ich nicht auf diesen Ort beziehen, vor allen Dingen nicht, wenn ich nicht weiß, was damit geschehen soll. Ich betone noch einmal: Ich halte es für wichtig, dass man diesen Ort nutzt, aber im Rahmen einer Gesamtplanung für die Spreeinsel. Dann kann das eine tolle Sache werden. Aber um das beurteilen zu können, muss ich das Finanzierungs- und das Nutzungskonzept kennen. Ihr Antrag ist sicher wichtig, aber eigentlich gehört er in die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte. ({1}) Vielleicht hätte man erst einmal dort darüber reden sollen. Der Gedanke ist gut und ich glaube, er sollte auch von der Schlosskommission diskutiert werden. Das werden wir auch tun. Aber für sich halte ich ihn für falsch und unangebracht. Wir werden ihn deshalb in den Ausschüssen ablehnen. Danke. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Barthel, Sie stimmen sicherlich mit mir darin überein - das habe ich Ihrer Rede entnommen -, dass dieser wichtige, vielleicht sogar wichtigste noch zu gestaltende Platz in der Hauptstadt möglichst schnell eine Perspektive bekommen muss, die es den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt sowie ihren Gästen ermöglicht, endlich auch hier in der Stadtgestaltung nicht nur die Mitte zu sehen, sondern auch die Verbindung beider Stadthälften herzustellen. Dieser unsägliche Zustand muss ein Ende haben, dass auf der Brücke immer noch die einen stehen bleiben, sich gruseln und den Blick nach Osten nach dem Motto „Der Palast ist aber hässlich, weiter gehen wir nicht“ richten, und die anderen dort oftmals stehen bleiben - was ich auch kritisiere - und sagen: Lasst uns unseren Palast bewahren. Ich denke, die Gestaltung dieses Platzes muss dem Anspruch der Verbindung, des Zusammenkommens von Ost und West, natürlich manchmal auch der Konfrontation im besten Sinne, nämlich der mit neuen Ideen, genügen. In diesem Zusammenhang mache ich Sie darauf aufmerksam: Eigentümer dieses Platzes und auch der hier besprochenen Gewölbe ist nun einmal nicht die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte, auch nicht das Land Berlin, sondern der Bund. Deshalb ist dieser Antrag hier am richtigen Ort. Ich gebe zu: Wenn all unseren Anträgen zur Zukunft des Palastes der Republik bzw. des Rohbaues, der nach der Asbestsanierung übrig bleibt, und unseren Anträgen zur Gestaltung dieses Platzes etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet würde, wenn daraus nun endlich wirklich eine gesellschaftliche Debatte würde, hätten wir es nicht nötig gehabt, diesen Antrag zu den Gewölben hier extra einzubringen. Sehen Sie ihn also als Anstoß zur Debatte. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3126 und 14/3120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit - Drucksache 14/3158 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Kolleginnen und Kollegen Renate Rennebach, Dr. Susanne Tiemann, Dr. Thea Dückert, Dr. Heinrich Kolb, Dr. Heidi Knake-Werner, Wolfgang Meckelburg und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres geben ihre Reden zu Protokoll. Ich bedanke mich. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3158 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Fraktion SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. 50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz - Drucksache 14/1568, 14/2209 ({2}) Berichterstattung: Abgeordnete Wolfgang Behrendt Klaus Bühler ({3}) Christian Sterzing Ulrich Irmer Wolfgang Gehrcke-Reymann ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang GehrckeReymann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDS Gegen die Todesstrafe in den USA - Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal - Drucksache 14/3196 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Wolfgang Behrendt für die Fraktion der SPD das Wort.

Wolfgang Behrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002626, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute erneut über den Europarat diskutieren, dann tun wir das vor einem aktuellen Hintergrund. Der Europarat hat in der letzten Woche in seiner Vollversammlung in Straßburg die bedeutsame Entscheidung getroffen, indem er erstmals Sanktionen gegen ein Mitgliedsland ergriffen hat. Der russischen Delegation wurde ihr Stimmrecht entzogen. Gleichzeitig wurde das Ministerkomitee aufgefordert, den Ausschluss Russlands vorzusehen, falls die Forderungen des Europarates im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht erfüllt würden. Lassen Sie mich kurz auf die letzten zehn Jahre zurückkommen, um diesen Hintergrund auszuleuchten. Der Europarat hat nach dem Ende des Kalten Krieges eine sehr lebhafte und intensive Debatte darüber geführt, ob es richtig sei, Staaten des ehemaligen Ostblocks aufzunehmen, auch wenn sie nicht die hohen Kriterien des Europarates erfüllen, oder ob man erst abwarten solle, bis sie so weit sind. Wir haben uns dann nach heftigen Diskussionen dafür entschlossen, zu sagen: Auch wenn noch nicht alle Kriterien erfüllt sind, wollen wir eine Aufnahme mit ganz konkreten Verpflichtungen vornehmen. Wir werden die Erfüllung dieser Verpflichtungen sehr sorgfältig beobachten. Das war auch im Januar 1996 so, als Russland nach heftigen Debatten aufgenommen wurde. Nun haben wir erleben müssen, dass sich Russland als Mitgliedsland des Europarates in Tschetschenien gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Der Europarat hat deshalb in der letzten Woche nach zehnstündiger Debatte beschlossen, wegen dieses Vorgehens Sanktionen zu verhängen. Wir haben bewusst davon abgesehen, die russische Delegation völlig aus der Parlamentarischen Versammlung auszuschließen. Wir haben uns auf eine Aussetzung des Stimmrechtes konzentriert, in dem Wunsche, weiterhin im Dialog zu bleiben, um auf die Entwicklung in Russland Einfluss zu nehmen. Die russischen Kollegen haben das allerdings zum Anlass genommen, auszuziehen und sich zunächst einmal zurückzuziehen. Die Duma hat an der Entscheidung des Europarates Kritik geübt, hat aber gleichzeitig eine Beschlussempfehlung korrigiert, in der ein Rückzug aus dem Europarat ausdrücklich vorgesehen war, sodass weiterhin die Hoffnung besteht, dass wir in enger Verbindung mit unseren russischen Kollegen mithelfen können, die Entwicklung gerade im Nordkaukasus positiv zu beeinflussen. Ich glaube, die Entscheidung des Europarates war außerordentlich wichtig, ist er doch eine Organisation, in deren Statuten der Menschenrechtsschutz ausdrücklich verankert ist und die den Menschenrechtsschutz und die Menschenrechte über alle anderen Interessen stellt. Insoweit war es das internationale Gremium, das ein Signal setzen musste. Wir haben für diesen Beschluss inzwischen Unterstützung aus den Reihen der Europäischen Union bekommen. Das Ministerkomitee wird, wenn nicht sehr eindeutige positive Signale aus Moskau kommen, ein Verfahren zum Ausschluss durchführen. Darüber hinaus haben wir gleichzeitig die Mitgliedstaaten des Europarats aufgefordert, eine Staatenklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Russland zu erheben. Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt eingehen, der in der letzten Woche eine Rolle gespielt hat. Wir haben über die Ukraine diskutiert. In diesem Zusammenhang will ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Beitritt zum Europarat eine eindeutige Abkehr von der Todesstrafe bedeutet. Mit dem Protokoll 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die alle neuen Mitgliedstaaten unterzeichnen müssen, ist die Verpflichtung verbunden, die Todesstrafe abzuschaffen. Wir haben einen bedeutsamen Erfolg erringen können. Die Ukraine wird zum 1. Mai 2000 das Protokoll 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Abschaffung der Todesstrafe beschließen. Ein weiterer Punkt, der zur Hoffnung Anlass gibt, ist die Tatsache, dass wir das Überwachungsverfahren für die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien beenden konnten. Sie wissen, dass im Zusammenhang mit der Aufnahme solche Überwachungsverfahren durchgeführt wurden, die einmal dazu dienen sollten, diesen Staaten auf dem Wege zur Rechtsstaatlichkeit und zur Demokratie besondere Unterstützung zuteil kommen zu lassen, zum anderen aber auch dem Ziel dienen sollten, zu überprüfen, ob die eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden. Wir konnten mit Genugtuung feststellen, dass die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien dies getan hat. Insofern konnte der Überwachungsprozess eingestellt werden. Man muss besonders hervorheben, dass dieses Land den schwierigen Prozess hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unter außerordentlich problematischen äußeren Umständen hat vollziehen müssen. Während der Kosovo-Krise hat es eine Vielzahl von Flüchtlingen gegeben, die die Einwohnerzahl Mazedoniens überschritten hat. Ich nenne die positive Entwicklung Mazedoniens beispielhaft; es wären auch andere Beispiele hervorzuheben. Vizepräsident Rudolf Seiters Als Letztes möchte ich noch das ansprechen, was jetzt in der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Grundrechtscharta diskutiert wird. Hier scheint sich ein gewisser Interessenskonflikt zwischen der Menschenrechtskonvention und der Grundrechtscharta anzubahnen. Dazu möchte ich nur darauf hinweisen, dass wir immer den Standpunkt vertreten haben, dass die EG der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten sollte. Diesen Standpunkt halten wir aufrecht, weil wir glauben, dass auch eine Grundrechtscharta einen solchen Schritt nicht überflüssig macht. Es geht vor allem darum, Bürger der EU etwa vor Menschenrechtsverletzungen von Organen der EU zu bewahren. Wir meinen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention und der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg geeignete Mittel dafür wären. Dies ist weiterhin unsere Forderung. Darüber hinaus glauben wir, dass die Grundrechtscharta auf den wesentlichen Elementen der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber auch etwa der erweiterten Sozialcharta des Europarates aufbauen sollte. Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung diese erweiterte Sozialcharta möglichst bald unterzeichnet und wir zu einer Ratifizierung kommen. Im Übrigen schreibt auch der Vertrag von Amsterdam ausdrücklich vor, dass die Europäische Menschenrechtskonvention die Grundlage für die Achtung der Grundrechte in der Europäischen Union abgeben soll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europarat hat sich seit seiner Gründung vor allem den Menschenrechten verschrieben, aber auch vielen anderen Bereichen, etwa dem Minderheitenschutz und allen Formen von Diskriminierung, seine Aufmerksamkeit gewidmet. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist das erste Rechtsinstrument in diesem Bereich, das auf eine parlamentarische Initiative hin zustande gekommen ist. Sie ist, wenn man so will, ein Meilenstein in der europäischen Rechtsgeschichte. Man muss einfach noch einmal hervorheben, dass mit ihr rund 770 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Europa die Möglichkeit haben, gegen individuelle Menschenrechtsverletzungen vor dem Gerichtshof in Straßburg zu klagen. Das ist ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt. Damit hat der Europarat insbesondere für die Länder Mittel- und Osteuropas eine überragende Bedeutung erlangt. Er wird diese Bedeutung auch weiterhin haben, insbesondere für die Staaten, die in Zukunft nicht der Europäischen Union angehören werden. Ich wünschte mir, dass der Europarat in Deutschland und auch in diesem Hause ein wenig mehr Beachtung finden würde. Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Klaus Bühler spricht für die CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Bühler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000297, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann diese Rede genauso wie die am 30. September des letzten Jahres beginnen, als ich eingangs sagte: Diese Debatte unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen Debatten, weil es hier parteien- und fraktionsübergreifend einen großen Konsens in der Sache gibt. - Das können wir auch heute feststellen und das erfüllt uns mit Genugtuung. Ich begrüße ferner, dass wir zum zweiten Mal in relativ kurzer Zeit eine Debatte über den Europarat haben. In der parlamentarischen Geschichte der letzten 50 Jahre gab es zwei solcher Debatten, nämlich im Jahre 1999 und jetzt im Jahre 2000. Ich hoffe und wünsche, dass wir damit einen Neubeginn haben: dass die Befassung mit dem Europarat - das hat auch der Kollege Behrendt angesprochen hier zu einer Tradition wird und dass gleichzeitig - hier wende ich mich an den Staatsminister - das Instrument Europarat ein bisschen mehr als politisches Instrumentarium von der Bundesregierung genutzt wird, so wie es andere Länder in Europa seit langem und auch erfolgreich tun. ({0}) Die Geschichte des Europarats wurde schon von meinem Vorredner angedeutet. Ich muss das nicht wiederholen. Aber ich möchte zwei oder drei Schwerpunkte in die Debatte einbringen: Die Gründung des Europarates 1949 war auch der Beginn einer Politik in West- und Mitteleuropa, die - das wird viel zu wenig zur Kenntnis genommen - im positiven Sinne mit dafür verantwortlich ist, dass wir in West- und Mitteleuropa die längste Friedenszeit gehabt haben und noch immer haben, die es je auf diesem Kontinent gegeben hat. Das muss man erwähnen. Es hat mit der deutsch-französischen Versöhnung begonnen. Das wurde dann ausgeweitet. ({1}) Die Eintrittskarte für die Mitgliedschaft im Europarat ist die Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention, die nach wie vor das Kernstück dieses Gremiums ist und deren Bestimmungen - darauf wurde bereits hingewiesen - für viele Millionen Einwohner in Europa einklagbar sind, und zwar im Gegensatz zur Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, deren Bestimmungen nicht einklagbar sind. Das bedeutet einen Wert an sich, der vielen Bürgerinnen und Bürgern bei uns und vielen Mitgliedern dieses Hauses - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen - noch gar nicht so bewusst ist, wie das normalerweise der Fall sein sollte. Des Weiteren ist ein Monitoringverfahren eingeführt worden, in dessen Rahmen alle 41 Mitgliedstaaten des Europarats regelmäßig überprüft werden, ob sie die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen auch einhalten. Um ein kleines Missverständnis gleich auszuräumen: Das Monitoringverfahren ist nicht wegen der neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Mittelosteuropa eingeführt worden; vielmehr gilt dieses Verfahren für alle 41 Mitgliedstaaten. Es gilt genauso für die Bundesrepublik Deutschland, für Frankreich, für England und für andere Staaten, die schon lange dabei sind. Der Kollege Behrendt hat das Thema „Tschetschenien und Russland“ angesprochen. Lassen Sie mich dazu ein sehr offenes Wort sagen: Bereits in der Januarsitzung des Europarates ist über dieses Thema debattiert worden. Schon damals wurden von meiner Fraktion Maßnahmen gegen Russland gefordert. ({2}) Ich will Folgendes sagen: Der Europarat hat damals versagt; denn im Januar wurde kein Beschluss gefasst. Es wurde mehr oder weniger in der Diskussion lediglich zum Ausdruck gebracht: Wir geben den Russen bis zum Beginn der nächsten Sitzung am 3. April noch einmal eine Chance. Das hatte zur Folge - das mag jetzt hart klingen -, dass der jetzige russische Präsident Putin - damals war er geschäftsführender Präsident - seinen Wahlkampf ungestört führen konnte. Welchen Wahlkampf er bis zum Wahltag am 26. März geführt hat, muss ich diesem Hohen Hause, glaube ich, nicht mehr in Erinnerung rufen. Es wäre also viel besser gewesen, lieber Herr Kollege Behrendt, wenn wir bereits damals die harte Haltung gegenüber den Russen eingenommen hätten, die meine Fraktion gefordert hatte. ({3}) - Ich weiß es. Aber der Europarat als Ganzes konnte sich zu einer solchen Haltung nicht durchringen. Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, um auch nur den Anschein zu vermeiden, wir würden Unterschiede zwischen großen und kleinen Staaten machen. Ich möchte jetzt keine Namen von Mitgliedstaaten des Europarates nennen. Aber wir, die Delegationsmitglieder des Europarates, können uns sehr gut vorstellen, dass man gegen gewisse Staaten sehr schnell Sanktionen verhängt hätte, während man - das ist auch weltweit ein Problem - gegenüber Staaten wie Russland oder China aus Gründen, die ich jetzt gar nicht näher nennen möchte, sehr leicht einknickt, wenn es um die Frage der Menschenrechte geht. Deswegen muss es unser Ziel sein, alle Staaten, ob groß oder klein, ob Weltmacht oder nicht, an dem gleichen Maßstab zu messen und für sie die gleichen Sanktionen vorzusehen. ({4}) Die Reaktion Russlands auf die Maßnahme des Europarates war zunächst so, wie sie der Kollege Behrendt beschrieben hat. Aber es gibt ein interessantes Zitat, mit dem sich eine andere Sichtweise belegen lässt. Eine russische Zeitung schreibt, dass sich der Europarat unglaubwürdig gemacht hätte, wenn er diese Maßnahmen gegenüber Russland jetzt nicht ergriffen hätte. ({5}) - Dieses Zitat stammt aus der Zeitung „Sewodnja“. Es lautet wörtlich: Die Härte der europäischen Abgeordneten hat ihre Ursache: Eine weitere Verschiebung des Beschlusses zu Tschetschenien würde faktisch die Existenz des Europarates sinnlos machen. Er würde sein Gesicht verlieren, wenn er ein weiteres Mal zur Verletzung der Menschenrechte schweigen würde. Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen. Wir haben innerhalb des Europarates alle Fragen, die die Menschenrechte angehen, diskutiert. Durch die Einsetzung des Menschenrechtsgerichtshofes haben wir gerade in den letzten Jahren eine Reihe von großen Fortschritten erzielt. Ich möchte hier die Gelegenheit wahrnehmen, Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes europäisches Interessengebiet zu lenken, das zwar weniger mit dem Europarat zu tun hat, uns aber im Augenblick hautnah betrifft. Die Mitglieder der Delegation, die den Deutschen Bundestag im Europarat vertritt, sind gleichzeitig Mitglieder der Delegation unseres Hauses in der Westeuropäischen Union. Die Westeuropäische Union hat die Absicht geäußert, den von der EU gefassten Beschluss, nämlich eine eigene europäische Sicherheitspolitik entsprechend den Petersberger Beschlüssen aufzubauen, zu begleiten. Wenn man die Dramen der Jahre seit 1989/90 auf dem Balkan betrachtet, dann muss man mit einer gewissen Scham zur Kenntnis nehmen, dass die Europäer nicht in der Lage waren, ihr eigenes Haus in Ordnung zu halten. Ich möchte es einmal etwas überspitzt formulieren - Sie verstehen, wie ich das meine -: Der europäische Verteidigungsminister saß in all dieser Zeit nicht in Europa, sondern in Washington. Um in der Zukunft zu gewährleisten, dass schon im Vorfeld durch neue Maßnahmen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik solche Tragödien, wie wir sie auf dem Balkan erlebt haben, gar nicht mehr möglich werden, sollten wir prophylaktisch an diese Angelegenheit herangehen. Herr Staatsminister, das Parlament und die deutsche Regierung sollten der europäischen Politik, die wir auf den Gipfeln von Helsinki und Köln beschlossen haben, ihr Augenmerk etwas mehr als bisher zuwenden. Es gibt Bestrebungen der Europäischen Union, eine eigene Menschenrechtscharta zu konzipieren und einen eigenen Menschenrechtsgerichtshof aufzubauen. Ich erinnere daran, dass alle 15 EU-Staaten gleichzeitig auch Mitglied im Europarat sind und dass das Kernstück des Europarats - das wurde bereits erwähnt - der Menschenrechtsgerichtshof und gleichzeitig die Menschenrechtskonvention sind. Herr Staatsminister, deswegen möchte ich das wiederholen, was ich auch am 30. September gesagt habe: Wir fordern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die Europäische Union dieser Menschenrechtscharta beitritt. Das ist ein alter Wunsch und ich bin der Auffassung - ich bin mir darin mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus unserer Delegation einig -, dass uns eine Zweigleisigkeit der Menschenrechtspolitik und eine Zweigleisigkeit der Europäischen Gerichtshöfe für die Zukunft nichts bringen. Wir haben heute die zweite Debatte zu diesem Thema geführt. Ich bin darüber wirklich sehr erfreut und möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir es vielleicht zu einer Tradition machen, einmal im Jahr über die wichtigen Fragen des Europarates und anderer europäischer Gremien zu sprechen. Wir haben einen Anfang gemacht und wenn damit eine gute Tradition begonnen werden könnte, dann hätte diese Debatte einen noch viel besseren Sinn, nämlich eine Perspektive für die Zukunft. Vielen Dank. Klaus Bühler ({6}) ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorhin kam die Nachricht, dass Putin die OSZE-Delegation aufgefordert habe, nach Tschetschenien zurückzukehren. ({0}) - Na ja, das sind schwierige Sicherheitsfragen, die dahinter stehen. Das ist nicht so einfach „Es ist erlaubt und dann gehen wir einmal.“ Ich möchte eine Bemerkung zu der Vielfalt europäischer Institutionen machen. Es ist ganz klar, dass der Europarat eine vorzügliche Rolle spielen konnte, als die OSZE in Moskau saß und als gewissermaßen innerhalb der OSZE Polarisierungen einsetzten, weil Russland da ja ein größeres Lager haben kann. Wenn wir vom Europarat sprechen, dann müssen wir auch darüber sprechen, dass sich in unseren Köpfen drei verschiedene Europabilder festgesetzt haben: einmal EUEuropa, das sich nun nach Osten erweitert, das aber gewisse Probleme mit sich bringt, weil die Frage, wo die Grenzen Europas sind, auch Ausgrenzungen mit sich bringen kann, wenn sie nicht richtig behandelt wird. Das Problem der Europacharta ist hier angesprochen. Ich mache nur noch eine kurze Bemerkung dazu: In Russland gibt es zurzeit mehrere Tausend Kriegsdienstverweigerer. Es gibt eine Verfassungsgarantie für Kriegsdienstverweigerung in der russischen Verfassung, es gibt aber kein Ausführungsgesetz für Ersatzdienst. Das bedeutet, die ersten Verweigerer sitzen schon im Gefängnis und weitere werden folgen. Für Russland, also für den Teil Europas, der außerhalb der EU und außerhalb der EU-Grundrechtscharta bleiben wird, wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wichtiger werden. Das ist eine sehr dringende Berufungsinstanz, mit der man aus den nationalen Grenzen herauskommt. Auf der anderen Seite gilt: Wenn er hier für westlichen Grundrechtsschutz gewissermaßen nur die dritte Instanz wird, die man nicht mehr unbedingt braucht, weil man schon zwei zur Verfügung hat, dann tritt in der Tat in diesem Rechtsraum eine Ungleichheit ein. Das ist etwas sehr Bedauerliches. Deshalb unterstütze ich auch sehr den Weg, die EU nun endlich als Rechtspersönlichkeit zu konstituieren und dann der Menschenrechtskonvention beizutreten. - Das ist die erste Bemerkung gewesen. Die zweite Bemerkung: Wenn jetzt die OSZE wieder aktiv sein kann, weil der Europarat einen Beschluss gefasst hat, der wehtut - vorher war es eher umgekehrt -, dann halte ich dieses Spiel verschiedener Institutionen für ein gutes Zeichen für die Vielfalt Europas. Im Augenblick erleben wir eine gewisse Polemik in den Zeitungen, in der einerseits darauf hingewiesen wird, welch hervorragenden Beschluss der Europarat gefasst hat, der ihn ja an den Ministerrat weitergibt. Andererseits gibt es aber offensichtlich ein sehr dubioses Verhalten innerhalb der Kommission für Menschenrechte der UN. Es heißt, dort habe man an einer „toughen“ Resolution nur halbherzig mitgearbeitet, da man eine mildere Fassung im Auge gehabt habe. Ich glaube, wer solche Kritik, die man ja in den Zeitungen immer wieder lesen kann, äußert, versteht den Unterschied zwischen Resolution und Chairman-Statement wirklich nicht. Das Chairman-Statement ist etwas, worauf man hinarbeiten kann, weil es der Betroffene ja mitträgt. Chairman-Statement bedeutet letztlich - so glaube ich -, Russland auf den Weg zur politischen Lösung zu ziehen. Es bedeutet also eine Tat. Natürlich bergen sehr wichtige Beschlüsse und Resolutionen immer die Gefahr in sich, den anderen in die Selbstisolierung zu treiben. Insofern denke ich, dass ein zum jetzigen Zeitpunkt gefasster Beschluss - es liegt vielleicht auch an der Jahreszeit - eine stärkere Wirkung haben könnte, als wenn er im Januar gefasst worden wäre. Natürlich hat Russland Probleme; wir hoffen aber, dass der Ministerrat den Beschluss sehr klug umsetzt und wir das erreichen, was wir eigentlich wollen. Wir wollen nämlich Russland nicht nur massiv anprangern, sondern es vor allem endlich dazu bewegen, den ersten Schritt auf dem Weg zu einer politischen Lösung zu gehen und damit zu Verhandlungen, um diesen Krieg beizulegen. Je eher Russland begreift, dass es sich dazu auch europäischer Hilfe bedienen darf und kann, umso besser ist es für ein gemeinsames Europa. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europarat verdient als Hüter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu Recht das Lob und die Unterstützung aller im Bundestag vertretenen Fraktionen. Es ist auch gut, dass die Instrumente des Europarates in den letzten Jahren immer weiter verbessert worden sind. Gerade heute war ja zu hören, dass das Antifolterkomitee des Europarates im Rahmen einer nicht angekündigten Kontrolle schwere Verstöße eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und des Europarates festgestellt hat, nämlich Verstöße bei der Behandlung von Strafgefangenen in Spanien. Ich glaube, dass gerade durch diese Kontrollinstrumente des Europarates die Öffentlichkeit und damit das Bewusstsein in Europa und auch in der Europäischen Union für die Achtung und Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen sensibilisiert wird. Damit kommt es zu dem unangenehmen Druck, sich öffentlich rechtfertigen zu müssen und vor allen Dingen - was viel Klaus Bühler ({0}) wichtiger ist -, diese Menschenrechtsverletzungen auch abzustellen. Ich teile nicht die Bedenken, die bei meinen Vorrednern hinsichtlich der Ausarbeitung der europäischen Grundrechtecharta aufgrund des Spannungsfeldes mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und einer möglichen Bedeutungsminderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg angeklungen sind. Zum einen kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention wieder eine Motorfunktion zu, da die Europäische Union sich ja in der bizarren Situation befindet, dass sie jetzt eine Grundrechtscharta erarbeitet, die auch die europäischen Organe bindet. Das hatten wir in der Form bisher nicht. Art. 6 des Vertrages von Amsterdam enthält nur eine sehr allgemeine Formulierung, wonach diese Rechte geachtet werden sollen, das alles aber doch sehr der nationalen Rechtsprechung zuordnet. Von daher sehe ich in der Erarbeitung der europäischen Grundrechtecharta eine Riesenchance für die Europäische Union. Ich sehe überhaupt kein Chaos von Institutionen entstehen. Vielmehr wird es unterschiedliche Wirkungskreise mit entsprechenden Rechtsschutzverfahren geben. Das ist wirklich gut und wichtig. Mangels einer Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union und aufgrund der juristischen Streitigkeiten, die seit Jahren darüber bestehen, sehe ich auch nicht, dass in absehbarer Zeit ein Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention erfolgt. Von daher brauchen wir dringend die EU-Grundrechtecharta. Es ist ja auch gerade von Ihnen, Herr Lippelt und Herr Bühler, gesagt worden, wie wichtig für viele Staaten, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind, die Möglichkeit ist, Straßburg anzurufen. Natürlich muss auch die Rolle Russlands in Tschetschenien, wo völkerrechtliche Konventionen und wohl auch die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt werden, heute, wo wir das Jubiläum 50 Jahre Europarat und europäischen Menschenrechtsschutz begehen, erwähnt werden. Auch wenn es mit Verzögerung erfolgte, finde ich es gut, dass es gerade der Europarat war, der nicht nur unmissverständlich die Menschenrechtsverletzungen festgestellt hat - spät, aber doch in einer sehr klaren Form -, der auch klare Konsequenzen aufgezeigt hat, die vielleicht jetzt schon zu ersten Reaktionen vonseiten der russischen Regierung führen. Es wird hoffentlich auf der Sitzung der Menschenrechtskommission in Genf nicht von dem abgewichen, was gerade vom Europarat in Bewegung gesetzt worden ist. Ich sage zum Schluss ganz offen und ehrlich - dreieinhalb Minuten Redezeit sind halt ein bisschen wenig für 50 Jahre Europarat und europäischen Menschenrechtsschutz -: Ich hätte mir schon gewünscht, dass schon sehr viel früher die Verstöße gegen die internationalen Konventionen auch in Deutschland von der Bundesregierung gerügt worden wären und entsprechende Reaktionen nicht schon von vornherein zu Beginn des Jahres ausgeschlossen worden wären. Diese Reaktion ist überhaupt keine Form von Sanktion, auch nicht die, die im Europarat unter aller Abwägung in Betracht gezogen worden ist. Ich bedanke mich für Ihre dreieinhalbminütige Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es war sogar eine viereinhalbminütige Aufmerksamkeit, Frau Kollegin. ({0}) Nun gebe ich das Wort für die Fraktion der PDS dem Kollegen Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich noch eine halbe Minute weniger Redezeit als meine Kollegin habe, bitte ich um Nachsicht. Ich will zunächst einmal sagen - ich will mich angesichts der Kürze der Zeit nicht allzu lange an diesem Punkt aufhalten -, dass die Würdigung des Europarates, die Wertschätzung der Menschenrechtskonvention und die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an einer Grundrechtecharta fraktionsübergreifend geschehen soll. ({0}) Aber was die aktuelle Politik angeht, bin ich mit Blick auf Russland zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen. Das will ich Ihnen vortragen. Ich halte sowohl den Entzug des Stimmrechtes für die russischen Delegierten in der Parlamentarischen Versammlung als auch erst recht den Antrag auf Ausschluss Russlands, über den ja das Ministerkomitee entscheiden muss, für kontraproduktiv. Ich habe mehrmals im Parlament zum Tschetschenienkrieg gesprochen. Meine Fraktion hat nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öffentlichkeit immer Position gegen diesen Krieg bezogen. Wir haben auf die Völkerrechtsverletzungen aufmerksam gemacht. Aber ich glaube, dass dieser Schritt in Russland die Debatte über einen Ausstieg aus dem Krieg nicht befördert, sondern - ganz im Gegenteil - zu einer Verhärtung der Position beitragen wird. Ich sehe keinen anderen Weg als den, im Europarat wie auch außerhalb des Europarates den zähen Dialog des Unter-Druck-Setzens und der Kontroverse von Angesicht zu Angesicht fortzusetzen, weil ein Ausschluss und damit ein Abbruch des Dialoges die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert. Deswegen richte ich die Bitte an den Herrn Staatsminister, dass Deutschland im Ministerkomitee den Ausschluss Russlands nicht mitträgt, auch wenn der Außenminister in der Presse eine solche Entscheidung als angemessen bezeichnet hat. Ich will Sie auf ein zweites Problem aufmerksam machen und bitte Sie diesen Punkt mit zu erwägen. In einer solchen Situation wie dem Tschetschenienkrieg darf man keine doppeldeutigen Signale geben: auf der einen Seite Ausschluss aus dem Europarat mit Zustimmung des Außenministers und auf der anderen Seite eine Reise des Verteidigungsministers nach Russland zu einem Zeitpunkt, zu dem Grosny verwüstet worden ist, um eine weiSabine Leutheusser-Schnarrenberger tere und engere militärische Zusammenarbeit zu vereinbaren. Jetzt liest man, dass der BND-Präsident in Tschetschenien war. Das passt nicht zusammen; das ist doppeldeutig und kann in Russland nur falsch verstanden werden. ({1}) Ich finde, wir brauchen eine geradlinige und eindeutige Politik: Ablehnung des Krieges, weitere Bereitschaft zum Dialog und Einbindung Russlands in Europa. Das ist zumindest die Politik meiner Fraktion. ({2}) Gestatten Sie mir noch zum Schluss, mich mit einer Bitte an die Kolleginnen und Kollegen des Hauses zu wenden. Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in dem wir uns dafür einsetzen, die Todesstrafe gegen einen farbigen amerikanischen Bürgerrechtler, Mumia Abu-Jamal, nicht zu vollstrecken. Wir bitten das Haus aus Gründen der Menschenrechte und der Humanität, auch gegenüber den USA deutlich zu machen, dass wir Gegner der Todesstrafe sind und dass wir eine Vollstreckung der Todesstrafe nicht wollen. ({3}) Ich bitte Sie wirklich aus ganzem Herzen: Lassen Sie uns bei dieser Entscheidung, bei diesem Entschließungsantrag über die fraktionellen Grenzen springen. Vielleicht stimmen Sie diesem Antrag zu. Ich bitte Sie darum. Ich glaube, das hat einen Sinn. Haben Sie herzlichen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Christoph Zöpel.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Gründungsstunde des Europarats war die Konsequenz des bisher grausamsten Scheiterns Europas bei der Verwirklichung seiner Werte, der Werte der Aufklärung. Bevor wir andere kritisieren, macht es durchaus Sinn, festzuhalten, wo sie gescheitert sind: bis 1945 in ganz Deutschland durch die grausamste Form der Abwendung von der Aufklärung, die seit Kant festzustellen war, und bis 1989 in einem Teil Deutschlands, bis wenige hundert Meter hinter diesem Gebäude, ebenfalls durch eklatante Verletzung der Werte der Aufklärung. Das in Deutschland festzuhalten, halte ich auch in dieser Stunde für notwendig. Seitdem ist der Europarat ein hocheffizientes Instrument zur Realisierung der Werte der Aufklärung, der Allgemeinheit der Menschenrechte und der Idee von Kant, Krieg nach und nach durch einen Bund von Staaten weltweit zu verhindern. Bei dem ersten Ziel sind wir weitergekommen. In Westeuropa gelten die Menschenrechte. Seitdem - darauf sollten wir alle verpflichtet sein - ist der Europarat in der Tat am besten geeignet, einen Teil von Europäizität zu prüfen, und zwar die erste Voraussetzung dafür, zur europäischen Staatengemeinschaft gehören zu können, nämlich die Realisierung der europäischen Menschenrechtskonvention. Diese Prüfung nimmt der Europarat gegenüber Russland vor, und diese Prüfung nimmt er gegenüber der Türkei vor. Es macht sehr viel Sinn, bei der positiven Beantwortung der Frage die gleichen Konsequenzen zu ziehen wie bei der negativen. Im Augenblick kann man weder bei Russland noch bei der Türkei feststellen, dass sie den Kriterien des Europarats entsprechen. Deshalb sind derzeit beide keine Europäer im Sinne unserer Wertegemeinschaft. Damit bin ich bei der Russland-Resolution. Die Entscheidung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hat - das ist wesentlich für die politische Diskussionskultur - deutlich gemacht, wo Europa handeln kann und - das muss man davon abgrenzen - wo nicht. Der Beschluss hat deutlich gemacht, dass wir Russland sagen können und müssen: Bei den Menschenrechten handelt ihr nicht als Europäer. Andererseits wird man in dem Zusammenhang aber auch festhalten müssen - ich habe das hier schon einmal gesagt -, dass der Tschetschenienkrieg seitens Deutschland nicht mit militärischen Mitteln beendet werden kann - das muss man sich klarmachen, wenn man gefragt wird, was man tut - und dass es dabei bleibt, dass es bei einem Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, das über Atomwaffen verfügt, wie zu Zeiten Breschnews keine Alternative zum Ringen um Abrüstung gibt, um Gefahren von Westeuropa abzuwenden. Das ist keine Inkonsequenz hinsichtlich des anderen. ({0}) Ich halte die Diskussion über Blindheit für falsch. Intellektuelle Beobachter, die Europa Blindheit gegenüber Russland vorgeworfen haben, können dies nach dem Beschluss der Parlamentarischen Versammlung nicht mehr tun. Eine zweite Bemerkung. Der Europarat zeigt in seiner Arbeit, dass internationale Politik mehr ist als Diplomatie. Das verdanken wir den Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung. Mit diesem Beschluss ist auch recht deutlich gemacht worden, wo Unterschiede im außenpolitischen Handeln liegen und dass die Parlamentarische Versammlung am klarsten formulieren konnte, wo die Grenzen und die Anforderungen an Europäizität liegen. Dass damit für die nächste Sitzung des Ministerrats eine deutliche Aufforderung gegeben ist, ist klar. Ich will hinzufügen: Ich will alles dafür tun, dass sehr gründlich beobachtet wird, was Russland jetzt auf diesem Gebiet tut, und dass gegebenenfalls Konsequenzen auch auf der Ebene der Minister zu treffen sind, wenn sie im Mai zusammenkommen. Das ist eine nach dieser Vorgabe klare Notwendigkeit. Ich will auch nicht hintanstellen, dass die auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland in ihrer auch positiven Kontinuität den Europarat in der Vergangenheit und in der Gegenwart nicht als Schwerpunkt der Agenda behandelt. Es macht Sinn, das zu ändern. ({1}) Die entsprechende Aufforderung nehme ich persönlich sehr ernst. ({2}) Ich hoffe, das wird Wirkungen haben. Ich stimme auch zu, dass es sehr viel Sinn macht, bei der Frage der Neuformierung der europäischen Sicherheitspolitik sehr klar zu prüfen, wo deren parlamentarische Kontrolle effektiv liegen kann, wenn sie sozusagen nicht ganz eindeutig zugeordnet wird. Ich hoffe, dass die Europäische Union, wenn sie sich eine eigene Verfassung mit Grundrechten gibt, keine Konkurrenz zum Europarat wird. Aber solange nicht alle Mitglieder der Europäischen Union sind oder es werden wollen, macht es auch Sinn, zu fragen, ob sich diese nicht in Form eines Beitritts zu den Menschenrechten am Europarat beteiligt. Da die Regierungskonferenz inhaltlich noch aufgewertet werden wird, macht es Sinn, darüber zu diskutieren. An dieser Stelle deshalb diese Bemerkungen: Der Respekt der Regierung vor dem Europarat ist in ganz hohem Maße der Respekt der Regierung vor den Parlamentariern des Europarats, die Maßnahmen internationaler Politik für Europa und auch Deutschland ergreifen, die gerade in Bezug auf die Entscheidung zu Russland unverzichtbar geworden sind. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. mit dem Titel „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschen rechtsschutz“, Drucksache 14/2209 ({0}). Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1568 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3196 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Fred Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang GehrckeReymann weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus - Drucksache 14/1002 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 14/2901 - Berichterstattung: Abgeordnete Gisela Schröter Martin Hohmann Dr. Max Stadler Die Kolleginnen und Kollegen Gisela Schröter, Martin Hohmann, Volker Beck und Dr. Edzard Schmidt-Jortzig geben ihre Reden zu Protokoll.*) Die antragstellende Fraktion, PDS, erbittet einen Redebeitrag für Professor Dr. Heinrich Fink. Ich gebe ihm das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Gedenktage eines Volkes spiegeln das Verhältnis zur eigenen Geschichte wider. Das für Deutschland und Europa rettende Datum, der 8. Mai 1945, an dem die bedingungslose Kapitulation der faschistischen Machthaber Deutschlands gegenüber den Armeen der Anti-Hitler-Koalition besiegelt wurde, ist immer noch kein nationaler Erinnerungstag im wiedervereinigten Kalender. In Frankreich, den Niederlanden, Polen, Griechenland und in anderen Ländern Europas, die im Namen der deutschen Herrenrasse im Zweiten Weltkrieg okkupiert und geplündert worden waren, begehen die Menschen seit Jahrzehnten in festlichem Gedenken das Datum ihrer Befreiung vom deutschen Besatzungsjoch. Die europaweit in ihre Heimatländer zurückgekehrten Zwangsarbeiter brachten den 8. Mai als persönlichen Rettungstag mit, der aber nicht zum gesamtdeutschen Bußtag wurde. Millionen von ihnen haben es nicht mehr erlebt, dass nun endlich in Deutschland eine kleine finanzielle Entschädigung für die Zwangsarbeit aufgebracht worden ist. Es wird höchste Zeit, dass das wiedervereinigte Deutschland den 8. Mai 1945 als Datum seiner Befreiung von der selbst gewählten Barbarei im öffentlichen Bewusstsein auch kommender Generationen verankert. Es ist zwar wichtig, dass am 27. Januar all der Opfer des Naziregimes gedacht wird, die in den unmenschlichen Varianten von politischer Verfolgung, Rassenmord, Euthanasie, Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern und Ermordung von Deserteuren und Geiselerschießungen ums Leben gebracht wurden. Der 8. Mai dagegen ist der Tag der Überlebenden, der Tag der Erschütterung. Von vielen zwar als Schande und Demütigung jahrelang nicht verkraftet, war es für Deutschland aber der Tag der Befreiung von Krieg, Bombennächten und Naziterror. ({0}) Besitzergreifende Lieder der Hitlerjugend und des deutschen Militärs wie „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ mussten mühsam verlernt werden. Der 8. Mai 1945 steht für den großen widersprüchlichen Umlernprozess der Deutschen auf dem Weg zurück in die europäische Völkergemeinschaft. Das Opfergedenken am Tag der Stilllegung der Menschenvernichtungsfabrik Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar und der 8. Mai 1945 als Erinnerung an das sehr unterschiedlich bewertete Ende von Faschismus und Krieg als für viele unfassbarer Zusammenbruch, unerwartete Niederlage oder so lange erhoffte Befreiung müssen immer wieder neu durchdacht werden. Nur aus lebendigem Erinnern erwachsen die Kräfte, mit denen neu erstehenden Naziumtrieben widerstanden werden kann. ({1}) Eine demokratische Regierung sollte es als historische Pflicht ansehen, den Gedenktag 8. Mai bewusst als parlamentarisches Engagement zu begehen und als Datum der Wiedergeburt der Demokratie zu schützen - auch angesichts blutiger neonazistischer Attacken gegen In- und Ausländer. Den neuen Naziopfern kann der 8. Mai wohl eher als der 27. Januar als Tag der Totenehrung dienen; denn er wäre ein selbstkritisch verpflichtendes Datum, damit demokratische Mitmenschlichkeit nicht aufs Neue vor Menschen kapituliert, die sich als Herrenrasse berufen fühlen und in bedenklicher Umdeutung der jüngsten Geschichte sowohl von „Auschwitzlüge“ als auch von der „Ehre der deutschen Helden des Zweiten Weltkrieges“ zu reden wissen. Gedenktage sind unentbehrliche Lernzeichen nach innen. Angesichts der gemeinsam zu gestaltenden Zukunft Europas sollten wir als Deutsche endlich europaöffentlich zum 8. Mai als Tag der Befreiung stehen. ({2}) Damit folgen wir dem Vermächtnis der Anti-Hitler-Koalition und aller noch unter uns lebenden Widerstandskämpfer.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Fink, Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Deshalb bitte ich Sie um Ihrer Kinder und Enkelkinder willen, die Erinnerung wach zu halten, damit sich an ihr Verantwortung für die Zukunft entwickeln kann. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der PDS zuzustimmen und den 8. Mai als Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus in Deutschland einzuführen. Danke schön. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zu einem Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus auf Drucksache 14/1002. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2901, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/1002 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro - Drucksachen 14/2658, 14/2920 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 14/3195 Berichterstattung: Abgeordneter Alfred Hartenbach Dirk Manzewski Dr. Susanne Tiemann Volker Beck ({2}) Die Kolleginnen und Kollegen Dirk Manzewski, Prof. Dr. Susanne Tiemann, Volker Beck, Rainer Funke, Rolf Kutzmutz und Prof. Dr. Eckhart Pick geben ihre Reden zu Protokoll.*) Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu einem Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro, Drucksachen 14/2658 und 14/3195. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bünd- nisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- *) Anlage 5 schaft und Forsten ({3}) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Schutz der Bewirtschaftung der Tropenwälder - 6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung - Drucksachen 14/1340, 14/2703 - Berichterstattung: Abgeordneter Albert Deß Die Kolleginnen und Kollegen Christel Deichmann, Cajus Caesar, Dr. Angelika Köster-Loßack, Ulrich Heinrich, Carsten Hübner und der Parlamentarische Staatsse- kretär Gerald Thalheim geben ihre Reden zu Protokoll.1) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum 6. Tropenwaldbericht der Bundesregie- rung, Drucksache 14/2703. Der Ausschuss empfiehlt un- ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Bericht auf Drucksache 14/1340 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Ent- schließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU und der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Singhammer, Horst Seehofer, Max Straubinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Neue Belastungen für ehrenamtlich Tätige zurücknehmen - Drucksache 14/2989 - Die Kolleginnen und Kollegen Peter Dreßen, Johannes Singhammer, Max Straubinger2), Dr. Thea Dückert, Gerhard Schüßler und Dr. Klaus Grehn geben ihre Reden zu Protokoll3). Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2989 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. April 2000, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.