Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/7/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Vorweg einige Mitteilungen: Der Kollege Dieter Pützhofen hat am 1. Oktober 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Horst Günther ({0}) am 1. Oktober 1999 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereits aus vergangenen Wahlperioden bekannten Kollegen sehr herzlich. ({1}) Die Fraktion der PDS hat mitgeteilt, daß der Abgeordnete Uwe Hiksch mit Wirkung vom 5. Oktober 1999 der Bundestagsfraktion der PDS angehört. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern: 1. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streitkräfteverband in Osttimor ({2}) zur Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolution 1264 ({3}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September 1999 - Drucksache 14/1719 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({4}) Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuß 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Geringere Leistungsansprüche gesetzlich Krankenversicherter gegenüber Sozialhilfeempfängern, Asylbewerbern und Strafgefangenen bei unveränderter Realisierung der Gesundheitsreform ({5}) 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Auschusses ({6}) zu dem Antrag der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streitkräfteverband in Osttimor ({7}) zur Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolution 1264 ({8}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September 1999 - Drucksachen 14/1719, 14/1754 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({9}) Dr. Helmut Lippelt Wolfgang Gehrcke Außerdem wurde vereinbart, die erste Beratung des Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit - Tagesordnungspunkt 8 - vor Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Eidesleistung des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 17. September 1999 folgendes mitgeteilt: Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers den Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Franz Müntefering, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister entlassen. Weiterhin hat mir der Herr Bundespräsident mit Schreiben vom 29. September 1999 mitgeteilt: Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn Reinhard Klimmt zum Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ernannt. Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid. Herr Bundesminister Klimmt, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten. ({10}) Herr Minister, ich bitte Sie, den Eid zu leisten.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005307

Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerech5374 tigkeit gegen jedermann üben werde. Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister Reinhard Klimmt hat den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses für Ihr Amt die besten Wünsche aussprechen. Zugleich danke ich dem ausgeschiedenen Bundesminister Franz Müntefering für seine Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung. Für seine weitere Zukunft wünschen wir ihm alles Gute. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Die Rolle der Interparlamentarischen Union ({1}) im Zeitalter der Globalisierung - Drucksache 14/1567 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dieter Schloten, SPD-Fraktion, das Wort.

Dieter Schloten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001986, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 91 Jahren, 1908, fand in diesem Hause die erste Interparlamentarische Konferenz auf deutschem Boden statt. Am kommenden Sonntag wird hier die 102. Interparlamentarische Konferenz feierlich eröffnet werden. Wir erwarten über 1 000 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 130 Staaten. 138 Mitgliedsländer zählt die IPU mittlerweile. Die Berliner Konferenz 1999 wird nach 1908 und 1928 in Berlin, 1978 in Bonn und 1980 in Ost-Berlin die fünfte Versammlung in Deutschland sein. Schwerpunktthemen werden diesmal die Durchsetzung der Genfer Konventionen anläßlich ihres 50. Geburtstages sowie die Überprüfung der derzeitigen globalen Finanz- und Wirtschaftsmodelle sein. Darüber hinaus hat die Delegation der Bundesrepublik Deutschland einen aktuellen Zusatztagesordnungspunkt beantragt. Er lautet: „Der Beitrag der Parlamente zu einem friedlichen und toleranten Zusammenleben von ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten in einem gemeinsamen Staat“. Außerdem wird die Konferenz Empfehlungen dazu erarbeiten, welchen Beitrag die IPU zum Aufbau eines demokratischen Staatswesens in Osttimor leisten kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie alle herzlich dazu ein, die Gelegenheit in der kommenden Woche zu nutzen, in das Internationale CongressCentrum zu kommen und Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt zu knüpfen oder zu pflegen. Ich bin in den vergangenen Wochen manchmal gefragt worden: Wie steht es denn eigentlich mit der demokratischen Legitimation vieler sogenannter Parlamentarier, die auf dieser Konferenz Delegierte ihrer Länder sind? Diese Frage ist berechtigt. Ebenso wie in den Vereinten Nationen sind bei den Interparlamentarischen Konferenzen Politiker vertreten, deren Legitimation oftmals vom Wohlwollen oder vom Willen der jeweiligen autoritären Machthaber ihres Landes abhängt. Ob wir nach Fernost, in bestimmte Regionen Afrikas oder in manche Anrainerstaaten des südlichen Mittelmeers, aber auch nach Ost- oder Südosteuropa, zum Beispiel nach Belarus oder Jugoslawien, schauen, wir stellen fest: Die parlamentarische Demokratie hat auf unserem Globus die Zweidrittelmehrheit noch nicht erreicht. Dennoch behaupte ich: Die IPU ist das geeignetste und bedeutendste Instrument zur weltweiten Demokratisierung. Diese These möchte ich mit einem kurzen Rückblick auf die Entstehung und auf einige wichtige Entwicklungsschritte der IPU sowie auf bedeutende Entscheidungen, die sie in den letzten Jahren für ihre Zukunft getroffen hat bzw. zu treffen beabsichtigt, begründen: Die Idee einer friedlichen Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den europäischen Mächten wurde in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Parlamentariern vorangetrieben. Der österreichische Abgeordnete Robert von Walterskirchen forderte bereits 1870 als erster offizielle Beziehungen zwischen Parlamenten mit dem Ziel der Friedenssicherung - leider vergeblich. Erst dem britischen Abgeordneten William Randal Cremer sowie dem französischen Pazifisten Frédéric Passy gelang es nach mehreren vergeblichen Anläufen, 1889 die erste internationale parlamentarische Konferenz in Paris einzuberufen. Dafür erhielten sie später den Friedensnobelpreis. Eine Entschließung zur Friedenssicherung und zur Abrüstung kam jedoch noch nicht zustande. Zu mächtig wirkten die vom nationalistischimperialistischen Geist beherrschten Regierungen auf ihre Parlamentarier ein. Dennoch folgten regelmäßige Interparlamentarische Konferenzen in verschiedenen europäischen Hauptstädten. 1899 wurde der Interparlamentarische Rat geschaffen, dem bis heute zwei Delegierte jedes Mitgliedstaates angehören. Er gab der Union ihre programmatische Ausrichtung: Friedenssicherung durch Streitschlichtung und Abrüstung. Der erste international wirksame operative Schritt wurde ausgangs des 19. Jahrhunderts getan: Die Brüsseler IPU-Konferenz von 1895 verabschiedete einen Entwurf für ein internationales Schiedsgericht. Dies führte unmittelbar zur Einberufung der Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899. Diese Konferenz beschloß die Einrichtung des Ständigen Internationalen Schiedshofes in Den Haag. Das war ein Meilenstein in der Geschichte des Völkerrechts. Er wurde 1920 als Ständiger Internationaler Gerichtshof vom Völkerbund und 1946 von den Vereinten Nationen als Internationaler Gerichtshof übernommen. Die Aufgaben dieses Gerichtshofes entsprechen bis heute weitgehend den Interventionen der IPU von 1895. Ideen und Visionen von Parlamentariern wurden leider erst nach den Weltkriegen von Regierungen aufgegriffen und im Völkerbund und in den Vereinten Nationen umgesetzt. Regierungsvertreter haben in diesen weltweit operierenden Gremien Aufgaben übernommen, die durch parlamentarische Diplomatie entstanden und gewachsen sind. Bevor ich auf die gegenwärtige Situation eingehe, möchte ich an die Interparlamentarischen Konferenzen von 1908 und 1928 erinnern, die im Reichstag stattfanden. 1908 scheiterte der vorausschauende Versuch mehrerer Parlamentarier, eine vertragliche Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa zu erreichen, am Nationalismus vieler Teilnehmer und deren Regierungen. 1928 unterstützte die Interparlamentarische Konferenz an diesem Ort den für den Frieden in Europa so wichtigen deutsch-französischen Annäherungsprozeß. 1933 wurde dann die interparlamentarische Gruppe des Deutschen Reichstages aufgelöst. Die folgenden IPUKonferenzen fanden ohne deutsche Beteiligung statt. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich die IPU von einer europäischen zu einer weltweiten parlamentarischen Friedensorganisation - trotz des kalten Krieges. Zum erstenmal nahm 1951 in Istanbul wieder eine deutsche Delegation an einer Interparlamentarischen Konferenz teil. Seitdem beteiligen sich deutsche Delegierte engagiert und oftmals in führenden Positionen an der Durchsetzung der programmatischen Ziele der IPU. Ich erinnere an unseren kürzlich verstorbenen Kollegen Dr. Hans Stercken, der 1985 für drei Jahre zum Präsidenten des Interparlamentarischen Rates gewählt wurde. Neben Friedenssicherung und Abrüstung nahm sich die IPU neuer Themen an, zum Beispiel: Überwindung des Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, gerechtere Weltwirtschaftsordnung, Maßnahmen gegen die Bedrohung der Umwelt, Weltraumrecht und vor allem Schutz der Menschenrechte und Demokratisierung. Die IPU hatte nämlich erkannt, daß ohne parlamentarische Demokratie Frieden in der Welt nicht zu erreichen ist, daß ohne parlamentarische Demokratie die Gleichstellung der Frau nicht zu erreichen ist, daß ohne parlamentarische Demokratie Bildung und Erziehung - insbesondere der Mädchen - nicht zu erreichen sind und daß ohne parlamentarische Demokratie Rassismus, Terrorismus und organisierte Kriminalität nicht erfolgreich bekämpft werden können. ({0}) Deshalb verabschiedete die IPU im September 1997 in Kairo eine Erklärung zur „Sicherstellung dauerhafter Demokratie und Herstellung enger Verbindung zwischen Parlament und Bevölkerung“. Daraus zitiere ich nur einen Satz: Unbeschadet aller kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede ist die Demokratie ein weltweit anerkanntes Ideal und zugleich ein Ziel … , das auf allgemeinen Werten beruht, die von der gesamten Völkergemeinschaft … geteilt werden. Die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Meinungsfreiheit, geheime und freie Wahlen, das passive und aktive Wahlrecht für jede Bürgerin und für jeden Bürger sowie die Kontrolle der Regierungen werden in dieser Erklärung als Voraussetzung jeder Demokratie gefordert und anerkannt. Schließlich fordert die Resolution, daß die Mitgliedstaaten der IPU schwere Verletzungen grundlegender Menschenrechte als Straftaten ahnden und die Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs unterstützen. - Mit dieser Resolution zur Demokratie hat sich die IPU ein erweitertes Fundament gegeben. Frieden und Abrüstung sind nicht ohne Demokratie zu erreichen. ({1}) Parlamentarier müssen demokratisch gewählt und legitimiert sein. Und obwohl die Wirklichkeit dieser Forderung noch nicht voll entspricht - auch die kommende Konferenz hier in Berlin nicht -, lohnt es sich, für ihre Durchsetzung zu kämpfen. Von allen IPU-Mitgliedern wird nämlich erwartet, daß sie sich für den Schutz der Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Konsolidierung der Demokratie nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern weltweit einsetzen. ({2}) Im Zeitalter der Globalisierung ist erneut parlamentarische Diplomatie gefordert. Die meisten Inhalte, mit denen sich die Parlamente heute beschäftigen, haben bereits transnationale Dimensionen. Seien es Fragen der Beschäftigung, der sozialen Sicherung, seien es Fragen der inneren und äußeren Sicherheit oder der Migration: Parlamentarier haben heute eine Verantwortung, die über die nationale Verantwortung hinausgeht. Indem sie ihre Arbeit auch als Beitrag für Frieden und Sicherheit verstehen, nehmen sie internationale Verantwortung wahr, die immer weniger als auswärtige Angelegenheit begriffen wird. Parlamentarische Diplomatie ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es geht jetzt darum, sie zu ordnen und unter ein weltweites Dach zu bringen. Schauen wir uns einige europäische Institutionen an! Die Europäische Union hat eine parlamentarische Dimension: das Europäische Parlament. Der Europarat, die OSZE und die WEU haben eine parlamentarische Dimension: ihre Parlamentarischen Versammlungen. Demgegenüber besteht die Vollversammlung der Vereinten Nationen ausschließlich aus Regierungsvertretern. Wenn wir die Aufgabe der Parlamente ernst nehmen, die Globalisierung parlamentarisch zu begleiten, dann brauchen auch die Vereinten Nationen eine parlamentaDieter Schloten rische Dimension. Die Interparlamentarische Union ist geeignet und bereit, diese Verantwortung zu übernehmen. Die IPU teilt und unterstützt die Ziele der Vereinten Nationen; sie hat Kooperationsverträge mit ihnen und mehreren ihrer Unterorganisationen abgeschlossen. Eine Parlamentarische Versammlung, bestehend aus Vertretern der Parlamente der Mitgliedstaaten, wird nicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Stärkung der Vereinten Nationen führen; ({3}) denn die Vereinten Nationen würden dadurch in den nationalen Parlamenten verankert. Der Deutsche Bundestag fordert seit langem eine Reform der Vereinten Nationen. Diese Reform darf sich nicht nur auf ihre Organisation beschränken, auf ihr Vetorecht oder auf ihre Mitgliedschaft im Sicherheitsrat. Diese Reform muß vielmehr eine grundlegende Demokratisierung der Vereinten Nationen zum Ziel haben, die gleichzeitig zu einer Entbürokratisierung führen muß. ({4}) Globalisierung und Demokratisierung müssen einander ergänzen. Deshalb fordere ich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf, sich für diesen großen, weltweit wirksamen Fortschritt einzusetzen - nicht nur auf Grund des Antrags, den wir heute verabschieden wollen, sondern auf Grund ihres eigenen demokratischen Selbstverständnisses. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von diesem mittelfristigen Ziel erfüllt die IPU zur Zeit drei große Aufgaben, für die es sich einzusetzen lohnt. Erstens. Sie fördert die Gleichstellung der Geschlechter. Seit zwei Jahren ist die Konferenz der Frauen innerhalb der IPU ein Satzungsorgan. Ihre Vorsitzende hat Sitz und Stimme im Leitungsgremium, dem Exekutivausschuß. ({5}) Nationale Delegationen sollen mindestens ein weibliches Mitglied haben. Für viele ist das schon zu viel; das werden wir nächste Woche wieder sehen. Außerdem werden wir in der nächsten Woche voraussichtlich erstmalig in der Geschichte der Interparlamentarischen Union eine Frau zur Präsidentin des Interparlamentarischen Rates wählen. ({6}) Zweitens. Die IPU fördert die Kooperation zwischen Parlamenten und Parlamentariern in aller Welt. Damit stellt sie das einzige internationale Forum regelmäßigen intensiven Dialogs zwischen Parlamentariern und Parlamentarierinnen dar. Darüber hinaus hilft sie jungen Demokratien, ihre Infrastruktur, ihre Ausrüstung und ihre Instrumente zu verbessern, unter dem Motto: Gegenseitig voneinander lernen. Drittens und letztens ist die IPU dabei, für das Milleniumjahr in New York bei den Vereinten Nationen eine weltweite Konferenz der Parlamentspräsidenten zu organisieren. - Herr Präsident, ich hoffe, auch Sie werden daran teilnehmen können. - Sie wird von UNOGeneralsekretär Kofi Annan einberufen werden. Die Vorbereitungen dazu sind weit vorangeschritten. Nahezu sämtliche Parlamentspräsidenten haben ihr Kommen zugesagt. Übrigens werden in der nächsten Woche 40 Parlamentspräsidenten als Delegierte hier in Berlin anwesend sein. Dies ist ein schöner Rekord für eine Interparlamentarische Versammlung. ({7}) An dieser Stelle möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsgruppe IPU ´99 - sie sitzen heute oben auf der Tribüne - unter Leitung von Herrn Voss für ihre ausgezeichnete Planung und ihren unermüdlichen Einsatz zur Vorbereitung und Durchführung dieser großen Konferenz herzlich danken. ({8}) Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben gegenüber der IPU eine besondere Verpflichtung. Wir haben in der jüngsten Vergangenheit mehrfach bewiesen, daß wir bereit sind, für die europäische Zivilgesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Diese Verantwortung gilt es auch weltweit zu tragen. Denn der Frieden ist nur zu erreichen, wenn wir eine globale Zivilgesellschaft haben werden. Die Interparlamentarische Union setzt sich nach wie vor für Frieden, Abrüstung und Demokratie in der ganzen Welt ein. Es lohnt sich, ihre Ziele zu unterstützen und zu fördern. Der Deutsche Bundestag wird dabeisein, wenn es in der nächsten Woche hier in Berlin wieder heißt: Parlamentarier aller Länder, vereinigt euch! Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002287, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir am kommenden Sonntag hier im Reichstagsgebäude die IPUKonferenz in Deutschland eröffnen, dann ist das ein guter Zeitpunkt, denn es ist sinnvoll, die IPU-Konferenz im ersten Jahr unseres Wirkens nach dem Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin hier durchzuführen. Ich sage Ihnen: Der Teilnehmerandrang ist sehr groß; man möchte Berlin erleben. Wenn ich dies sage, dann denke ich daran, daß wir die letzte IPU-Debatte im Deutschen Bundestag am 15. September 1989 geführt haben; das war in der 159. SitDieter Schloten zung. Sonst werden die Protokolle der Konferenzen nur als Drucksachen veröffentlicht. Das heißt, es ist zehn Jahre her, daß wir das letztemal über dieses Thema öffentlich diskutiert haben. Ich möchte nach alldem, was Herr Schloten zur Geschichte und zur Würdigung der IPU gesagt hat, unterstreichen: Der Beitrag der deutschen Parlamentarier in dieser Interparlamentarischen Union ist von großer Wichtigkeit. Immer wieder werden wir nach unserer Meinung gefragt. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß heute der 7. Oktober ist. Vor zehn Jahren meinte die frühere DDR, ihren 40. Jahrestag feiern zu können. Sie hat ihn auch gefeiert; aber er war begleitet von den ersten Demonstrationen, die damals noch gewaltsam auseinandergetrieben wurden. In den Tagen danach wurde das schwieriger. Für die Kolleginnen und Kollegen aus der Interparlamentarischen Union ist der Besuch in Berlin ein Anlaß, uns zu fragen, was aus der Wiedervereinigung geworden ist. Sie wenden sich gerade an uns Deutsche, wenn es um geteilte Länder geht, die ebenfalls wiedervereinigt werden wollen, wenn es darum geht, Macht gegen die Ohnmacht in einer Diktatur aufzubauen - sie erinnern uns daran, daß wir dies in der friedlichen Revolution erlebt hätten, und fragen, ob es nicht auch bei ihnen gelingen könnte -, und wenn es schließlich um die Frage geht, in welcher Solidarität die Völker beieinanderstehen, wenn Unrecht in Recht zu verwandeln ist. Nun sagen viele, an sich sei die Interparlamentarische Union machtlos. Das mag in gewisser Weise richtig sein. Aber Machtlosigkeit kann sich durchaus in Macht verwandeln, wenn die Instrumente richtig genutzt werden. In diesem Zusammenhang komme ich auf die Frage zurück, wie es denn mit der Demokratie steht. In der Tat gehören der IPU Parlamente an, die im Sinne unseres Demokratieverständnisses keine Parlamente sind. Aber es lohnt sich, gerade mit diesen Parlamentariern zu reden und einen Austausch zu pflegen. Die Demokratie hat - allen Widerständen zum Trotz - einen Siegeszug in der Welt angetreten. ({0}) Wir sind auf dem Weg zu zivilen, demokratischen Gesellschaften und sollten uns auf diesem Wege keineswegs entmutigen lassen. Stets waren es einzelne Persönlichkeiten, die sich um den Frieden verdient gemacht haben. Sie waren die Wegbereiter des Völkerbundes und nach dem zweiten Weltkrieg die Wegbereiter der Vereinten Nationen, die wir heute weiter stärken müssen. Wenn wir in unserem Resolutionsantrag heute von der parlamentarischen Dimension gesprochen haben, dann ist allemal darauf hinzuweisen, daß die Regierungen die Parlamentarier brauchen, um das, was sie wollen, überhaupt durchsetzen zu können; denn uns ist manche Freiheit belassen, die die Exekutive nicht hat. Ich erinnere daran, wie wichtig die parlamentarischen Missionen in den baltischen Staaten waren, bevor die Abtrennung und völkerrechtliche Anerkennung dieser Staaten erfolgen konnten. Vergleichbares gilt auch für die knifflige Situation in Weißrußland. Ich bin sehr froh, daß Weißrußland auf dieser Interparlamentarischen Konferenz mit wenigen Parlamentariern, die noch aus dem alten, legitimen Parlament übriggeblieben sind, vertreten sein wird, wenn auch ohne offiziellen Status. ({1}) Auch in der Fraktion der CDU/CSU haben wir darüber diskutiert, was wir in bezug auf auf die Stärkung parlamentarischer Rechte bewirken können. Allerdings würden wir uns übernehmen, wenn wir uns für eine parlamentarische Versammlung der UNO stark machten. Davor warne ich ausdrücklich, weil wir zunächst - heute mehr denn je - eine Stärkung der UNO insgesamt brauchen; dies ist nicht nur eine finanzielle, sondern vor allem eine politische Frage. ({2}) Die neuesten Entwicklungen zeigen, daß die UNO keineswegs an Bedeutung verloren hat. Gleichwohl können wir als Parlamentarier - das ist mit der parlamentarischen Dimension gemeint - weltweit begleitend auf Regierungen einwirken und im Dialog vieles bewirken, was keine Exekutive könnte. Insoweit muß unser Bekenntnis lauten: Weder Wohlstand noch Frieden, noch Menschenrechte lassen sich ohne Demokratie entwikkeln. ({3}) Manchmal habe ich den Eindruck, die Demokratie werde bei uns leichtfertig zu Grabe getragen; denken Sie nur an die Wahlenthaltungen und das endlose Genöle. Wir wissen um unsere Schwächen. Aber ich rufe dazu auf, die Konferenz der Interparlamentarischen Union in Berlin in die Tradition der Konferenzen von 1908 - unglücklicherweise scheiterte der Friede damals -, von 1928 und von 1978 in Bonn zu stellen. Daher sollte von Berlin folgende Botschaft ausgehen: Wir wollen ein friedliches Miteinander. Wir wollen, daß die Völker dieser Welt sich demokratisch entwickeln können. Wir wollen Armutsbekämpfung, Umwelterhalt und Umweltsanierung. Es geht uns darum, daß sich keine Nation im Alleingang zum Schaden der anderen auf den Weg macht. Wir wollen im Miteinander der Welt Zukunft geben. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der nächsten Woche findet die 102. Konferenz der Interparlamentarischen Union hier in Berlin statt. Die IPU als größte parlamentarische Versammlung der Welt ist ein zentraler Ort für Debatten über eine zukunftsfähige Politik. Ihre Empfehlungen zum Internationalen Strafgerichtshof und die 1997 beschlossene Allgemeine Erklärung zur Demokratie sind weiterhin wegweisend. Ich erwarte mir von der Versammlung in der nächsten Woche die weitere Unterstützung der Ziele der Demokratisierung, der Gleichstellung der Geschlechter, der Einhaltung der Menschenrechte und der Bearbeitung der Rahmenbedingungen der nachhaltigen Entwicklung. Dafür will ich mich als Mitglied der deutschen Delegation einsetzen. Die Konferenz in Berlin bietet auch für uns eine hervorragende Chance, sich mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus aller Welt in einer lang gewachsenen und lebendigen Demokratie zu präsentieren. Der Umzug nach Berlin hatte bei manchen Kommentatoren die Hoffnung oder die Befürchtung - je nach dem - laut werden lassen, es entstehe jetzt eine neue „Berliner Republik“. Ich halte davon überhaupt nichts. Ich denke, daß es uns gerade hier in Berlin gut anstehen würde, im Inneren eine offene und selbstbewußte Demokratie zu bleiben und auf internationalem Parkett verantwortungsbewußt, aber bescheiden und sensibel aufzutreten. Neben der staatlichen Zusammenarbeit und den Kontakten der Nichtregierungsorganisationen handelt es sich bei den Kontakten zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus über 130 Ländern um eine dritte Säule der politischen Zusammenarbeit. Der Kollege Schloten hat das „parlamentarische Diplomatie“ genannt. Ich denke aber, daß diese Art von parlamentarischer Diplomatie bisher nur ein Schattendasein geführt hat. Während bei den großen internationalen Konferenzen der Vereinten Nationen oder bei der Versammlung der WTO die Regierungen verhandeln, sind die Parlamente am Verhandlungstisch meist nur marginal beteiligt. Ihre Beteiligung reduziert sich oft auf die Zustimmung zu oder Ablehnung von schon getroffenen Entscheidungen. Ich halte es für notwendig, Parlamentarierinnen und Parlamentarier besser und früher in die Formulierung des Verhandlungsmandats und in den Verhandlungsprozeß einzubinden. ({0}) Wie die Einbeziehung der Akteure der Zivilgesellschaft - Nichtregierungsorganisationen - in die internationalen Verhandlungsrunden sinnvoll und wichtig ist, ist auch unsere Einbindung wichtig. Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sollten die Kontakte zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus unterschiedlichen Ländern sehr ernst nehmen. Ein Schwerpunkt der IPU-Konferenz wird die Reform der parlamentarischen Funktion im internationalen Bereich sein. In diesem Zusammenhang finde ich es außerordentlich gut, daß bei uns mit der 14. Legislaturperiode endlich ein vollwertiger Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe geschaffen wurde. Dort besteht für uns jetzt die Möglichkeit, menschenrechtsrelevante Aspekte vor allem der internationalen Politik, aber auch der nationalen Politik, der Situation in unserem Land, zu diskutieren. Das wird ein schwerwiegender Punkt sein, den wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen diskutieren werden. Die Menschenrechtssituation ist in vielen Ländern weiterhin sehr besorgniserregend. Ein aktuelles und besonders grausames Beispiel ist die Lage in Osttimor. Dort wurden und werden nach wie vor die elementarsten Menschenrechte mit Füßen getreten. Gerade Deutschland, das in vielen Jahren sehr enge Beziehungen zu Indonesien aufgebaut hat, die bis zur engen Zusammenarbeit mit dem Suharto-Regime führten, muß das Mandat der Vereinten Nationen zum Schutz der Zivilbevölkerung und für die friedliche Gestaltung des Unabhängigkeitsprozesses in Osttimor unterstützen. ({1}) Wenn wir die Menschenrechte in den Ländern des Südens und des Nordens nachhaltig und dauerhaft sichern wollen, ist vor allem die Beseitigung der großen sozialen Ungerechtigkeiten nötig, die sich aus strukturellen Ungleichheiten ergeben. Es wird in unserem Land zur Zeit viel von sozialer Gerechtigkeit gesprochen. Ich möchte aber auch an die weltweiten Fragen erinnern, die im nächsten Jahr - fünf Jahre nach dem Abschluß des Weltsozialgipfels in Kopenhagen noch einmal auf die Tagesordnung kommen. Selbstverständlich sind hier in erster Linie die nationalen Staaten selbst gefordert. Aber auch wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen ihnen in der Argumentation gegen Ungleichheit und Diskriminierung Hilfestellung leisten. Nur durch eine intensive und effiziente Kooperation mit Ländern des Südens wird es uns gelingen, in Zukunft wirksame Krisenprävention zu betreiben. Dazu gehört auch der Abbau von Mißtrauen, das zwischen den Ländern des Nordens und des Südens immer noch in sehr großem Maße besteht. Ich glaube, daß die Interparlamentarische Union ein Rahmen ist, in dem dieses Mißtrauen weiter abgebaut werden kann. ({2}) Der zweite Schwerpunkt der diesjährigen IPUKonferenz ist die Überprüfung der derzeitigen global wirksamen Finanz- und Wirtschaftsmodelle. Unter dem modischen Stichwort Globalisierung werden einerseits real ablaufende Prozesse beschrieben, zum Beispiel die enorme Beschleunigung der internationalen Finanzmärkte. Auch die Medienentwicklung läßt die Welt immer weiter zusammenrücken. Andererseits wird der Begriff der Globalisierung aber auch ideologisch verwendet. Der Politik wird nahegelegt, sich möglichst aus der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen herauszuhalten. Die Globalisierung ist jedoch kein naturwüchsig ablaufender Prozeß; die Politik darf sich ihrer Gestaltungsaufgabe nicht enthalten. Im Gegenteil; die Globalisierung muß politisch gestaltet werden. ({3}) Dazu sind Parlamentarierinnen und Parlamentarierer im internationalen Maßstab besonders herausgefordert. Die schnelle Entwicklung der internationalen Finanzmärkte und die wirtschaftliche und politischen Macht internationaler Konzerne bedürfen nicht weniger, sondern mehr politischer Gestaltung; denn der Markt ist wie jeder Markt für viele Entwicklungen blind. Das ökonomische System braucht für seine Funktionsfähigkeit ausschließlich Rückmeldungen über Gewinn und Verlust. Andere Aspekte werden weitgehend ausgeblendet. Dazu gehören die Durchsetzung der Menschenrechte, die soziale Gerechtigkeit und der Schutz der natürlichen Umwelt. Auch die Einführung von Umwelt- und Sozialstandards in das internationale Handelssystem bedarf der politischen Entscheidung und muß sehr gut vorbereitet werden. Wir sind uns relativ schnell einig, wenn wir über die Abschaffung von Kinderarbeit oder über die Notwendigkeit grundlegender Umweltstandards reden. Der heftigste Widerstand gegen solche Regelungen kommt jedoch aus den ärmsten Ländern und aus den Schwellenländern, die darin - manchmal nicht ganz zu Unrecht - einen neuen Protektionismus der Industrieländer sehen. Für uns wird es darauf ankommen, unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten des Südens davon zu überzeugen, daß die Einhaltung elementarer Sozial- und Umweltstandards auch in ihrem Interesse ist. Auch die Industrieländer müssen ihren Beitrag dazu leisten, beispielsweise durch die Armutsbekämpfung und durch den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitssystemen. Bei der IPU-Konferenz nächste Woche besteht die große Chance, uns mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Industrie- und Entwicklungsländern über diese Themen auszutauschen und vielleicht auch Lösungswege zu empfehlen, die weiterführen. In diesem Sinne wünsche ich uns eine erfolgreiche IPU-Konferenz und möchte alle Anwesenden auffordern, sich soweit es geht im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran zu beteiligen. Es kann uns weiterbringen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich das Glück hatte, in den letzten Jahren - es sind genau zwölf - die Entwicklung der Interparlamentarischen Union nicht nur zu verfolgen, sondern aktiv an ihr teilzunehmen, der kann nicht umhin, einen gewissen Optimismus zu verspüren. Wenn ich vergleiche, wie die IPU vor zwölf Jahren zusammengesetzt war und wie sie sich heute darbietet, dann will ich meiner Überzeugung Ausdruck geben, die da lautet: Demokratie ist eine anstekkende Gesundheit. Ich bin wirklich erfreut, zu sehen, daß heute die Länder, die keine vernünftigen parlamentarischen Systeme haben, weniger geworden sind. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Parlament eines afrikanischen Landes. Das war architektonisch eine genaue Nachbildung des WestminsterParlaments. Wir fragten: Wie sind denn hier die Sitze verteilt? Daraufhin sagte man: Auf dieser Seite sitzen die Vertreter der Regierungspartei. Dann fragte ich: Wer sitzt da gegenüber? Die Antwort war: Dort pflegte die Opposition zu sitzen, als wir noch eine Opposition hatten. - Inzwischen sitzt da wieder eine Opposition, und ich finde das großartig. ({0}) Ich habe auch einmal einen Inselstaat im Fernen Osten besucht. Man zeigte uns - damals herrschte dort noch eine stramme Diktatur - voller Stolz das Parlamentsgebäude. Man war glücklich darüber, daß man uns etwas voraushatte: Man hatte nämlich eine elektronische Abstimmungsanlage. Nur, bei näherem Hinsehen stellte sich heraus: Da gab es nur einen Knopf, nämlich den für Ja. Inzwischen gibt es auch dort mehrere Knöpfe, und ich glaube, das ist ein Fortschritt. Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an die IPU-Konferenz im Frühjahr 1989 in Budapest. Als wir dort unsere Konferenz abhielten, herrschte noch das kommunistische Regime, aber in den Straßen gab es eine machtvolle Demonstration, es wurde ein Fackelzug im Gedenken an den ermordeten Ministerpräsidenten Imre Nagy und für die sich neu entwickelnde Demokratie durchgeführt. Ich erinnere an die IPU-Konferenz im Frühjahr 1991 in Pjöngjang in Nordkorea, zu der wir erstmals mit einer gesamtdeutschen Delegation gereist sind. Das war nach der deutschen Einheit. Die Kollegen aus der früheren DDR waren noch viel stärker beeindruckt als wir, und sie sagten: Jetzt können wir uns ausmalen, was uns erspart geblieben ist und wohin die Entwicklung in der DDR möglicherweise hätte führen können. Das Regime in Nordkorea ist für mich nie besser charakterisiert worden als durch den Stoßseufzer, den wir alle ausgestoßen haben, als wir - zwei Jahre nach dem Massaker am Tiananmen - in Peking am Flughafen, von Pjöngjang kommend, gelandet sind. Wir haben tief durchgeatmet und gesagt: Back to the free world again. Meine Damen und Herren, wir haben es erlebt, daß sich die Länder, die in der IPU vertreten sind, und die Parlamente wesentlich geändert haben. Vor zehn Jahren war noch die Delegation der Sowjetunion mit dabei; jetzt sitzen dort Delegationen zahlreicher unabhängiger Staaten, darunter auch die der baltischen Staaten. Wir saßen noch mit einer Delegation aus der DDR Seite an Seite. Es gab immer Rivalitäten, und man sprach eigentlich offiziell nicht miteinander. Abends, beim Rotwein, lockerten sich aber die Zungen. Wir bekamen allerdings noch im Jahre 1989 gesagt: Da sollen doch die Ungarn, die Polen und die Tschechen machen, was sie wollen; bei uns wird sich überhaupt nichts ändern. - Welch ein Irrtum! Dieses alles verfolgt zu haben heißt auch, daß man mit den Vertretern unterschiedlichster Kulturen immer im Gespräch gewesen ist. Wir haben den Kollegen aus den anderen Ländern erklärt, daß wir Deutsche uns nach der Vereinigung nicht überheben werden, daß wir zuverlässige, berechenbare, gute Partner und Nachbarn sein wollen, auch wenn unser Land größer und stärker geworden sein sollte. Dies hat viel ausgemacht. Die IPU bietet nämlich auch ein Forum für die Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen. Ich erinnere daran, daß wir jetzt mit dem Iran in nähere Kontakte treten wollen, und das auch mit Respekt vor der anderen Kultur. Wir müssen uns klar sein, daß für unsere Länder die parlamentarische Demokratie unseres Zuschnitts natürlich das einzig richtige System ist. Wir sollten uns aber nicht überheben und auch Respekt haben, wenn wir zum Beispiel bei afrikanischen Parlamenten erleben, daß man dort eher den Konsens sucht und nicht die Mehrheit, die sich gegenüber der Minderheit durchsetzt. Für die Staatenbildung, für das Zusammengehörigkeitsgefühl des Landes ist das durchaus ein Faktor, den man respektieren muß. Wir sollten das nicht nachahmen. Allerdings sind manche sogenannte Einparteiensysteme in anderen Kulturen in Wahrheit keine Einparteiensysteme. Vielmehr sind sie ein Resultat eines Konsenses, des Palavers, daß man sich zusammenfindet und den anderen überzeugt. Auch wenn uns diese Methoden natürlich fremd sind, sollten wir Respekt haben und nicht von vornherein davon ausgehen, daß unser Modell auf alle anderen zu übertragen sei. Insofern möchte ich über das hinaus, was die Kollegen richtigerweise gesagt haben, zu den Themen, mit denen sich die IPU beschäftigt, und zu den Beschlüssen, die dort gefaßt werden, sagen: Ich glaube, daß diese Begegnungsstätte von Politikern - vor allem auch Politikerinnen - aus allen Ländern der Welt, aus den unterschiedlichsten Kulturen uns in unserem Bemühen weiterhelfen kann, uns dafür einzusetzen, wofür die IPU in ihrer Geschichte immer gestanden hat und auch in Zukunft stehen wird, nämlich Frieden, Freiheit und Menschenrechte zu verbreiten. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Stellung und Rechte der Interparlamentarischen Union müssen gestärkt werden. Im Zeitalter der Globalisierung sind politische Strukturen - dazu gehört auch der weltweite Zusammenschluß von Parlamentarierinnen und Parlamentariern - stärker denn je gefordert. Für die weltweite Fortentwicklung von Demokratie und die Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte sind sie unverzichtbar. Insofern unterstützt die PDS das Grundanliegen des vorliegenden interfraktionellen Antrags. Sie fordern mehr parlamentarische Kontrolle der internationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzorganisationen. Ja, die Programme der internationalen Organisationen, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, oder die Politik der Welthandelsorganisation entscheiden über Wohl und Wehe ganzer Völker. Doch wo, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU und F.D.P., hat sich die alte Bundesregierung tatsächlich dafür eingesetzt, sie stärker zu kontrollieren? Von der neuen rotgrünen Regierung ist in erster Linie zu hören, man dürfe der Wirtschaft keine Steine in den Weg legen; vermeintlich wirtschaftsfeindliche Politik sei mit ihr nicht machbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die Frage, ob die Politik wieder die Oberhand bekommt, um die internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu gestalten. Wirtschaftliche Prozesse werden von Rahmenbedingungen bestimmt, die die Politik setzen muß. Wenn sie das nicht tut, wird die Globalisierung der Weltökonomie weiter dazu führen, daß immer mehr Menschen verelenden, aber einige noch reicher werden. ({0}) Dieser Prozeß vollzieht sich bekanntlich in erster Linie auf dem Rücken von Frauen. Die Internationale Arbeitsorganisation hat diese Woche dazu interessante Zahlen veröffentlicht. Danach hat die Wirtschafts- und Finanzkrise in Asien dazu geführt, daß Frauen zunehmend vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Die Situation der Frauen in fast allen Krisenländern hat sich verschärft. Rund 70 Millionen Frauen aus asiatischen Staaten sind ausgewandert. Viele sind in ungeschützte Arbeitsverhältnisse als Haushaltshilfen gedrängt worden, in die Prostitution, etliche davon als Opfer von Menschenhandel. Genau hier gibt es erheblichen Handlungsbedarf der Politik und der Parlamente, und zwar weltweit. Die Welternährungsorganisation hat gestern berichtet, daß Frauen den Löwenanteil an der Ernährung in den sogenannten Entwicklungsländern produzieren. Aber einen Zugang zu Grund und Boden, zu Krediten oder modernen Techniken bekommen Frauen deshalb noch lange nicht. Die Globalisierung drängt die Frauen an den Rand und verstärkt gleichzeitig ihre Ausbeutung und Diskriminierung. Die erstmals regulär stattfindende vorgeschaltete Frauenversammlung der Interparlamentarischen Union muß und wird sich genau diesen Themen widmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wichtig und angemessen der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auch und gerade auf dieser Ebene ist, zeigt übrigens die Tatsache, daß auch auf der bevorstehenden IPU-Tagung Frauen beschämend unterrepräsentiert sein werden. Ich habe heute morgen die neusten Zahlen aus Genf erfahren: 520 Parlamentariern stehen sage und schreibe gerade 142 Parlamentarierinnen gegenüber. Ich begrüße es sehr, daß eine Frau den Vorsitz bekommen wird. Mein Fraktionskollege Dr. Ilja Seifert hat sich in den letzten Jahren stark dafür eingesetzt, daß sich auch Abgeordnete mit Behinderungen im Rahmen der IPU oder mit ihrer Unterstützung treffen können. Der UNSonderberichterstatter für Behindertenfragen, Bengt Lindquist, mit dem ich vor kurzem sprechen konnte, hat diese Initiative sehr begrüßt. Ich denke, der Deutsche Bundestag könnte ein wichtiges Signal setzen, wenn er genau diese Idee aufgreift und sich für ihre Umsetzung stark macht. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Staatsminister Dr. Christoph Zöpel.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung freut sich über diesen Antrag von vier Fraktionen dieses Hauses. Der Antrag entspricht einer deutschen Außenpolitik, die mehr und mehr zur internationalen Politik werden muß und die im Rahmen der Staatengemeinschaft Verantwortung für globale Prozesse zu übernehmen hat. Die Bundesregierung freut sich über Ihre Debattenbeiträge; sie wird sie berücksichtigen. Besonders eindrucksvoll, Herr Kollege Irmer, war Ihr Satz von Demokratie als ansteckender Gesundheit. Ich werde ihn mir merken. ({0}) Der Antrag enthält drei konkrete Aufforderungen an die Bundesregierung, zu denen ich in der gebotenen Kürze etwas sagen möchte. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Bemühungen der IPU um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu unterstützen und nach Möglichkeit durchzusetzen. Dies zu tun ist für die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit. Die Bundesregierung wird ferner aufgefordert, die Absicht, die IPU zur parlamentarischen Dimension der Vereinten Nationen zu machen, zu unterstützen. Dies hat die Bundesregierung seit 1996 getan, indem sie das Kooperationsabkommen zwischen der UNO und der IPU unterstützt hat und seitdem die jährlichen Resolutionen der Generalversammlung zur Unterstützung der IPU mitträgt. Die Bundesregierung wird dies fortsetzen. Die Bundesregierung hält es nicht für falsch, zu überprüfen, ob das, was unter dem Stichwort „parlamentarische Dimension“ verstanden wird, weiterzuentwickeln ist. Dies gehört in den Zusammenhang der Überlegungen zur Stärkung und Reform der Vereinten Nationen. Jede Anregung, die vom Bundestag wie auch von der IPU generell auf diesem Gebiet erfolgt, wird von uns gern aufgenommen, diskutiert und auf ihre Durchsetzbarkeit vor allem gegenüber anderen Staaten geprüft. Das interessanteste Begehren ist die dritte Aufforderung, nämlich diejenige, mit dazu beizutragen, die demokratische Kontrolle der internationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzorganisationen zu stärken. Aus Sicht der Bundesregierung kann es keinen Zweifel daran geben, daß globale wirtschaftliche Prozesse genauso eines Ordnungsrahmens bedürfen wie nationale wirtschaftliche Prozesse. ({1}) Ich glaube, der Beitrag, den die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zur Formulierung eines Rahmens oder - wie wir es oft sagen - einer Ordnung geleistet hat, beginnend mit Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, fortgesetzt durch Karl Schiller, ist eine Vorleistung, die Deutschland auf dem Gebiet, eine Ordnung für weltwirtschaftliche Prozesse zu schaffen, der Welt bieten kann. Da es eine Selbstverständlichkeit war, daß die gesetzlichen Grundlagen dieses Rahmens und dieser Ordnung demokratisch legitimiert und kontrolliert werden müssen, halte ich die Überlegung für richtig und notwendig, wie auch der weltwirtschaftliche Ordnungsrahmen demokratisch legitimiert und kontrolliert werden kann. ({2}) Dies geschieht selbstverständlich durch die Ratifizierung entsprechender Gesetze durch die nationalen Parlamente. Die Frage aber ist nicht falsch, ob auch interparlamentarische Einrichtungen daran beteiligt werden können. Ich schließe - wenn die Bundesregierung sich das gegenüber dem Parlament erlauben darf - diese Zusage der Bundesregierung mit einer Anregung: Es dürfte viel Sinn machen, wenn der Deutsche Bundestag zunächst mit den Parlamenten der anderen G-7-Staaten - und vor allem mit dem Senat und mit dem Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten - hierüber sprechen würde. Falls dazu organisatorische Hilfe seitens der Bundesregierung notwendig ist, leistet sie diese gern. Haben Sie herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Dank an unsere Leitung, Frau Professor Süssmuth und Herrn Schloten, beginnen, die uns hervorragend in all diesen internationalen Gremien vertreten. Lassen Sie mich weiter den Mitarbeitern aus Ihrer Verwaltung, Herr Präsident, und vom Auswärtigen Amt danken, die wirklich bravourös auch diese internationale Tagung hier in Berlin vorbereitet haben. ({0}) Das Thema lautet: „Die Rolle der IPU im Zeitalter der Globalisierung“. Ich möchte mich hier einigen mehr praktischen Fragen zuwenden. Eigentlich diskutieren wir ein bißchen so, als wenn die IPU nicht schon ständig global gedacht und gehandelt hätte, als wenn sie nicht schon ständig die nationalen Parlamente zum Handeln veranlaßt hätte. Global zu denken ist eigentlich der selbstverständliche ständige Auftrag der IPU. Natürlich hat sich der Begriff „Globalisierung“ gewandelt. Heute bezeichnen wir damit vorrangig die Entstehung weltweiter Märkte für Produkte, Kapital und Dienstleistungen. Dieser Begriff dient auch als neuer Bösewicht, als Verursacher vieler Fehlentwicklungen, auf den alles abgeschoben werden kann. Stefan Baron unterstellt beispielsweise: Die Politiker gebrauchen die Globalisierung als Ausrede für ihr Nichtstun oder als Entschuldigung für ihre Erfolglosigkeit, die Manager als Begründung für den Abbau von Arbeitsplätzen im Inland, für das Einkassieren von Nebenleistungen und für Investitionen im Ausland. Altbundespräsident Herzog sieht das viel positiver. Er meint, daß hier auch ein Weltmarkt für neue Ideen geschaffen worden sei. Ich meine, wir sollten neben allen Gefährdungen, die von der Globalisierung ausgehen, natürlich auch die Chancen sehen und sie nutzen. Die Frage ist also: Welche Rolle hat die IPU nun im Zeitalter der Globalisierung zu spielen? Ich meine, sie muß noch mehr als bisher ein Forum für globale Fragen sein, um eine ständige Plattform für die umfassende, aber auch streitige Behandlung von globalen Fragen anzubieten. Beim Auswärtigen Amt ist ein entsprechendes Forum eingerichtet worden, das sich dieser Aufgabe widmet. Es geht hier um den Wettstreit zwischen Ideen und Traditionen oder - wenn ich es zusammenfassen darf - anders ausgedrückt: Weltökonomie braucht Weltpolitik. Sie alle haben das in ihren Beiträgen schon beschrieben. Die Aufgabenstellung lautet also, Ideen und Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Wir müssen Antworten geben, die im neuen Jahrhundert Bestand haben. Hierbei geht es nicht nur um Probleme, die durch den Globalisierungsprozeß entstanden oder verschärft worden sind, sondern auch um Probleme bei seit langem bestehenden Herausforderungen in den Bereichen Umwelt und Entwicklung, Armutsbekämpfung, Menschenrechte, Migration, Friedenssicherung oder Krisenprävention. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie von den Nationalstaaten allein nicht mehr bewältigt werden können. Ihre Lösung ist aber trotzdem von entscheidender Bedeutung. Ich meine, wir in der IPU haben jetzt die große Chance, Strategien und Lösungen für die globalen Probleme zu erarbeiten, unterschiedliche Sichtweisen zusammenzuführen und das Spannungsverhältnis von Wirtschaft und Politik aufzuhellen sowie länderübergreifende Initiativen zu erarbeiten. Die Weltkonferenzen der vergangenen Jahre demonstrierten das Vorhandensein dieses Bewußtseins durchaus. Ich erinnere hier nur an die Agenda 21. Doch - das meine ich selbstverständlich auch kritisch - die Institutionen und Regelwerke in der Weltgemeinschaft blieben bisher in mancher Hinsicht Stückwerk. Die Ansätze, Weltpolitik zu gestalten, sind vielfach unverbunden und leisten noch keinen Beitrag zum Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen. Die Entwicklung der Welt wird nicht gesteuert. Vielmehr hat man den Eindruck, daß der Zug zuweilen in die falsche Richtung driftet. Wir stehen also vor der Herausforderung, ausgetretene Pfade zu verlassen und zukunftsfähige Reformen unserer Gesellschaft einzuleiten. Natürlich ist diese Einsicht vorhanden, aber ich habe manchmal das Gefühl, daß sie vielfach durch Rückfälle in das Denken und Handeln in den Kategorien der nationalstaatlichen Macht- und Interessenpolitik begleitet wird. Das Bestreben, hierfür internationale Regelungen zu finden - also das Stichwort „global governmance“ -, auszugestalten und zu praktizieren, hat ja nicht unbedingt Konjunktur. Meine Damen und Herren, wieder an die Adresse der IPU: Unsere hehren Gedanken und Vorschläge nützen nichts, wenn sie nicht transportiert, einer breiten Öffentlichkeit nachhaltig zugänglich gemacht und vermittelt werden können. Deswegen rege ich an, daß bei einer internen Reform auch der IPU von den Chancen durch Internet, Rundfunk und Fernsehen, von der weltweiten Verbreitung unserer Ideen mehr Gebrauch gemacht wird als bisher. Ich meine, gerade hier in Berlin sollten wir diese Chancen ergreifen. Natürlich ist das ein weites Feld. Es gibt sicher viele Fragen, Herr Schloten und Frau Professor Süssmuth, und natürlich auch viele Fragezeichen. Gestatten Sie mir, ganz selbstkritisch zu sagen: die IPU, das unbekannte Wesen. Die Parlamentarier kennen die IPU; draußen kennt keiner sie. Die Themen leiden darunter und verkümmern eben auch ein klein wenig, trotz ihrer unbestrittenen Wichtigkeit. Ich habe es schon erwähnt: Wir versuchen, mit einem Forum hier einiges zu erreichen. Wir versuchen, moderne Wege zu gehen, weil wir wissen, daß wir diese Fragen nicht allein regeln können. Niemand besitzt mehr ein Monopol auf Lösungskompetenz. Deswegen lenken wir unseren Blick auf die UNO, die gestärkt werden muß, die sich aber auch reorganisieren muß und die diese Fragen intensiver zu berücksichtigen hat. Dabei müssen nach meiner Einschätzung die starken Länder die UNO nachhaltig unterstützen. Die armen, die schwachen Länder können es nicht. Wir sollten eine entsprechende Werbekampagne starten und die Chancen nützen. Der von uns formulierte fraktionsübergreifende Antrag bestätigt all diese Problemlagen, fordert entsprechende Lösungen, neue Instrumente, neue Wege. Aber das sage ich zum Schluß - wir müssen uns dabei durchaus bewußt sein, meine Damen und Herren: In vielen der Bereiche, die wir angesprochen haben und bei denen wir uns auch einig sind, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1567 an den in der Tagesordnung aufge- führten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5a und 5b, auf: a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft - Drucksachen 14/1516, 14/1669 ({0}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksache 14/1711 - Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/1713 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Antje Hermann Jürgen Köppelin Dr. Christa Luft b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in dieser Winterperiode - Drucksachen 14/1215, 14/1711 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Konrad Gilges, SPD-Fraktion.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der IPU zum Schlechtwettergeld - Karl Marx würde in dieser Situation sagen: vom ideologischen Überbau zur ökonomischen Realität. ({0}) Es geht also um das Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Das ist der Abschluß einer langen Debatte, der heute hier stattfindet und den wir begrüßen, einer langen Debatte, die schon Anfang der 90er Jahre begann. Deswegen ein kurzer Rückblick: Die damalige Regierung von CDU/CSU und F.D.P. hat eine Neuregelung des Schlechtwettergeldes vorgenommen, um 700 Millionen DM einzusparen. Aber diese Regelung hat dazu geführt, daß der Bundesanstalt für Arbeit in dem Winter, der nach der Abschaffung des Schlechtwettergeldes folgte, durch eine erhöhte Zahl von arbeitslosen Bauarbeitern zusätzliche Kosten von 1,5 Milliarden DM entstanden sind. Die Regelung hat die Kosten in diesem Bereich verdoppelt. Deswegen war sie unsinnig und blödsinnig. Es ist daher notwendig, daß dieser Quatsch endlich geändert wird. ({1}) Die Regelung hat auch deutlich gemacht, daß Sie nicht rechnen können. Sie weisen in Ihrem Bericht lediglich darauf hin, daß sich diese Regelung insgesamt bewährt hätte. Herr Schemken hat dies sehr schwammig formuliert. Im Klartext heißt das, daß sich diese Regelung nicht bewährt hat. Ein weiterer Punkt. Sie wollten die Arbeitslosigkeit am Bau reduzieren. Dies ist Ihnen nicht gelungen. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den 90er Jahren verdoppelt. Einige Fachleute sagen sogar, daß sie sich mehr als verdoppelt hat. Des weiteren haben Sie ein Chaos am Bau angerichtet. Sie haben den sozialen Frieden zwischen Arbeitgebern und Bauarbeitern in erheblichem Maße gestört. ({2}) Unsere Aufgabe im Rahmen der zweiten und dritten Lesung ist es, in das Chaos und den Unfrieden, die zur Zeit am Bau herrschen, endlich wieder Ordnung und Frieden hineinzubringen. Ich bin überzeugt, daß uns dies sicherlich mit unserem Gesetz gelingen wird. ({3}) Wir Sozialdemokraten waren immer der Meinung, daß eine tarifvertragliche Regelung Vorrang vor jeder gesetzlichen Regelung hat. ({4}) Ein neuer Tarifvertrag ist jetzt zwischen den Bauarbeitgebern und der Gewerkschaft BAU zustande gekommen. Ich hoffe, daß dieser Tarifvertrag lange trägt. Unsere Aufgabe ist es - wie auch in vielen anderen Bereichen -, diesen Tarifvertrag durch Maßnahmen der Gesetzgebung zu flankieren. Im Tarifvertrag wird zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vereinbart. Es ist üblich, daß wir anschließend für die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen sorgen. Die jetzige tarifvertragliche Regelung besteht darin, daß die Bauarbeiter 30 Stunden vorarbeiten müssen. Dieser Eigenbeitrag wird dann in Schlechtwetterzeiten angerechnet, also dann, wenn die Arbeit am Bau auf Grund von Frost und Regen nicht mehr fortgesetzt werden kann. Für die nächsten 70 Stunden zahlen die Arbeitgeber das Winterausfallgeld aus der Winterbauumlage. Ich finde, daß das Verhältnis von 30 : 70 eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen Bauarbeitern und Arbeitgebern ist. Alle anderen vorherigen Regelungen waren ungerecht. Diese Regelung, die die Gewerkschaft BAU mit den Arbeitgebern ausgehandelt hat, ist gut. ({5}) Ab der 101. Stunde übernimmt die Bundesanstalt für Arbeit die Zahlung des Winterausfallgeldes. Diese Zahlungen stammen aus einer Kasse, in die auch die Bauarbeiter zu einem erheblichen Teil eingezahlt haben. Die Bauarbeiter bekommen also nichts geschenkt. Das Winterausfallgeld wird ab der 101. Stunde also auch aus Beitragszahlungen der Bauarbeiter finanziert. Wir begrüßen besonders das Verbot von witterungsbedingten Kündigungen. Es ist wichtig, daß keinem Bauarbeiter mehr gekündigt werden kann, weil auf Grund von Regen und Frost die Arbeiten auf dem Bau nicht mehr fortgesetzt werden können. ({6}) Sie wissen ja, daß ich von Beruf Fliesenleger bin. Daher weiß ich: Man kann zwar seine Arbeit vermurksen, aber an den Witterungsverhältnissen ist man unschuldig. ({7}) Ob eine Baustelle wetterfest gemacht wird, kann der Bauarbeiter nicht beeinflussen. Deswegen kann es nicht richtig sein, daß einem Bauarbeiter - wie in der Vergangenheit - witterungsbedingt gekündigt werden kann. Dies ist jetzt verboten. Wenn der Arbeitgeber gegen dieses Verbot verstößt, dann ist im Gesetz vorgesehen, daß er das von der Bundesanstalt für Arbeit gezahlte Winterausfallgeld zurückzahlen muß. Ich glaube, das ist eine vernünftige, mit Sanktionen belegte Regelung. Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen - Herr Schemken und Abgeordnete der F.D.P. haben dazu im Ausschuß schon etwas gesagt -: Die Kostenrechnung stimmt schlicht und einfach nicht. Die Bauarbeitgeber und die Bauarbeitnehmer wissen mittlerweile, daß alle Ihre Regelungen in diesem Bereich immer teurer als die alten Regelungen und als die neue Regelung waren; Sie können nicht rechnen. Bauarbeiter können aber rechnen; das gehört zum Beruf. Bauarbeiter brauchen weder gut schreiben noch gut reden zu können; aber rechnen müssen sie als Grundvoraussetzung für diesen Beruf können. Das steht im Gegensatz zu dem, was Politiker können müssen. Sie müssen gut reden und gut schreiben können. ({8}) - Herr Kollege, das ist überhaupt kein Zielkonflikt. Ich bekenne mich dazu, besser rechnen als schreiben zu können. Alle Ihre Berechnungen waren und bleiben falsch. Ich bin froh, daß wir jetzt eine für die Bundesanstalt für Arbeit, für die Bauarbeiter und für die Arbeitgeber kostengünstige Regelung haben, wie man sie besser nicht machen kann. Ich gehe davon aus, daß der Gesetzentwurf ein tragfähiger Kompromiß ist und daß es am Bau wieder sozialen Frieden gibt, wie es ihn vor der Abänderung der Schlechtwettergeldregelung durch Sie gab. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gilges, ich freue mich, daß der soziale Frieden am Bau wieder eintritt. Wir sind nicht nur für sozialen Frieden, sondern auch für Arbeit am Bau. Das ist ganz wichtig. ({0}) Ich gehe davon aus, daß uns dieser Wunsch verbindet. Diese Schlechtwettergeldregelung ist eine halbe Lösung; da beißt keine Maus den Faden ab. Diese Schlechtwetterregelung ist nicht nur eine halbe, sondern auch eine schlechte Lösung. Sie ist deshalb eine schlechte Lösung, zumindest ein fauler Kompromiß, weil Sie den Bauarbeitern etwas völlig anderes versprochen haben. Sie haben zugesagt, die Regelung wieder herbeizuführen, die vor den Anpassungen der 90er Jahre Gültigkeit hatte. Dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. ({1}) Das paßt zu Ihrer Linie: versprochen und - diesmal nicht ganz, aber halb - gebrochen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe zwar noch gar nicht richtig angefangen, aber weil Herr Dreßen sehr wahrscheinlich in weiser Voraussicht ahnt, was ich noch sagen werde, gebe ich ihm schon jetzt die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte Sie etwas zu dem fragen, was Sie gerade gesagt haben. Ist Ihnen nicht bekannt, daß der Inhalt des Gesetzentwurfs Grundlage einer Tarifauseinandersetzung - Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben sich verständigt - war? Wie können Sie behaupten, es handele sich nur um eine halbe Lösung und wir hätten unser Versprechen nicht gehalten? Akzeptieren Sie nicht, daß beide Seiten mit dem Ergebnis der Tarifverhandlungen leben können?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei mir ist immer entscheidend, was unten herauskommt. Sie haben während des Wahlkampfes oben hineingegeben: Wir schaffen die Regelung, die die Koalition in den 90er Jahren fortgeschrieben hat, ab, und wir kommen wieder zu der alten Schlechtwetterregelung. ({0}) Von Ihren Rednerinnen und Rednern ist sogar die Regelung beschworen worden, die es unter Konrad Adenauer gab. Dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. Man muß darüber reden, ob heute noch mit den Regelungen der damaligen Zeit Fragen der nationalen und internationalen Bauwirtschaft beantwortet werden können. Ausgangslage ist die fortgeschriebene Regelung. Diese Regelung ist auf dem Weg des Kompromisses zwischen Bauwirtschaft, Bauhandwerk und IG BAU zustande gekommen. Grundlage dafür war die Gravenbrucher Erklärung vom 12. April 1997. Wir haben nicht an den Sozialpartnern vorbei sozialen Unfrieden gesät; vielmehr haben wir miteinander - das war notwendig die existierende Regelung fortgeschrieben. Die Zustimmung der IG BAU war vorhanden, und wir halten uns an diese Regelung. Auch nach diesem Gesetz der Regierungskoalition hat im Grunde genommen der Kern dessen, was die Regierung Kohl geschaffen hat, also das flexibilisierte Dreisäulenmodell und auch die Frage der Kündigung aus Witterungsgründen, nach wie vor Gültigkeit. Es ist doch uns allen klar, Herr Gilges, daß man mit Fausthandschuhen keine Fliesen auf dem Bau legen kann. Insofern geht es nicht um diese Frage. Dieses Modell steht auch in dem von Ihnen vorgelegten und meiner Meinung nach rückwärtsgewandten Gesetz. Die erste Säule beinhaltete ja, daß während der Saisonzeit am Bau über Arbeitszeitkonten die mehr geleisteten Arbeitsstunden erfaßt werden, die dann bei Schlechtwetterzeiten im Winter als Ersatz für nicht geleistete Stunden angerechnet werden. Zwei Drittel der Baubetriebe - ich habe mir das gerade noch von einem Kollegen sagen lassen - praktizieren dies im übrigen mit großem Erfolg. Ein Kollege aus dem bayerischen Neumarkt - dort herrschen nicht unbedingt die Witterungsverhältnisse, wie man sie in weiter südlich gelegenen Gefilden vorfindet - sagte mir, daß niemandem von den dort arbeitenden 4 000 Beschäftigten bei einer Firma im Baubereich gekündigt werden mußte, da man teilweise über 150 Stunden vorgearbeitet hatte. ({1}) Das entscheidende Ziel, Herr Ostertag - das haben die Tarifpartner ja wiederholt angestrebt, aber es ist leider nicht dazu gekommen -, war die Sicherstellung eines auf 12 Monate verteilten Jahreseinkommens. ({2}) Die Sicherheit des Lohnes ist ja auch eine soziale Frage. ({3}) Ich komme nun zur zweiten Säule, die ganz wichtig ist: Hier wird entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip von einer zumutbaren flexiblen Eigenleistung ausgegangen. Die Unternehmen gleichen Lohneinbußen erst dann durch Rückgriff auf einen Fond aus, wenn entsprechende Eigenleistungen nicht möglich waren. In diesen Fonds wird die Winterbauumlage - die haben Sie, Herr Gilges, ja eben schon angesprochen - eingezahlt, die als solidarische Leistung das ausgleicht, was an Eigenleistung nicht erbracht werden kann. ({4}) - Das ist schwierig, Frau Rennebach; aber wir können nicht nur rechnen, sondern Sie müssen auch mit uns rechnen. ({5}) Die dritte Säule stellt das Schlechtwettergeld dar. Es wird dann gezahlt, wenn sowohl die erbrachten Eigenleistungen als auch die Winterbauumlage nicht mehr greifen. Sie stellen das ganze System jetzt rückwärtsgewandt eigentlich wieder auf den Kopf, wenn Sie diese von den Beitragszahlern aufzubringende ergänzende Leistung erhöhen wollen. ({6}) - Ihr Vorhaben ist deshalb rückwärtsgewandt, weil Sie bei Ihren Berechnungen von falschen Zahlen ausgehen. Auf diese Weise muß nämlich die Bundesanstalt für Arbeit 50 Millionen DM mehr ausgeben. Ich glaube nicht, daß das weniger wird. Sie belasten damit die Gemeinschaft der Beitragszahler, die 50 Millionen DM mehr aufzubringen hat. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lassen Sie den Redner doch einmal zu Wort kommen! Wenn Sie sich privat unterhalten wollen, müssen Sie woanders hingehen. ({0})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hoffe, daß es nicht von meiner Zeit abgezogen wird, wenn sich hier das Plenum unterhält. Ich würde nämlich auch gerne mitreden. ({0}) Der Beitragszahler wird also belastet. Dadurch treiben Sie die Lohnnebenkosten teilweise um 20 Prozent in die Höhe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt angesichts der internationalen Konkurrenz auf den Baustellen und schafft im übrigen keine Arbeitsplätze im Binnenmarkt, weil die Bauwirtschaft von außen bedient wird. Dadurch wird die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir hier bitter nötig brauchen, nicht gefördert. ({1}) Sie verkomplizieren, statt zu vereinfachen. Das wäre das Gebot der Stunde. Sie reglementieren, statt zu flexibilisieren. ({2}) Sie belasten gerade die Unternehmen aus der mittelständischen Wirtschaft und aus dem Handwerk, die uns Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. ({3}) Das wurde heute morgen in Gesprächen noch einmal deutlich. Hinzu kommen die gravierenden Einschnitte im Bundeshaushalt. Jetzt komme ich zu der angekündigten Rechnung, Herr Gilges. Ich würde dem Minister wünschen, daß er den Weg, der eingeschlagen ist, jetzt korrigiert und das aufnimmt, was wir ihm ins Buch schreiben möchten: Die mittelfristige Finanzplanung im Wohnungsbau der Bundesrepublik Deutschland betrug 1998 3,49 Milliarden DM und beträgt im Jahre 2003 2,15 Milliarden DM. Das sind bei zukünftiger Dynamisierung präterpropter 1,3 Milliarden DM weniger für den sozialen Wohnungsbau. Hiervon sind Arbeitsplätze betroffen. Stocken Sie die Mittel auf! Dem Minister können wir zusagen: Wir machen mit. ({4}) Im gleichen Zeitraum passiert im Bereich des Städtebaus noch Gravierenderes: Die Mittel in diesem Bereich werden von 700 Millionen auf 600 Millionen DM zurückgeführt. Über den von Ihnen eingeführten Titel „Die soziale Stadt“ kann man sprechen. Nur, daß dieser Titel angesichts einer Kürzung der Mittel weitere 100 Millionen DM notwendig macht, zeigt, daß Sie nicht verstanden haben, daß gerade beim Städtebau auf Grund der dortigen Komplementärleistungen durch die private Wirtschaft und die Kommunen und teilweise im Rahmen von Muskelhypotheken ein Vielfaches an Arbeitsplätzen geschaffen werden kann, als dies im Rahmen eines solchen Titels möglich ist. ({5}) Sie kürzen die Mittel für den Wohnungsbau um zirka 1 Milliarde DM. Das ist der schlagende Beweis dafür, daß Sie nicht erkennen, daß es hier weniger auf Reglementierung und mehr auf Investitionen ankommt. Die Mittel für Investitionen reduzieren Sie. Daß das bei einem Bundeskanzler passiert - ich sage das ausdrücklich -, der unter den Stichworten Modernisierung, Herausforderungen und Antworten, die im internationalen Konzert gegeben werden müssen, antritt, ist kontraproduktiv. Ich sage Ihnen ganz offen: Sie sollten sich den investiven und den Bau fördernden Arbeitsplätzen zuwenden und weniger reglementieren. Diesen Rat möchte ich Ihnen geben. Damit eröffnen Sie Perspektiven für die Menschen. Dann werden Sie draußen auch wieder verstanden. Dann schaffen Sie Arbeitsplätze und sichern sie auch. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Gilges hat uns auf ein wichtiges Problem aufmerksam gemacht, als er beschrieben hat, daß die Kolleginnen und Kollegen auf dem Bau nicht für Regen und schlechtes Wetter verantwortlich sind. Herr Gilges, Sie und die Kollegen von der CDU/CSU stimmen mir sicher zu, daß natürlich auch die Arbeitgeber und die Bundesregierung keine Schuld an schlechten Witterungsbedingungen haben. Insofern ist es besonders wichtig, daß alle drei zusammen, nämlich Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bundesregierung, in diesem Bereich einen Kompromiß bzw. eine Regelung gefunden haben, die für den Bau im Winter und im Sommer quasi einen Regenschirm aufspannt, um die aus schlechten Witterungsbedingungen folgenden Probleme abfedern zu können. ({0}) Winterarbeitslosigkeit ist ein Thema, das wir nicht wegdiskutieren können. Es existiert. Es ist ein Thema, das in der gesamten Volkswirtschaft Probleme aufwirft: zum einen für die Betroffenen in Form von sozialer Härte, zum anderen für die Branche, die mit wirklich hohen Fluktuationen zu kämpfen hat, insbesondere für die kleinen und mittleren Betriebe, die unter diesen Bedingungen besondere Schwierigkeiten haben, Facharbeiter auch im Winter zu halten. Herr Schemken, Sie können ablenken, wie Sie wollen: Es ist einfach so, daß die Regelung hinsichtlich des Schlechtwettergeldes, die Sie abgeschafft haben, die Situation auf dem Bau im Winter bzw. die Winterarbeitslosigkeit verschärft hat. Das ist mit Zahlen zu belegen. ({1}) - Wir können uns über die Höhe dieser Zahlen streiten. Aber Fakt ist es. Fakt ist auch, daß Sie nicht Kosten gespart haben, sondern zusätzliche geschaffen haben. ({2}) Es ist so: Die Arbeitgeber im Baubereich, das Baugewerbe, können dieses Problem nicht in den Griff beHeinz Schemken kommen. Zeit für das Finden einer Lösung war vorhanden. Es ist nicht gelungen. Jedes Silvester gibt es zirka 150 000 Arbeitslose auf dem Bau. Ich denke, wir alle sind uns einig, daß das eine unhaltbare Situation ist. Deswegen war es nötig, nach Lösungen zu suchen. Herr Schemken, es ist wahr, es ist nur ein Kompromiß gefunden worden. Aber es ist ein guter Kompromiß. ({3}) Er ist unter gleichgewichtiger Beteiligung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Bundesregierung bei ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen gefunden worden. Es handelt sich quasi um eine Art kleines Bündnis für Arbeit. ({4}) Das Entscheidende ist, daß es sich dabei um einen Kompromiß handelt, der eben nicht zu Lasten Dritter geht und der allen drei beteiligten Parteien in ihrem Bereich Vorteile verschafft. Es ist auch wichtig - ich erwähne in diesem Zusammenhang die Zustimmung des Bundesrates -, daß wir auch von seiten der rotgrünen Koalition im Hinblick auf die Zukunft des Baugewerbes nichts verschleiern wollen. Wir wollen vielmehr Sachverhalte offenlegen, diskutieren und Erfahrungsberichte über die Wirkung des Gesetzentwurfes erstellen. Wir gehen allerdings davon aus, daß uns der Erfahrungsbericht in unseren Annahmen bestätigen wird, nämlich daß die Winterarbeitslosigkeit mit diesem Konzept nachhaltig und signifikant bekämpft werden kann. Das Konstruktive an der vorgeschlagenen Lösung ist, daß sie weiterhin auf dem Dreisäulenmodell beruht, was ich ausdrücklich begrüße. Die erste Säule betrifft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie bringen 30 Überstunden, die sie im Sommer erarbeitet haben, auf ein Arbeitszeitkonto ein. Daneben besteht die Möglichkeit, über die 30 Stunden hinaus etwas einzubringen, mit 2 DM Wintergeld unterstützt. Diese Konstruktion ist für die Baubranche zukunftsweisend; der Aufbau von Arbeitszeitkonten wird für die Flexibilisierung in der Bauwirtschaft gebraucht. Diese Regelung ist ein guter Bestandteil dieses Gesetzentwurfes. Die zweite Säule betrifft die Arbeitgeber. Auch dieses Standbein ist positiv zu bewerten. Es stimmt nicht, daß Lohnnebenkosten erhöht werden, wie Sie gesagt haben. Vielmehr wird mit Zahlung von 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme das Risiko für die Arbeitgeber abgefedert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich gestatte die Zwischenfrage, wenn ich über den Komplex bezüglich der Arbeitgeber zu Ende gesprochen habe. In diesem Bereich ist für uns besonders wichtig, daß die Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld ab der 30. Stunde für die Arbeitgeber auf Null gesetzt werden. Diese Regelung ist deswegen besonders wichtig, weil dadurch insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe in der Zukunft entlastet werden. Wir können damit verhindern - wir können das belegen; auch die kleinen und mittleren Betriebe wollen das -, daß Arbeitskräfte im Winter entlassen werden müssen. Das ist vorteilhaft für die kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die Arbeitskräfte. ({0}) Herr Meckelburg, ich freue mich auf Ihre Frage.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, da Sie das Dreisäulenmodell so besonders herausgestellt haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir bestätigen, daß die Schlechtwettergeldregelung von Norbert Blüm von 1997 ebenfalls ein Dreisäulenmodell beinhaltete und daß Sie innerhalb dieses Modells zwanzig Stunden nach unten verschoben haben? Es wäre viel wichtiger in der jetzigen Situation, diese Verschiebung nicht vorzunehmen, sondern bei den Investitionen im Bereich der Wohnungsbau- und Städtebauförderung einen Akzent zu setzen, um damit über den Winter hinaus Arbeit am Bau zu schaffen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Meckelburg, bei Ihrer Frage und bei der Rede des Kollegen Schemken fällt eines auf: Sie versuchen mit den Verweisen auf die Regelungen von Blüm und auf die Forderungen von Wiesehügel und durch Verschleiern, wie unter Ihrer Regierungsverantwortung die Bautätigkeit eingeschränkt wurde, nachträglich auf einen Zug in Richtung einer zukünftigen guten Lösung der Probleme auf dem Bau aufzuspringen. ({0}) Es ist wirklich ein Armutszeugnis, wie Sie hier argumentieren. Sie können die Regelung nämlich nicht mehr schlechtreden. Deswegen verweisen Sie auf gute Regelungen, die Sie angeblich in der Vergangenheit geschaffen haben, und auf mögliche Versprechen der SPD. Sie können aber nicht auf Mängel in dieser Regelung verweisen, weil Sie sie nicht finden können. ({1}) Die dritte Säule - auch dieser Punkt wurde schon angesprochen - betrifft den Beitrag der Bundesanstalt für Arbeit. Natürlich wurden zusätzliche Kosten in Höhe von 55 Millionen DM beziffert. Sie wissen aber auch, daß allein die Verhinderung der Winterarbeitslosigkeit bei 7 500 Beschäftigen dazu führt, daß dieser Betrag aufgebracht werden muß. Ich gehe davon aus, daß mit diesem Gesetz mehr bewirkt werden kann, als 7 500 Arbeitskräfte im Baugewerbe vor der Winterarbeitslosigkeit zu bewahren. Das ist schon viel, weil es sich hier um lauter Schicksale handelt. Es wird sich zeigen, daß dies für die dritte Säule, die Bundesanstalt für Arbeit, einen positiven Aspekt haben wird, weil sie nämlich mehr Arbeitslosengeld wird einsparen können, als sie an Winterbauförderung leisten muß. ({2}) Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Gesetzes ist die Wiedereinführung der Winterbauausschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit. Eines ist doch klar - ich sprach dies eingangs bereits an -: Wir sind für das Wetter nicht verantwortlich und können es nicht beeinflussen. Aber weil dies so ist, ist es notwendig, alles zu tun, um die Kontinuität der Auftragsvergabe für den Winter im Baugewerbe zu sichern. Dafür bieten die Winterbauausschüsse eine Chance, die wir nicht verspielen sollten. Ich komme zum Schluß: Wir wollen die Probleme nicht wegreden, sondern lösen. Dafür gibt es neue Instrumente, nämlich das Zusammenwirken aller drei Beteiligter: der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Bundesregierung, wie es auch im Bündnis für Arbeit geschieht. In konsensuellen Verfahren soll eine Lösung gefunden werden, und ich bin ziemlich sicher, daß diese tragen werden. Insofern ist das, was hier vorgelegt wird, auch gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich eine sinnvolle Lösung. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Dirk Niebel, F.D.P.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns nun in kurzer Zeit zum dritten Mal mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schlechtwettergeldes zu beschäftigen. Die gesamten Beratungen haben eines gezeigt: Bei diesem Gesetzentwurf geht es noch immer um die Verlagerung der Kosten und der Verantwortung auf die Allgemeinheit. ({0}) Er erfüllt einzig und allein einen Zweck: Er dient dem Gesichtslifting des Kollegen Wiesehügel, der heute leider nicht da sein kann. ({1}) Herr Wiesehügel ist im Wahlkampf durch die Gegend gerannt und hat seinen Gewerkschaftern gesagt: Wir drehen alles zurück. Die Bundesanstalt für Arbeit wird wieder ab der ersten Ausfallstunde in die Haftung genommen. Noch im April hat er in den Reihen der Koalition Unterschriften für ebendiesen Antrag gesammelt, ist aber, zum Glück der Allgemeinheit, von Ihrem Fraktionsvorsitzenden Struck zurückgepfiffen worden. ({2}) 55 Millionen DM Mehrbelastung für die Bundesanstalt für Arbeit ist ein ziemlich hoher Preis für die Gesichtsoperation von Herrn Wiesehügel. ({3}) Schönheitsoperationen dieser Art sollten nicht zu Lasten der Allgemeinheit durchgeführt werden. ({4}) - Der Kollege Wiesehügel kann im Moment offenkundig nicht hier sein. Dies ist sicher begründbar: Vielleicht schämt er sich vor seinen Gewerkschaftern, denen er mehr versprochen hat. Vielleicht ist er auch in seiner Hauptfunktion als Vorsitzender der IG BAU unterwegs und kann die Tätigkeit als Abgeordneter nicht so sehr wahrnehmen. ({5}) Was mich an diesem Gesetzentwurf außerordentlich irritiert, ist, ({6}) daß ein Vorsitzender einer Gewerkschaft sich quasi selbst entmündigt, indem er in seiner Zweitfunktion als Gesetzgeber Regelungen schafft, die ihn in seiner Erstfunktion als Gewerkschaftsvorsitzender einschränken. ({7}) Die Regelung, die bis heute Gültigkeit hat, ist das Dreisäulenmodell. Sie verkaufen die Beibehaltung dieses Modells gegenüber Ihren Mitgliedern als den großen Wurf. Das ist meines Erachtens ein ganz erhebliches Stück weit unredlich, weil Sie nichts anderes getan haben - das ist eben schon gesagt worden -, als den Eigenbeitrag innerhalb dieses Modells um 20 Stunden zu verschieben, weil Sie dafür gesorgt haben, daß es weniger attraktiv wird, einen Beitrag zur Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes zu leisten, und so die Lohnnebenkosten wieder erhöht werden. ({8}) Dieses Gesetz fällt in der Konsequenz in die Reihe all der Gesetze, die Sie bisher beschlossen haben: die Rücknahme der Schwelle beim Kündigungsschutz, die 630-Mark-Beschäftigung und die sogenannte Scheinselbständigkeit. Das paßt in die Bilanz Ihres ersten Jahres, die die „Wirtschaftswoche“ gezogen hat: In einem Jahr Schröder-Regierung 58 350 Arbeitslose mehr und 367 000 Erwerbstätige weniger. Sie sind konsequent. ({9}) - Frau Kollegin Rennebach, wir werden nachher ein Highlight der Parlamentsgeschichte dadurch erleben, daß Sie einmal nicht Gift verspritzen, sondern hier zur Sache reden. Ich freue mich darauf, Ihnen nachher zuzuhören. Wie sagte Gerhard Schröder? Der Bundeskanzler hat gesagt: Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken; daran werde ich mich messen lassen. Der „Tagesspiegel“ titelte in der gestrigen Ausgabe auf Seite 1: „Arbeitslosigkeit so hoch wie bei Kohl“. Die Regierung Schröder hat in ihrer Arbeitsmarktpolitik bisher kein Bein auf den Boden bekommen. Sie ist kläglich gescheitert! ({10}) Dieses Gesetz ist in seiner Kontinuität konsequent rückwärtsgewandt. Sie werden auch dadurch Arbeitsplätze vernichten, daß Sie unsoziale Politik machen, indem Sie Politik für Arbeitsplatzbesitzer machen und diejenigen, die draußen stehen, durch die höheren Lohnnebenkosten weiterhin draußen halten. ({11}) Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 festgestellt, daß bei der jetzigen Regelung durchschnittlich 64 Stunden vorgearbeitet werden und 80 Prozent aller Betriebe mit 20 Arbeitnehmern die Regelung in Anspruch nehmen. 98 Prozent aller vorgearbeiteten Stunden werden zum Ausgleich von Schlechtwetterzeiten in Anspruch genommen. Sie hätten konsequent bleiben und gerade bei dieser temporären Arbeitslosigkeit Flexibilisierung vorantreiben müssen. Die Kollegin Wolf hat von den Grünen abgeschrieben. ({12}) - Entschuldigung, von den Liberalen; man weiß ja kaum noch, ob Sie grün sind oder nicht. - Allerdings hat sie nur abgeschrieben, ist aber nicht konsequent geblieben. Sie hätten die Entwicklung von Jahresarbeitszeitkonten und von Lebensarbeitszeitkonten fortführen müssen. Gerade in diesem Bereich wäre mehr Flexibilität durchaus gut gewesen. ({13}) Dieses Gesetz ist auch im Sinne einer zukunftsorientierten Fortentwicklung der Arbeitsmarktpolitik rückwärtsgewandt. Die Einführung der Winterbauausschüsse, die Sie jetzt wieder vorgenommen haben, ist nichts anderes als das Ausgraben eines Relikts, das es bei uns schon gab. Die Winterbauausschüsse haben in der Vergangenheit keine sinnvolle Tätigkeit ausüben können, und sie werden das auch in der Zukunft nicht tun. ({14}) Was Sie machen, ist nichts anderes, als verdiente Mitglieder von Verbänden der beiden Seiten des Arbeitsmarktes zu beschäftigen. ({15}) - Ah, da kommt ja Herr Wiesehügel. Das freut mich. Es ist schade, daß Sie nicht früher da waren. Aber Sie können meine Rede gerne nachlesen. ({16}) Die 97er Regelung hatte unter anderem das Ziel, Überstunden abzubauen, ein Ziel, das von der Gewerkschaftsseite bisher immer als der Schlüssel, als Königsweg zum Abbau von Arbeitslosigkeit proklamiert worden ist. Dadurch, daß Sie hier keinerlei Anreize für Vorarbeit schaffen, konterkarieren Sie das Ziel der 97er Regelung. Ich finde es sehr schade, daß Sie bei den Beratungen dieses Gesetzes derartig beratungsresistent waren. Sie werden damit Ihrem Ziel, dem Abbau der Arbeitslosigkeit, an dem sich diese Regierung jederzeit messen lassen will, keinen Schritt näherkommen. Das ist gut für uns als Opposition, aber das ist schlecht für dieses Land, das ist schlecht für die Beschäftigten, und das ist keine zielführende Arbeitsmarktpolitik. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend ein Gesetz, welches populär „Schlechtwettergesetz“ genannt wird. Wir bräuchten darüber übrigens nicht zu beraten, hätten CDU/CSU und F.D.P. die bis dato geltende Regelung nicht zum 1. Januar 1996 abgeschafft. Ich darf Sie daran erinnern - insbesondere Sie, Kollege Niebel -, daß dieser forsche Schnitt ins soziale Netz allein im Winter 1996/97 zu 4 000 fristlosen Entlassungen auf Berliner Baustellen geführt hat, ({0}) und das ausdrücklich mit der Begründung: schlechtes Wetter. Mit anderen Worten: Die alte Regierungskoalition hat ein Heuern und Feuern in Gang gesetzt, bei dem das Feuern weit vor dem Heuern rangierte, ({1}) und das in einer Branche, die ohnehin von einer Arbeitslosenquote um 30 Prozent, in den neuen BundesDirk Niebel ländern gar um die 50 Prozent, gebeutelt wird. Das heißt, jeder zweite Bauarbeiter in den neuen Bundesländern ist ohne reguläre Arbeit und Erwerbschance. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund, daß derzeit vermeintliche Soziologen durch die Talkshows reisen und behaupten, der „gelernte DDR-Arbeiter“ sei dumm, faul und gefräßig. Für derart unqualifizierte Beiträge zum Zusammenwachsen können die Betroffenen nur frustriert danken. Erst nimmt man ihnen durch Ihre unsoziale Gesetzgebung die Arbeit, dann schreit man ihnen noch „Haltet den Dieb!“ hinterher. ({2}) Die abgeschaffte Schlechtwettergeldregelung ist nur eines der Probleme, die sich im Bauwesen bündeln. Aber es gehört nun einmal zum Erbe der letzten Regierung, daß auch in diesem Fall die Arbeitslosigkeit befördert und eben nicht eingedämmt wurde. Wenn dies stimmt - offensichtlich teilen SPD und Grüne nach wie vor unsere grundsätzliche Kritik an der damaligen Regierung -, dann folgt logisch die Frage, warum die neue Regierungskoalition auch noch den Winter 1998/99 verstreichen lassen hat, anstatt sofort eine Schlechtwettergeldregelung in Kraft zu setzen. ({3}) - Natürlich haben wir keine Diktatur. Aber Wahlversprechen sollten auch über den Wahltag hinaus gelten, Kollegin. ({4}) Die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes war ein Wahlversprechen, und daß der Winter kommt, war auch im Jahr 1998 nicht so ganz überraschend. ({5}) Entscheidend bleibt, daß von der Schlechtwettergeldregelung Tausende Bauarbeiter und ihre Familien betroffen sind. Nun hat meine Kollegin Heidi Knake-Werner schon in der ersten Lesung des Gesetzes darauf hingewiesen, daß hier kein CDU/CSU-Fehler 1 : 1 zurückgenommen, sondern ein Kompromiß verhandelt wird, der schlechter als die ursprüngliche Regelung ist. Sie, Kollege Wiesehügel, riefen damals dazwischen: „So ist das Leben, Frau Kollegin!“ Ich antworte Ihnen: Das Leben spielt sich auf den Baustellen oder in den Arbeitsämtern ab. Das Leben auf den Baustellen bedeutet allzuoft Überstunden und Unterbezahlung, das Leben auf den Arbeitsämtern bedeutet allzuoft Hoffnungslosigkeit. Das gilt auch für diese Stadt. Nun lese ich im Formblatt zum Gesetzentwurf unter der Rubrik Alternativen: „Keine“. Dabei wissen Sie von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen sehr wohl, daß es Alternativen und hinreichend Fragezeichen zum vorgelegten Entwurf gibt. Völlig unklar bleibt zum Beispiel, wie illegale, also gesetzeswidrige Kündigungen aufgedeckt und wirksam geahndet werden sollen. Unbeachtet bleiben auch Forderungen, das Schlechtwettergeld wieder ab der ersten Stunde einzuführen. Kurzum: Die Behauptung, die eigene Politik sei alternativlos, ist ein typischer Ausfluß einer gern geleugneten Regierungskrankheit, die offenbar inzwischen auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen befallen hat. Gleichwohl ist das vorgelegte Gesetz eine Verbesserung gegenüber dem, was CDU/CSU und F.D.P. hinterlassen haben. ({6}) Wir werden diesem Gesetzentwurf deshalb zustimmen, auch wenn wir wissen, daß es bessere Lösungen gäbe. ({7}) Betrachtet man nämlich die Regelungen ganz genau, liegen die Risiken des Gesetzes einseitig bei den am Bau Beschäftigten. Insofern sind Sie dann allerdings konsequent, da auch dies einem SPD-Wahlversprechen folgt. Vor einem Jahr plakatierten Sie in dieser Stadt: „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“ ({8}) Das verhieß viel, versprach wenig, war also unverbindlich, und führt zu solchen Halbheiten, wie wir sie heute auf dem Tisch haben. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pau, ich weiß nicht, ob Ihr Gedächtnis nicht ganz in Ordnung ist. ({0}) Am 26. Oktober 1998 ist der Kanzler gewählt und vereidigt worden. Eine Schlechtwetter- und Winterbauregelung muß am 1. November in Kraft treten, damit sie ihre Wirkung entfalten kann. Selbst wir haben es nicht geschafft, so etwas in fünf Tagen auf die Beine zu stellen. ({1}) Herr Niebel, ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht, ({2}) wenn ich kein Highlight abliefere. Aber ich würde Ihnen gerne in aller Bescheidenheit sagen, daß die 96er und auch die 97er Regelung dafür gesorgt haben, daß Jahr für Jahr 150 000 Bauarbeiter im Winter ihren Job verloren haben. ({3}) Das wollten wir so schnell wie möglich ändern. ({4}) Eigentlich wollten das auch Kollegen aus Ihren Reihen ändern. Ich erinnere mich daran, daß, als im Oktober/November 1995 das Schlechtwettergeld abgeschafft wurde, am nächsten Tag der Kollege Eppelmann im Frühstücksfernsehen aufgetaucht ist und es wiedereinführen wollte. Ganz alleine können wir mit dieser Regelung nicht sein. ({5}) Wieder einmal in einer solchen Debatte verdrehen Sie die Tatsachen. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfes war von der F.D.P. zu hören, die Zahl der Entlassungen am Bau sei im letzten Winter „dramatisch zurückgegangen“. ({6}) Bewußt gelogen oder keine Ahnung? ({7}) Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Arbeitslosigkeit am Bau im Winter 1998 wie in den Vorjahren um fast 150 000 Menschen gestiegen. ({8}) Auch wenn die Arbeitslosenzahlen am Bau insgesamt zurückgehen, sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Winterarbeitslosigkeit noch immer nicht gebannt ist, wir aber das mit unserem Gesetzentwurf erreichen werden. ({9}) Sie werden verstehen, daß ich Ihre Rechnung nicht wirklich nachvollziehen kann. Ich bin fest davon überzeugt: Die Kollegen am Bau können es auch nicht. Es ist mir ebenso unerklärlich, daß Sie wollen, daß wir der Entwicklung weiter tatenlos zusehen. Wie sagte Herr Schäuble? In der Bauwirtschaft sei „alles gut geregelt“. Keine Ahnung oder bewußt gelogen? ({10}) Ich finde, mit der Abschaffung des Schlechtwettergeldes von 1996 wurde überhaupt nichts „gut geregelt“. Im Gegenteil: Es sind Probleme entstanden, die nach drei Jahren natürlich nicht so einfach wieder eingefangen werden können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Rennebach, der Kollege Niebel möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nur wenn es der Erhellung dient.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Rennebach, ich bin bemüht, daß meine Fragen grundsätzlich der Erhellung des Hohen Hauses dienen. Sie haben gerade gesagt, mit der 96er Regelung sei „überhaupt nichts gut geregelt“ worden. Sind Sie bereit, sich daran zu erinnern, daß die 96er Regelung von Ihrer Partei mitgetragen wurde? ({0})

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich weiß, wogegen ich heftig gestimmt und heftig gesprochen habe. Es tut mir leid. ({0}) Gerne wäre ich Ihnen mit dieser Antwort hilfreich gewesen. Aber ich muß Ihnen sagen: Der einzige aus Ihren Reihen, der mit uns zusammen nein gesagt hat - einen Tag später, aber immerhin -, war Herr Eppelmann. ({1}) - Auch er ist nicht da. Übrigens begrüße ich den Kollegen Klaus Wiesehügel. ({2}) - Er hat jetzt diesen Gesetzentwurf unterschrieben. Was er 1996 unterschrieben hat, war ein Gesetz und kein Tarifvertrag. Herr Niebel, erhellen Sie uns doch bitte woanders, aber nicht hier. ({3}) Die F.D.P. spricht normalerweise von „Subventionierung“ und „Kostenerhöhung“ - Scheinargumente, die leicht zu entkräften sind. ({4}) Doch dazu später. Sie unterstellen uns darüber hinaus die Beschneidung von Eigenverantwortung und Tarifautonomie. Wie Sie wissen, haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Bundesregierung eine Lösung zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit gefunden, wie wir heute schon mehrfach gehört haben. Der Kompromiß ist auch nach meiner Meinung ein ausgewogener Interessenausgleich, der von allen Seiten begrüßt wird. Warum also beschweren Sie sich eigentRenate Rennebach lich? Ich will es Ihnen sagen: Weil es Ihnen nicht gelungen ist. Ich sage Ihnen auch, warum: weil Sie daran überhaupt kein Interesse hatten. ({5}) Ihre Botschaft lautet im Klartext: Der Markt hat seine eigenen Regeln. Die hat er, meine Damen und Herren der Opposition. Aber dort, wo die Regeln nicht funktionieren, müssen wir eingreifen. Das ist soziale Marktwirtschaft. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn wir vom Wetter reden, ({7}) ist unsere Antwort: Wir müssen und wir werden handeln. Deshalb werden wir heute ein Gesetz beschließen, das hilft, die Winterarbeitslosigkeit am Bau zu beseitigen. ({8}) Wenn wir Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen wollen ({9}) - das ist unser aller Aufgabe -, dann müssen wir neue, innovative Beschäftigungsfelder schaffen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß bestehende Arbeitsplätze erhalten bleiben. ({10}) Wenn ich aber aus den Reihen der CDU/CSU höre, wir würden ein sogenanntes Arbeitsplatzbesitzergesetz beschließen, dann muß ich sagen: Das ist demagogisch und gemein. ({11}) Aber ich muß doch mal fragen, was falsch daran sein soll, Arbeitsplätze - zumal unter den besonderen Bedingungen am Bau - zu erhalten. Sie behaupten weiter, die Neuregelung des Schlechtwettergeldes würde Schwarzarbeit fördern. Das ist eine dreiste Lüge. Das wissen Sie. ({12}) Meine Damen und Herren, es ist jetzt nicht die Zeit für solche Possen - auch nicht die Zeit des Herrn Niebel. Dafür ist die Situation auf unseren Baustellen nun wirklich schwierig genug. Als Berlinerin habe ich viele Kontrollen auf Baustellen begleitet und weiß um das Ausmaß von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung; ich würde mit solchen Begriffen nicht leichtfertig umgehen. Nun stellen Sie sich bitte nicht hier hin und behaupten wider besseres Wissen, unser Gesetz sei dafür verantwortlich. Es ist noch nicht einmal in Kraft. Die Schwarzarbeit aber haben wir gestern und heute. Und warum? 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazu geführt, daß Rechtsverstöße und massiver Mißbrauch als Kavaliersdelikte gelten. 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazu geführt, daß Lohndumping und ungeregelte Arbeitsverhältnisse an der Tagesordnung sind. Das Ergebnis ist, daß die Betriebe, die sich an Recht und Ordnung halten, das Nachsehen haben und zumachen müssen. ({13}) - Herr Meckelburg, wenn es Ihnen schwerfällt, in Mecklenburg-Vorpommern oder in anderen Ländern zu regieren, dann tut mir das leid. ({14}) - Nicht? Ich denke, Sie sind Herr von Mecklenburg? Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Diese Situation muß sich endlich wieder ändern. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Rennebach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gern.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, können Sie mir bestätigen, daß ich aus Gelsenkirchen komme, ({0}) wo wir vor zwei Wochen gerade die stärkste Fraktion geworden sind - nach 53 Jahren - und wo jetzt die CDU den Oberbürgermeister stellt, weil Sie so eine „gute“ Politik machen?

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Meckelburg, ich bestätige Ihnen gerne, daß Sie aus Recklinghausen kommen. ({0}) - Ich gebe zu, das war bewußt falsch verstanden. Gelsenkirchen ist auch schön. ({1}) - Aber Hertha ist im Moment besser. Also, meine Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen nur sehr empfehlen: Gehen Sie einmal raus und reden Sie mit den Menschen am Bau. ({2}) Sie werden wenig Verständnis für Ihre absurden Unterstellungen und auch für den Spaß, den Sie am Thema haben, finden. Unser Entwurf der Neuregelung des Schlechtwettergeldes sieht das Dreisäulenmodell vor, bei dem die Verantwortung für die Absicherung des witterungsbedingten Arbeitsausfalls im Winter auf Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit verbleibt. Arbeitnehmer - das ist unser Hauptziel - haben mit dem Verbot der witterungsbedingten Kündigung endlich wieder die Aussicht, ohne Arbeitslosigkeit über diesen Winter zu kommen. ({3}) Sie profitieren von der Reduzierung des Eigenbetrages von 50 auf 30 Stunden - um zum Gesetzentwurf zurückzukommen - und können durch das besondere Wintergeld Ausfallzeiten über diese 30 Stunden zusätzlich ausgleichen. ({4}) Nun noch zum letzten Punkt Ihrer Kritik. Sie sprechen von der Politik der Opposition als einer Verteilungspolitik zu Lasten der Allgemeinheit. Sie sprechen von einer Erhöhung der Lohnnebenkosten. ({5}) Das ist - das wissen Sie genausogut wie ich - kompletter Unsinn. Wir senken die Lohnnebenkosten. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P., haben sie erhöht. Das ist nun vorbei. Im Gegensatz zur alten Bundesregierung machen wir eine Politik der Zielperspektive. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Rennebach, kommen Sie bitte zum Schluß.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte nur noch einen Satz sagen. ({0}) Das erste Mal, daß ich in diesem Reichstag gesprochen habe, war vor acht Jahren, 1991. Damals wurden von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zum erstenmal die Lohnnebenkosten erhöht. ({1}) Ich hoffe, in diesem Jahr wurde der Auftakt dazu gemacht, daß wir die Lohnnebenkosten endlich wieder senken und Arbeitsplätze schaffen - das, was Sie nie erreicht haben. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Michael Meister von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich die jüngsten Arbeitsmarktdaten, die ja gerade in dieser Woche präsentiert wurden, ansieht, wird man eindeutige Hinweise finden, daß das zentrale Projekt dieser Bundesregierung, nämlich die Senkung der Arbeitslosigkeit, gescheitert ist. ({0}) Es ist gerade ein Jahr her, daß sich ein Trend zum Besseren auf dem Arbeitsmarkt eingestellt hat. Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder sprach im März und Mai vergangenen Jahres von „seinem Aufschwung“. ({1}) Das hat sich darin niedergeschlagen, daß wir im Januar diesen Jahres im Vergleich zum Vorjahresmonat 300 000 Arbeitslose weniger hatten. Mittlerweile ist diese Zahl auf 20 000 zurückgegangen. Das ist Ihre Zielperspektive, Frau Rennebach. Das ist Ihr Verdienst. Sie haben die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt zum Negativen in diesem Jahr geschafft. ({2}) Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in diesem Monat im Vergleich zum Vorjahresmonat ist rein konjunkturbedingt. Das zeigt etwa die Aussage der Bundesanstalt für Arbeit. Das Wirtschaftswachstum ist nach wie vor nicht stark genug. Wenn man auf die Zahl der Erwerbstätigen schaut, dann wird man finden, daß sie seit Regierungsantritt um 350 000 zurückgegangen ist. 350 000 Arbeitsplätze haben Sie in diesem Jahr in Deutschland vernichtet; das ist etwa ein Prozent aller Arbeitsplätze. Das ist ein Skandal erster Ordnung. ({3}) Jetzt lenken wir den Blick auf den Baubereich. Dort haben Sie vollkommen falsche Weichenstellungen vorgenommen. Sie kürzen zum Beispiel beim Verkehrshaushalt den investiven Bereich. Bei einer MilliRenate Rennebach arde Kürzungen im Verkehrshaushalt bedeutet das, daß dadurch 12 000 Arbeitsplätze beseitigt werden. ({4}) Kollege Schemken hat die Änderungen im sozialen Wohnungsbau angesprochen. Genauso haben Sie im frei finanzierten Wohnungsbau zugeschlagen. Ich möchte in diesem Zusammenhang Ihr sogenanntes Steuerentlastungsgesetz nennen. Dieses Steuerentlastungsgesetz hat sich als Arbeitsmarktbelastungsgesetz erwiesen. Dort sind massive Verschlechterungen im Bereich der Abschreibungen vorgesehen, die sich mittlerweile auch bei den Investitionen im freien Wohnungsbau negativ bemerkbar machen. Jetzt gehen Sie mit Ihrem aktuellen Gesetzgebungsvorhaben an die Eigenheimzulage und schlagen auch noch die letzte Säule, den privaten Eigenheimbau, weg. So schafft man Arbeitslose und keine Arbeitsplätze. ({5}) Die Bauindustrie in Nordrhein-Westfalen hat angesichts der Belastungen ({6}) auf Grund der Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesregierung - ({7}) - Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie ab und zu etwas Erhellendes hören können - Sie haben ja so sehr etwas hören wollen -, dann hören Sie auch einmal zu. ({8}) Die Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesregierung haben das Bauhauptgewerbe nach Schätzungen der Bauindustrie Nordrhein-Westfalens mit einem Anstieg der Lohnnebenkosten um mehr als zehn Prozent belastet. In den zurückliegenden Jahren sind die Lohnnebenkosten von 116 auf 97 Prozent zurückgegangen. Das war ein Verdienst der alten Bundesregierung. Sie verschieben das jetzt wieder in die Gegenrichtung. Auch dies wird zu mehr Arbeitslosen am Bau führen. Jetzt zum Winterausfallgeld. Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Hier wird wiederum in ein bestehendes, funktionierendes Gesetz eingegriffen ({9}) und ohne Not die Kostensituation der Arbeitgeber und der Beitragszahler verschlechtert. ({10}) Der bisher bestehende, faire Kompromiß, der das Risiko des - ({11}) - Herr Präsident, ich möchte Sie bitten, vielleicht der Frau Kollegin Rennebach zu sagen, wer hier momentan das Wort hat. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Sie haben das Mikrophon! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine etwas farbige Diskussion ist durchaus wünschenswert; ({0}) allerdings muß der Redner auch konzentriert reden können. ({1})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Besten Dank, Herr Präsident. Der bisher faire Kompromiß dahin gehend, daß Bauarbeitgeber, Bauarbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit den Winterausfall finanziell tragen, wird von Ihnen aufgekündigt. Es werden wieder den Sozialversicherungskassen und der Winterausfallkasse zusätzliche Lasten auferlegt. Wenn Sie in der Diskussion Vergleiche anführen, soll das nach außen den Schein erwecken, als sei die bestehende Regelung schlecht. Sie vergleichen hier ständig Ihre geplante Regelung mit der Regelung, die wir vor 1997 hatten. Das ist ein unzulässiger Vergleich. Wir haben zum 1. November 1997 absichtlich ein neues Dreisäulenmodell eingefügt, um die negativen Erfahrungen, die wir vorher gemacht haben, zu korrigieren. Bei all Ihren Zahlen, die Sie in dieser Debatte nennen, unterschlagen Sie diese Korrektur. Sie vergleichen nicht mit der heutigen Regelung, sondern mit der vorhergehenden Regelung. Das ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. ({0}) Ich darf das Dreisäulenmodell, das wir gegenwärtig haben, einmal darstellen: Die ersten 50 Stunden werden durch Ansparen von Vorarbeit im Sommer geschaffen. Die 51. bis zur 120. Stunde werden durch das umlagefinanzierte Winterausfallgeld getragen. Dann greift die Bundesanstalt für Arbeit. Dieses Dreisäulenmodell hat die Lasten fair auf die drei Beteiligten verteilt. Sie schränken nun die Flexibilität der Unternehmen ein und siedeln zusätzliche Lasten bei den Unternehmen an, ({1}) indem Sie schon ab der 31. Stunde die Kassen der Unternehmen belasten. In den Berichten der Ausschüsse, die in zweiter Lesung beraten haben, stehen zwei eindeutige Zahlen. Es wird dort konstatiert, daß sowohl für die Winterausfallgeldkasse als auch für die Bundesanstalt für Arbeit jeweils über 50 Millionen DM als Zusatzkosten entstehen. Das ist den Ausschußberichten eindeutig so festgestellt. Zu Ihrer Behauptung, wir hätten bei der Bundesanstalt für Arbeit Einsparungen durch weniger Arbeitslose, sagt der Haushaltsausschuß, in dem SPD und Grüne ebenfalls eine Mehrheit haben, in seiner Stellungnahme: Einsparungen durch angeblich weniger Arbeitslose sind nicht zu spezifizieren. ({2}) Die Regelung, die wir gegenwärtig haben, hat sich nicht nur in der grauen Theorie, sondern auch in der Praxis bewährt. In zwei Dritteln der Unternehmen wurden auf der Grundlage der heute gültigen Vereinbarungen zur Führung flexibler Arbeitszeitkonten Flexibilisierungen von Arbeitszeiten vorgenommen und ein Monatslohn über das ganze Jahr gewährt. Das ist ein Erfolg der gegenwärtigen Gesetzeslage. ({3}) Die angesparten Guthabenstunden werden zum allergrößten Teil zum Ausgleich für die Schlechtwetterperioden verwendet. Auch auf dem Arbeitsmarkt, Frau Kollegin Rennebach, macht sich diese Regelung positiv bemerkbar. Im Vergleich zum Winterhalbjahr 1996/97, als noch die alte Regelung galt, also die Vorgängerregelung, die hier so sehr kritisiert wird, noch in Kraft war, hat es bei der aktuellen Regelung im Januar 1999 25 Prozent weniger Arbeitslose gegeben; im März waren es 20 Prozent weniger, bedingt durch die Winterlage. Wenn man den vorletzten Winter und den letzten Winter miteinander vergleicht, als jeweils die jetzige Regelung gültig war, sieht man, daß sich durch die neuen Vereinbarungen, die getroffen worden sind und jetzt greifen, die Lage nochmals gebessert hat. Wir hatten im Verlaufe dieses Winters nochmals einen Rückgang zwischen 3 und 10 Prozent. Das muß der Objektivität halber einmal gesagt werden. Dies sind Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit und keine Zahlen, die hier selber konstruiert worden sind. ({4}) Ich darf auf einen letzten Punkt eingehen. Diese Regierung ist im Wahlkampf mit dem Slogan angetreten: „Innovation und Gerechtigkeit“. Der Kanzler wurde nicht müde, sich als großer Modernisierer dieses Landes darzustellen. Was haben Sie denn in Richtung Modernisierung bisher getan? ({5}) Sie haben ein 630-DM-Gesetz verabschiedet, das kaum als Modernisierung dieses Landes angesehen werden kann. Sie haben ein Scheinselbständigengesetz gemacht, das kaum als Modernisierung dieses Landes angesehen werden kann. Was Sie gemacht haben, sind bürokratische Monstren, die den Arbeitsmarkt nicht modernisieren, sondern konservieren und behindern. ({6}) Was Sie mit diesem Gesetz vorhaben, ist ein erneutes bürokratisches Monster und paßt konsequent in die Fortsetzung Ihrer Politik. ({7}) Es wird hier keine Innovation und keine Flexibilisierung betrieben, sondern das genaue Gegenteil. ({8}) Ich möchte nun zur sozialen Gerechtigkeit kommen. Ich behaupte, dieses Gesetz, das Sie beschließen wollen, widerspricht auch in erheblichem Maße der sozialen Gerechtigkeit; denn zu Lasten der Mitglieder der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die nicht am Verhandlungstisch saßen, also zu Lasten Dritter wurde hier ein Vertrag geschlossen. ({9}) Diese müssen nämlich mit ihren Beiträgen das finanzieren, was ihnen im Baubereich neu aufgebürdet wird. Wie Sie das gegenüber Arbeitnehmern in andern Branchen verantworten können, kann ich nicht nachvollziehen, und das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun. ({10}) Zum Schluß möchte ich noch die Stichworte grauer Arbeitsmarkt und Schwarzarbeit aufgreifen. Es ist klar: Wenn Sie die Lohnnebenkosten nach oben treiben, dann wird das zu Ausweichbewegungen in die Schwarzarbeit und zu illegaler Beschäftigung führen. ({11}) Sie tragen - getrieben von Gewerkschaftslobbyisten, Herr Kollege Wiesehügel - mit Ihrer Politik die Verantwortung dafür, daß die Menschen, die in diesem Land in der Baubranche beschäftigt sind, in die Schwarzarbeit und in den grauen Markt gedrängt werden. Das haben Sie, wenn Sie heute dieses Gesetz beschließen, zu verantworten. Schönen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei aller falschen Argumentation und bei allem Geschrei der Opposition - das alles habe ich mir über eine Stunde angehört - muß man am heutigen Tag folgendes festhalten: Erstens. Dieser Tag ist ein guter Tag für die Beschäftigten in der deutschen Bauwirtschaft. ({0}) Zweitens. Diese Koalition und diese Bundesregierung haben Wort gehalten: Zum 1. November tritt eine neue Schlechtwetterregelung in Kraft. ({1}) - Sie können lachen, soviel Sie wollen. Ich will kurz erläutern, wovon wir uns haben leiten lassen - in diesem Punkt ist Ihre Argumentation an Falschheit nicht zu überbieten -: Trotz Schlechtwettergeldregelung mußten wir im Februar diesen Jahres auch wegen der chaotischen Zustände, die unter Ihrer Verantwortung entstanden sind, bei den Bauberufen eine Arbeitslosigkeit von über 25 Prozent feststellen. Das bedeutet, daß die Arbeitslosigkeit in diesen Berufen doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt bei allen anderen Berufen und Branchen. Es war und ist uns bekannt, daß viele Baubetriebe trotz bestehender Schlechtwettergeldregelung ihren Arbeitnehmern aus witterungsbedingten Gründen gekündigt haben. ({2}) Da die Bundesregierung die Sorgen und Nöte sowohl der Bauwirtschaft als auch der Beschäftigten in diesem Bereich ernst nimmt, waren wir der Auffassung, daß wir in gemeinsamen Gesprächen mit den Sozialpartnern zu Veränderungen kommen müssen. Daran beißt die Maus keinen Faden ab - Sie können soviel schreien, wie Sie wollen -: Diese Regelung ist in Übereinstimmung mit der Bauindustrie, mit dem Bauhandwerk, mit der Baugewerkschaft und mit der Bundesregierung getroffen worden. Wir folgen damit einer Logik, der auch Sie gefolgt sind. Ihre Argumentation, man habe alles den Erfindungen von Norbert Blüm zu verdanken, ist insofern unrichtig, als Sie die Schlechtwetterregelung ohne Not gestrichen und damit zu verantworten haben, daß im darauffolgenden Winter über 360 000 Bauarbeiter arbeitslos wurden. ({3}) Die Tarifvertragsparteien haben sich zusammengefunden und haben einen Kompromiß geschlossen. Mit diesem Kompromiß sind sie zum Bundesarbeitsminister marschiert und haben gesagt: Wer nicht will, daß sich diese katastrophale Entwicklung fortsetzt, der muß neue gesetzliche Regelungen schaffen; die Tarifvertragsparteien fordern den Gesetzgeber dazu auf. Wir haben in Fortsetzung dieser Logik mit den Tarifvertragsparteien Gespräche und Verhandlungen geführt - da ich diese Verhandlungen über viele Monate geführt habe, weiß ich im Gegensatz zu vielen anderen Rednern, wovon ich hier rede - mit dem Ergebnis, daß am 6. Juni unter Leitung des Bundeskanzlers für eine wichtige Branche eine wichtige neue gesetzliche Regelung geschaffen wurde, die ab dem 1. November 1999 in Kraft tritt. Das ist gut für die Bauwirtschaft und gut für die Beschäftigten - da können Sie soviel schreien, wie Sie wollen. ({4}) - Herr Niebel, ich habe in den Beratungen festgestellt, daß Sie der einzige waren, der beratungsresistent ist. ({5}) Ich möchte nun einige Eckpunkte ansprechen. Ein wichtiger Eckpunkt war, daß nach der alten Regelung der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen hatte. Das hat dazu geführt, daß viele kleine und mittlere Betriebe ihre Angestellten in der Schlechtwetterperiode lieber entlassen haben, weil sie damit die Sozialversicherungsbeiträge einsparen konnten. Wir haben nun geregelt - das ist ein wichtiges Element -, daß den Arbeitgebern künftig die Sozialversicherungsbeiträge aus der Wintergeldumlage erstattet werden, so daß den Unternehmern kleiner und mittlerer Betriebe das Motiv entfällt, sich ihrer Mitarbeiter zu entledigen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man als Wirkungsmechanismus begreifen muß. Wir haben als zweites - das ist oft genug gesagt worden - das Dreisäulenmodell beibehalten und haben die Gewichte in den drei Säulen verändert. Das geschah übrigens einvernehmlich, auch wenn Sie sich wieder darüber empören. Sie müssen den Widerspruch erklären, daß eine Regelung in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften, den Unternehmen und der Bundesregierung zustande gekommen ist, Sie aber sagen, es seien lauter Geschäfte zu Lasten von sonstwem gemacht worden. ({6}) Die Regelungen sind sozial gerecht verändert worden. Wir führen einen weiteren Mechanismus - Sachkenntnis habe ich hier heute leider vermißt -, ein zusätzliches Wintergeld, ein, das dazu führt, daß der Arbeitnehmer, der über 30 Stunden hinaus ein Arbeitszeitguthaben hat, aus der Umlage besonders belohnt wird. Alle Beteiligten - Wirtschaft, Handwerk und Gewerkschaften - waren der Meinung, daß das ein sinnvolles Instrument ist. Ich sage Ihnen: Dieses Instrument wird wirken. Wir haben als drittes - hier kommen wir zu den Geschäften zu Lasten Dritter - geregelt, daß die Bundesanstalt für Arbeit das Winterausfallgeld statt ab der 121. Stunde bereits ab der 101. Stunde finanziert. Die letzte Veränderung, die Sie als Koalition vorgenommen haben, führte für die Bundesanstalt für Arbeit dazu, daß sie das Winterausfallgeld statt ab der 151. Stunde bereits ab der 121. Stunde finanzieren mußte, und verursachte damals Kosten in Höhe von 70 Millionen DM. ({7}) Wir haben veranschlagt, daß dann, wenn alles so greifen würde, im worst case, also im schlimmsten Fall, auf die Bundesanstalt für Arbeit Mehrkosten in Höhe von 55 Millionen DM zukommen. Das würde aber bedeuten, daß alle Beschäftigten während dieser Zeit auch tatsächlich wegen schlechten Wetters nicht arbeiten. Wir gehen davon aus, daß diese Regelung greift und wir von den winterbedingten Arbeitslosenzahlen herunterkommen. Dies ist also ein Wirkungsmechanismus, der ineinandergreift und außerordentlich vernünftig ist. Wir werden die Neuregelung beschließen, und sie wird am 1. November 1999 in Kraft treten. Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß der Bundesrat die Regelung so akzeptiert hat. Er bittet die Bundesregierung darum, in zwei Jahren Bericht zu erstatten. Den Bericht geben wir gern. Ich bin sehr optimistisch, daß wir mit dieser neuen Regelung Erfolge erzielen werden. Wir sprechen uns dann hier wieder, Herr Niebel und Herr Schemken. Zu Herrn Schemken wollte ich noch sagen: Ich kenne ihn als langjährigen Sozialexperten und weiß, daß er viel Sachkenntnis auf diesem Gebiet besitzt. Er hat auch ein soziales Gewissen und ein soziales Herz. Lieber Kollege Schemken, du hättest zu dieser Regelung besser geschwiegen. Du kennst die Materie, den ganzen Ablauf. Du weißt, was ihr gemacht habt und wie es gewirkt hat. Ich sage noch einmal ganz ausdrücklich: Man muß hier den Sozialpartnern herzlich danken. Mein Dank geht an Klaus Wiesehügel, den Vorsitzenden der IG BAU, der hier unter uns ist. ({8}) Mein Dank geht an die Wirtschaftsverbände der Bauindustrie und des Bauhandwerks. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß heute in Mainz der Tag des deutschen Bauhandwerkes stattfindet, wo unter anderem über diese Regelung diskutiert wird. Wir haben eine Regelung gefunden, die sozial gerecht und wirtschaftlich vernünftig ist und die die Lasten und möglichen Konsequenzen so verteilt, daß alle beteiligt sind: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Wirtschaft in zumutbarem Ausmaß und die Politik. Die Winterbauumlage so beizubehalten war ein wichtiger Punkt, den die Bundesregierung von vornherein zugesagt hat. In der Koalitionsvereinbarung steht: Wir werden notwendige Korrekturen bei der Schlechtwettergeldregelung vornehmen; wir haben es getan. Mit dem heutigen Tag haben wir Wort gehalten. Ich wiederhole: Das ist eine sinnvolle Regelung, ein kleines Bündnis für Arbeit für eine bestimmte Branche. Darauf können diese Koalition, die Bundesregierung, aber insbesondere die Betroffenen in der Bauwirtschaft außerordentlich stolz sein. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Schemken von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da ich den guten Rat des Staatssekretärs, zu schweigen, nicht annehme, möchte ich einige Korrekturen anbringen, Herr Staatssekretär. Wenn Sie das nicht gesagt hätten, hätte ich den Beratungsverlauf hier nicht aufgehalten. Es ist richtig, daß ich in meiner Rede festgestellt habe, daß die im Etat Wohnungsbau und Städtebau von 3,49 Milliarden DM auf 2,15 Milliarden DM zurückzuführenden Mittel im Wohnungsbau und von 700 Millionen DM auf 600 Millionen DM im Städtebau zwischen 1998 bis 2003 - das ist der Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung - den Schluß zulassen, daß wir im Winter in der Bauwirtschaft noch eine höhere Beschäftigung als im zweiten Quartal hatten. Die Arbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft im Westen nahm nämlich vom ersten Quartal, dem Winterquartal, zum zweiten Quartal, also in die Frühjahrs- und Sommerzeit hinein, um 5,5 Prozent zu. In den östlichen Bundesländern waren dies sogar über 10 Prozent. Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, daß meine Rede in diesem Sinne doch eine Aufklärung brachte und damit auch diese Kurzintervention erforderlich war. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatssekretär Andres, Sie können gerne erwidern.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Schemken, ich kann Ihnen jetzt aus dem Stand die Einzelzahlen nicht bestätigen, aber ich kann Ihnen bestätigen, daß wir auch im Etat des Bauministers Einsparungen vornehmen müssen. Das ist leider wahr. Die Ursache dafür ist, daß Sie dieses Land über 16 Jahre in eine Staatsverschuldung von 1,5 Billionen DM geführt haben. ({0}) Wenn wir in diesem Land handlungsfähig werden wollen, dann müssen wir notwendige Einsparmaßnahmen vornehmen. Das trifft alle. Das trifft den Sozialetat, das trifft den Wohnungsbauetat; daran führt leider kein Weg vorbei. Dieses Land muß sich damit auseinandersetzen, daß wir nur Dinge tun können, von denen wir auch sicher sind, daß wir sie auf Dauer finanzieren können, weil wir es uns nicht leisten können, die Verantwortung und die Folgen auf künftige Generationen abzuschieben, so wie Sie das gemacht haben. Das werden wir nicht tun, und deswegen ist das notwendig. ({1}) Als zweites möchte ich Ihnen erwidern, Herr Schemken - Ihre Intervention gibt mir die Gelegenheit dazu -: Wir haben wieder Winterbauausschüsse eingerichtet, weil wir dringend daran arbeiten müssen, daß - wie in anderen Ländern auch - nicht ein bestimmter Teil der Bauwirtschaft im Winter seine Tätigkeiten einstellt. Hier werden wir entsprechend handeln und vorgehen und dafür Lösungen finden, damit wir wie etwa in den skandinavischen Ländern, die dafür beispielhaft sind, zu Regelungen kommen, die gewährleisten, daß es Tätigkeiten am Bau eben nicht nur in den Frühjahrs-, Sommer- und Herbstmonaten gibt, sondern auch über den Winter hinaus. Damit tun wir auch etwas, um die Baukonjunktur zu verstetigen, die natürlich auch etwas mit Beschäftigungslagen im Bausektor zu tun hat. Schönen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Bundesregierung eingebrachten gleichlautenden Gesetzentwurf zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1711 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf auf den Drucksachen 14/1516 und 14/1669 unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ich bitte um Gegenstimmen. - Ich bitte um Enthaltungen. - Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit gleichem Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. ({0}) Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in dieser Winterperiode, Drucksache 14/1711, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1215 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, die Sitzung des Bundestages für 45 Minuten zu unterbrechen. Die Sitzung ist unterbrochen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbroche- ne Sitzung wieder. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis 6h auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen - Drucksache 14/1315 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs, eines dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten ({1}) - Drucksache 14/1107 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Innenausschuß c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches ({3}) und der Strafprozeßordnung ({4}) - Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems - - Drucksache 14/761 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches ({5}), des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ({6}) und der Strafprozeßordnung ({7}) - Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als strafrechtliche Sanktion - Drucksache 14/762 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({8}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Sexueller Mißbrauch von Kindern - Drucksache 14/1125 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({9}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für Tourismus f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrechtsaussetzung ({10}) - Drucksache 14/1467 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 14/1519 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({11}) Innenausschuß h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ({12}) - Drucksache 14/1484 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({13}) Innenausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Professor Dr. Rupert Scholz von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Jahr rotgrüne Koalition bedeutet ein Jahr, in dem die Kriminalität in unserem Lande keineswegs schwächer geworden ist. Im Gegenteil, vor allem was die Qualität angeht, ist die Kriminalität massiv angewachsen. Ich nenne nur die Stichworte „Jugendkriminalität“, „organisierte Kriminalität“ und „internationale Kriminalität“. Unverändert bleibt die Verpflichtung gerade dieses Hauses bestehen, mit wirksamen Mitteln dem gerecht zu werden, worauf unser Bürger nach Maßgabe unseres Rechtsstaatsprinzips ein Recht hat: ein Grundrecht auf ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, ein Grundrecht auf wirksame Kriminalitätsbekämpfung. Die Bilanz der rotgrünen Koalition ist angesichts dieses Tatbestandes allerdings erbärmlich, man kann auch sagen beschämend. Dies gilt vor allem, wenn man an unsere letzte Debatte in diesem Hause denkt, als es um die Vorschläge einer Generalamnestie zum Jahre 2000 von den Grünen ging. ({0}) - Herr Hartenbach, wenn Sie etwas fragen möchten, dann stellen Sie eine Zwischenfrage. - Die Grünen forderten eine Generalamnestie bar jeden rechtsstaatlichen Bewußtseins, im Grunde nach der Manier absolutistischer Potentaten oder Diktatoren. ({1}) In unserem Rechtsstaat bedingen und beurteilen sich Amnestie und Straffreiheit ausschließlich nach den Grundsätzen von Abschreckung und Schutz der Allgemeinheit einerseits und individueller Verantwortlichkeit, individueller Schuld und individueller Resozialisierung des einzelnen Straftäters andererseits. Das heißt, es kann keine Pauschalamnestie in dieser Art geben, weil zufällig das Jahr 2000 erreicht wird. Ich will die Debatte darüber nicht wieder aufnehmen, sondern nur daran erinnern, daß dies in diesem einen Jahr rotgrüner Koalition eigentlich das einzige gewesen ist, was wir an - freilich absurden - Vorschlägen gehört und gesehen haben. ({2}) Wir haben heute ein ganzes Bündel von Gesetzentwürfen zu beraten, das allerdings vor allem von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU und vom Bundesrat eingebracht worden ist. Von der Bundesregierung kommt der Entwurf zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999. Wenn man sich diesen Gesetzentwurf anschaut, dann erkennt man: Man bemüht sich um Verbesserungen im Bereich der Fahndung, der Aufklärung und des Datenschutzes. Ich fürchte allerdings - dies werden wir im Rechtsausschuß sorgfältig zu beraten haben -, daß man, gemessen an dem Erfordernis rechtsstaatlich verantwortlicher, effektiver Kriminalitätsbekämpfung, wieder einmal ein Übermaß an Regulierung unter der Flagge des Datenschutzes zur Grundlage dieses Gesetzes gemacht hat. Datenschutz ist natürlich ein verfassungsrechtlich garantiertes Persönlichkeitsrecht, er darf aber nie, auch nicht faktisch, zu Tatenschutz oder Täterschutz werden. Dieses Gesetz wird sehr sorgfältig zu überprüfen sein. Wir haben die wichtigen Gesetze zum verbesserten Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch zu erörtern. Gerade im Lichte der modernen Möglichkeiten von Fernsehen, Internet und Telekommunikation ist eine entsprechende Gesetzgebung entscheidend und wichtig. Ich hoffe, daß dieses Gesetz von uns gemeinsam sehr rasch verabschiedet werden wird. ({3}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Das gleiche gilt für mich auch für die Verlängerung der Kronzeugenregelung. Gestatten Sie mir abschließend auch einige Bemerkungen - meine Kollegen werden die Fragen im einzelnen etwas vertiefen - zum Sanktionssystem und zum Strafvollzugsgesetz. Gemeinnützige Arbeit ist wichtig und kann nützlich sein. Ich glaube aber nicht, daß gemeinnützige Arbeit in der hier gesetzlich empfohlenen Form zu einem wirklich wirksamen Sanktionsmittel werden wird. Ich habe auch Zweifel, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis wirklich als allgemeines Sanktionsmittel für Straftaten geeignet ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist empfindlich und kann schmerzhaft sein. Man muß aber immer den Zusammenhang mit den verletzten Rechtsgütern wahren. Das heißt, die Entziehung der Fahrerlaubnis kann meines Erachtens nur dort als wirksames, legitimes und im übrigen auch vor dem Gleichheitsgrundsatz bestehendes Sanktionsmittel in Betracht kommen, wo es zumindest im weiteren Kontext um Straftaten im Bereich des Verkehrs und öffentlicher Verkehrseinrichtungen - beispielsweise bei gewaltsamen Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen auf unseren öffentlichen Straßen - geht. Da kann diese Sanktion schlüssig und plausibel sein, aber nicht darüber hinaus gegenüber einem Dieb, Betrüger oder einem sonstigen allgemein Kriminellen. Gestatten Sie mir auch noch eine Bemerkung zum überwachten Hausarrest. Der Bundesrat hat diesen Vorschlag eingebracht. Auch hier möchte ich Zweifel anmelden. Wir alle kennen die Situation unserer Länder im Bereich der Gefängnisse: Die Gefängnisse sind überlastet, das Geld für den Ausbau oder zur Erweiterung fehlt. Das ist richtig, ändert aber nichts daran, daß man ein strafrechtliches Sanktionssystem und den Strafvollzug nicht vorrangig nach fiskalischen Kriterien beurteilen und gestalten darf. Ich befürchte, daß der überwachte Hausarrest vor allem aus fiskalischen Gründen - natürlich auch aus fiskalischer Not, das ist ganz unbestreitbar - geboren wurde. Ich habe Zweifel - und möchte das nur in dieser Form hier anmerken -, ob das ein wirklich wirksames Mittel ist, ob es vielleicht eher als ein Privileg empfunden wird und ob es der Allgemeinheit so zu vermitteln ist, daß der Kontext unseres Strafvollzugsrechtes im Gesamtrahmen unseres Strafrechtes gewahrt bleibt. Insgesamt geht es - in diesem Sinne begrüße ich unsere heutige Debatte - darum, daß wir uns wieder konzentrierter und verstärkt mit Fragen der Rechtspolitik und einer wirksamen Bekämpfung der Kriminalität befassen. Das ist ja eine der zentralen Aufgaben dieses Hohen Hauses. ({4}) Möge diese Debatte heute dafür über allen Streit im Detail hinweg einen guten Auftakt darstellen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Alfred Hartenbach von der SPD-Fraktion das Wort.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen im Rechtsfrieden! So unterschiedlich können Meinungen sein. Aber das ist Politik. Das sage ich vorweg. Wir diskutieren heute acht Gesetzesinitiativen aus sehr unterschiedlichen Bereichen des Strafrechts und von sehr unterschiedlicher Qualität. Ich beginne mit der erfreulichsten Vorlage. Endlich liegt uns ein Entwurf vor, durch den die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1983 umgesetzt werden. Endlich sind wir dabei, wie vom Bundesverfassungsgericht vor 16 Jahren gefordert, im Bereich des Strafverfahrensrechts für die Erhebung und Verarbeitung von Daten, für die Verwendung personenbezogener Informationen und für notwendige, aber besonders schwere Eingriffe in Bürgerrechte spezifische gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Mit der Vorlage des Entwurfs zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensänderungsgesetzes ist es der neuen Bundesregierung gelungen, ein umfassendes und schlüssiges Konzept vorzulegen, das den Anforderungen eines Rechtsstaats an ein ausgefeiltes und abgestuftes Instrumentarium Rechnung trägt. ({0}) Die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Ermittlungsbehörden in wesentlichen Fragen - rechtsstaatlich zweifelhaft - auf allgemein gehaltene Generalklauseln stützen mußten. Mein Kollege Professor Dr. Meyer wird noch sehr detailliert zu diesem Gesetzentwurf Stellung nehmen. Sie von der CDU/CSU-Fraktion haben zwei Gesetzesinitiativen eingebracht. Sie haben es sich dabei denkbar leichtgemacht. Sie verlangen in wenigen Sätzen die Aufhebung der Befristung des § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes und fordern im anderen Gesetzentwurf die Verlängerung der Kronzeugenregelung um drei Jahre - und dies, obgleich beide Regelungen von Ihrer früheren Mehrheit in diesem Hause, also auch von Ihnen, mit gutem Grund befristet wurden. Es ging doch auch Ihnen darum, die Vertretbarkeit dieser Regelungen zu überprüfen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. In Ihren jetzigen Gesetzesanträgen findet sich allerdings nicht mehr die Spur eines Problembewußtseins. ({1}) Selbstverständlich entspricht es auch unserer Politik, zur Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität alle Mittel einzusetzen, die rechtsstaatlich vertretbar, effizient und sinnvoll sind. ({2}) Die Kronzeugenregelung ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Diese Regelung führt zu einer Zusammenarbeit mit Straftätern aus Bereichen der Schwerstkriminalität. Schließlich liegt es auf der Hand, daß diese Art von Zuarbeitern der Justiz in sehr eigennütziger Weise motiviert sind und somit die sehr reale Gefahr von Falschaussagen besteht. Dies alles müssen wir einer sehr exakten Überprüfung unterziehen. Insbesondere ist der Nutzen des Art. 5 der Kronzeugenregelung, wonach nach dem Willen der früheren Regierung auch aus dem Bereich der organisierten Kriminalität Täter in den Kreis der Begünstigten einbezogen werden, nach Erkenntnissen aus der Praxis sehr zweifelhaft. Auch § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes, wonach die Ermittlungsbehörden unter sehr allgemein gehaltenen Bedingungen Auskunft über den Fernmeldeverkehr verlangen können, ist nicht ohne Probleme. Ich sagte es bereits: Früher haben Sie, die alte Regierung, und damit auch die CDU/CSU-Fraktion dies genauso gesehen. Sie haben am 30. Oktober 1997 sogar beschlossen, daß diese Vorschrift nur befristet gelten solle, weil Sie selbst der Meinung waren, daß Ihr eigener Entwurf eines § 99a der Strafprozeßordnung aus Ihrer Sicht am Ende der Beratungen immer noch zu weit ging. Sie haben damals - das ist gerade zwei Jahre her - Ihre eigene Regierung aufgefordert, binnen eines halben Jahres einen neuen Entwurf vorzulegen, der den Anforderungen an einen Ausgleich zwischen den Interessen der Strafverfolgungsbehörden einerseits und dem Schutz von Berufsgeheimnissen andererseits gerecht wird. Dies ist - wie so vieles in Ihrer 16jährigen Regierungszeit - natürlich nicht geschehen. ({3}) Die neue Regierungskoalition wird zu einer Lösung kommen, die auf die Erfordernisse der Strafrechtspflege, aber auch auf die Anforderungen an die Bewahrung rechtsstaatlicher Freiheiten adäquat reagiert. Durch den heute gleichfalls zu beratenden Bundesratsentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes wird den Ländern die Möglichkeit gegeben werden, kurzzeitige Freiheitsstrafen oder Restfreiheitsstrafen im Wege des elektronisch überwachten Hausarrestes zu vollstrecken. Bekanntlich liegen die Positionen hierzu weit auseinander. Die einen sehen einen Angriff auf die Menschenwürde; die anderen beklagen die Ersetzung des Strafvollzugs durch einen Aufenthalt im gemütlichen Heim bei Bier und Weißwurst. ({4}) Allein dieser Gegensatz zeigt, wie sehr die Wahrnehmung der Realität durch ideologische Verzerrungen bedingt sein kann. Ein elektronisch überwachter Hausarrest - ich betone: Arrest - ist keineswegs eine Wohltat. Er bedeutet eine empfindliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Er verlangt von den Betroffenen ein hohes Maß an Disziplin. Ich sehe aber auch die Problematik dieses Arrests, insbesondere für Familienangehörige. Ich apelliere daher an alle, sich an einer vorurteilsfreien Diskussion zu beteiligen. Es ist übrigens nicht im Sinn einer systematischen und in allen Einzelheiten überdachten Entwicklung des Strafrechts und des Strafprozeßrechts, durch zahlreiche, jeweils getrennt durchgeführte Einzelregelungen einen Flickenteppich zu erzeugen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Vorschläge zur Änderung des Sanktionensystems. Warum warten wir nicht ab, bis die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hat und bis sie uns ihre Ergebnisse vorlegt? ({5}) Das Ziel ist eine Gesamtreform des Sanktionensystems. Wir wollen uns nicht in Einzelheiten verzetteln; wir wollen eine Reform aus einem Guß. Es wird eine große Aufgabe sein, uns 25 Jahre, nachdem der damalige sozialdemokratische Justizminister, Gerhard Jahn, eine umfassende Reform des Straf- und Strafprozeßrechts vorgelegt hatte, erneut mit dieser Aufgabe zu befassen. Wir sind dazu bereit. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Juristische Themen, so auch die, die wir heute im Bundestag beraten, erscheinen manchem Nicht-Juristen und Nicht-Fachmann gelegentlich trokken. Aber ich glaube nicht, daß diese Themen so trocken sind; denn heute stehen viele Fragen zur Entscheidung an, die den persönlichen Bereich des einzelnen betreffen können. Deshalb will ich versuchen, zu dem bunten Strauß von Vorschlägen, die ja zum Teil von der Bundesregierung, zum Teil aber auch vom Bundesrat und von der Opposition kommen, unsere Auffassung darzulegen. Ich kann aber nur einige Punkte herausgreifen, da ich auf Grund der Kürze der Redezeit, die mir als Mitglied der zweitkleinsten Oppositionsfraktion zusteht, nicht auf alle Einzelfragen eingehen kann. Ich denke, daß wir uns insbesondere um die Probleme des Strafvollzuges kümmern müssen. Wir alle wissen, daß unsere Gefängnisse voll sind, was zu ganz erheblichen Problemen im Strafvollzug führt. Insbesondere die Beamten des Strafvollzuges bekommen diese Situation in voller Schärfe zu spüren. Die Überbelegung der Zellen führt beispielsweise dazu, daß die Aggressivität der Gefangenen häufig zunimmt. Es ist daher legitim, darüber nachzudenken, wie man in diesem Bereich zu Verbesserungen kommen kann. Der beste Schritt wäre natürlich - dieser Schritt ist notwendig -, neue Justizvollzugsanstalten zu bauen. Aber es zeigt sich immer wieder, daß ein Bau an zwei Dingen scheitert. Zum einen wird das dafür notwendige Geld nicht zur Verfügung gestellt. Zum anderen sagt die Bevölkerung des jeweiligen Ortes - wenn entsprechende Pläne bekannt werden -: Es muß zwar neue Gefängnisse geben, aber nicht bei uns. ({0}) Ich habe für diese Haltung durchaus Verständnis. Viele wissen ja, daß in Orten, in denen diese Einrichtungen zu finden sind, Vorfälle passieren, die die Bevölkerung zu Recht aufregen. In meiner unmittelbaren Umgebung - ich komme aus Hamm in Westfalen - gibt es in Eickelborn eine Einrichtung für psychisch gestörte Straftäter. Es kam über die Jahre immer wieder vor, daß von dort untergebrachten Personen Kinder ermordet wurden. Deshalb muß man dafür Verständnis haben, wenn es außerordentlich schwierig ist, einen Neubau in einem Ort zu errichten. Ich habe volles Verständnis für die Sorgen der dortigen Bevölkerung. Es ist deshalb wichtig, daß wir über Möglichkeiten nachdenken, wie wir den Strafvollzug entlasten können. Ich glaube, daß die elektronische Fußfessel, also der elektronisch überwachte Hausarrest, eine Möglichkeit ist, über die ernsthaft nachzudenken sich lohnt. Die Einführung des elektronisch überwachten Hausarrestes würde einen flexibleren und effektiveren Strafvollzug ermöglichen, ohne dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung grundsätzlich entgegenzustehen. Der Begriff „Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung“ macht schon deutlich, daß wir zur Anwendung einer elektronischen Fußfessel zum Beispiel bei Sexualstraftätern oder bei jenen, die schwerste Straftaten begangen haben, ein klares Nein sagen. ({1}) Wir haben aber viele Gefangene in den Justizvollzugsanstalten, die eigentlich nach Meinung der Richter und der Staatsanwälte - zu denen ich gehöre - gar keine Gefängnisstrafe hätten bekommen sollen. Wir wissen, daß mit der Festsetzung einer Geldstrafe immer auch feststeht, welche Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt werden muß, wenn man nicht in der Lage ist, die Geldstrafe zu zahlen. Unsere Justizvollzugsanstalten sind mit dem Vollzug dieser Ersatzfreiheitsstrafen in besonderer Weise belastet. Die elektronische Fußfessel wäre eine gute Möglichkeit, zumindest versuchsweise festzustellen, ob es nicht möglich ist, so auf den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe zu verzichten. In manchen Bereichen könnte dies dem Täter ermöglichen, seiner Arbeit weiter nachzugehen. Gerade wenn Unterhaltspflichtverletzungen vorliegen, kommt es relativ häufig dazu, daß Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt werden. Mit Hilfe dieses Instruments könnte über das Geld verfügt und der Frau und den Kindern der notwendige Unterhalt gezahlt werden. Das ist für uns außerordentlich wichtig. Ich glaube, daß über diese elektronische Fußfessel in einem weiteren Bereich ernsthaft diskutiert werden kann. Wir wissen, daß Untersuchungshaft verhängt werden muß, wenn Fluchtgefahr besteht, aber auch, um zu verhindern, daß Beweismittel beiseite geschafft werden. Es gibt immer wieder Fälle - ich kann mich aus meiner Praxis sofort an einige erinnern -, wo es eigentlich gar nicht erforderlich gewesen wäre, Untersuchungshaft zu verhängen. Es hätte genügt sicherzustellen, daß er sich an einem bestimmten Ort aufhält. Deshalb halte ich persönlich es für wert, darüber nachzudenken, ob nicht im Bereich der Untersuchungshaft hier und da die elektronische Fußfessel zum Einsatz kommen könnte. ({2}) Von daher begrüßen wir die Möglichkeit, über ein Mittel nachzudenken, das in vielen unserer Nachbarländer schon zu einem Erfolg geführt hat. Professor Meyer kommt von einem Institut, das uns häufig gute Anregungen geliefert hat, nämlich von dem Max-PlanckInstitut für internationales Strafrecht in Freiburg. Wir tun gut daran, uns an den Erfahrungen anderer Länder zu orientieren. Bei der Ausdehnung der gemeinnützigen Arbeit - das wird immer wieder gefordert - bin ich eher skeptisch. Es gibt schon jetzt einen breiten Strauß von Möglichkeiten, angemessen zu reagieren: die Einstellung des Verfahrens unter einer bestimmten Auflage, die Auflage der gemeinnützigen Arbeit bei der Strafaussetzung zur Bewährung oder der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung. Wir haben also ganz ausgezeichnete Möglichkeiten, zur Anwendung von gemeinnütziger Arbeit zu kommen. Gerade im Bereich des Jugendstrafrechts ist die gemeinnützige Arbeit eine wirklich vorzügliche Einrichtung, um den Jugendlichen vor Augen zu führen, daß, wenn sie gegen das Strafrecht verstoßen haben, eine Reaktion erfolgt, die sie spüren. Angesichts der wenigen zur Verfügung stehenden Stellen habe ich allerdings die Befürchtung, daß es zu einer Beeinträchtigung im Jugendbereich kommen wird. Gerade in dem Bereich, den wir als Liberale gefördert sehen wollen - zum Beispiel sollen diejenigen, die vom Staat Sozialhilfe bekommen, von ihm auch gebeten werden, etwas für die Allgemeinheit zu tun, beispielsweise Parkanlagen zu pflegen -, wird es zu einer - wie soll ich sagen? Konkurrenz kommen, die im Endeffekt nicht gewollt ist. Im übrigen darf nicht übersehen werden - das ist ein Gedanke, den ich in diesem Zusammenhang gerne ansprechen möchte -, daß wegen des Verbotes der Zwangsarbeit, das sich aus Art. 12 Abs. 3 des Grundgesetzes ergibt, eine solche Auflage gar nicht zwangsvollstreckt werden könnte. Auch das macht deutlich, daß wir uns sehr sorgfältig darüber unterhalten müssen, ob das wirklich ein vernünftiger Vorschlag ist. Bayern hat wieder den Vorschlag geäußert, den Mißbrauch von Kindern zu einem Verbrechen hochzustufen. Wenn man diejenigen fragen würde, die uns auf der Tribüne zuhören, ob der Mißbrauch von Kindern ein Verbrechen ist, würden sie wahrscheinlich alle aus vollem Herzen sagen: Ja, es ist ein Verbrechen. - Es ist mit Sicherheit ein Verbrechen an der Seele der Kinder. Trotzdem sind wir hier im Bundestag verpflichtet, zu einer vernünftigen und sorgfältigen Lösung zu kommen. Ich glaube, daß wir diese im letzten Jahr gefunden haben. Wir haben uns sehr sorgfältig beraten. Wir haben für erhebliche Strafverschärfungen gesorgt. Wir haben neue Straftatbestände eingeführt. Wir haben insbesondere dafür gesorgt, daß die Kinder, die Opfer eines Sexualdeliktes geworden sind, vor Gericht besser behandelt werden, daß mehr Rücksicht auf sie genommen wird, zum Beispiel dadurch, daß sie in einem Nebenraum vernommen werden, oder dadurch, daß sie per Video vernommen werden, so daß sie dem Täter nicht wieder in die Augen sehen müssen. Wir haben für diese und viele andere Dinge gesorgt, die dazu geführt haben, daß die Interessen der Kinder besser berücksichtigt werden. Wir haben damals auch diskutiert, ob wir zu einer allgemeinen Heraufstufung zum Verbrechen kommen sollten. Wir haben das damals - mit der Zustimmung der Kollegen aus der CSU - nicht getan, und ich hoffe, daß wir dabei bleiben. Denn für mich ist der Opferschutz in diesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit. Wenn wir nämlich zu einer Heraufstufung zum Verbrechen kommen würden, dann hätten wir alle anderen Möglichkeiten der strafrechtlichen Sanktionierung - wir wissen, daß es hier schwere, aber auch leichte Fälle gibt - nicht mehr, zum Beispiel die Erledigung eines Falles im Strafbefehlsverfahren, das manchmal gewählt wird, um dem Kind ein Auftreten als Zeuge zu ersparen, bei dem alles wieder hochkommt, bei dem das Kind alles wieder neu erlebt. Ich habe also die herzliche Bitte, daß wir bei den vernünftigen Regelungen, die wir im letzten und vorletzten Jahr beschlossen haben, bleiben. Ich glaube, daß das gerade im Interesse der Opfer wäre, das uns hier besonders leiten muß. Einige andere Dinge, die immer wieder zu heftigen Diskussionen geführt haben, sind auch in den vorhergehenden Reden schon angesprochen worden, insbesondere die Kronzeugenregelung. Ich bekenne mich dazu, daß ich mich für die Kronzeugenregelung eingesetzt habe; denn ich finde, daß wir bei der Aufklärung von schwersten Verbrechen auch über ungewöhnliche Wege nachdenken müssen. Aber ich tue mich ganz außerordentlich schwer, jetzt wieder einer Verlängerung zuzustimmen. Denn wir haben seinerzeit ganz bewußt eine zeitliche Begrenzung vorgenommen, ({3}) weil wir nach einer bestimmten Zeit sehen wollten, was diese Regelung bringt bzw. nicht bringt. Deshalb können wir jetzt nicht einfach blind verlängern, ({4}) sondern müssen Bilanz ziehen. ({5}) Dann muß die Antwort ja oder nein lauten. Ein bloßes Verlängern zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht die richtige Antwort sein. ({6}) Das gleiche gilt für mich beim Fernmeldeanlagengesetz. Ich bin dafür, daß wir eine Möglichkeit haben, zum Beispiel wenn Frauen immer wieder beleidigend angerufen werden, nachzuverfolgen, von wem die Anrufe kommen. Sie haben Anspruch darauf, daß sie von solchen Tätern nicht weiter belästigt werden. Deshalb braucht man dieses Gesetz dringend. Aus diesem Grunde bin ich dagegen, daß wir nun einfach wieder eine Verlängerungsregelung beschließen. Ich meine, alle Aspekte sollten gesetzlich niedergelegt werden. Genau dies sollten wir uns als Aufgabe vornehmen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute bei diesem Tagesordnungspunkt hier vorhaben, ist in der Tat ein Ritt durch das Strafprozeßrecht und das Strafrecht. Aber es zeigt auch, wie wenig bestellt uns die frühere Koalition den Acker der Kriminal- und Justizpolitik hinterlassen hat. ({0}) Sie haben ganz einfach über 16 Jahre Ihre Hausaufgaben nicht gemacht, Herr Geis. ({1}) Sie haben Aufträge des Bundesverfassungsgerichts ganz einfach ignoriert, zum Beispiel bei der Änderung der Strafprozeßordnung, so daß das StVÄG, das Strafverfahrensänderungsgesetz, von dieser Koalition, von dieser Regierung jetzt endlich realisiert werden muß. ({2}) Herr Professor Scholz hat etwas von einem neuen Grundrecht erzählt. Ich schaue immer ins Grundgesetz und finde es dort nicht. ({3}) Was ich aber finde, Herr Professor, ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht definiert hat. ({4}) Bereits 1983, also vor 16 Jahren, hat das höchste Gericht dem Gesetzgeber aufgegeben, in allen Bereichen spezifisch zu regeln, daß der Datenschutz gewährleistet ist. Das haben Sie nicht gemacht; das haben Sie versäumt. ({5}) Das haben Sie solange hinausgezögert, daß die Europäische Union Ihnen etwa beim Datenschutzgesetz StrafJörg van Essen gelder androhen mußte, um Sie in Bewegung zu bringen. Trotzdem haben Sie es nicht geschafft, und nun haben wir diese Aufgabe zu erledigen. ({6}) Sie haben nicht nur die große Justizreform, die von der F.D.P. immer angekündigt wurde, nicht geschafft und auch das Sanktionenrecht nicht reformiert, ({7}) sondern Sie haben auch und gerade im Bereich des Datenschutzes ganz einfach versagt. Wenn die Justizministerin heute in die Schubladen guckt, die Sie ihr hinterlassen haben, dann findet sie dort alte Hüte und unfertige Gesetzesvorhaben, die wir jetzt diskutieren, verbessern, vervollständigen und auf den Weg bringen müssen. Das ist die Bilanz dessen, was Sie gemacht haben. Sie hören es nicht gern; aber es ist ganz einfach so. Das erste Gesetz - es ist ein vollständiges Gesetz, das auch in der letzten Legislaturperiode schon beraten worden ist - ist das StVÄG, in dem es um nicht weniger geht, als eine Datenschutzregelung zu finden, die unter anderem definiert, unter welchen Voraussetzungen ein Richter oder Staatsanwalt oder auch, wie Sie es praktiziert haben, die Polizei einen Bürger bzw. eine Bürgerin zur öffentlichen Fahndung freigibt, also deren Fotos und Personenbeschreibungen ins Fernsehen oder in die Zeitung geben darf, welche Beschränkungen vorhanden sein müssen und - vor allen Dingen - wer darüber entscheiden muß. Das haben Sie offengelassen. Sie haben dadurch die Bürger in diesem ganz wichtigen Bereich ohne ausreichenden Schutz gelassen und das Persönlichkeitsrecht sehr vieler Bürgerinnen und Bürger verletzt; denn wir alle wissen, daß man in solche Fahndungen auch hineinkommen kann, ohne daß es nachher zu einer Verurteilung kommt. Es kommen also auch Unschuldige da hinein; insbesondere gilt dies für Zeugen. Die Bundesregierung hat nun einen umfangreichen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem all diese Fragen geregelt sind. In den Koalitionsfraktionen haben wir uns zusammengesetzt und zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch eine Reihe zusätzlicher Verbesserungen des Schutzes und der Effektivität vereinbart, die wir im Laufe der Beratungen in dieses Strafrechtsänderungsgesetz einbringen wollen. Lassen Sie mich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen, worum es dabei geht: Wir wollen, daß dann, wenn ein Zeuge in einem Strafverfahren gesucht wird, dafür nicht weniger rechtliche Voraussetzungen gegeben sein müssen und nicht weniger Kontrolle vorhanden sein darf, als wenn ein Beschuldigter mittels öffentlicher Fahndung gesucht wird. Selbstverständlich muß man bei einem Zeugen sehr viel zurückhaltender sein; denn er hat ja keine Straftat begangen und keine Schuld auf sich geladen. Auch wollen wir dafür sorgen, daß das Akteneinsichtsrecht in Strafverfahren, im Rahmen deren Menschen in Untersuchungshaft sind, dadurch verbessert wird, daß eine richterliche Überprüfung stattfindet, wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht verweigert. Insgesamt haben wir hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der längst fällig war, der schon vor zehn Jahren hätte kommen müssen. Wir hoffen, daß wir ihn in Kürze verabschieden können und damit unserer Pflicht, die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt, nachkommen. ({8}) Sie haben des weiteren § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes angesprochen. Das ist eine befristete Vorschrift - darauf hat die F.D.P. dankenswerterweise hingewiesen -, die dem Richter die Möglichkeit geben soll - es kann durchaus Fälle geben, in denen das berechtigt ist -, festzustellen, wann wer mit wem telefoniert hat. Es geht also nicht darum, worüber am Telefon gesprochen wurde, sondern nur um die Feststellung der Anschlüsse. Wir wissen aber spätestens seit der Volkszählungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß so etwas nicht einschränkungslos im Gesetz stehen darf; denn wenn der Richter so etwas macht, können auch Telefonanschlüsse von Unschuldigen erfaßt werden. Daher muß geregelt sein: Wann werden diese Daten gelöscht? Wer kontrolliert das? Wie ist das mit den Berufsgeheimnisträgern? Wie ist das mit Rechtsanwälten, mit Journalisten, mit Ärzten, mit Geistlichen? Darf da so einfach festgestellt werden, wann wer mit wem wie lange telefoniert hat? Ich denke einfach eine Verlängerung zu verlangen, wie Sie von der CDU/CSU es tun, geht auf gar keinen Fall. Vielmehr müssen wir prüfen, ob die jeweiligen datenschutzrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. Wir müssen uns das alles im Lichte des Grundgesetzes sorgfältig ansehen und dann gegebenenfalls datenschutzrechtliche Regelungen einführen. ({9}) Nun zur Kronzeugenregelung. Die Kronzeugenregelung ist 1989 während eines großen Fahndungsdefizits - „Fahndungsnotstand“ hat man damals gesagt - geboren worden. Unserem Strafrecht ist es eigentlich völlig fremd, daß selbst für einen Mörder, der selber zugibt, einen Mord begangen zu haben, die Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren heruntergesetzt werden kann. Dieses Sondergesetz ist unserem Strafrecht völlig fremd, und es ist damals von vielen kritisiert worden. Dieses Gesetz hatte allein den Zweck, dem seinerzeitigen Fahndungsnotstand abzuhelfen. Es ist ein Gesetz aus der Zeit der Terroristengesetze. Jetzt wollen Sie es einfach verlängern, ohne sich damit zu beschäftigen, ob dieses Gesetz überhaupt den Zweck, zu dem es einmal erlassen wurde, erreicht hat. Ist damit auch nur in einem einzigen Fall erreicht worden, daß Personen aus dem engeren Kreis von terroristischen Vereinigungen herausgebrochen wurden, ({10}) daß sie zur Verhinderung oder zur Aufklärung von schweren Straftaten oder zur Festnahme von anderen Mitgliedern terroristischer Vereinigungen beigetragen haben? ({11}) Ist dieser Zweck wirklich in Einzelfällen erreicht worden? Da wird immer wieder gesagt: Wir hatten doch Anfang der 90er Jahre die Beispiele der ehemaligen RAFAngehörigen, die in der DDR angetroffen worden sind. - In all diesen Verfahren - das wird Ihnen der Generalbundesanwalt bestätigen - haben die Leute, auf die die Kronzeugenregelung angewandt worden ist, gesagt: Wir hatten uns schon vor zehn Jahren von der RAF getrennt; wir wollten ohnehin einen Schlußstrich ziehen; für uns ist die Kronzeugenregelung überhaupt nicht der Punkt, weswegen wir jetzt der Justiz helfen. Das muß man einfach feststellen. Das gleiche gilt für Straftaten im Bereich des Ausländergesetzes, für Straftaten im Bereich von ausländischen terroristischen Vereinigungen, etwa der PKK - ich bestreite nicht, daß es zu allen möglichen Anwendungen gekommen ist - mit anderen Worten: auch das Gutachten, das noch von der letzten Regierung in Auftrag gegeben worden ist, stellt fest, daß nicht in einem einzigen Fall wirklich der Zweck, zu dem dieses Gesetz ursprünglich erlassen worden ist, erreicht wurde. Deshalb lassen Sie uns genau hingucken und überprüfen, und lassen Sie uns dann feststellen, ob überhaupt etwas erforderlich ist und, wenn ja, was. Diese Prüfung dürfen wir uns nicht ersparen. Wir können nicht einfach ein Sondergesetz, das nicht ohne Grund befristet worden ist, immer wieder verlängern. Damit schenken wir auch dem früheren Gesetzgeber nicht die gebotene Beachtung. ({12}) Nun komme ich zu den diversen Gesetzentwürfen, die vom Bundesrat eingebracht worden sind. Sie enthalten eine ganze Reihe von sehr wichtigen, grundsätzlich richtigen Gedanken. Die Einführung von gemeinnütziger Arbeit ist im Grunde etwas sehr Vernünftiges. Sie nützt nicht nur der Person, die sich dadurch möglicherweise eine Haftstrafe oder eine Geldstrafe erspart; sie nützt nicht nur - wie der Name schon sagt - der Allgemeinheit; vielmehr kann sie auch den Opfern, den Geschädigten zugute kommen. Deshalb ist es wichtig und richtig - das ist von dieser Bundesregierung und von der Frau Ministerin schon in vielen Diskussionsveranstaltungen gesagt worden -, daß im Bereich unterer und mittlerer Kriminalität eine weitgehende Anwendung möglich gemacht werden soll. An der Initiative des Bundesrates kritisieren wir, daß sie die Anwendung dieser Sanktion auf den Ersatz für nicht bezahlte Geldstrafen beschränkt und sie nicht als eigenständige Strafe einführt. Es bleibt das Problem, daß Zwangsarbeit in Deutschland nach dem Grundgesetz nicht zugelassen ist. Aber ich denke, es kann sich jeder vorstellen, daß es für jeden Betroffenen wesentlich einfacher und wesentlich besser hinnehmbar wäre, zu 100 oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden, als ins Gefängnis zu müssen, völlig von der Außenwelt abgeriegelt zu sein und dort in der Regel ohne sinnvolle Tätigkeit und ohne Perspektive zu sitzen - was im übrigen das für die Gesellschaft erhebliche Risiko eines Rückfalls beinhaltet; denn 70 bis 80 Prozent all derer, die einmal im Gefängnis waren, kommen dort auch wieder hinein, werden rückfällig. Das müssen wir vermeiden. Es gibt eine ganze Reihe von guten Gründen, nach Alternativen Ausschau zu halten. Weiterhin gibt es den Vorschlag des elektronischen Hausarrestes. Das ist eine sehr einschneidende Maßnahme, von der nicht nur der Betroffene, der Täter tangiert und in seinen Freiheitsrechten erheblich eingeschränkt ist; vielmehr betrifft das die ganze Familie. Wenn in der Familie jemand mit einer elektronischen Fußfessel sitzt, dann bekommen das die Kinder, dann bekommt das der Ehepartner oder sonstige Partner, dann bekommen das auch die Verwandten und Freunde mit. Ich denke, es muß genau überlegt werden, ob diese Maßnahme grundsätzlich als alternative Strafe in Betracht kommt. Wenn dies der Fall ist, muß man die Frage stellen: als Alternative zu welchen Strafen? Ist sie als Alternative zu Geldstrafen, als Alternative zu Freiheitsstrafen oder als Alternative zur weiteren Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, wie das auch schon vorgeschlagen worden ist, denkbar? Das bedarf einer genauen Auswertung der Erfahrungen, die in anderen Ländern, insbesondere in den USA, damit gemacht worden sind. Wir Bündnisgrünen haben da erhebliche Bedenken und sehen das mit großer Skepsis. Wir wollen auf gar keinen Fall, daß das, was in den USA zu beobachten ist, auch hier Einzug hält: Da gibt es eine ganze Industrie die diese elektronischen Hausarrestapparate konstruiert und herstellt und die dadurch dazu beiträgt, daß die Überwachung privatisiert und somit die Aufgabe des Staates, für Strafverfolgung zu sorgen, auf die Industrie übertragen wird. Wir sind aber bereit, über diese Alternative nachzudenken. Lassen Sie mich zum letzten Projekt vom Bundesrat - das hier auch schon angesprochen worden ist -, zur drastischen Erhöhung der Freiheitsstrafen für den sexuellen Mißbrauch von Kindern noch ein paar Worte sagen. Auch in diesem Bereich - wie in so vielen anderen - sollte zunächst einmal untersucht werden, welche Strafen in welcher Höhe für welche Fallkategorien in den letzten Jahren von deutschen Gerichten verhängt worden sind. Wir wollen doch nicht daran vorbeireden, daß es schon heute möglich ist, Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu verhängen. Um die Frage zu entscheiden, ob wir Freiheitsstrafen verhängen oder androhen wollen - oder müssen -, die über dieses Maß hinausgehen, sollte zunächst untersucht werden, in welchen Fällen bisher welches Strafmaß erforderlich gewesen ist und ob die bisher verhängten Strafen überhaupt annähernd an das Strafmaß heranreichen, das heute möglich ist. Danach sollte man entscheiden, ob es erforderlich ist, die Strafen drastisch heraufzusetzen. Auch hier denken wir also eher an einen Prüfauftrag, verschließen uns aber nicht der Diskussion. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die rotgrüne Regierung steht im Wort, bald ein durchdachtes, tragfähiges Konzept für eine Sanktionenrechtsreform, für eine Justizreform, für ein neues Datenschutzrecht vorzulegen. Die Arbeiten haben begonnen. Ein erstes, wichtiges Gesetz dazu haben wir vorgelegt. Die Arbeiten gehen weiter. Die Opposition versucht, uns alte Hüte aufs Haupt zu drücken, so wie es bei der Kronzeugenregelung der Fall ist. Der Bundesrat hat einige richtige Gedanken und prüfenswerte Einzelforderungen in den Flickenteppich der zahlreichen Gesetze hineinzuweben versucht. Wir denken, eine Gesamtkonzeption ist erforderlich, und machen mit diesem Strafverfahrensänderungsgesetz, dem StVÄG, einen ersten großen und wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Darüber sollten wir weiter diskutieren und möglichst bald zu tragfähigen Ergebnissen kommen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe jetzt vor der schier unlösbaren Aufgabe, mich zu acht Gesetzentwürfen in siebeneinhalb Minuten äußern zu dürfen. ({0}) Das kommt angesichts des breiten Themenspektrums der Quadratur des Kreises gleich. In der Kürze der Zeit kann ich deshalb nicht zu jedem Gesetz im einzelnen Stellung nehmen, auch wenn Sie mir das freundlicherweise zutrauen. Die Reform des bestehenden strafrechtlichen Sanktionensystems und die Schaffung zeitgemäßer Sanktionsformen sind nicht nur ein altes Anliegen der SPD und der in der vergangenen Legislaturperiode liegengebliebenen Bundesratsinitiativen. Auch die PDS hat in der 13. Wahlperiode einen Gesetzentwurf zu dieser Frage und anderen Fragen, zum Beispiel zur Stärkung der Opferrechte, eingebracht. Wir sind uns offenbar über Parteigrenzen hinweg weitgehend einig, daß das bestehende Sanktionensystem den Gerichten zuwenig Gestaltungsmöglichkeiten gibt, um ihrer kriminalpädagogischen Aufgabe gerecht zu werden. Die Alternativen „Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung“ sind für die Praxis der Strafzumessung zuwenig. Eine weitere Ausdifferenzierung im Sanktionensystem ist deshalb erforderlich. Bedauerlich ist, daß die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems ihre Beratungen noch nicht abgeschlossen hat. So wünschenswert eine baldige Reform ist, bin ich doch dafür, diesen Bericht zunächst abzuwarten, bevor im Kernbereich des Sanktionensystems tiefgreifende Änderungen vorgenommen werden. Ohne Kenntnis entsprechender wissenschaftlicher Vorarbeiten sollten keine voreiligen Entscheidungen getroffen werden. Allein der Verweis auf positive Erfahrungen anderer Staaten, die aber auch andere Rechtssysteme haben, reicht mir nicht aus. Auch möchte ich ein Gesamtkonzept für die Reform des Sanktionensystems erkennen können und nicht für ein Sammelsurium von sogenannten neuzeitlichen Sanktionen stimmen müssen, die dem Prinzip der Beliebigkeit folgen und vielleicht nur von der Straf-Wirkung getragen werden. Ein spektakuläres Beispiel dafür ist das Fahrverbot als Hauptstrafe, das manche nur deshalb ablehnen, weil nicht alle Straffälligen ein Kraftfahrzeug besitzen. Im Rahmen der Gesamtreform des strafrechtlichen Sanktionensystems messe ich der Einführung der gemeinnützigen Arbeit als eigenständiger Sanktion eine wichtige Bedeutung zu. Für sie spricht insbesondere die Verknüpfung verschiedener Zwecke; das wären etwa der Entzug von Freizeit, die Wiedergutmachung durch soziale Arbeit und nicht zuletzt eine Erleichterung der Resozialisierung des Täters durch Arbeit. Das Problem hierbei scheint mir eigentlich die praktische Umsetzung in den Ländern, die Schaffung von entsprechenden Einsatzstellen zu sein. Das Für und Wider zur Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests geht quer durch alle Parteien. Entscheidendes Kriterium ist, ob der Hausarrest neue Möglichkeiten der sozialen Einbindung des Straffälligen bei Beachtung legitimer Sicherheitsinteressen der Bürgerinnen und Bürger eröffnet. Unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte des Straftäters ist er nur dort anzuwenden, wo ambulante Sanktionsformen nicht ausreichen. Hier kann er eine Alternative zum härteren stationären Sanktionsvollzug sein. Sinnvoll ist deshalb eine Erprobung in den Fällen, in denen ansonsten kurze Freiheitsstrafen ausgesprochen würden oder in denen Restfreiheitsstrafen bei bestimmten Tätergruppen noch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könnten. Das darf aber nicht den Weg für einen notwendigen Ausbau der sogenannten ambulanten Hilfen wie Bewährungs- oder Gerichtshilfe verstellen. Als Ersatzfreiheitsstrafe taugt der Hausarrest jedoch nicht. Denn wer nicht zahlen kann, soll auch nicht eingesperrt werden, auch nicht zu Hause. ({1}) Die Veränderung des Umrechnungsmaßstabes - zwei Tagessätze Geldstrafe sollen einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen - begrüßen wir deshalb, halten sie jedoch insgesamt für inkonsequent. Für grundsätzlich wünschenswert halte ich, das System der strafrechtlichen Sanktionen in Richtung Wiedergutmachung auszubauen. Dabei denke ich nicht allein daran, die Wiedergutmachung als einen Einstellungsgrund anzusehen, sondern ich denke daran, sie auch bei mittlerer und schwerer Kriminalität neben einer Strafe vorzusehen. Die Kombination von Wiedergutmachung und Strafe käme einer alternativen Strafe gleich. Dies wäre auch ein Schritt in Richtung einer opferorientierten Strafverfolgung. Unsere Zustimmung haben Sie also dort, wo Haftvermeidung bei Wahrung des gesellschaftlichen SchutzHans-Christian Ströbele bedürfnisses zu erwarten ist, wo gemeinnützige Arbeit statt Strafe möglich wird, wo es zu einem Täter-OpferAusgleich, zu einer Wiedergutmachung durch den Täter kommen kann. Nun zum Gesetzentwurf „Sexueller Mißbrauch von Kindern“: Hier sehe ich Regelungsbedarf, der insbesondere durch die Verbreitung des Internets entstanden ist. Ich unterstütze deshalb jede Maßnahme, die geeignet ist, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern entgegenzuwirken. Ich denke aber nicht, daß allein höhere Strafen und der Zwang zur Therapie den Handel mit Kindern und Kinderpornographie eindämmen werden. Wir brauchen mehr Rechtshilfeabkommen mit den Ländern, die von Kinderhändlern und Sextouristen aufgesucht, besser gesagt: heimgesucht werden. Außerdem benötigt die Polizei mehr Unterstützung für die personal- und sachintensive Recherche in den Netzen. Abschließend zu dem von der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes nur so viel: Erinnern wir uns: Die Kronzeugenregelung für terroristische Straftaten mit begrenzter Geltungsdauer ist 1989 bekanntlich als Experiment - trotz schwerwiegender rechtsstaatlicher Bedenken und gegen die dringliche Warnung fast der gesamten Fachwelt - eingeführt und 1994 auf die organisierte Kriminalität ausgedehnt worden. Sie durchbricht das Legalitätsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Sie verletzt auch den Gleichheitsgrundsatz, da sie strafverdächtige und überführte Täter von der Bestrafung ganz oder teilweise ausnimmt. Der Anreiz, sich durch Bezichtigung anderer Verdächtiger in den Genuß der zugesagten Vergünstigungen zu bringen, birgt die Gefahr in sich, den Zeugenbeweis zu entwerten, und kann im Extremfall sogar zur Bezichtigung Unschuldiger führen; das haben wir heute schon gehört. Bei der Debatte zum Zweiten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz hat selbst die damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger schwere Bedenken geäußert und schließlich dafür plädiert, diese Regelung nach sechsjähriger Anwendungszeit auslaufen zu lassen. Durch die Kronzeugenregelung sind weder terroristische Gewalttaten noch organisierte Kriminalität verhindert worden. Darauf hat auch schon mein Kollege Ströbele hingewiesen. Jedenfalls bleibt der Gesetzentwurf einen Nachweis über die Wirksamkeit dieser Regelung schuldig. Ich hätte mir auch dazu Ausführungen gewünscht. Manchmal ist ein Gesetz weniger ein Gewinn für den Rechtsstaat. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer von der SPD-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein erster Blick auf die heute in erster Lesung zu beratenden acht strafrechtlichen Gesetzentwürfe kann den Eindruck hervorrufen, es handele sich um ein mehr oder weniger zufällig entstandenes Sammelsurium. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber zumindest in der Mehrheit der Entwürfe eine klare politische Botschaft. Diese lautet: Der Reformstau, der in 16 Jahren Kohl-Regierung auch in der Kriminalpolitik entstanden ist, beginnt sich aufzulösen. ({0}) Ich will das mit zwei Hinweisen belegen: Mein erster Hinweis gilt den vier vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwürfen, die sich mit dem strafrechtlichen Sanktionensystem befassen. In den vier Legislaturperioden der Kohl-Regierung ist ein Reformbedarf stets geleugnet worden. ({1}) Dies geschah erstmals in der 10. Legislaturperiode Anfang der 80er Jahre. Damals war die Bundesregierung von der Opposition aufgefordert worden, zu den Vorschlägen Stellung zu nehmen, die gemeinnützige Arbeit als selbständige Sanktion einzuführen, den Anwendungsbereich der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu erweitern, eine Aussetzung zur Bewährung auch für Geldstrafen vorzusehen sowie eine Verfahrenseinstellung auch dann zu ermöglichen, wenn der Täter den Schaden wiedergutmacht. Die damalige Bundesregierung verneinte jeglichen aktuellen Änderungsbedarf. ({2}) Sie blieb dabei auch nach dem 59. Deutschen Juristentag 1992, ({3}) den meine Fraktion durch eine Große Anfrage zur Reform des Sanktionensystems vorbereitet hatte. ({4}) Der von mir in der vorletzten und letzten Legislaturperiode jeweils ausführlich begründete Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems wurde von der Mehrheit stets abgelehnt, aber in der letzten Legislaturperiode erfreulicherweise von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. ({5}) Die Bundesregierung konnte sich gegen Ende der letzten Legislaturperiode nur zur Einsetzung einer Kommission durchringen. ({6}) Diese hat nun vor drei Monaten einen Zwischenbericht mit einer Reihe von Reformvorschlägen vorgelegt. Was ist die Ursache für dieses Umdenken? Nach meinem Eindruck hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Vollstreckung von Freiheitsstrafen in manchen Fällen mehr Schaden als Nutzen stiftet: ({7}) Sie reißt den Verurteilten aus seinen sozialen Bezügen; sie führt zum Verlust von Wohnung und Arbeit; angesichts der Überfüllung unserer Gefängnisse ist ein Bemühen um Resozialisierung vielfach kaum noch möglich; ({8}) die Kosten des Strafvollzuges in Höhe von etwa 200 DM pro Tag werden zunehmend kritisch beurteilt. Dies sind einige Gründe dafür, daß der Ruf nach alternativen Sanktionen neben Geld- und Freiheitsstrafe immer lauter wird. Ich bin zuversichtlich, daß die neue Bundesregierung demnächst einen auf den Vorarbeiten der Kommission aufbauenden Gesetzentwurf vorlegen wird, der ein Gesamtkonzept enthält ({9}) und der sinnvollerweise zusammen mit den teils mehr und teils weniger überzeugenden Einzelentwürfen des Bundesrates beraten wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein zweiter Beleg für die Reformunfähigkeit der früheren Bundesregierung sowie der früheren Mehrheitskoalition und für die Reformfähigkeit der neuen Bundesregierung ist der heute in erster Lesung zu beratende Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes, abgekürzt StVÄG. ({10}) - Herr Kollege Geis, Sie bekommen gleich die Meinung gesagt. ({11}) Der Verfassungsauftrag, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und die Grunderfordernisse des Datenschutzes - natürlich in Abwägung mit der Notwendigkeit effektiver Strafverfolgung - auch im Strafverfahren zu beachten, stammt aus dem Jahr 1983. Er ist dem bekannten Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ergangen im ersten Jahr der KohlRegierung, zu entnehmen. 16 Jahre haben nicht ausgereicht, um das StVÄG zu verabschieden. ({12}) Die Fehlversuche der früheren Regierung sind bekannt - liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hören Sie aufmerksam zu -: Der Entwurf von 1989 ist niemals Gesetz geworden. Im August des vergangenen Jahres schien endlich die Verabschiedung des überfälligen Gesetzes gesichert zu sein. ({13}) Auf der Grundlage eines Bundesratsentwurfes und eines Entwurfes der Bundesregierung kam es im vergangenen Sommer zum sogenannten Flughafenkompromiß; Herr Kollege Geis, Sie waren dabei. Der Name erinnert daran, daß die Abschlußverhandlungen in einem Sitzungsraum eines Hotels im Frankfurter Flughafen stattfanden. ({14}) Alle Beteiligten, auch die Vertreter der A- und B-Länder sowie der CDU/CSU-Fraktion, hatten dem fertig ausformulierten Gesetzestext zugestimmt. Die Hoffnung auf eine Verabschiedung noch vor der letzten Bundestagswahl zerschlug sich dann aber durch einen überraschenden Brief des damaligen bayerischen Justizministers Leeb, der sich mit fadenscheiniger Begründung von dem Kompromiß, dem er zuvor persönlich zugestimmt hatte, distanzierte. ({15}) 16 Jahre haben der früheren Regierung also nicht genügt, um dem klaren Auftrag des Volkszählungsurteils gerecht zu werden. Ich zitiere aus diesem Urteil: Unter den Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung gibt es kein belangloses Datum mehr. Wie weit Informationen sensibel sind, kann hiernach nicht mehr allein davon abhängen, ob sie intime Vorgänge betreffen. Vielmehr bedarf es zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhanges. Erst wenn Klarheit darüber besteht, zu welchem Zweck Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungsmöglichkeiten bestehen, läßt sich die Frage einer zulässigen Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beantworten. Bekanntlich ist das tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifende Strafverfahren ganz wesentlich Datenverarbeitung. Es kommt darauf an, die für das Strafverfahren entscheidungserheblichen Informationen zu erheben, zu erfassen, auszuwerten und zu speichern. Die Verwendung von Daten im Strafverfahren ist hoheitliche Informationsverarbeitung. Man denke nur an die öffentliche Fahndung nach einem Beschuldigten, eventuell unter Verwendung seines Lichtbildes, oder auch nach einem Zeugen zur Ermittlung seines Aufenthaltsortes. Auch Akteneinsicht ist Einsicht in Daten. Wenn die Zweckbestimmung der Daten erfüllt ist, muß man prüfen, ob sie gelöscht werden können. All dies ist Sache des Gesetzgebers. Er muß die wesentlichen Konkretisierungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung vornehmen. Er darf sich dieser Aufgabe nicht durch die Schaffung von Generalklauseln entziehen. Dr. Jürgen Meyer ({16}) Diesen Anforderungen wird der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung gerecht, die sich klugerweise eng an den bereits erwähnten Flughafenkompromiß angeschlossen, auf Grund der Stellungnahme des Bundesrates aber bereits verschiedene Konkretisierungen vorgeschlagen hat. In Berichterstattergesprächen im Rahmen der Koalition haben wir unter Beteiligung des Bundesjustizministeriums eine Reihe weiterer Konkretisierungen vereinbart, die wir zum Gegenstand der Ausschußberatungen machen wollen. Die neue Bundesregierung und die Koalition weichen der vom Gesetzgeber zu lösenden Aufgabe nicht länger aus, die notwendige praktische Konkordanz von allgemeinem Persönlichkeitsrecht einerseits und Strafverfolgungsinteressen andererseits herzustellen. Damit beenden wir den 16 Jahre andauernden und verfassungsrechtlich völlig inakzeptablen Reformstau in diesem wichtigen Bereich der Gesetzgebung. Ich danke Ihnen. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt der Bayerische Staatsminister der Justiz, Dr. Manfred Weiß. Dr. Manfred Weiß, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aufgerufenen Tagesordnungspunkte enthalten eine ganze Reihe wichtiger Vorhaben im Bereich des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Etliches davon ist aus Ländersicht natürlich von essentieller Bedeutung. Aber ich habe dasselbe Problem wie meine Vorrednerinnen und Vorredner: Die knapp bemessene Redezeit läßt es nicht zu, zu allen Punkten Stellung zu nehmen. Ich beschränke mich daher auf den Bundesratsentwurf zum Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch, wobei ich anmerken darf, daß der Bundesrat - leider nicht von der CSU dominiert ist, sondern daß dort die Mehrheiten noch anders sind. Meine Damen und Herren, der Schutz von Kindern vor Sexualstraftaten zählt seit einigen Jahren zu den zentralen rechtspolitischen Anliegen. Das war leider nicht immer so. Ich erinnere daran, daß es bei der großen Strafrechtsreform vor rund 25 Jahren manchen gegeben hat, der einvernehmliche Sexualkontakte mit Kindern nicht verwerflich fand und deswegen den Strafrechtsschutz aufweichen wollte. Dazu ist es - was die Tatbestandsfassung anbelangt - glücklicherweise nicht gekommen. Allerdings wurde die Strafandrohung gravierend zurückgenommen. Aus einem Verbrechen ist ein bloßes Vergehen geworden. Um die vorhin angesprochenen Überlegungen, ob das Höchstmaß der Strafe acht oder zehn Jahre betragen soll, geht es doch gar nicht. ({1}) Es geht darum, ob auch schon der Versuch der Anstiftung und die Vorbereitung strafbar sind. Auch Sie werden gelernt haben, daß dies nur bei Verbrechen der Fall ist und nicht bei Vergehen. Insoweit sind wir uns sicher einig. Die Aufweichungsbestrebungen fanden damit jedoch leider kein Ende. In den 80er Jahren haben sich vor allem die Grünen - es ist gut, daß wir hier gerade in Kontakt getreten sind - auf diesem Feld unrühmlich hervorgetan. Es hat in Ihren Reihen nicht wenige gegeben, die vorgeblich gewaltfreie sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei stellen wollten. ({2}) Diese Forderungen haben Eingang in verschiedene Parteipapiere gefunden. Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Sie müssen sich daran gewöhnen, daß das hier gesagt wird. Die nächste Etappe war ein Gesetzentwurf, mit dem strafrechtliche Jugendschutzvorschriften ersatzlos aufgehoben werden sollten. ({3}) Der Entwurf verstand sich ausdrücklich als erster Schritt in Richtung einer Entkriminalisierung einvernehmlich gewünschter sexueller Handlungen. Ich sage Ihnen deutlich: Das sind für mich empörende Vorgänge. Wir werden nicht aufhören, das hier entsprechend anzuprangern. ({4}) Der kriminalpolitische Wind hat sich mittlerweile gedreht. Das ist richtig. Es ist aber auch eine traurige Tatsache, daß erst schreckliche Sexualmorde an Kindern geschehen mußten, ehe man hier reagiert hat. ({5}) Wesentlich auf diese furchtbaren Verbrechen ist es zurückzuführen, daß das 6. Strafrechtsreformgesetz, maßgeblich auf bayerische Initiative hin, drastische Strafverschärfungen bei der Kinderschändung sowie bei sexuellen Gewaltdelikten erbracht hat. Ein guter Teil der durch die SPD/F.D.P.-Koalition getroffenen Fehlentscheidungen ist damit korrigiert worden. In einigen Punkten allerdings ist der Gesetzgeber auf halbem Wege stehengeblieben. Vor allem hat sich die Auffassung nicht durchgesetzt, daß der Grundfall des Kindesmißbrauchs wieder als das Verbrechen gebrandmarkt werden muß, das er im Verständnis der Bürgerinnen und Bürger seit jeher war. Ich wende mich einfach gegen die Arroganz zu sagen: Die Bürger draußen können so denken, wie sie wollen, und auch wenn es für die Bürger ein Verbrechen ist, sind wir hier ja viel gescheiter und klassifizieren dies als Vergehen. ({6}) Dr. Jürgen Meyer ({7}) Ich glaube, man sollte auch ein bißchen auf den Bürger draußen hören; denn wir haben die Aufgabe, die Interessen der Bürger entsprechend wahrzunehmen. ({8}) Statt dessen sind jetzt Regelungen geschaffen worden, die an Kompliziertheit nichts zu wünschen übrig lassen und die auch zahlreiche Ungereimtheiten aufweisen. Das ließe sich vielfach belegen. Ich führe nur ein Beispiel an. Es ist doch sicher unverständlich, daß ein 18jähriger, der mit einem Kind einen Beischlaf vollzieht, ein Verbrechen begeht, während ein Täter von siebzehneinhalb Jahren nur ein Vergehen begeht. Das sollte man mal demjenigen erklären, der dies miterlebt hat. Wir müssen ja auch feststellen, daß gerade die schlimmsten Mißbräuche in der letzten Zeit von jugendlichen Straftätern verwirklicht wurden. ({9}) Der Bundesratsentwurf - ich sage das noch einmal deutlich - schlägt deshalb vor, einen einheitlichen Verbrechenstatbestand zu schaffen. Der hohe Stellenwert des Schutzes der Kinder vor sexueller Ausbeutung wird hierdurch in besonderem Maße verdeutlicht. Das zweite Kernstück unseres Bundesratsentwurfs ist die spezifische Strafvorschrift gegen das Anbieten von Kindern für sexuellen Mißbrauch. Der Anlaßfall hierfür ist damals über Bayern hinaus bekanntgeworden. Ein Sadistenpaar hat Kinder über die Datennetze für widerwärtige Praktiken angeboten. Die Täter konnten nach Auffassung der Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshof insoweit strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil die Tat unter keinen Tatbestand des geltenden Rechts zu subsumieren war. Wenn ich eine solche Sicherheitslücke beziehungsweise Strafbarkeitslücke habe, dann - so glaube ich - ist es unsere Aufgabe, diesen Zustand zu beheben. Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß unsere Kinder Freiwild für Abartige jeglicher Couleur sind. Dringend erforderlich ist nach unserer Meinung auch eine Verbesserung des Ermittlungsinstrumentariums. Gegen mutmaßliche Kinderschänder und Kinderpornohändler muß die Überwachung der Telekommunikation zugelassen werden. Damit würde eine sichere Grundlage für Recherchen in den Datennetzen geschaffen. Wichtig ist dies unter anderem für Ermittlungen in geschlossenen Nutzergruppen. Die Telefonüberwachung hat aber auch für solche Fälle essentielle Bedeutung, in denen nur die Kontakte über die modernen Kommunikationstechniken geknüpft werden, das Weitere aber dann mit herkömmlichen Mitteln abgewickelt wird. Daß die Telefonüberwachung notwendig ist, entspricht auch der Haltung vieler SPD-geführter Landesregierungen. Was die Bundesregierung allerdings bisher hierzu gesagt hat, muß vor diesem Hintergrund doch empören. Der Vorschlag des Bundesrates kümmert anscheinend nicht im geringsten. Die Bundesregierung denkt vielmehr sogar über eine weitere Begrenzung der Telefonüberwachung nach. ({10}) Das ist nach meiner Meinung eine schallende Ohrfeige für alle SPD-geführten Länder, die ja den Entwurf, zu dem ich Ihnen vortrage, mittragen. ({11}) Ich möchte es noch einmal deutlich sagen: Durch diese Überlegungen stellt die Bundesregierung unverhohlen die Grundrechte mutmaßlicher Kinderschänder und Kinderpornohändler über die Grundrechte unserer Kinder. ({12}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie haben jetzt die Chance, die schlimme Entwicklung aufzuhalten, ({13}) zu korrigieren. Der Gesetzentwurf des Bundesrates liegt Ihnen vor. Ich darf Sie um seriöse Beratung bitten. ({14}) Wir wären glücklich darüber, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen könnten. Danke schön. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt unsere Kollegin Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.

Anni Brandt-Elsweier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Täglich werden in Deutschland Kinder sexuell mißbraucht, und wir fragen uns, wie wir das verhindern können. Sexueller Mißbrauch von Kindern, insbesondere ihr Mißbrauch zu pornographischen Zwecken, ist eine der abscheulichsten Straftaten, gegen die der Staat sicher mit aller Härte vorgehen muß. ({0}) Aus diesem Grunde haben wir im vergangenen Jahr durch entsprechende Gesetze die Strafandrohung erheblich verschärft. Dies haben wir nach eingehender Diskussion getan. Herr Kollege van Essen hat dies ausgeführt. Ich kann mich dem nur anschließen. Wir sollten zunächst einmal abwarten, ehe wir nach kurzer Zeit einzelne Straftatbestände im Schnellschuß ändern. Staatsminister Dr. Manfred Weiß Übrigens, Herr Minister Weiß, Anstiftung ist auch bei Vergehen strafbar. Deswegen müssen wir sicherlich keinen neuen Straftatbestand einführen. ({1}) Machen wir uns nichts vor: Mit dem Strafrecht können wir ohnedies nur einen geringen Teil von Gewalt gegen Kinder und sexuellem Mißbrauch von Kindern bekämpfen. Wenn sich durch Generalprävention Verbrechen wirklich verhindern ließen, dann dürfte es in den Staaten, in denen auf Mord die Todesstrafe steht, keine Mörder mehr geben. Auch durch die in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen härteren Strafen werden wir die schrecklichen Straftaten des sexuellen Mißbrauchs an Kindern nicht eindämmen, geschweige denn verhindern können. Wir wissen doch, daß das größte Risiko, Opfer von sexuellem Mißbrauch zu werden, den Kindern in der Familie, im Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis droht. Dort werden sie oft in ihrem unlösbaren Konflikt zwischen Scham und Angst vor Entdeckung sowie vor befürchtetem Liebesentzug allein gelassen. Experten gehen davon aus, daß auf jede angezeigte Sexualstraftat an Kindern 20 bis 30 weitere kommen, von denen wir nichts erfahren. Die sexuell mißbrauchten Kinder leiden meist ihr Leben lang unter einem Trauma. Die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit werden oft erst sehr spät im Leben - manchmal überhaupt nicht - verarbeitet. Die Erfahrungen von Frauenberatungsstellen zeigen, daß Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind, Beziehungsprobleme haben, unter Eßstörungen leiden und zu Depressionen neigen. In den meisten Fällen wird die Ursache hierfür erst spät erkannt. Deshalb war es auch richtig, daß wir seinerzeit fraktionsübergreifend mit § 78b StGB eine Vorschrift geschaffen haben, die das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bei bestimmten Straftaten des sexuellen Mißbrauchs von Kindern beinhaltet. Dieser Paragraph wurde gegen den zunächst vorhandenen ausdrücklichen Widerspruch der damaligen Regierungskoalition geschaffen. Oft kann sich das Opfer erst dann zu einer Anzeige entschließen, wenn es sich aus dem Kreis, dem der Täter angehört, lösen konnte. Ob der Strafrechtskatalog erweitert werden muß, wird sicherlich im Rahmen einer umfassenden Strafrechtsreform noch zu prüfen sein. Härtere Strafen anzudrohen ist nicht der alleinige Weg, um das Problem zu lösen. Wir brauchen - dies hat die jetzige Bundesjustizministerin bereits 1997 gefordert - ein Bündnis gegen Gewalt und gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern. ({2}) Zu diesem Bündnis gehört nicht zuletzt, Gewalt als Erziehungsmittel zu ächten und Kinderrechte zu stärken. Gewalt erzeugt oft Gewalt. Ein in der Kindheit erlerntes gewalttätiges Verhalten, insbesondere im sexuellen Bereich, wird oft im späteren Leben weitergegeben. Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, daß die gewaltfreie Erziehung von Kindern in die Verfassung gehört, nicht nur der Tierschutz. ({3}) Kindern zu ermöglichen, gewaltfrei aufwachsen zu können, sollte in unserer Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein. Wir wissen, daß die nationalen und internationalen Datenautobahnen völlig neue Möglichkeiten eröffnen, im Dunkel des anonymen Datennetzes die Anbahnung von Kinderprostitution und die Verbreitung von kinderpornographischen Schriften und schrecklichen Darstellungen wesentlich zu erleichtern. Die Anhörung der Kinderkommission zu diesem Thema im November 1995 hat uns dies in erschreckender Weise gezeigt. Mit dem Strafrecht kann man hier nur wenig erreichen. Dringend notwendig ist der Aufbau eines internationalen Netzes gegen Kinderpornographie. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von unserer Fraktion vorgelegten Gesetzentwürfe dienen alle einem Zweck: der effektiven Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere der organisierten Kriminalität. Ich möchte gerne konzedieren, daß auch Sie, Herr Kollege Hartenbach, mit Ihren Gesetzesvorschlägen diesem Ziel dienen wollen. ({0}) Es stellt sich allerdings die Frage, ob Sie mit den vorgelegten Instrumenten richtig liegen. In der Debatte vorhin wurde von der gemeinnützigen Arbeit als einer Strafe gesprochen. Ich habe über viele Jahre hinweg im sozialen Bereich gearbeitet. Ich möchte nicht, daß gemeinnützige Arbeit von Sozialhilfeempfängern, Jugendlichen oder vielen Ehrenamtlichen auf das Niveau einer Strafe gestellt wird. Dies lehnen wir ab. ({1}) Herr Kollege Hartenbach, von einem solchen Vorgehen geht die Botschaft aus, daß das, was andere freiwillig ehrenamtlich tun oder was von Jugendlichen getan werden muß, auf einmal von Menschen gemacht wird, die eine Strafe absitzen müssen. ({2}) Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bevölkerung in unserem Land diese Botschaft richtig versteht. Deswegen sage ich: Vorsicht mit einem solchen Instrument als Mittel der Strafe! ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meyer?

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kauder, ist Ihnen bekannt, daß das geltende Strafrecht die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit bereits vorsieht? Wollen Sie dies als logische Konsequenz Ihrer Ausführungen abschaffen?

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht nicht darum, daß wir etwas abschaffen wollen. Es geht vielmehr schlicht und ergreifend darum, daß wir Ihnen vorwerfen, ein Instrument weiter auszubauen und so den Eindruck zu erwecken, daß eine Ausnahmevorschrift mehr und mehr zur Regel werden könnte. Dagegen wehrt sich unsere Fraktion. ({0}) Die Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere der organisierten Kriminalität, bewegt die Menschen in unserem Land nicht nur; vielmehr betrifft es viele auch persönlich. Es handelt sich um eine Kernaufgabe des Staates schlechthin. Da sich die Kriminalität in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt hat und da auch Bundesinnenminister Schily bei der Vorlage der polizeilichen Kriminalstatistik im Mai hervorgehoben hat, daß von einer Entspannung der Sicherheitslage nicht gesprochen werden kann, müßten die von unserer Fraktion vorgelegten Gesetzentwürfe im Parlament eigentlich eine Mehrheit finden. So wie wir, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, vernünftige Initiativen im Bundesrat nicht blockieren, sollten Sie richtige Initiativen der Opposition unterstützen. ({1}) Sie sprechen mit gespaltener Zunge. Sie sagen in Richtung Bundesrat: Helft uns, Initiativen voranzubringen. Aber wenn wir hier gute Initiativen einbringen, dann machen Sie allein deswegen nicht mit, weil diese Initiativen von der Opposition kommen. Dies paßt nicht zusammen. ({2}) Sie können mit gutem Gewissen kaum das Argument vortragen, unsere Initiativen seien nicht ordentlich; denn die Justizministerkonferenz, die mehrheitlich noch immer von Justizministern mit einer anderen Farbe als der der CDU/CSU besetzt ist, hat im Juni in BadenBaden in großer Einmütigkeit die Fortgeltung des § 12 Fernmeldeanlagengesetz über den 31. Dezember 1999 hinaus gefordert. Mit 16:0 Stimmen ist die Bundesjustizministerin zu einer Verlängerung der jetzigen Regelung aufgefordert worden. Ich kann die Justizministerin nur ersuchen, diesem Beschluß der Justizministerkonferenz nachzukommen. Wenn Sie der Meinung sind, daß jetzt eine Bilanz gezogen werden muß und daß diese Regelung deswegen nicht fortgelten kann, dann kann ich dem nur entgegnen: Von einer vierjährigen Regierungszeit haben Sie über ein Jahr verstreichen lassen, um diese notwendige Bilanz zu ziehen und sich zu entscheiden, ob Sie diesen Gesetzentwurf vorlegen wollen. Sie haben in diesem Punkt schwer versagt. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung für Ihr jetziges Verhalten. Wir könnten uns auf folgendes verständigen: Wir müssen immer berücksichtigen, welche Botschaften von unserem Handeln in die Öffentlichkeit gelangen. Die Botschaft, die davon ausgeht, wenn wir diese Vorschrift nicht verlängern, lautet doch: Es wird nun gar nichts mehr gemacht, weil sie sich nicht bewährt hat. ({3}) Wir können sie doch fortgelten lassen und in der dadurch gewonnenen Zeit noch miteinander über weitere Regelungen sprechen. Aber wenn Sie jetzt sagen, Sie wollen erst eine Überprüfung vornehmen, habe ich angesichts des Schneckentempos, das Sie im ersten Jahr bei ihren Aktivitäten an den Tag legten, die Befürchtung, daß wir bis zum Ende der Legislaturperiode keine Neuregelung haben werden. Das wollen wir von der Union auf gar keinen Fall. Deshalb halten wir uns an das Votum der Fachminister aus den Ländern, die mit 16:0 Stimmen dafür gestimmt haben, und beantragen im Interesse der Menschen, die von Kriminalität betroffen sind, die Verlängerung einer Regelung, die sich bewährt hat. ({4}) - Wenn Sie, Herr Ströbele, sprechen, habe ich immer den Eindruck, daß Sie weniger im Interesse derer sprechen, die von Kriminalität betroffen sind, als im Interesse derer, die Kriminalität begehen. Auch das ist eine falsche Botschaft. ({5}) Wir möchten sicherstellen, daß Kriminalität in unserem Land effektiv bekämpft werden kann. Ich bin der Meinung, daß sich auch die SPD diesem Anliegen nicht verschließen sollte. Wir sind doch alle miteinander der Überzeugung, daß sich die bisherigen Regelungen bewährt haben und die Justiz in unserem Rechtsstaat durchaus in der Lage ist, diese Regelungen so zu handhaben, daß wir nicht befürchten müssen, daß eine solche Volksüberwachung stattfindet, wie sie in früheren Jahren in der DDR üblich war. Deswegen weisen die von uns vorgelegten Anträge den richtigen Weg und kommen so zeitgerecht, daß gute Regelungen nicht außer Kraft gesetzt werden müssen. Sie tragen, wenn Sie diesem Gesetz nicht zustimmen, die Verantwortung dafür, daß der Justiz ein wichtiges Handlungsinstrument aus der Hand genommen wird. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Erika Simm, Sie haben für die SPD-Fraktion das Wort.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beabsichtige, zu zwei der acht Gesetzesinitiativen zu sprechen, und zwar zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung und zum Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als strafrechtliche Sanktion. Zum ersten Gesetz: Bei der Strafaussetzung zur Bewährung handelt es sich um ein scheinbar nicht allzu bedeutendes Detail, was aber in der Praxis als sehr unbefriedigend empfunden wird, weil es bei einer nachträglichen Strafaussetzung zur Bewährung im Gesetz in zwei Fällen eine Lücke gibt: zum einen bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung und zum anderen bei der Aussetzung einer Reststrafe nach Teilverbüßung im Strafvollzug. Wenn eine Strafaussetzung erfolgt, obwohl der verurteilte Täter vor der Entscheidung über die Strafaussetzung eine neue Straftat begangen hatte, von der das Gericht aber entweder noch nichts wußte oder nur ein Tatverdacht bekannt war, aber bis dahin kein hinreichender Tatnachweis geführt werden konnte, kann es nach der geltenden Rechtslage zu der Konstellation kommen, daß kein Bewährungswiderruf möglich ist, wie es sonst der Fall wäre, weil dieser nur auf eine neue Tat oder ein neues Straffälligwerden während der Bewährungszeit gestützt werden kann, also nicht auf eines vor Beginn der Bewährungszeit. Es wird als sehr unbefriedigend empfunden, daß eine Strafaussetzung zur Bewährung, die unter Berücksichtigung der neuen Tat nicht gewährt worden wäre, nicht zurückgenommen werden kann. Der Bundesratsentwurf hat zum Ziel, in solchen Fällen einen Bewährungswiderruf zu ermöglichen. Wir halten das in der Sache für vernünftig, plädieren allerdings dafür, daß man daraus nicht ein Einzelgesetz macht, sondern es in den Komplex der Reform des Sanktionensystems einbezieht, um die Praxis nicht permanent mit einer Vielzahl von Einzelgesetzen zum Strafrecht zu bombardieren. Das war ja in den letzten Jahren ein großes Problem. Der zweite Gesetzentwurf zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als Sanktion ist ebenfalls eine Bundesratsinitiative. Er wird im Grundsatz von der SPDFraktion unterstützt, wobei ich allerdings - da sage ich jetzt meine persönliche Meinung - meine, daß die Art und Weise, wie das Problem dort angegangen werden soll, wenig praktikabel ist und in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen wird. Man überlege nur einmal, wie eine Tenorierung eines solchen Urteils aussehen würde. Es würde in etwa lauten: Der Angeklagte wird zu einer Geldstrafe von soundso viel Tagessätzen und im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von soundso viel Tagen verurteilt. Ihm wird gestattet - wie auch immer das die Juristen formulieren -, statt dessen eine freiwillige Arbeitsleistung von soundso viel Stunden zu erbringen. Ich denke, für einen Angeklagten ist es schon schwierig genug, zu verstehen, wozu er verurteilt worden ist. In der Vollstreckung wird es aber noch viel komplizierter. Vorrangig ist die gemeinnützige Arbeitsleistung zu vollstrecken. Wenn er diese nicht ableistet, dann kann die Vollstreckung der Geldstrafe angeordnet werden. Wenn er nicht zahlt, dann kann die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet werden. Wenn er nachweist, daß er vermögenslos geworden ist, kann er statt der Zahlung der Geldstrafe eine entsprechende gemeinnützige Arbeitsleistung erbringen. Damit schließt sich der Kreis. Es entsteht ein endloses Vollstreckungsverfahren, das durch jeweils anfechtbare Entscheidungen unterbrochen wird. Ich denke, das kann nicht das Ziel einer effektiven Strafrechtspflege sein. Deswegen sollten wir uns etwas anderes überlegen. Ich weiß, daß es dazu in der diesbezüglichen Kommission des Justizministeriums Überlegungen gibt - auch solche, die verfassungsrechtlich unbedenklich sind, weil sie auf einem gewissen Freiwilligkeitsprinzip basieren. Dem sollten wir folgen. Wir sollten uns Zeit nehmen, über eine Lösung und all ihre Konsequenzen ordentlich nachzudenken. Ich habe ebenso Zweifel, ob der Entwurf des Bundesrates die weiteren Folgewirkungen der geplanten Regelung, wie sie hier vorgeschlagen wird, ausreichend erfaßt und ob zum Beispiel bedacht wurde, wie eine nicht ausgeführte Arbeitsleistung auf die Dauer einer Freiheitsstrafe umzurechnen ist. Das alles ist mir nicht ganz klar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Schluß einen Appell an Sie richten, der sich auf eine Erfahrung der letzten Legislaturperiode bezieht. Wir haben im Bereich des Strafrechts in einem zum Teil unangemessenen Tempo - um nicht zu sagen: im Schweinsgalopp - eine Vielzahl von neuen Gesetzen beschlossen, die dazu geführt haben, daß unser Strafgesetzbuch zu einem Flickenteppich geworden ist, es eine Vielzahl von rechtsdogmatischen bzw. rechtstechnischen Brüchen gibt. Die Praxis versteht zum Teil nicht mehr, warum wir solche Gesetze beschließen, und kann sie nicht mehr nachvollziehen - und das nicht nur, weil ständig neue Ergänzungslieferungen für die entsprechenden Loseblattsammlungen kommen. ({0}) Wir müssen uns trotz der hier angemahnten Eile die für die Einbringung von Gesetzen nötige Zeit lassen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Simm, Sie haben das Stichwort Zeit schon gegeben.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bereits dabei, zum Schluß zu kommen. - Wir müssen wieder ein Strafgesetzbuch aus einem Guß haben. Ich bitte Sie dabei um Ihre Unterstützung. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Simm, Sie haben in Ihrem Rückblick auf die letzte Legislaturperiode davon gesprochen, daß die damalige Regierung bei der Reform des Strafgesetzbuchs ein unangemessenes Tempo vorgelegt habe und daß ein Gesetzesantrag den anderen gejagt habe. Charmanter kann man eigentlich die Untätigkeit der neuen Regierung nicht beschreiben, als auf diese Art und Weise den Eindruck zu erwecken, als sei das, was vorher gewesen ist, schädlich gewesen. ({0}) Ich will nur daran erinnern, daß Sie zum großen Teil zugestimmt haben. Es ist ganz amüsant, zu beobachten, wie die Redner der Regierungskoalition die eigene Untätigkeit zu verdecken suchen. ({1}) Wir haben ja mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß der Bundeskanzler gesagt hat, Gründlichkeit solle jetzt vor Schnelligkeit gehen. Aber: Wer langsam ist, ist noch lange nicht gründlich. ({2}) Ein wesentliches Beispiel dafür hat Kollege Kauder in seiner Rede geliefert. Der Punkt, zu dem ich jetzt etwas sagen will, ist ebenfalls ein Beispiel für Ihre beeindrukkende Langsamkeit: die Kronzeugenregelung. Sie treten plötzlich dafür ein, daß sie einer Überprüfung, einer Bilanzierung, unterzogen werden soll. Wenn wir jetzt aber als Gesetzgeber das Gesetz auslaufen lassen würden, wäre die Folge, daß wir überhaupt nicht mehr zu einer vernünftigen Bilanzierung kommen können. Ein Jahr ist doch wirklich genug Zeit, um auf vernünftige Weise Bilanz ziehen zu können. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Frage diskutieren, ob man nicht, wie der Kollege van Essen angeregt hat, zu einer endgültigen Regelung kommen soll. Die Tatsache, daß Sie bisher diese Bilanzierung unterlassen haben, erweckt bei uns den zutreffenden Eindruck, daß Sie ein Interesse daran haben, die Kronzeugenregelung auf diese Weise sang- und klanglos zu beerdigen. ({3}) Sie sollten dann aber wenigstens den Mut haben, dazu zu stehen, anstatt dilatorischen Attentismus zu einem wesentlichen Merkmal Ihrer Rechtspolitik zu machen. Ich will einige Beispiele nennen. Weil diese Bilanzierung von Ihnen verweigert worden ist, haben wir uns vor dem Einbringen dieses Verlängerungsgesetzes an die Justizminister der Länder gewandt und haben sie um eine Stellungnahme gebeten. Dabei ist herausgekommen, daß es eine ganze Reihe von positiven Wirkungen gegeben hat, die mit der Kronzeugenregelung verbunden sind. Sicherlich ist das Ziel, aktive Terroristen aus dem Kreis der RAF herauszubrechen, nicht erreicht worden. Meiner Meinung nach ist es aber auch dasjenige Ziel gewesen, das am unrealistischsten gewesen ist. ({4}) - Nein, das ist nicht wahr. Herr Kollege Ströbele, denken Sie an die organisierte Kriminalität, die einen ganz anderen Punkt berührt. ({5}) Ich will darauf hinweisen, daß die Schwächung terroristischer Vereinigungen und daß die Wiederaufnahme von immerhin 23 Verfahren darauf zurückzuführen sind. Außerdem ist der Zusammenhang zwischen der Auflösung der RAF und der Einführung der Kronzeugenregelung durchaus feststellbar. ({6}) Ich will das an einem Zitat deutlich machen. Kollege Professor Meyer hat in der letzten Debatte, die wir zu diesem Thema geführt haben, die Aussage der ehemaligen Palästinenserin Andrawes als Argument gegen die Kronzeugenregelung angeführt. Er hat in diesem Zusammenhang gesagt: Was die Aussage der Kronzeugin angeht, ist es ganz offensichtlich und für jeden nachprüfbar, daß man von einem Erfolg der Kronzeugenregelung nicht sprechen könne. - Das haben Sie in der Debatte gesagt. Ich will Sie jetzt mit der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters konfrontieren. Die „Welt“ vom 20. November 1996 schreibt dazu: Dennoch habe sich Andrawes bei der „arbeitsteiligen Tötung des Flugkapitäns Jürgen Schumann“ durch den Terroristenchef des gemeinschaftlichen Mordes schuldig gemacht. Es sei dem Gericht nicht leichtgefallen, vom Mord-Strafmaß „lebenslänglich“ abzuweichen. Weiter heißt es, das Gericht habe so entschieden, weil es in der Verhandlung festgestellt habe, daß Frau Andrawes „nicht aus niedrigen Beweggründen“ gehandelt habe, sondern auf die Lage des palästinensischen Volkes habe hinweisen wollen. Die „Welt“ zitiert die Urteilsbegründung weiter: Durch „ausführliche Einlassungen“ zur Tatbeteiligung von Monika Haas habe Andrawes jedoch die Voraussetzungen der Kronzeugenregelung erfüllt. Das Beispiel, das Sie in Ihrer Rede von 1996 gegen die Kronzeugenregelung angeführt haben, ist durch den Vorsitzenden Richter in der Urteilsbegründung also widerlegt worden. ({7}) Ich will darauf hinweisen, daß es noch eine ganze Reihe von Erfolgen im Kampf gegen die Camorra gibt und daß insbesondere im Kampf gegen die PKK auf die Kronzeugenregelung nicht verzichtet werden kann, weil es in diesem Bereich nur sehr schwer möglich ist, verdeckte Ermittler einzuschleusen. ({8}) Ich darf Sie deswegen herzlich auffordern: Führen Sie endlich die Überprüfung durch, die Sie angekündigt haben! Bilanzieren Sie! Dann wollen wir vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse darüber diskutieren, ob die Kronzeugenregelung fortbestehen kann. Verschleppen Sie nicht, tragen Sie nicht dazu bei, daß die wichtigen kriminalpolitischen Erfolge, die wir erreicht haben, sang- und klanglos untergehen! ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns heute in der ersten Lesung ganz unterschiedlicher Einzelgesetze aus unterschiedlichen Bereichen. Es wird - dieser Punkt ist schon ausgeführt worden - die Aufgabe sein, daß dieses Haus und der Rechtsausschuß jedes einzelne Vorhaben nach seinem jeweiligen Eigenwert, der außerordentlich unterschiedlich sein kann, beraten und bewerten. Beim Zuhören der Diskussion amüsierte mich eines ganz besonders, nämlich daß ausgerechnet eine Opposition, die 16 Jahre lang an der Regierung war, ihre Rolle als Opposition nach noch nicht einmal 12 Monaten schon so gut gelernt hat, daß sie der Regierung bereits Untätigkeit vorwirft. ({0}) - Das alles dürfen Sie tun, Herr Geis. Aber die Tatsache, daß Sie in 16 Jahren das, was wir schon eingebracht haben, nicht erreicht haben, ist eines der hübschen Dinge, die Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen sollten. ({1}) - Herr Geis, Sie dürfen doch gleich reden. Das amüsiert mich auch deshalb so ungeheuer, weil Sie so tun, als leide dieses Land an zuwenig Gesetzen. ({2}) Überlegen Sie doch einmal, was Sie damit sagen! Sie sollten einmal die Praktiker fragen, was sie unter diesem Aspekt von der Rechtspolitik der vergangenen vier Jahre halten. ({3}) Dazu hätten Sie jetzt auch auf dem Deutschen Richtertag Gelegenheit gehabt. Dort wurde nämlich gesagt, mehr Gesetze seien überhaupt nicht gut. ({4}) Recht haben sie. Es ist auch nicht unser Ehrgeiz, mehr Gesetze zu machen - auch wenn Sie noch soviel dazwischenrufen -; wir wollen vielmehr gute und richtige. ({5}) - Herr Kauder, wenn Sie es nicht wissen, sage ich es Ihnen: Die Praktiker haben in den vergangenen vier Jahren darunter gelitten, daß Sie immer wieder Einzelaspekte vorgezogen haben und sie die Gesetze noch nicht einmal zur Verfügung hatten, wenn sie sie anwenden mußten, weil alles viel zu hektisch war. ({6}) Ich habe es hier schon vor einem dreiviertel Jahr gesagt und wiederhole es heute: Unser Ehrgeiz ist es, die Neuregelungen in den Rechtsgebieten, die reformiert werden müssen, zu bündeln und in Schwerpunkten einzubringen. Das tun wir auch. Eigentlich wissen auch Sie, daß das richtig ist. ({7}) Noch eines wissen wir aus der Praxis - das wissen im übrigen auch Sie; Herr von Klaeden weiß das ganz besonders gut -: Wenn man ein Rechtsgebiet nach sorgfältiger und ausführlicher Diskussion reformiert hat, sollte man nicht schon nach einem Jahr die eine oder andere Ergänzung, mit der man, Herr Kollege Weiß, nicht durchgekommen ist, als neu präsentieren. Das ist nicht gut und verärgert die Praxis. Ich nenne einen weiteren Punkt. Sie alle wissen ganz genau, daß die Erweiterung des Sanktionensystems zu den Schwerpunkten der Politik dieser Bundesregierung gehört. Anfang des Jahres habe ich ständig auf Fragen geantwortet: Was ist denn eigentlich mit der von uns eingesetzten Kommission? Werdet ihr deren Überlegungen berücksichtigen? - Gerade Sie, Herr Kollege Geis, haben dies in schriftlichen und mündlichen Fragen, auch in persönlichen Gesprächen geäußert. Ich habe Ihnen damals gesagt: Jawohl, das tun wir. Das habe ich übrigens nicht nur deswegen gesagt, weil ich der Meinung bin, daß auch dann, wenn die Regierung wechselt, die Kontinuität vernünftiger Vorhaben gewährleistet sein muß, sondern auch, weil ich der Auffassung bin, daß es sich gegenüber einem ehemaligen Kollegen und Mitglied dieses Hauses, der den Vorsitz übernommen hat, einfach gehört, so zu verfahren. Zudem bin ich daran interessiert, die Erkenntnisse, die sich aus den Diskussionen ergeben haben, in die Eckpunkte, die wir vorbereiten - das wissen Sie -, einfließen zu lassen. Das alles spricht nicht dagegen, daß die Länder, Herr Kollege Weiß, oder auch die Oppositionsparteien Gesetzentwürfe einbringen. Ich sage aber sehr deutlich, daß wir diese schwerpunktmäßig bündeln und unter Berücksichtigung der Erfahrungen und Erkenntnisse diskutieren werden. Danach werden wir sie diesem Haus zur weiteren Behandlung und Diskussion präsentieren. Zu der Erweiterung des Sanktionensystems sind hier einige Überlegungen geäußert worden, die ich teile, andere, die ich nicht teile. Ich will Ihnen sagen, warum wir der Meinung sind, daß wir wahrscheinlich neben der Geld- und Freiheitsstrafe noch andere Möglichkeiten von Strafen brauchen, als sie das Erwachsenenstrafrecht derzeit zuläßt. Wir stellen fest, daß die heute nicht vorhandene Differenzierungsmöglichkeit insgesamt mehr Schwierigkeiten bringt, als sie Nutzen verschafft. Ich will das anhand einiger Punkte belegen. Unsere Gefängnisse sind voll. Ich fange nicht deswegen mit diesem Beispiel an, weil es das wichtigste wäre, sondern weil es ein Problem ist, das uns drückt und hier auch schon angeführt wurde. Wir stellen fest, daß die Zahl der vollstreckbaren Freiheitsstrafen in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist. Wir stellen weiter fest, daß der Anteil von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist. Er lag 1997 bereits bei 27 Prozent. Wir waren uns bisher immer einig, daß eine so kurze Freiheitsstrafe kriminalpolitisch nicht erwünscht ist; außerdem ist sie für den Steuerzahler ungewöhnlich teuer. ({8}) Darüber hinaus stellen wir fest, daß heute weniger Bewährungsstrafen ausgesprochen werden. Auch das führt zu den vollen Gefängnissen, die besonders die Länder drücken. Außerdem ist die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen alarmierend hoch. Warum sage ich das? Ich sage das, weil es gerade bei der letzten Gruppe um Männer und Frauen geht, die zwar straffällig geworden sind, aber von deutschen Gerichten in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu Geldstrafe und nicht etwa zu Haftstrafe verurteilt worden sind. ({9}) Sie können die Strafe aber nicht bezahlen, weil sie arbeitslos oder aus anderen Gründen vermögens- und finanzlos sind. Deshalb kann bei ihnen das Geld nicht eingetrieben werden. Daß man hier den Weg wählt, eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verhängen, ist auch aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch. ({10}) Zudem ist es falsch, gerade bei Menschen, die nicht integriert sind, und mit Rücksicht auf den Steuerzahler, weil wir ganz genau wissen, Herr Kollege Weiß, daß wir etwa 200 bis 250 DM pro Tag im Gefängnis ansetzen müssen. ({11}) - Vielleicht macht Herr Geis auch das billiger. ({12}) - Herr Geis, ich kann Ihnen hier nur antworten. Schon Carlo Schmid hat gesagt: „Bitte schön, wenn Sie einen Zwischenruf machen oder eine Frage stellen, müssen Sie sich darauf einstellen, daß ich antworte.“ So ist das. ({13}) - Ich antworte so, wie es Ihre Frage oder Ihr Zwischenruf verlangt. Im übrigen sind Sie ja nachher dran, Herr Geis. Dieses alles werden wir berücksichtigen. Ich bin der Meinung, daß eigentlich nichts für Ersatzfreiheitsstrafen, aber viel für gemeinnützige Arbeit spricht. Lassen Sie mich eines dazu sagen - das richtet sich auch an den Kollegen Weiß und an diejenigen von der CDU/CSU, die hier Skepsis geäußert haben, weil wir zuwenig gemeinnützige Arbeit hätten -: Ich habe den Eindruck, daß man noch gar nicht versucht hat, entsprechende Möglichkeiten zu schaffen und die Plätze dafür zur Verfügung zu stellen. Das wird eine der Aufgaben sein. Das ist auch eine Bitte und ein Ersuchen an die Länder, zu schauen, was hier geht. Eine solche Regelung wäre zum einen unter Vernunftsgesichtspunkten, zum anderen aber auch unter Kostengesichtspunkten vorteilhaft. Von daher sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, wie man das am vernünftigsten organisiert und wie wir hier am schnellsten weiterkommen, übrigens nicht nur mit Blick auf diejenigen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und nicht bezahlen können. Es gibt ebenso die andere Gruppe, die heute jede Strafe aus der Hosentasche bezahlt und an der deshalb der Denkzettelcharakter einer derartigen rechtsstaatlichen Strafe abprallt. Auch hier gibt es Notwendigkeiten, denen wir uns stellen müssen. Jetzt kommen wir zum Thema sexueller Mißbrauch. Hier haben wir einen Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, der über den Bundesrat eingebracht worden ist. Dieser Vorschlag ist in der Tat schon vor gut einem Jahr diskutiert worden. Ich habe nicht den Eindruck, Herr Kollege Weiß, daß Sie den Kollegen van Essen richtig verstanden haben. Ich glaube nicht, daß es Arroganz war, als er Ihnen hier die Gründe vorgetragen hat, warum dieser bayerische Vorschlag damals erwogen, aber abgelehnt wurde, und zwar von der Mehrheit des Hauses über alle Parteien hinweg. Die Überlegung ist die, daß nicht genügend Gründe dafür sprechen, zumal - da hat Frau Brandt-Elsweier völlig recht - es hier nicht um die Frage der Anstiftung gehen kann. Es gibt eine andere Überlegung, die ich jetzt in den Raum stellen möchte. Das Ziel, der Schutz der Kinder, ist etwas, was uns verbindet. Das ist völlig klar und auch in vielen Diskussionen deutlich geworden. Die Frage ist: Wie können wir dieses Ziel am besten erreichen? Da sind alle gefordert. Wenn wir die Erfahrungen mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz vorliegen haben, werden wir das zu geeigneter Zeit gebündelt im Bundestag einbringen. Sie wissen, ich bin immer in Kontakt mit den Ländern und versuche, die Erfahrungen zu bekommen. Wir haben jedoch noch keine Erfahrungen aus den Ländern - auch aus Bayern nicht, um das einmal ganz klar zu sagen. Aber wenn es soweit ist, werden wir die Erfahrungen prüfen und gegebenenfalls Gesetzeslücken schließen. Meine Damen und Herren, der Schutz der Kinder insbesondere vor Wiederholungstätern hängt aber auch von der Anwendung der Gesetze ab. Das ist Sache der Gerichte und der Strafverfolgungsorgane in der Verantwortung der Länder. Hier sind wir es allen Eltern schuldig, deren Kinder Opfer dieser schrecklichen Verbrechen geworden sind, die Schwachstellen sorgfältig zu durchdenken. Das werden wir auch tun. ({14}) Deswegen habe ich die Bitte, daß niemand, der hier einen Gesetzesvorschlag präsentiert, meint, damit von möglichen Schwachstellen in der Rechtsanwendung ablenken zu können. Das wäre falsch, und wir werden das auch nicht zulassen; denn das bedeutete Steine statt Brot für die Eltern gerade in einem Bereich, in dem sie alle auf uns vertrauen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir in diesen elfeinhalb Monaten ein Gesetz erarbeitet haben - es ist wirklich sorgfältig durchdacht -, an dessen Inhalt Sie sich in 16 Jahren nie ernsthaft herangetraut haben, meine Damen und Herren von der Opposition, nämlich das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999. ({15}) Ich weiß, daß wir bei diesem Gesetz die Länder und deren Goodwill brauchen, wenn wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 umsetzen wollen. Anderenfalls können sie dieses Gesetz im Bundesrat scheitern lassen. Ich sage das, damit jeder weiß, was seine Verantwortung ist. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß man mit dem Bundesrat über die Notwendigkeit der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht nur reden kann, sondern daß dieses Stück demokratischer Rechtskultur in unserem Lande erhalten und ausgebaut werden kann, ganz egal, welcher Parteizugehörigkeit die jeweils zuständigen Minister sind. Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen. Herr Kollege Weiß, Sie haben die Frage der Telefonkontrolle angesprochen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir werden die Maßnahmen, die zur Verfolgung schwerster Verbrechen eingesetzt werden müssen, zusammen mit den Ländern immer wieder auf den Prüfstand stellen und diskutieren und möglicherweise auch zu anderen Ergebnissen kommen. Die Bundesregierung - übrigens schon die alte - hat im Zusammenhang mit der Änderung des Art. 13 des Grundgesetzes den Auftrag übernommen, sehr sorgfältig zu überprüfen, ob die Vermutung stimmt, daß die Telefonkontrolle über das Maß des wirklich Notwendigen hinausgeht. Wir haben uns an die Länder gewandt - das konnten wir leider in den Schubladen der letzten Regierung nicht vorfinden - und sie gebeten, uns ihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Wir werden das dann aufbereiten und im Lichte dieser Erkenntnisse den gesamten Komplex - auch die Frage des Straftatenkatalogs - der Telefonkontrolle besprechen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung weiß sehr genau, daß Bürgerrechte und Strafverfolgung keinen Gegensatz bilden, sondern zwei notwendige Seiten unseres Rechtsstaates sind. Dabei soll es auch bleiben. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner ist der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie von der Koalition müssen sich entscheiden: Entweder hat die alte Bundesregierung nichts geleistet; dann hat Frau Simm nicht recht. Oder aber es ist wahr, daß wir 1997 und 1998 mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz eines der größten Gesetzgebungsvorhaben seit den 70er Jahren durchgezogen haben, wie es die Fachwelt sagt. ({0}) Sie haben immer wieder versucht, uns bei diesem Vorhaben zu hindern, und wir mußten uns anstrengen, diese Behinderung zu überwinden. Das ist uns aber auch gelungen. ({1}) Das StVÄG, das Sie, lieber Herr Meyer, mir so sehr vorgehalten haben, haben wir zu Ende beraten, und Sie, verehrte Frau Ministerin, haben das ja auch zugegeben. Wahr ist, daß dieses Gesetzgebungsvorhaben letztendlich daran gescheitert ist, ({2}) daß wir keine Debatte im Bundestag mehr haben wollten. Das war nämlich die letzte Sitzung der letzten LeBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin gislaturperiode, die wir noch im September hatten. Da konnten nur Vorhaben verabschiedet werden, die ohne Debatte durchgezogen werden konnten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Geis, gehen Sie mit mir einig, ({0}) daß die Nichtverabschiedung dieses Strafverfahrensänderungsgesetzes bei Richtern und Staatsanwälten faktisch dazu geführt hat, daß sie, wenn sie die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichtes anlegen, in die Illegalität getrieben werden, weil sie ohne ausreichende gesetzliche Grundlage ihren Beruf ausüben müssen, wenn sie beispielsweise Menschen zur Fahndung ausschreiben, ob als Beschuldigte, als Verdächtigte oder als Zeugen?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, Sie lächeln selber bei Ihrer Frage. Sie wissen, daß das nicht wahr ist. Seit diesem Urteil, seit 1982, bestätigen die die Urteile, die bis zu Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht hinauf gelangen. Keinesfalls ist es irgendeinem Gericht eingefallen zu sagen: Weil nun dieses Strafverfahrensänderungsgesetz noch nicht alle Regelungen zusammenfaßt, die in einzelnen Gesetzen schon vorhanden sind, ist das Urteil ungültig oder rechtsfehlerhaft. Das kann ich nur mit Nein beantworten. Ich will Ihnen, lieber Herr Meyer, beantworten, warum es letztendlich doch nicht zur Verabschiedung gekommen ist. Es ging um den mißliebigen Punkt, daß Daten, von der Polizei in einem bestimmten Strafverfahren rechtmäßig aufgenommen, nicht in einem anderen Strafverfahren verwendet werden können - so die Regelung des jetzt von Ihnen vorgelegten Gesetzes und auch die Regelung des ursprünglichen Gesetzes. Dazu gibt es eine Bundesgerichtshofsentscheidung, die besagt, daß diese rechtmäßig aufgenommenen Daten auch in einem anderen Strafverfahren ohne weiteres angewendet werden können, ohne daß dies rechtsfehlerhaft wäre. Ihr Vorschlag geht im Grunde hinter die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zurück. Das ist unser Problem. Deswegen haben wir das damals abgelehnt. Ich bitte, das so zu sehen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Frau Ministerin, wir beschäftigen uns heute mit zwei Gesetzen der Unionsparteien. Es geht, wie wir schon gehört haben, um das Kronzeugen-VerlängerungsGesetz und um das Fernmeldeanlagengesetz. Beide Vorschriften müssen verlängert werden, wenn sie über das Jahr 1999 hinaus in das Jahr 2000 hinein Geltung haben sollen. Wir sind der Auffassung, daß diese Gesetze richtig sind und daß sie weiter gelten sollen. Deswegen müssen wir die Entwürfe jetzt einbringen. Darüber kann es doch keine Aufregung geben. Ob man die Verlängerung will oder nicht, ist eine andere Frage. Der allergrößte Teil der Vorlagen, die heute beraten werden, stammt vom Bundesrat. Der Bundesrat war, wie Sie wissen, damals, als diese Vorhaben verabschiedet wurden, von der SPD dominiert. Die Mehrheit bestand aus SPD-Regierungen. Sie wollten die Änderungen haben. Jetzt geht es darum, daß wir die vom Bundesrat kommenden Änderungsvorschläge endlich beraten. Was sonst tun wir? Da kann man uns doch nicht vorwerfen, wir wollten einem Gesetzgebungsvorhaben vorgreifen, das Sie ständig - seit einem halben Jahr, seit einem Dreivierteljahr - in der Presse ankündigen. Wir greifen dem doch nicht vor. Wir setzen nur die Vorschläge des Bundesrates auf die Tagesordnung. Das wollen wir beraten. Die Vorschläge kommen vom damals SPDdominierten Bundesrat; bleiben wir also bei der Wahrheit. Wir kommen zu den Vorhaben zur Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten. Ich meine, daß wir bei der jetzt auf uns zukommenden Diskussion über Ihren „großen Wurf“ bestimmte Punkte zu berücksichtigen haben. Zunächst müssen wir dafür Sorge tragen, daß der bestehende Strafrahmen ausgenutzt wird. Wir haben in der Tat ein Süd-Nord-Gefälle in Deutschland. Der Strafrahmen wird, je weiter man nach Norden kommt, seltener ausgenutzt als in den südlichen Ländern. Das dient bei der wachsenden Kriminalität nicht der Kriminalitätsbekämpfung; das ist geradezu ein Ergebnis der wachsenden Kriminalität. ({1}) Ich will also dafür plädieren, unser erstes Augenmerk darauf zu richten. Weiterhin geht es darum, daß wir die Generalprävention des Strafrechtes ernst nehmen. Es wird zwar immer behauptet, das spiele für den Einzelstraftäter keine Rolle, der Einzelstraftäter werde sich danach nicht richten. Das Gegenteil ist aber richtig. Jeder Straftäter kalkuliert: Werde ich ertappt, was habe ich - wenn ich ertappt werde - vor Gericht zu erwarten, und wie sieht der Strafvollzug aus? Diese Kalkulation des Straftäters bedingt und verursacht die Generalprävention des Strafrechtes. Ich möchte die Generalprävention also nicht heruntergeredet wissen. Ein weiterer Punkt, den wir bei der Gesamtdiskussion berücksichtigen sollten, ist, daß es uns bei allen Sanktionen, die wir ändern wollen, immer um den Schutz der Rechtsordnung gehen muß. Es dürfen bei einer Straftat nicht nur der Täter und nicht nur die Verletzung des Opfers gesehen werden, sondern es muß auch gesehen werden, daß bei jeder Straftat die Rechtsordnung insgesamt verletzt wird. Das muß man, glaube ich, immer im Hinterkopf behalten. Der letzte Punkt in diesem Zusammenhang ist, daß wir nicht allzu viel vom Täter-Opfer-Ausgleich erwarten sollten. Ich will ihn nicht kleinreden. Wir haben den Täter-Opfer-Ausgleich 1994 im Verbrechensbekämpfungsgesetz zum erstenmal gesetzlich verankert - ich bin auch sehr dafür. Nur, es muß immer wieder bedacht werden, daß es beim Täter-Opfer-Ausgleich nie um das Opfer allein geht. Vielmehr stehen neben dem Opfer noch andere: die Verwandten, die Bekannten, die Freunde. Diese kann man nicht erfassen. Darum muß bei dieser Diskussion immer wieder bedacht werden, daß es beim Strafverfahren auch und vor allem um die Wiederherstellung des Rechtes geht. Das Recht muß sich durchsetzen; nur dann kann Rechtsfrieden entstehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei oder drei Sätze zu Einzelpunkten sagen. Aus dem Bundesrat kommt ein Vorschlag zum Strafrecht beim sexuellen Mißbrauch von Kindern. Verehrter Herr Justizminister, wir haben uns in der damaligen Debatte sehr genau überlegt, ob wir die Grundtatbestände beim Vergehen belassen und nur die schwereren Straftaten in die Ebene des Verbrechens hineinbringen. Das haben wir sehr lange diskutiert. Wir sind zum Schluß zu dem Ergebnis gekommen - es gab viele Gründe dafür, aber das war für mich der entscheidende Grund, den ich vorzutragen versuche -: Wenn wir von Anfang an alle solche Taten zu Verbrechen hochstufen, dann werden wir erleben, daß die Staatsanwaltschaften Verfahren schneller einstellen. Solche Vergehen im unteren Bereich, wenn sie zu Verbrechen hochgestuft werden, lassen der Staatsanwaltschaft keine andere Reaktionsmöglichkeit als die der Anklage. Wenn wir es aber in diesem unteren Bereich bei Vergehen belassen, bestehen eine ganze Reihe von Reaktionsmöglichkeiten zum Beispiel Strafbefehl, in niedrigsten Fällen vielleicht auch die Einstellung des Verfahrens. Wir meinen, daß wir der Strafverfolgung damit besser dienen, weil wir auf diese Weise verhindern, daß Vergehen, die zu Verbrechen hochgestuft werden, von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt und daß die Verfahren eingestellt werden, weil sie meint, es sei doch kein Verbrechen. Das war unsere Grundüberlegung. Wir werden diesen Vorschlag des Bundesrates, der uns ja 16 zu 0 vorgelegt wird, aber wohl bedenken und auch wohl beraten. Lassen Sie mich noch einen Gedanken zur sogenannten elektronischen Fußfessel einbringen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Geis, Sie müssen zum Schluß kommen. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein Gedanke noch, Frau Präsidentin. Die elektronische Fußfessel ist meiner Meinung nach ein Thema, das man zu diskutieren hat. Wir sollten es aber nicht unter fiskalischen Aspekten diskutieren, wir sollten es nicht unter der Überschrift diskutieren: Leeren wir damit unsere Gefängnisse? Das kann nicht die Grundvoraussetzung für eine Einführung sein. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 14/1315, 14/1107, 14/761, 14/762, 14/1125, 14/1467, 14/1519 und 14/1484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 j auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 ({0}) - Drucksache 14/1721 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Innenausschuß Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Haushaltsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushalts ({2}) - Drucksachen 14/1636, 14/1680 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften ({4}) - Drucksachen 14/1655, 14/1720 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({5}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Haushaltsausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Italienischen Republik und der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Gründung der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation ({6}) OCCAR ({7}) - Drucksache 14/1709 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({8}) Auswärtiger Ausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Änderung währungsrechtlicher Vorschriften infolge der Einführung des Euro-Bargeldes ({9}) - Drucksache 14/1673 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({10}) Rechtsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - Drucksache 14/1666 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({11}) Finanzausschuß g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll zur Änderung des Übereinkommens vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnbe- richtigungen zwischen verbundenen Unter- nehmen - Drucksache 14/1653 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß h) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte - Drucksache 14/1661 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({12}) Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der Deutschen Siedlungsund Landesrentenbank in eine Aktiengesellschaft ({13}) - Drucksache 14/1672 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS Entkriminalisierung des Gebrauchs bislang illegaler Rauschmittel, Legalisierung von Cannabisprodukten, kontrollierte Abgabe sogenannter harter Drogen - Drucksache 14/1695 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({14}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1721 soll zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1245, der bereits in der 49. Sitzung an die Ausschüsse überwiesen worden ist, soll ebenfalls zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Beschlußfassung über eine Reihe von Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 a auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({15}) - Drucksache 14/866 ({16}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({17}) - Drucksache 14/1729 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Graf ({18}) Martin Hohmann Cem Özdemir Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ulla Jelpke Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1729, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Vizepräsidentin Petra Bläss Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 79 zu Petitionen - Drucksache 14/1684 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 79 mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 c auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 80 zu Petitionen - Drucksache 14/1685 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch die Sammelübersicht 80 einstimmig angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 d auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 81 zu Petitionen - Drucksache 14/1686 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 81 gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 e auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 82 zu Petitionen - Drucksache 14/1687 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 82 gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 f auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 83 zu Petitionen - Drucksache 14/1688 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 83 gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({24}) zu dem Antrag der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streitkräfteverband in Osttimor ({25}) zur Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolution 1264 ({26}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September 1999 - Drucksachen 14/1719, 14/1754 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({27}) Dr. Helmut Lippelt Wolfgang Gehrcke Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 16. September 1999 hat der Bundestag einen Antrag zur Lage in Osttimor beschlossen. Dort heißt es: Der Deutsche Bundestag begrüßt die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates zu einem Mandat nach Kapitel 7 der UN-Charta für eine internationale Friedenstruppe für Osttimor. Mord, Terror und Vertreibung in Osttimor durch die indonesischen Milizen müssen unverzüglich beendet werden … Die Aufgabe der Friedenstruppe ist es, die Menschen zu schützen, Frieden und Sicherheit in Osttimor wiederherzustellen und das Ergebnis der Volksbefragung vom 30. August 1999 umzusetzen. Die entscheidende Frage, vor der die Bundesregierung demnach stand und vor der auch der Deutsche Bundestag steht, ist, ob sich die Bundesrepublik Deutschland daran beteiligen wird und, wenn ja, in welchem Umfang sie sich beteiligen wird. Wir sind der Meinung, daß die Bundesrepublik Deutschland einer besonderen Verpflichtung unterliegt, dieses Thema sehr sorgfältig zu prüfen. Ich habe in der damaligen Debatte bereits angekündigt, daß wir humanitäre Hilfe leisten wollen. Humanitäre Hilfe heißt in diesem Zusammenhang vor allen Dingen, daß wir uns am Wiederaufbau und an der unmittelbaren Katastrophenhilfe beteiligen. Vizepräsidentin Petra Bläss Wir sind aber auch der Meinung, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten einen Beitrag für Interfet, für die internationale Friedenstruppe, leisten sollten. Dieser Beitrag soll nicht durch Kampftruppen und Kampfverbände gestellt werden, sondern durch Sanitätssoldaten. ({0}) Die Bundesregierung hat beschlossen, Interfet bis zu 100 Soldaten eines Sanitätskontingents zur Verfügung zu stellen. Wir haben darüber in den Ausschüssen ausführlich beraten. Lassen Sie mich hier nochmals kurz die Gründe darstellen. Es war die Initiative der indonesischen Regierung von Präsident Habibie, eine Volksabstimmung vorzuschlagen und in einer Dreiparteienvereinbarung mit Portugal, Indonesien und dem UN-Generalsekretär zu einer solchen Volksabstimmung zu kommen. Diese Volksabstimmung führte zu einer fast achtzigprozentigen Zustimmung der Bevölkerung zur Unabhängigkeit. Bischof Belo hat mir letzte Woche persönlich gesagt: Wir wollen keine Indonesier werden. Nach dieser Volksabstimmung unter Aufsicht der Vereinten Nationen wurde eine Orgie der Gewalt losgetreten. Die Unabhängigkeit sollte gewaltsam unterdrückt werden, respektive das Land sollte durch Zerstörung, durch Massenmord und Vertreibung zur Unabhängigkeit unfähig gemacht werden. Dieses war nicht hinnehmbar. Die internationale Staatengemeinschaft hat alle Möglichkeiten genutzt, die Zustimmung Indonesiens, das seinen eigenen Demokratisierungsprozeß substantiell gefährdet hat, zu einer entsprechenden Sicherheitsratsresolution herbeizuführen. Diese Sicherheitsratsresolution 1264 ist dann bei Zustimmung aller Sicherheitsratsmitglieder zustande gekommen. Die Volksrepublik China hat ebenfalls eine sehr konstruktive Rolle dabei eingenommen. Die Konsequenz daraus ist, daß eine internationale Friedenstruppe - keine Blauhelmtruppe - als „coalition of the willing“ aufgestellt wurde. Von Anfang an haben sich auch unsere wichtigsten europäischen Partner bereit erklärt, sich daran zu beteiligen: Frankreich, Großbritannien, Portugal, Italien, aber auch Norwegen und Schweden. Die entscheidende Frage, die sich für uns stellte, war, ob wir uns bei diesem Thema abseits stellen können oder ob wir uns nicht im Rahmen unserer vertretbaren Möglichkeiten beteiligen müssen. Meine Damen und Herren, wenn wir uns hier nicht beteiligt hätten, wäre der Eindruck entstanden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland auf Europa zurückzieht, daß wir uns zwar im Kosovo mit allem, was wir haben, und bei jedem Risiko engagieren, daß wir aber nicht bereit sind, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern für die Vereinten Nationen Solidarität zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Dieses wäre eine falsche Entscheidung gewesen. ({1}) Wenn ich heute höre, daß dieses Prestigepolitik sei, dann möchte ich jenen, die so etwas sagen, nur entgegenhalten: Wir haben Interessen, und in der Welt von morgen werden die Vereinten Nationen als Plattform unserer Interessen eine wesentlich größere Rolle als in der Vergangenheit spielen. ({2}) - Was die Präsenz Deutschlands betrifft, was die Fähigkeit Deutschlands betrifft, den Kurs der Vereinten Nationen zum Beispiel auch in den Unterorganisationen aktiv mitzugestalten, so wird dies im Zeitalter der Globalisierung zukünftig verstärkt in unserem Interesse liegen. Weiterhin liegt es in unserem Interesse, daß das Gewaltmonopol der Zukunft in der Tat bei den Vereinten Nationen im internationalen Staatensystem ist und nicht sonstwo. ({3}) Aus all diesen Gründen, aus VN-politischen Gründen, aus europapolitischen Gründen, können wir nicht über eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, über eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik sprechen und uns dann, wenn es in der Tat unsere Partner betrifft - auch Portugal ist unser Partner -, ausklinken. Wir sind dafür in der Europäischen Union zu bedeutsam. Auf Deutschland wird in diesem Punkt zu sehr geschaut. Ich kann an dieser Stelle nur hinzufügen: Sowohl was unser Engagement in den Vereinten Nationen als auch was unser Engagement in Europa betrifft, ist dies nicht Prestigepolitik, sondern eine zukunftsorientierte, entlang unseren Interessen in den VN und in Europa orientierte Politik. Wir leisten humanitäre Hilfe und werden sie auch in Zukunft verstärkt leisten. Diese humanitäre Hilfe konnte aber auf Grund der Sicherheitslage nicht abfließen. Ich kann all denjenigen, die meinen, man könnte humanitäre Hilfe im zivilen Bereich Interfet entgegensetzen, nur entgegenhalten, daß die Unterdrückung von Gewalt und von Angriffen auf die zivile Bevölkerung durch diese militärische Intervention auf der Grundlage der Resolution 1264 die Voraussetzung für die Arbeit ziviler Organisationen ist. ({4}) - Es tut mir leid. Ohne Interfet wäre dort das Morden weitergegangen; das müssen wir festhalten. ({5}) Deswegen bin ich mit allem Nachdruck für Interfet und habe mich dafür eingesetzt. Wir haben 1 Million DM für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt, die nicht abfließen konnte; die Kollegin Wieczorek hat unmittelbar 4 Millionen DM aus ihrem Etat für Nahrungsmittelhilfe und für Anlagen zur Wiederaufbereitung von Trinkwasser zur Verfügung gestellt. Wir werden weitere Wiederaufbauhilfen zur Verfügung stellen: Wir haben uns bereit erklärt, bis zu zehn Juristen für die zivile Verwaltung zu finanzieren, weil dort die Zivilverwaltung faktisch völlig zusammengeBundesminister Joseph Fischer brochen ist. Das alles ist für die Entwicklung eines unabhängigen Osttimors von entscheidender Bedeutung. Ich fasse all unsere Gründe noch einmal zusammen: Abwehr einer humanitären Katastrophe durch den Einsatz von Interfet, Umsetzung eines freien Votums der beeindruckenden Mehrheit dieser Bevölkerung, unsere Solidarität mit den Vereinten Nationen, unsere Solidarität mit unseren europäischen Partnern, unsere Interessen in Europa und in den Vereinten Nationen. Ich füge hinzu - hier sieht sich die Bundesrepublik in Kontinuität -: Wenn wir uns dort mit dem Beitrag, den wir heute hoffentlich beschließen, zurückgehalten hätten, dann würden wir sofort gefragt, warum wir zu Zeiten von Suhartos Diktatur eine aktive Indonesien-Politik betrieben haben, wir uns aber jetzt, wo es um die Umsetzung eines beeindruckenden Votums der Bevölkerung dort unter der Aufsicht der Vereinten Nationen geht, im Gegensatz zu unseren europäischen Partnern zurückhalten. Diesen falschen Eindruck dürfen wir nicht entstehen lassen. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Karl Lamers.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSUFraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Wir tun das aus folgenden Gründen: Wir sehen darin eine im Kern unerläßliche humanitäre Aktion der Vereinten Nationen: Wir haben natürlich ein Interesse daran, daß auch in Zukunft Interventionen, wenn sie notwendig werden, unter der Ägide der Vereinten Nationen stattfinden. Wir haben eine europäische Hinterlassenschaft zu begleichen, für die wir alle mithaften so wie unsere europäischen Partner auch für unsere Vergangenheit. Die anderen Europäer beteiligen sich in zum Teil nennenswertem Maße. Die Bundesrepublik Deutschland hat immer ein besonderes und aktives Verhältnis zu Indonesien gehabt. Wir tun das nicht zuletzt, weil wir - wie dieser Fall belegt - dringendst eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa brauchen, die dieses Mal wieder nicht stattgefunden hat. ({0}) Herr Minister, die Regierung hat uns die Zustimmung nicht nur nicht leicht, sondern wirklich sehr schwer gemacht. Es werden sich nicht alle Kollegen zu einem Ja durchringen, weil - wie dieser Fall zeigt - die Diskrepanz zwischen Ihren Haushaltsvorschlägen, vor allem den für den Verteidigungshaushalt, und dem, was Sie hier vorschlagen, geradezu himmelschreiend ist. Sie sagen: Es gibt immer weniger Geld, aber mehr Aufgaben und damit höhere Ausgaben. Das kann doch nicht richtig sein. ({1}) Wir haben deswegen einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht, der Sie, Herr Minister Scharping, unterstützt. Ich nehme an, daß Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von der SPD, unserem Antrag deswegen zustimmen werden. Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb Sie es uns schwergemacht haben. Herr Minister, Sie haben zunächst vor dem Forum der Vereinten Nationen eine deutsche Beteiligung zugesagt und haben hinzugefügt: Ich bin sicher, daß der Deutsche Bundestag dem in großer Einmütigkeit zustimmen wird. Dann hat die Bundesregierung angekündigt, sie werde eine Beschlußvorlage beschließen. Dann wurde dies verschoben, weil es keine Einigung über die Finanzierung gab. Dann erst hat man begonnen, mit den Fraktionen darüber zu reden. Das hat Ärger nicht nur bei uns, sondern selbstverständlich auch in Ihren Reihen hervorgerufen. Mir ist klar, daß gerade an diesem Beispiel eines bescheidenen Beitrags zu den Interfet-Truppen in Osttimor die Problematik der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sehr deutlich wird. Es handelt sich um einen wirklich sehr bescheidenen Beitrag, man könnte auch sagen: um einen symbolischen Beitrag. Ich bin unbedingt dafür, daß wir ihn leisten. Aber daß sich hiermit der Deutsche Bundestag beschäftigen muß, ist eine Sache, über die man sehr wohl nachdenken muß. Ich habe darauf schon zu Beginn der Diskussion über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Aber nun ist es so, wie es ist. Weil Sie das wissen mußten, war es ein wirklich grober Fehler, etwas zunächst öffentlich zuzusagen und dann erst mit den Fraktionen über dieses Thema zu reden. So geht es nicht, Herr Minister. ({2}) Ich sage wirklich mit allem Nachdruck: Das darf im Interesse der Politik unseres Landes nicht noch einmal vorkommen. Wir wissen doch, daß nach der keineswegs so übermäßig eindeutigen Entscheidung und den keineswegs erfreulichen Erfahrungen während des KosovoKrieges die Stimmung in allen Fraktionen für ein weiteres Engagement nicht gerade sehr glänzend war. Das wissen wir doch alle. Jedenfalls hätten Sie es wissen können und müssen, Herr Minister. In der Debatte in meiner Fraktion hat es eine Reihe von guten Argumenten gegeben - es gab auch weniger gute Argumente, um das klar zu sagen -, die gegen eine deutsche Beteiligung gesprochen haben und sprechen. Welches ist eigentlich die tiefere Ursache für die Skepsis, die allenthalben festzustellen ist? Ich glaube, daß das Gefühl, wir seien hier einem Druck und einem fast unwiderstehlichen Zwang ausgesetzt, bei den Kollegen eine große Rolle spielt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das müssen wir klar sagen: So ist es auch. Sie argumentieren - so habe ich auch argumentiert -: Unsere europäischen Partner beteiligen sich, aber sie haben uns vorher nicht gefragt. Es hat in Europa keine gemeinsame Beschlußfassung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stattgefunden. Wir haben nicht mitwirken können, aber jetzt müssen wir uns beteiligen. Ich halte es für richtig, daß wir uns beteiligen. Aber wer wollte nicht verstehen, daß Kollegen, die sich nicht dauernd mit Außenpolitik beschäftigen, Bedenken und Schwierigkeiten haben? Es ist so, wie es ist. Dies müssen nicht nur die Außenpolitiker entscheiden, sondern das Parlament muß entscheiden. Ich habe Verständnis für die Kollegen, die hier Schwierigkeiten haben. Nach meiner festen Überzeugung müssen wir natürlich verschärft darüber nachdenken, welches die Voraussetzungen sind, welche Kriterien wir anlegen. Ich weiß auch - ich habe das selber einmal getan, übrigens zusammen mit dem Kollegen von Schmude seinerzeit -, daß dies im Einzelfall nur sehr begrenzt möglich ist. Ich gestehe ganz offen: Bei dem Kosovo-Entscheid habe ich gegen meine eigenen Kriterien entschieden. Die sogenannte „exit strategy“, überhaupt die dahinter stehende politische Philosophie, fehlt bis heute, was ich auch immer wieder anmahne. Aber dennoch bestand ein Druck. Es ging nicht anders. Es war richtig, daß wir uns so entschieden haben. Wir haben Schlimmes verhindert, wenngleich auch einiges Schlimme eingetreten ist. Das wissen wir alle. Das Nachdenken über verschärfte Kriterien wird allein nicht helfen. Was in der Zukunft entscheidend sein wird, ist, daß wir alles tun, um zu mehr Aktion statt zu Reaktion zu kommen, zu mehr Prävention als Aktion. „Prävention“ ist im Grunde nicht der richtige Ausdruck. Wir müssen eine wirklich umfassende und globale Strategie entwikkeln, die die Gefahr der Notwendigkeit des Einsatzes militärischer Mittel verringert. ({3}) Ich sage ganz nachdrücklich: Das vermisse ich. Ihre Rede vor den Vereinten Nationen, Herr Minister, beginnt damit, daß Sie darüber nachdenken, ob man das Veto der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates nicht relativieren könne. Das ist richtig. Aber dann erst sagen Sie, wir müssen noch über mehr Prävention nachdenken. Das erstere führt zu Erleichterung der Intervention. Ich bin aber nachdrücklich dafür, daß wir sehr, sehr viel intensiver darüber nachdenken, wie wir Interventionen verhindern können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt Kollege Volker Neumann.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Osttimor ist noch immer sehr unübersichtlich, und nicht jede Nachricht, die hier ankommt, ist verifizierbar. Wir haben gemeinsam begrüßt, daß die internationale Friedenstruppe unter Führung der Australier sehr schnell für Sicherheit in großen Gebieten in Osttimor gesorgt hat, und dafür gebührt diesen Soldaten und den Nationen, die daran beteiligt sind, unser Dank. ({0}) Dem umsichtigen, aber konsequenten Einsatz dieser Soldaten ist es zu verdanken, daß Opfer bisher nicht zu beklagen sind. Die Milizen, die in Osttimor gewütet haben, sind teilweise entwaffnet, teilweise in die Berge geflüchtet, teilweise nach Westtimor gegangen und teilweise ganz außer Landes, das heißt nach Indonesien, abgezogen. Ob größere Angriffe in Zukunft zu erwarten sind, ist ungewiß. Wir hoffen, daß das nicht der Fall ist. Die Flüchtlinge kehren in Osttimor in die Städte und Dörfer zurück, und aus Westtimor hat der Rücktransport nach Osttimor begonnen. Die Zahl der Toten ist ungewiß. Wahrscheinlich wird man sie nie feststellen können, weil viele Menschen, die weggegangen sind, nicht mehr in ihre Orte, in denen sie gelebt haben, zurückkehren werden, und weil sicher viele Leichen unauffindbar bleiben. Zunehmend können Hilfsorganisationen ihre Arbeit aufnehmen. Es sind übrigens auch schon Mittel abgeflossen - für das Internationale Rote Kreuz, für die Ärzte für die Dritte Welt, für Terre des Hommes - und es sind Gelder für Nahrungsmittelhilfe und für den Kauf von Medikamenten in Höhe von über 4 Millionen DM vom BMZ zur Verfügung gestellt worden. Wir konnten alle im Fernsehen beobachten, daß die Nahrungsmittel in Dili verteilt worden sind. Wir wissen, daß in Dili und in Baucau zumindest die medizinische Grundversorgung verbessert worden ist und daß entgegen vielen Meldungen das Krankenhaus in Dili funktioniert und nicht zerstört ist. Der Friedensnobelpreisträger Belo ist zurückgekehrt und steht wieder seinem Volk zur Seite. Wir erwarten nun, daß nach der Wahl des indonesischen Präsidenten am 20. Oktober 1999 die Beratende Versammlung die Unabhängigkeit von Osttimor erklärt und daß dann die zweite Phase einsetzt, nämlich die Blauhelmphase, während der eine zivile Verwaltung aufgebaut wird und ein funktionierendes Staatswesen entsteht. Dazu wollen wir beitragen; die Resolution vom 16. September 1999 drückt das aus. Heute geht es um die Frage, ob wir uns noch an dem Einsatz der Friedenstruppe beteiligen, die gemäß Kapitel VII der UNO-Charta angetreten ist. Dabei findet das Verfahren, aber auch der Inhalt des Beschlusses besondere Beachtung. Das galt auch früher bei den Einsätzen in Somalia und Kambodscha schon so - diese waren übrigens nicht eurozentriert, sondern außerhalb Europas - und natürlich bei den Einsätzen in Bosnien und im Kosovo. Am 16. September 1999 hat der Bundesaußenminister zur Überraschung mancher Kollegen erklärt, nach Beratung mit den Fraktionen werde ein Kontingent der Bundeswehr, eine Sanitätseinheit, entsandt werden. Bis dahin hieß es, Truppen würden nicht entsandt werden. Gemeint waren wohl Kampftruppen, aber das wurde nie so deutlich gesagt. Am Tag zuvor war die Resolution 1264 beschlossen worden, in der die Vereinten Nationen um die Entsendung von Truppen gebeten hatten. Am 22. September 1999 hat der Außenminister in New York erklärt, wir würden einen Beitrag mit SaniKarl Lamers tätstruppen leisten; er sei sicher, daß der Bundestag zustimmt. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zum 4. Oktober dieses Jahres, waren weder die Fraktionen noch die zuständigen Ausschüsse über die Hintergründe informiert worden. Erst am Dienstag sind die Aufgabe und der genaue Umfang des Kontingents sowie die zu erwartenden Kosten und deren haushaltsmäßige Bereitstellung den Abgeordneten bekannt gemacht worden. Es hat also drei Wochen gedauert, bis das Parlament unterrichtet worden ist. ({1}) Dies haben wir gerügt. Der Außenminister hat dies bedauert und erklärt, daß das Parlament demnächst rechtzeitig informiert wird. - Bundesminister Joseph Fischer nicht - Er hat verstanden, ({2}) daß dies ein einmaliger und nicht wiederholbarer Vorgang bleiben muß. Ich persönlich hoffe, daß wir nicht allzuhäufig über solche Vorgänge diskutieren müssen und daß die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr eine absolute Ausnahme in der Parlamentsgeschichte bleibt. ({3}) In meiner Fraktion gab es eine ganze Reihe von Abgeordneten, die diese Entscheidung kritisiert haben. Ich möchte nur vier Gründe beispielhaft auflisten: Erster Einwand. Wir haben immer den Vorrang der regionalen Konfliktvermeidung und -bewältigung betont. Der Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen ist - gemäß unseren eigenen Erfahrungen in Europa - von uns in der ganzen Welt gefördert worden. Deshalb waren wir froh, daß die Region um Osttimor die Verantwortung angenommen hat. Die Asean-Staaten, unter maßgeblicher Beteiligung von Thailand, den Philippinen, Singapur, Malaysia und Australien - Nachbarland von Osttimor -, aber natürlich auch Japan, Korea, Neuseeland und China leisten Beiträge. Eine stärkere Beteiligung von Staaten außerhalb der Region - dies sagen viele bei uns - wirke diesen positiven Entwicklungen entgegen. Deshalb wurde aus Südostasien schon sehr viel Kritik an einer Beteiligung von Staaten außerhalb der Region laut. Zweiter Einwand. Der Bedarf ist nicht nachvollziehbar. Die in Darwin stationierten Bundeswehrsoldaten sollen Verletzte aus Osttimor ausfliegen. Nach der Landung der Friedenstruppe, nach der Entwaffnung der Milizen und noch in Anwesenheit des indonesischen Militärs gab es - Gott sei Dank - keine Opfer. Es gab nach meiner Kenntnis nur einen Menschen, der bei der Entladung eines Flugzeugs verletzt worden ist. Ich bin auch darüber informiert worden, daß Australien die notwendigen Maßnahmen für die medizinische Versorgung der eigenen Truppen getroffen hat. Außerdem ist uns bekanntgemacht worden, daß ein Lazarettschiff der USA nach Osttimor unterwegs ist. Im übrigen haben sechs Staaten Sanitätseinheiten angeboten und zum Teil bereits stationiert. Neun Staaten haben Transportmittel angeboten. Der dritte Einwand bestand darin, daß bis zum 14. September 1999, also einen Tag vor der Resolution, das Department of Peacekeeping Operations der Vereinten Nationen uns um zivile Hilfe bei der Wiederaufbauphase gebeten hat. Diese Bitte hat das Department später, am 23. September, wiederholt. Nach unserer Kenntnis wurde bis zu diesem Zeitpunkt keine militärische Hilfe angefordert. Es lagen ja auch genug Angebote von Staaten aus der Region und darüber hinaus vor. Auf den vierten Einwand möchte ich nicht weiter eingehen, nämlich auf die Frage der Kosten. Wir alle verstehen, daß der Verteidigungsminister schon häufiger darauf hinweisen mußte, daß nicht immer mehr Anforderungen und Aufgaben an ihn herangetragen werden dürfen, wenn der Verteidigungshaushalt die gleiche Höhe wie bisher behalten soll. ({4}) Aber es ist auch das Verhältnis zwischen den Aufwendungen für militärische Operationen und für humanitäre Hilfe kritisiert worden. 5 Millionen DM werden jetzt für humanitäre Soforthilfe ausgegeben. Der Minister hat darauf hingewiesen, daß dies die Kosten für einen einmonatigen Einsatz der Sanitätseinheiten sind. Auch dies ist kritisiert worden, insbesondere deshalb, weil wir den gesamten Ansatz für humanitäre Hilfe auf 58 Millionen DM kürzen mußten. Das ist fast so viel, wie ein halbes Jahr dauernder Einsatz der Bundeswehr in Osttimor kosten würde. Alle diese Einwände wurden von meiner Fraktion zurückgestellt. Sie haben nicht dazu geführt, daß wir den Antrag ablehnen werden. Im Gegenteil: Wir werden ihm zustimmen. Der Grund für unsere Zustimmung ist die von uns allen immer wieder gestellte Forderung nach Stärkung der Vereinten Nationen. Im konkreten Fall hatte es im Vorfeld Schwierigkeiten beim Einsatz von Unamet, die das Referendum organisiert hat, gegeben. Aber danach haben die Vereinten Nationen mit Zustimmung der Indonesier sehr schnell gehandelt. In diesem Fall gab es für uns keine andere Möglichkeit, als sehr schnell der Aufforderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu folgen und einen eigenen Beitrag zu leisten. Denn wir haben immer wieder gefordert, daß die Vereinten Nationen in Konfliktfällen schnell und effektiv tätig sein sollen. Es entsprach in diesem Fall den außenpolitischen deutschen Interessen, einen Beitrag zu leisten. Wir wollen uns überhaupt auf allen Ebenen engagieren. Der Außenminister hat vor der Generalversammlung die Zusage erteilt, daß wir eine Bundeswehreinheit entsenden. Auf diese Zusage muß sich die Weltgemeinschaft verlassen können. ({5}) Berechenbarkeit und Verläßlichkeit müssen Merkmale deutscher Außenpolitik bleiben. Das bedeutet nicht in jedem Fall, daß sich die Bundeswehr an solchen Missionen beteiligen kann und muß. Jeder Fall muß einzeln Volker Neumann ({6}) beobachtet werden, und die Beteiligung muß gerechtfertigt sein. Zu Recht ist insbesondere von Ulrich Klose darauf hingewiesen worden, daß wir miteinander diskutieren müssen, wie wir in Zukunft mit solchen Anforderungen umgehen. Der Außenminister hat zugesagt, daß er die Diskussion mit dem Parlament beginnen will. Ein zweites wichtiges Argument, das dafür gesprochen hat, zuzustimmen, ist, daß die europäischen Partner Leistungen erbringen und daß wir nicht erwarten können, daß sich allein Italien, Frankreich, Schweden, Großbritannien und Portugal - auch aus Gründen der kolonialen Vergangenheit - der Verantwortung stellen, dort zu helfen. Es ist überlegenswert, daß wir die Lasten der kolonialen Vergangenheit unserer europäischen Partner gemeinsam tragen sollten, so wie diese immer wieder unsere Lasten mittragen. In diesem Rahmen hat die Zusage des Außenministers trotz erheblicher Belastungen der Bundesrepublik für Bosnien und für den Kosovo einen Sinn. Sie könnte ein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik sein. Allerdings müßten wir dafür einen Abstimmungsprozeß mit dem Parlament anmahnen, der in diesem Fall nicht stattgefunden hat. Die SPD wird dem Antrag daher nach Abwägung aller Aspekte zustimmen. Sie wird aus den Erfahrungen dieser Debatte jedoch Schlußfolgerungen ziehen. Den Osttimoresen wünschen wir einen friedlichen Weg in die Zukunft, jedenfalls einen friedlicheren als in der Vergangenheit. Wir hoffen, daß die Weltgemeinschaft für den Wiederaufbau genauso schnell wie in der Vergangenheit mit dem Militär zur Verfügung steht. ({7}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch darauf hinweisen, daß es nicht nur Osttimor, sondern auch Westtimor gibt. Wir müssen immer auch die Auswirkungen unserer Handlungen auf Westtimor und auf ganz Indonesien betrachten. Wir müssen Indonesien auf dem schwierigen Weg der Demokratisierung und der Stabilisierung begleiten. Mit der Konstitutionierung des Parlaments in Jakarta und mit der Erklärung, Osttimor in die Unabhängigkeit zu entlassen, hat man in Indonesien einen wichtigen Beitrag geleistet, einen langen Konflikt zu beenden

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Neumann, denken Sie bitte an die Redezeit.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und die Beziehungen zur EU zu entkrampfen. Unserer Bundeswehr und insbesondere ihren Sanitätseinheiten, die bereits in der Vergangenheit in Kambodscha, in Bosnien und im Kosovo große Leistungen erbracht haben, möchten wir Dank sagen. Wir wissen um ihren schweren Dienst und um die auf sie zukommenden Belastungen. Wir wünschen den Soldatinnen und Soldaten viel Glück bei der Bewältigung der Aufgabe und eine gesunde Rückkehr. Wir hoffen, daß ihr Einsatz von kurzer Dauer ist. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Walter Hirche für die F.D.P.-Fraktion das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, daß nunmehr auch ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu diesem Antrag vorliegt. Er steht am Abschluß dieser Debatte genauso wie die anderen vorliegenden Entschließungsanträge zur Abstimmung. Bitte, Herr Kollege Hirche.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion wird dem Antrag der Regierung zustimmen. ({0}) Wir stimmen dem Antrag zu, weil er auf der klaren Rechtsgrundlage eines UN-Mandats basiert. Wir wollen in einer schwierigen Menschenrechtssituation und beim Aufbau des Friedens helfen. Wir stimmen der Beurteilung des Außenministers zu, daß die Herstellung einer Sicherheitslage die Voraussetzung zum friedlichen Aufbau ist. Herr Bundesaußenminister, man muß trotzdem fragen, in welcher Form die Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag in optimaler Weise leisten sollte. Wir alle haben eben gehört, wie der Kollege Neumann festgestellt hat, daß der Außenminister vor den Vereinten Nationen eine Zusicherung für einen Einsatz Deutschlands gegeben hat, der innerhalb der Bundesregierung nicht abgestimmt war und der - das sehen wir am Ergebnis heute - offenkundig auch mit den UN nicht abgestimmt war. Heute sagt die Regierung, daß die UN im Rahmen ihrer Maßnahmen genau diesen Beitrag von Deutschland erbitten und für richtig halten. Wir nehmen zur Kenntnis, daß sich diese Entwicklung so ergeben hat. Wir gehen bei unserem Ja auch davon aus, daß wir uns im Rahmen der Aktionen unserer europäischen Partner bewegen. Das ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Faktor, denn wir sollten uns, auch wenn wir Deutsche in einer bestimmten Situation Fragen haben, nicht auf einen nationalen Sonderweg zurückziehen, sondern immer den Dialog mit unseren europäischen Partnern suchen und im Rahmen der von der UN vorgegebenen Rechtslage handeln. ({1}) Aber, meine Damen und Herren - das haben die Redner der beiden anderen Fraktionen auch deutlich gemacht -, Zweifel und Unbehagen nicht wegen der Sache selbst, sondern im Hinblick auf die Art und Weise, wie insbesondere der Außenminister vorgegangen ist, bleiben. Die Bedeutung und der Umfang der Aktion, für die heute um Zustimmung des Bundestages gebeten wird, Volker Neumann ({2}) ist geringer als der Kosovo-Einsatz. Es knüpfen sich aber viel mehr Fragen an diese Entscheidung; insbesondere stellen einige meiner Kollegen die bange Frage, ob wir nicht durch die Art und Weise, wie die Bundesregierung hier vorgegangen ist, in einen Automatismus hineinrutschen, wenn zwar formal daran festgehalten wird, daß wir von Fall zu Fall entscheiden, aber in Wirklichkeit dadurch, daß ein Minister innerhalb der Regierung eigenmächtig handelt, alle anderen in einen Sog hineingeraten. ({3}) Deswegen will ich die kritischen Punkte noch einmal kurz benennen. Da war das unabgestimmte Vorpreschen des Außenministers, das gutgemeint war - das will ich festhalten -; ({4}) aber nicht immer ist das, was gutgemeint ist, schon in der Sache das Optimale und Hilfreichste. Der Kollege Neumann hat das für die SPD ja eben genauso deutlich gemacht wie vorher der Kollege Lamers. Auch den Zeitfaktor möchte ich noch einmal ansprechen: Die Regierung streitet untereinander 21 Tage und verlangt dann vom Parlament, innerhalb von 24 Stunden eine Entscheidung zu treffen. ({5}) Das widerspricht dem Geist des Karlsruher Urteils. ({6}) Karlsruhe hat mit seinem Urteil deutlich gemacht, daß in so schwerwiegenden Fragen der Bundestag gefragt werden muß. Deswegen muß die Regierung dann auch dem Bundestag einen ausreichenden zeitlichen Rahmen eröffnen und entsprechende Sachinformationen geben, damit er die Möglichkeit hat, in eine echte Beratung einzusteigen und zu einer echten Zustimmung zu kommen. Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht - das haben wir im Ausschuß getan - allzuviel zu den schlampigen Formulierungen in der Antragsbegründung selbst sagen, die wir kritisieren. Herr Kollege Neumann hat darauf hingewiesen, daß an einer Stelle im Zusammenhang mit den Akten der indonesischen Regierung von „nationalistischen Bestrebungen“ die Rede ist; hier liegt eine Verwechslung vor, da nationale Bestrebungen von den Osttimoresen kommen und nicht umgekehrt. Lassen Sie mich auch noch auf den Finanzaspekt zu sprechen kommen. Auch an diesem Punkt ist die Begründung im Antrag nicht so, wie man sie sich wünschen würde. Angesichts des Beitrags von Norwegen, den Niederlanden und anderen klingt die Formulierung der Bundesregierung in ihrem Antrag, der deutsche Beitrag entspreche der angespannten Haushaltslage, unpassend. Ich würde doch im Interesse einer guten europäischen Zusammenarbeit und angesichts des Engagements anderer europäischer Staaten darum bitten, daß unser geringerer Beitrag nicht so hochgepustet und in den Zusammenhang mit der Haushaltslage gestellt wird. ({7}) Genauso wichtig ist es, sich einmal den Ausgabestand des Kapitels anzuschauen, aus dem unser Beitrag finanziert werden soll. In dem Kapitel 14 03 sind als Gelder für internationale Hilfen - das ist jetzt etwas technisch 50 Millionen DM veranschlagt. Mit Datum 18. August 1999 waren 458 Millionen DM aus dem entsprechenden Titel ausgegeben worden; inzwischen sind es über 500 Millionen DM. ({8}) Das bedeutet eine Überausschöpfung von über 1 000 Prozent. Der gleiche Ansatz ist für das Jahr 2000 wieder veranschlagt worden, obwohl wir wissen, daß die Präsenz der Bundeswehr in Darwin über den 31. Dezember 1999 hinausgeht. Ich freue mich deswegen, daß der Haushaltsausschuß vor wenigen Stunden auf Antrag meines Kollegen Hoyer beschlossen hat, den Bundesrechnungshof aufzufordern, eine Auskunft darüber zu geben, wie in Zukunft mit einem solchen Haushaltstitel umgegangen werden soll. Denn die bisherige Weise entspricht nicht den Prinzipien der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit, die wir hochhalten sollten. ({9}) Natürlich können und müssen wir fragen: Ist das die beste Hilfe, die Deutschland geben kann? Deswegen haben wir, die F.D.P.-Fraktion, einen Antrag eingebracht, der in Abs. 3 zum Ausdruck bringt, daß wir durchaus akzeptieren, daß in diesem Zusammenhang die Entsendung von Sanitätern und von Transportmaschinen, so wie Sie das wollen, nur eine Möglichkeit ist. Insbesondere auf Grund dessen, was andere Kollegen festgestellt haben, haben wir an die Bundesregierung die dringende Bitte, innerhalb der nächsten acht Wochen zu prüfen - lassen Sie mich das präzise formulieren -, ob es nicht andere Formen der Hilfe gibt, die für den Aufbau- und Friedensprozeß viel effizienter sind, weil die Sicherheitslage möglicherweise durch andere besser organisiert wird. ({10}) Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion stellt alle von mir vorgetragenen Bedenken zurück. Denn wir glauben, daß am Ende eine Zustimmung weltweit im wohlverstandenen deutschen Interesse liegt - nicht nur im UN-Interesse, sondern auch im deutschen Interesse. Wir haben an die Bundesregierung die dringende Aufforderung, das, was hier von allen Fraktionen moniert worden ist, in Zukunft zu beherzigen

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Hirche, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- darf ich nur noch meinen Gedanken zu Ende führen - und außerdem gemeinsam mit dem Parlament eine Strategie zu entwickeln, wie Deutschlands Interessen in einer neuen Weltordnung zu definieren sind. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Das können wir nicht im Zusammenhang mit einer anstehenden Aktion einmal so eben abhaken. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der Präsident der Nationalversammlung des Königreichs Kambodscha, Norodom Ranariddh, und seine Delegation Platz genommen. ({0}) Königliche Hoheit, ich begrüße Sie und die Kolleginnen und Kollegen aus dem kambodschanischen Parlament im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages sehr herzlich. Mit besonderer Aufmerksamkeit und Anteilnahme verfolgen wir die Bemühungen Ihres Landes um politische Stabilisierung, innere Aussöhnung und wirtschaftliches Wachstum. Hierzu leistet die Nationalversammlung einen wesentlichen Beitrag. Seien Sie versichert, daß der Deutsche Bundestag Ihr Parlament auf dem beschwerlichen Weg zur Verankerung demokratischer Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand nach besten Kräften unterstützen wird. ({1}) Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege Fischer! Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vorletzte Woche die Möglichkeit gehabt, mir die Situation in Osttimor vor Ort anzusehen und einen direkten Eindruck von den grauenvollen Verwüstungen und Vertreibungen seit dem Tag des Unabhängigkeitsreferendums am 30. August 1999 zu bekommen. Glauben Sie mir, daß ich allein deshalb jede denkbare Initiative unterstützen werde, die den Menschen dort hilft, ({0}) die ihnen die Chance auf einen wirklichen Neuanfang eröffnet und die - denn das ist die dringlichste Frage, die sich momentan stellt - ihnen, vor allem den alten Menschen und Kindern, in den nächsten Wochen und Monaten das Überleben sichert. Denn die Regenzeit steht vor der Tür. Jede und jeder von Ihnen kann sich ausmalen, was das bedeutet - was es bedeutet, wenn ein Großteil der Häuser niedergebrannt und ausgeplündert worden ist, wenn die Wasserund Abwasserversorgung systematisch zerstört wurden, wenn die medizinische Versorgung in der Fläche, gerade im ländlichen Raum, nicht mehr existiert und wenn es besonders für die Flüchtlinge, die sich in den Bergen aufhalten, noch immer große Probleme mit der Lebensmittelversorgung gibt. Weil diese Situation so ist - meine Vorredner haben sie ja ähnlich geschildert -, kann ich dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen, und genau deshalb wird meine Fraktion den Antrag ablehnen. ({1}) Denn die von Ihnen anvisierte Entsendung von zwei Transall-Maschinen mit bis zu 100 Sanitäts- und Begleitsoldaten ist aus Sicht eines Entwicklungs- und Menschenrechtspolitikers und auch aus fachlicher Sicht durch nichts zu begründen. Sie hilft weder den Menschen in Osttimor, noch besteht nach derzeitiger Einschätzung der Lage seitens der internationalen Truppen ein realer Bedarf. Das sehe ich nicht allein so, Herr Fischer; das ist auch die Einschätzung vieler Fachpolitiker in Ihren eigenen Reihen, wie unter anderem die Ausschußberatungen gezeigt haben. Daß es heute dennoch zu einer mehrheitlichen Zustimmung zu Ihrem Antrag kommen wird, verdanken Sie deshalb allein der Disziplinierung Ihrer eigenen Leute. ({2}) Wirklich überzeugen konnten Sie mit Ihrem Antrag und den Erläuterungen Ihres Ministeriums in den Ausschüssen meiner Einschätzung nach jedenfalls niemanden, dem die möglichst zielgenaue und bedarfsgerechte Hilfe für Osttimor mehr am Herzen liegt als uniformierte internationale Reputation, ({3}) deren Preis nicht nur hoch, sondern in diesem Fall zweifellos auch die Sinnlosigkeit eigenen Handelns darstellt. Sie wissen das selbst am besten. ({4}) - Zwischenfragen bitte am Ende.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Hübner, gestatten Sie die Zwischenfrage jetzt?

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Am Ende.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nein, das geht nur jetzt oder gar nicht.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, jetzt nicht. - Anders als von der Regierungsseite behauptet, gibt es seitens der Vereinten Nationen keine spezielle Anforderung von militärischer Unterstützung durch die Bundesrepublik, auch nicht im Sanitätsbereich. Zumindest konnte uns auch in den Ausschußberatungen, die erst gestern stattfanden, nichts Diesbezügliches vorgelegt werden. Auch ist mir seitens der internationalen Truppe nicht bekannt, daß sie in den vergangenen Wochen Defizite im Sanitätsbereich oder in Fragen des luftgestützten Krankentransports beklagt und in Richtung Bundesrepublik entsprechende Forderungen aufgemacht hätte. Statt dessen ist festzustellen, daß dort, wo die TransallMaschinen in Osttimor überhaupt nur landen können, die Krankenversorgung als gesichert gelten kann, weil erstens die dortigen Krankenhäuser glücklicherweise intakt geblieben sind, die zumindest in der Hauptstadt ihre Arbeit seit geraumer Zeit wieder aufgenommen haben, und weil zweitens die an der internationalen Truppe beteiligten Kontingente dort zusätzliche Sanitätseinheiten bis hin zu Feldlazaretten stationiert haben. Sowohl meine Gesprächspartner der UNO als auch die des Internationalen Roten Kreuzes haben diese Einschätzung der medizinischen Versorgungslage durchweg bestätigt und ausdrücklich darum gebeten, aus Deutschland nicht auch noch ein Feldlazarett oder militärische Sanitätseinheiten zu schicken. ({0}) Statt dessen gebe es großen Bedarf an Medikamenten, an medizinischem Gerät und an mobilen Ärzteteams, die in der Fläche, das heißt, die auf dem Lande und in den Bergen die Versorgung der Menschen, zumal der Flüchtlinge, gewährleisten und darüber hinaus damit beginnen, eine flächendeckende Basisversorgung zu reorganisieren. ({1}) Das ist allemal die sinnvollere Variante, als für mehr als 5 Millionen DM pro Monat ein Bundeswehrkontingent zu postieren, ({2}) das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Tatenlosigkeit verdammt sein wird; denn bisher ist es glücklicherweise zu keinen schwerwiegenden Auseinandersetzungen im Rahmen der Mission gekommen. Es gibt auch keine Informationen, daß diese Gefahr besteht. Ich frage Sie, Herr Fischer: Was sollen also diese Flieger, die die internationale Truppe offenkundig nicht braucht und die auch der Zivilbevölkerung nichts nützen? Ich kann es Ihnen sagen: Die Flieger sind, neben dem Ansinnen, international zu einem selbstverständlichen militärischen Akteur zu werden, der Holterdiepolter-Versuch, Ihre fachlich nicht untersetzte und von niemandem geforderte New Yorker Ankündigung irgendwie mit Leben zu erfüllen. Dafür haben wir kein Verständnis. ({3}) Denn das Geld, das unser Sparkommissar, Herr Eichel, ohne große Diskussion lockerzumachen bereit ist, hätte er wohl leider niemals, schon gar nicht in dieser Höhe, für Maßnahmen zur Verfügung gestellt, die reinen Soforthilfe- und Wiederaufbaucharakter trügen. Vergleichen Sie die Zahlen: Rund 6 Millionen DM gibt es insgesamt vom Auswärtigen Amt und vom BMZ für Lebensmittel, Wasser/Abwasser, flächendeckende medizinische Versorgung und andere Maßnahmen der Basisversorgung, monatlich aber über 5 Millionen DM für das Bundeswehr-Sanitätskontingent. Diese Zahlen offenbaren eine Denkweise, Herr Fischer, die ich außerordentlich bedenklich finde. ({4}) Es hieß mehrfach, mit dem Sanitätskontingent würden wir unsere Verbundenheit mit und unsere Entschlossenheit gegenüber der UNO und der Osttimor-Mission zum Ausdruck bringen. Dieses Signal trüge wesentlich zum Erfolg der Mission bei. Es wird also als wichtig genug erachtet, um wahrscheinlich weit mehr als 20 Millionen DM letztendlich sinnlos zu verpulvern. Ich sehe die Bedeutung dieses Signals anders. Ich bin nämlich der Meinung, daß nur eine möglichst rasche und bedarfsgerechte humanitäre Hilfe der UNO-Mission in ihrer Substanz zum Erfolg verhilft. ({5}) Dafür brauchen wir aber genau die finanziellen Mittel, die Sie gerade für Ihr Signal aus dem Fenster werfen. Meine Fraktion fordert deshalb, die für das militärische Sanitätskontingent bereitgestellten Mittel gänzlich dem zuständigen Fachministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Verfügung zu stellen, ({6}) um sie für Maßnahmen verwenden zu können, die tatsächlich die schlimmste Not lindern helfen und bereits den Wiederaufbau zum Ziel haben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Hübner, Sie müssen zum Schluß kommen.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Mein letzter Satz: Nach den massiven Kürzungen im Haushalt des BMZ für UNOOrganisationen würde das unserer Glaubwürdigkeit gegenüber den Vereinten Nationen sicher mehr helfen als das, was Sie vorhaben - von den Menschen in Osttimor einmal ganz abgesehen. ({0}) Außerdem: Sie haben beklagt, daß die Mittel nicht abfließen. Wo ist denn Ihr Koordinationsbüro in Osttimor? Bislang habe ich davon nichts gehört. In Darwin, wo die Möglichkeiten dafür bestünden, ist lediglich eine Delegation gewesen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Hübner, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist um.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hübner, Sie haben leider keine Zwischenfrage zugelassen. Ich möchte aber auf einen Widerspruch hinweisen, den ich in Ihrer Argumentation und auch in dem Antrag der PDS sehe. Sie beklagen einerseits, daß sich die Vereinten Nationen „spät - aber offenbar nicht zu spät - zu dieser Intervention“, der militärischen Intervention, entschlossen haben. Das kann doch nur so interpretiert werden, daß Sie dieser Intervention grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Wenn das so ist, dann frage ich mich: Wie ist es zu erklären, daß Sie trotzdem gegen deutsche Hilfe sind? In Ihrem Antrag stellen Sie gleichzeitig fest, daß seitens der Vereinten Nationen „ein allgemeines Hilfeersuchen“ vorliegt. Wie steht es mit dem auch von der PDS hochgehaltenem Grundsatz der internationalen Solidarität, wenn sich Deutschland diesem Hilfeersuchen der Vereinten Nationen verweigert? ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung, Kollege Hübner, bitte.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kollege Ströbele, es tut mir leid, daß ich Ihre Zwischenfrage nicht zugelassen habe, aber es ging darum, im Kontext zu sprechen. Was mir auch leid tut, ist, daß Sie ab dem Zeitpunkt, an dem Sie Ihre Frage stellen wollten, meiner Rede offenbar nicht mehr gefolgt sind; denn genau dazu habe ich gesprochen. ({0}) „Internationale Solidarität“, um es einmal bei diesem Begriff bewenden zu lassen, drückt sich nicht darin aus, daß ich Unsinniges tue, nur weil andere etwas tun Sinnvolles. Wenn das Interfet-Kontingent also im Moment gar keinen Bedarf an unserer Beteiligung hat, halte ich es nicht für ein Zeichen internationaler Solidarität, trotzdem mitzumachen. Wenn es aber großen Bedarf im humanitären Bereich gibt, halte ich es für ein Zeichen internationaler Solidarität, da aktiv zu werden. Genau darum geht es uns. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß die Argumentation deswegen zumindest eigenartig anmutet, weil der Kollege Hübner in Darwin war und mehrere Tage darauf warten mußte, daß Interfet bei der Schaffung sicherer Bedingungen Erfolg hat, die ihm erst die Reise nach Osttimor ermöglicht haben. Den Außenminister anzuklagen, er sei mit dem Koordinationsbüro nicht vorangekommen, ist schon deswegen bemerkenswert, weil Sie, Herr Kollege Hübner, die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes während der ganzen Zeit ziemlich beschäftigt haben. Das wollte ich erwähnt haben. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hübner?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Im Gegensatz zu ihm und seiner Praxis: Gerne.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kollege Scharping, ich bedanke mich zunächst einmal für die äußerst persönliche Ansprache. Ich weiß sie zu schätzen, obwohl ich den Versuch der persönlichen Diskreditierung, der zumindest mitschwang, im Zusammenhang mit dieser sachlichen Debatte für außerordentlich unangenehm halte. Wir haben auch keine persönlichen Angriffe gegen Sie oder den Außenminister geführt. - Das aber nur vorneweg. ({0}) Das zweite ist: Einem jeden Abgeordneten steht es selbstverständlich zu, Dienstreisen zu unternehmen. Diese Dienstreise ist ordnungsgemäß genehmigt worden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Hübner, stellen Sie bitte Ihre Frage an den Minister.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die Frage ist: Habe ich zukünftig immer solche außerordentlichen Erwähnungen zu erwarten, wenn ich Reisen unternehme, bei deren Durchführung mir im Zweifelsfall das Auswärtige Amt oder die Botschaft behilflich ist? ({0})

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Hübner, ich kann Ihnen jedenfalls versprechen, daß Sie solche - wie Sie es empfinden außerordentlichen Erwähnungen immer dann erzielen werden, wenn Sie zwiespältig, widersprüchlich und unsachlich argumentieren. Dann müssen Sie sich damit schon auseinandersetzen. Das wird Ihnen häufiger passieren. ({0}) Aber das war mir nicht das Wichtigste. Viel wesentlicher ist, daß man nicht auf der einen Seite Interventionismus und das Fehlen eines Kontaktbüros beklagen und auf der anderen Seite genau die Menschen beanspruchen kann, deren Untätigkeit man hinterher beklagt. Das geht nicht. Wichtiger allerdings ist, daß sich die internationale Staatengemeinschaft in Osttimor nun tatsächlich, ähnlich wie im Kosovo, einer humanitären Katastrophe gegenübersah. Das wird auch durch die Ergebnisse einer Fact-finding-Mission von Angehörigen der Bundeswehr bestätigt, die nach der Debatte des Deutschen Bundestages am 16. September dort hingeschickt wurden, um herauszufinden, was denn überhaupt ein für die Bundesrepublik Deutschland möglicher und in der Region sinnvoller Beitrag zur Bewältigung der Aufgaben sein könnte, denen sich Interfet gegenübersieht. Es ist schon richtig - das hat der Kollege Neumann in einer in vielerlei Hinsicht sehr differenzierten Rede deutlich gemacht -, daß angesichts dieser Katastrophe Untätigkeit nicht verantwortbar wäre und daß man die Frage stellen muß: Was ist in geeigneten Schritten auch unter deutscher Beteiligung sinnvollerweise zu tun? Über 400 000 Menschen sind vertrieben worden. Keiner kann genau sagen, wie viele von ihnen ermordet worden sind. Mit Blick auf den Kollegen Lamers will ich, weil wir hier doch eher eine Debatte führen sollten, als Statements abzulesen - das ist kein Vorwurf an Sie, Herr Kollege Lamers, im Gegenteil -, sagen: Natürlich muß man im Falle Osttimors im Zusammenhang mit der Prävention die durchaus kritische Frage stellen, ob die Durchführung der Volksabstimmung nicht auch zu der Erwägung hätte führen sollen, daß diese Volksabstimmung ein bestimmtes Ergebnis mit entsprechenden Reaktionen haben könnte. Sie wissen alle, wie schwierig es ist, ein Land wie Indonesien dazu zu bewegen, gewissermaßen präventiv Sicherheitsmöglichkeiten für den Fall zu schaffen, daß es zu einem Ausbruch von Gewalt kommt - aus vielerlei Gründen, die ich jetzt nicht darstellen kann. Wir werden uns allerdings für die Zukunft überlegen müssen, ob die Prävention nicht auch einschließen müßte, daß man solche Dinge vorher etwas genauer durchdenkt und dann auch die entsprechenden Vorbereitungen trifft. Nach der Entscheidung über die Unabhängigkeit und nach der Entwicklung dort besteht jetzt Handlungsbedarf. Es ist durchaus ein Fortschritt, daß sich die indonesische Regierung mit dazu verpflichtet hat, die Sicherheit und Unversehrtheit der Menschen in Osttimor zu gewährleisten, und sogar selbst um die Resolution nach Kapitel VII des Weltsicherheitsrates gebeten hat. Der Kollege Fischer hat dazu einiges gesagt, was ich ausdrücklich unterstreiche. Jedenfalls ist der Einsatz dieser internationalen Friedenstruppe die wesentliche Voraussetzung dafür, daß die Entscheidung über die Unabhängigkeit Osttimors, die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge und der Wiederaufbau des Landes praktisch umgesetzt werden können. Der Einsatz ist bedauerlich, aber wir haben in den letzten Monaten in Europa und im übrigen in der internationalen Politik häufiger leider die Erfahrung gemacht, daß man oft genug nur noch mit diesem letzten, nämlich einem militärischen Mittel, die Voraussetzung dafür schaffen kann, daß die friedliche Entwicklung in Gang gesetzt wird. Ich wage mir nicht vorzustellen, was in Osttimor los wäre, wenn es zu dieser Bereitschaft Indonesiens, zu dieser Entscheidung des Weltsicherheitsrates, zu dieser Stationierung, zu diesem Engagement von Interfet nicht gekommen wäre. Insofern war die Verabschiedung der Resolution 1264 nicht nur ein Zeichen für die Geschlossenheit des Weltsicherheitsrates, sondern sie ist auch vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen im Kosovo von Bedeutung. Es liegt im deutschen Interesse, die Vereinten Nationen und beispielsweise auch die OSZE oder die Europäische Union zu stärken. ({1}) Die Stärkung internationaler Organisationen und ihrer Möglichkeiten ist wohlverstandenes eigenes Interesse der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Wenn das so ist, dann darf niemandem in Deutschland daran gelegen sein, daß fehlende Unterstützung diese Erkenntnis zur bloßen Rhetorik herabmindert. Vielmehr muß man dann grundsätzlich bereit sein, nicht nur in Worten, sondern auch durch konkrete Beiträge die Stärkung internationaler Organisationen zu betreiben und ihre Möglichkeiten zu raschem Handeln gerade in krisenhaften Situationen zu verbessern. Das hat dazu geführt, daß diese Bundesregierung entschieden hat, bei den Vereinten Nationen Fähigkeiten im Rahmen der sogenannten Stand-by-Arrangements anzumelden. ({3}) Dazu gehört übrigens auch die Fähigkeit zur sanitätsdienstlichen Unterstützung. Das hilft den Vereinten Nationen, eine bessere Planungsgrundlage zu haben, es hilft, ihre Möglichkeiten zur schnellen Reaktion zu verbessern, und es stärkt die Handlungsfähigkeit des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Gerade wenn wir in den internationalen Organisationen stärker auf Prävention setzen, wenn wir dafür argumentieren und andere davon überzeugen wollen, dann wäre es höchst eigenartig, wenn wir angesichts der Ereignisse in Osttimor bei einer solchen Anfrage sagten, daß wir dafür nicht zur Verfügung stehen. Unsere Beteiligung in Osttimor untermauert also unsere Bereitschaft, den Vereinten Nationen praktisch zu helfen und ihre Fähigkeiten zu verbessern, genauso wie umgekehrt die Verweigerung einer Beteiligung unsere grundsätzliche Bereitschaft in Zweifel gezogen hätte. Das muß man nüchtern abwägen. Vor diesem Hintergrund kommt noch ein anderer Gedanke hinzu: Deutschland steht in internationaler und europäischer Solidarität, wenn es um Stabilität und Sicherheit sowie darum geht, humanitäre Katastrophen zu verhindern. Diesen Gedanken füge ich an, weil sich nicht nur aus der Region sehr viele Staaten mit etwa 8 000 Menschen an Interfet beteiligen, sondern beispielsweise auch Brasilien und Argentinien, wie Sie wissen, die USA und Kanada sowie eine größere Zahl von Staaten aus Europa, so wie umgekehrt Staaten von außerhalb Europas auf dem Balkan - in BosnienHerzegowina wie auch im Kosovo - beteiligt sind. Es bekäme den Europäern vermutlich sehr schlecht, wenn sie einerseits die Unterstützung außereuropäischer Staaten in einem solchen europäischen Engagement akzeptieren und begrüßen, sich andererseits aber außerhalb Europas nicht engagieren wollten, ganz abgesehen davon, daß dann die Frage auftauchte, wie wir selbst in Deutschland es mit europäischer Zusammenarbeit halten, wenn sich Frankreich, Großbritannien, Portugal, Italien, Finnland und andere Länder mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten an Interfet beteiligen. Wenn man über diese Grundsätze Einigkeit hergestellt hat, dann kann man die Frage stellen, ob die Entsendung von zwei Medevac-Transall hilfreich und nützlich ist. Die Fact-finding-Gruppe hat herausgefunden, daß es mehrere Optionen gibt. Australien als die „lead nation“, die in der Verantwortung der Vereinten Nationen die Führung übernommen hat, hatte ursprünglich die Idee entwickelt, wir sollten, wie es Kollege Neumann für andere Staaten geschildert hat, ein Zeltlazarett zur Verfügung stellen, was nicht nur bedeutet hätte, auf die letzte Notfallreserve in Deutschland zu verzichten, sondern auch erfordert hätte, etwa 400 Menschen nach Osttimor zu schicken. Das ist aus mehreren Gründen - nicht aus prinzipiellen Überlegungen, sondern aus sehr praktischen Gründen - zur Zeit nicht möglich. Es hat also eine Abwägung von Möglichkeiten und Fähigkeiten auf der Grundlage der prinzipiellen Bereitschaft zu helfen stattgefunden. Genauso richtig ist aber, daß bei der Erörterung der verschiedenen Möglichkeiten Australien ausdrücklich gewünscht hat, daß die Transportkapazität, über die wir heute reden, zur Verfügung gestellt wird. Ich kann noch gar nicht sagen, in welchem Umfang sie beansprucht wird. Aber wir werden das einzige Land sein, das diese spezielle Fähigkeit zur Verfügung stellt. Das macht es in meinen Augen gut vertretbar, diesem Wunsch Australiens nachzukommen. Im übrigen kann es dem Deutschen Bundestag nicht neu sein, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in dieser Weise engagiert. Wenn man sagt, der Anspruch der Menschenrechte sei universell, wenn man hinzufügt, daß die Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung für einzelne Staaten wie für die Staatengemeinschaft begrenzt sind, wenn man dann noch in Rechnung stellt, daß sich Deutschland an verschiedenen friedenserhaltenden Maßnahmen beteiligt - in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, aber auch in Georgien, wie wir wissen -, dann wird schon aus dieser Erwägung, Herr Kollege Hirche, deutlich, daß es hier nicht um einen Automatismus geht. Es geht übrigens auch um weniger, als der Deutsche Bundestag in den Jahren 1992 und 1993 in bezug auf Kambodscha erörtert hat. In dieser Zeit waren wir - in der Verantwortung der heutigen Opposition, der damaligen Regierungsparteien - mit einem wesentlich stärkeren Sanitätskontingent in Kambodscha. Wir waren dort nicht wie jetzt im Falle Osttimor außerhalb des konfliktbeladenen Landes stationiert, sondern unmittelbar in Kambodscha. Der damalige Verteidigungsminister hat in einem sehr konkreten Fall, wie Sie beispielsweise dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 1993 entnehmen können, deutsche Sanitätssoldaten zum Schutz französischer Soldaten aus Phnom Penh heraus ins Land geschickt und hier vor dem Deutschen Bundestag ausdrücklich eingeräumt, das sei eine gefährliche Sache gewesen. Ich schildere das, um dem Eindruck entgegenzuwirken, für die Bundesrepublik Deutschland sei ein solches Engagement außerhalb Europas in einer von Mord, Vertreibung und schrecklichen Greueltaten geprägten Region etwas wirklich Neues. Das war, wie gesagt, schon 1992/93 aus, wie ich denke, guten Überlegungen heraus der Fall. Ich habe von Anfang an sehr deutlich gesagt: Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland muß von der „lead nation“ gewünscht sein; das ist der Fall. Er muß für die Bundesrepublik Deutschland zu leisten sein; das ist der Fall, wenn auch unter gewissen Schwierigkeiten. Er muß vorübergehend sein; denn anders als vorübergehend sind jedenfalls zur Zeit solche Einsätze nicht möglich. Das ergibt sich nicht nur aus den Kosten. Das will ich Ihnen deutlich machen; mich wundert diese Argumentation ein bißchen. Kosten allein können es nicht sein; in diesem Fall sind es auch die der Bundeswehr zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, die das begrenzen. Ich habe in meiner Fraktion genauso deutlich gesagt, wie ich es hier im Deutschen Bundestag sage, daß es mir angesichts der Situation der Bundeswehr und angesichts der Frage, wie man ein solches Engagement gestaltet, durchaus lieber wäre, wenn es eine zivile Nichtregierungsorganisation gäbe, die in sehr kurzer Zeit dieselbe Leistung mit denselben Fähigkeiten erbringen könnte. Das ist leider nicht der Fall. Wir werden uns in Zukunft noch einmal darüber unterhalten müssen, ob wir in Deutschland nicht die Verpflichtung haben, die Fähigkeit von Nichtregierungsorganisationen zur Teilnahme an Maßnahmen der Prävention und des internationalen Engagements zu verbessern, wenn ihr Schutz gewährleistet werden kann. ({4}) Ich will jetzt nichts zu den Einzelheiten des Haushalts sagen, Sie aber doch darauf aufmerksam machen - ich habe dazu einiges gelesen -, daß sich aus einer verfassungsrechtlichen Erwägung ergibt, daß das Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers begrenzt ist und nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn ein Titel im Haushalt zur Verfügung steht, an den man anknüpfen kann. Daraus kann man keine weiterreichenden Schlußfolgerungen ziehen, schon gar nicht mit Blick auf den Antrag der Bundesregierung, der ausdrücklich sagt, daß im Fall der Erschöpfung der Mittel, die im Einzelplan 14 stehen, entsprechende Mittel zugeführt werden. ({5}) Die rechtlichen Gründe dafür sind ebenso zwingend, wie die tatsächlichen Umstände klar sind, Herr Kollege Breuer. Denn von den Mitteln, die dort eingesetzt waren, waren - der Kollege Hirche hat die Zahlen etwas übertrieben ({6}) bis Ende September 1999 nach den Feststellungen des Bundesministeriums der Verteidigung schon 279 Millionen DM ausgegeben, was bedeutet, daß 229 Millionen DM aus dem Einzelplan 14 erwirtschaftet werden sollten. ({7}) Insgesamt komme ich zu dem Ergebnis: Das ist ein leistbarer, von der „lead nation“ für notwendig erachteter, im Interesse der internationalen Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland vernünftiger Beitrag, der in wahrscheinlich eher kürzerer als längerer Zeit geleistet wird und aus dem sich weder dem Grundsatz noch der Form nach ein Automatismus für künftiges Engagement ergibt. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU stimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Australien bzw. Osttimor, so wie er in der Vorlage der Bundesregierung beschrieben ist, zu. Aber wie es schon Herr Kollege Karl Lamers hat anklingen lassen, möchte ich noch einmal betonen, daß es in unserer Fraktion nicht unerhebliche Bedenken gegeben hat, die auch von anderen Fraktionen hier betont worden sind. Ich will sie noch einmal verdeutlichen: Einerseits wird zwar festgestellt, daß wir uns gegen Menschenrechtsverletzungen, egal, wo auf dieser Welt sie eintreten, entschieden wehren müssen; andererseits müssen wir aber auch erkennen, daß unsere Kraft nicht ausreichen kann, sie überall hinreichend bekämpfen zu können. Viele Kollegen haben sich gefragt: Wo ist in diesem Zusammenhang unsere Verantwortung, wenn wir auf der anderen Seite des Globus in Osttimor einen militärischen Beitrag leisten? Es ist richtig: Eine Chance, den Frieden in dieser Welt und die Einhaltung der Menschenrechte aufrechtzuerhalten, haben wir nur, wenn wir internationale Organisationen, insbesondere die UNO, stärken und nach dem Prinzip der regionalen Subsidiarität, der Verantwortung der Nationen in der Region, vorgehen. Gerade da, denke ich, gibt es eine besondere Verantwortung für uns; denn wir müssen feststellen, daß sich Australien dieser Verantwortung in der Region stellt, obwohl sich das viele australische Politiker noch vor wenigen Monaten gar nicht vorstellen konnten. Sie nehmen diese regionale Verantwortung wahr. Wenn insbesondere wir Europäer die regionale Subsidiarität stärken wollen, ist es notwendig, daß wir Australien bei dieser für diese Nation nicht leichten Aufgabe entsprechend unterstützen. Daher ist es auch für uns Deutsche - gerade aus europäischer Interessenlage - notwendig, bei dieser abwägenden Entscheidung unterstützend zu wirken. Aber viele Kollegen - ich will das noch einmal sagen, Herr Minister Fischer - haben sich durch den Schlamassel, den Sie angerichtet haben - das ist beim Kollegen Hirche und auch beim Kollegen Lamers angeklungen -, natürlich sehr beschwert gefühlt. Wer sich derart, ohne mit dem Parlament ein Wort zu reden, gegenüber der Weltöffentlichkeit festlegt, der muß in Kauf nehmen, daß sich viele Kollegen in diesem Hause beschwert fühlen, eine freie Entscheidung zu treffen. ({0}) Sie haben das ja auch innerhalb der Regierung - das ist ganz offensichtlich geworden - nicht hinreichend abgestimmt. Der Schlamassel ist natürlich durch die Art und Weise, wie das im Kabinett behandelt wurde - dort blieb es in der vergangenen Woche hängen -, noch verstärkt worden. Einmal hieß es: Es muß erst mit den Fraktionen gesprochen werden. Das fiel Ihnen sehr früh ein. Zum anderen hieß es, die Finanzierung sei nicht gesichert; Minister Scharping habe sich geweigert, diesen Einsatz aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Da hat er recht. Es ist unmöglich, auch dies noch aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. ({1}) Es kann doch nicht angehen, daß diese Regierung den Verteidigungsetat in den kommenden vier Jahren um 18,6, also fast 20 Milliarden DM schmälern will, damit die Bundeswehr regelrecht an die Wand fährt, und ihr auf der anderen Seite immer mehr Aufgaben zukommen läßt. ({2}) Nun glaubt Minister Scharping, er habe jetzt die Lösung durch die Formulierung, die in Punkt 10 der Vorlage der Bundesregierung zu finden ist. Das hat er eben vorgetragen. Er hat gesagt: Dort steht ja, daß die Gelder zur Deckung der Kosten, die im Verteidigungsetat und dort im Titel 547 01 nicht gedeckt sind, aus den allgemeinen Finanzmitteln zugeführt werden. Das mag auf den ersten Blick überzeugend sein. Auf den zweiten Blick wird sichtbar, Herr Kollege Scharping - das behaupte ich -, daß Sie bis zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht begriffen haben, wie sehr Herr Eichel Sie geleimt hat. Ich lese Ihnen einmal vor, was im Haushaltsgesetz 1999 in diesem Titel verzeichnet ist. ({3}) Es ist zum einen klar, daß das stimmt, was der Kollege Hirche sagte: 50 Millionen DM sind angesetzt, ausgegeBundesminister Rudolf Scharping ben sind - das haben Sie ja selbst gesagt - über 500 Millionen DM. ({4}) Das zweite. Dort steht: Mehrausgaben dürfen bis zur Höhe der Einsparungen bei folgenden Titeln geleistet werden. - Das ist eine übliche Formulierung. Und dann steht da: Einzelplan 14. Herr Scharping, Sie haften mit Ihrem gesamten Einzelplan, mit der gesamten Bundeswehr für die Ausgaben, die hier getätigt werden müssen, und Sie haben es bis zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht gemerkt, in welcher Art und Weise Sie dabei über den Tisch gezogen worden sind. ({5}) Wenn der grüne Kollege Metzger gestern gesagt hat, daß Sie wie Robin Hood auftreten - Sie wissen, in der Sache unterstütze ich Sie, daß die Bundeswehr mehr Geld braucht -, ({6}) dann dürfen Sie eines nicht verkennen: Es gibt auch noch den Sheriff von Nottingham. ({7}) In dieser Situation ist der Sheriff von Nottingham Herr Schröder, und sein Hilfssheriff ist Herr Eichel, der Sie hier gnadenlos über den Tisch gezogen hat. ({8}) Deshalb haben wir von der CDU/CSU einen Entschließungsantrag gestellt, in dem eindeutig steht: Es geht nicht an, daß ein Mehr an Engagement und deutscher Verantwortung in der Welt nur mit Mitteln des Einzelplans 14 getragen wird, und dies vor allen Dingen deswegen nicht, weil dieser Einzelplan 14 durch das Spardiktat der rotgrünen Regierung so nach unten und gegen die Wand gefahren werden soll, wie das geplant ist. Ich bedanke mich. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Werner Hoyer von der F.D.P.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich bei Paul Breuer dafür, daß er die Zahlen schon etwas in das rechte Licht gerückt hat. Sie, Herr Minister, haben dem Kollegen Hirche vorgeworfen, er habe übertrieben. Im Einzelplan 547 01, des Haushalts sind 50 Millionen DM etatisiert. Ausgaben per 18. August 1999: 458 561 000 DM. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erhält der Kollege Helmut Wieczorek, SPD-Fraktion.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Breuer, die zutreffenden Zahlen sind eben genannt worden. Die 500 Millionen DM, die hier angefallen sind, sind die Folge der Fehlfinanzierung der Auslandseinsätze der letzten Regierung. ({0}) Herr Kollege Breuer, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir in diesem Hause vier Jahre lang versucht haben, mit Ihnen eine Lösung zu finden und eine Etatisierung der Auslandseinsätze zu erreichen. Dem haben Sie sich stets entzogen und haben immer diese 50 Millionen DM im Einzelplan 14 als den Ansatz für die Auslandseinsätze genommen. Sie haben seinerzeit im Haushaltsausschuß immer wieder behauptet: Wenn wir dort mehr ansetzen, dann geben die auch mehr aus. Das war Ihre Linie, und so sehen auch die Finanzen aus, die Sie uns hinterlassen haben. Ich will ganz davon absehen, daß das, was Sie im Augenblick vortragen, nicht mehr dem Kenntnisstand entspricht, den Sie haben. Ich habe mir gestern erlaubt, Ihnen eine Seminarstunde über Haushaltsrecht und das, was damit zusammenhängt, zu geben. ({1}) Es tut mir leid, daß Sie das immer noch nicht verstanden haben. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob das im Einzelplan 14 steht. Vielmehr kommt es nur auf eine ganz kleine Textziffer an, nämlich daß der Finanzminister an dieser Stelle einen Nachschuß ermöglicht, und zwar außerhalb des Einzelplans 14. Herr Kollege Breuer, das haben Sie doch gestern beschlossen. Ich gebe zwar zu, daß es etwas spät war, aber für Sie sicherlich nicht zu spät. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Ergänzung dessen, was der Kollege Wieczorek gesagt hat: Herr Kollege Hirche, Sie beziehen sich auf den EinzelPaul Breuer plan 14 und nennen die Zahl von 461,6 Millionen DM. Sie sollten hinzufügen, daß Ihnen diese Zahl als Ausgabeprognose zum 31. Dezember 1999 zugeleitet worden ist, nicht als bisherige Ausgabe. Sie sollten weiterhin hinzufügen, daß Ihnen diese Prognose am 7. Juni 1999 vorgelegen hat. Deswegen sage ich Ihnen: Die Ist-Zahl - darauf habe ich mich bezogen - Ende September 1999 war 279 Millionen DM. Daraus ergibt sich die Prognose, daß wir bis zum Jahresende in diesem Titel, der mit 50 Millionen DM dotiert ist, weitere 116 Millionen DM aus dem Einzelplan 14 erwirtschaften müssen. Damit liegen wir unter der Prognose vom Juni 1999. Das hat einen sehr einfachen Grund: Wir haben uns über Personalreduzierungen, über Rationalisierungen in der Logistik usw. bemüht, soviel wie möglich einzusparen, um nicht durch Ausgaben in Bosnien im Jahr 1999 für die übrigen Aufgaben der Bundeswehr mehr Geld entziehen zu müssen, als unbedingt erforderlich ist. Sie dagegen haben den Fehler gemacht, 50 Millionen DM bereitzustellen, im Wissen darum, daß man ein Mehrfaches des Betrages erwirtschaften muß. Insofern kehrt sich das doppelt um, was Sie hier gesagt haben. Ich erkenne darin den einfachen Versuch, aus den Komplikationen, mit denen man im Haushalt immer zu tun hat, ganz billiges parteipolitisches Kapital zu schlagen. Das sollten Sie besser lassen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es geht mit den Kurzinterventionen weiter, aber ich bitte doch, darauf zu achten, daß gleich die Reihenfolge der Redner wiederhergestellt wird. Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Scharping, ich hatte einfach nur auf die Seite 29 Ihres Haushalts verwiesen und die Zahlen daraus, die mir schriftlich zugegangen sind, vorgelesen. Nach dem Beitrag des Kollegen Wieczorek stelle ich fest, daß Sie trotz dieser Haushaltsentwicklung für das Jahr 2000 auch nur 50 Millionen DM vorsehen. Ich bringe darüber mein Bedauern zum Ausdruck und möchte dazu beitragen, daß wir im Bundestag gemeinsam an dieser Stelle in den laufenden Beratungen eine realistische Zahl einsetzen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für das Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch meine Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Aber auch wir machen für uns geltend, daß wir mindestens so reiflich, mindestens so umfangreich wie Sie beraten haben. Herr Kollege Neumann, bevor ich auf die einzelnen Punkte eingehe, sage ich vorweg, gerade weil Sie zum Schluß auf das Grundproblem zu sprechen gekommen sind: Mit dem Grundproblem ist in den letzten 14 Tagen in unterschiedlicher Weise aus den verschiedensten Ecken Politik gemacht worden. Oft habe ich nicht verstanden, was hinter der Politik stand, ob das parteipolitisch bedingt war, ob das persönlich bedingt war oder ob das besserwisserisch war. Ich spreche jetzt über das Grundproblem. ({0}) Ich erwähne das nochmals, weil von Ihrer Seite hier vielfach angesprochen worden ist, was der Bundesminister in New York gesagt hat. In seiner Rede - ich habe sie, und zwar aus ganz anderen Gründen als Sie, zweimal gelesen - hat er, wenn ich das richtig verstanden habe, in allgemeiner Weise die Unterstützung Deutschlands für die UNO absolut klargemacht. In welcher Form, in welcher Weise diese Unterstützung an diesem speziellen Punkt geleistet wird, darüber, so denke ich, diskutieren wir hier; darüber war in New York überhaupt nicht zu diskutieren. Jetzt zum Hauptproblem: Wir hatten, auch unter uns, folgende Bedenken: Erstens. Es darf keinen Folgezwang und keinen Automatismus geben. Es darf nicht sein, daß derjenige, der KFOR sagt, hinterher auch Interfet sagen muß. Zweitens. Natürlich sind Konflikte in fernen Teilen der Welt dort zu regeln und nicht unbedingt von Europa aus; das ist ganz klar. Drittens. Es stellt sich die Frage, ob wir nicht mit ganz anderen Mitteln der bedrängten Bevölkerung helfen könnten als durch eine Beteiligung an einer militärischen Operation. Gegen diese Bedenken spricht folgendes ganz klar: Erstens. Es gibt kein „entweder oder“ in der Frage deutscher Beteiligung. Das BMZ hat mit 4,4 Millionen DM, das Auswärtige Amt hat im Rahmen der humanitären Hilfe mit 1 Million DM sofort geholfen. Beides muß also nicht gegeneinander stehen. Zweitens. Wir wollen eine fallweise Betrachtung und eine unvoreingenommene Entscheidungsbildung zu jeder internationalen Krise. Was aber ergibt die fallweise Betrachtung in diesem Fall? Wir haben es in Osttimor mit einer genozidalen Vertreibungsaktion mit mindestens derselben Dimension wie im Kosovo und mit einer Strafaktion gegen das UNReferendum zu tun gehabt; das muß immer wieder gesagt werden. ({1}) Wir haben in politischer und anderer Form die sofortige politische Intervention beim indonesischen Staatsoberhaupt gefordert; wir haben eine UN-Resolution gefordert; wir haben auf eine baldige Landung australischer und asiatischer Truppen gehofft. - Wir haben darauf gedrängt und haben mit Freude die Zustimmung des indonesischen Staatsoberhauptes zur UN-Resolution begrüßt. Um die Deportationen und Massaker zu stoppen, hat es auf der klaren Grundlage einer Resolution des UNSicherheitsrates eine Intervention unter australischer Führung gegeben. Dieser haben sich neben regionalen Truppenstellern wie den Philippinen, Malaysia und Neuseeland auch Portugal - mit 1 000 Soldaten -, Schweden, Norwegen, Frankreich, England und Italien - mit 600 Soldaten, davon 200 Fallschirmjäger, mit amphibischen Einheiten und mit Fregatte - angeschlossen. Gemessen daran ist die Absicherung der medizinischen Versorgung von Schwerverwundeten, die sinnvollerweise ausgeflogen werden müssen, durch Deutschland ein angemessener und notwendiger Beitrag. ({2}) Es ist ein Beitrag, der seinem Charakter nach hoffentlich nie in Anspruch genommen wird, für den aber trotzdem für den Fall ernsthafter Kämpfe Vorsorge getroffen werden muß. Lieber junger Kollege, dies ist doch mit Interfet abgestimmt. Es geht nicht, daß die Interfet erst warten muß, bis dort Ruhe geschaffen ist und man sich die Meinung bilden kann, daß man auch anders handeln könnte. Da dies eine abgestimmte Aktion mit verschiedenen Truppenstellern ist, erledigt sich das alles. Wir begrüßen einen solchen Beitrag zur Interfet, weil er für die UN wichtig ist, weil er die gemeinsame europäische Außenpolitik stärkt, und vor allem, weil er einen Beitrag zur Verhinderung von Vertreibung und Völkermord leistet. Der Kollege Lamers, der Kollege Breuer und der Kollege Hirche hatten die Finanzfragen angesprochen. Dazu möchte ich nur soviel sagen: Meines Erachtens ist der Haushalt 14 in den ganzen letzten Jahren durch einen Verteidigungsminister besser geschützt gewesen als beispielsweise der Haushalt 05 oder gar der Haushalt 60, der die allgemeine Finanzwirtschaft betrifft. Das Problem, vor dem wir stehen, liegt im Einzelplan 60. Durch die allgemeine Misere und die allgemeine Schuldenwirtschaft wurde die Regierung gezwungen, einen Sparplan aufzustellen. Jetzt kommen Sie und zählen, wie wir eine jede Erbse zu verwenden hätten. Das ist Unsinn. Abschließend zwei politische Bemerkungen: Erstens. Es ist immer noch ein weitgehend menschenleeres Land, das von Interfet beschützt wird. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist deportiert, und wir alle müssen dringend auf deren Rückkehr drängen. ({3}) Zweitens. Ein souveränes Osttimor bedarf eines demokratischen Indonesiens. Wir müssen die demokratische Entwicklung in Indonesien fördern. Wir müssen einem solchen Land aber auch in finanzpolitischen Krisen stärker beistehen. Dies geschieht gerade nicht nicht durch Rüstungslieferungen für das Militär. Ich denke dabei an die U-Boote, die in früheren Jahren geliefert wurden. Wenn ich es richtig sehe, sind in den letzten 14 Jahren 10 Milliarden DM herübergeflossen. Es geht vielmehr um den Export von Stabilität durch Unterstützung der Demokraten in Indonesien. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lippelt, ich verstehe Ihre Erregung bei Ihren Eingangsworten. Sie haben natürlich Anlaß gehabt, das Verhalten des Bundesaußenministers bei der UNO zu verteidigen; er gehört ja zu Ihrer Fraktion. ({0}) Ich hatte einen ganz anderen Einstieg vor: Ich wollte ihn dafür mit der mir sicherlich zur Verfügung stehenden Wortwahl - jedenfalls unterhalb der Rügensgrenze des Präsidenten - erheblich kritisieren. Ich werde das nicht tun, ({1}) denn ich glaube, der Kollege Neumann hat das Nötige dazu gesagt, und ich möchte die Kritik aus den eigenen Koalitionsreihen so stehenlassen. Ich glaube, daß sie dann besser wirkt. Sonst kommt man leicht in den Verdacht, es rein parteipolitisch gemeint zu haben. ({2}) Da es aber aus der Koalition gekommen ist, sollten Sie es vielleicht auch ernster nehmen. ({3}) Ich habe mich nur nach dem Motiv gefragt, warum sich der Herr Bundesaußenminister bei der UNO so stark festgelegt hat. Sollte das ein Blick oder eine Flucht zurück nur zum UN-Mandat sein? ({4}) Ich will das nach der Kosovo-Entscheidung, wo er seine Schwierigkeiten in den eigenen Reihen hatte, hier nur andeuten. Meine Damen und Herren, wir behalten uns vor, in Zukunft jede Entscheidung auch im Einzelfall zu überprüfen, gleichgültig, von wem das Mandat kommt. ({5}) Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, es gebe keinen Automatismus. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Ich will ergänzen: Die Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, hat auch keine präjudizielle Wirkung. Was die Haushaltsfragen anbelangt, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, spielt die Regierung etwas Ball paradox. ({6}) Denn ihr Verantwortungsgefühl für die Notwendigkeit, genügend Haushaltsmittel für die Bundeswehr und ihre Soldaten bereitzustellen, ist doch umgekehrt proportional zu ihrer Großzügigkeit, der Bundeswehr neue Einsätze zu verschreiben oder - wie es der Verteidigungsminister heute bezeichnet hat - ihre Fähigkeiten anzumelden. Das war ein neuer Begriff, den wir heute gehört haben. Ich will auf die Einzelheiten dieser Haushaltsproblematik nicht mehr eingehen. Herr Scharping muß sich nur fragen lassen, warum er noch letzte Woche gesagt hat, die Finanzierung solle nicht aus dem Einzelplan 14 erfolgen. Die Damen und Herren, die nicht dem Haushaltsausschuß angehören, müssen sich doch fragen lassen, warum der Haushaltsausschuß eigentlich diesen Beschluß gefaßt hat, daß der Rechnungshof die Finanzierung solcher Einsätze überprüfen soll. ({7}) - Mit den Stimmen der Koalition, sonst gäbe es ja keine Mehrheit. Meine Damen und Herren, das sind zweifellos Managementfehler. Trotzdem: Die Mehrheit meiner Fraktion und auch ich werden dem Antrag der Bundesregierung aus sachlichen Gründen zustimmen. ({8}) Wir haben ein Jahrhundert hinter uns, das gezeichnet ist von Kriegen, von Vertreibung, von Genozid, von Massenvernichtung jeder Art. Eine Chance, dann Hilfe zu geben, um Auswüchse solcher Maßnahmen zu verhindern, dürfen wir nicht vorbeigehen lassen. ({9}) Meine Damen und Herren, wir Europäer und auch wir Deutsche dürfen uns in diesem Fall der Verantwortung nicht entziehen. ({10}) Die Geschichte Osttimors wird den meisten, die sich damit beschäftigt haben, bekannt sein. Vielleicht könnte der eine oder andere fragen: Was haben wir Deutsche damit zu tun? Das ist nicht unsere Kolonialgeschichte. Das ist im Ablauf der Ereignisse sicherlich richtig. Nur, meine Damen und Herren, wenn wir europäische Außenpolitik für die Zukunft haben wollen, wenn wir sie mitgestalten wollen, dann müssen wir auch gesamteuropäische Verantwortung mit übernehmen, ({11}) insbesondere dann, wenn sie jetzt in diesem doch relativ kleinen Ausmaß von uns verlangt wird. ({12}) Wenn diese gesamteuropäische Verantwortung im Konsens mit vielen Ländern, insbesondere solchen aus der Region um Osttimor, wahrgenommen wird, dann, so glaube ich, gibt es gute Gründe, daß wir uns dieser Verantwortung nicht entziehen. Ich bitte deshalb auch diejenigen insbesondere aus unseren Reihen, die aus wohlerwogenen Gründen das Management der Regierung kritisiert haben - ich gehöre dazu -, sich dieser Verantwortung trotzdem nicht zu entziehen und diesem Antrag zuzustimmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Es liegen vier Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Es handelt sich um eine Erklärung des Kollegen Rudolf Bindig1), SPD- Fraktion, eine Erklärung des Kollegen Dr. Karl A. Lamers2) ({0}), CDU/CSU-Fraktion, eine Er- klärung der Kollegen Christian Simmert, Hans- Christian Ströbele, Claudia Roth, Irmingard Schewe- Gerigk und Sylvia Voß, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN3), und eine Erklärung des Kollegen Dr. Friedbert Pflüger und 23 weiterer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/ CSU-Fraktion4). Diese Erklärungen werden zu Proto- koll genommen. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streit- kräfteverband in Osttimor zur Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September 1999“, Drucksache 14/1754. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1719 anzu- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Be- schlußempfehlung ist mit der großen Mehrheit des Hau- ses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion, bei verein- zelten Gegenstimmen aus den Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD und bei wenigen Enthaltungen aus den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen5). Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/1755. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. ({1}) ------------ 1) Anlage 2 2) Anlage 3 3) Anlage 4 4) Anlage 5 5) siehe Seite 5453 C Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1770. ({2}) Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie der vorherige Entschließungsantrag abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1756. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS und bei zwei Enthaltungen aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Vereinbarte Debatte Auswirkungen und Konsequenzen des Unfalls in der Atomanlage in Tokaimura, Japan Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzten Donnerstag ereignete sich in der japanischen Brennelementefabrik Tokaimura ein schwerer Störfall. Es war der schwerste Unfall in einer atomaren Anlage seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Bei der Handhabung von hochangereichertem Uran wurden statt 2,3 versehentlich 16 Kilogramm in einen Behälter mit Salpetersäure eingefüllt. Dies war das Achtfache der zulässigen Menge. Auf Grund dieses Vorganges kam es zu einer kritischen Reaktion. Mehrere Arbeiter wurden verletzt, drei von ihnen sehr schwer. Unser Mitgefühl gilt den Opfern dieser Katastrophe, insbesondere jenen, die noch immer in Lebensgefahr schweben. Ich finde, es ist eine besondere Tragik, daß heute ausgerechnet in Japan, dem Land von Hiroshima und Nagasaki, erneut Menschen mit dem Strahlentod ringen. Der Unfall von Tokaimura hat uns allen erneut vor Augen geführt, welches menschliche, welches ökologische und auch welches finanzielle Risiko das Betreiben von Atomanlagen mit sich bringt. Dieses Risiko beschränkt sich nicht auf die bloße Betriebssicherheit von Reaktoren. Wir alle müssen uns die Frage stellen: Ist eine Technik, bei deren Betreiben menschliches Versagen solch katastrophale Folgen haben kann, eine menschenadäquate Technik? Oder anders gefragt: Ist das Restrisiko eigentlich mit dem Allgemeinwohl vereinbar? Ich weiß, daß dieser Unfall viele Menschen sehr beunruhigt hat. Die Bundesregierung hat unmittelbar nach Bekanntwerden des Störfalls auf umfassende Aufklärung gesetzt. Im Bundesamt für Strahlenschutz und im Bundesumweltministerium wurden alle Informationen zentral gesammelt. Wir haben noch in der Nacht, als sich der Störfall ereignete, ein Bürgertelefon eingerichtet. Dieses war auch über das Wochenende in Betrieb. Wir wollten damit eines erreichen: Wir wollten Aufklärung sicherstellen, und zwar Aufklärung - ich betone dies - über die tatsächlichen Gefahren. Wir wollen keine Dramatisierung, aber wir können auch keine Verharmlosung hinnehmen. ({0}) Wir haben klargestellt, daß auf Grund des Störfalls keine Gefahr für Europa bestand. Es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob ein solcher Unfall auch in einer deutschen Anlage möglich sei. Ich möchte an dieser Stelle klar darauf hinweisen: Ein solcher Unfall kann sich bei uns weder in Lingen noch in Hanau und auch nicht in Gronau, wo es vergleichbare Anlagen wie in Tokaimura gibt, ereignen. In keiner deutschen Anlage wird nämlich wie in Tokaimura mit hochangereichertem Uran gearbeitet, das auch noch naß verarbeitet wird. Das heißt aber nicht, daß Störfälle bei uns vollständig ausgeschlossen werden können. Deshalb habe ich aus Anlaß dieses Unfalls darum gebeten, die in Deutschland bestehenden vergleichbaren Anlagen überprüfen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Prüfung sollen bis zum 29. Oktober 1999 vorliegen. Bei Bedarf werden diese Ergebnisse in der Reaktorsicherheits- und Strahlenschutzkommission beraten werden müssen. Manche meinen schon vor der Prüfung zu wissen, was dabei herauskommt. Ich habe in einer Publikation des Deutschen Atomforums gelesen, ein Atomunfall in deutschen Anlagen sei so gut wie ausgeschlossen. Ich fürchte: Wenn man die Betreiber von Tokaimura vor dem Unfall gefragt hätte, dann hätten auch sie gesagt, in ihrer Anlage sei ein Unfall nahezu ausgeschlossen. Ich will es einmal anders ausdrücken. Die Worte „so gut wie“, „nahezu“ und „weitgehend ausgeschlossen“ kann man mit „Tschernobyl“, „Harrisburg“ oder „Windscale“ übersetzen. ({1}) Hinter diesen Worten verbirgt sich jenes Restrisiko, das, wenn es eintritt, tödliche Folgen haben kann. Tokaimura lehrt uns, daß gerade der in solchen Anlagen immer gegebene Zufall einfallsreicher als alle Sicherheitsexperten ist. Wir sollten aber nicht mit dem Finger auf Japan zeigen. Es ist nach meiner Beobachtung immer das gleiche: Vor einem Unfall wird betont, es gälten überall internaVizepräsident Rudolf Seiters tionale Standards. Nach einem Unfall kehrt sich diese Argumentation um, und es wird eilfertig betont, bei uns gälten ganz andere Standards. Meine Damen und Herren, in aller Sachlichkeit: Das ist falsch. Für den Umgang mit angereichertem Uran gibt es eine internationale Norm, die ISO 1709. Sie gilt bei uns wie in Japan. Internationale Standards wurden nicht nur in Japan nicht beachtet. Sie wissen sehr wohl, daß mit Wissen der Betreiber von Atomanlagen in Deutschland und in Europa weit über den Grenzwerten liegende Atommüllbehälter über Jahre hinweg hin- und hergeschickt worden sind. Ich sage all denjenigen, die heute leichtfertig fordern, die Bundesregierung solle mal eben Transporte genehmigen, mit Nachdruck: Wir dürfen und wir werden keine Transporte genehmigen, bei denen die internationalen Grenzwerte nicht eingehalten werden können. ({2}) Dies ist keine Verstopfungsstrategie, ({3}) sondern die Anwendung von Recht und Gesetz im Interesse der Sicherheit der Menschen. ({4}) Ich füge hinzu: Keiner, auch nicht die Betreiber, will Transporte um ihrer selbst willen. Niemand hat ein Interesse, den Konflikt um die Atomenergie auf dem Rükken von Polizeibeamten auszutragen. Es gibt Möglichkeiten, Transporte zu vermeiden. Wir haben Angebote gemacht, weil wir wissen, daß die Menschen solchen Transporten nur dann zustimmen, wenn es eine verbindliche Perspektive für die Beendigung dieser hochgefährlichen Technologie gibt. An dieser Stelle sei an die Betreiber gerichtet: Es ist an der Zeit, sich auf dieses Angebot konstruktiv einzulassen. ({5}) Einen Tag vor der Katastrophe von Tokaimura bescheinigten einige hundert Professoren - einige sind Mitglieder einer süddeutschen Reaktorsicherheitskommission - der Atomenergie Unbedenklichkeit. Die Herren entblödeten sich nicht - ich sage das in dieser Deutlichkeit -, die gesundheitlichen Risiken der Atomkraft mit denen von Windrädern zu vergleichen. Einen Tag später erfuhr diese professorale Leichtfertigkeit ein bitteres Dementi. Es gibt eben keine hundertprozentige Sicherheit! Ich will in Richtung dieser Professoren sagen: Ihr Angebot zu einem offenen Dialog habe ich zur Kenntnis genommen. Aber ich betone: Wir sollten diese Diskussion nicht mit Argumenten führen, deren Haltbarkeitsdatum keine 48 Stunden beträgt. ({6}) Ich möchte abschließend unterstreichen: Eine Technologie, bei deren Versagen Gesundheit und Leben von Menschen solch unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt ist, ist mit dem Allgemeinwohl nach meiner Überzeugung nicht zu vereinbaren. Das ist der Grund, warum wir den Atomausstieg umsetzen werden. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den uns vorliegenden Informationen ist der Atomunfall in Tokaimura einer der schwersten von den 59 weltweit seit 1945 bekannt gewordenen Kritikalitätsstörfällen, denen bisher insgesamt neun Menschen durch Strahleneinwirkung zum Opfer gefallen sind. In dieser japanischen Brennelementefabrik war ohne behördliche Genehmigung mit hochangereichertem Uran gearbeitet und unglaublich fahrlässig hantiert worden. Nach diesem Unglück richtet sich unser besorgter Blick natürlich auf die deutschen Anlagen der Uranverarbeitung. Heute steht außer Zweifel fest: In den deutschen Anlagen in Gronau, Hanau und Lingen hätte sich dieser Unfall nicht ereignen können, nicht nur, wie der Minister gerade betont hat, weil dort nicht mit hochangereichertem Uran gearbeitet wird, sondern darüber hinaus auch, weil dort mindestens zwei voneinander unabhängige technische Sicherheitsvorkehrungen bestehen, die jede für sich unabhängig von der anderen die Einhaltung der Kritikalitätssicherheit gewährleisten. ({0}) Diese Maßnahmen sind: Abwesenheit eines Neutronenmoderators, kritikalitätssichere Gefäße durch entsprechende geometrische Konfiguration, Konzentrationsund Mengenbegrenzung. In Tokaimura war laut Betriebshandbuch allein die maximale Uranmenge bei der manuellen Handhabung begrenzt. Die vor Ort in Gronau und Lingen beobachtete Anti-Atomkraft-Agitation, die Unruhe in die Bevölkerung hineinträgt, hat also überhaupt keine sachliche Grundlage. Sie ist schlimm und verantwortungslos. ({1}) Die Frage, mit der wir uns eigentlich ständig und nach dem Vorfall in Tokaimura mit neuer Intensität beschäftigen müssen, ist die Frage nach der Sicherheitskultur in unserer technischen Zivilisation. Die technische Zivilisation breitet sich über die ganze Welt aus. Es gibt keine andere Grundlage für eine menschenwürdige Existenz von 6 Milliarden Menschen. Es geht um eine Sicherheitskultur, die weltweit auf ein hohes Niveau gebracht und immer weiter verbessert werden muß. Wir wissen, es gibt keine Technik ohne Störungen und keine Menschen, die frei von Fehlhandlungen sind. Bei kerntechnischen Anlagen ist deshalb die Frage entscheidend, wie unvermeidliche Störungen und Fehlhandlungen abgefangen und behoben werden können, bevor Schaden entsteht. Hierfür sind automatische und manuelle Steuerungsmechanismen, aktive technische Sicherheitsmaßnahmen und passive Schutzbarrieren sowie ein Betriebspersonal, das durch ständiges Training auf Störungen gut vorbereitet ist, erforderlich. Je größer das Gefahrenpotential einer Technik ist, um so umfänglicher und vielfältiger sind die Sicherheitssysteme anzulegen. Dieser Tage haben in der Tat, Herr Minister, 569 Professoren von deutschen wissenschaftlichen Hochschulen in einem öffentlichen Memorandum festgestellt, daß in Deutschland während der vergangenen Jahrzehnte Höchstleistungen im Bereich der Weiterentwicklung nuklearer Sicherheit erbracht worden sind. Die deutschen Anlagen sind mit hohem Milliardenaufwand nachgerüstet und verbessert worden. Wer die vierteljährlichen Berichte der Bundesregierung über meldepflichtige Ereignisse in deutschen Atomanlagen über die Jahre verfolgt hat, sieht, daß auch hier tatsächlich große Fortschritte stattgefunden haben. Wir wünschen uns, daß auch Minister Trittin dies zur Kenntnis nimmt. ({2}) Die deutschen Wissenschaftler haben mit keinem einzigen Wort behauptet, in ausländischen oder deutschen Anlagen könnten keine Störfälle mehr auftreten. Sie wiesen aber ruhig und sachlich darauf hin, daß die heute für die deutschen Anlagen vorliegenden Erkenntnisse weit über den Kenntnisstand über nukleare Sicherheit und Entsorgungstechnik der 70er und 80er Jahre hinausgehen. Fragen der Energieversorgung der Zukunft müssen umfassend - auch im Hinblick auf ihre globale Nachhaltigkeit - geprüft werden. So erörtern die Professoren auch das Klimaproblem und betrachten unter der Voraussetzung der Erfahrungen mit deutscher Sicherheitskultur und mit den in Deutschland sorgfältig beachteten Sicherheitsstandards die gesamten Umweltauswirkungen der verschiedenen Energiesysteme. Dabei kann die Kernenergie bemerkenswert gut bewertet werden. Die deutschen Professoren bieten der Politik den Dialog über diese Fragen an und fordern eine ernsthafte Neubewertung der Energiepolitik. Minister Trittin sagt dazu - Sie haben es gerade gehört -, der Unfall in Japan sei ein bitteres Dementi der professoralen Leichtfertigkeit. ({3}) Er und offenbar auch Sie, die Sie das vorliegende Memorandum mit Sicherheit nicht gelesen haben, ({4}) unterstellen den Wissenschaftlern, sie hätten das Sicherheitsrisiko von Windanlagen höher bewertet als das der Kernkraftwerke. Wer das Memorandum wirklich liest, findet darin solche Aussagen nicht und ist empört über die verbale Infamie des Ministers. ({5}) Zur Ausstiegsideologie gehören offenbar auch die Verachtung und Schmähung der strengen, sachlichen Wissenschaft. Die beschämenden Vorgänge um die ReaktorSicherheitskommission lassen grüßen. Meine Damen und Herren, welche Forderungen sind aus dem Tokaimura-Unfall zu ziehen? Wir brauchen auf nationaler und internationaler Ebene eine neue Diskussion über die technische Sicherheitskultur. Die deutsche Wissenschaft bietet diesen Dialog an. Wir sollten ihn annehmen. Der Wissenschaftliche Beirat für Fragen der Globalen Umweltveränderungen hat schon vor Jahresfrist ein Gutachten über Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken vorgelegt. Wir sollten darüber intensiv diskutieren. Rings um Deutschland werden - vielfach in unmittelbarer Grenznähe - kerntechnische Anlagen betrieben, um deren Sicherheitsstandards wir die gleiche Sorge haben müssen wie um die der eigenen. Ohne jede Überheblichkeit können wir feststellen, daß nicht überall der gleichen Sicherheitsphilosophie gefolgt und die Verbesserung der Sicherheitstechnik sowie die der Betriebsweisen als ständige, äußerst wichtige Aufgabe gesehen wird, so wie das in unserem Land der Fall ist. Wer aussteigt, scheidet als Ratgeber und Schrittmacher aus. ({6}) Wer aussteigt, verringert das Risiko der deutschen Bundesbürger nicht. Nicht der Ausstieg dient unserem Land, sondern die Verbesserung der technischen Sicherheitskultur weltweit. Daran sollten wir nach Kräften mitwirken. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Horst Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Anteilnahme gehört den Betroffenen und ihren Angehörigen. ({0}) Ein Argument hört man immer wieder, nämlich, daß der Ausstieg aus der Kernenergie eine Ideologie sei. Eine Befürwortung der Kernenergie ist dann aber genauso eine Ideologie; darauf möchte ich hinweisen. ({1}) Hätte ich vor einer Woche vor dem Deutschen Bundestag den Vorgang geschildert, daß in einer Brennelementefabrik kritische Massen mit einem Eimer - ich geDr. Paul Laufs be zu, es war ein Stahleimer - zusammengeführt werden, hätten mich alle für verrückt erklärt. Mit Recht! Die Gegner und ebenso die Befürworter der Kernenergie hätten laut gelacht. Aber das Lachen ist uns vergangen. Im Grunde genommen ist etwas Unvollstellbares passiert - und dies nach Jahrzehnten der Kernenergienutzung. Kritische Massen wurden zusammengeführt; eine Kettenreaktion wurde ausgelöst, und das Ganze geschah in Japan und nicht etwa in einem Entwicklungsland bzw. in einem Land ohne Kernenergieerfahrung. - Herr Laufs, wenn ich Ihre Gedanken zu Ende führe, muß ich feststellen: Sie werden uns Japan, das dafür bekannt ist, daß es voll auf Kernenergie setzt, wohl nicht als Berater empfehlen. - Japan ist ein hochindustrialisiertes Land, das seine Energieprobleme über die Atomenergie lösen will. Es ist sozusagen das Paradies der Befürworter der Atomenergie. Japan glaubt noch an den Schnellen Brüter. Wir haben uns längst aus der Brütertechnologie verabschiedet. Japan hat dagegen voll auf Kernenergie gesetzt - und tut dies noch immer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab natürlich auch eine Reaktion an der Börse. Der Kurs des Konzerns, dem der Komplex Tokaimura gehört, ist stark gefallen; daraufhin ist der Handel mit der Aktie ausgesetzt worden. Jetzt wird es etwas sarkastisch: Es gab aber auch gegenläufige Kursbewegungen. Die Kurse der Hersteller von Jodtabletten sind in die Höhe geschnellt. Die Befürworter der Atomenergie könnten sagen: Das haben wir ja schon immer gewußt. In Japan wird mit Kernenergie leichtsinnig umgegangen. Eine Reihe von Unfällen sind geschehen. Trotzdem sind nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen worden. - Dieses Argument der Befürworter habe ich aber bisher in bezug auf Japan nicht gehört. Der japanische Regierungssprecher hat von einem Unfall der 50er Jahre gesprochen. Das ist richtig. In den 40er und 50er Jahren wurden des öfteren Kettenreaktionen - man spricht von 59 - ausgelöst, weil damals der Umgang mit der Kernenergie noch nicht so eingeübt war, weil die Verfahren fehlten und weil man im Experimentierzustand war. Aber am Ende unseres Jahrtausends, im Jahre 1999, führt ein einfacher Fehler zu einer Kettenreaktion. Gott sei Dank ist daraus keine Katastrophe entstanden. Eine Verpuffung hätte dazu geführt. Der Vorgang in Tokaimura bestätigt aber, daß Atomenergie nicht beherrschbar ist. Dieser Unfall war zwar noch lokal beherrschbar; er hätte aber auch lokale Auswirkungen und unter Umständen sogar globale Auswirkungen nach sich ziehen können. Die Befürworter der Kernenergie sagen jetzt: Dieser Unfall ist in Deutschland nicht vorstellbar. - Auch ich habe das bis gestern gedacht. Aber als ich heute die „Süddeutsche Zeitung“ aufgeschlagen und von dem Fall des Herrn Weber gelesen habe - „Ich war von Kopf bis Fuß voll Uran“ -, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. 1971 ist in Deutschland also genauso leichtsinnig verfahren worden. Es stimmt, daß ein solcher Fehler wie in Japan hier nicht passieren kann. Man muß aber zugeben, daß der von Arbeitern in Japan verursachte Fehler, kritische Massen in einem Eimer zusammenzuführen, ebenfalls nicht vorstellbar war. Ein Blick zurück: Auch Tschernobyl und Harrisburg waren nicht vorstellbar. Es war damals nicht vorstellbar, daß in Tschernobyl das Personal Versuche am konventionellen Teil der Anlage durchführen könnte. Durch diese Versuche ist die Anlage außer Kontrolle geraten, und der GAU ist eingetreten. In Harrisburg war es nicht vorstellbar, daß die geistigen Väter des Reaktors übersehen haben, daß es bei hohen Temperaturen zu chemischen Reaktionen kommt, die zur Knallgasbildung führen. Das Problem der Knallgasbildung ist übrigens nach Harrisburg in keinem der deutschen Reaktoren gelöst worden. Diese einfache chemische Reaktion wird bereits im ersten Semester anorganische Chemie gelehrt. Trotzdem ist sie übersehen worden. In Japan war nicht vorstellbar, daß Arbeiter kritische Massen in einem Eimer zusammenschütten. Dabei hatte die Betreiberfirma schon vorher die staatlichen Vorschriften geändert, um zu schnelleren Produktionsabläufen zu kommen. Die beteiligten Arbeiter wiederum verkürzten das Verfahren, und die Kettenreaktion wurde ausgelöst. Allen drei Fällen liegen menschliches Versagen und menschliche Fehler zugrunde. Wir können uns eine Technik, die keinen Fehler verzeiht, nicht leisten. Bei der Atomenergienutzung passieren die unvorstellbaren Fehler. 1 000 000 Fehlermöglichkeiten werden durchgespielt. Aber der 1 000 001. Fehler tritt ein, und die Katastrophe geschieht. Die zwei Vorredner haben diesen Punkt schon angesprochen: Einen Tag vor dem Unglück haben mehrere hundert Professoren aus Deutschland ein Memorandum zum geplanten Atomenergieausstieg veröffentlicht. Sie sind schnell von der Wirklichkeit eingeholt worden. Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wenn dieser undenkbare Unfall in Japan nicht geschehen wäre, hätten Sie zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde beantragt, in der wir dieses Memorandum diskutiert hätten. Deswegen möchte ich die Chance ergreifen, kurz darauf einzugehen. Das Memorandum ist eine einseitige Parteinahme für die Atomenergie. Natürlich haben deutsche Wissenschaftler das Recht, einseitig Partei zu ergreifen und ihre Interessen zu vertreten. Das Memorandum wertet sich aber auf zweierlei Art ab: Erstens enthält es unwissenschaftliche Unterstellungen, zweitens werden die Probleme der Atomkraft einseitig dargestellt. ({2}) Zunächst zu den unwissenschaftlichen Unterstellungen: Es ist unwahr, daß Parteitagsbeschlüsse der 70er und 80er Jahre ohne Überprüfung vollzogen werden sollen. Die SPD - ich nehme an: auch die Grünen setzte sich laufend mit dem Thema Kernkraft auseinander. Die Entwicklungen werden genau beobachtet und sachgerecht und kritisch diskutiert. Durch einfaches Zeitunglesen hätten die Herren Wissenschaftler diese Aussage nachvollziehen können. ({3}) Durch Zeitunglesen und zum Beispiel durch das Verfolgen der Bundestagsdebatten hätte man wissen müssen: Für die Koalition ist der Ausstieg aus der Kernenergie ein Einstieg in eine andere Energiepolitik. ({4}) - „In welche?“ Herr Kollege, Sie haben hier im Plenum schlicht und einfach geschlafen. Wir haben es oft genug dargestellt. ({5}) Wir brauchen eine andere Struktur der Energieversorgung, und zwar eine dezentrale. Die Verfasser des Memorandums schreiben auch von Fortschritten bei der Entsorgung. Natürlich hat es da Fortschritte gegeben, zum Beispiel die volumenmäßige Verringerung der radioaktiven Abfälle. Aber schon beim Transport fangen die Schwierigkeiten an. Deswegen hat vor einem Jahr die damalige Umweltministerin Merkel ein Transportverbot ausgesprochen. Entscheidend bei dieser Frage ist aber, daß es weltweit kein Endlager für hochradioaktive Abfälle gibt. ({6}) Die Wissenschaft ist sich immer noch nicht einig, welche Anforderungen an ein solches Endlager gestellt werden sollen. Auch die Frage, in welchen Formationen die hochradioaktiven Abfälle gelagert werden sollen, ist nicht gelöst. Davon steht nichts im Memorandum. Das ist einseitige Parteinahme. ({7}) Für die Verfasser und Unterzeichner des Memorandums scheint unsere wichtigste Energieart unbekannt zu sein. Energiesparen, Energieeffizienz, rationelle Energienutzung - auch über dieses Thema verliert man kein Wort, obwohl ungeheure Forschungsmittel dafür aufgewendet wurden. Das Thema der regenerativen Energien ist sehr einseitig unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit betrachtet worden. Die Verfasser verlieren aber kein Wort dar über, daß für die Kernenergie Milliarden D-Mark an Subventionen benötigt wurden. Nur über diese Subventionen war es möglich, die Kernenergie wirtschaftlich zu gestalten. Noch erstaunlicher ist, daß das Thema „Restrisiko der Kernenergie“ völlig unerwähnt bleibt. Das Papier weist erhebliche Mängel auf. Es ist einseitig und unseriös. Ich möchte deswegen die Unterzeichner - nicht die Verfasser - des Papiers auf eine Meldung des „Tagesspiegel“ vom 30. September hinweisen, wonach Herr Professor Voß gesagt haben soll, daß die gesundheitlichen Risiken der Atomkraft nicht höher seien als die der Windenergie. Dies ist eine unglaubliche Äußerung, ({8}) genauso unglaublich wie der Unfall in Japan. Allein diese Äußerung müßte den Unterzeichnern des Memorandums klarmachen, daß sie mißbraucht wurden. Ich fordere daher die Unterzeichner auf, sich von diesem Memorandum zu distanzieren und ihre Unterschrift zurückzuziehen. Sonst leidet ihre Glaubwürdigkeit darunter. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht nunmehr die Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer Woche, am 30. September, hat sich in Japan ein Unglücksfall ereignet, der in Deutschland ein ungewöhnlich starkes Echo in Politik, Presse und Öffentlichkeit gefunden hat, paßt er doch, zumindest scheinbar, in die aktuelle Debatte über den Atomausstieg, die bei uns geführt wird. Bei näherem Hinsehen stellt sich das aber anders dar: In Tokaimura wurde mit einer Technik, die in Deutschland nicht angewandt wird, nämlich dem Naßverfahren, und einem Ausgangsmaterial, das in Deutschland weder vorkommt noch verwendet wird, ein Verfahrensschritt zur Herstellung von Kernreaktorbrennstäben durchgeführt. In Deutschland werden Reaktorbrennstäbe in einer Fabrik in Lingen/Ems aus Uran mit einem Anreicherungsgrad von 3 bis maximal 5 Prozent hergestellt. In Tokaimura dagegen wurde am vergangenen Donnerstag Uran mit einem Anreicherungsgrad von 18,8 Prozent U 235 eingesetzt. Man muß einfach festhalten, daß derart hoch angereicherter Kernbrennstoff in Deutschland weder hergestellt noch eingesetzt wird. In der japanischen Fabrik ist nun etwas passiert, was mit menschlichem Versagen erklärt wird. Statt der erlaubten und für diesen Arbeitsgang vorgesehenen Menge von 2,3 Kilo Uranoxidpulver mit einem Anreicherungsgrad von über 18 Prozent wurden in einem Gefäß sage und schreibe 16 bis 17 Kilo in Salpetersäure aufgelöst. Dadurch wurde, wie schon beschrieben, eine kritische Masse überschritten und in dem Gefäß eine nukleare Kettenreaktion ausgelöst. Es ist ernüchternd und, wie ich finde, auch unerträglich, daß das Sicherheitskonzept einer solchen Fabrik dem menschlichen Versagen eines oder mehrerer Mitarbeiter, die entweder Material oder Mengen verwechseln, keinen technischen Sicherheitsriegel vorschiebt. Wir können das von hier aus kritisieren; sorgfältig analysieren werden es die japanische Regierung und die Internationale Atomenergie-Organisation. Durch die Entziehung der Betriebsgenehmigung hat die japanische Regierung allerdings unmißverständlich reagiert und klargemacht, daß Sicherheitsvorschriften, die dort gelten, nicht eingehalten wurden. Herr Minister Trittin, ich finde es ziemlich unerträglich - das gilt auch für den Kollegen Kubatschka -, daß Sie in Ihren Reden gleichzeitig immer das Thema Castor-Transporte anschneiden und dieses auf ein und dieselbe Ebene stellen. ({0}) - Doch, das haben Sie. Sie suggerieren damit, daß diese Transporte genauso gefährlich sind. Auch wenn Sie das nicht ausdrücklich auf eine Ebene gestellt haben, fest steht: Das hat nichts miteinander zu tun, und wenn das nichts miteinander zu tun hat, braucht man es hier auch nicht zu erwähnen. Wenn man es dennoch tut, verfolgt man damit einen bestimmten Grund. ({1}) Nach allen inzwischen vorliegenden Informationen deutet nichts darauf hin, daß dieser Unfall zusätzliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Sicherheitstechnik vermittelt oder bei uns geltende Sicherheitskonzepte auf den Kopf stellen wird. Der Betreiber der einzigen vergleichbaren Anlage in Deutschland, der Brennelementefabrik in Lingen, hat jedenfalls dargelegt und auch mit technischen Daten untermauert, daß ein Kritikalitätsunfall in seiner Anlage technisch ausgeschlossen ist, und zwar unabhängig von menschlichem Versagen. ({2}) - Das stimmt nun nicht. Wenn Sie die Vorgänge in Japan entsprechend verfolgt hätten, Herr Kollege Kubatschka, hätten Sie mitbekommen, daß der Betreiber der Anlage dort zugegeben hat, daß er Sicherheitsvorschriften, sogar die eigenen Sicherheitsvorschriften, nicht eingehalten hat. ({3}) Sie können nicht unterstellen, daß das in deutschen Anlagen genauso passiert. ({4}) Wir haben hier auch eine ganz andere Überprüfungspraxis als in Japan. Das wurde im übrigen schon an der ersten Reaktion der japanischen Regierung deutlich. Jetzt noch ein paar Worte zu der regierungsamtlichen Publizität und dem Presseecho. Solange nicht klar war, ob die nukleare Kettenreaktion gestoppt werden kann, war es, trotz der großen Entfernung vom Unfallort, richtig, diese Situation zu beobachten sowie vorsorgende und planende Maßnahmen im deutschen Umweltministerium zu ergreifen. Das war mit Sicherheit gerechtfertigt. Insofern hat sich Herr Bundesumweltminister Trittin richtig verhalten. Ich begrüße auch, daß er sich öffentlich - das will ich an dieser Stelle schon einmal sagen - bis zu der heutigen Debatte im wesentlichen zurückhaltend geäußert hat. Aber gerade weil Sie sich so zurückhaltend geäußert haben, war die Presseerklärung unverantwortlich, die Sie abgegeben haben, nämlich die Bevölkerung in Deutschland werde über Auswirkungen des Unfalls, die sich in Deutschland innerhalb einer Woche oder später bemerkbar machen würden, rechtzeitig unterrichtet. ({5}) Ihre Presserklärung ist deshalb unverantwortlich, weil bei diesem Unfall praktisch kein radioaktives Material in die Umwelt ausgetreten ist. Es gab keine Explosion und keinen Brand. Die gefährliche Mischung, um die es geht, ist in dem Behälter geblieben. ({6}) - Ja, natürlich. Entschuldigung, aber das war wirklich ein dummer Zuruf, den Sie da gemacht haben. ({7}) Denn wenn kein radioaktives Material aus dem Behälter austritt, kann es sich auch nicht über die Erdatmosphäre ausbreiten. ({8}) - Entschuldigung, Sie verwechseln hier die Reaktion mit der Strahlung. Dazwischen besteht ein großer Unterschied. Die Strahlung wird in die unmittelbare Umgebung abgegeben, aber sie kann nicht durch Wind bis nach Deutschland getragen werden. Das ist der Unterschied, Herr Kollege. ({9}) - Das sagen Sie! Ich möchte jetzt nicht bewerten, welche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Sie schon verbreitet haben. Diese Bewertung überlasse ich den Naturwissenschaftlern. ({10}) Von fragwürdigem politischen Stil des Umweltministers zeugt die Abrechnung mit den 570 deutschen Wissenschaftlern, die ein Memorandum zum geplanten Kernenergieausstieg veröffentlicht haben. Thematisch haben dieses Memorandum - das habe ich darzulegen versucht - und der Unfall in Japan nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun. Vielmehr sollte dieses Memorandum sorgfältig gelesen und auch als wertvoller Diskussionsbeitrag berücksichtigt werden, ({11}) ob es Ihnen nun paßt oder nicht, Herr Trittin. ({12}) Dieses Memorandum unter Ausnutzung von Ängsten in der Bevölkerung als „Dokument professoraler Leichtfertigkeit“ zu bezeichnen ist ein unnötiger persönlicher Angriff auf Menschen, die sich fachkundig, intensiv und wie ich finde, auch differenziert mit dem Thema auseinandersetzen. ({13}) Gerade Sie, Herr Minister Trittin, der sich bereits durch wirklich leichtfertige Äußerungen im In- und Ausland einen Namen gemacht hat, sollten einen solchen Angriff jedenfalls nicht starten. ({14})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter, PDSFraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tokaimura ist nur ein vorläufiger Höhepunkt. Allein in den letzten drei Tagen gab es Unfälle in Finnland, Südkorea und Rußland. In Südkorea sind wiederum 22 Menschen verstrahlt worden; in Finnland trat hochexplosiver Wasserstoff aus. Gerade in der letzten Woche habe ich wieder überrascht feststellen müssen, wie durch scheinbar simpelste Fehler teuerste Technik einfach zu Schrott wird. Eine 125 Millionen Dollar teure NASA-Raumsonde zerschellte auf dem Mars. Sie wurde - so dürfen wir annehmen - mit vergleichbarem Sicherheitsaufwand und vergleichbar großer Sorgfalt wie Atomkraftwerke konstruiert, die über eine aufwendige und hochgezüchtete Sicherheitstechnik verfügen. Diese Sorgfalt hat aber nicht verhindern können, daß den Bahnkorrekturbefehlen Rechnungen zugrunde gelegt wurden, die auf verschiedenen Maßeinheiten beruhten. Ist das nicht verrückt? Wer ist jetzt schuld? Die Menschen, die - wie die Ingenieure und Arbeiter in Tokaimura - versagt haben, oder die Technik, die solches Versagen zuließ? Oder vielleicht die Politik, die uns immer wieder weismachen will, technisch seien Unfälle dieser Art zu verhindern? ({0}) „Bei uns doch nicht“, tönt es aus vielen Lagern, „ausgeschlossen, die Sicherheitsstandards sind hier viel höher“. Doch das glauben immer weniger Menschen; denn nun sind es nicht mehr nur die GUS-Staaten, die im allgemeinen Wirtschaftschaos vermeintlich zum Herumschlampen neigen, wie uns die Atomlobby immer weismachen wollte. Nein, auch die Japaner mischen einmal ein paar Kilogramm Uran zu viel in die Pampe, ausgerechnet diejenigen, die immer die winzigen Computer und Roboter konstruieren und so tolle Autos bauen. Schade irgendwie, darf man denn an nichts mehr glauben? Ohne weiter lange Reden zu halten: Ein Unfall mit unkontrollierter Kettenreaktion ist auch in jedem deutschen Atomkraftwerk möglich, sofern die Kühlung versagt. Die Auswirkungen eines solchen Kernschmelzunfalls in einem Atomkraftwerk überstiegen das Schadensmaß des Tokaimura-Unfalls noch bei weitem; das dürfte klar sein. Wenn man neueste Informationen der Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges zur Kenntnis nimmt, wird deutlich, daß auch in Deutschland Unfälle eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher werden. In ihrem Bericht heißt es nämlich: Im Zuge des Preiskampfes der Energieversorger werden die Revisionszeiten von Atomanlagen immer weiter gekürzt, in Neckarwestheim 2 in den letzten fünf Jahren von 33 auf 17 Tage. Bei der Prüfung der rund 20 000 Armaturen eines Atomkraftwerkes will Siemens künftig zur sogenannten zustandsorientierten Instandhaltung übergehen, um längere Serviceintervalle zu erreichen und seltener Überprüfungen vornehmen zu müssen. Außerdem soll bei Armaturen und Kühlpumpen nur noch der Zustand einzelner Komponenten überprüft und von diesen auf die übrigen geschlossen werden. Weiter heißt es in diesem Bericht, 40 Prozent der Servicemannschaften von Siemens bestünden aus Hilfskräften, die die Firma zunehmend in Zehnstundenschichten der Strahlenbelastung aussetze. Sie wechselten unter anderem Steuerelemente aus, die im Notfall den Reaktor abschalten sollen. Da wundert es natürlich nicht, daß keine private Versicherungsgesellschaft heute bereit ist, ein Atomkraftwerk gegen einen Unfall zu versichern. Ich glaube, auch die hier erschienenen Vertreter der Bundesregierung werden keine Garantie dafür abgeben, daß ein Kritikalitätsunfall wie in Tokaimura in britischen oder französischen Wiederaufarbeitungsanlagen technisch ausgeschlossen ist. Dennoch weigert sich die Bundesregierung bisher beharrlich, ein Verbot der Wiederaufarbeitung gesetzlich zu regeln. ({1}) Selbst wenn rein theoretisch ein GAU ausgeschlossen wäre, bliebe noch das Problem der Entsorgung. Doch schon der Begriff ist fraglich; denn das strahlende Material läßt sich nicht einfach beseitigen. Es braucht Hunderttausende von Jahren, bis die radioaktiven Brennstäbe oder der Abfall von Wiederaufarbeitungsanlagen zu harmloseren Elementen zerfallen ist - „Zeit genug für eine Reihe von Eiszeiten, die Oberfläche der Erde ordentlich umzupflügen“, wie die „Taz“ einmal schrieb. Meine Kolleginnen und Kollegen, fassen wir Harrisburg, Tschernobyl und Tokaimura zusammen, so bleibt die Gewißheit: Nach dem GAU ist vor dem GAU. Die Konsequenz, die zu ziehen ist, muß lauten: Nur der schnellstmögliche Ausstieg kann solche Katastrophen ausschließen. „Schnellstmöglich“ heißt für uns: nicht 25 Jahre, sondern maximal 5 Jahre. ({2}) Wir haben dazu eine Änderung des Atomgesetzes beantragt. Die Debatte dazu wird zufällig heute stattfinden, allerdings wieder einmal - logisch, es ist ein PDS-Tagesordnungspunkt - erst am späten Abend, wenn die Medien alle schon eingepackt haben. Das ist sehr schade. Aber ich denke, es geht mit Ihrem Demokratieverständnis konform, daß solche wichtigen Dinge nicht vormittags zur Fernsehzeit diskutiert werden, sondern um 20 Uhr oder später, wenn fast niemand mehr da ist. Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Homburger, von wegen „Radioaktivität hat die Anlage nicht verlassen“: Die Werte, die am Zaun gemessen wurden, waren zum Teil 40 000mal so hoch wie der Normalwert. Soviel zu Ihrer „objektiven“ Informationspolitik. ({0}) - Auch das. Es geht nicht darum, diesen Einzelfall zu analysieren. Dieser Einzelfall ist eine Mahnung, daß wir es hier mit einer Technik zu tun haben, die nicht fehlerfreundlich ist. Sie, Herr Laufs, diskutieren über neue Sicherheitsphilosophien. Unser Grundgedanke ist, Techniken einzusetzen, die im Falle eines Fehlers nicht so radikale Auswirkungen haben, wenn es solche Alternativen gibt - und solche Alternativen gibt es. Deswegen wollen wir den Atomausstieg als Konsequenz aus solchen Unfällen. ({1}) Man muß feststellen: Ein Restrisiko bleibt auf jeden Fall. Menschliches Versagen ist auch in deutschen Anlagen jederzeit möglich. Der Mensch ist eben nur ein Mensch. Siemens zum Beispiel setzt jetzt bei Wartungsarbeiten 40 Prozent ungeschultes Personal ein. 1998 kam es an der Unterweser zu einem Druckanstieg im Dampferzeuger. Als die Ventile geöffnet werden sollten, waren sie nicht zu öffnen, weil ein Arbeiter den Schlüssel falsch aufgehängt hat. Das ist ein typisches Beispiel, wie Menschen auch in Deutschland versagen. Das hat zu einem Störfall der Stufe 2 geführt; Tokaimura war Stufe 4. Also, menschliches Versagen gibt es fast jährlich auch in Deutschland. Da sagt man dazu: Wir sichern das durch Technik ab. Aber auch die Technik kann versagen; das wissen auch Sie. 1983 kam es in Philippsburg zu Lecks in den Brennelementen und zu erhöhter Radioaktivität. Da sich unvorhergesehene chemische Verbindungen bildeten, konnte der Jodfilter nicht mehr funktionieren - technisches Versagen. Oder auch 1985: im Grunde wiederum technisches Versagen, weil kleine Lecks in Kühlkreisläufen aufgetreten sind. ({2}) - Das braucht mir das Ministerium nicht aufzuschreiben, Herr Grill, das weiß ich selbst. Jetzt sagen Sie: Ja, aber in Japan werden Sicherheitsstandards bewußt unterlaufen. Dazu sage ich Ihnen: Das gibt es auch in Deutschland. Jürgen Trittin hat auf den Transportunfall hingewiesen. Ich nenne Ihnen zwei weitere Störfälle in Deutschland, bei denen Sicherheitsstandards von den Betreibern bewußt außer Kraft gesetzt wurden: 1978 in Brunsbüttel: Nachdem ein Leck entdeckt worden war, wurde der Reaktor vorschriftswidrig erst nach Stunden heruntergefahren. Dieser Störfall hätte wahrscheinlich die Einstufung 1 bis 2 bekommen, wenn es das damals schon gegeben hätte. 1987 in Biblis: Ein Reaktor wurde trotz offener Ventile hochgefahren. Daß die Ventile noch offen waren, wurde nicht bemerkt, obwohl die Kontrollampe leuchtete. Als es entdeckt wurde, wurde gegen die Vorschriften - weil man keine Zeit verlieren wollte - versucht, das zweite Ventil zu schließen, und noch mehr Kühlmittel ist ausgeflossen. Das sind Beispiele für ein bewußtes Unterlaufen von Sicherheitsstandards auch in Deutschland. Es gibt in unseren AKWs also menschliches Versagen, es gibt technisches Versagen und es gibt das bewußte Unterlaufen von Sicherheitsstandards. Das ist auch in Deutschland der Normalfall beim Betreiben von Atomkraftwerken. ({3}) Deswegen ist für mich Japan auch eine Mahnung, mit unserem Atomausstieg wirklich einmal voranzukommen. Ich glaube, daß wir als rotgrüne Koalition viel zu häufig den Fehler machen, über die Instrumente zu reden, und daß wir viel zu wenig - auch mit der Bevölkerung - darüber sprechen, warum wir etwas tun. Dieser Störfall hat noch einmal deutlich gemacht, daß man, wenn man mit einer solchen Technologie arbeitet, jeden Tag mit dem Risiko lebt. Das ist auch ein Stück weit eine Begründung für etwas, das von außen ein bißchen unerquicklich und zäh aussieht, weil es sehr schwer ist, in einem hochentwickelten Industrieland eine gesamte Technologie zu beenden. Das ist für uns aber nicht einfach ein Spiel, sondern hat einen ernsten Hintergrund. Wir halten es nicht für verantwortbar, der jetzigen Generation das Restrisiko und der zukünftigen Generation den Atommüll aufzubürden, der über Zehntausende von Jahren strahlen wird und für den es weltweit kein Endlager gibt, so daß man Zehntausende von Jahren lang nicht weiß, wohin mit diesem hochgefährlichen Müll. Es gibt noch andere Gründe; wir als Grüne brauchten diesen Störfall also in keinster Weise. Ich glaube aber, es wird Zeit, daß wir uns als rotgrüne Koalition einmal entscheiden - nachdem wir über ein Jahr lang versucht haben, mit den Stromkonzernen Gespräche zu führen und einen Kompromiß zu finden -, wie wir jetzt endgültig mit dem Atomausstieg weiterkommen. Obwohl es den aus meiner Sicht hochintelligenten Vorschlag von Jürgen Trittin und Joschka Fischer gegeben hat, ({4}) um Sicherheit und betriebswirtschaftliche Interessen zu einem flexiblen Kompromiß zusammenzubinden, befürchte ich leider, daß die Kompromißbereitschaft auf seiten der Stromkonzerne eher sinkt als steigt, weil sie jetzt zunehmend im Wettbewerb miteinander stehen und zum Beispiel von EdF aufgekauft werden. Dennoch müssen wir als rotgrüne Regierung - wir haben uns das Ziel Atomausstieg vorgenommen - in nächster Zeit entscheiden - ich finde, in diesem Jahr -, ob wir, wenn es bedauerlicherweise nicht zu einem Kompromiß kommt - den wir immer noch wollen -, den Atomausstieg dann auch im Dissens durchziehen. Ich hoffe, daß wir dann gleichzeitig auch ein umfassendes Konzept für den Energieeinstieg vorstellen können. Wir haben erste Maßnahmen - zum Beispiel das 100 000Dächer-Programm und das Programm zur Förderung erneuerbarer Energien - eingeleitet. Wir werden nachlegen mit der Novellierung des Stromeinspargesetzes und der Hilfestellung für die Kraft-WärmeKoppelung im Wettbewerb. Wir werden auch beim Thema Energieeinsparung im Baubereich und in anderen Bereichen und bei der Energieeinsparberatung nachlegen. Das muß mit dem Atomausstieg zu einem schlüssigen Gesamtkonzept verbunden werden. Ich glaube, daß wir dann auch die Zustimmung der Bevölkerung für beide Teile - für den Ausstieg und für den Einstieg - bekommen werden. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Hustedt, ich möchte auf Ihre zu Beginn Ihrer Rede gemachte Bemerkung eingehen und stelle fest, daß Sie offensichtlich eine mangelnde Fähigkeit haben, zuzuhören. Ich habe hier nicht gesagt, daß keine Strahlung ausgetreten ist. Ich habe hier vielmehr gesagt: Es ist kein radioaktives Material ausgetreten. Das ist ein erheblicher Unterschied. Das radioaktive Material ist im Behälter, ist innerhalb der Anlage geblieben. ({0}) Herr Trittin hat gesagt, es würde unter Umständen auch hier in Deutschland eine Gefährdung geben, weil nämlich der Wind Material hierhertragen könne. Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Wenn kein radioaktives Material aus der Anlage austritt, dann kann es auch nicht hierherkommen. ({1}) - Das hat mir keiner aufgeschrieben, Frau Kollegin; das habe ich eben selber noch notiert. ({2}) Es ist also kein radioaktives Material ausgetreten, das zu einer Gefährdung in Deutschland führen könnte. Herr Kollege, es hätten nämlich die Häuser in der unmittelbaren Umgebung nicht wieder bezogen werden können die direkte Strahlung, die Neutronenstrahlung, ist zwischenzeitlich zurückgegangen -, und auch die Gemüsefelder ({3}) hätten nicht freigegeben werden können, wenn wirklich radioaktives Material ausgetreten und auf die Erde heruntergekommen wäre. Das ist der Unterschied, und deswegen bitte ich Sie dringend, das entsprechend zu unterscheiden. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer Entgegnung hat die Kollegin Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Homburger, man muß unterscheiden. In der Tat sind keine Feststoffe ausgetreten. Aber die GRS sagt, daß davon auszugehen sei, daß kurzlebige Edelgase und Jod-Isotope emittiert worden seien. ({0}) Ich weiß nicht, ob Sie auch das unter Material fassen oder ob Sie nur Feststoffe als Material definieren. ({1}) - Ja, gut. Dann muß ich aber ehrlich sagen: Das ist die Art der irreführenden Informationspolitik, die die alte Bundesregierung immer betrieben hat. ({2}) Es wurden Radioaktivität und radioaktive Stoffe emittiert. Das ist ein Fakt. Die Meßdaten sprechen auch dafür. Was wohl stimmt, ist, daß Edelgase sich relativ leicht verflüchtigen und sich nicht festsetzen. Aber Ihre Aussage ist eindeutig falsch. Ich muß sagen: Zum erstenmal, seit ich Politik mache, fühle ich mich tatsächlich ausreichend informiert und habe Vertrauen darin, daß die Bundesregierung, die GRS und das Umweltministerium hier nicht irgendwie mauscheln und verharmlosen, sondern daß sie sachlich informieren. Das finde ich angemessen und gut, und das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zur Vergangenheit. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Klinkert hat das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jede Technik - ich betone ausdrücklich: jede Technik -, mit der verantwortungslos umgegangen wird, stellt eine Gefahr für den Menschen und die Umwelt dar. Das trifft natürlich in besonderer Weise auf kerntechnische Anlagen zu. In Tokaimura ist besonders schlampig und verantwortungslos mit hochsensibler Technik umgegangen worden - ein Vorwurf, der nicht die Arbeiter trifft, die ja durch ihre falsche Handlungsweise selbst zu bedauernswerten Opfern wurden, ein Vorwurf, der aber uneingeschränkt einen offensichtlich unfähigen Betreiber trifft. Wir wissen: Tokaimura, eine Anlage zur Uranverarbeitung, hatte kein ausreichendes Sicherheitskonzept, unzureichend geschultes Personal, fehlende Kontrollmechanismen und nicht einmal Havarie- und Notfallpläne. Natürlich drängt sich verständlicherweise jedem Menschen die Frage auf: Ist eine solche, eine ähnliche Havarie zum Beispiel auch bei uns in Deutschland möglich? Eine Frage, für deren Beantwortung es in Deutschland fachlich zuständige Behörden gibt, nämlich die Gesellschaft für Reaktorsicherheit oder zum Beispiel das Bundesamt für Strahlenschutz, die, wie wir wissen, von Herrn Trittin personell umstrukturiert und mit Leuten besetzt wurden, die man nicht unbedingt als kernenergiefreundlich bezeichnen könnte. Aber beide, GRS und BfS, haben übereinstimmend festgestellt. Erstens. Es gibt keine vergleichbaren Anlagen in Deutschland. Zweitens. Deutsche Anlagen haben eine andere, eine wesentlich bessere Sicherheitskultur. Fazit daraus: Japan und nicht Deutschland muß seine Sicherheitsmaßnahmen bei kerntechnischen Anlagen verbessern. ({0}) Diese sachliche Aussage hindert natürlich nicht bestimmte rote und grüne Politiker daran, Horrorszenarien zu entwerfen und die Bevölkerung zu verunsichern. Herr Trittin, deutsche Anlagen in die Nähe von Tschernobyl zu rücken, wie Sie das in Ihrer Rede eben getan haben, das ist verantwortungslose Panikmache. ({1}) Man hat überhaupt den Eindruck, daß Sie, die rotgrüne Koalition, Ihren eigenen Horrorszenarien nicht richtig glauben. Das wird durch die Tatsache bewiesen, daß die Bundesregierung zur Zeit mit den Kernkraftwerksbetreibern über Ausstiegsszenarien von bis zu 35 Jahren verhandelt. Wenn deutsche Kernkraftwerke unsicher wären - sie sind es nicht, das wissen Sie; das Gegenteil ist der Fall; sie sind die sichersten der Welt -, dann müßten sie ohne Wenn und Aber sofort und nicht erst in 35 Jahren abgeschaltet werden. Wenn Sie, Herr Trittin, Ihren eigenen Worten über die Unsicherheit deutscher Anlagen und die Gefahren, die von diesen Anlagen ausgehen, glauben würden, dann müßten Sie, da Sie sich in dieser Regierung offensichtlich nicht durchsetzen können, diese Regierung verlassen. ({2}) Es ist bemerkenswert, daß Sie Ihre offensichtlich vorhandenen Überzeugungen Ihrem Ministersessel opfern - oder Sie haben diese Überzeugung nicht. ({3}) Meine Damen und Herren, wie in fast allen Fragen ist diese Bundesregierung geprägt von Konzeptionslosigkeit und Widersprüchlichkeit. ({4}) Ein nach meinem Eindruck übrigens immer kleiner werdender Anteil möchte einen sofortigen und unumkehrbaren Ausstieg.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Klinkert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Klinkert, Sie haben zwar recht, daß die deutschen Anlagen anders konstruiert sind als die in Tokaimura. Trotzdem möchte ich Sie fragen, woher Sie die Sicherheit nehmen, daß in deutschen Anlagen kein Atomunglück passieren kann, und welche Rede Sie halten würden, wenn es zufällig in Deutschland passiert wäre und nicht in Japan.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist das Typische bei der rotgrünen Koalition: Sie unterstellen ein Szenario, das für Deutschland nicht vorstellbar ist, ({0}) und fragen danach, was wir dazu sagen würden, wo doch so ein Fall durch die deutsche Sicherheitskultur nach menschlichem Ermessen vermieden werden kann. Ich kann und werde Ihnen diese Frage nicht beantworten, weil es eine sogenannte Suggestivfrage ist. Meine Damen und Herren, ich war dabei, auseinanderzudividieren, welche Ansicht die Bundesregierung und die rotgrüne Koalition im Moment zur Kernenergie haben. Ich sagte, daß es einen immer kleiner werdenden Anteil gibt, der noch offen über einen sofortigen und unumkehrbaren Ausstieg spricht, und daß andere den Ausstieg eher als geordneten Auslauf sehen wollen. Sei es, wie es sei: Die widersprüchliche Diskussion in der Koalition und das Erschweren von Entscheidungen in Deutschland führen insgesamt zur Verunsicherung in bezug auf den Energiestandort Deutschland. Das führt zu einer Vertreibung von Forschung und zur Verhinderung einer Entwicklung von Kernkraftwerken einer neuen Generation, auch einer neuen Sicherheitsgeneration. ({1}) Das führt weiterhin dazu, daß der Standort Deutschland der Zukunftstechniken beraubt wird. ({2}) Eins steht doch fest: Niemand auf der Welt, am wenigsten unsere auf dem Energiemarkt mit uns konkurrierenden Nachbarn, schert sich um deutsche Ausstiegsideologie. Nicht ein Kernkraftwerk würde abgeschaltet, wenn es auch nur zu einem teilweisen Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie in Deutschland käme.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Klinkert, es gibt eine weitere Zusatzfrage von der Kollegin Hustedt.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Klinkert, können Sie mir sagen, wieviel AKWs in Deutschland während Ihrer Regierungszeit geplant waren?

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hustedt, da nicht ganz auszuschließen war, daß es in Deutschland einmal einen Regierungswechsel gibt, ({0}) und da dieser Regierungswechsel dazu führen würde, daß der sogenannte ausstiegsorientierte Vollzug, den rotgrüne Länderregierungen bis dahin schon praktiziert haben - womit sie das Arbeiten mit und an deutschen Kernkraftwerken erschwert haben -, ({1}) auch dazu führt, daß man jede vernünftige Entwicklung auf diesem Gebiet nach Kräften erschweren würde, hat sich niemand getraut, eine ernsthafte Planung von neuen Kernkraftwerken auf den Weg zu bringen. ({2}) Meine Damen und Herren, sollte es zu einem auch nur teilweisen Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung der Kernenergie kommen, würde der internationale Wettbewerb dazu führen, daß trotzdem an deutschen Steckdosen weiterhin Atomstrom anläge. Dann wäre es eben Atomstrom aus Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Einige Zeit später würden wir Deutschen diejenigen Technologien, deren Entwicklung im eigenen Land zu Zeiten rotgrüner Desorientierung verhindert wurde, teuer zurückkaufen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächster Redner spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Hermann Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige Bemerkungen zum bisherigen Verlauf der Debatte machen: Die heutige Diskussion ist gemessen an der Diskussion des Jahres 1986 ein großer Rückschritt. 1986 gab es ja nicht nur den Beschluß der SPD über einen Ausstieg im Zeitraum von zehn Jahren, der in bezug auf die Realisierungsmöglichkeit innerhalb des genannten Zeitraums vielleicht etwas übermütig war, es gab nicht nur den Beschluß der Grünen über einen sofortigen Ausstieg, sondern auch die folgende Formulierung des damaligen Bundeskanzlers Kohl: Die Atomenergie ist für uns eine Übergangstechnologie für 30 Jahre. ({0}) Gemessen am Jahr 1986 würde dies bedeuten, daß sich der Altbundeskanzler vorgestellt hat, daß die Nutzung der Atomenergie bis zum Jahr 2016 - das ist ein kürzerer Zeitraum als der, über den gegenwärtig in bezug auf den Ausstieg aus der Atomenergie diskutiert wird - bei uns beendet sein könnte. ({1}) Dies war eine Chance für eine andere Art von Debatte. Sie ist aber leider nicht genutzt worden, weder heute noch in der Vergangenheit. Meine nächste Bemerkung: Die Debatte wird sehr unredlich geführt, und zwar auch seitens der Stromkonzerne. Herr Kollege Klinkert, wenn Sie von der deutschen Sicherheitskultur sprechen und diese so stark hervorheben, dann meinen Sie nicht nur die Technik, sondern auch die Einstellung und die Schulung des Personals. Von daher gesehen ist es in besonderer Weise absurd, daß es immer noch politische Fürsprecher dafür gibt, daß im Zusammenhang mit dem Neubau von Reaktoren Atomtechnikexporte in die Ukraine und nach Rußland stattfinden, obwohl dort schon auf Grund der bestehenden Verhältnisse von einer Sicherheitskultur gar keine Rede sein kann. Besonders widersprüchlich seitens der Atomwirtschaft ist, daß sie hier die Sicherheit hervorhebt, gleichzeitig aber dabei ist, Verträge hinsichtlich des Imports von russischem Atomstrom in unseren offenen Markt abzuschließen. All dies ist unredlich und widerlegt die eigene Argumentation. ({2}) Man könnte das noch fortführen. Wenn Sie die Atomkraftwerke wirklich für absolut sicher halten, dann lade ich Sie ein: Führen Sie mit uns eine Gesetzesänderung in bezug auf die Deckungsvorsorge in der Atomhaftpflicht durch. Hier ist gegenwärtig eine weitgehende Haftungsfreistellung gegeben. Wenn die Atomenergie so sicher ist, wie sie Ihrer Meinung nach ist, dann kann die Atomwirtschhaft doch jeder Versicherungsgesellschaft eigentlich mühelos beweisen, daß keine Probleme bestehen. Dann würde sie günstige Versicherungsprämien bezahlen, und die Haftung wäre unbegrenzt. Aber dagegen wehrt sie sich mit all ihren politischen Schirmherren mit Händen und Füßen. ({3}) Es ist unredlich, davon zu sprechen, daß es hier kein Risiko gibt. Experten und Betreiber selber widerlegen diese Behauptung vielfach durch ihr eigenes Tun. ({4}) Eine andere Anmerkung: Wir können nicht daran vorbeigehen, daß es in einem Land wie etwa den Vereinigten Staaten von Amerika, wo es weder eine SPD noch Grüne gibt und wo verhältnismäßig geringe Proteste gegen Atomtransporte geäußert werden, seit 1973 keinen einzigen Reaktorneubau gegeben hat. Das heißt, in dem Ursprungsland der Atomtechnik - zusammen mit Rußland - läuft der Ausstieg aus der Atomenergie. Sie ist zu Ende. Gäbe es nicht noch militärische Gründe - die ein besonderes Thema sind -, daran festzuhalten, wäre das mit Sicherheit auch schon längst offiziell verkündet worden. Die Gründe dafür sind wirtschaftlicher Art. Wir haben es mit einer Wirtschaftlichkeitslegende zu tun, ({5}) nicht nur wegen der - nach heutigem Währungswert über 100 Milliarden DM, die in Forschung und Entwicklung bei der Atomtechnik geflossen sind. Es wurden schon 20 Milliarden DM für die Forschung im Bereich der Atomenergie und die Entwicklung der Atomtechnik ausgegeben, bevor überhaupt eine einzige Kilowattstunde Atomstrom produziert worden war. ({6}) - Doch, das ist richtig. Dies ist die nach heutigem Währungswert exakte Summe. ({7}) Herr Laufs, Sie haben das nie widerlegen können; aber lassen wir das auf sich beruhen. Es ist doch nicht zu übersehen, daß in Großbritannien die Atomkraftwerke im Zuge der Privatisierungspolitik - ich bringe doch hier nur Fakten vor und mache keine vordergründige Polemik - von Frau Thatcher unverkäuflich waren. Niemand wollte diese Atomkraftanlagen haben, und zwar wegen der unübersehbaren Folgekosten, die dann nicht mehr vom Staat hätten getragen werden können. Es ist unübersehbar, daß es - auch noch aktuell - erhebliche wirtschaftliche Privilegien der Atomindustrie nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern, wie etwa in Frankreich, gibt, wo die Entsorgung - unausgesprochen - als Staatsaufgabe wahrgenommen wird, während bei uns die Entsorgungsrückstellungen - das ist von Ihnen im vorletzten Jahr auch schon einmal kritisch diskutiert worden - praktisch eine steuerfreie Investitionsmasse von inzwischen 70 Milliarden DM ausmachen, mit denen man frei hantieren kann. Deswegen besteht ein wirtschaftliches Interesse an der Atomenergie; denn mit dem Geld können andere Aktivitäten, wie etwa die Fusionspolitik, vorangetrieben werden. Es ist unübersehbar, daß die Weltbank schon mehrfach deutlich gemacht hat - etwa wenn es um Reaktorpläne in Rußland geht -, daß das Investitionsaufkommen für Alternativen, zum Beispiel GuD-Kraftwerke, sogar niedriger wäre als die Kosten für die technische Aufbesserung vorhandener Atomkraftwerke, geschweige denn für den Neubau von Atomkraftwerken. Wir kommen nicht daran vorbei - je schneller das allgemein begriffen wird, desto besser -, neue Prioritäten zu setzen. Die Atomenergie ist Teil einer sterbenden Technologie, und dies Gott sei Dank. Es ist ein falscher Weg gewesen, den in den 50er Jahren eine allzu technikgläubige Generation eingeschlagen hat, darunter auch viele Sozialdemokraten, ({8}) darunter sehr viele Professoren, eine ganze Generation von Physikern, die die Kernphysik für den Königsweg der physikalischen Wissenschaft gehalten haben. Diese haben es jetzt, nach einem Leben wissenschaftlicher Forschungsarbeit auf diesem Gebiet sowie nach so viel Geld, das dort hineingeflossen ist, schwer, zu begreifen, daß das ein Holzweg in der technologischen Entwicklung gewesen ist. ({9}) Das ist das psychologische Problem, vor dem man steht. Man kann es zwar verstehen; aber dies kann nicht die Richtschnur für politisches Handeln sein. Max Planck hat in seiner wissenschaftlichen Autobiographie 1922 gesagt - er sprach nur von Physikern -: Zu denken, daß die Repräsentanten der alten Erkenntnisse, wenn neue Erkenntnisse auftreten, dazulernen und sich diese neuen Erkenntnisse aneignen, ist in aller Regel ein Irrtum. Eine neue Erkenntnis setzt sich in der Regel nur durch, indem die Repräsentanten der alten Erkenntnisse allmählich aussterben. Wir müssen aber jetzt politisch handeln. Dieses politische Handeln muß sich auf die Alternative beziehen. Es ist doch völlig klar, daß ein Ausstieg aus der Atomenergienutzung nicht dazu führen darf, daß der Verbrauch fossiler Energien steigt oder auch nur so bleiben dürfte. Das ist völlig klar. Das zeigen auch die Diskussionen in der Enquetekommission. Weil das angeblich nicht geht, wird die Unverzichtbarkeitslegende gestreut. Ich will an zwei Beispielen zeigen, wie verfehlt diese Unverzichtbarkeitslegende ist. Wir haben in Deutschland 8 Prozent Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung. Wir haben in Holland - das ist ja nun kein industrielles Entwicklungsland, sondern ein hochindustrialisiertes Land - 50 Prozent Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung. Würden wir nur den holländischen Anteil durch eine entsprechende Energierahmengesetzgebung realisieren können - zumal Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung relativ rasch installierbar sind -, dann könnten wir statt der jetzt nur 40 Milliarden Kilowattstunden 250 Milliarden Kilowattstunden von den 500 Milliarden Kilowattstunden, die den gegenwärtigen Verbrauch darstellen, aus KraftWärme-Kopplung, also mit doppelter Effizienz, erzeugen. Wir haben etwa 150 Milliarden Kilowattstunden Atomstrom. Wir könnten allein auf diesem Weg auf Atomenergie verzichten und würden - in diesem Fall dann allerdings im Wärmesektor - geringere Emissionen haben. Wir dürfen nicht in den alten Bahnen denken, daß man nur Strom durch Strom substituieren kann. Es geht um ein Energieproblem insgesamt, und dieses Gesamtproblem bedeutet, daß auch Strom durch Wärme, Wärme durch Strom, Treibstoff durch Elektrizität usw. substituiert wird. Sonst kommen wir nicht zu neuen Möglichkeiten. ({10}) Würden wir - das ist das letzte Beispiel, dann bin ich fertig - allein die sich abzeichnende Ausbaurate des Jahres 1999 in bezug auf neue Windkraftanlagen - die immer besser werden - mit einer Leistung von 800 Megawatt - jetzt kommt der Off-Shore-Bereich an die Reihe nur für die nächsten 12 Jahre fortsetzen, dann würden wir im Jahr 2010 allein 15 000 Megawatt Strom aus Windkraft erzeugen. Sie haben doch beim Zustandekommen des Gesetzes konstruktiv mitgewirkt. ({11}) Das sind jetzt nur zwei Alternativen von vielen anderen, die ergriffen werden könnten, von denen einige kürzere und andere längere Fristen brauchen, um einen breiten Beitrag zur Energieversorgung leisten zu können. ({12}) Diese Debatte ist das eigentlich Fruchtbare. Das muß uns interessieren, und das interessiert die Menschen. Danke schön. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich habe den Kollegen Grill zwar noch nicht aufgerufen, aber er steht schon am Pult. Herr Kollege Grill von der CDU/CSU-Fraktion, Sie haben das Wort. ({0})

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe um mich herum eine Reihe von Kollegen, die gern eine Steuerdebatte führen wollen. Deswegen habe ich gedacht, ich bin einmal so rechtzeitig hier, daß sie mir vielleicht noch ein Stück ihrer Aufmerksamkeit schenken. Herr Scheer, ich fange einmal damit an, daß ich Ihnen entgegenrufe: Weltmeister in installierter Windenergieleistung auf diesem Globus sind wir in Deutschland während der Regierungszeit von Helmut Kohl geworden. ({0}) Gerade als Sozialdemokrat sollten Sie etwas bescheidener auftreten. Wenn Sie einmal die Haushalte der Jahre von 1970 bis 1983 und von 1983 bis 1998 unter dem Aspekt betrachten, wer wann wieviel Geld für Kernenergieforschung und wer wieviel Geld für die Einführung erneuerbarer Energien wie Solarenergie und Windenergie und die diesbezügliche Forschung ausgegeben hat, dann sehen Sie in dieser Debatte alt aus; dann haben Sie keine gute Bilanz vorzulegen. ({1}) Der zweite Punkt: Wenn man Herrn Scheer, Herrn Kubatschka, Herrn Trittin und Frau Hustedt hier hört, sowie die Stichworte Tschernobyl und Harrisburg, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß es Ihnen heute nicht um Tokaimura und die Probleme der Arbeiter und der Menschen in Japan gegangen ist, sondern um die Instrumentalisierung des japanischen Unglücks für Ihre innenpolitischen Zwecke und Ziele. Gerade der Beitrag von Herrn Scheer hat das noch einmal deutlich gemacht. Ihre Sorge um Japan ist eigentlich nicht glaubwürdig. Herr Kubatschka, ich weiß, daß Sie eigentlich ein seriöser Mensch sind. Aber Ihr Versuch, hier und heute 570 hochangesehene Wissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland mit einem Satz in die Ecke der Unglaubwürdigkeit und der Unwissenheit zu stellen, sucht seinesgleichen. Ihre simple Geisteshaltung versperrt Ihnen den Zugang zu der Komplexität des Ratschlags, den Ihnen diese Wissenschaftler gegeben haben. ({2}) Herr Scheer, Ihnen gebe ich mit auf den Weg - Sie haben es selber angesprochen -, noch einmal über die Verminderung der CO2-Emissionen nachzudenken. Es gibt bis zum heutigen Tag kein Konzept der Bundesregierung für einen klimaneutralen Ausstieg aus der Kernenergie. Ein solches Konzept hat es bisher in Deutschland auch nicht gegeben. Im Rahmen der EnqueteKommission des schleswig-holsteinischen Landtags zum Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb von zehn Jahren hat Ihre eigene Partei festgestellt, daß ein solcher Ausstieg in zehn Jahren nicht möglich ist und daß dieser Ausstieg vor allem nicht ohne eine Erhöhung des CO2Ausstoßes möglich ist. ({3}) Schweden weist nach dem Ausstieg aus der Kernenergie ein Plus von 5 Prozent an CO2-Emissionen auf. Die Niederlande sind das schlechteste Beispiel für eine erfolgreiche Verminderung der CO2-Emissionen. Die niedrigsten CO2-Emissionen pro Kopf haben die europäischen Länder, die über einen hohen Anteil der Energiegewinnung aus Kernkraft und Wasserkraft verfügen. Dänemark und die Niederlande liegen mit ihren CO2Emissionen pro Kopf an der Spitze. Dies können Sie nicht leugnen. Ich bitte Sie, bei Ihrer simplen Argumentation, mehr in Gaskraftwerke zu investieren, die Brennstoffkosten nicht zu vergessen, die mometan drastisch steigen. Der Ölpreis liegt mittlerweile bei 25 Dollar pro Barrel. Sie wissen, daß die Gaspreise nachziehen. GuD-Kraftwerke, deren Errichtung Sie gebetsmühlenartig fordern, bedeuten nichts anderes als ein Plus bei den CO2-Emissionen. Mit diesen Anlagen ist kein klimaverträglicher Ausstieg aus der Kernenergie möglich. Sie bedeuten ein unkalkulierbares politisches und ökonomisches Risiko. ({4}) Sie, Herr Trittin, haben versucht - mit diesem Versuch sind Sie auch schon innerhalb der Bundesregierung gescheitert -, das Risiko der Kernenergie in Gegensatz zum Allgemeinwohl zu bringen. ({5}) Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns doch mit einem Teil der 570 Wissenschaftler und mit einem Teil der Mitglieder des Beirats „Globale Veränderungen“, die eine Risikostudie ausgearbeitet haben, diskutieren, wie das Risiko der Kernenergie langfristig einzuschätzen ist. Ich trete jeden Tag gegen Ihre simple Risikobetrachtung an. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie den Menschen glauben machen, nach der Beseitigung des Risikos der Kernenergie gebe es eine Energieversorgung, die keine langfristigen und schweren Risiken für den Menschen beinhaltet. Damit belügen Sie das deutsche Volk. ({6}) Es geht weder um Verharmlosung noch um Dramatisierung. Aber Sie haben den Unfall in Japan heute wieder für die innenpolitische Debatte genutzt. Ich kann Sie, Herr Scheer, nur fragen: Was hindert Sie daran, mit uns gemeinsam die Bundesregierung aufzufordern, unsere Große Anfrage vom März dieses Jahres, wie die Energiepolitik der Bundesregierung aussieht, endlich zu beantworten? Wir haben diese Große Anfrage im März gestellt. Bis heute, den 7. Oktober, hat es keine Antwort gegeben. Die Bundesregierung hat sich noch nicht einmal bei uns entschuldigt, daß sie keine Antwort auf unsere Frage nach ihrer Energiepolitik gegeben hat. Solange Sie uns nicht faktisch beweisen, daß Sie ein Energiekonzept haben, das den Ansprüchen genügt, die Sie hier permanent stellen, so lange rate ich Ihnen eindringlich, etwas bescheidener aufzutreten. Sie haben kein Konzept für den Einstieg in eine neue Energiepolitik. Uns unterscheidet insofern gar nichts von Herrn Trittin: Er möchte genauso wie wir die Verdoppelung des Anteils der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 erreichen. Legen Sie doch ein Konzept vor, aus dem ersichtlich wird, wie dies möglich sein soll! Sie tun es nicht. Sie haben sich in der Energiepolitik bisher nicht bewährt. Zum Schluß möchte ich Ihnen zwei Dinge vortragen, die ich mir für die heutige Debatte aufgehoben habe. Herr Trittin, Sie haben vorhin etwas zu den Atomtransporten gesagt. Wir haben lange über das Für und Wider der Castor-Behälter diskutiert. Bis zum Regierungswechsel galten diese Behälter bei Ihnen als sehr gefährlich. Nun hat Ihre Kollegin Frau Hustedt vor wenigen Tagen in Bonn gesagt, der Castor-Behälter sei in sich sicher, er könne ohne Halle als Zwischenlager dienen. Weil Sie Transporte vermeiden wollen, wird nach Ihrer Sicherheitsargumentation aus dem unsicheren CastorBehälter, der gestern nach Gorleben transportiert worden ist, auf einmal ein todsicheres Ding, das man ohne Halle - Frau Griefahn hat noch vor wenigen Jahren von einer besseren Tennishalle gesprochen - ins Freie stellen kann. Gleiches gilt für die Erkenntnis der SPD und dieser Koalition, daß Gorleben nicht geeignet ist. Auch diese Erkenntnis galt nur bis zum 27. September 1998. Im Juli sind Frau Mehl und zehn andere Bundestagsabgeordnete der SPD in den Salzstock eingefahren. Im Dunkeln kam ihnen die Erleuchtung. Nachdem sie hochgekommen waren, waren sie der Meinung: Der Salzstock in Gorleben muß weiter untersucht werden. Wer seine Argumente in fundamentalen Fragen zur Sicherheit der Kernenergie an tagespolitischen Opportunitäten ausrichtet, der sollte sich nicht zum Weltmeister in Fragen der Sicherheit der Kernenergie aufspielen. Sie sind dabei, eklatant zu versagen. Sie sind in Deutschland die schlechtesten Ratgeber in Sachen Sicherheit der Kernenergie. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat Bundesminister Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Vorbemerkung und zwei Bemerkungen machen. Die Vorbemerkung richtet sich an Herrn Grill. Herr Grill, das, was Sie hier abgeliefert haben, war genau das, was wir in unserer Informationsarbeit zu vermeiden versucht haben, nämlich das tragische Schicksal der Menschen in Tokaimura dafür zu instrumentalisieren, hier einen Glaubenskrieg zu veranstalten. ({0}) In aller Ruhe und Sachlichkeit: Liebe Frau Homburger, Sie haben uns vorgehalten, in einer Pressemitteilung versucht zu haben, die Menschen zu verunsichern. Ich habe mir die Pressemitteilung extra herausgeholt. Ich weise Ihre Unterstellung mit allem Nachdruck zurück. Wir haben bereits am 30. September ausweislich der auch Ihnen vorliegenden Pressemitteilung erklärt: Über Ursachen und genaues Ausmaß des Störfalls herrscht derzeit noch Unklarheit. Nach jetzigem Kenntnisstand sind die Auswirkungen des Störfalls auf die Region um die Anlage beschränkt. Zur Zeit gibt es noch keine Hinweise darauf, daß eine Gefährdung außerhalb des betroffenen Gebietes zu befürchten ist. Ich sage das mit allem Nachdruck, weil ich mir vor dem Hintergrund dieser seriösen Informationsarbeit von Ihnen keine Panikmache vorwerfen lassen möchte. ({1}) Lieber Herr Kollege Laufs, es ist keine Infamie, wenn wir den Sprecher, den sich diese 570 Professorinnen - auch Frauen gehören dazu - und Professoren gewählt haben, zitieren, der öffentlich erklärt hat: „Bei einer Gesamtbilanzierung sind die Risiken, die mit der Kernkraft verbunden sind, mit denen der Windkraftenergiegewinnung gleichzusetzen.“ So wörtlich Professor Dr. Voß, den sich diese altehrwürdige Professorinnen- und Professorengemeinschaft zum Sprecher gewählt hat. Ich sage mit Nachdruck: Solange sich diejenigen, die dieses Memorandum unterschrieben haben, von diesen Äußerungen nicht distanzieren, so lange werden sie mit dem Vorwurf des professoralen Leichtsinns leben müssen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wortmeldungen zu einer Kurzintervention liegen von dem Kollegen Loske, von der Kollegin Mehl, von der CDU/CSU, von der F.D.P. und von der PDS vor. Nach diesen Kurzinterventionen werde ich die Debatte beenden. Herr Loske, Sie fangen mit der Runde der Kurzinterventionen an.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute war viel von dem Memorandum der 570 Professoren die Rede. In dem Zusammenhang wurde von professoralen Leichtfertigkeiten gesprochen. Das hat mich als langjährigen Hochschullehrer sehr traurig gemacht. Nachdem ich es mir durchgelesen habe, muß ich sagen: Es stimmt. ({0}) - Völlig richtig, dann bin ich noch trauriger geworden. Ich will einmal kleine Kostproben geben. Erstens ist manches schlicht und einfach falsch. Im ersten Satz unter Punkt 3 heißt es zur Entwicklung der Kernenergie: In vielen Teilen der Welt wird die Kernenergie weiter ausgebaut. Heute haben wir mehrfach gehört, daß die Kernenergie in keinem Industrieland der Welt mehr weiter ausgebaut wird. ({1}) Das ist die Wahrheit; man kann nicht einfach die Fakten auf den Kopf stellen. Zweiter Punkt - hören Sie gut zu -: Die Akzeptanzkrise der Kernenergie in den siebziger und achtziger Jahren hat Teile der Politik in die Resignation getrieben Könnte es nicht auch sein, daß man schlicht und einfach der Meinung war, daß die Atomenergie nicht zukunftsfähig ist, und nicht aus einer resignativen Haltung heraus, sondern aus der Haltung heraus, daß der Energiesektor in Richtung Ökologie umgebaut werden muß, gehandelt hat? Ich halte diese Aussage für Ideologie pur. Dritter und letzter Punkt: Dabei hat sich gezeigt, daß das System „Kernenergie“ im Vergleich - eben im ökologischen Vergleich gut abschneidet. Es wäre paradox, ein solches System … aufzugeben. Auch das ist sehr stark ideologisch aufgeladen. ({2}) Nun noch einmal zu Ihren Worten, Herr Kollege Laufs. Sie sehen, daß es durchaus Kollegen gibt, die das gelesen haben. Dem, der hier sagt, es sei ein Armutszeugnis, wenn man fordert, aus der Atomenergie auszusteigen, kann ich nur entgegenhalten, daß die Äußerung von Minister Trittin, es handele sich um professorale Leichtfertigkeit, eine sehr freundliche Antwort auf diesen Unfug ist. Danke schön. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Mehl.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Grill, ich wollte kurz auf Ihre Äußerung eingehen, ich hätte anläßlich eines Besuches in Gorleben gesagt, daß ich für die weitere Erkundung von Gorleben zum Zwecke der Nutzung als Atommüllager sei. ({0}) Dazu ist folgendes festzuhalten: Erstens. Sie entnehmen Ihre Informationen offenbar völlig kritiklos der Presse. Sie sollten vielleicht vorher einmal diejenigen, die etwas gesagt haben sollen, direkt fragen, ob das stimmt. Zweitens. Sie sagten, ich sei von unten aus dem dunklen Schacht wieder hochgekommen und hätte dann die Erleuchtung gehabt. Sie waren offenbar nicht dort, denn unten ist es ebensowenig dunkel wie oben, und die Erleuchtung hatten wir schon vorher. Drittens ist festzuhalten: Wir haben bei diesem Gespräch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß wir der Auffassung sind, daß Gorleben nach bisherigen Erkenntnissen nicht für die Lagerung von hochradioaktivem Müll geeignet ist. Wir sind aber sehr wohl der Meinung, daß insbesondere die Bundesländer, die seit vielen Jahren unkritisch den weiteren Ausbau der Kernenergie verfolgen, einmal schauen sollten, ob es in ihrem Lande nicht wesentlich besser geeignete geologische Formationen für ein Endlager gibt. Diese weigern sich aber. Diese Haltung muß weiterhin hinterfragt werden, weil das Problem nach wie vor nicht gelöst ist. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Da es sich um Kurzinterventionen handelt, bitte ich auch Sie, Kollege Laufs, vom Platz aus zu sprechen.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Memorandum als Ganzes, Kollege Loske und Herr Minister, ist in verschiedene Aspekte untergliedert. Der erste Unteraspekt lautet: „Fortschritte der Sicherheitstechnik“. Was da geschrieben worden ist, läßt sich an Hand wissenschaftlicher Publikationen und der Vierteljahresberichte über meldepflichtige Vorkommnisse in deutschen Atomanlagen - vorhin habe ich ja diesen Hinweis gegeben - nachvollziehen. Unter Punkt 6 wird über den „ökologischen Rucksack“ der verschiedenen Energiesysteme gesprochen. Wenn Sie sich die Arbeiten, die in großem Umfang am Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwendung unter der Leitung von Professor Voß an der Universität Stuttgart durchgeführt worden sind, ({0}) ansähen, dann würden Sie feststellen, daß der ökologische Rucksack, den jedes Energiesystem mit sich trägt - ich bitte Sie, sich einmal diese Arbeiten anzusehen -, ({1}) wissenschaftlich, sehr umfangreich und ins Detail gehend für die verschiedenen Energiesysteme berechnet worden ist. Wenn Sie diese Lasten vergleichen, dann stellen Sie fest, daß die Kernenergie bemerkenswert gut abschneidet. ({2}) Die Infamie besteht darin, festzustellen, daß wir nach der Tschernobyl-Katastrophe wissen, daß es Techniken gibt, die verheerende Katastrophen zur Folge haben können, und dann Aussagen über den ökologischen Rucksack mit Fragen der Sicherheitstechnik in der öffentlichen Diskussion undifferenziert zu vermengen. Deshalb schlage ich vor - ich bitte Sie wirklich, diesen Vorschlag aufzugreifen -, das Dialogangebot der genannten Professoren anzunehmen und in eine ernsthafte Risikodiskussion einzutreten. ({3}) - Sie wissen ja alles besser. Sie haben Ihre Glaubensüberzeugungen. Deshalb benötigen Sie solche Diskussionen offensichtlich nicht. ({4}) Wir wollen diese Diskussionen führen. Wir wären dankbar, wenn Sie sich uns anschließen würden. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Fraktionen der F.D.P. und der PDS sind klug und verzichten auf eine Kurzintervention. Dafür bedanken wir uns. ({0}) - Herr Kollege Grill, wir hatten gemäß § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung vereinbart, daß wir, nachdem der Minister nach Ablauf der ursprünglich für die Fraktionen beschlossenen Redezeit noch einmal das Wort ergriffen hat, nur noch bestimmte Kurzinterventionen zulassen. Deswegen ist es, so glaube ich, richtig, wenn ich jetzt sage: Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Folgendes möchte ich bekanntgeben: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte zu Protokoll geben, daß es bei der Abstimmung im Rahmen des Zusatzpunktes 3, also bei der Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/1754, neben den bereits vermerkten Enthaltungen auch zwei Enthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben hat. Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Steuervorschlägen, insbesondere unter den Gesichtspunkten sozialer Ausgewogenheit, Haushaltssolidität und Verfassungsmäßigkeit Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion. ({1})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man sieht, Herrn Merz fällt nichts mehr ein. Immer wenn er mich hier vorne sieht, sagt er das gleiche. So phantasielos sind inzwischen auch die neu aufgekochten Steuerpläne der Union. ({0}) Herr Merz ist offensichtlich die Personifizierung steuerpolitischer Phantasielosigkeit. Der Inhalt der in den letzten Tagen von der CDU und CSU vorgestellten steuerpolitischen Eckpunkte sowie die bayerische Steuerinitiative des Möchtegernkanzlers Stoiber lohnt der Sache nach eigentlich keine Debatte im Deutschen Bundestag. ({1}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Aktuelle Stunde aber beantragt, um es CDU und CSU nicht durchgehen zu lassen, daß sie so tut, als habe sie wirkliche Alternativen zur Steuerpolitik der Regierungskoalition. Das ist nämlich nach wie vor nicht der Fall. ({2}) Vielmehr ist in den letzten Tagen eines deutlich geworden, nämlich daß sich CDU und CSU ohne Skrupel weiterhin als Schuldenparteien aufführen. ({3}) Die jetzt präsentierten Eckpunkte sind nichts anderes als Schall und Rauch. Sie können die große Rat- und Hilflosigkeit der Unionsparteien in der Steuerpolitik nicht verschleiern. CDU und CSU haben mittlerweile gemerkt, daß die Wählerinnen und Wähler von der Opposition mehr erwarten als Wegtauchen oder Totalkritik. Die alten Rezepte, die bereits in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert sind, sind auch heute noch untauglich. Die Wählerinnen und Wähler haben Ihnen darauf am 27. September des letzten Jahres eine klare und eindeutige Absage erteilt. Wir erinnern uns: Bundeskanzler Kohl sprach davon, daß die Bundestagswahl eine Volksabstimmung über die Steuerreformvorschläge der CDU/CSU und F.D.P. auf der einen und der SPD auf der anderen Seite werde. Diese Volksabstimmung hat stattgefunden. Das Volk hat eindeutig gesprochen. Es hat Ihre Rezepte verworfen. ({4}) Wie kann man sich selber vormachen, daß eine Steuerreform sozial gerecht ist, die die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent in den Vordergrund stellt und die Steuerentlastung zudem auf Pump finanzieren will? Wer zahlt denn die Zinsen für die Schulden, die der Staat für die Steuerentlastung machen soll? Das sind diejenigen, die in den 16 Jahren der Kohl/WaigelRegierung ohnehin genug geschröpft worden sind. ({5}) Das sind in der Masse Arbeitnehmer und Familien mit Kindern. Und wer erhält die Zinsen, damit er die von CDU und CSU geforderten Steuergeschenke für Einkommensmillionäre finanzieren kann? Das sind diejenigen, die genug Geld haben, um es dem Staat leihen zu können - es sei denn, sie haben es vorher nach Luxemburg oder woandershin geschafft. Diese Politik der Umverteilung von unten nach oben, die der bayerische Finanzminister Faltlhauser offen einräumt, wenn er von Kreditaufnahmen zur Finanzierung der Steuersenkung spricht, ist bei den Wählern gescheitert. Die Wachstums- und Selbstfinanzierungserwartungen werden illusionär überzeichnet. Eine solche Politik ist verantwortungslos, ungerecht und unseriös. ({6}) Dies wird auch daran deutlich, daß Sie den alten § 34 des Einkommensteuergesetzes wieder in der ursprünglichen Fassung haben wollen. Dabei weiß doch jeder, daß § 34 die Grundlage aller Steuersparmodelle war ({7}) und dazu geführt hat, daß die Einnahmen aus der veranlagten Einkommensteuer immer neue Tiefstände erreichten. Diesen verhängnisvollen Trend haben erst wir umgedreht - nicht Sie! ({8}) Wir haben dieses riesige Steuerschlupfloch gestopft, das dazu geführt hat, daß gutverdienende Abschreibungskünstler oftmals keinerlei Steuern mehr gezahlt haben. Es ist doch an den Haaren herbeigezogen, zu behaupten, die Änderung von § 34 gefährde die Alterssicherung der Mittelständler. Die von uns eingeführte Fünftel-Regelung ist geradezu mittelstandsfreundlich. Der CSU-Oberbürgermeister Josef Deimer stellt fest: Er sei skeptisch; ihm fehle eine Gegenrechnung, ansonsten handele es sich um eben die Luftbuchungen, die man sonst immer anderen vorwerfe; im Grunde sei das jetzt von Stoiber vorgelegte Modell nicht besonders neu; er könne nicht von dem Prinzip Hoffnung leben, da die in den letzten Jahren erfolgten Steuerentlastungen für die Wirtschaft an der Arbeitslosigkeit nichts geändert hätten. Soweit der CSU-Oberbürgermeister Deimer. Ungeachtet dieser steuerpolitischen Geisterfahrt muß noch eine Tatsache erwähnt werden: Ihr Selbstverständnis als Partei bedenkenlosen Verschuldens wird dadurch deutlich, daß die von CDU und CSU angekündigten Steuersenkungen auf Pump wegen Verstoßes gegen Art. 115 des Grundgesetzes verfassungswidrig wären. Aber die Verfassung spielt bei Ihnen offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr. ({9}) Ihre Steuersenkungen auf Pump kollidieren doch mit dem von dem Kollegen Waigel durchgesetzten europäischen Stabilitätspakt. Aber auch das interessiert Sie nicht mehr. Wir haben aber noch einen anderen abstrusen Vorgang erlebt: Herr Stoiber hält eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM für möglich, am selben Tag spricht Herr Schäuble aber von einer Entlastung von 30 Milliarden DM. Man muß sich diesen „kleinen“ Unterschied von 20 Milliarden DM einmal vorstellen! Daran wird deutlich, daß Ihre Vorschläge unseriös sind. ({10}) Die Öffentlichkeit müßte eigentlich aufschreien. Der SPD würde man nie durchgehen lassen, daß der eine von einer Nettoentlastung von 50 Milliarden DM und am selben Tag, wie es der CDU-Vorsitzende Schäuble getan hat, ein anderer von einer Entlastung von 30 Milliarden DM spricht. ({11}) Daran wird deutlich, wie gedankenlos Sie Politik betreiben. Das ist nicht unser Weg und kann auch nicht der richtige Weg sein. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es liegt nicht im Interesse zukünftiger Generationen, daß Herr Stoiber steuerpolitische Schnellschüsse produziert, um von seiner dubiosen Rolle im Bauskandal oder von seiner völligen außenJoachim Poß politischen Verirrung abzulenken, indem er sich als Steigbügelhalter für Ultrarechte aufspielt. ({0}) Nein, so wird Herr Stoiber nie Bundeskanzler. Er ist wahrlich ein Möchtegernkandidat und hat sich als solcher entlarvt. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß die Redezeit in der Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt. Ich möchte daran erinnern. Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Poß, ich weiß gar nicht, warum Sie so geschrien haben. ({0}) Der Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, der auf dem Tisch liegt, ist kein Grund für Empörung und Aufregung, so wie Sie sie zum Ausdruck gebracht haben. Es ist vielmehr ein hervorragender Vorschlag, den wir begrüßen. Er stellt eine mutige Konzeption für die Schaffung eines wettbewerbsfähigen Steuerrechts dar. ({1}) In diesem Vorschlag sind genau die beiden Elemente enthalten, ({2}) die für die weitere positive wirtschaftliche Entwicklung und für die Verbesserung am Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen geht es um eine deutliche Senkung der Steuersätze. Die Steuersätze sollen für alle Steuerpflichtigen gesenkt werden: für die Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber, für die Menschen mit geringerem Einkommen und für die mit höherem Einkommen, für die Kapitalgesellschaften und für die Personengesellschaften. Das ist die erste Botschaft, die mit diesem Konzept verbunden ist. ({3}) Die zweite Botschaft ist eine deutlich spürbare Nettoentlastung der Steuerpflichtigen; denn nur so bekommen Sie den nötigen Impuls für Wachstum und Beschäftigung. Sie müssen durch eine Nettoentlastung einen Freiraum für Investitionen schaffen. ({4}) Das ist in der Tat etwas ganz anderes als das, was Sie bisher gemacht haben und noch vorhaben. Sie haben mit Ihrem sogenannten Steuerentlastungsgesetz nur eine ganz geringfügige Absenkung der Steuersätze vorgenommen, dafür aber eine enorme Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Das bedeutet in der Konsequenz eine Belastung gerade derjenigen, die für die Schaffung von Arbeitsplätzen verantwortlich sind, nämlich der Unternehmen und der Betriebe. Zudem ist es gespickt mit einer ganzen Fülle von nicht anwendbaren, sich an der Grenze des verfassungs- und europarechtlich Zulässigen bewegenden Vorschriften. Ihre Vorschläge machen das Steuersystem noch komplizierter. Dies alles ist uns erst gestern in der Anhörung von den Fachleuten bestätigt worden. ({5}) Das, was Sie gemacht haben, war keine Steuerentlastung, sondern eine Steuerbelastung; ich nenne beispielsweise die Ökosteuer. Auch das, was Sie den Leuten im Rahmen der Unternehmensteuerreform versprechen, ist keine Entlastung und gibt keinen Impuls für weitere Beschäftigung. ({6}) Sie stochern nach wie vor im Nebel, insbesondere bei der Besteuerung der Personengesellschaften. Mittlerweile hat sich sogar Herr Schlauch schon davon distanziert. Ich bin nur gespannt, welche Vorschläge von seiten der Grünen kommen werden. Distanzieren und Problematisieren allein, wie Sie es an anderer Stelle gemacht haben, reichen hier nicht. Wir wollen schon konkret wissen, wie Sie dies angehen wollen. ({7}) Im übrigen hat mich verwundert, daß der Bundeskanzler wie schon vor einigen Wochen bei einer Veranstaltung in Frankfurt auch gestern beim Gewerkschaftstag gesagt hat: Uns interessieren die Unternehmen, aber nicht die Unternehmer. Meine Damen und Herren, wo lebt dieser Bundeskanzler eigentlich? Weiß er nicht, daß er so die Arbeit der wirtschaftlichen Leistungsträger in Deutschland - fast 90 Prozent unserer Unternehmen sind Personengesellschaften - diskreditiert und ignoriert? ({8}) Nun zu der Frage, ob wir uns diese deutliche Nettoentlastung leisten können. Wir haben immer gesagt: Ja, wir wollen sparen. Waigel hat dies vorgemacht. ({9}) - Natürlich, in den letzten Jahren wurden die Ausgaben deutlich zurückgefahren, aber nicht nach der Buchhalteroder der Rasenmähermethode. Dies geschah auch nicht, wie Sie es getan haben, mit Hilfe eines gewaltigen Verschiebebahnhofs, auch nicht durch Steuererhöhungen vor allem nicht allein dadurch. ({10}) Das Gebot der Stunde heißt „Sparen und Steuern senken“ - beides gehört zusammen. ({11}) Ich wünsche mir sehr, daß Sie die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge erkennen. Es gibt doch Beispiele aus Neuseeland, Großbritannien und einer Fülle von anderen Ländern, wo ähnliches gemacht wurde: deutliche Senkung der Steuersätze und Nettoentlastung. Die Stoltenbergsche Reform Ende der 80er Jahre, die deutliche Nettoentlastung, hat doch zu zusätzlichen Steuereinnahmen und in der Konsequenz ({12}) - das war vor der Wiedervereinigung, liebe Kollegin zu mehr Beschäftigung geführt. Sie sollten deshalb endlich die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge zur Kenntnis nehmen anstatt ein kleinkariertes, buchhalterisches Denken an den Tag zu legen. Sie sollten endlich einmal den Rat von Experten ernst nehmen und die Erfahrungen im Ausland in Ihre Überlegungen einbeziehen. Sie sollten Ihre ideologischen Scheuklappen ablegen und sich mit uns gemeinsam auf den Weg begeben, über eine Steuerreform, die diesen Namen wirklich verdient, zu einer positiven Entwicklung der Beschäftigung und zu einer Förderung der Investitionen zu gelangen. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, was so alles in letzter Zeit aus Bayern zu hören ist. Ich glaube, daß die Vermutung, die geäußert wird, daß Herr Stoiber von einigen Skandalen, die Bayern betreffen, ablenken will, durchaus zutrifft. Denn wie sonst käme er auf die Idee, sich zum einen in Österreich einzumischen, mit wem dort Koalitionen geschlossen werden - es wäre katastrophal, wenn er dies in der gleichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland tun würde -, ({0}) und zum zweiten die CDU/CSU-Fraktion zum Verfassungsbruch aufzurufen? Das darf man, verehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion und vor allem der F.D.P., nicht unterschätzen. ({1}) Das, was an steuerlichen Entwicklungen hier vorgelegt worden ist, ist eine Ablenkungsaktion, die nur dazu dienen soll, von den Skandalen abzulenken, bei denen sich Herr Stoiber wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat. ({2}) Ich verstehe auch den Familienbund der Deutschen Katholiken in diesem Punkt sehr gut. Da gibt es eine Pressemitteilung: „Verfassungswidrige Ideen aus München“. Es ist sehr schön, auch einmal von dieser Seite klar zu hören, wie sie die Vorschläge des bayerischen Steuermodells einschätzt. Zum Inhalt. Was hier vorgeschlagen worden ist, ist eigentlich überhaupt nichts Neues. Das ist das, was die CDU/CSU-Fraktion bereits in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hat. Da war allerdings auch die Mehrwertsteuererhöhung vorgesehen. Davon ist jetzt überhaupt nicht mehr die Rede. Statt dessen spricht man von einer höheren Nettoneuverschuldung. ({3}) Deswegen ist das, was hier vorgeschlagen worden ist, auch verfassungswidrig. Denn es geht nicht, daß die höhere Neuverschuldung das Investitionsvolumen übersteigt. Dies wäre aber hier eindeutig der Fall. Das wissen Sie sehr gut. Sie mogeln sich darum herum, ohne zu sagen, daß die CSU in Wahrheit - das betrifft Ihre netten Presseerklärungen der letzten Tage, Frau Hasselfeldt die Mehrwertsteuererhöhung will. ({4}) Der zweite Punkt ist, daß Herr Stoiber des öfteren auch außerhalb Deutschlands unterwegs ist und anderen europäischen Ländern mehr oder weniger nahelegt, den europäischen Stabilitätspakt einzuhalten. Das macht er besonders gern bei unserem Partner Italien. Er mahnt die Länder, dafür zu sorgen, daß ihre Haushaltsneuverschuldung nicht in der Form stattfindet, daß sie den europäischen Stabilitätspakt und somit die Finanzlage im Kontext Euro gefährdet. Auf der anderen Seite macht er in der Bundesrepublik Deutschland einen Vorschlag, der genau zu dieser Gefährdung beiträgt. Ich kann dazu, daß er sich als Oberhüter des Stabilitätspaktes aufspielt und die Länder in dieser Hinsicht maßregelt, nur sagen: Das ist scheinheilig, es ist verräterisch, und es ist ein ungeheuerlicher Populismus, der hier von einem bayerischen Ministerpräsidenten zum Schaden dieses Landes und auch zum Schaden des europäischen Stabilitätspaktes geboten wird. ({5}) Wenn wir uns das Konzept genau anschauen, stellen wir interessanterweise fest, daß beim Eingangssteuersatz vor dem Komma genau die Zahl steht, die wir von Rotgrün in unserem Steuerkonzept, verantwortlich Herr Minister Eichel, bis zum Jahr 2002 beschlossen haben. Wir haben einen Eingangssteuersatz von 19,9 Prozent beschlossen, die CSU fordert 19 Prozent. Die CSU schlägt hinsichtlich der Unternehmensbesteuerung einen Körperschaftsteuersatz für ausgeschüttete Gewinne in der zweiten Stufe - nicht in der ersten von 25 Prozent vor. Das wollen wir nächstes Jahr entscheiden. Wir wollen den Steuersatz von 25 Prozent in der ersten Stufe beschließen. Deswegen meine ich, daß diese rotgrüne Koalition in Fragen der Steuerpolitik wesentlich weiter geht und wesentlich solidarischer ist, ({6}) auch was die Gestaltung des Tarifs hinsichtlich der kleinen und mittleren Einkommen betrifft, als dies die CDU und die CSU machen. ({7}) Die Konsequenz Ihres Konzeptes wäre nämlich, daß die kleinen und mittleren Einkommen mehr belastet werden würden. Das sehen wir sehr gut daran, wie der Tarif in den Petersberger Beschlüssen ausgestaltet war. Über die Aussage von Herrn Faltlhauser - er sitzt gerade zu meiner Linken auf der Bundesratsbank -, daß die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 19 Prozent die kleinen und mittleren Einkommen entlasten würde, brauchen wir gar nicht zu reden; das wissen auch wir. Das ist ein wunderbarer Vorschlag, der identisch mit dem ist, was die Regierung macht. Aber zu sagen, bei der Unternehmensteuerreform würden Steuersatzsenkungen in dieser Form die kleinen und mittleren Einkommen entlasten, ist schlichtweg eine Lüge. ({8}) Es ist nämlich vollkommen klar, daß die ganz kleinen Gewerbetreibenden nur von der Senkung des Eingangssteuersatzes profitieren. Sie sind in der Regel nicht körperschaftsteuerpflichtig; das wissen wir doch. Wenn hier so getan wird, als würde im Bereich der Unternehmensteuer von der CDU/CSU-Fraktion ein neuer Vorschlag gemacht - eigentlich ist es nur ein CSU-Vorschlag, der in der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag heftig umstritten ist und im bayerischen Kabinett auch nicht gerade auf viel Freude gestoßen ist -, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, kleine und mittlere Unternehmen!

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Schluß, Frau Präsidentin. Die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen sollten sich von einem solchen Vorschlag nicht in die Irre führen lassen. Klar ist, daß wir mit der Unternehmensteuerreform eine Nettoentlastung in Höhe von etwa 30 Milliarden DM herbeiführen, die auch noch solide finanziert ist. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat Herr Kollege Dr. Solms, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, je radikaler die Ausdrücke werden, desto größer ist die innere Unsicherheit. ({0}) Wenn wir heute im „Handelsblatt“ lesen, daß sich der Kollege Schlauch - wir nehmen zur Kenntnis, daß er heute nicht anwesend sein kann - von den Plänen der rotgrünen Regierung schon vorab distanziert ({1}) - das steht schwarz auf weiß im „Handelsblatt“ -, dann sehen wir ja, wie die innere Unsicherheit um sich greift. Wer im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages die Expertenanhörungen mit verfolgt hat, der weiß, wie ungeheuer groß auch die Verunsicherung bei den Betroffenen über das ist, was geschehen ist und weiterhin geschehen soll, falls den rotgrünen Plänen gefolgt wird. Herr Eichel, Sie haben in der Haushaltspolitik eine vernünftige Richtungsänderung vorgenommen. ({2}) Was Sie dann inhaltlich getan haben, wird dieser Richtungsänderung zwar nicht gerecht; aber die Richtungsänderung als solche war richtig. In der Steuerpolitik hingegen, Herr Bundesfinanzminister, bewegen Sie sich leider immer noch auf den Pfaden von Herrn Lafontaine. ({3}) Sie haben kein bißchen davon korrigiert, obwohl Sie doch heute schon erkennen müssen, daß das die falsche Politik war. ({4}) Die Steuergeschenke, die Lafontaine im letzten Jahr verteilt hat, haben bei der Bevölkerung nichts bewirkt, weil Sie mit der Ökosteuer gleich wieder neuen Verdruß ausgelöst haben. ({5}) Die Unternehmen haben Sie mit 30 Milliarden DM mehr belastet und wundern sich nun, daß die Investitionen nicht angesprungen sind und die Arbeitslosigkeit nicht ausreichend bekämpft werden konnte. Jetzt geht es auf diesem Weg weiter. Wann kommen Sie zur Besinnung? ({6}) Die Anmeldung der heutigen Aktuellen Stunde zeigt ja auch die Betroffenheit und Unsicherheit, die bei Ihnen in diesen Fragen herrschen. ({7}) Ich habe voller Interesse darauf geschaut, was sich Herr Staatsminister Faltlhauser, den wir von früher aus gemeinsamer Arbeit im Finanzausschuß kennen, Neues ausgedacht hat. Nun muß ich allerdings sagen, daß das nicht neu, sondern altbekannt, neu geschminkt ({8}) und etwas frischer gestaltet ist. In Wirklichkeit ist das nicht viel anders als die Petersberger Beschlüsse; die paar kleinen Änderungen sind kaum bemerkbar. Das finde ich nicht gut, weil der frühere Vorsitzende der CSU, Theo Waigel, für die Petersberger Beschlüsse die Hauptverantwortung getragen hat. Dann sollte man ihm das Urheberrecht überlassen und nicht so tun, als bringe man jetzt etwas Neues. ({9}) - Deswegen sage ich es ja. Ich finde es grundsätzlich nicht in Ordnung, daß es in der Politik üblich ist, die Ideen von anderen zu übernehmen, ohne auf das Urheberrecht hinzuweisen. ({10}) - Der Steuersatz von 35 Prozent stammt aus unserem Stufentarif, dem ja auch Herr Struck so sehr anhängt, weil dieser Tarif vernünftig ist. ({11}) Eine neue Umfrage unter tausend mittelständischen Unternehmen hat ergeben, daß die Mehrheit dieser Unternehmen dies für den besten Vorschlag hält. Weitere 25 Prozent halten die Petersberger Beschlüsse für einen guten Vorschlag. ({12}) Nur eine verschwindend kleine Mehrheit hält andere Vorschläge überhaupt für diskutabel. Das zeigt doch, wie die Betroffenen darüber denken. Daher bitte ich darum, daß wir in einen vernünftigen Wettstreit um die beste Steuerpolitik eintreten und versuchen, das Beste daraus zu machen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, Herr Poß, daß die Fehler, die in dem sogenannten Steuerentlastungsgesetz gemacht worden sind, schnellstens korrigiert werden, ({13}) daß die Besteuerung der Lebensversicherungen zurückgenommen wird, ({14}) daß bei den 630-Mark-Arbeitsverträgen und bei den Scheinselbständigen die Fehler als solche akzeptiert und dann korrigiert werden - am besten sollten Sie Ihre Gesetzesänderungen zurücknehmen - und daß wir dann vielleicht auch gemeinsam oder im Wettstreit versuchen, das Optimale für den Standort Deutschland herauszuholen. Das heißt in unseren Augen, in den Augen der F.D.P., ganz einfach: Die Steuersätze müssen gesenkt werden, mindestens auf das international günstigste Niveau. ({15}) Das Steuerrecht muß dramatisch vereinfacht werden, weil das komplizierte deutsche Steuerrecht von niemandem mehr verstanden wird. Die Steuerpflichtigen fühlen sich dem Steuerrecht und der Steuerverwaltung ausgeliefert. ({16}) Sie sind verunsichert. Deswegen strengen sie sich mehr an, die Steuer zu vermeiden, als sich um ihre Leistung zu kümmern. ({17}) Wir brauchen ein Steuerrecht mit niedrigen Sätzen und mit einfachen und gerechten Regeln. Nur einfach geht es auch gerecht; das muß man wissen. Die komplizierten Bestimmungen, die Sie eingeführt haben, beispielsweise die Mindestbesteuerung und die Verrechnungsbeschränkungen, ({18}) führen alle zu mehr Ungerechtigkeit und nicht zu mehr Gerechtigkeit. Wenn wir ein einfaches System bekommen, dann werden wir auch Akzeptanz bei den Bürgern finden. Das wird sich zum Wohle aller auswirken. Dazu rufe ich Sie auf. Bis jetzt ist die Erkenntnis nicht eingetreten. Aber wir hoffen weiter. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Steuerpolitik, Rentenreform, Gesundheitsreform: drei große Themen, in denen es den demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten darum geht, soziale Gerechtigkeit zu erhalten. Wir ringen um den Erhalt der Sozialstaatlichkeit. Allein in dieser Woche gab es zwei Aktuelle Stunden zu diesen Themen - platter Wahlkampf. Der inhaltliche Hintergrund: CDU/CSU und F.D.P. halten einmütig an ihren Steuerkonzepten fest, präsentieren den Bürgerinnen und Bürgern ungeniert alten Staub auf alten Hüten. Nichts anderes sind die Vorschläge, die der Herr Kollege Merz kürzlich der Öffentlichkeit vorstellte, aber auch die Steuerinitiative „Bayern 2001“. Gemeinsam ist allen diesen Plänen eine massive Steuersenkung für Besserverdienende und Unternehmen und der alte Aberglaube, daß allein dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei haben gerade in den 90er Jahren ältere Menschen, insbesondere Frauen, aber auch katastrophal viele Jugendliche schmerzlich erfahren müssen, daß die einfache Formel „Steuersenkung = Arbeitsplätze“ nicht funktioniert. ({0}) Aber CDU/CSU und F.D.P. zeigen sich unbelehrbar. Nun kommt Bayern und will die gesamte Republik beglücken. Herr Faltlhauser bringt ein Konzept, welches wir wirklich schon zur Genüge kennen. Dabei muß ich sagen, daß ich ihm sogar in einem Punkt zustimme: bei der Spreizung der Steuersätze. Das, was Frau Scheel uns eben geboten hat, ist meiner Überzeugung nach nicht richtig. Sie selbst haben widersprüchlich argumentiert. Auch wir sehen die Gefahr eines Bruches des Grundsatzes der Gleichbesteuerung. Wir haben das auch an den aktuellen Vorschlägen des Finanzministers kritisiert. Wenn es auch richtig ist, daß diese Gefahr besteht, so gibt es doch wahrlich verschiedene Wege, dieser Gefahr auszuweichen, sie zu beseitigen. Die PDS fordert die Beibehaltung des Spitzensteuersatzes bei allen Einkunftsarten, auf alle Fälle bei dieser Haushaltslage. Wir sind dafür, das steuerfreie Existenzminimum massiv anzuheben und den Eingangssteuersatz auf unter 20 Prozent zu senken. ({1}) Dies trägt auch zu einer nachhaltigen Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen bei, darunter auch von kleinen und mittleren Personenunternehmen. Es werden damit auch Hochverdienende entlastet. Aber die Vergabe von Steuergeschenken an Besserverdienende und wirklich Vermögende muß endlich beendet werden. ({2}) Einkommensstarke sollen sich unserer Meinung nach endlich wieder an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beteiligen. Ich sage hier klipp und klar: Die PDS wird es nicht zulassen, daß die Sozialbindung des Eigentums, wie sie im Grundgesetz steht, zur leeren Worthülse verkommt. Die CSU wählt dagegen einen anderen, altbekannten Weg. Sie will die Spitzeneinkommen entlasten. Der Spitzensteuersatz soll um mindestens 15 Prozent, der Eingangssteuersatz um 5 Prozent gesenkt werden. Warum sollen überhaupt die wirklich Vermögenden entlastet werden? Das sehen wir nicht ein. 50 Milliarden DM soll Ihr Paket die Bürgerinnen und Bürger des Staates kosten. Nicht umsonst erfolgt daraufhin erwartungsgemäß Lob von der „Frankfurter Allgemeinen“ und von der „Welt“; sie heben hervor, wie gut die CSU von den USA gelernt hat. Damit sind wir wieder einmal beim Mythos USA; Steuersenkung auf Pump - da hat Herr Poß natürlich völlig recht - soll sich durch einsetzendes Wirtschaftswachstum selbst finanzieren. Die konservativen Parteien sind hier aber einem wirklichen Irrtum aufgesessen. Massive Steuersenkungen fanden eben in den USA von 1982 bis Mitte der 80er Jahre statt. Präsident Clinton hat den Spitzensteuersatz bei der Bundeseinkommensteuer sogar wieder angehoben. Das sollte man vielleicht nicht vergessen. ({3}) - Hören Sie doch bitte zu. Der Haushaltsüberschuß wurde erstmals 1998 erzielt. Er hat aber andere Quellen als die, die Sie uns weiszumachen versuchen, und zwar auch einen massiven Abbau des Rüstungsetats, aber auch massive Einschnitte in die Sozialstandards. Interessant ist, wie das amerikanische Wunder dann in der Realität aussieht: 15 Prozent der arbeitslosen Bürger und Bürgerinnen der USA sind in überhaupt keiner Arbeitslosenstatistik erfaßt - das zur Glaubwürdigkeit der Zahlen, die Sie immer nennen. ({4}) Pro Jahr verlieren 40 Prozent der Menschen ihren Job. Die Löhne im Dienstleistungssektor, in der sogenannten Zukunftsbranche, sind mit 6 bis 8 Dollar pro Stunde die niedrigsten. Rund 15 bis 20 Prozent weniger Schüler als vor 20 Jahren besuchen heute die High-School. Die Gewerkschaften sind mittlerweile praktisch ohne Einfluß. ({5}) Damit Sie sich beruhigen: Das sind keine Zahlen der PDS, sondern das sind die Auskünfte, die wir am Rande der Jahrestagung des IWF in Washington erfahren konnten, unter anderem von einem der Chefökonomen, Herrn Holzer, aber auch von Vertretern des Congressional Budget Office. Das sollte Ihnen doch wirklich zu denken geben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit!

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ein derartiger Abbau gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit, wie dort realisiert, ist nicht unsere Zielstellung. Wir werden keine Politik für Spezis am Starnberger See, für Millionäre, machen, sondern wir wollen Politik für die Masse der Bevölkerung machen und werden deshalb massiv gegen Ihre Pläne auftreten. Ich bedanke mich. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun für den Bundesrat Herr Staatsminister Kurt Faltlhauser. ({0}) Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Scheel, Herr Poß: Wer so laut schreit, hat unrecht. ({2}) Wer so um sich schlägt, hat kein Konzept. Die Bürger wollen Argumente hören, keine schrillen Töne. Ich habe mir hier über Minuten hinweg Diffamierungen des bayrischen Ministerpräsidenten anhören müssen, eines Ministerpräsidenten, der bei den Bürgern in Bayern eine doppelt so hohe Zustimmung hat wie SPD und Grüne zusammengenommen. ({3}) Er ist, Frau Kollegin von der PDS, nicht nur von den Spezis am Starnberger See gewählt worden, sondern von den Arbeitnehmern draußen; sonst hätte er keine 53 Prozent bekommen. ({4}) Um was geht es uns in unserem Steuerkonzept? Meine Damen und Herren, es geht um die massive Förderung von Wachstum. Es geht um die Schaffung von Arbeitsplätzen mit dem Instrument der Steuerpolitik. Lafontaine - Ihr Vorgänger, Herr Eichel - hat im Bundestag in Bonn im März noch ausdrücklich gesagt, er halte die Steuerpolitik für die Schaffung von Arbeitsplätzen nur sehr wenig geeignet. Genau dies ist unser Ansatz. Wir sagen: Die Steuerpolitik ist ein zentrales Instrument, um tatsächlich Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. ({5}) Herr Eichel, Sie werden mit Ihren Vorstellungen, die Sie bisher vorgelegt haben, keine Wachstumseffekte erzielen. Im Gegenteil: Wir spüren Attentismus, weil die Leute überall sagen: Was wollen die nun eigentlich? Das, was Sie bisher gemacht haben, waren millimeterweise Senkungen ohne Mut und ohne Konzeption. Bei der Unternehmensteuerreform begehen Sie einen Systembruch, veranstalten Chaos und Planspielchen. Keine klare Konzeption, keine klare Senkung: Ich denke, das ist genau das Gegenteil von dem, was man im Unternehmensbereich braucht. ({6}) Die Grünen, Frau Scheel, sind ja schon sichtbar auf der Flucht vor diesem Chaos. Ich kann nur sagen: Herr Schlauch, willkommen im Klub der Sachverständigen! ({7}) In allem Ernst: Die Leute wollen sich doch die Fetzereien gar nicht mehr anhören. Dieses Land braucht ein steuerpolitisches Gesamtkonzept - wie Frau Kollegin Hasselfeldt es schon dargestellt hat - mit deutlichen Senkungen sowohl für die Unternehmen- als auch bei der Einkommensteuer. Das muß zusammenpassen. Das gilt insbesondere für die Personenunternehmen. Es paßt eben nicht zusammen, was Sie gegenwärtig in Planspielchen probieren. Wir brauchen eine klare Grundlinie; einen steuerpolitischen Befreiungsschlag braucht dieses Land, sonst nichts. ({8}) Daß, Herr Kollege Solms, die Steuerpolitik keine Novitätenschau ist, das ist wohl wahr. Aber bei genauem Hinschauen werden Sie sehr wohl die wohldurchdachten Fortentwicklungen der bisherigen Vorstellungen der Union und der CSU erkennen können. Eine Novität, die mit Stufen aufwartet, halten wir nicht für besonders sensationell. ({9}) Die Vereinfachung, die Sie jetzt Ihrerseits anmahnen, wird nicht durch einen Stufentarif, der sehr simpel aussieht, hergestellt. Vielmehr kann man eine Vereinfachung nur bei der Bemessungsgrundlage herstellen; das ist das Entscheidende. ({10}) Der Vorschlag, den ich vorgelegt habe, wird sich weitgehend selbst finanzieren, und zwar durch dreierlei Effekte: Der Effekt Numero eins ist der Wachstumseffekt. ({11}) - Der Herr Finanzminister hat noch gar nichts gehört, aber er ist schon sehr lustig. ({12}) Der zweite Effekt ist der Ehrlichkeitseffekt, wenn Sie so wollen, ({13}) und der dritte ist der unmittelbare Haushaltseffekt. Durch die durchgängige 30prozentige Steuerentlastung in der zweiten Stufe werden wir in massiver Weise einen Investitionszuwachs bekommen, ({14}) der seinerseits noch einmal durch eine massive Nachfragestärkung gefestigt wird. Die Wissenschaftler nennen das Akzelerationseffekt. ({15}) Das stärkt dann auch noch die Investitionen. Dieser Wachstumseffekt - das nehme ich persönlich an - beträgt im ersten Jahr ({16}) - jetzt achten Sie einmal auf die Zahlen, Herr Poß einen halben Prozentpunkt zusätzliches Bruttosozialprodukt und wird in den Jahren 2002 und 2003 etwa einen Prozentpunkt betragen. Das ist sehr niedrig angesetzt angesichts anderer Erfahrungen. Bei einer Steuerelastizität von 1,3 Prozent - das kann üblicherweise angenommen werden - hat das zum Ergebnis, daß auf Grund des Wachstumseffektes schon fast 50 Prozent der gesamten Ausfälle abgedeckt sind. Ein Weiteres. Die Steuervermeidung wird beendet werden. Personen, die ihr Kapital ins Ausland gebracht haben, werden in dieses Land zurückkehren. ({17}) Die Leute werden wieder aus der Schwarzarbeit auftauchen, und diejenigen, die viel Geld haben, werden endlich aufhören, akrobatische Steuervermeidungsstrategien zu fahren, weil es sich einfach nicht mehr lohnt. ({18}) Wenn man alle Effekte zusammennimmt, muß man sagen: Dieses Paket wird sich weitgehend selbst finanzieren. ({19}) Das ist auch die Erkenntnis aller vernünftigen Experten, etwa des Ifo-Instituts. Dieses Konzept baut auf den Erfahrungen von Großbritannien, wo es funktioniert hat, und von Neuseeland auf, wo man eben von 48 Prozent - sehr vergleichbar mit den Sätzen in unserem Land ({20}) auf 28 Prozent heruntergegangen ist und wo man ({21}) auf einen Eingangssteuersatz von 21 Prozent heruntergegangen ist. ({22}) Das hat dort zu einer radikalen Reduzierung der Arbeitslosigkeit geführt. Die Wirtschaft dort ist gesund, und bei uns ist sie nicht gesund, Herr Eichel. Es ist Ihre Aufgabe, hier etwas zu tun. ({23}) Der Zwischenruf von Herrn Poß zielt auf die Verschuldungsgrenze. Ich lese in den Zeitungen, daß wir die Grenzen des Maastrichter Vertrages überschreiten. Wer die Grundlagen und Zahlen in dem schönen dicken roten Buch des Finanzministers liest, wird feststellen, daß wir weit weg davon sind. Selbst wenn Sie die Ausfälle, die von uns bei diesem Vorschlag unterstellt werden, ({24}) hinzurechnen, kommen Sie nicht über 2 Prozent hinaus, und im Jahr 2002 sind Sie bei 1,5 Prozent und im Jahre 2003 noch einmal bei 1,5 Prozent. Das ist weit weg von dem 3-Prozent-Kriterium. ({25}) Ich glaube, das ist ein Argument der Ahnungslosen. ({26}) Dann kommt der Art. 115. Danke für das Stichwort, Herr Kollege. Ich habe mich schon damit befaßt, weil das natürlich auch die Länder angeht. Ich habe ja gelesen, die neuen Bundesländer seien betroffen. Dazu sage ich: Kein neues Bundesland ist in der Gefahr, daß es über die in Art. 115 festgelegte Grenze - er besagt, daß die Summe der Investitionen gleich der Verschuldung sein muß - hinausgeht. Es gibt kleine Probleme bei Bremen und Hamburg, erstaunlicherweise nicht bei Berlin. Die einzige Ebene, wo man im Anfangsstadium tatsächlich über die Grenze hinauskommen kann, ist der Bund. Aber, meine Damen und Herren, schauen Sie sich die Zahlen an: Das hat der Finanzminister selbst in der Hand. Sein Vorgänger hat massiv die konsumtiven Ausgaben nach oben getrieben zu Lasten der Investitionsquote. Und der jetzige Finanzminister ({27}) drückt die Investitionsquote, die Investitionen dieses Haushaltes, nach unten. Er kann durch kleine Schräubchendrehungen natürlich sicherstellen, daß der Art. 115 eingehalten wird. ({28}) - Auch ich mache einen Haushalt, ich weiß genau, wie das geht. ({29}) Mit Sicherheit können Sie so die Investitionen nach oben treiben. - Ich sage mit Stolz: Ich habe eine Investitionsquote von 15,7 Prozent, was sehr schwer einzuhalten ist, und der Bund hat eine Investitionsquote von knapp über 10 Prozent. Und jetzt drücken Sie sie noch weiter nach unten. Sie haben es mit Ihrer Haushaltspolitik selbst in der Hand, Herr Eichel, die Investitionsquote zu steuern und damit Art. 115 zu entsprechen. Dies als Argument gegen eine Steuerkonzeption zu nehmen ist nichts anderes als eine Argumentationsflucht. ({30}) Gehen Sie doch auf dieses Steuerkonzept ein, und gehen Sie nicht auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze! Staatsminister Kurt Faltlhauser ({31}) ({32}) Noch etwas zum Unsozialen: Wir senken den Eingangssteuersatz weiter als diese Bundesregierung. Außerdem setzen wir den Grundfreibetrag früher hinauf, als es diese Bundesregierung geplant hat. Wir senken dabei die Steuerlast für alle um rund 30 Prozent. Vor allem schaffen wir mit diesem Konzept Arbeitsplätze. Und sozial ist heute, was Arbeitsplätze schafft. ({33})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, Sie dürfen so lange reden, wie Sie wollen. Aber es wäre ganz nett - Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}): Ich hätte gerne noch eine halbe Minute, weil ich mich insbesondere noch von Herrn Eichel verabschieden will. ({1}) Herr Eichel, Sie werden den Bundesrat brauchen. Jetzt gibt es noch eine Merz-Konzeption und einen Faltlhauser-Tarif. Es wird innerhalb kürzester Zeit einen abgestimmten Unionstarif geben. ({2}) Ich kann Ihnen nur raten: Befassen Sie sich möglichst frühzeitig mit diesen Vorstellungen; denn ohne uns kommen Sie nicht über die Runden. Wenn Sie unsere Vorstellungen wenigstens einigermaßen aufnehmen, wird es Ihnen Deutschland danken. Ich bedanke mich. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie bin ich froh darüber, daß die CSU und auch die CDU anfangen, den Anschein zu erwecken, sich konzeptionell an deutscher Politik wieder zu beteiligen. Denn für uns war es schon schwierig, immer nur auf fundamentale Sprüche zu hören, von wegen, es sei ungerecht, es gehe nicht. Man hatte den Eindruck, Sie hätten Petersberg vergessen. Jetzt liegen dankenswerterweise Papiere von Ihnen vor, Herr Faltlhauser. Da lohnt sich wieder der politische Vergleich. Wir haben auf der einen Seite Petersberg pur und auf der anderen Seite das Konzept der rotgrünen Koalition bzw. der Bundesregierung, und dieser Vergleich lohnt sich tatsächlich. Die Bayerische Staatsregierung, Herr Faltlhauser, fordert unter dem Strich über die von der Koalition bereits im Steuerentlastungsgesetz 1999 beschlossene Entlastung von 12 Milliarden DM hinaus eine Nettoentlastung für alle bis zum Jahr 2003 in Höhe von 50 Milliarden DM. Allein für den Bundeshaushalt bedeutet dies eine zusätzliche Belastung von jährlich 20 Milliarden DM. Die Nettoneuverschuldung, die wir mit dem Haushalt 2000 auf 45 Milliarden DM zurückgefahren haben, stiege wieder auf 65 Milliarden DM an. Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien wäre gefährdet. In diesem Jahr kämen wir mit den 3 Prozent noch hin. Aber wir reden vom Jahr 2003. Da gelten ganz andere Grundsätze. Wir haben uns verpflichtet, uns in Richtung eines ausgeglichenen Haushaltes zu bewegen. Das wäre beim besten Willen nicht mehr zu erreichen. Geringste Zinsbewegungen nach oben - die würden Sie mit einer solchen zusätzlichen Verschuldung natürlich provozieren - würden die Zinslastquote für den Bund und für alle anderen Gebietskörperschaften noch weiter durch die Decke schießen lassen, als wir es bereits jetzt haben. ({0}) Die CSU hätte das erreicht, was sie sich bereits mit den Petersberger Beschlüssen in der eigenen Regierungszeit vorgenommen hatte: Der Staat wäre endgültig reformund handlungsunfähig. Eine solche nur durch den CSU-Parteitag erklärliche großmäulige und unverantwortliche Politik machen wir nicht mit. Wir setzen auf Konsolidierung des Staatshaushaltes und zugleich auf soziale Gerechtigkeit ausweislich der Steuerpolitik. ({1}) - Wir arbeiten sehr konzentriert daran, wie wir Besitzer großer Vermögen dazu heranziehen können, sich an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Sie alle werden sich noch wundern und vielleicht auch freuen, was möglicherweise gegen Ende des Jahres dabei herauskommt. Alles braucht seine Zeit. Das Ergebnis zählt. ({2}) Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, mit den zwei Stufen des Familienentlastungsgesetzes und mit der Unternehmensteuerreform erreicht die Koalition eine Nettoentlastung von wenigstens 40 Milliarden DM: 20 Milliarden DM 1999, 2000, 2002 Nettoentlastung, etwa 10 Milliarden DM durch beide Stufen des Familienentlastungsausgleichs und etwa 10 Milliarden DM durch die Unternehmensteuerreform ist die Größenordnung, die wir als Eckdaten haben. Das sind nach Adam Riese 40 Milliarden DM an Entlastung. Das kann sich sehen lassen, wenn wir gleichzeitig in der Lage sind, den Haushalt zu konsolidieren und dieses alles ohne zusätzliche Neuverschuldung zu finanzieren. ({3}) Das ist realistisch. Außerdem ist es deutlich weniger als in die hohle Hand geschissen, ({4}) sondern ist für alle - insbesondere für die Familien, aber auch für die Unternehmen - eine ganz gewaltige EntlaStaatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({5}) stung, die nicht mit Zukunftsunfähigkeit bezahlt werden muß. Gegenüber dem bereits beschlossenen Reformpaket unserer Regierung würde der Bayerntarif den Eingangssteuersatz um weitere 0,9 Prozentpunkte auf 19 Prozent senken - allerdings erst im Jahr 2003, also deutlich später, als wir das vorhaben. Gleichzeitig würde der Spitzensteuersatz über die von uns vorgesehene Senkung auf 48,5 Prozent hieraus um weitere 13,5 Prozentpunkte auf 35 Prozent reduziert werden. Allein die Symmetrie zwischen dem, wie man unten nachgibt, und dem, wie man nach oben nachgibt, zeigt, daß dieses Bayernkonzept genauso wie das Petersberger Konzept Schlagseite hatte und deswegen als ungerecht abgelehnt werden muß. ({6}) Nach dem Bayerntarif würden Einkommen, die über 110 000 DM bzw. bei Verheirateten über 220 000 DM liegen, linear mit 35 Prozent besteuert werden. Da kann von Steuergerechtigkeit und von Besteuerung nach Leistungsfähigkeit überhaupt keine Rede mehr sein. ({7}) Daran ändert auch die geforderte Abflachung des Tarifs und des Durchschnittssteuersatzes nichts. Die unter Kohl und Waigel in Gang gesetzte Maschinerie der öffentlichen Verarmung und der privaten Bereicherung würde auf zweifache Art und Weise wieder angeworfen werden: sowohl über die Tarife als auch über die steigenden Zinsen. Das führte auf den Geldmärkten dazu, daß diejenigen, die viel Geld haben, noch mehr verdienen. Dieser doppelte Effekt, Kennzeichen der 16 Jahre Kohl und Waigel, würde wieder entstehen, und zwar mit demselben Ergebnis.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Ergebnis wäre eine riesige Gerechtigkeitskluft, wie sie uns die alte Regierung hinterlassen hat und die wir mit großer Mühe Schritt für Schritt schließen. Ein letztes Wort zur Unternehmensteuer. Es ist interessant, was Sie zu diesem Thema vorschlagen: Sie begünstigen weiterhin die entnommenen Gewinne und behandeln die thesaurierten Gewinne deutlich schlechter. Unter dem Strich gesehen werden die Unternehmen deutlich höher belastet, als es nach unserem Unternehmensteuerkonzept der Fall ist. Das, was im Unternehmen bleibt und was zu Investitionen führen soll und was ausländisches Geld im Lande halten soll, weil es sich lohnt, Substanz in einer Tochtergesellschaft ausländischer Konzerne aufzubauen, alles das stellen Sie in Frage. Alles das, was Sie selbst eingeleitet haben, nämlich den Rückbau von Konzerntöchtern, von Aktiengesellschaften zu 50 000-DM-GmbHs, die nur noch über Darlehen ihrer Mütter finanziert werde, wollen Sie wiederherstellen. Das führt zu einem totalen Ausbluten großer Gesellschaften, wie wir das in den letzten Jahren in einer Größenordnung von Hunderten von Milliarden DM hatten, die ins Ausland abgeflossen sind.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ihre Redezeit ist nun endgültig um; Sie hatten anderthalb Minuten mehr.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Vielen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich muß auf Gerechtigkeit achten, ich bitte sehr um Nachsicht. Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so, wie der Herr Faltlhauser gesagt hat: Es wird bei Ihnen fast nur noch geschrien. Es gibt keinen ruhigen Vortrag, keine klare Aussage zu einem Thema mehr, das relativ leicht verständlich ist, wenn man in die Historie schaut. Es kann jeder alle Behauptungen dazu aufstellen, wie sich mancher Steuersatz von heute in der Zukunft entwickeln wird. Der Finanzminister macht das jeden Tag. Ich bin der Meinung, man sollte sich an Beispielen aus der Vergangenheit orientieren. Die Beispiele zeigen, daß es Jahre gegeben hat, in denen wir die Steuern in Deutschland drastisch gesenkt haben und gleichwohl soviel zu Art. 115 des Grundgesetzes - die Steuereinnahmen des Staates gesprudelt sind. Die große Steuerreform der Jahre 1986, 1988 und 1990 unter Gerhard Stoltenberg, die mit dem Konzept von Minister Waigel fortgeführt werden sollte, führte zu einer Nettoentlastung von 43,5 Milliarden DM. Damals gab es die gleichen Bedenken der Angsthasen aus der SPD. Auch die Länder hatten Bedenken. Sie fürchteten, daß ihre Kassen austrocknen würden, daß die Gemeinden kein Geld mehr hätten. Sie behaupteten, das Ganze sei nicht sozial gerecht und nicht in Ordnung. Die gleichen Bedenken, die heute von Herrn Eichel - Griff in die Mottenkiste - vorgetragen werden, gab es damals auch. ({0}) - Das Ergebnis dieser dreistufigen Regelung - in zwei Jahren praktisch beschlossen - war, daß die Steuereinnahmen um sage und schreibe das Dreifache dessen gestiegen sind, was die Nettoentlastung ausgemacht hat, nämlich um rund 125 Milliarden DM. Dies kann man leicht nachvollziehen, indem man sich ansieht, wie hoch die Steuereinnahmen 1986, 1988, 1990 und 1991, waren und dann den entsprechenden Beitrag für die neuen Länder abzieht. Die dreifache Summe dessen, was die Nettoentlastung ausgemacht hat, was also bei den Bürgern und Betrieben angekommen ist, ist eingenommen worden. Der zweite Effekt, den man dann, wenn man in die Historie schaut, nachvollziehen kann, ist der für den Arbeitsmarkt. Sie haben sicher noch die gestern oder vorReinhard Schultz ({1}) gestern vorgelegte Statistik zum Arbeitsmarkt im Kopf. Wir haben saisonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Beschäftigten sinkt. Dies ist die Wirkung der ersten Steuermaßnahmen, die Sie im Laufe dieses Jahres getroffen haben. ({2}) Man kann wohl nicht annehmen, daß die Unternehmen jetzt in großem Umfang auf Grund Ihres erst für das Jahr 2000 versprochenen und dann auf das Jahr 2001 verschobenen gewaltigen Konzeptes investieren. ({3}) Tatsache ist, daß Sie all die entscheidenden Faktoren für Wirtschaft und Staat, nämlich das wirtschaftliche Wachstum und die Beschäftigung, negativ beeinflußt haben und daß die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt in diesem Jahr gestiegen ist. Das ist die Wirkung Ihrer Steuerpolitik. ({4}) Ich habe gestern abend mit einem Steuerfachmann zusammengesessen und ihm gesagt, daß ich heute in der Aktuellen Stunde zur Steuerpolitik reden soll. Ich habe ihn um eine Bewertung gebeten. Daraufhin sagte er zu mir: Die steuerlichen Vorschriften, die wir in den letzten zehn Monaten bekommen haben, sind der Tiefpunkt steuerlicher Gesetzgebungskultur. ({5}) Es gibt kaum noch eine Vorschrift, die man versteht. Ich nenne hier zum Beispiel die §§ 2 b, 4 a oder 3 b des Einkommensteuergesetzes. Sie können irgendeine Vorschrift nehmen. ({6}) Auf jeden Fall muß man Zweifel daran haben, ob das, was dort vorgelegt worden ist, verfassungsrechtlich in Ordnung ist. ({7}) Es ist wichtig, ob die von Ihnen hier mit Mehrheit beschlossenen Gesetze verfassungsmäßig sind oder nicht. ({8}) Sie müssen Ihre Vorschläge darauf überprüfen, welche Wirkung sie auf den Arbeitsmarkt und auf die Wirtschaftskraft des Landes haben. Nun sehe ich mir die Situation zu Beginn des kommenden Jahres an. Die offizielle Auskunft aus dem Finanzministerium lautet: gewaltige Steuerreform. Durch die jetzt beschlossene Steuerreform wird der Bürger im nächsten Jahr in der Summe um 2,7 Milliarden DM entlastet. Das trifft Bund, Länder und Gemeinden. Sie haben durch das, was diese Regierung hier beschlossen hat, weniger Steuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden DM. Wer erwartet denn daraus einen gewaltigen zusätzlichen Impuls, einen Schub für die Wirtschaft oder für den Arbeitsmarkt? Ich sage es noch einmal: Durch Ihre Steuerreform wird es im nächsten Jahr Steuerausfälle in Höhe von 2,7 Milliarden DM geben. ({9}) - Wir erwarten, daß sich der gleiche Effekt vollzieht, den wir 1986, 1988 und 1990 hatten. Das war nämlich eine Zunahme der Beschäftigtenzahl um drei Millionen. Genau das ist der entscheidende Punkt. ({10}) Wir hatten den Tiefstpunkt bei der Arbeitslosigkeit im Jahr 1992; das war die Wirkung aus dieser großartigen Reform. Dann überlegen Sie, ob das Ganze noch sozial gerecht ist. Ich habe mit großem Interesse gehört, daß Sie nun wieder die Vermögensteuerarbeitsgruppe Ihrer Fraktion oder des Ministeriums arbeiten lassen. Ich dachte, das Ganze soll heute zur Ablenkung dienen. Der Kollege Poß hat im Juni gesagt, man müsse darüber einmal im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit nachdenken. Jetzt hört man, Sie setzen eine Arbeitsgruppe ein. Erst ist Herr Eichel dagegen, dann ist er ein bißchen dafür, dann sagt er, ja, da arbeitet eine Arbeitsgruppe, das Ergebnis warten wir ab.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Trotzdem ist Ihre Redezeit zu Ende.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Poß sagte vor kurzem, das Ding ist tot, ({0}) und Sie haben jetzt eben gerade die Arbeitsgruppe wieder eingesetzt. Die Folgerung, die der Bürger daraus ziehen kann: Mit Griffen in die Mottenkiste, mit Neidargumenten in der Steuerpolitik, mit einer Politik, die Beschäftigung unterdrückt und nicht fördert, werden Sie die Zukunft nicht gewinnen. ({1}) Wir brauchen keine Angsthasensteuerpolitik, sondern eine Politik für Wachstum und Beschäftigung. Herzlichen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Müller, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt ja schon auf, daß sowohl die Kollegin Hasselfeldt als auch der Kollege Austermann nach den ersten zwei Sätzen gar nicht mehr über das bayerische Steuermodell geredet haben. Ich glaube, denen ist das ziemlich peinlich, was da gekommen ist. Dann reden Sie viel lieber über andere Dinge, aber nicht über das Thema der Aktuellen Stunde. ({0}) Herr Austermann, wenn Sie schon so viel mit Zahlen umgehen, dann sollten Sie mit ein bißchen mehr Ehrlichkeit herangehen. Natürlich haben Sie eine Steuerreform gemacht. Natürlich hatten Sie Probleme mit der deutschen Einheit. Aber sagen Sie, wie Sie das finanziert haben. Sie haben sie zum ersten durch mehr Schulden finanziert, jede Menge Schulden, die wir zur Zeit abtragen müssen, und zum zweiten haben Sie sie über mehr Lohnnebenkosten finanziert. ({1}) Die Lohnnebenkosten sind in Ihrer Regierungszeit laufend erhöht worden. ({2}) Da liegt das Problem. So haben Sie diese Aufgaben finanziert, versteckt und klammheimlich, aber nicht offen und ehrlich. Wir wollen aber statt dessen lieber über Bayern reden. Wir reden über Bayern, weil allmählich die Alternative zu Rotgrün deutlich wird. ({3}) Das muß man in einem Kontext sehen. Bayern oder vielmehr die CDU/CSU bescheren uns interessante Vorschläge. Erstens sollen wir im ersten Monat Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld streichen. Zweitens sollen 20 DM für jeden Krankenbesuch bezahlt werden. Drittens schlagen Sie eine unsoziale Steuerreform auf Pump vor. Viertens geben Sie noch Empfehlungen zur Koalition mit dem Rassisten Haider, wie Ihr Kollege Friedman zu Recht gesagt hat, von Ihrer Personalpolitik in Bayern einmal ganz zu schweigen. Die Politik, die Sie von der CSU betreiben, ist doppelzüngig. Erstens ist Ihre Politik doppelzüngig, weil Sie jedem alles versprechen. Auf der einen Seite versprechen Sie mehr Geld für den Straßenbau, so gestern geschehen - „CSU will mehr Geld für Straßenbau“ -, machen sich Sorgen um die Bundeswehr, und gleichzeitig wollen Sie eine Steuerreform auf Pump. ({4}) Jedem alles zu versprechen, Mehrausgaben und immer noch mehr Steuergeschenke - dieses ist unseriös. ({5}) Zweitens. Diese Steuerpolitik der CSU ist unsozial. Sie stellen sich hin und sagen, überall würde der Tarif einheitlich gesenkt werden. Ich empfehle Ihnen einen Blick ins „Handelsblatt“, die das für diejenigen, die Zahlen nicht lesen können, sondern nur Graphiken, schön aufbereitet haben, einen Blick in die Entlastungstabellen. Ein niedriges Einkommen von 48 000 DM entlasten Sie um 900 DM. Das sind 15 Prozent Entlastung. Ein Einkommen, das bei 360 000 DM liegt, entlasten Sie um 45 000 DM. Der Taschenrechner, meiner wie Ihrer, wird Ihnen da 30 Prozent Steuerentlastung anzeigen. Gehen wir in Ihre Details. Wenn Sie Ihre Steuerkurven angucken, werden Sie sehen, daß Sie oben kräftig entlasten und unten praktisch gar nicht. Weiter versprechen Sie eine Erhöhung der Freibeträge für die Kinder. Darüber reden wir doch die ganze Zeit, und Ihre Abgeordneten waren es, die zu Recht nachgefragt haben, wo denn die soziale Komponente ist. Das ist das Kindergeld. Das Wort Kindergeld taucht in Ihrer Steuerpolitik nirgendwo auf. Die Kollegin Hasselfeldt hat Anfang des Jahres, bevor die Entscheidung aus Karlsruhe kam, noch gesagt, es wäre ein unnötiger Luxus. ({6}) - Natürlich haben Sie das gesagt. Insofern stelle ich auch hier eine soziale Schieflage fest. Betrachten wir weitere Details Ihres Konzepts. Ein Steuertarif von 19 bis 35 Prozent ist unanständig, schlicht unanständig. Hätten Sie Mut gehabt, wie ihn die CDU bewiesen hat, die in der Tat noch weiter unten angefangen hat, dann hätten wir wenigstens darüber reden können, abgesehen von den Steuerausfällen. Aber ein Steuertarif von 19 Prozent bis 35 Prozent ist unanständig. Ich möchte jetzt auf Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge eingehen. Sie fordern einen Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne von 35 Prozent. Hier sind wir mutiger. In unserem Konzept ist ein Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent vorgesehen. Ich muß Ihnen an dieser Stelle ehrlich sagen: Sie haben Wirtschaftspolitik schlicht nicht verstanden. Sie wollen die Nutzungsdauer von beweglichen Wirtschaftsgütern verlängern. Für diese Maßnahme haben Sie 3 Milliarden DM angesetzt. Dies ist viel zu hoch, 2,2 Milliarden DM wären viel ehrlicher gewesen. Das gilt auch für die Senkung der linearen AfA. Sie wollen außerdem die degressive AfA für private Mietwohnungen abschaffen. Fragen Sie einmal Ihre Wohnungspolitiker, wie sich die Mieten entwickeln werden, wenn diese wegfällt. Sie wollen die Veräußerungsgewinne aus Investitionsfonds besteuern. Wie geht dies mit der Sicherung der Altersvorsorge zusammen? Sie beschimpfen uns, weil wir die Subventionierung von Kapitallebensversicherungen diskutieren. Aber Sie wollen Aktienfonds, die der privaten Altersvorsorge dienen, besteuern. Dies ist schlicht unsozial und unvernünftig. ({7}) Des weiteren fordern Sie die Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei Gewinnen von Betriebsvermögen. Dies ist eine Mogelpackung. Gleichzeitig behaupten Sie, diese Maßnahme entlaste die KMUs. Durch die Fünftelungsregel, die in unserem Konzept vorgesehen ist, wird erwiesenermaßen eine Altersvorsorge bis zu 500 000 DM entlastet. Durch Ihr altes Konzept wurden die bevorzugt, die über dieser Grenze lagen. Durch das CSU-Konzept - rechnen Sie es nach, Herr Michelbach - werden die hohen Einkommen entlastet. Durch das rotgrüne Konzept werden die mittleren und unteren Einkommen entlastet. Dies ist unser Konzept. Dafür stehen wir. Jetzt kündigt die CDU/CSU ein eigenes Steuerkonzept an. Auf dieses bin ich gespannt. Sie verfahren nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis. Sie stehen für eine Steuerreform auf Pump. Dies ist unseriös, unsozial und unsolide. Sie sind die Partei der Fußnoten und der Mehrwertsteuer. Wenn man die steuerlichen Maßnahmen des CDU- und des CSU-Konzepts addiert, dann stellt man fest, daß die Steuerausfälle 74 Milliarden DM betragen. Diese Summe entspricht genau einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte. Ich bin gespannt, wann Sie die Katze aus dem Sack lassen. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Schild, SPD-Fraktion.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man Vorschläge für eine Steuerreform macht, dann muß man sich auch den finanziellen Zustand dieser Republik anschauen. Wenn man dies tut, dann erweisen sich die von der CSU vorgeschlagenen Steuerpläne sehr schnell als ein durchsichtiges politisches Manöver. Die dort gemachten Versprechungen bedeuten den Abschied von finanzpolitischer Seriösität und Disziplin. ({0}) Diese Regierung hat nicht nur Versprechungen gemacht. Sie hat in der zweiten Stufe ihrer Steuerreform Bürgerinnen und Bürger sowie mittelständische Betriebe um 20 Milliarden DM entlastet. ({1}) Statt mit unseriösen Vorschlägen auf Stimmenfang zu gehen, wäre es notwendig gewesen, sich mit den harten Fakten finanzpolitischer Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen, auch wenn unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden müssen. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande sind bereit, die Staatsverschuldung als ein zentrales Problem der Politik wahrzunehmen. Seriöse Finanzpolitik kann angesichts der hohen Staatsverschuldung dem Ziel der Steuerentlastung nur in vertretbaren Schritten näherkommen. Dies haben wir getan. Die Verschuldung des Bundes hat eine Geschichte. Sie ist die größte Erblast der Regierung Kohl und ihres Finanzministers Waigel. Mit den neuen CSU-Vorschlägen wird in die gleiche Kerbe geschlagen. Die dort vorgeschlagene irrwitzige Nettoentlastung von über 50 Milliarden würde die Verschuldung der öffentlichen Hände noch viel stärker und bedrückender werden lassen. Die Schulden des Bundes - darauf ist in den letzten Tagen im Deutschen Bundestag mehrfach hingewiesen worden - sind auf 1,5 Billionen DM gestiegen. Wir alle wissen, daß 82 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt aufgewendet werden müssen, um Zinsen für bereits ausgegebenes Geld zu zahlen. Die wachsende Schuldenlast erdrückt die Handlungsfähigkeit des Staates. Die CSU-Vorschläge würden nicht nur die Handlungsfähigkeit des Bundes, sondern auch diejenige der Länder und Gemeinden weitestgehend ruinieren. ({2}) Herr Faltlhauser, Sie haben einen Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Nach unseren Berechnungen kommen allein in der ersten Stufe im Jahr 2001 bei Ländern und Gemeinden Einnahmeausfälle in Höhe von 18 Milliarden DM zusammen. Zur Stimmigkeit des Konzepts möchte ich folgendes sagen: Die Gewerbeertragsteuer soll abgesenkt werden; dafür sollen die Kommunen durch eine Erhöhung des Umsatzsteueranteils entschädigt werden. Gleichzeitig wird von der CDU/CSU eine Reduzierung der Umsatzsteuer für bestimmte Wirtschaftsbereiche gefordert, die zu weiteren Steuerausfällen in Milliardenhöhe führt. ({3}) Da paßt einiges nicht zusammen. Die Fadenscheinigkeit dieses Vorschlags wird sich sehr schnell daran erweisen, daß der Freistaat Bayern kaum eine Gesetzesinitiative durch den Bundesrat anstoßen wird. Die CSU weiß sehr wohl, daß die übrigen Bundesländer, auch die CDU-geführten, diesen Vorschlag bereits im Hinblick auf die Einnahmeausfälle in der Luft zerreißen würden. ({4}) Klaus Wolfgang Müller ({5}) Dieser Vorschlag weist auch eine groteske soziale Schieflage auf. Für die Bezieher hoher und höchster Einkommen bringt die Umsetzung des Vorschlags Entlastungen im Umfang von 27 Milliarden DM, aber weniger als 5 Milliarden DM für die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen. ({6}) - Das können wir gern einmal ausrechnen lassen, wenn diese Vorschläge - einiges ist angedeutet worden - im Rahmen der Beratungen des Steuerbereinigungsgesetzes unterbreitet werden. Wir Sozialdemokraten müssen auch das Wohl der gesamten Bevölkerung im Auge haben. Wir können das Sozialstaatsprinzip nicht unter die Räder kommen lassen. Diese Gesellschaft braucht das notwendige Geld für Forschung, Entwicklung, Bildung, Infrastrukturmaßnahmen, Investitionen und vieles andere mehr. Die Umsetzung Ihrer Vorschläge würde zweifellos zu einer Gewaltkur in anderen Politikbereichen führen. Wenn man einmal davon ausgeht, daß die dort unterbreiteten Vorschläge zwischen CDU und CSU, zwischen Herrn Schäuble und Herrn Stoiber, noch keineswegs abgestimmt sind, ({7}) dann ist doch so viel klar: Die Union will Steuern auf Pump senken. ({8}) Damit würde der Weg in die Staatsverschuldung weiter beschritten werden. Das ist ein „beklemmendes Szenario“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ titelte. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Wir sind zuversichtlich, daß unser Konzept in den nächsten Jahren aufgeht. Wir werden dann auf anderem Wege Steuern in die Kassen bekommen, aber auf dem von uns vorgeschlagenen Weg. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion.

Elke Wülfing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002567, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Mitschreiben zwei Worte zu Herrn Müller und zu Herrn Schuld, Entschuldigung, zu Herrn Schild sagen. ({0}) - Nicht so ganz, aber ähnlich dämlich. ({1}) - Danke, gleichfalls. Stoltenbergscher Selbstfinanzierungseffekt: ({2}) 1985 bis 1990 43 Milliarden DM Entlastung für die Bürger, ({3}) 130 Milliarden DM Mehreinnahmen im Haushalt. Dann kam die deutsche Einheit. Sie wollen uns doch in diesem Hause nicht vorwerfen, daß wir für die deutsche Einheit Schulden machen mußten. ({4}) Diese Zahlen sind im Finanzbericht des Finanzministers Eichel nachzulesen. „Wir brauchen eine Steuerreform, die diesen Namen wirklich verdient“ - das ist nicht von mir, sondern von Herrn Struck. Wo er recht hat, hat er recht. ({5}) Sie waren von diesen Worten damals zwar nicht so beeindruckt, aber das beschreibt nur die Zerrissenheit von SPD und Grünen, die man heute wieder beobachten kann. ({6}) Vor allen Dingen wird dadurch die Ignoranz der SPD gegenüber den tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen in Deutschland beschrieben. ({7}) Wir haben damals im vorauseilenden Gehorsam die Aufforderung Ihres Fraktionsvorsitzenden ernstgenommen. Sie wissen das ja: Lafontaine hat die rote Bundesratsmehrheit benutzt und gegen unsere Vorschläge in Stellung gebracht. Dadurch haben wir drei Jahre verloren, ({8}) in denen man Arbeitsplätze hätte schaffen können, wenn Sie von der SPD und von den Grünen es gewollt hätten. ({9}) Obwohl wir in der Opposition sind, haben wir uns selbstverständlich Gedanken gemacht; ich nenne stellvertretend sowohl Herrn Merz, der gleich noch reden wird, ({10}) wie auch unseren Freund Faltlhauser aus Bayern. Wir dürfen Ihnen einfach nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen überlassen, weil diese Frage bei Ihnen schlecht aufgehoben ist. ({11}) Genau das hat Ihnen die OECD inzwischen attestiert. Eine Weiterentwicklung der Steuerreform auf der Basis der Petersberger Beschlüsse wäre in dieser Republik notwendig und nicht das, was Sie vorschlagen. Sie konnten es doch heute lesen: Der DIHT hat Ihnen gesagt, was die Mittelständler von Ihrer sogenannten Betriebs- oder Unternehmensteuerreform halten: nichts nämlich, ({12}) weil sie darin gar nicht vorkommen. ({13}) Gerade für den Mittelstand müßten Sie vorher Planspiele durchführen. Eines muß nach dem anderen kommen, sonst kommt nichts dabei herum. Ich sage Ihnen deshalb, Herr Eichel: Diese Betriebsteuer ist tot. Ich höre, daß jedenfalls Herr Zitzelsberger das genauso sieht. Sie ist anscheinend tot - ganz abgesehen davon, daß Sie offensichtlich nicht mit dem rechnen, was inzwischen im Bundesrat passiert ist: Auf Grund Ihrer schlechten Politik, für die Sie bei den Landtagswahlen die Quittung bekommen haben, gibt es dort nun ein anderes Quorum. ({14}) Nun müssen Sie einmal schauen, wie Sie da weiterkommen. ({15}) Ich fordere Sie auf, geben Sie sich einmal einen Ruck, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Bundeskanzler Schröder, der sich dafür entschuldigt hat, daß er sich bei den Renten geirrt hat, und geben Sie zu, daß Sie sich bei der Betriebsteuer geirrt haben. ({16}) Geben Sie sich einen Ruck, entschuldigen Sie sich, sagen Sie, es war ein Irrtum, und denken Sie gemeinsam mit uns darüber nach, wie man eine vernünftige Einkommensteuerreform auf den Weg bringen kann. ({17}) Einen Vorschlag zu einer vernünftigen Einkommensteuerreform haben die beiden Herren Faltlhauser und Merz auf den Tisch gelegt. Selbstverständlich ist es richtig, daß wir alle Bürger entlasten wollen. Aber was machen Sie? ({18}) Sie machen eine Unternehmensteuerreform, die zwar den großen Unternehmen, aber nicht den Bürgern zugute kommt. An die Entlastung der Bürger und der mittelständischen Unternehmer denken Sie überhaupt nicht. ({19}) Für diese tun Sie überhaupt nichts. ({20}) Wir sind dafür, alle Einkommensteuersätze von ganz unten bis ganz oben herunterzusetzen. Stoltenbergs Steuerreform hat gezeigt, daß das drei Millionen Arbeitsplätze bringen kann. Dagegen ist die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen bei Ihnen schlecht aufgehoben. Überlassen Sie sie lieber uns, denn da ist sie besser aufgehoben. Vielen Dank. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bayerischen Vorschläge gehen nach dem Motto vor: Wer bietet noch höhere Steuereinnahmeausfälle und noch niedrigere Sätze? Mit einer soliden Finanzpolitik, in die diese Vorschläge eingebettet werden müßten, hat das aber überhaupt nichts zu tun. ({0}) Das wundert mich auch nicht, weil solide Finanzpolitik in der Tat zu keiner Zeit Ihr Markenzeichen gewesen ist. ({1}) Wer seriöse Steuerpolitik betreiben und über Arbeitsplätze reden will, muß über den ganzen Datenkranz reden, den es in der Volkswirtschaft gibt: Er muß selbstverständlich über Steuern, über Lohnnebenkosten und über die Fragen reden, wie Investitionen, vor allem Zukunftsinvestitionen, angekurbelt und wie die öffentlichen Finanzen in Ordnung gehalten werden sollen. Gerade der letzte Punkt stellt den größten Pferdefuß Ihrer Finanzpolitik dar. ({2}) Sie, Herr Kollege Solms, haben recht, daß viele alte Bekannte grüßen. Es gibt nur einen Unterschied: Nach Ihren Berechnungen hätte die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse zu einem Einnahmeausfall in Höhe von 30 Milliarden DM geführt, tatsächlich wären es 40 Milliarden DM. Außerdem wollten Sie die Mehrwertsteuer erhöhen. Jetzt handeln Sie nach dem Motto: Wir sind nicht mehr an der Regierung und müssen nicht befürchten, daß unsere Vorschläge irgendwann Gesetzeskraft erhielten, ({3}) also kommt es auf 10, 20 oder 30 Milliarden DM mehr Einnahmeausfall auch nicht mehr an. Deshalb bieten Sie jetzt 50 Milliarden DM; wir haben nachgerechnet: Tatsächlich wären es mindestens 65 Milliarden DM. Sie nehmen das alles ja gar nicht so genau. Das führt dann, anders als Sie, Herr Faltlhauser, es gesagt haben, dazu, daß nicht nur der Bundeshaushalt, sondern auch die meisten Länderhaushalte verfassungswidrig wären. Sie können es ja auch. Ich möchte nicht darüber sprechen, was die genannten 65 Milliarden DM alleine für Bayern bedeuten. Das sollten Sie mit Herrn Deimer ausmachen, der Ihnen dazu schon das Richtige gesagt hat, nämlich daß auch die bayerischen Kommunen diese Mehrbelastungen nicht verkraften können. Verehrter Herr Kollege Faltlhauser, wir erhalten ja sehr viel Post aus München. Kürzlich habe ich von Ihnen einen Brief bekommen. Darin steht folgendes: Auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 hat der Bundesgesetzgeber längstens bis zum 31. Dezember 2000 das Entgelt für die Pflichtarbeit von Gefangenen neu zu regeln. Bei einer generellen Erhöhung des finanziellen Arbeitsentgelts drohen erhebliche Mehrausgaben für die Länder. ({4}) Alleine für Bayern seien das 16,2 Millionen DM. ({5}) Sie führen weiterhin aus, daß dies ein Vorschlag sei, der die Länder vor erhebliche Probleme stelle. Mehrausgaben von 16,2 Millionen DM stellen Bayern vor große Probleme, aber ein Steuerkonzept - ich will es gar nicht bewerten -, das für Bayern einen Einnahmeausfall von 3 bis 4 Milliarden DM pro Jahr bedeutet, macht kein Problem. Das ist die Qualität Ihrer Diskussionsbeiträge. ({6}) Das alles ist nicht ernst zu nehmen. Es ist viel schlimmer - darüber sollten Sie einmal nachdenken; denn Sie besitzen in der Europapolitik eine gute Tradition -: Ich erinnere mich daran, welche Beiträge die CDU und CSU gemacht haben, als die Italiener in diesem Jahr, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ein Defizit von 2 Prozent im öffentlichen Gesamthaushalt angemeldet hatten und dieses Defizit auf 2,4 Prozent hochzugehen drohte. Wir alle wissen, welche europaweite Diskussion dadurch zu Recht ausgelöst worden ist. Das Weiterbestehen der Situation, so wie sie bisher war, würde bedeuten, daß wir sofort nach Brüssel melden müßten: Alle Verpflichtungen, die wir im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingegangen sind, können wir nicht mehr einhalten; ein Defizit von 1 Prozent ist im Jahre 2002 nicht mehr einzuhalten; wir liegen dann bei einem Defizit von - um nur ein Beispiel zu nennen - 2 Prozent. Daraus würde eine wunderbare Debatte entstehen, und dann könnten Sie über den Euro und dessen Geldwert diskutieren. Vielleicht haben Sie aber - anders als Herr Waigel - zu diesem Thema kein Verhältnis. So etwas kann man nicht tun, wenn man die Leitwirtschaft Europas zu vertreten hat. ({7}) Die Begründung lautet Wachstumsschub. Wer das will, der muß alle zur Verfügung stehenden Instrumente in die Hand nehmen. Sie tun ja so, als ob es keine Steuerreform gegeben hätte. Im Gesetzblatt ist eine Einkommensteuerreform festgeschrieben - das alles verschweigen Sie ja -, die im Laufe einer Wahlperiode den Eingangssteuersatz um 6 Prozentpunkte absenkt. Sie haben 16 Jahre lang regiert. Wissen Sie, was Sie fertiggebracht haben? Einmal 3 Prozentpunkte hinunter, einmal 3 Prozentpunkte hinauf. Mehr haben Sie nicht fertiggebracht. ({8}) Eine Kürzung des Eingangssteuersatzes um 6 Prozentpunkte in einer Wahlperiode haben Sie noch nie fertiggebracht. ({9}) - Dieser Zuruf ist schön. Sie haben die Mineralölsteuer von 1989 bis 1994 um 50 Pfennig erhöht. Wir erhöhen sie gerade einmal um 30 Pfennig. Wir senken die Lohnnebenkosten um den gleichen Betrag. Sie aber haben die Lohnnebenkosten angehoben. ({10}) Angesichts dessen sprechen Sie von der Absenkung des Spitzensteuersatzes. Dazu hatten Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierung eine wunderbare Gelegenheit. Was haben Sie statt dessen fertiggebracht? Eine Reduzierung von 56 auf 53 Prozent! ({11}) Wir senken den Spitzensteuersatz in einer Wahlperiode von 53 auf 48,5 Prozent. Sie haben 3 Prozentpunkte zuwege gebracht, wir 4,5. Auf die bayerischen Vorschläge in diesem Zusammenhang komme ich gleich noch zu sprechen. Wir sind die ersten, die die Erhöhung der Lohnnebenkosten nicht nur angehalten, sondern sie auch gesenkt haben. Das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierung nie zuwege gebracht. ({12}) Über die Unternehmensteuerreform sprechen wir noch an anderer Stelle. Diese Reformen betten wir in das ein - dazu haben Sie sich einmal auf Grund Ihrer europapolitischen Vorstellungen bekannt; denn Sie haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt herbeigeführt -, was wir auf europäischer Ebene verabredet haben, nämlich in eine Politik der Haushaltskonsolidierung bzw. der Rückführung der Nettoneuverschuldung. Wir könnten uns auf den SanktNimmerleins-Tag verabschieden, wenn wir das so durchführen würden, wie Sie das wollen. ({13}) Unsere Politik führt in eine andere Richtung. Schauen Sie sich einmal die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe an. Sie gehen steil nach oben. Schauen Sie sich einmal die Einbrüche im Export an: Ohne die Stärkung der Binnennachfrage, die wir auf der Basis unseres Konzeptes zu Beginn dieses Jahres durchgesetzt haben, wäre der Export in diesem Jahr viel schlechter verlaufen, weil bei uns - wie Sie genau wissen - die Asien-Krise, die Lateinamerika-Krise und die Rußland-Krise zu sehr heftigen Auswirkungen geführt haben. ({14}) Jetzt geht die Entwicklung steil nach oben. Alle Wirtschaftsforschungsinstitute, der Internationale Währungsfonds, die Deutsche Bundesbank, die Deutsche Bank Research und die Dresdner Bank sagen: Ihr seid auf dem richtigen Wege. Alle Wachstumsprognosen werden nach oben korrigiert. Ich bleibe in dieser Hinsicht noch ein bißchen zurückhaltend, aber es gibt im Moment keine Wachstumsprognose für das nächste Jahr, die unter 2,5 Prozent liegt. Eine Fülle von Instituten sagt inzwischen ein Wachstum von 3 Prozent voraus. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, das zu den größten Pessimisten gehört, hat seine Wachstumsprognose von ehedem 2 auf nunmehr 3 Prozent total verändert. ({15}) Das erstemal seit vielen Jahren treffen die Steuerschätzungen wieder zu. Teilweise liegen die Einnahmen sogar über den Steuerschätzungen. Das ist ein riesiger Fortschritt. Die Situation sah zu Ihrer Zeit ganz anders aus. ({16}) Auf das Beispiel USA kann ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen. Ein weiterer Punkt. Ihr Konzept hat eine groteske soziale Schieflage. Gegenüber der Regelung, die wir in das Gesetz geschrieben haben, wollen Sie beim Eingangssteuersatz gerade einmal 0,9 Prozentpunkte heruntergehen. 5 Milliarden DM haben Sie noch für das untere Ende übrig. Den Spitzensteuersatz wollen Sie um 13,5 Prozentpunkte senken. Das entspricht einer Entlastung von 27 Milliarden DM am oberen Ende. Und Sie wollen uns hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit unserem Sparpaket einen Vorwurf machen! Das fehlt gerade noch. ({17}) Im übrigen ist Ihr Vorschlag wirtschaftspolitisch total kontraproduktiv, denn es gilt: Wer so sehr auf die Chefärzte, auf die gut verdienenden Anwälte und Architekten setzt, der hat natürlich nicht das Geld, um die Unternehmensteuern deutlich zu senken. ({18}) Darin liegt der große Unterschied: Bei unserem Konzept können schon im Jahr 2001 die Gewinne reinvestiert werden, weil der entsprechende Steuersatz auf 37,5 bis 38 Prozent sinkt. Sie bleiben aber bei einem Satz von 44,5 Prozent stehen. Sie müssen über diesen Punkt noch einmal genau nachdenken. Die Ideologie, daß der Einkommenspitzensteuersatz genauso sinken müsse wie der Körperschaftsteuersatz, ist in der Tat typisch deutsch. Die Diskussion darüber hat erst angefangen, als wir unser Konzept auf den Tisch gelegt hatten, und keinen Moment früher. In keinem Industrieland der Welt sind der private Spitzensteuersatz und der Körperschaftsteuersatz identisch. Nach unserer Reform ist die Spreizung in Deutschland niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Zum Beispiel haben die hochgelobten Niederlande einen Körperschaftsteuersatz von zur Zeit 35 Prozent und einen privaten Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Die Spreizung beträgt also 25 Prozentpunkte. Der Spitzensteuersatz sinkt zwar auf 52 Prozent. Aber es bleibt noch eine Spreizung von 17 Prozentpunkten. Bei uns werden es am Schluß nur noch 10 Prozentpunkte sein. Sie können doch nur so lange von Ihrer Propaganda gegen unser angebliches Unternehmensteuerkonzept leben - Rezzo Schlauch muß uns in diesem Punkt gar nicht ermahnen, weil wir eine gemeinsame Beschlußfassung haben -, bis unser Konzept auf dem Tisch liegt. Sie reden doch jetzt über etwas, was es noch gar nicht gibt. ({19}) Was es aber am Ende des Jahres genau geben wird, sind die von uns im Kabinett beschlossenen Eckwerte. Das heißt 25 Prozent Körperschaftsteuersatz. Die Personengesellschaften werden steuerlich genauso behandelt. Das heißt auch, daß wir die kleinen und mittleren Unternehmen entlasten werden. Genauso, wie wir es beschlossen haben, werden diese Maßnahmen umgesetzt. Ihre Polemik ist also allein deswegen schon abstrus, weil überhaupt noch kein Konzept vorliegt und nur die Eckpunkte beschlossen worden sind die wir aber umsetzen werden.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, ich muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Ich bin sofort am Schluß. Was soll also die ganze Aufregung? Der einfache Grund für Ihre Aufregung ist, daß Sie einen Themenwechsel wollen. Ihnen ist es unangenehm, daß wir die von Ihnen angerichtete Staatsverschuldung zurückfahren. Ich sage noch einmal, daß ich nichts gegen die Kosten der Einheit habe. ({0}) Ich habe aber etwas gegen die Art, wie Sie die deutsche Einheit finanziert haben. ({1}) Sie machen jetzt genau das, was Sie schon 1990 gemacht haben. Damals haben Sie nämlich den Menschen erzählt, die deutsche Einheit werde nichts kosten und die notwendigen Anstrengungen werde niemand spüren. ({2}) Jetzt versuchen Sie, den Menschen weiszumachen, daß man die Staatsschulden abbauen könne, indem man allen viel Geld in die Tasche steckt. Wenn das doch nur so einfach ginge! Auch die Haushaltskonsolidierung ist nicht zu machen, ohne daß spürbare Anstrengungen notwendig sind, ohne daß das jemand merkt. Dieses Thema ist Ihnen unangenehm, weil es um Ihre Schulden geht, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Ihre Politik erinnert mich an das Motto eines bekannten Karnevalsvereins: „Allen wohl und niemand weh, Fassenacht beim MCC“. So ist Ihre Finanzpolitik, meine Damen und Herren. ({3}) Aber Steuerpolitik findet nicht in der fünften Jahreszeit statt, sondern in den vier Jahreszeiten. Deswegen fordere ich Sie auf: Bringen Sie das, was Sie vorgelegt haben, als Gesetzentwurf im Bundestag und im Bundesrat ein! Ich will wissen, ob die Hände der Ministerpräsidenten oben sind, ob dies wirklich jemand mit beschließen würde. Ich sehe schon die Bittbriefe auf mich zukommen mit dem, was sie noch alles von mir haben wollen. Wir sollten dies im einzelnen richtig austragen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, wir sind zur ständigen Wiederholung mindestens ebenso in der Lage wie Sie. Deswegen sage ich noch einmal: Die Probleme bezüglich der Haushaltslage des Bundes, die Sie gerade beschrieben haben, hat Ihnen allein Ihr Amtsvorgänger Oskar Lafontaine hinterlassen. ({0}) Dafür die Opposition verantwortlich zu machen ist wirklich etwas zu billig. Sie bzw. Ihr Bundeskanzler haben die Wahlen mit dem Motto der sogenannten Neuen Mitte gewonnen. Kurz nach gewonnener Wahl aber kommen die alten Klassenkampfparolen wieder zum Vorschein. Deswegen will ich Ihnen an dieser Stelle eine Zahl vorhalten, die deutlich macht, wie die Steuerbelastungen in Deutschland verteilt sind. 10 Prozent der Steuerpflichtigen, die Bezieher der oberen und obersten Einkommen, zahlen fast 50 Prozent des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist das, was Sie hier betreiben, einfach Klassenkampf. Es ist eine alte sozialistische Neidtradition, die Sie hier zum Leben erwekken. ({1}) Uns geht es darum, gemeinsam mit Ihnen eine Steuerreform mit einer Nettoentlastung zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. ({2}) Sie werden das alte Wort des Vorsitzenden der SPDBundestagsfraktion in diesem Zusammenhang nicht wiederholen können. Er hat gesagt: Wir brauchen die Opposition nicht. Die Wahlen im Laufe des Jahres 1999 haben deutlich gezeigt, daß Sie die Opposition spätestens im Vermittlungsausschuß brauchen werden. Grundvoraussetzung dafür, daß eine solche Steuerreform in der Bundesrepublik Deutschland jemals Wirklichkeit wird, sind zwei unveränderbare Eckpfeiler. Der erste Eckpfeiler lautet: Wir brauchen eine Steuerreform mit einer wirklichen Nettoentlastung. ({3}) Eine reine Verschiebung zwischen verschiedenen Einkunftsarten zu Lasten der mittelständischen Betriebe, wie Sie es offensichtlich planen, werden wir unter keinen Umständen mitmachen. ({4}) Eine solche Nettoentlastung ist möglich. ({5}) Die mittelfristige Finanzplanung dieser Bundesregierung zeigt, daß von 1999 bis zum Jahr 2003 - das ist der Finanzplanungszeitraum - die Steuermehreinnahmen Jahr für Jahr höher sein werden als die Rückführung der Nettoneuverschuldung. ({6}) Tatsächlich gibt diese Bundesregierung Jahr für Jahr mehr Geld aus. Wahrscheinlich steigen die Ausgaben sogar stärker, als das nominale Bruttoinlandsprodukt wächst. Das heißt, Sie haben die Wahl, die Staatsquote zu erhöhen oder eine Steuerreform mit einer wirklichen Nettoentlastung durchzuführen. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. ({7}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zu den Größenordnungen sagen. Wir haben in Deutschland Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden von insgesamt rund 900 Milliarden DM. Wir sprechen über eine Nettoentlastung in einer Größenordnung von 30 bis 50 Milliarden DM. Wenn sich diese Bundesregierung nicht mehr zutraut, 3 bis maximal 5 Prozent des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland für eine der wichtigsten ökonomischen Entscheidungen einzusetzen, nämlich dafür, eine Steuerreform zur Förderung der Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu machen, dann hat sie bereits jeden politischen Gestaltungswillen aufgegeben. ({8}) Nun reden Sie über eine Vermögensabgabe. Herr Eichel, ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie diesem Treiben in Ihren eigenen Reihen endlich einmal ein Ende bereiten. Die Vermögensabgabe, die jetzt innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion diskutiert wird - wir haben erneut einen Beweis dafür bekommen -, ist einmal zur Beseitigung von Kriegsfolgen zulässig gewesen. Sie werden doch wohl nicht so weit gehen, daß die Beseitigung des Chaos, das Sie bereits im ersten Jahr angerichtet haben, der Beseitigung der Kriegsfolgen gleichkommt! So weit gehen noch nicht einmal wir in der Beschreibung dessen, was Sie angerichtet haben. ({9}) Eine solche Vermögensabgabe ist verfassungswidrig. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, klarzustellen, daß sie nicht kommt. Aber Sie haben diese Gelegenheit offensichtlich bewußt verstreichen lassen. Ich sage Ihnen noch einmal: Wir sind bereit, auch über viele Details miteinander zu reden. Aber Sie werden die Zustimmung der Union, und zwar sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat - da sind wir uns völlig einig -, für eine Steuerreform ohne Nettoentlastung ({10}) und für eine Steuerreform, die nicht gleichmäßig die Sätze der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer senkt, nicht bekommen. Sparen Sie sich jede Arbeit an dem, was Sie gegenwärtig planen! ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Detlev von Larcher das Wort.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte wenigstens von Herrn Merz erwartet, daß er zu der Differenz zwischen 30 und 50 Milliarden DM Stellung nimmt. Wir haben erlebt, daß die CSU vorgeprescht ist und Herr Schäuble gebremst hat. Das heißt, wir wissen eigentlich noch gar nicht, über welches Konzept wir hier sprechen. Statt dessen mußten wir uns Märchen von Herrn Merz anhören. Sie hätten wirklich besser daran getan, etwas zum Konzept zu sagen. Ich wundere mich noch immer, obwohl ich nun schon im neunten Jahr im Bundestag sitze, über die Chuzpe der CDU/CSU und der F.D.P. Da höre ich das Glaubensbekenntnis von Herrn Minister Faltlhauser, der sagt: Die Steuerpolitik ist das Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich glaube, Sie waren nicht mehr im Bundestag, als die Wissenschaftler in einer Anhörung einer nach dem anderen gesagt haben: Mit Steuerentlastungen könnt ihr auf den Arbeitsmarkt, wenn überhaupt, nur mittelfristig und in ganz geringem Umfang einwirken. Wenn ihr die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollt, dann müßt ihr ein Bündel von Maßnahmen ergreifen. Ihr könnt nicht allein auf das Instrument Steuerpolitik vertrauen. Jetzt höre ich diesen Hinweis schon wieder. Man hört ja in Anhörungen oft sehr viel Lobbyismus statt Sachverstand. Aber manchmal werden doch sachliche Auskünfte gegeben, und auf diese sollten auch Sie hören, Herr Dr. Faltlhauser. Dann haben Sie Neuseeland erwähnt. Wir kennen dieses Beispiel. Ich sage Ihnen: Fahren Sie jetzt einmal hin, und schauen Sie sich die Entwicklung dort an! Dann werden Sie sehen, daß Neuseeland schon lange kein Vorbild mehr ist. Schließlich höre ich, wir sollten zusammen mit der CDU/CSU deren Weg gehen. ({0}) Was ist das denn für ein Weg? Das ist der Weg in die höchste Staatsverschuldung, in die höchste Arbeitslosigkeit und in die höchste Steuer- und Abgabenbelastung. Herr Poß hat mit Recht gesagt, daß der Wettbewerb bezüglich der Steuerreform bei der letzten Bundestagswahl stattgefunden hat. Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl hat ihn ausgerufen, und die Wähler haben entschieden. Wir haben dann unsere Steuerreform durchgeführt, die - entgegen dem, was Sie immer sagen - den Menschen zugute kommt, den Arbeitnehmern und den Familien mit Kindern. ({1}) - Und dem Mittelstand. - Das ist doch längst entschieden. Also werden wir uns doch nicht auf Ihren Weg begeben, der völlig unseriös und völlig unernst gemeint ist. Ich habe Ihnen schon damals, als Sie Ihr Steuerreformkonzept mit Ihrer Mehrheit in der vorigen Wahlperiode eingebracht haben, ({2}) vom Rednerpult in Bonn aus gesagt: Ich bin ganz sicher, daß Sie nicht wollen, daß das Konzept in Kraft tritt. Denn auch damals war es nicht finanzierbar. Ich erinnere nur an die Diskussion über die Fußnote. Sie haben sich darauf verlassen, habe ich damals gesagt - ich glaube noch immer, daß das richtig war -, daß diese Steuerreform im Bundesrat nicht durchkommt, denn Sie wollten sie eigentlich nicht haben. Jetzt sind Sie in der Opposition und können völlig verantwortungslos Hirngespinste in die Luft malen ({3}) und sagen: Das ist unser Steuervorschlag, der die Arbeitsplätze, die wir brauchen, bringen würde. Ich finde es eigentlich schade, daß Herr Waigel nicht da ist. Denn im Grunde genommen zeigt dieser Vorschlag eine gewisse Konsistenz. Herr Waigel hat sich als Vater des Stabilitätspakts feiern lassen. Er hat immer betont, er mache eine stabile Haushaltspolitik und eine stabile Steuerpolitik. In Wirklichkeit hat er seine Haushalte durch Tricks, Täuschungen, Luftbuchungen und den Ausverkauf des Eigentums der Bundesrepublik saniert. Uns hat er Schulden hinterlassen, die dazu führen, daß wir minütlich 150 000 DM an Zinsen zahlen müssen. Das ist die Solidität des Herrn Waigel. Jetzt schlagen Sie eine Steuerreform vor nach dem Motto: Macht ruhig noch weitere Schulden, denn wir haben es ja! Ihre Propaganda gegen die SPD, in der es immer heißt, wir seien die Partei der Schuldenmacher, verkehrt sich ins Gegenteil. Die Parteien der Schuldenmacher sind Sie auf der rechten Seite des Hauses. Nein, meine Damen und Herren, wir werden Ihnen nicht folgen. Wir haben eine gute Einkommensteuerreform gemacht, ({4}) die sich in dem kleinen Maßstab, in dem sie es überhaupt kann, auch auf die Arbeitsplätze auswirken wird und sich schon auf die Steuereinnahmen auswirkt - seit dem Schließen der Steuerschlupflöcher steigen sie bereits -, und wir werden eine Unternehmensteuerreform machen, die dem Mittelstand, den kleinen und mittleren Betrieben, dient. Wir denken nicht daran, auf Ihren Weg einzuschwenken. Unser Weg ist besser. Es wird kein Jahr mehr dauern, und dann werden auch Sie es zugeben müssen. Wo sind im übrigen die veröffentlichten Meinungen, die Ihren Steuervorschlag loben? Ich habe sie in der Presse und in sonstigen Medien gesucht, aber immer nur Kritik gefunden. Das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben. Ich danke Ihnen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit - Drucksache 14/1602 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Innenausschuß Ausschuß für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. legt Ihnen einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Pressefreiheit vor, mit dem die Rechte von Journalisten gegenüber Strafverfolgungsbehörden verbessert werden sollen. Das Redaktionsgeheimnis und der Schutz journalistischer Informanten sind nach unserer Auffassung zu stärken. ({0}) Die Beschlagnahme von redaktionellem Material ist dabei nur in Fällen schwerster Kriminalität zu vertreten, wenn ein Verbrechen anders nicht aufgeklärt werden kann. Ich darf uns alle daran erinnern, welcher Aufschrei in den vergangenen Jahren zu Recht immer wieder sowohl durch die Politik als auch durch die Medien ging, wenn sich Strafverfolgungsorgane nicht an den Schutz der Pressefreiheit gehalten haben. Von dem durch die damalige SPD-Regierung unter dem Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine geänderten saarländischen Presserecht über die Überwachung von Journalisten der Redaktionen von „Focus“ und „ZDF Frontal“ durch die Frankfurter Staatsanwaltschaft bis hin zu der Durchsuchung von Bremer Redaktionen war in den letzten Jahren ein stetiDetlev von Larcher ges Aufweichen bislang anerkannter Rechtsgrundsätze erkennbar. Im Informationszeitalter, das durch einen enormen Fluß von Daten und Informationen bestimmt wird, ist es besonders wichtig, daß die Presse ihre Kontrollfunktion, insbesondere in heiklen Bereichen, ausüben kann. Auf Grund der vielen verschiedenen Quellen, aus denen heutzutage Informationen erlangt werden können, erscheint die Unterscheidung zwischen selbst- und fremdrecherchiertem Material immer schwieriger. Wo sind die Abgrenzungen, wenn etwa Informationen über den Weg der neuen Medien erarbeitet und zugesandt werden? Aus genau diesem Grunde wird das Zeugnisverweigerungsrecht in unserem Gesetzentwurf auch auf die modernen Kommunikationsdienste erweitert. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf aber auch erreichen, daß im Bereich der Beschlagnahme des durch die Zeugnisverweigerungsrechte geschützten Materials endlich die Präzisierung erfolgt, die es zukünftig weitestgehend vermeidet, daß es zu falschen Entscheidungen bei der Durchsuchung von Redaktionsräumen und Journalistenwohnungen und Beschlagnahme von Gegenständen kommt. Parallel zur Sicherung der Pressefreiheit muß aber auch das legitime Interesse der Gesellschaft an einer wirksamen Verbrechensbekämpfung beachtet werden. Ein Oberstaatsanwalt wie ich ist natürlich auch daran besonders interessiert. Der Zugriff auf selbsterarbeitetes Material wird durch unseren Gesetzentwurf nicht vollständig versperrt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wird dieser Grundsatz bei besonders schweren Straftaten durchbrochen. Die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende Erwägung, es bei einer allgemeinen Formel zu belassen, die von einer zu erwartenden Strafhöhe ausgeht, halten wir für eines der Schlupflöcher, die gebotene Schranken im Bereich von staatlichen Zwangsmaßnahmen immer wieder aufheben. Mit Sicherheit wird man über den von uns ausgewählten Katalog von Straftaten streiten können. Ich bitte jedoch zu bedenken, daß es im Gegensatz zu manch anderen Straftatenkatalogen - etwa dem des § 100 a StPO - hier nicht um die Frage geht, wann der Staat eingreifen kann, sondern um die Frage, wann den Journalisten das Recht nicht zusteht, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. ({1}) Die Schutz- und Zielrichtung des Kataloges ist also nicht mit der vergleichbar, die bei Eingriffsmaßnahmen wie etwa dem Abhören von Telefonen besteht. Ich bin mir sicher, daß wir über die Frage des Verdachtsgrades und über die Frage der Beschränkung der Beschlagnahme noch erhebliche Auseinandersetzungen führen werden und führen müssen. Ich habe mit Interesse die Ausführungen der Justizministerin im Rahmen der Haushaltsdebatte gelesen, in welcher diese den Gesetzentwurf im Grundsatz begrüßt, wie das im übrigen die IG Medien und auch der Presserat mit Nachdruck getan haben. Sie hat ihn als Basis unserer Diskussion angesehen. Deshalb freuen wir uns auf die Diskussion. Wir erwarten natürlich insbesondere, daß auch die Bundesregierung sehr bald ihre Vorstellungen zu diesem Punkt einbringt. Sie sind überfällig. ({2}) Ich glaube, wir sind uns einig, daß das so ist. Deshalb erwarten wir von unserem Entwurf - auch deshalb haben wir ihn eingebracht -, daß er Druck ausübt, weil wir hier sehr schnell zu einer Entscheidung kommen müssen. Wir müssen abwägen zwischen dem notwendigen Interesse des Staates an der Strafverfolgung und der Sicherung der Pressefreiheit, die eine der Säulen der Demokratie ist. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf dazu beitragen, Grauzonen abzubauen, die von meinen staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wieder genutzt worden sind. Ich hoffe darauf, daß wir sehr schnell zu einer großen Übereinstimmung hier im Hause kommen werden. Die F.D.P. ist zu dieser Diskussion bereit und auf die Vorschläge der anderen gespannt. Herzlichen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt Kollege Professor Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rundfunk- und Pressefreiheit sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bekanntlich konstitutives Element einer freiheitlichen Demokratie. So ist es nicht verwunderlich, daß die Verbesserung des Schutzes der Pressefreiheit durch eine Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Journalisten und entsprechende Beschlagnahmeverbote den Bundestag schon mehrfach beschäftigt hat. Den Gesetzentwürfen der SPD-Fraktion aus der vorletzten Legislaturperiode und des Bundesrates und von Bündnis 90/Die Grünen aus der letzten Legislaturperiode sowie einem Entwurf verschiedener Medienorganisationen, den ich sehr interessant finde, hat nunmehr die F.D.P.-Fraktion einen weiteren Entwurf hinzugefügt. Möglicherweise, Herr Kollege van Essen, hatte sich auch herumgesprochen, daß ein im Bundesjustizministerium erarbeiteter Referentenentwurf kurz vor dem Abschluß des notwendigen Abstimmungsverfahrens steht und demnächst als Regierungsentwurf in das Gesetzgebungsverfahren gelangen wird. ({0}) Eine kleine Fraktion, die zudem in der Opposition ist, kann ihre Gesetzentwürfe offensichtlich ohne die für eine Regierung und eine Regierungskoalition notwendigen Abstimmungen schneller erstellen und ins Verfahren bringen. ({1}) Dabei, Herr Kollege, muß natürlich der Frage nachgegangen werden, ob die Schnelligkeit nicht hier und da zu Lasten der Qualität gegangen ist. ({2}) Vorweg will ich aber feststellen, daß alle bisher eingebrachten Gesetzentwürfe in einer grundsätzlichen Forderung übereinstimmen. Danach soll der bisher schon geltende Schutz des Redaktionsgeheimnisses, der sowohl die Anonymität der Informationsquellen durch Quellenschutz als auch die Vertraulichkeit gemachter Mitteilungen durch Inhaltsschutz für anvertrautes Material gewährleistet, grundsätzlich erweitert werden: Er soll auch auf selbst recherchiertes Material erstreckt werden. Bekanntlich geht es dabei beispielsweise um den Schutz von Filmmaterial, das ohne Zusammenwirken mit den gefilmten Personen gewonnen worden ist. Wir erinnern uns an den bekannten Brokdorf-Fall von 1986. Damals sind Aufnahmen des ZDF von einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk Brokdorf beschlagnahmt worden, nachdem es bei der Demonstration zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Straftaten gekommen war. In der letzten Debatte über unser Thema im Dezember 1996 habe ich für meine Fraktion ausgeführt, daß der dem Bundestag in der letzten Legislaturperiode zugeleitete Entwurf des Bundesrates der verfassungsrechtlichen Konfliktlage Rechnung trage. Denn es könne nicht zweifelhaft sein, daß es etwa bei der Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme selbst recherchierten Materials um die Abwägung zwischen zwei hohen Verfassungsrechtsgütern geht. Für die Nichtbeschlagnahme und ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht kann die Rundfunk- und Pressefreiheit als konstitutives Element der freiheitlichen Demokratie sprechen. Für die gegenteilige Entscheidung kann die rechtsstaatliche Pflicht des Staates zur Aufklärung von Straftaten sprechen. Die Effektivität der Strafrechtspflege ist bekanntlich wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit. Letztlich handelt es sich dabei um das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtstaat. Dieses, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch heute wieder unser Thema. Ich will zunächst gerne anerkennen, Herr Kollege van Essen, daß sich die F.D.P. den beschriebenen Abwägungsprozeß keineswegs leicht gemacht, sondern ausdrücklich anerkannt hat, daß das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht und ein entsprechendes Beschlagnahmeverbot dort ihre Grenzen finden, wo es um die Aufklärung schwerster Verbrechen geht. Gleichwohl muß ich - das wird Sie nicht überraschen - beispielhaft auf drei Mängel des Entwurfes hinweisen, die - wie ich Ihnen versichern kann - der demnächst dem Bundestag zugehende Regierungsentwurf vermeiden wird. ({3}) Der erste Schwachpunkt - Sie sind schon kurz darauf eingegangen - ist der umfangreiche Deliktskatalog, der an sich durchaus erforderlich ist, um die Fälle zu benennen, in denen das Zeugnisverweigerungsrecht entfallen soll. Zum einen ist Ihr Katalog schon optisch so umfangreich, daß sich mancher Journalist fragen wird, worin eigentlich die Verbesserung der gegenwärtigen Rechtslage bestehen soll. ({4}) Ich will zwar anerkennen, daß Sie sich dem Bundesratsvorschlag, ergänzend zum Katalog noch auf eine konkrete Straferwartung abzustellen, nicht angeschlossen haben. Diesen Vorschlag habe ich auch in der früheren Debatte ausdrücklich abgelehnt. Aber warum das eine oder andere Delikt aufgeführt oder auch nicht aufgeführt ist, ist nicht leicht zu erkennen. Es wäre sicher besser gewesen, im System des geltenden Strafverfahrensrechts zu bleiben und sich einem der dort bereits gesetzlich geregelten Kataloge anzuschließen. Sie haben zwei genannt, aber nicht den interessantesten. Hinsichtlich der nicht aufgeführten Delikte ist auf der anderen Seite schwer nachvollziehbar, daß beispielsweise die schwere Körperverletzung oder die Körperverletzung mit Todesfolge, die selbst im Entwurf verschiedener Medienorganisationen enthalten sind, in Ihrem Entwurf fehlen. Soll das Zeugnisverweigerungsrecht stärker geschützt werden, als selbst von journalistischer Seite gefordert wird? Kurioserweise fehlt auch die Vergewaltigung mit Todesfolge, die selbstverständlich im Entwurf der Medienorganisationen aufgeführt ist. Ein zweiter Mangel Ihres Entwurfes besteht darin, daß er in der Begründung mehr verspricht, als der Gesetzestext hält. Ich beziehe mich hier auf das Problem der Gemengelage, also der Vermischung von anvertrautem Material einerseits und selbst recherchiertem Material andererseits. Die Behauptung, der Entwurf löse diese Schwierigkeit durch die grundsätzliche Gleichstellung beider Materialien, ist wegen der vorgesehenen Einschränkungen beim selbst recherchierten Material offensichtlich unzutreffend. Warum haben Sie nicht den Vorschlag übernommen, den ich bereits in der Debatte vom Dezember 1996 gemacht habe und der bekanntlich auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entspricht? Ich hatte seinerzeit darauf hingewiesen, daß man das Problem der Trennbarkeit von anvertrautem, also vollständig geschütztem, und selbst recherchiertem Material beachten muß; denn es kann beispielsweise im konkreten Fall nicht aufzuklären sein, ob Filmmaterial dem Journalisten übergeben wurde, also anvertraut ist, oder von ihm selbst aufgenommen wurde, also selbst recherchiertes Material ist. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, in das Gesetz zu schreiben, daß in einem solchen Fall der Grundsatz „im Zweifel für die Pressefreiheit“ gilt. Ich bin enttäuscht, daß Sie diesem Vorschlag, dem Herr Westerwelle in der früheren Debatte zuzustimmen schien, nun nicht nähergetreten sind. Ich nenne noch einen dritten Mangel. Dies ist die konkrete Ausgestaltung des an sich richtigen Gedankens, daß das Zeugnisverweigerungsrecht nicht umgangen werden darf, indem Aussagen aus anderen als strafDr. Jürgen Meyer ({5}) gerichtlichen Verfahren verwertet werden. Im F.D.P.Entwurf heißt es dazu: Soweit die … genannten Personen von ihrem Recht zur Verweigerung des Zeugnisses über den Inhalt selbst erarbeiteter Materialien Gebrauch machen, darf Beweis über Aussagen, die diese Personen in anderen als strafgerichtlichen Verfahren gemacht haben, nicht erhoben werden. Durch diese reichlich pauschale Formulierung werden völlig unterschiedliche Fallgestaltungen in einen Topf geworfen; denn es macht doch offensichtlich einen Unterschied, ob in dem außerstrafrechtlichen Verfahren ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht bestand und ob der Journalist in jenem Verfahren von seinem Zeugnisverweigerungsrecht ausdrücklich nicht Gebrauch gemacht, also ausgesagt hat. In diesem Fall bedarf das Beweiserhebungsverbot, das Sie vorschlagen, jedenfalls noch einer eigenständigen Begründung, die in Ihrem Entwurf fehlt. ({6}) Ich möchte Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.Fraktion, an dieser Stelle nicht durch weitere Hinweise auf die so gern genannten handwerklichen Mängel irritieren. ({7}) Wir sind uns darüber einig: Beckmesserei hilft uns bei der Problemlösung nicht weiter. Statt dessen kündige ich an, daß der demnächst in erster Lesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf der Bundesregierung so evident besser sein wird, daß wir ihn gemeinsam zur Beratungsgrundlage machen können. ({8}) Der F.D.P. bleibt dann das Verdienst - das sage ich ehrlich und ohne Ironie -, einen Impuls zur Beschleunigung des fälligen Gesetzgebungsverfahrens geleistet zu haben. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zur Sicherung der Pressefreiheit will die F.D.P.-Fraktion das seit Jahren in der Rechtspolitik diskutierte Thema der Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Journalisten, welches zugleich die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefugnis von Strafverfolgungsbehörden einschränken würde, in der 14. Wahlperiode aufgreifen. ({0}) In der 13. Wahlperiode vom Bundesrat und von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzentwürfe unterfielen der Diskontinuität. In dieser Zeit wurde ein vom BMJ vorbereiteter Gesetzentwurf seinerzeit nicht mehr in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der hier vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am damaligen vorbereiteten Entwurf des BMJ - ich stimme der Einschätzung des Kollegen Meyer zu -, greift aber nach meiner Überzeugung zusätzlich Elemente der Gesetzentwürfe vom Bundesrat und Bündnis 90/Die Grünen auf und geht in seinen Beschränkungen für die Strafverfolgungsbehörden in Teilen noch weiter. Bereits die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit“ ist eine provokante Formulierung, suggeriert sie doch, daß die Pressefreiheit in Deutschland durch die Strafverfolgungsbehörden gefährdet sei. Einer solchen Einschätzung möchte ich hier im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich widersprechen. Weder aus dem Gesetzentwurf der F.D.P. noch aus einer anderen offiziellen Materialie geht hervor, wie viele unrechtmäßige Übergriffe der Strafverfolgungsbehörden es in Deutschland überhaupt gibt. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf die Justizministerkonferenz vom November 1997 zurückkommen. Diese Justizministerkonferenz hatte extra einen Strafrechtsausschuß gegründet, der sich mit der Frage der Erweiterung der Beschlagnahme bei Journalisten zu befassen hatte. Die Beschlußvorschläge möchte ich hier gerne vortragen. Als erstes wird festgestellt: Die Justizministerinnen und -minister haben den Bericht des Strafrechtsausschusses „Erweiterung des Beschlagnahmeverbots bei Journalisten“ zur Kenntnis genommen. Das Votum betrug hier 16 : 0 : 0. ({1}) - Herr Hartenbach, darauf komme ich gleich noch zurück. Der zweite Vorschlag lautete - ich meine, der Deutsche Bundestag müßte das zur Kenntnis nehmen -: Sie halten diesbezüglich eine Anregung zu gesetzgeberischen Maßnahmen nicht für geboten. Auch dieses Votum wurde von den Ländern recht eindeutig getroffen, nämlich mit 11 zu 5 zu 0 Stimmen. Das dritte Votum war - auch das möchte ich hier vortragen -: Sie - also die Justizministerinnen und -minister erachten es für zweckmäßig, die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren ({2}) um eine Regelung zu ergänzen, die durch eine Verdeutlichung des Verhältnismäßigkeitsprinzips dessen Beachtung insbesondere bei einer in Betracht kommenden Pressebeschlagnahme in Verfahren wegen Geheimnisverrats sicherstellt. Dr. Jürgen Meyer ({3}) Dieses Votum war wieder einstimmig, nämlich 16 zu 0 zu 0. Zwischenzeitlich ist die RiStBV geändert worden. Dort ist die Nr. 73 a neu formuliert worden. Wir sind der Auffassung, daß mit dieser Formulierung im Kern das, was Sie wollen, Herr van Essen, Berücksichtigung gefunden hat, neben den anderen Rechtsstaatsprinzipien, auf die ich gleich noch eingehen werde. In der RiStBV heißt es nämlich in Nr. 73 a: Durchsuchung und Beschlagnahme stellen erhebliche Eingriffe in die Rechte des Betroffenen dar und bedürfen daher im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer sorgfältigen Abwägung. Jetzt kommt ein Satz, der nach unserer Überzeugung eigentlich alles klarstellt: Bei der Prüfung, ob bei einem Zeugnisverweigerungsberechtigten die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme vorliegen …, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Wir stellen hier offen die Frage - im Rahmen der Beratungen in der zweiten und dritten Lesung müssen wir uns darüber, meine ich, näher unterhalten -, ob es überhaupt eine Notwendigkeit für gesetzgeberisches Handeln gibt oder ob nicht tatsächlich die vorhandenen rechtlichen Rahmen ausreichen. Weder Herr van Essen noch Herr Meyer haben hier statistisch-empirisches Material vortragen können. Sie haben auf Einzelfälle verwiesen, die aber keine Rückschlüsse zulassen. Jetzt komme ich zu den Ergebnissen der Justizministerkonferenz und des dortigen Fachausschusses: Es gibt überhaupt keine empirischen Erhebungen darüber, auf welcher Grundlage wir hier Überlegungen anstellen, gesetzgeberisch tätig zu werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Strafrechtsausschuß der Justizministerkonferenz zitieren: Eine Änderung des Gesetzes ist letztlich aber auch deshalb nicht angezeigt, weil sachgerechte Ergebnisse im Einzelfall über das Verhältnismäßigkeitsprinzip erreicht werden können. Dieses Prinzip erlaubt - wie übrigens auch die Praxis zeigt - insbesondere wegen seiner Flexibilität eine jeweils fein abstimmbare Abwägung zwischen dem Interesse an der Tataufklärung einerseits und dem Grundrecht der Pressefreiheit andererseits. Herr Meyer, Sie haben gerade angekündigt, daß es in absehbarer Zeit einen Regierungsentwurf geben wird; jetzt ist bereits ein Jahr verstrichen. ({4}) Ich meine, irgendwann müßte es mit der Sorgfältigkeit, Herr Hartenbach, zu Ende sein. ({5}) Wenn Gründlichkeit quasi zu einem Stillstand der Rechtspflege in Deutschland führt, weil es - bis auf kleine Ausnahmen - nicht einmal zu Fragen von wirklich grundsätzlicher Bedeutung Gesetzentwürfe der Bundesregierung gibt, ({6}) dann muß man sich doch, wenn Sie empirisch nicht einmal beweisen können, daß es hier einen Handlungsbedarf gibt, fragen, ({7}) warum sich diese Bundesregierung mit einem solchen Bereich, der nach unserer Auffassung ein Randbereich ist, auseinandersetzt und versucht, dort zu arbeiten. Ich möchte im folgenden deutlich machen, welche Kritikpunkte wir in dem Gesetzentwurf der F.D.P. sehen. Aber ich möchte auch deutlich sagen: Wir sind im Rahmen der zu führenden Gespräche - wahrscheinlich auch der Anhörungen - bereit, nach einem Kompromiß zu suchen, und verschließen uns einer Lösung nicht. Aber der jetzt vorgelegte Entwurf findet in Kernbereichen nicht unsere Zustimmung. Ich will versuchen, das zu erklären. Zum ersten möchte ich allgemeine Gründe vortragen. Nach geltendem Recht ist durch die §§ 53 und 97 StPO sowie durch die Abwägung nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit nach unserer Überzeugung sichergestellt, daß die Interessen der Medien einerseits und die Interessen der Strafrechtspflege andererseits angemessen berücksichtigt werden. ({8}) Der Vorschlag der F.D.P. verschiebt dieses Gleichgewicht nach unserer Auffassung erheblich zu Lasten der Strafverfolgung. Bereits das geltende Recht läßt im Rahmen der jeweils gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung sachgerechte und differenzierte Lösungen zu. ({9}) Ich möchte zum zweiten auf den Bereich eingehen, den die F.D.P. in ihrem Entwurf mit den Formulierungen „nicht periodische Druckwerke“ und „Filmberichte“ bezeichnet hat. Die im geltenden Recht enthaltene Beschränkung auf periodische Druckwerke ist sachgerecht; sie umschreibt den schutzwürdigen Bereich zutreffend. Bei einer Erweiterung auf nicht periodische Druckwerke und Filmberichte ist eine sachgerechte Abgrenzung des Kreises der Zeugnisverweigerungsberechtigten nur noch schwer möglich. Es ist damit zu rechnen, daß Personen, die mit der Presse nichts zu tun haben, mit der Behauptung, ein Buch zu schreiben oder einen Film zu drehen, das Zeugnisverweigerungsrecht für sich in Anspruch nehmen können. Auch könnte zum Beispiel die Erstellung von Flugblättern in den Schutzbereich fallen, wenn der Autor die kaum widerlegbare Behauptung aufstellt, die Tätigkeit erfolge berufsmäßig. Ausreichend ist hier schon jetzt eine nur nebenberufliche, nicht gewerbsmäßige Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht. Zum dritten möchte ich auf die Katalogtaten eingehen. Ich stimme im wesentlichen den Überlegungen zu, die Herr Meyer hier zum Gesetzentwurf der F.D.P. vorgetragen hat. Zunächst könnte man darüber streiten, ob ein solcher Katalogtatbestand in diesem Gesetz überhaupt richtig angesiedelt ist. Wenn man aber einen solchen Katalog aufnimmt, dann muß die Frage beantwortet werden, warum bestimmte Tatbestände nicht aufgenommen worden sind. Herr Kollege Meyer hat einige genannt, die ich um die Tatbestände Geld- und Wertpapierfälschungen, Bandendiebstahl oder schwerer Bandendiebstahl oder auch Erpressung ergänzen möchte. Man müßte also, wenn man einen Katalog erstellt, darüber reden, ob die Katalogtaten nicht um diese Tatbestandsmerkmale bzw. um diese Delikte ergänzt werden. Ich möchte zum vierten auf das Beweiserhebungsverbot eingehen, das der Gesetzentwurf vorsieht. Das in dem neuen § 53 Abs. 3 StPO vorgesehene Beweiserhebungsverbot über Aussagen in anderen gerichtlichen Verfahren wäre - so glaube ich - im deutschen Strafprozeßrecht ohne Vorbild. Es ist nicht überschaubar, welche Rückwirkungen eine solche Neuregelung auf die Beweiserhebung im Strafprozeß hätte. Sie wäre nach unserer Auffassung ein weiterer Schritt zu einem praxisfernen und schon auf Grund seiner Ausdifferenzierung letztlich unanwendbaren Recht. Ich könnte hier weitere Kritikpunkte vortragen, will aber an dieser Stelle darauf verzichten, weil wir die Möglichkeit haben, im Rahmen der Berichterstattergespräche und der zweiten und dritten Lesung darauf zurückzukommen. Ich biete für unsere Fraktion nochmals eine offene Beratung an, glaube allerdings, daß auf der Basis des F.D.P.-Entwurfes - so wie er jetzt vorgelegt worden ist - ein Einvernehmen nicht herstellbar ist. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/ Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Kompliment: Ich finde es prima, daß die F.D.P. die Pressefreiheit wiederentdeckt und diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß das schon vor einem oder vor zwei Jahren geschehen wäre, als ich nämlich noch nicht Abgeordneter, sondern Rechtsanwalt war. Damals wurde ich als Rechtsanwalt von einer berühmten Tageszeitung, die nur wenige Meter von hier ihr Büro hat, zu Hilfe gerufen, als dort die Staatsanwaltschaft angerückt war, um die Redaktionsräume zu durchsuchen und Material mitzunehmen. Da habe ich ein solches Gesetz bzw. einen solchen Gesetzentwurf vermißt. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß sich die F.D.P. dafür starkgemacht hat, ein solches Gesetz mit einer solchen Erweiterung des Schutzes der Pressefreiheit durchzusetzen. Das hätte ich sehr begrüßt. Was aber damals nicht war, ist jetzt vorgelegt worden. Das finde ich gut.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich! Wir wollen doch diskutieren.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich habe nur die Frage: Was hat Ihre Fraktion vorgelegt?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Oh, einen wunderbaren Gesetzentwurf! ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme gleich darauf. - Darf ich Sie weiter fragen - da wir hier zum Thema Pressefreiheit diskutieren -, wie Sie damals reagiert haben, als Herr Lafontaine als Ministerpräsident des Saarlandes dort seine Pressegesetze eingebracht hat?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damals habe ich empört reagiert, ({0}) weil der damalige Ministerpräsident die Pressefreiheit nicht erweitert hat, sondern etwas anderes getan hat, während dieses Gesetz, das Sie jetzt vorgelegt haben, offensichtlich und ausdrücklich dem Zweck dient, die Journalisten in ihrer Arbeit zu unterstützen. Es ist weder für Journalisten noch für Informanten oder das Publikum verständlich, warum Journalisten ihr Zeugnis bezüglich Informationen, die sie von Informanten bekommen haben, verweigern dürfen und diesbezüglich auch ein Beschlagnahmeverbot besteht, das heißt, daß Unterlagen, die sie von anderen bekommen haben, nicht beschlagnahmt werden dürfen, während aber Unterlagen, die sie durch eigenes Hinschauen gesammelt und aufgeschrieben haben, die in ihrem Schreibtisch liegen, der Staatsanwaltschaft preisgegeben werden. Das versteht kein Journalist und kein Publikum. Das soll jetzt mit Ihrem Gesetzentwurf geändert werden. ({1}) Das finde ich hervorragend. Aber - hier haben Sie, Herr Kollege, nicht recht Pressefreiheit kann nur existieren - und die Pressefreiheit ist ein konstituierendes Gut für diese Gesellschaft, die Presse ist die vierte Gewalt - und funktionieren, wenn nicht nur die Informanten sicher sind, daß das Material oder die Information, die sie geben, secret bleiben, daß sie nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben werden, sondern wenn dies auch für das Material gilt, das der Journalist durch Gespräche, durch eigene Beobachtung, durch Filmen oder auf andere Art und Weise sammelt oder sich selbst beschafft. Nur dann, wenn der Journalist sicher sein kann, daß er seine Informationen in seinem Schreibtisch, auf seiner Videocassette oder auf seinem Tonband behalten kann, wird er ein wirksames Korrektiv für uns Politiker, für die Regierung und für die Opposition, sein können. Er wird Skandale aufdecken können, wie das in der Vergangenheit sehr viel häufiger durch Presseartikel in berühmten Magazinen, aber auch von anderen, als etwa durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse geschehen ist. Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wesentlich weiter ging als Ihrer. Auch ich habe an den Diskussionen und Gesprächen innerhalb der Regierungskoalition teilgenommen. Der Gesetzentwurf ist noch nicht fertig. - Er wird hoffentlich bald auch Ihnen zugeleitet werden können, damit wir darüber diskutieren können. Jetzt komme ich zu Ihrem Entwurf: Ich sehe acht Punkte als problematisch an. Den ersten Punkt will ich kurz abhandeln. Das Gesetz soll nur für Journalisten gelten, die hauptberuflich tätig sind. Dies gibt Probleme, wie wir gesehen haben. Gott sei Dank hat die Rechtsprechung gesagt, daß auch dann, wenn ein Journalist nebenberuflich unterwegs ist, das Zeugnisverweigerungsrecht gilt. Zweiter Punkt: Sie wollen die Möglichkeit für Journalisten, das Zeugnis zu verweigern, auf Medien, Druckwerke, Rundfunksendungen und moderne Kommunikationsmedien beschränken, aber nur, soweit sie der Berichterstattung und Meinungsbildung dienen oder Informationsangebote enthalten. Liebe Herren von der F.D.P., wie wollen Sie das auseinanderhalten? Nehmen wir Konsalik, nehmen wir Artikel in der Regenbogenpresse: Was ist dabei Information, was dient der Meinungsbildung und was nicht? Wo wollen Sie die Grenze ziehen? Ich denke, eine solche Unterscheidung ist nicht möglich. Die Regelungen sollten deshalb unbeschränkt gelten. Dritter Punkt - hierauf ist bereits hingewiesen worden -: Mir ist Ihr Ausnahmekatalog viel zu umfangreich. Machen Sie den Journalisten einmal klar, daß das Material, das sie in den wirklich wichtigen Fällen, in denen es um Spionage, um kriminelle Vereinigungen oder um schwerere Straftaten geht, erarbeitet und in ihrem Schreibtisch liegen haben, nicht frei von Beschlagnahme ist und sie deshalb nicht das Zeugnis verweigern dürfen. Ich denke, daß sie gerade in diesen Fällen geschützt werden müssen. Wenn wir heute wissen, in wie vielen Fällen die Staatsanwaltschaften quer durch die Bundesrepublik etwa im Bereich des Werbens für eine kriminelle oder terroristische Vereinigung vorgegangen sind, etwa gegen Zeitungen, die nichts anderes getan haben, als eine Erklärung, zum Beispiel eine Hungerstreikerklärung, zu veröffentlichen, und daß dies bereits ausreichte, einen solchen Verdacht zu rechtfertigen, dann wissen wir auch, daß dieser Katalog viel zu ausführlich ist. Er muß eingeschränkt werden; das kann so nicht gehen. Meine Zeit ist schon um. Deshalb will ich nur die Punkte nennen, die weiterhin problematisch sind. Den Verdachtsgrad bei Ermittlungsverfahren halte ich für problematisch. Sie haben überhaupt keinen Verdachtsgrad vorgesehen, sondern wollen das bei allen Ermittlungsverfahren. Sie nehmen keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. Sie beurteilen also nicht, ob die Aussage des Journalisten für ein Strafverfahren von entscheidender Bedeutung ist, möglicherweise für die Überprüfung des Täters, sondern Sie sagen, er müsse immer dann aussagen, wenn eine in diesem Ausnahmekatalog aufgeführte schwere Straftat vorliegt. Sie wollen das Zeugnisverweigerungsrecht bei selbst recherchiertem Material nicht zubilligen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich möchte doch noch einmal auf die Zeit hinweisen. Sie können nicht mehr argumentieren, sondern nur noch aufzählen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- wenn sich daraus Hinweise auf Informationen ergeben. Verehrte Präsidentin, ich beende diesen Katalog. Wir haben noch genügend Gelegenheit, darüber in den Ausschüssen und hier im Plenum zu diskutieren. Wir sind auf dem richtigen Wege. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, daß die vierte Gewalt uns besser auf die Finger gucken kann. Das ist richtig und wichtig und für diese Gesellschaft und für diesen Staat Bundesrepublik Deutschland konstitutiv. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kollege Ströbele, ich kann Sie so gut verstehen. Ich habe noch weniger Zeit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS begrüßt ausdrücklich jede Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Journalistinnen und Journalisten. Bevor Sie mir, obwohl Sie heute sehr ruhig sind, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, eingedenk der letzten Rede wieder mit DDR und SED kommen, sage ich: Gerade weil der SED derartig gravierende Versäumnisse vorzuwerfen sind bzw. sie solche Fehler in puncto Zensur und Pressekontrolle gemacht hat, denke ich, daß die Pressefreiheit wirklich ein sehr schützenswertes Gut gerade auch in dieser Gesellschaft ist und man sehr viel Wert darauf legen sollte. ({0}) Die Initiative der F.D.P., das Zeugnisverweigerungsrecht auf Internetautorinnen und -autoren sowie auf den Schutz des selbst recherchierten Materials auszuweiten, ist richtig. Wie wir gehört haben, gibt es einen entsprechenden Gesetzentwurf nun auch von der Bundesregierung. Wir haben ihn zu erwarten, und schließlich hat sie eine solche Reform auch in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt und versprochen, und auch von der Bundesjustizministerin ist in vielen Zeitungen mehrmals betont worden, wie wichtig das ist. ({1}) - Ich hoffe, daß sie nicht nur ankündigt, sondern daß dieser Gesetzentwurf auch kommt. Es ist in der Tat völlig willkürlich, Recherchematerialien von Journalistinnen und Journalisten in selbst recherchierte und zugetragene zu unterscheiden. Ein Journalist, der sich die Fakten nicht selbst ausdenkt - das dürfen wir ja wohl alle erwarten -, hat für seine Informationen immer eine Quelle. Sie sind also in der Regel immer zugetragen worden und dennoch selbst recherchiert. Journalistinnen und Journalisten dürfen aber in meinen Augen nicht unfreiwillig zu Hilfsermittlern gemacht werden, und die von den Strafverfolgungsbehörden immer wieder vollzogene Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts muß endlich gestoppt werden. ({2}) Leider bringt uns an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Ihr Antrag nicht viel weiter. Es ist hier auch schon gesagt worden: Ihr Ausnahmekatalog ist derart umfangreich, daß sich Ihr Entwurf leider selbst ad absurdum führt. Was den einen zu wenig ist, ist den anderen zu viel. Das hat man natürlich häufiger. Da gibt es kaum eine Straftat, die nicht aufgeführt ist. Journalistische Nachforschungen im Zusammenhang mit solchen Straftaten sind nach ihren Vorstellungen vom Zeugnisverweigerungsrecht aber ausgenommen. Selbst recherchierte Materialien können also weiterhin von Ermittlungsbehörden beschlagnahmt werden, und das ist in meinen Augen wirklich völlig abwegig, denn zu Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen, ja überhaupt zu polizeilichen Ermittlungen kommt es ohnehin nur bei strafrechtlich relevanten Fällen. In der Regel sammeln Journalisten nicht über einen Eierdiebstahl oder über eine Schwarzfahrt entsprechende Materialien, ({3}) sondern natürlich geht es meistens in den brisanteren Fällen dann doch um Strafmaße, die höher sind. Deswegen tut es mir sehr leid, daß dieser Gesetzentwurf untauglich ist, die notwendigen Reformen zugunsten der Pressefreiheit anzuschieben. So ist die Bundesregierung jetzt ihr Koalitionsversprechen umsetzt, was sie heute angekündigt hat, wird sie hoffentlich einen besseren Entwurf vorlegen. Dazu wünsche ich schon einmal von dieser Stelle sehr viel Erfolg. Mehr kann man leider in drei Minuten nicht sagen. Schönen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999 ({0}) - Drucksache 14/1088 ({1}) a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 14/1727 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Wiefelspütz Meinrad Belle Cem Özdemir Dr. Max Stadler Ulla Jelpke b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/1730 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Koppelin Günter Weißgerber Frhr. Carl-Detlev v. Hammerstein Oswald Metzger Dr. Christa Luft Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß die Abgeordneten Kemper, Belle, Özdemir, Funke, Ehlert und Staatssekretär Körper darum gebeten haben, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so. Wir kommen gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bun- desbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 1999, Drucksachen 14/1088 und 14/1727. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti- onsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimm- verhältnis wie zuvor angenommen. ------------ *) Anlage 6 Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: „Entwicklung und Folgen des Tourismus“ Bericht zum Abschluß der Phase II - Drucksache 14/1100 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Tourismus ({5}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Birgit Roth.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Interessierte! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Einen Moment, Frau Kollegin! Bitte warten Sie mit der Fortsetzung Ihrer Rede, bis es ruhiger geworden ist. Ich halte die Zeit solange an. - Sie haben das Wort.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit zirka einer Woche liegt uns der Abschlußbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages, der sogenannte TAB-Bericht, zum Thema „Entwicklung und Folgen des Tourismus“ vor. Ich möchte uns folgendes kurz in Erinnerung rufen. Es hat vor zirka einem Jahr einen Zwischenbericht gegeben, der sich in erster Linie mit dem Reiseverhalten der Deutschen beschäftigt hat, mit Outgoing-Tourismus, Incoming-Tourismus, aber natürlich auch mit dem Thema „Tourismus als Wirtschaftsfaktor“. Der Tourismus ist in der Bundesrepublik zu einem enormen Wirtschaftsfaktor geworden. Bedenken Sie: Der Tourismus hat mittlerweile einen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt. Er stellt - je nach Sichtweise - 2,5 Millionen bis 2,8 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung. Davon sind cirka 75 000 bis 80 000 Ausbildungsplätze. Der Zwischenbericht hat ebenfalls Auskunft über die Umweltfolgen des Tourismus gegeben, die mit ihm immer verbunden sind. Aber er hat auch Aufschluß über Motive, Einstellungen und Werte der Verbraucher gegeben, sprich: Wie und wann fährt welche Zielgruppe in Urlaub? Wie kann man diese Gruppen bewerben? Wie soll man mit den gewonnenen Marketingerkenntnissen umgehen? Heute liegt uns der Abschlußbericht vor. In ihm werden die Rahmenbedingungen und Trends fokussiert, die es momentan im Tourismus gibt. Über diese läßt sich sagen: Der Tourismusbereich zeichnet sich durch eine klare Wachstumsdynamik aus. Dieses Wachstum beschränkt sich in der Regel auf die hochindustrialisierten Länder. Entwicklungs- und Schwellenländer haben fast keine Möglichkeit, in diese Gruppe vorzustoßen. Daß es Globalisierung auch im Tourismus gibt, darüber sind wir uns alle einig. Doch die Tourismusströme verlaufen im Grunde genommen nur zwischen den beiden großen Blöcken Europa und USA. Deshalb kann man im Prinzip eher von einer Europäisierung des Tourismus sprechen. Über Deutschland ist zu sagen: Es gibt zwar einen leichten Anstieg bei den absoluten Zahlen, aber längerfristig wird das Urlaubsland Deutschland - relativ - an Bedeutung verlieren, und der TAB-Bericht bringt das mit der Aussage sehr schön auf den Punkt: Deutschland ist im Grunde genommen ein Reiseland für Deutsche. Für um so wichtiger halte ich die Entscheidung, daß die DZT das Auslands-, aber eben auch das Inlandsmarketing für Deutschland übernommen hat. Insbesondere Wirtschaftsminister Müller hat ganz massiv dafür gekämpft, daß die Mittel der DZT konstant bleiben bzw. in diesem Jahr sogar einen Zuwachs von insgesamt 3 Millionen DM zu verzeichnen haben. Ich muß mich ein bißchen an Sie, die Herren und Damen von der Opposition, wenden. Ich halte es nicht für gerechtfertigt, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden einfach platt sparen - ganz im Gegenteil! Gerade für das Zukunftsprogramm des Tourismus, der wirklich ein Bereich des Wachstums und der Innovationen ist, sind die Mittel trotz Sparprogramms um 3 Millionen DM aufgestockt worden. Denken Sie daran, daß Sie in Ihrem Etatentwurf einer Kürzung der Mittel bis auf 36,7 Millionen DM vorgesehen hatten. ({0}) Ich gebe unumwunden zu: Es hat Belastungen für die Tourismusbranche gegeben, zum Beispiel durch die Ökosteuer. Wir müssen aber auch die andere Seite der Medaille sehen. Weshalb ist die Ökosteuer denn gekommen? Man hat den Faktor Energie zugunsten des Faktors Arbeit verteuert. Damit schaffen wir es, die Lohnnebenkosten und damit die Arbeit billiger zu machen. Genau in diese Bresche ist die Ökosteuer gesprungen. Wir haben es geschafft, die Lohnnebenkosten um 0,8 Prozentpunkte zu senken. Für jeden Arbeitgeber in der Touristikbranche heißt das, daß die Lohnkosten gesunken sind. Und ich bitte in Rechnung zu stellen - ich halte das für ganz entscheidend -, daß wir nächstes Jahr die Unternehmenssteuerreform planen. Vorgesehen ist ein Höchststeuersatz für Unternehmen von 35 Prozent. Ich halte das für sehr zukunftsweisend. ({1}) Der Abschlußbericht des TAB-Büros geht ebenfalls auf den Punkt Tourismus und Umwelt ein. Hier ist in erster Linie der Flugverkehr - sprich: Klimabelastungen, Schadstoffemissionen, zunehmender Flächenverbrauch, Energie- und Ressourcenverbrauch - anzusprechen. Diese Regierung steht für eine nachhaltige Wirtschaftsund Umweltpolitik. In diese Richtung gehen auch die politischen Entscheidungen des Klimagipfels von Kioto oder von Rio. Wirtschaftsminister Müller hat es auf der ITB wirklich hervorragend auf den Punkt gebracht, indem er sagte: Darum müssen im Interesse der Reisenden wie der Zielländer die Freude am Reisen sowie die wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung bei tourismuspolitischen Entscheidungen gleichwertige Ziele sein. Der nächste Punkt des Abschlußberichtes beschäftigt sich mit Globalisierung und Tourismus. Die Zahl der Auslandsreisen, insbesondere die der Fernreisen, hat bei uns stark zugenommen. Entscheidend ist jedoch, was sich bei uns in der Bundesrepublik getan hat: Die Angebotsstruktur hat sich verändert. Im Prinzip sind alle Stufen der Wertschöpfungskette davon betroffen, angefangen von den Reisemittlern über die Veranstalter, die Gastronomie und die Hotellerie bis hin zu den Transportunternehmen. Auf Grund der Globalisierung unterliegen sie ganz klar einem zunehmenden Konkurrenzdruck. Massive Konzentrationstendenzen sind nicht zu übersehen. Denken Sie daran, was für ein Tourismusriese gerade mit Preussag entsteht. 1996 haben die Top ten des deutschen Reisevertriebs 50 Prozent des Umsatzes ausgemacht. Ich möchte ein kurzes Wort zu den Herausforderungen an den Tourismusstandort Deutschland sagen. Der TAB-Bericht sagt sehr klar, daß es bei uns im Grunde genommen bundesweit noch kein einheitliches, umfassendes Reservierungssystem gibt, obwohl auch mit finanziellen Mitteln der Bundesregierung, die DIRG unterstützt wurde. Wir müssen aber feststellen, daß zum Beispiel die EXPO 2000, die nächstes Jahr im Juni stattfinden wird, auf ein anderes Reservierungssystem zurückgegriffen hat. Es wird sehr spannend sein, zu sehen, welche Entwicklungen wir bezüglich des Datenbanksystems in der Bundesrepublik haben werden. Die Bundesrepublik ist ein Hochpreisland. Wir werden durch Dumpingangebote keinen Blumentopf gewinnen können - ganz im Gegenteil. Ziel des Tourismus in der Bundesrepublik wird es sein, ein Markenimage aufzubauen. Wir wollen es schaffen im Tourismus eine sehr hohe Qualität zu halten und, vom Personal her, entsprechende Qualifikationen anzubieten. ({2}) Gerade in den einzelnen Tourismusbereichen, die angeboten werden, sei es der Wellness-Bereich, der Gesundheitstourismus, sei es der Bildungs-, Kultur- und Naturtourismus, muß das Personal entsprechend qualifiziert sein, damit wir in der Bundesrepublik eine Uniqueselling-Position erreichen. Spannend finde ich im Augenblick auch den Trend zur Inszenierung. Damit einher geht eigentlich eine Ablösung von klimatischen und naturräumlichen Gegebenheiten. Mittlerweile können Sie ja selbst in Japan mitten im Sommer in der Halle Ski fahren. Ich will das jetzt nicht unter Umweltgesichtspunkten werten. Wir müssen uns aber sicherlich auf diese Entwicklung einstellen. Das halte ich für entscheidend. Ebenfalls sehr wichtig für die Tourismusbranche ist die IuK-Technologie; sie muß die Herausforderung durch Internet und E-Commerce annehmen. Wir können davon ausgehen, daß sich auf absehbare Zeit sowohl die Angebotsstrukturen als auch die Vertriebsstrukturen im Bereich Tourismus massiv verändern werden. Davon, wie man sich darauf einstellt, hängt ganz entscheidend die Wettbewerbsfähigkeit der Akteure und der Destinationen ab. Bedenken Sie, daß sich beispielsweise 1998 der Online-Umsatz in den USA verdreifacht hat. In der Bundesrepublik werden wir ganz klar eine ähnliche Entwicklung erleben. Stellen wir uns darauf ein. Wir sind ja gerade dabei, durch eine EU-Richtlinie für eine Harmonisierung der elektronischen Signaturen zu sorgen. Zum Schluß nenne ich die zentrale These, die auch der Abschlußbericht formuliert: Kann der Tourismus die Leitökonomie für das 21. Jahrhundert sein? Das Entscheidende dafür ist, daß sich alle am Tourismus Beteiligten zusammenraufen und eine funktionierende und vor allem auch effektive Zusammenarbeit zustande bringen, die von staatlicher, aber sicherlich auch von privater Seite und den NGOs, also den Non Governmental Organizations, getragen werden muß. Je besser diese Verzahnung gelingt, desto eher wird sich auch beim Tourismus der Erfolg einstellen. Wir sollten jetzt keine Diskussionen darüber führen, ob wir mehr Staat oder mehr Markt wollen, sondern wir sollten ein Modell der Kooperation entwickeln, sprich: einfach eine Verbundpolitik verfolgen, bei der Staat und Wirtschaft Hand in Hand arbeiten, so daß ein Netzwerk aufgebaut werden kann. Damit könnte es dem Tourismus gelingen, zur Leitökonomie der Moderne zu werden, denn bei den Bedürfnissen der Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern steht Reisen bekanntlich an erster oder zweiter Stelle. Einiges von dem Geld aus der Milliardenentlastung, zu der die Steuerreform gerade bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und bei den Familien geführt hat, kommt der Tourismuswirtschaft sicherlich zugute. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute diskutieren wir den Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung über die Entwicklung und Folgen des Tourismus. Dieser auf eine Initiative der Obleute des Tourismusausschusses zurückgehende Bericht ist der Abschlußbericht zur zweiten Phase einer Untersuchung, die prüfen sollte, wie und mit welchen Konzepten und Instrumenten die Politik auf die Herausforderungen durch den Tourismus auf nationaler und internationaler Ebene antworten kann. Nachdem im Bericht zum Abschluß der ersten Phase vom Dezember 1997 vor allem der aktuelle Forschungsstand zum Tourismus in Deutschland dokumentiert wurde, widmet sich der jetzt vorliegende Bericht insbesondere den Rahmenbedingungen und den Folgen der Globalisierung im Tourismus. Tourismus ist nicht nur die Leitökonomie des 21. Jahrhunderts, wie Fachleute immer wieder betonen, sondern auch weltweit der wichtigste Devisenbringer: Mit einem Gesamtumsatz in Höhe von umgerechnet 958 Milliarden DM lag der internationale Fremdenverkehr nach Angaben des Internationalen Währungsfonds noch weit vor den nachfolgenden Branchen: In der Automobilindustrie betrug er 942 Milliarden DM, in der Chemieindustrie 931 Milliarden DM und in der Nahrungsmittelbranche 870 Milliarden DM. Angesichts der vorhergesagten hohen Wachstumsraten und der zu erwartenden Expansion im Wirtschaftsbereich Tourismus ergeben sich in dieser personalintensiven Branche enorme Chancen für zusätzliche Arbeitsplätze. ({0}) Ich verweise hier darauf, daß in Deutschland nur 38,5 Prozent der Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor tätig sind, während dieser Prozentsatz in anderen europäischen Staaten mit deutlich niedrigerer Arbeitslosigkeit zirka 50 Prozent beträgt. Als positives Beispiel kann hier Irland angesehen werden. Es stellt sich also für uns die Frage: Wie kann die Politik auf Bundes-, Landesund Kommunalebene die Rahmenbedingungen verändern, um von dieser positiven Wirtschaftsentwicklung zu profitieren und zusätzliche Lehrstellen sowie Arbeitsplätze zu schaffen? Grundsätzlich sind in der Wirtschaftspolitik neue Denkansätze notwendig: Erstens. Die Industriegläubigkeit in Deutschland muß überwunden werden. Die Automatisierungsreserven in der industriellen Fertigung sind weiterhin enorm und sorgen eher noch für zusätzliche Freisetzungen von Arbeitskräften. Dagegen erwartet das Prognos-Institut in seiner IAB-Projektion 1999 bis zum Jahre 2010 auf dem Tourismussektor in Deutschland einen Anstieg der Zahl der Beschäftigten um 7,3 Prozent, das heißt einen Anstieg von 19 auf 26,3 Prozent, gemessen am Gesamtanteil der Beschäftigten. Voraussetzungen dafür sind allerdings die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Eine umfassende Reform mit nachhaltiger Wirkung auf die Hauptthemen Gesundheit, Soziales, Renten, Steuern und Finanzen ist in Deutschland dringend erforderlich. Wie die Aktuelle Stunde heute gezeigt hat, hat die Union in diesem Zusammenhang wichtige Diskussionsbeiträge geleistet. Zweitens. Der Staat hat die Aufgabe, die ihm zur Verfügung stehenden Steuermittel intelligent in Zukunftsprojekte zu investieren. Es ist einfach nicht akzeptabel, daß die deutsche Steinkohle als unrentabler Wirtschaftszweig ohne langfristige Zukunft jedes Jahr mehrere Milliarden DM an Subventionen erhält, während ein Zukunftsprojekt mit Markt- und Exportchancen wie der Transrapid kaputtgerechnet wird. ({1}) Dies zeigt mehr denn je: Wir sind in der Vergangenheit gefangen und haben den Blick immer noch nicht frei für die wirklichen Zukunftsherausforderungen. Drittens. Die Marktzugangsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen sind durch die öffentliche Hand konsequent zu fördern. Ein gelungenes Beispiel für eine solche Initiative war die Messe zur Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte in Düsseldorf. Mittlerweile werden viele ostdeutsche mittelständische Betriebe, die aus eigener Kraft kein aufwendiges Marketingkonzept finanzieren können, bei großen Einkaufsketten gelistet. Für die Tourismusbranche gibt der TAB-Bericht einige wichtige und richtige Anregungen, wie die politischen Rahmenbedingungen gesetzt werden müssen, um die deutsche Tourismusbranche auch in Zeiten der Globalisierung zu einem wichtigen Faktor bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze werden zu lassen. Exemplarisch möchte ich hier einige Anregungen des TAB-Berichtes ansprechen: Erstens. Die Diskussion über die touristische Vermarktung der EXPO-Weltausstellung im Jahre 2000 hat eines der vorrangigen Probleme im Bereich Tourismusmarketing verdeutlicht: Deutschland benötigt dringend ein bundesweites, kompatibles Informations- und Reservierungssystem sowie eine touristische Datenbank, die dem Endverbraucher umfassende Informationen über alle touristischen Angebote in Deutschland und eine unkomplizierte Buchung ermöglichen. Mit der DIRG, der Deutschen Informations- und Reservierungsgesellschaft, hat der Tourismusausschuß vor vier Jahren eine solche Initiative in die Wege geleitet, die auch erste Erfolge zeigt. Mittlerweile sind in verstärktem Maße auch Buchungen von Inlandsreisen über Reisebüros zu verzeichnen. Über den für das Ende des Jahres 2000 geplanten Ausstieg der Bundesregierung aus der Förderung der DIRG sollten die Kollegen aller Fraktionen im Tourismusausschuß noch einmal diskutieren. Die Verlagerung dieser Arbeit auf die Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, bzw. auf den Deutschen Tourismusverband, DTV, ohne zusätzliche finanzielle Zuwendungen des Bundes überfordert beide Organisationen. In diesem Zusammenhang müssen auch die Sparpläne der Bundesregierung, die zu Schließungen bzw. zu Kürzungen im Bereich der Botschaften, bei Inter Nationes, den Goethe-Instituten und der „Deutschen Welle“ führen, überdacht werden. Wie soll jemand zu einer Reise nach Deutschland animiert werden, wenn nicht nur zuwenig Geld für das touristische Auslandmarketing bei der DZT zur Verfügung steht, sondern auch im Ausland die Repräsentanzen und Träger deutscher Kultur nicht mehr vor Ort aktiv sind? Auf Grund dieser Situation plädiert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Recht für eine spürbare Aufstockung der Bundesmittel für die Deutsche Zentrale für Tourismus. ({2}) Zweitens. Die Probleme der deutschen Tourismuswirtschaft mit der Globalisierung zeigen sich besonders deutlich in den hohen Personal- und Servicekosten. Deutschland besitzt daher ein ausgesprochenes Hochpreisimage. Selbst Reformen unseres Sozialsystems, die deutliche Zurückführung der Arbeitslosigkeit und Lohnzurückhaltung werden in der Zukunft kaum dafür sorgen, daß dieser Wettbewerbsnachteil umgekehrt werden kann. Was Deutschland braucht, ist eine Qualitäts- und Leistungsverbesserung, die gewährleistet, daß der Urlauber bereit ist, für eine hochwertige und einzigartige Leistung einen höheren Preis zu zahlen. Die Devise heißt: Das Produkt „Urlaub in Deutschland“ muß nicht preiswert, sondern preiswürdig sein. Grundvoraussetzung dafür ist, daß in unserer Gesellschaft eine positive Grundeinstellung zur Dienstleistung vermittelt wird. Drittens. Diese Qualitäts- und Leistungsverbesserung kann nur mit einem klaren Bekenntnis zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auf hohem Niveau einhergehen. Wer sich als Unternehmer im Hotel- und Gaststättengewerbe, als Mitarbeiter eines kommunalen Fremdenverkehrsbüros oder als Mitarbeiter im Gaststättengewerbe auf dem Markt behaupten will, muß sich ständig fortbilden. Der Aufbau eines Qualitätsmanagements ist der sicherste Weg, die ständig wechselnden Ansprüche und Wünsche der Konsumenten frühzeitig zu erkennen und die damit bisher erzielte Marktposition zu sichern bzw. in Zukunft weiter auszubauen. Insofern begrüße ich ausdrücklich, daß die Bundesregierung die gute Arbeit des Deutschen Seminars für Fremdenverkehr in Berlin anerkennt und diese Einrichtung von Mittelkürzungen bisher ausspart. Viertens. Eine wichtige Aufgabe sieht der TABBericht in der Entwicklung von übergreifenden Regionalkonzepten. Hier haben gerade die neuen Bundesländer hervorragende Beispiele zu bieten. Die Sächsische Schweiz war die erste deutsche Ferienregion, ({3}) in der bereits 1995 ein tourismuspolitisches Leitbild entwickelt wurde. Die touristischen Fachverbände, die zuständigen Fachministerien des Freistaates Sachsen, das Landratsamt, die Städte und Kommunen des Landkreises und die Nationalparkverwaltung haben sich in diesem Leitbildprozeß zu einem Gespräch am runden Tisch zusammengefunden und sich darüber Gedanken gemacht, wie der Tourismus als ein wichtiger Arbeitgeber weiter vorangetrieben werden kann, ohne dabei die Interessen der höchst sensiblen Umwelt in unserer Nationalparkregion zu gefährden. ({4}) In der Fortführung dieses Leitbildprozesses kam es 1996 zur Gründung der Touristischen Arbeitsgemeinschaft Elbe. In dieser Allianz haben sich die Landesbühnen Sachsen, die Sächsische Dampfschiffahrtsgesellschaft, die drei regionalen Tourismusverbände der Stadt Dresden, Sächsisches Elbland und Sächsische Schweiz zu einer überregionalen Kooperation bei der Vermarktung zusammengeschlossen. Fünf touristische und wirtschaftliche Partner geben einen Teil ihrer Kompetenzen ab, um der Nachfrageseite, den Kundenwünschen, stärker Rechnung zu tragen. Die Schwerpunkte, die wir dort gemeinsam angehen, sind die Bündelung der Kräfte, die Ausgestaltung aller Synergieeffekte, der intelligente Einsatz der knapper werdenden Finanzressourcen, gemeinsame Messeauftritte und die Entwicklung von verbandsübergreifenden, marktfähigen Zukunftsprodukten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Brähmig, das Thema dieser Debatte ist ja der TAB-Bericht über „Entwicklung und Folgen des Tourismus“. Ich habe in diesem sehr umfangreichen Bericht keinerlei Hinweise auf die Sächsische Schweiz gefunden. Können Sie mir bitte erklären, wie Sie in diesem Zusammenhang auf die Sächsische Schweiz kommen? ({0}) Ich habe noch eine weitere Frage. Sie haben vorhin gesagt, daß man für die Realisation von DIRG zirka vier Jahre gebraucht habe. Es ist mir einfach nicht verständlich, wie man vier Jahre dazu brauchen kann, um in der Bundesrepublik ein Datenbanksystem zu realisieren. Ich halte diese Zeit schlicht und ergreifend für zu lang. Könnten Sie vielleicht kurz darauf eingehen? Am Anfang Ihrer Rede haben Sie gesagt - ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch darauf eingehen könnten -, ein Unternehmen ohne Marketingkonzept würde aufgekauft werden. Es gibt aber kein Unternehmen ohne Marketingkonzept; jedes Unternehmen hat ein Marketingkonzept.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Roth, ich will versuchen, ganz kurz auf Ihre Fragen einzugehen. Die Problematik hinsichtlich DIRG sollten wir im Ausschuß beraten. Ich denke, daß wir bei dem Ziel nicht sehr weit auseinanderliegen. Was die Marketingkonzeption angeht, so muß man sagen, daß da in der Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer unzweifelhaft ein Schwachpunkt vorhanden ist. Dieser Sachverhalt wird von jeder Bundesregierung bestätigt. In diesem Bereich muß Unterstützung erfolgen. Daß ich hier die Sächsische Schweiz beispielhaft genannt habe, hängt damit zusammen, daß wir im Freistaat Sachsen in den letzten Jahren eine tolle Umweltpolitik gemacht haben. Ich freue mich ganz besonders, daß unser ehemaliger Umweltminister, Arnold Vaatz, heute hier anwesend ist. Von den 14 Nationalparks in Deutschland kann sich dieser Nationalpark jederzeit sehen lassen. Frau Voß unternimmt im Augenblick eine Bereisung aller deutschen Nationalparks. Wenn Sie damit fertig ist, werden wir uns zusammensetzen. Dann wird sie uns einmal berichten, von welchen deutschen Nationalparks sie von der Struktur, vom Marketing und auch von der Einstellung der Menschen her am meisten begeistert ist. Zur Frage der regionalen Leitbilder: Das ist ein ganz wichtiger Ansatz des zweiten Berichts. Darauf bin ich in aller Kürze eingegangen. - Das wäre - in Kurzform alles zu den Fragen, die Sie gestellt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nun fortfahren: Der europäische und weltweite Wettbewerb, wie im Bericht ausgeführt -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Ihre Zeit ist um, um nicht zu sagen: überschritten. Ich gebe Ihnen noch Zeit für ein Schlußwort.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf zum Abschluß den Mitarbeitern des Büros für Technikfolgenabschätzung ganz herzlich den Dank unserer Fraktion aussprechen. Der Bericht ist sehr wertvoll und wichtig. Er wird uns in der politischen Tagesarbeit in den nächsten Wochen und Monaten begleiten. ({0}) Ich hoffe, daß die Tourismusbranche in Deutschland zu der Jobmaschine wird, wie sie es in anderen Ländern der Europäischen Union bzw. weltweit schon ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sylvia Voß.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Skifahren in der Halle nach Japan zu reisen finde ich mehr als schlimm. Das ist fast so wie Tiefseetauchen in der Spree im Winter. Aber ich will es werten: Das ist eindeutig der falsche Weg. Wenn wir Antworten auf die Fragen finden wollen, die mit der Globalisierung der Tourismuswirtschaft an uns gestellt werden, so kann uns das nur gelingen, wenn wir Tourismus als ein komplexes Problemfeld betrachten, wenn wir begreifen, daß wir nicht nur Antworten auf wirtschaftliche Fragestellungen finden, sondern zugleich ökologische, soziale und kulturelle Verträglichkeitskriterien für Tourismus entwickeln müssen. Ich will in einer ersten Auswertung des vorliegenden sehr guten und auch sehr kritischen Berichts meine Redezeit nutzen, um die Aufmerksamkeit auf einige Aspekte zu lenken, die in aller Regel in den doch sehr wirtschaftsgeprägten tourismuspolitischen Debatten - noch! - zu kurz kommen. Frei nach Goethe: Es ist nicht genug, zu wissen; man muß auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen; man muß auch tun. ({0}) Ich möchte noch einmal sehr eindringlich den Zusammenhang von Tourismus und Naturschutz darstellen, einen Zusammenhang, den man gar nicht oft genug herausstellen kann, ja muß. Ein intakter Naturhaushalt, schöne, vielfältige und damit reich strukturierte Landschaften sind die zentrale Grundlage für Tourismus. ({1}) Schutz und Pflege von Natur und Landschaft bedeuten auch Schutz und Pflege der wichtigsten touristischen Angebotspotentiale. Wer dagegen der Natur und der Umwelt schadet, schädigt zugleich den Tourismus. Er entzieht uns allen Lebensgrundlage. Eine systematische Integration von Naturschutz und Tourismus aber findet trotz zahlreicher wissenschaftlicher Studien, die genau dies fordern, noch immer nicht statt. Im Rahmen der gegenwärtigen Erweiterung der Konvention zur Biodiversität, also zur biologischen Vielfalt, sollten daher die Belastungen der Ökosysteme und Lebensräume durch Tourismus bewertet und internationale Leitlinien für einen nachhaltigen Tourismus entwickelt werden. Ein entsprechendes Tourismusprotokoll zur Konvention würde für die Tourismuswirtschaft die notwendige rechtliche Bindewirkung entfalten. Die Bundesrepublik Deutschland sollte hier Vorkämpferin werden. Mehr Naturschutz ist letztlich Garant für einen bewahrend-sanften Tourismus, der allein Zukunft haben kann. Zu den touristisch am meisten übernutzten Regionen zählen weltweit unsere Berge, unsere Gewässer und unsere Küsten. Für die Konvention zum Schutz der Alpen liegt das Tourismusprotokoll inzwischen erfreulicherweise vor; wir werden es demnächst ratifizieren. Die tragischen Lawinenkatastrophen des letzten Winters haben uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, daß die nationalen und europäischen Anstrengungen zum Schutz der Alpen unbedingt verstärkt werden müssen. Leider müssen wir feststellen, daß gerade auch naturorientierte touristische Aktivitäten wie Skifahren, Sporttauchen, Bootsfahren, Bergwandern und Trekking Naturräume und die darin lebenden Tiere und Pflanzen belasten. Oftmals verursacht oder verschärft gerade ein solch naturorientierter Tourismus, der leider auch bislang völlig unerschlossene Naturräume neu erschließt - hier bekommt das Wort „Erschließung“ einen sehr negativen Klang -, ökologische Schäden. Hier muß die Erhaltung der ökologischen Tragfähigkeit unbedingt gesichert werden. Wo der Druck auf die Natur zu stark wird, muß im Interesse der Allgemeinheit und des Lebens auf eine Expansion touristischer Angebote verzichtet werden. ({2}) Hans Magnus Enzensberger hat vor schon über 40 Jahren den legendären Satz geprägt: Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet. - Im ÜberseeMuseum Bern steht noch viel drastischer: Touristen sind wie Heuschrecken; sie fressen alles kahl und ziehen weiter. Für viele Tourismuszentren in der Welt ist diese Aussage inzwischen bittere Realität geworden. Die Expansion des Tourismus geht mit enormem Flächenbedarf einher. Allzuoft erfolgt der flächenintensive Ausbau von Hotel- und Ferienanlagen, Campingplätzen und Sportanlagen oder der tourismusorientierten Verkehrsinfrastruktur getrennt von der vorhandenen Infrastruktur und Landnutzung sowie unabhängig von den Bedürfnissen der Bevölkerung, der Bereisten. So entstehen selten positive Effekte für die Einheimischen. Oft genug aber sind sie die Opfer des Tourismusbooms. Denn wenn Küstengebiete eingedeicht, Sümpfe drainiert, Trockengebiete bewässert, Wälder gerodet oder Korallenriffe gesprengt werden, entstehen enorme Umweltschäden vor Ort. Ökosysteme erleiden weiterhin Schäden, wenn zum Beispiel Bausand von den Badestränden, Kalkstein von den Korallenriffen und Bauholz von den Wäldern der Meeresküsten in großem Umfang entnommen werden. Tourismus produziert zudem massiv Abfall. Zentren mit einem stark erhöhten Aufkommen an Abfall und Abwasser und sehr hohem Trinkwasserverbrauch weisen bereits ernsthafte ökologische Schäden und Gesundheitsrisiken - nicht nur für Touristen - auf. Die durch Tourismus verursachten Umweltschäden können so weit gehen, daß die betroffene Region ihre Attraktivität als Reiseziel völlig einbüßt. Ich denke, wir sind uns aber einig darüber, daß eine Expansion des Tourismus, die noch immer stattfindet - diese Branche boomt ja weiterhin -, sich nicht an dem Motto orientieren darf: Finde es, benutze es, und wirf es weg. Anstreben müssen wir einen Tourismus nach dem Motto „Klasse statt Masse“, der zur sozioökonomischen Entwicklung der Länder beiträgt, den kulturellen Austausch entwickelt und unser Bewußtsein für die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen in der Welt schärft sowie die touristischen Regionen vor umweltschädlicher Nutzung bewahrt. Als positives Beispiel ist hier die Zusammenarbeit Deutschlands mit Kirgistan zu nennen, durch die 1998 um den Issyk-Kul-See ein Biosphärenreservat entstanden ist, in dem zusammen mit den Einheimischen, die dort ihre Lebensweise beibehalten können, ein sehr begrenzter Tourismus durchgeführt wird, der der Natur sowie den Einheimischen nicht schadet, sondern ihnen sogar Nutzen bringt - eine Winner-Winner-Strategie. Leider verbindet sich mit dem internationalen Tourismus unter anderem das Problem des Jagens, Sammelns und Handelns bedrohter Tier- und Pflanzenarten oder von Produkten davon. In einer Anhörung wird sich der Tourismusausschuß auf unseren Vorschlag hin demnächst vertieft mit diesem öffentlich bisher wenig präsenten Aspekt des internationalen Tourismus auseinandersetzen. Ich habe eingangs festgestellt, daß den Fragen des Zusammenhangs von Naturschutz und Tourismus noch immer zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zum Beispiel wird zuwenig beachtet, wie sehr Großschutzgebiete, unsere eigenen wunderschönen Nationalparke, Naturparke, Biosphärenreservate, eine regionale Entwicklung und auch den sanften Tourismus begünstigen, so daß die Leute davon leben können, während gleichzeitig die Natur für alle erhalten bleibt. Ich möchte deshalb an dieser Stelle sehr positiv würdigen - und mich ausdrücklich bei allen Mitgliedern des Tourismusausschusses dafür bedanken -, daß der Tourismusausschuß auf Vorschlag meiner Fraktion einstimmig beschlossen hat, durch das Büro für Technikfolgenabschätzung die Thematik der Wechselwirkungen und Kooperationsmöglichkeiten von Naturschutz und regionalem Tourismus bearbeiten zu lassen. Ich bin sicher, daß wir auch mit den Ergebnissen dieser Studie wertvolle Hinweise für unsere politische Arbeit erhalten werden. ({3}) Abschließend möchte ich den Aspekt der ethischen und kulturellen Nachhaltigkeit des Tourismus etwas näher beleuchten. Auch dieser Aspekt kommt oft zu kurz. Wir begrüßen es, daß der Bericht hinsichtlich der Ausführungen zu einer Agenda für eine zukünftige deutsche internationale Tourismuspolitik endlich auch Überlegungen alternativer Tourismusverbände aufgenommen hat. So finden sich im vorliegenden Bericht nunmehr auch Aussagen zur Problematik der ethischen und kulturellen Nachhaltigkeit. Hier geht es um die wirklich schwerwiegenden Fragen der Menschenrechte in den touristischen Zielländern und der demokratischen Teilhabe der dortigen Bevölkerung an der Entwicklung des Tourismus. Rund ein Drittel der Deviseneinnahmen durch Ferntourismus entfallen im Durchschnitt auf die etwa 120 Entwicklungsländer. Aber die Menschen in den bereisten Ländern profitieren häufig am wenigsten von den Tourismuseinnahmen. Nur ein Teil bleibt dort, der Rest geht an die internationalen Reiseanbieter und Hotelketten. Es muß gesichert werden - im übrigen auch in unserem eigenen Interesse -, daß der Nutzen aus dem Tourismus für die Entwicklungsländer deutlich größer wird und daß das Einkommen lokaler Bevölkerungsgruppen stärker an den touristischen Entwicklungen partizipiert. ({4}) Wir wollen menschliche Arbeitsbedingungen in allen touristischen Regionen der Welt. Wir wollen aber keine Kinderarbeit und keinen Sextourismus. ({5}) Eine Verdrängung einheimischer Kultur dürfen wir nicht mehr zulassen, schon gar nicht zugunsten eines massentouristischen Rummels der Peinlichkeiten. Auch der Verkümmerung einheimischer Kultur durch ihre Inszenierung als Spektakel müssen wir einen Riegel vorschieben. Die Verletzung der kulturellen Identität ganzer Bevölkerungsgruppen kann im übrigen zu schwerwiegenden Konsequenzen für die Akzeptanz Fremder führen. Der Ausschluß Einheimischer von der Nutzung touristischer Leistungen und Orte ist nicht mehr länger hinnehmbar. Er war schon immer ein Fehler. Aufgebaut werden müssen Mechanismen und Strukturen, die die gleichberechtigte Beteiligung der lokalen Bevölkerung an Planungs-, Umsetzungs-, Beobachtungs- und Bewertungsprozessen von Tourismuspolitik, -programmen und -projekten sichern. Positive Beispiele eines entsprechenden deutschen Engagements finden sich in vielen kleinen alternativen Tourismusprojekten, ob in Nepal, Kamerun, Kolumbien oder auch in Kirgistan. Ich wünsche uns allen, daß wir viele der zahlreichen Anregungen des vorliegenden, wirklich guten Berichtes aufgreifen - wir sollten nicht nur über diese Anregungen diskutieren, sondern versuchen, deren Umsetzung zustande zu bringen - und daß wir im Interesse einer wirtschaftlich, sozial und kulturell nachhaltigen Entwicklung des Tourismus sowie eines verbesserten Schutzes unserer Natur weltweit vieles an positiven Veränderungen auf den Weg bringen. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Gefühl, daß wir etwas falsch machen: Wir reden hier über Reisen, und die anderen reisen offenbar schon. ({0}) Tourismus im Zeitalter der Globalisierung - so hieß der Auftrag für den vorliegenden Bericht. Es reizt mich, das einmal umzudrehen und von Tourismus als Voraussetzung für die Globalisierung zu sprechen: Ohne den Drang der Menschheit zu reisen, ohne den Urwunsch der Menschheit, die Welt zu entdecken, sprächen wir heute wahrscheinlich überhaupt nicht über Globalisierung. Daß viele Menschen heute reisen können und in der Lage sind, die Welt zu entdecken, halte ich zuallererst als positives Zeichen fest. Der Bericht analysiert, zeigt Entwicklungen auf, schreibt diese in die Zukunft fort und zieht daraus Schlüsse für die Politik. Ich halte den Analyseteil des Berichts für ungeheuer wertvoll, und er wird uns in der Arbeit im Tourismus-Ausschuß auch sehr viel helfen. Allerdings scheinen mir die Konsequenzen, die dann für die Politik geschildert werden, in Teilen sehr stark ideologisch gefärbt und politisch wertend zu sein. Nach unserem Verständnis gehört das eigentlich nicht zum Auftrag des Büros für Technikfolgenabschätzung. ({1}) Der Bericht bezeichnet den Tourismus als Leitökonomie der Moderne, und er hebt ab auf - so wird es genannt - einen kommunikativen und kooperativen Politikstil. Die F.D.P. hat wie alle anderen auch im Rahmen der parlamentarischen Arbeit in diesem Hause immer eine kommunikative Politik zwischen Betroffenen und Parlament sichergestellt. Der Tourismus-Ausschuß ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie eine solche kommunikative Politik gemacht wird. Der kooperative Ansatz birgt aber die Gefahr, unsere Verfassung zu konterkarieren. Nebenparlamente wie die zahlreichen runden Tische, der „Energiedialog“ oder das Bündnis für Arbeit beschneiden die Rechte des Parlaments oder bergen zumindest die Gefahr in sich, dies zu tun. Wir als Politiker müssen unsere Aufgaben wahrnehmen, und die im Tourismus tätigen Unternehmen haben sich dem Wettbewerb zu stellen. Da sehe ich die Aufgabe. ({2}) Meine Damen und Herren, der Bericht zeichnet das Leitbild eines nachhaltigen Tourismus. Dieses Leitbild ist, denke ich, unumstritten und wird von vielen internationalen Organisationen verfolgt. Genauso weiß aber die Tourismuswirtschaft selbst - zumindest der größte Teil der Tourismuswirtschaft -, daß allein nachhaltiger Tourismus in die Zukunft weist. Tourismus und Landwirtschaft sind die beiden Branchen, die auf eine intakte Natur und Landschaft angewiesen sind, für die ökologische Erfordernisse direkter Bestandteil ihrer ökonomischen Interessen sind. Deshalb, Frau Voß, kann und muß man sicher darüber reden, welche Bedeutung die intakte Natur hat und welche Bedeutung der Erhalt von Kulturen hat; aber man sollte nicht vergessen, daß der Tourismus gerade für die dritte Welt eine enorme Chance darstellt. Auch das gilt es zu nutzen. Deshalb sage ich: Wir brauchen einerseits die starke Einbindung der Tourismuspolitik in die internationale Politik; wir brauchen aber andererseits auch weltweit eine Entschlackung nationaler Politik von wirtschaftshemmenden Faktoren. ({3}) Ich kann in der Kürze der Zeit nur auf einige wenige zentrale Punkte der Analyse eingehen. Ich will dabei die Frage nach der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, also nach dem vielzitierten Jobmotor Tourismus, in den Mittelpunkt stellen. Die dem Tourismus vorhergesagten Wachstumsraten sind, so der Bericht, von bestimmten Rahmenbedingungen abhängig, insbesondere von einer prosperierenden Weltökonomie, niedrigen Energiepreisen und weltweit abnehmenden Konflikten. Wenn wir diese Rahmenbedingungen verbessern - zumindest bei der prosperierenden Weltökonomie und bei den niedrigen Energiepreisen gehört die Bundesregierung sicher nicht zu den Verbesserern -, dann ist dies eine Chance gerade für die Länder der dritten Welt. In der starken Zunahme der Auslandsreisen, der Fernreisen, in der weiteren Diversifizierung der Nachfrage, wie sie der Bericht sehr ausführlich schildert, liegt für viele Länder die wirtschaftliche Zukunftshoffnung überhaupt. Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, bedarf es auch - aber nicht in erster Linie - staatlicher Lenkung. Vor allem bedarf es eines vorausschauenden Verhaltens der Tourismuswirtschaft insgesamt. Der Jobmotor Tourismus in Deutschland wird im Bericht eher kritisch gesehen. Ein relativer Bedeutungsverlust für Deutschland als touristisches Zielland wird vorausgesagt. Dabei bedeuten andere prognostizierte Entwicklungen eher Chancen. Die Veränderung der Alterspyramide mit immer mehr älteren Menschen, wie sie beschrieben wird, ist eigentlich eine Chance für das Tourismusland Deutschland. Die Diversifizierung des Freizeitverhaltens erfordert eine Diversifizierung des Angebots - eine Chance für uns. Nur wird all dies doch nicht mit diesem kooperativen Politikansatz geleistet, sondern in erster Linie durch geeignete Rahmenbedingungen begünstigt. ({4}) Wer mit 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit, Ökosteuer die Kosten und die Bürokratie erhöht ({5}) - aber selbstverständlich, Frau Irber, kommt das; das muß ja kommen -, der verschlechtert die Angebotsbedingungen. ({6}) Was wir brauchen, ist mehr Spielraum am Markt, eine günstigere Kostenstruktur, eine bessere Dienstleistungsmentalität. Deshalb hat die F.D.P.-Fraktion in dieser Woche zum Beispiel einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung eingebracht. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch eine stärkere Einbindung des Tourismus in die Politik der Europäischen Union. Dabei geht es nicht um Finanzhilfen - das festzustellen, darauf legen wir großen Wert -, sondern um gemeinsame Standards, um statistische Daten und um das, was in der Fachsprache heute „best practices“ genannt wird. Vorrangig ist allerdings eine einheitliche europäische Flugkontrolle, ohne die ein leistungsfähiger Flugverkehr nicht aufrechterhalten werden kann. Ich fordere die Bundesregierung auf, in der EU durchzusetzen, daß wir hier sehr schnell Fortschritte machen. Lassen Sie mich zum Schluß einen Ratschlag an die Regierung und an Rotgrün geben: Gehen Sie auf Reisen! Besuchen Sie die USA, Großbritannien, Neuseeland und die skandinavischen Länder. Lernen Sie dort vor Ort, wie man erfolgreiche Steuer- und Wirtschaftspolitik macht. Sie fördern damit persönlich die Tourismuswirtschaft. ({8}) - Lieber Herr Kubatschka, Sie fördern die Tourismuswirtschaft, wenn Sie sich das anschauen. Wenn Sie nicht reisen wollen, gebe ich Ihnen einen anderen Rat: Schauen Sie in das Programm der F.D.P.; stimmen Sie unseren Anträgen zu! Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gebe jetzt der Abgeordneten Rosel Neuhäuser das Wort.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende TAB-Bericht geht auf das Jahr 1998 zurück und leistet eine Bestandsaufnahme der wesentlichen Dimensionen des Tourismus. Besonders die ökonomischen und ökologischen Folgen im Zuge einer weiter fortschreitenden Globalisierung von Ökonomie und Gesellschaft finden darin einen breiten Raum. In der weiteren Behandlung dieses Berichtes ist nun zu prüfen: Was hat sich bisher gegenüber den Daten, die in der damaligen Zeit erfaßt worden sind, grundlegend verändert? Welche neue Herangehensweise an die Entwicklung des Tourismus verfolgt die neue Bundesregierung? Wird es ein eigenes Konzept für die nachhaltige Entwicklung des Tourismus in Deutschland geben? Vor gut einer Woche ging der dritte Tourismusgipfel in Berlin zu Ende. Auf diesem zentralen Begegnungspunkt der Tourismusbranche wurde deutlich, daß die nationale und internationale Tourismuswirtschaft auf Wachstumskurs ist. Deshalb findet der Tourismus in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur und in den Fachdebatten eine nicht unwesentliche Aufmerksamkeit. Es gibt Untersuchungen und beeindruckende Zahlen, beispielsweise zum Beitrag der Tourismusbranche zum Bruttosozialprodukt, zur Wertschöpfung, zur Beschäftigungs- und Ausbildungssituation - dazu sind ja schon Zahlen genannt worden -, zur Umsatzentwicklung und zur Situation im Hotel- und Gaststättenwesen. Genau diese Daten sind aber - so die Meinung der Wissenschaftler - nicht wirklich tragfähig und bei Prognosen, die auf eine perspektivische Betrachtung der Zukunft des Tourismus abzielen, mit Vorsicht zu benutzen. Wenn man in der Forschungs- und Datenlage mit widersprüchlichen Zahlen und Belegen arbeiten muß, dann läßt sich in der Politik nur unzureichend über die Bedeutung des Tourismus in der Wirtschaft kommunizieren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebenso wie Wachstumspotentiale nur unzureichend darstellen, und sind angemessene Instrumente und Maßnahmen schwierig zu wählen. Konsequenterweise heißt das dann für mich, daß die Politik auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sowie die gesamte Tourismusbranche Rahmenbedingungen zu erwirken haben, die verändernd auf die dargestellte Situation Einfluß nehmen und auch Verbesserung herbeiführen. Ich denke dabei besonders an den Ausbau der Tourismusbranche als Dienstleistungsbranche, weil wir nicht umhinkommen, den Gast und seine Wünsche als Maß aller Dinge zu akzeptieren. ({0}) Ich denke weiter an attraktive Arbeitsbedingungen, bessere Entlohnung und vorbeugenden Arbeitsschutz auch das wurde schon genannt. Ich denke an eine weitere notwendige Harmonisierung der Steuersysteme, an die Modernisierung der touristischen Infrastruktur - besonders auch in den neuen Bundesländern -, an eine verbesserte Ausbildung und Qualifizierung und an Umgestaltungsprogramme zur Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus. ({1}) Ich denke aber auch an eine Verbesserung der amtlichen Statistik und die Schaffung ausreichender Voraussetzungen für eine problemorientierte, interdisziplinäre und anwendungsorientierte Forschung. Meine Damen und Herren, wer in den zurückliegenden Wochen verfolgt hat, welche Themen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, gewinnt leicht den Eindruck, daß der Umgang mit der Umwelt und ihr Schutz in der Rangreihe der Themen auch im Bereich des Tourismus ins Hintertreffen geraten ist. Bedenkt man beispielsweise, daß der Tourismus von der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie als drittwichtigster Verursacherbereich für das Artensterben in der Bundesrepublik benannt wird und daß 55 Prozent des PKW-Verkehrs auf Urlaubs- und Freizeitnutzung entfällt, dann wird das Ausmaß der verursachten Umweltbelastungen schnell ersichtlich. In diesem Zusammenhang sind die Vorschläge des TAB-Büros zu Optionen einer deutschen Tourismusaußenpolitik recht halbherzig und auch teilweise inkonsequent. Auswege aus dem Dilemma bedürfen konkreter Maßnahmen und verbindlicher gesetzlicher Regelungen für die Tourismusindustrie. Aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion werden im Rahmen einer innenpolitischen Tourismuskonzeption im Sinne von Nachhaltigkeit neue touristische Leitbilder, neue Zielgruppenarbeit, eine Weiterentwicklung touristischer Konsummuster, stimmige Preis-Leistungs-Konzepte und die Erarbeitung eines nationalen Umweltplanes dringend notwendig. ({2}) Auch wenn in den Urlaubsregionen zunehmend Konzepte des Naturschutzes entwickelt werden und große Teile der Bevölkerung Anteil und Einfluß auf nachhaltige Formen des Umgangs mit der Natur nehmen, täuscht das nicht darüber hinweg, daß, solange die Geschwindigkeit der touristischen Entwicklung anhält, Wege gefunden werden müssen, die das Naturkapital des Tourismus sichern. Für die weitere Beratung wünsche ich uns im Tourismusausschuß viele gute Ideen und gute Vorschläge für eine nachhaltige Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Reisen verbindet. Das wußte auch der derzeit vielzitierte Goethe, als er Freunden riet: Geben Sie Ihren Körpern Bewegung. Durchwandern Sie zu Fuß und zu Pferde das schöne Land. ({0}) Der Einheimische wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue Eindrücke geben und eine angenehme Erinnerung zurücklassen. ({1}) Daß Reisen nicht nur Reisende und Einheimische verbindet, sondern auch die Akteure der Tourismuspolitik, macht der zweite uns vorliegende Projektbericht deutlich. Ein herzliches Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diesen Bericht erstellt haben. ({2}) Er spricht unter anderem davon, daß eine international nachhaltige Tourismuspolitik eine wirkungsvolle Integration von Tourismus- und Umweltpolitik befördern und einen internationalen Erfahrungs- und Wissensaustausch anstoßen kann. Für viele Problemstellungen seien rein nationale Lösungen unzureichend; sie benötigten internationale Absprachen und Aktivitäten. Durch die Ausweitung des Untersuchungsspektrums auf die internationale Ebene unter der Überschrift: „Tourismus und Globalisierung“ in dem nun vorgelegten zweiten Projektbericht verfügt der Bundestag über einen umfassenden Gesamtüberblick über die Entwicklungsperspektiven des Tourismus und die damit verbundenen Chancen, aber auch Risiken. Weltweit wird der Tourismus als Branche mit überproportionalen Wachstumsraten und als ein Garant für bereits bestehende, aber auch zu schaffende Arbeitsplätze angesehen. Dies gilt für die Industrieländer wie Deutschland, aber auch für die weniger entwickelten Länder, die sich eine Erhöhung des Lebensstandards erhoffen. Ob die Hoffnung immer in Erfüllung geht und wie sie in Erfüllung geht, ist, denke ich, ein zweiter Punkt. Deshalb sollte bei künftigen Entwicklungen folgendes im Vordergrund stehen: Nachhaltiger Tourismus bietet bedeutende ökonomische Chancen und kann sich zudem positiv auf die Umwelt auswirken. ({3}) Die Frage der Bewertung und des Umgangs mit dem Tourismus stellt sich auch auf EU-Ebene. Zur Zeit arbeiten EU-weit zirka neun Millionen Menschen im Tourismussektor. Das sind stolze sechs Prozent der Beschäftigten insgesamt. Prognosen zufolge soll der Anteil bis zum Jahre 2010 sogar auf neun Prozent der BeschäfRosel Neuhäuser tigten ansteigen. Nicht zu vergessen sind die Auswirkungen auf die anderen Dienstleistungsbereiche und die Wirtschaft insgesamt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Faße, ich bin kritisiert worden, daß ich in meinem Vortrag auf die Bedeutung von intelligenten Verkehrsträgern auch für die Beförderung von Touristen hingewiesen habe. ({0}) Es ging um schienengebundene Verkehrsmittel, aber ich habe auch den Transrapid genannt. Jetzt ist die Frage, die ich an Sie stellen möchte: Sind Sie mit mir der Meinung, daß der Transrapid für den Standort Deutschland eine große Chance wäre, wenn er denn vor allem zwischen zwei großen deutschen Ballungsräumen, nämlich Hamburg und Berlin, zügig realisiert würde? ({1}) Die Touristikfachleute in diesen beiden Städten sind übrigens durch die Bank für die Projektrealisierung; sie sehen dadurch einen unendlich großen Imagegewinn für diese beiden Tourismusdestinationen, Berlin und Hamburg. Sind Sie in diesem Sachverhalt mit mir einer Meinung?

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Brähmig, wenn Sie das Management übernähmen - ich kenne Sie von Ihrem Einsatz um die Sächsische Schweiz -, hätte ich keine Probleme, den Transrapid als Event, als besonderes Ereignis, zu verkaufen. ({0}) Tourismus spielt in Europa eine bedeutende wirtschaftliche Rolle und trägt zum Zusammenwachsen der heutigen und zukünftigen Mitgliedsländer der Europäischen Union bei. 89 Prozent der EU-Bürger bevorzugen Europa als Reiseziel, und auch die Zahl der internationalen Gästeankünfte nimmt zu. Noch ein Wort zur DZT: Wir haben höhere Bezuschussungen vorgesehen, als sie die alte Regierung jemals vorgenommen hatte. Das möchte ich hier einmal sagen. ({1}) Meine Damen und Herren, durch die direkte Begegnung mit Land und Leuten leistet der Tourismus einen wichtigen Beitrag für die Verständigung und das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Bürger. Dies wird in besonderem Maße für die östlichen Nachbarn von Bedeutung sein, die neue Mitglieder der Gemeinschaft werden wollen. Das heißt nicht, die mit dem Tourismus verbundenen Kehrseiten zu übersehen: Saisoncharakter, ungesicherte, teilweise unqualifizierte Beschäftigung, Konzentration zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Plätzen, mögliche negative Auswirkungen auf die kulturelle Identität, die spezielle Raumentwicklung und den Umweltbereich verursachen Probleme, die sich auf Gemeinschaftsebene wie auf nationaler Ebene stellen. Es gilt, die grundsätzliche Frage der politischen Entscheidungskompetenz bzw. des Anwendungsgrades des Subsidiaritätsprinzips zu klären. Der Grundsatz der Subsidiarität, der heute in der Union fest verankert ist, ist geeignet, die regionalen Eigenheiten zu fördern. Es ist die Vielfalt der Regionen, die Europa - auch touristisch - so attraktiv macht. ({2}) Ich spreche mich deshalb nachdrücklich dagegen aus, Europa immer mehr Kompetenzen im Tourismus zuzugestehen. Ich denke, mit den entsprechenden Aussagen im TAB-Bericht müssen wir uns kritisch auseinandersetzen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung ist die notwendige Antwort auf die Globalisierung der Märkte und ein zentrales Element Europas. Sie ist die logische Konsequenz des Einigungsprozesses. Der Wegfall der Währungsvielfalt heißt, daß die Markttransparenz durch den Euro sich vergrößert und der Wettbewerb in Europa schärfer wird. Jeder einzelne Tourismusbetrieb muß sich frühzeitig und individuell dieser Herausforderung stellen; ({3}) denn sie betrifft fast alle Betriebsfelder: von Rechnungswesen über EDV und Logistik bis zum Personalwesen. Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses ist eine stärkere Angleichung der Wettbewerbsbedingungen unabdingbar. ({4}) Dies erfordert - dazu stehe ich auch - eine weitgehende Harmonisierung im Bereich der direkten und indirekten Steuern. Meine Damen und Herren, ich möchte gerne auf die Zielgruppe der Kinder und der Jugendlichen besonders eingehen. Bisher ist der Widerspruch zwischen der hohen Zahl reisefreudiger junger Menschen einerseits und der fast völligen Preisgabe dieses Marktsegments gerade durch die großen deutschen Anbieter andererseits bemerkenswert groß. Jugendliche erwarten im Urlaub einen Dreiklang aus Erlernen, Erleben, Erholen. Sie erwarten GruppenerlebAnnette Faße nis, Geselligkeit und zugleich Rückzugsmöglichkeiten. Sie sind aber weniger an bestimmten Zielen als an einem bestimmten Erlebnis orientiert. Ich denke, es ist eine Aufgabe des Fremdenverkehrsgewerbes, sich diesen Anforderungen besonders zu stellen. Der Jugendaustausch mit den osteuropäischen Staaten, aber auch in unserem eigenen Land zwischen Ost und West sollte erweitert werden. ({5}) Gerade mit Blick auf diese junge Zielgruppe sollten wir uns verstärkt vor Augen führen, daß die natürliche Umwelt unsere Lebensgrundlage ist. Da die Umwelt nicht unbegrenzt belastbar ist, haben alle die Verantwortung und die Verpflichtung, mit den natürlichen Ressourcen sorgsam umzugehen. Eine intakte Umwelt ist das wichtigste Kapital der Tourismusbranche. ({6}) Tourismusregionen müssen Gebiete mit überdurchschnittlicher Umweltqualität sein. Das Dilemma - das war in den Ausführungen schon zu hören - besteht weiter: Reisende gefährden das, was sie eigentlich suchen, nämlich die intakte Natur. ({7}) Neben der Förderung naturverbundener Angebote muß das Ziel deshalb sein, auch den Massentourismus in umweltverträgliche Bahnen zu lenken. Die Mobilität ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt. Das Auto hat wie kaum eine andere technische Entwicklung unsere moderne Gesellschaft geprägt. Auch in der Freizeit dominiert das Auto. Über 60 Prozent der Bundesdeutschen nutzen das Auto für die Fahrt in den Urlaub oder für Fahrten ins Urlaubsgebiet. Mit einem Anstieg dieses Prozentsatzes ist zu rechnen. Wir dürfen uns deswegen mit den Themen ÖPNV und Bahn nicht nur nebenbei befassen; die Anbindung unserer Ferienregionen gerade durch die Bahn muß uns sehr wichtig sein. Das haben wir gemeinsam oft thematisiert. ({8}) Auch die Ferienbusse haben im Vergleich zum Pkw eine sehr viel günstigere Umweltbilanz und sind gerade für Gruppenreisende oder ältere Touristen von größter Bedeutung. ({9}) Die Mobilität der Gäste muß auch in den Ferienregionen gesichert sein - ob mit dem ÖPNV, mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß. Man muß deutlich sehen: Das regionale Verkehrsangebot beeinflußt die Wahl des Anreisemittels. Es besteht ein Zusammenhang, der eindeutig belegbar ist: Der Wunsch nach Mobilität in den Ferienregionen in Verbindung mit unzureichenden Verkehrsverbindungen begünstigt die Anreise mit dem Auto. Hier ist es Pflicht der Regionen, möglichst umweltverträgliche Angebote zur Mobilität zu machen. Die Regierungsfraktionen sehen durch die Ergebnisse der TAB-Untersuchung ihre tourismuspolitischen Zielsetzungen in weiten Teilen bestätigt. Der Tourismus muß endlich als bedeutender Wirtschaftsfaktor begriffen werden. ({10}) Zugleich dürfen die mit dem Wachstum verbundenen Risiken ökologischer, sozialer und kultureller Art nicht aus dem Blick geraten. National und international ist eine nachhaltige Tourismuspolitik notwendig, die dafür sorgt, daß Natur und soziale Lebenswelten nicht zu den Leidtragenden des Tourismus werden. Wir sehen: Reisen verbindet - oder um es nochmals mit den Worten Goethes zu sagen: Genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, ... denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Danke schön. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer.

Edeltraut Töpfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003245, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tourismusbranche in der Bundesrepublik hat als Wirtschaftsfaktor nach wie vor große Bedeutung, gerade auch in den neuen Bundesländern und in der Bundeshauptstadt Berlin. Sie gibt in Deutschland fast drei Millionen Menschen Arbeit und bildet außerdem 80 000 junge Menschen aus. Es besteht die berechtigte Hoffnung, daß sich diese erfreulichen Zahlen in Zukunft noch erheblich steigern lassen. Der Technikfolgenabschätzungsbericht, über den wir heute debattieren, untersucht vor allem die Ursachen und die Folgen der fortschreitenden weltwirtschaftlichen Globalisierung für den Tourismusbereich. Dabei wird deutlich, daß es sehr von den Rahmenbedingungen abhängen wird, ob der Tourismusstandort Deutschland die Chancen dieser Entwicklung nutzen und sein Potential für mehr Arbeitsplätze und Einkommen ausschöpfen kann. Es ist zwar zu erwarten, daß die Besucherzahlen in den nächsten Jahren weltweit kontinuierlich um 4,3 Prozent im Jahr steigen und sich bis zum Jahr 2020 insgesamt verdreifachen. Zu denken geben muß uns aber, daß dem Reiseziel Europa eine unterdurchschnittliche Zuwachsrate und ein sinkender Anteil am Weltmarkt und damit ein relativer Bedeutungsverlust prognostiziert wird. Das Wachstum soll sich innerhalb Europas auf die Mittelmeerländer und die Länder Osteuropas konzentrieren. Der Anteil ausländischer Gäste an den Übernachtungen in Deutschland lag 1998 bei nur 11,8 Prozent, während er in den südeuropäischen Ländern weitaus höher ist. Unser Nachbarland Österreich hat sogar einen Anteil ausländischer Gäste von 74 Prozent erreicht. Das deutsche touristische Angebot muß im Ausland wesentlich intensiver vermarktet werden. ({0}) Wir müssen die mit diesem Auslandsmarketing beauftragte Deutsche Zentrale für Tourismus stärken, die ausgesprochen gute Arbeit leistet, und vor allem die finanzielle Unterstützung von seiten des Bundes erhöhen und nicht - wie im Bundeshaushalt für das Jahr 2000 vorgesehen - kürzen. Schon jetzt geben wichtige Konkurrenzländer wie Spanien, Frankreich oder Irland erheblich mehr für touristische Auslandswerbung aus als wir und steigern ihre Werbeetats weiter, weil man dort die Chancen dieses Dienstleistungsbereichs erkennt und konsequent nutzt. Durch die gezielte Förderung der besonders arbeitsplatzintensiven Tourismuswirtschaft können wir viele neue Arbeitsplätze schaffen. ({1}) Dafür ist es aber auch wichtig, den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen auf europäischer Ebene in Angriff zu nehmen. ({2}) Dabei ist besonders die von uns vorgeschlagene Harmonisierung bzw. Reduzierung der Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsbereich zu nennen. Die Städtereisen in Deutschland sind für die ausländischen Gäste von großer Bedeutung. Hier sind wir auch in besonderem Maße konkurrenzfähig, nicht zuletzt auf Grund des vielfältigen und einzigartigen kulturellen Angebots. Meine Heimatstadt Berlin ist mit ihren über 80 Millionen Besuchern pro Jahr ein gutes Beispiel dafür. Die große Bedeutung des Städtetourismus gerade für den Besuch ausländischer Gäste wird in dem vorliegendem Bericht klar angesprochen. Demnach liegt der Anteil der Reisenden aus dem Ausland in deutschen Großstädten bei 48 Prozent der Übernachtungen. Trotz Steigerungen in den letzten Jahren liegt Berlin im übrigen mit knapp unter 30 Prozent allerdings noch weit unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Es läßt sich leicht erahnen, daß allein in unserer Bundeshauptstadt Millionen zusätzlicher Gästeübernachtungen möglich werden, wenn wir mit dem künftigen Großflughafen Berlin/Brandenburg in Schönefeld endlich eine bessere internationale Luftverkehrsanbindung haben. ({3}) Im internationalen Wettbewerb können wir uns nach Meinung der Branchenexperten nur behaupten, wenn ausreichende Flughafenkapazitäten und attraktive Flughäfen geschaffen werden. Wegen der Bedeutung Berlins als Bundeshauptstadt und Metropole im Zentrum Europas muß hier die bestehende Planung im gesamtstaatlichen Interesse zügig umgesetzt werden. Nur so kann Berlin zu einem wichtigen touristischen Verkehrsdrehkreuz in Europa im Schienen-, Straßen- und Luftverkehr werden und nicht zuletzt auch als Tor für die expandierenden Märkte in Mittel- und Osteuropa fungieren; denn die Wachstumsquellenmärkte für das Reiseland Deutschland werden mittelfristig in Osteuropa liegen. ({4}) Zur Sicherung des Tourismusstandortes Deutschland plädieren wir grundsätzlich für eine zügige Realisierung der beschlossenen Bundesverkehrswegeplanung sowie wichtiger Großprojekte im Verkehrsbereich. Hierzu ist es unbedingt erforderlich, im Bundeshaushalt die entsprechenden Mittel für die Investitionen in ausreichender Höhe bereitzustellen. ({5}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, lassen Sie mich noch auf den Transrapid eingehen. Sie sollten sich bei der Entscheidung über den Transrapid auch einmal überlegen, was für ein Besuchermagnet, was für eine Attraktion dieses einmalige Verkehrsmittel für ausländische Besucher wäre, von dem nicht nur die Endhaltepunkte Berlin und Hamburg oder die Landeshauptstadt Schwerin, sondern auch Deutschland als Reiseziel insgesamt und damit mittelständische Dienstleistungsanbieter in allen touristischen Regionen unseres Landes profitieren würden. Er könnte zu einem Besuchermagnet werden, wie es der Reichstag schon nach wenigen Monaten geworden ist. Das zeigen die täglichen Warteschlangen und die Besucherzahlen. Lassen Sie uns also gemeinsam die Weichen richtig stellen und die notwendigen Maßnahmen für den Tourismusstandort Deutschland treffen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen im Namen des Hauses. ({0}) Jetzt hat die Abgeordnete Anita Schäfer das Wort.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tourismus stellt in Deutschland einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Mit einem Umsatzvolumen von zirka 300 Milliarden DM hat er einen Anteil von mehr als 8 Prozent an der Bruttowertschöpfung in Deutschland. Durch die Vielfalt großer und mittelständischer Unternehmen ist er auch arbeitsmarktpolitisch von größter Bedeutung. Im Zeitalter der Globalisierung unterliegt gerade auch der Tourismus dem weltweiten Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Um von diesen Entwicklungen nicht abgeschnitten zu werden, ist es unsere dringendste Edeltraud Töpfer Aufgabe, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Meine Kollegin Frau Töpfer nannte bereits die Rahmenbedingungen, aber man kann sie nicht oft genug wiederholen - ich tue das hiermit -: Vonnöten sind der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in der EU, die Angleichung der Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsgewerbe sowie eine umfassende Deregulierung der Bürokratie, die gerade den Mittelstand in großem Maße belastet. ({0}) Der vorliegende Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung zeigt auf, wie in den fortgeschrittenen Industrieländern insgesamt und im besonderen in Deutschland die überragende Bedeutung der Arbeit für die Lebensführung der Menschen zugunsten der freien Zeit abgenommen hat. Dieses veränderte Konsumbewußtsein prägt das Freizeitverhalten in unserer Gesellschaft in erheblichem Maße. Die Folge dieses Wertewandels ist, daß sich die deutsche Tourismuswirtschaft mit ihren Angeboten auf die wachsenden Ansprüche einer immer flexibler werdenden Kundschaft einstellen muß. Das Angebot richtet sich bekanntlich nach der Nachfrage, doch läßt sich auch die Nachfrage durch ein konsumorientiertes Angebot erheblich lenken und damit auch noch steigern. In zunehmendem Maße sind hier individuelle und erlebnisorientierte Angebote nötig, um unsere Tourismuswirtschaft auf das Freizeitverhalten der Menschen abzustimmen. Besonders möchte ich Ihren Blick auf die additive Wirkung des Seminar-, Gesundheits- und naturschützenden Tourismus lenken. Als Standort zahlreicher Weltleitmessen ist Deutschland für den Kongreß-, Konferenz- und Seminartourismus geradezu prädestiniert. Mit der Ausrichtung weltweit interessanter Messen wie der Hannover-Messe, der CeBIT, der Internationalen Automobilausstellung, der Funkausstellung und der EXPO 2000, um nur einige zu nennen, besitzt unser Land eine hervorragende Ausgangssituation, um Gäste aus dem In- und Ausland für einen anschließenden Urlaub in Deutschland zu gewinnen. ({1}) Die Erfahrungen aus meinem Wahlkreis zeigen, daß zum Beispiel auch die internationale Schuh- und Ledermesse in Pirmasens für beachtliche Umsätze im örtlichen und regionalen Hotel- und Gaststättengewerbe sorgt. Als Kongreß- und Tagungsziel verfügt Deutschland im internationalen Vergleich über ein hohes Ansehen, welches wir auch entsprechend nutzen sollten. Nicht zuletzt sorgen die gute Tagungs- und Verkehrsinfrastruktur Deutschlands, die Professionalität der Dienstleister, attraktive Städte und Regionen sowie interessante kulturelle Angebote dafür, daß Deutschland international an vierter Stelle des weltweiten Kongreßtourismus steht. Jährlich über 600 000 Tagungsveranstaltungen, die von rund 50 Millionen in- und ausländischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern besucht werden, sind hierfür ein sehr guter Beleg. Als eine spezielle Reiseform hat der Kongreß- und Tagungstourismus auch heute schon mit 43 Milliarden DM einen gewichtigen Anteil am Gesamterfolg der deutschen Tourismusbranche. Den Kongressen und Tagungen kommt damit also eine erhebliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu. ({2}) Daneben kommt auch dem Gesundheits- und Wellnesstourismus gerade unter Berücksichtigung geringerer finanzieller Mittel im Gesundheitswesen ein neuer Stellenwert zu. Neben dem traditionellen Kur- und Bädertourismus entwickelt sich hier ein bedeutender touristischer Wachstumsmarkt. Ältere wie jüngere Menschen nehmen - bedingt durch ein gestiegenes Gesundheitsbewußtsein - immer mehr alternative Heilmethoden sowie das Angebot, sanfter Sportausübung im Sinne von Wellness wahr. Trotz des häufig deutlich höheren Preises verspricht diese Art von Urlaub zugunsten der Gesundheit und der körperlichen Fitneß große Zuwachsraten. Dies zeigt, daß Deutschland ein hervorragender Standort für diesen Tourismuszweig sein kann. Diese Chance dürfen wir nicht durch einen enggesetzten Paragraphenrahmen verspielen. In vielen Teilen unseres Landes finden sich große Naturparks, wie zum Beispiel in meiner Heimat der Naturpark Pfälzer Wald. Die Nachfrage nach naturnahen Erholungsformen ist nach wie vor ungebrochen. Das allgemein gestiegene Umweltbewußtsein und das Bedürfnis nach Naturerfahrung in weiten Teilen der Bevölkerung sind hierfür triftige Indikatoren. Bereits jetzt liefern die touristischen Angebote der National- und Naturparks einen erheblichen Beitrag zur Stärkung des Binnentourismus. Aber es gilt gerade auch hier, einen akzeptablen Kompromiß zwischen Ökologie und Ökonomie zu finden. Ich fordere die Tourismuswirtschaft auf, Marktlücken zu schließen. Ich bin überzeugt, daß der Verbindung von Seminar-, Wellness- und naturschützendem Tourismus zukünftig eine immer größere Bedeutung zukommt. Aber bei der Umsetzung solcher tourismuspolitischer Ziele sind wir - leider - nach wie vor durch den im internationalen Vergleich zu hohen Mehrwertsteuersatz im Gastgewerbe benachteiligt. Hier dürfen wir nicht aufhören, nach Lösungen zu suchen. ({3}) Im Technikfolgenabschätzungsbericht werden die Entwicklung und die Folgen des Tourismus zu Beginn des neuen Jahrhunderts aufgezeigt. Die Globalisierung der Weltmärkte geht einher mit einem geänderten Anspruchsdenken des gesundheits- und konsumorientierten Touristen. Verschlafen wir nicht die Zukunft! Schaffen wir die Voraussetzungen für einen innovativen Tourismus! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten EvaMaria Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Drucksache 14/841 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die PDSFraktion soll fünf Minuten Redezeit erhalten. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Augen der Öffentlichkeit ist der von der Bundesregierung angestrebte konsensuale Ausstieg aus der Atomkraft gescheitert. Kritiker haben vor dieser Entwicklung bereits frühzeitig gewarnt. Sie haben mit ihren Warnungen recht behalten. Die im Bundestag vertretenen Parteien sind nun gefordert, parlamentarische Initiativen zur Beendigung der Nutzung der Atomkraft einzuleiten. ({0}) Unser Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes zielt auf folgende Regelungen ab: Erstens. Die schnellstmögliche Abschaltung der Atomanlagen wird als neues Ziel im Atomgesetz aufgenommen. Dieses Ziel sollte zwischen uns und der Regierung unstrittig sein, weil SPD und Grüne den Bundestagswahlkampf mit dieser Forderung geführt und seinerzeit auch gewonnen haben. Wir definieren den Zeitraum für den schnellstmöglichen Ausstieg mit maximal fünf Jahren. Zweitens. Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente erfolgt bekanntlich nicht schadlos. Sie muß deshalb verboten werden. Die Skandale um die Verdünnungsentsorgung radioaktiver Abfälle aus den atomaren Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague, Sellafield und Dounreay sprechen für sich. Mittlerweile stammen über 90 Prozent der gesamten radioaktiven Belastung der Nordsee aus diesen drei Atomfabriken. Die Nuklide lassen sich auch in der Ostsee und sogar in der Barentssee zwischen Sibirien und der Arktis nachweisen. Drittens. Die Entsorgung und das alte Konzept der Endlagerung sind gescheitert. Der Bund muß deshalb ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle in Deutschland finden und einrichten. Leider haben SPD und Grüne durch ihr Abstimmungsverhalten zum Bundeshaushalt im Umweltausschuß klargemacht, daß sie Gorleben und Konrad als Endlagerstandorte im Spiel halten wollen. ({1}) Wir dagegen plädieren dafür, einen Schlußstrich unter die Konzeptionen für diese ungeeigneten Standorte zu ziehen und mit der Suche nach Endlagern von vorne zu beginnen. ({2}) Wir fordern ein neues Endlagerauswahlverfahren. Es muß sich auf wissenschaftliche Kriterien stützen und der betroffenen Bevölkerung am Standort eine möglichst frühzeitig einsetzende und kontinuierliche Wahrnehmung ihrer Rechte garantieren. ({3}) Ein befriedigendes Endlagerauswahlverfahren ist jedoch mit den bestehenden Regelungen des § 9 des Atomgesetzes nicht denkbar. Diese wurden von seiten der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. noch in den letzten Monaten ihrer Amtszeit in das Gesetz eingefügt. Die aus der Pflicht des Bundes erwachsende Aufgabe, Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle einzurichten, soll mit den dafür erforderlichen hoheitlichen Befugnissen ganz oder teilweise auf Dritte übertragen werden können. Wir sind strikt gegen die Privatisierung derart sensibler Bereiche. ({4}) Die Rücknahme der Änderung des neuen Abs. 3 in § 9 a ist deshalb geboten. 1998 wurden auch Möglichkeiten zur Enteignung und zur Verhängung von Veränderungssperren über Grundstücke an Endlagerstandorten eingefügt. Damit wird das Vertrauen der Bevölkerung in eine sachgerechte Lösung des Endlagerproblems gänzlich verspielt. Diese Änderungen müssen zurückgenommen werden. Hier muß der Rechtszustand, der vor der Verabschiedung des achten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes galt, wiederhergestellt werden. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte über den Atomausstieg ist immer mehr zu einer Kosten- und Entschädigungsdiskussion verkommen. Der Bundeskanzler hat diesen Wandel schon im Wahlkampf eingeleitet, indem er für den sogenannten entschädigungsfreien Ausstieg plädierte. Dies haben sich die Atommanager zunutze gemacht. Sie spielen auf Zeit, und die Koalition läßt sich an der Nase herumführen. Die Risiken der Atomwirtschaft lassen sich aber nicht mit Geldbeträgen neutralisieren. Wie der Unfall in Japan gezeigt hat, ist Atomkraft nicht zu beherrschen - auch in High-Tech-Ländern nicht, wie schon vorhin im Rahmen der Tokaimura-Debatte deutlich gemacht wurde. Das Risiko eines GAUs in der Bundesrepublik innerhalb der nächsten 20 Jahre liegt, umgerechnet auf die 19 deutschen Reaktoren, zwischen 1 : 25 und 1 : 2 500. Der Vorschlag der Grünen, die Betriebszeiten auf 25 Jahre zu begrenzen, nimmt das erhebliche Risiko einer unbeherrschbaren Kernschmelze also billigend in Kauf. Ich weiß, daß dies keine leichtfertige Verantwortungslosigkeit ist, sondern ein Zugeständnis an das Kräfteverhältnis im Lande. Dieses Kräfteverhältnis ist aber nicht vom Himmel gefallen. Diese Regierung hat es durch ihr Herumlavieren in der Atompolitik mitbestimmt. Daran besteht kein Zweifel. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Danke. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD lehnt den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes der PDS ab. Das heißt aber nicht, daß wir den Ausstieg aus der Kernenergie nicht weiterverfolgen. Wir setzen uns weiterhin für einen entschädigungsfreien Ausstieg aus der Atomenergie ein. Die Koalition wird dieses Ziel erreichen. ({0}) In diesem Gesetzentwurf sind auch Vorschläge enthalten, die wir für richtig erachten. Dies möchte ich am Beispiel des Förderzwecks aufzeigen. Bei der Diskussion über die Kernenergie wird immer wieder übersehen, daß die Atomenergie hoch subventioniert war. Steuermittel in Milliardenhöhe - in der Größenordnung von etwa 50 Milliarden DM - wurden aufgewendet. In den 50er Jahren gab es in der Bundesrepublik ein Atomministerium. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß der erste Atomminister Franz Josef Strauß. Es gab ein Programm „Atome für den Frieden“. In den 50er und 60er Jahren hat uns die Wissenschaft vorgegaukelt, mit Hilfe der Atomenergie könnten alle Energieprobleme gelöst werden. Versprochen und mit leuchtenden Farben an die Wand gemalt wurde eine Welt ohne Energieprobleme. Damals, Anfang der 60er Jahre, saßen wir mit leuchtenden Augen in den Vorlesungen und hörten diese Versionen. Eine Art Perpetuum mobile wurde uns von den Wissenschaftlern beschrieben. Die Realität sah aber leider ganz anders aus. Die Wissenschaft hat uns in eine Sackgasse geführt. Ich kann mich noch erinnern: Die Wörter „Entsorgung“ und „Risiko“ kamen bei den Vorlesungen nicht vor. Sie wurden einfach übergangen oder totgeschwiegen. Wenn wir die vielen Steuermilliarden dafür aufgewendet hätten, um erneuerbare Energien zu fördern, hätten wir unsere Energieversorgungen zukunftsfähiger gemaht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt für uns zwei gewichtige Gründe, den vorliegenden Gesetzentwurf abzulehnen. Laut Entwurf soll der Ausstieg aus der Wiederaufbereitung bis zum 1. Januar 2000 vollzogen werden. So schnell geht es nicht; nicht in einem Dreivierteljahr, wenn ich vom Datum Ihrer Antragstellung ausgehe. Auch wir haben das lernen müssen. Ich möchte aber betonen, daß die Wiederaufbereitung von Brennelementen der falsche Weg ist. Aus diesem Grunde betreiben wir in der Bundesrepublik ja auch keine Wiederaufbereitungsanlage. Deutschland ist aus dieser Technologie ausgestiegen. Wir werden aber auch die Wiederaufbereitung von deutschen Brennelementen mittelfristig einstellen. Die direkte Endlagerung ist die billigere Lösung. Nachdem in Deutschland die BrüterTechnologie aufgegeben wurde, ist es nicht sinnvoll, die Wiederaufbereitung weiterzubetreiben. Die im Entwurf des PDS-Gesetzes vorgesehenen Regelungen passen nicht zu unserem Zeitplan. Die Koalition hat verabredet, einen entschädigungsfreien Ausstieg erreichen zu wollen. Diesen wollen wir nach Möglichkeit im Konsens mit den Betreibern der Atomkraftwerke anstreben, aber dieses Vorhaben gestaltet sich schwierig. Bisher konnte bei den Verhandlungen immer noch kein Durchbruch erreicht werden. Wir haben uns vorgenommen, bis Ende des Jahres einen Konsens zu erzielen. ({2}) Sollte dies nicht möglich sein, werden wir den Ausstieg per Gesetz regeln. Man kann eigentlich den Betreibern der Atomkraftwerke nur raten, einen Konsens anzustreben. Sie wären damit wirklich gut beraten. Konsens bedingt aber auch Kompromisse; es geht nicht, die Atomkraftwerke bis zu ihrem technischen Ende zu betreiben. Die Vorstellungen der Betreiber liegen bei 35 Vollastjahren; das entspricht einer Betriebsdauer von 50 bis 60 Kalenderjahren. Man muß sich einmal vorstellen, wie überaltert dann die technischen Anlagen sind. Konsens bedeutet aber auch, den Stromproduktionsstandort Deutschland zu erhalten. Wir werden es nicht akzeptieren, daß die Betreiber in den goldenen Endbetriebsjahren der Atomkraftwerke, wenn diese praktisch abgeschrieben sind, große Kasse machen. Mit dem bei uns verdienten Geld würden dann in mittel- und osteuropäischen Staaten Atomkraftwerke ausgebaut. Über Fernleitungen und Koppelanlagen würde dann die dort produzierte Energie zu uns importiert werden; die Konzerne wären nur noch Stromhändler. Den Produktionsstandort Deutschland zu erhalten heißt aber auch, daß wir andere Strukturen brauchen. Zukunftsfähig sind dezentrale Versorgungsstrukturen. ({3}) Konsens heißt aber auch, in einem überschaubaren Rahmen aus der Kernenergie auszusteigen. Überschaubarer Rahmen heißt aber auch überschaubare Mengen an atomarem Abfall und überschaubare Zeiträume für die Zwischenlagerung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten sich die Betreiber der Atomkraftwerke dem Konsens verweigern, werden wir den Ausstieg durch ein Gesetz herbeiführen. Das Deutsche Atomforum hat zwar erst vor kurzem verkündet, die Stillegung von Atomkraftwerken per Gesetz sei verfassungswidrig. Ich muß dazu sagen: Jede andere Stellungnahme des Deutschen Atomforums hätte mich verwundert und erstaunt. Dieses Lobby-Argument kann ich nicht ernst nehmen. ({4}) Die Befürworter der Kernenergie behaupten immer, die Forderung nach Ausstieg sei ideologische begründet. ({5}) Auch heute nachmittag kam ja dieser Vorwurf. Der Hinweis auf die Ideologie ist ein herrliches Totschlagargument. Hierauf müssen Sie zurückgreifen, weil Sie sonst keine Argumente haben. Wenn dieses Argument stimmen würde, wäre auch die Befürwortung der Atomenergie eine ideologische Forderung. Es ist nur ein sehr komischer Schluß: Wir verteilen Ideologie, weil wir aussteigen wollen. Dagegen betreiben Sie keine Ideologie, weil sie dabei bleiben wollen. Das müssen Sie einmal einem normal und einigermaßen rational denkenden Menschen erklären. Mir können Sie das nicht erklären. Wahrscheinlich können Sie sich das selber nicht erklären. ({6}) Was nützt dieser Ideologievorwurf? Er bringt uns nicht weiter. Es gibt sehr rationale Gründe, aus der Kernenergie auszusteigen. Ich möchte sie in aller Kürze noch einmal aufzählen: Erstens. Es besteht immer ein Restrisiko. Die Sicherheit läßt sich zwar steigern. Damit werden aber die Atomkraftwerke unbezahlbar. Das Restrisiko ist uns wieder einmal durch den Atomunfall in Japan bestätigt worden. Auch in Korea und in Rußland ist etwas passiert. Drei Unfälle und zwei Abschaltungen in einer Woche, das ist wirklich sehr viel. Zweitens. Für mich ist es erstaunlich, daß die Endlichkeit der Uranvorräte bei der Diskussion über die Kernenergie keine Rolle spielt. Nachdem der Traum vom Schnellen Brüter ausgeträumt ist, ist das Ende der Uranvorräte absehbar. Drittens. Die Kernenergie ist keine weltweit einsetzbare Energieform. Es ist unvorstellbar, daß Kernkraftwerke in Krisengebieten errichtet werden. ({7}) - Genau. - Stellen Sie sich einmal vor, in Osttimor würde ein Kernkraftwerk stehen. ({8}) Viertens. Durch den Betrieb von Kernkraftwerken wird auch atomwaffenfähiges Material hergestellt. Wieder eine Horrorvorstellung: Stellen Sie sich vor, im Irak würde ein Atomkraftwerk betrieben werden. Es sind also ganz rationale Gründe, aus der Atomenergie auszusteigen. Dies hat nichts mit Ideologie zu tun. Eine Technik, die keinerlei menschliche Fehler und keinerlei menschliches Versagen zuläßt, ja diese absolut ausschließen muß, ist nicht zukunftsfähig. ({9}) - Herr Kollege, wenn Sie sagen, daß das nicht wahr ist, dann sollten Sie einmal nach Japan schauen. Haben Sie es immer noch nicht kapiert? Mit einem Stahleimer mischt man dort kritische Massen. Dies ist unvorstellbar; dies ist ein Horror. Und es ist so passiert. ({10}) - Nein, das ist nicht unser Standard. Sie sollten aber in der „Süddeutschen Zeitung“ den Artikel über den Unfall in Hanau nachlesen. Sie werden dann verstehen, was 1971 passiert ist. Ich muß sagen, ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten. ({11}) Wenn menschliches Versagen bzw. menschliche Fehler eintreten, kann deren Auswirkung überregional und auch global sein. Das unterscheidet die Kernenergie von allen anderen Techniken. ({12}) Diese überregionale und globale Auswirkung, die es in keiner anderen Technik gibt, zwingt uns dazu, aus der Kernenergie auszusteigen. ({13}) In der Diskussion wird dann immer wieder auf das Ausland verwiesen, nämlich darauf, daß es wenig hilfreich sei, bei uns auszusteigen, während dort die Kernenergie weiterbetrieben wird. Genau umgekehrt ist es: Wir als Hochtechnologieland müssen beweisen, daß ein Ausstieg aus der Kernenergie möglich ist. ({14}) Wir müssen beweisen, daß die Energieversorgung ohne Kernenergie möglich ist. Dies ist eine Herausforderung an die Zukunft, der wir uns stellen müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vergangene Woche hat uns das Risiko der Kernenergie deutlich vor Augen geführt. Zuerst passierte der Unfall in Japan: Bei der Brennelementeproduktion wurde eine Kettenreaktion ausgelöst. Dann folgte die Nachricht aus Korea, daß 22 Menschen verstrahlt wurden, und zum Schluß kam die Nachricht, daß wieder einmal ein Atomkraftwerk in Rußland abgeschaltet wurde. Wahrscheinlich kam es dort zu einem Turbinenbrand. Wenn man die lange Liste der Unfälle kennt, weiß man: Der nächste Unfall kommt bestimmt. Hoffen wir, daß wir wieder einmal glimpflich davonkommen. Wenn man aber bedenkt, daß in der Ukraine die Atomkraftwerke auf Verschleiß gefahren werden und daß die RBMK-Reaktoren sowie die erste Baureihe der WWERReaktoren als ausgesprochene Risikoreaktoren gelten, so weiß man: Das Image der Kernkraft wird nicht besser. Die Reihe der Hiobsbotschaften wird in Zukunft nicht abreißen. Zum Interview der Konzernherren Hartmann und Simson im „Spiegel“ vom 4. Oktober 1999 möchte ich folgendes sagen: Vielleicht heißt es einmal in nicht allzu ferner Zukunft, es sei geradezu provinziell, nicht aus der Kernenergie auszusteigen. Für die deutschen Konzernleitungen sei diese Kurzsichtigkeit schon sehr erstaunlich gewesen. Es sei unglaublicher Unfug, sich mit dem Betrieb von Kernkraftwerken auseinanderzusetzen. Wenn das einmal bei den Managern der großen Energiekonzerne ankommt, wird es aber für das Image der Konzerne bereits zu spät sein. Es ist vorstellbar, daß die Kernenergie so viel an Image verliert, daß es für die Konzerne ein Risiko wird, Atomkraftwerke zu betreiben. Kernkraftwerke würden dann bei den Anlegern nicht als Pluspunkt, sondern als Negativposten angesehen werden. Das würde die Kurse in Bewegung bringen - und zwar nach unten. Dann könnte man sagen, die Konzernherren haben den Konsens verschlafen. Zum Schluß: Wir werden den Ausstieg aus der Kernenergie weiter energisch betreiben; denn die Kernenergie ist nur eine Übergangsenergie. Wir müssen uns von ihr verabschieden. Es wäre vernünftig, diesen Abschied aus der Kernenergie in Deutschland im Konsens zu betreiben. Wenn dies nicht gelingt, werden wir den Ausstieg per Gesetz schaffen. Ich danke für das Zuhören. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende PDSGesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes greift das rotgrüne Ausstiegsvorhaben auf. Er übernimmt die seit Jahrzehnten von ausstiegsorientierten Aktivisten ständig wiederholten Schlagworte. Er spricht von inakzeptablen Risiken, von der ungelösten Endlagerung, von dem illegalen Abzweigen waffenfähigen Plutoniums und von den technisch unbeherrschten Risiken eines Kernschmelzunfalls. ({0}) Diese Behauptungen werden wie unantastbare Glaubenswahrheiten vorangestellt. Daran hat sich seit den 70er und 80er Jahren bei der Anti-Atomkraft-Bewegung nichts geändert. Die in Deutschland stattgefundene enorme Weiterentwicklung der Reaktorsicherheit und der nuklearen Entsorgung wird einfach nicht zur Kenntnis genommen. Bei uns, Kollege Tauss, laufen die Kernkraftwerke seit über 30 Jahren und liefern ein Drittel unseres Stroms. Es gab noch nicht einen Toten - Gott sei Dank. ({1}) - Damit befinden wir uns in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern. Diese Tatsache muß man doch einmal feststellen dürfen. Auch in dieser Debatte muß darauf hingewiesen werden: Viele deutsche Wissenschaftler sahen sich veranlaßt, einen neuen Energiedialog anzustoßen, der zu einer Neubewertung der Energiepolitik führen sollte. Dabei geht es auch um die Risiken - es handelt sich nicht um kleine Risiken - einer schleichend zunehmenden, irreversiblen Veränderung der Erdatmosphäre durch offene Feuerungsprozesse. Von großer Bedeutung ist ebenfalls der liberalisierte europäische Energiemarkt, der auf nationale Alleingänge in einer Weise reagieren wird, die die Ausstiegsabsichten konterkariert. Es wäre ja der Gipfel der Absurdität, wenn man in Deutschland die sichersten Kernkraftwerke abschaltete und dann den Atomstrom aus Frankreich oder aus Osteuropa importieren würde. ({2}) In der Atomdebatte heute nachmittag wurde von den ausstiegsorientierten Fraktionen der Tokaimura-Unfall als Beweis für unkalkulierbare Gefahren und inakzeptable Restrisiken bemüht. ({3}) Ich rate zu einer realistischen und differenzierten Betrachtung. Es ist ja wahr: Wir in Deutschland sind nicht wenig verwundert und verblüfft, in welchem Ausmaß menschliche Fahrlässigkeit bei der Handhabung hochgefährlicher Stoffe, welche Hilflosigkeit bei der Gefahrenabwehr und wieviel Fehlverhalten der Unternehmensleitung bei der Schadensbegrenzung im hochindustrialisierten Japan möglich sind. ({4}) Dies gilt übrigens nicht nur für den Bereich der Kernenergie, sondern auch für Naturkatastrophen, wie wir nach dem Erdbeben bei Kobe wissen. Ich bin überzeugt: Nirgendwo ist das Problembewußtsein beim Umgang mit technischen Gefahrenpotentialen so hoch entwickelt wie in Deutschland. ({5}) Diese Wachheit und Empfindlichkeit - man kann ruhig sagen: Ängstlichkeit - haben zu einer hochentwickelten Sicherheitskultur in Deutschland gerade in der kerntechnischen Industrie geführt. Nun bestreitet kein vernünftiger Mensch, daß es auch hier in Deutschland tagtäglich menschliches Versagen, technische Fehlleistungen und Störungen gibt. Wer in seiner pessimistischen Weltsicht glaubt, daß es dagegen keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen geben könne, gleichgültig, wieviel man auch immer unternehme, den kann in der Tat nur der Ausstieg aus gefährlicher Technik zufriedenstellen. Wenn er redlich ist, muß er aber bei gleichen Maßstäben nicht nur aus der Kerntechnik, sondern auch aus der Chemie, den Gefahrguttransporten, ({6}) der Luftfahrt oder auch der Wasserkraft mit großen Staudämmen aussteigen, wozu man sich jeweils ebenfalls verheerende Katastrophenszenarien ausdenken kann. ({7}) - Wenn zum Beispiel der Assuan-Staudamm bricht, wird ganz Ägypten ins Meer geschwemmt. Ich möchte wiederholen, was ich bereits heute nachmittag betont habe: Es kann doch niemand ernsthaft vorhaben, aus unserer technischen Zivilisation auszusteigen. Es geht doch vielmehr um die Weiterentwicklung einer weltweit auf hohem Niveau erforderlichen technischen Sicherheitskultur. ({8}) Die in Deutschland eingesetzten aktiv und passiv wirkenden Mehrfachsicherungssysteme und die sorgfältige, ständig verbesserte Schulung des Betriebspersonals haben sich bestens bewährt. Der politische Wille hinter dem zur Debatte stehenden Gesetzentwurf ist klar: Zweck ist die schnellstmögliche, in spätestens fünf Jahren abgeschlossene Abschaltung der Atomanlagen. Die wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang werden allerdings nicht diskutiert. Es wird zwar auf die Kosten der Ersatzbeschaffung für die Stromversorgung hingewiesen. Ein Konzept für eine sichere, im europäischen Binnenmarkt wettbewerbsfähige und ökologisch akzeptable Energieversorgung ohne Kernkraft gibt es aber nicht - auch nicht von der rotgrünen Regierung, die nun schon ein Jahr lang im Amt ist. Es ist nichts in Sicht. Der heutzutage übliche stolze Hinweis auf das 100 000-Dächer-Solarprogramm ist nun wirklich nicht ausreichend. Von 100 000 Photovoltaik-Anlagen kann man maximal 300 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr ernten; das entspricht knapp 3 Prozent der Leistung eines modernen Kernkraftblocks. Von großer Tragweite im energiepolitischen Zusammenhang ist der Klimaschutz. Wir erleben gegenwärtig in Schweden die Unvereinbarkeit von Atomausstieg und Zielen der CO2-Minderung. Für Deutschlands Reduktionsziel von 25 Prozent bis zum Jahr 2005 ist überhaupt nicht sichtbar, wie es ohne Atomkraft erreicht werden kann. Schon mit Kernenergie ist dies eine äußerst ehrgeizige Absicht. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Wiederaufarbeitung von Brennelementen zum 1. Januar 2000 zu verbieten und damit den auf diese Weise gesicherten Entsorgungsnachweis aufzuheben. Kraftwerke müßten wegen ihrer mit abgebrannten Brennelementen gefüllten Zwischenlager deshalb schon bald vom Netz genommen werden. Für die Befristung der Betriebsgenehmigungen wird trotzdem ein eigenes Gesetz gefordert. Fragen der notwendigen Entschädigungsregelungen werden nicht angesprochen. Sie lehnen es grundsätzlich ab, darüber zu diskutieren, wie Sie gerade ausgeführt haben. Aber auch die PDS steht nicht außerhalb unserer Rechtsordnung, auch nicht die Regierung, Herr Kubatschka. ({9}) Die Vorschriften der Achten Atomnovelle vom 6. April 1989 sollen rückgängig gemacht werden. Damit würden die Erleichterungen für Erkundungsarbeiten im Interesse einer möglichst bald verfügbaren Endlagerung radioaktiver Abfälle wieder aufgehoben. Es ist einer der eklatanten Widersprüche der Anti-Atom-Politik, die sogenannte ungelöste Entsorgungsfrage unablässig als Ausstiegsargument zu thematisieren und zugleich die Erkundungsarbeiten in Gorleben und das Genehmigungsverfahren für Konrad nach Kräften zu erschweren und zu stoppen. Dabei weiß jeder, auch jeder in den Regierungsfraktionen und in der PDS, daß Deutschland mit oder ohne Atomausstieg eine sichere Entsorgung und Endlagerung von radioaktiven Reststoffen unabdingbar braucht. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der PDS zur Änderung des Atomgesetzes ist voller Widersprüche und ungeklärter Fragen. Die CDU/CSU lehnt seine Zielsetzung und seine Vorschriften im einzelnen entschieden ab. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hatten heute schon, wie ich finde, eine ernsthafte Debatte über den Atomausstieg. Ehrlich gesagt, Herr Laufs, haben Sie Ihre Rede eben eigentlich noch einmal abgelesen? Ich finde, Wiederholungen langweilen auf Dauer. ({0}) - Mein Eindruck war, das war haargenau dasselbe, und ich fand das relativ langweilig. ({1}) - Das würde ich doch bezweifeln. Da kenne ich mich besser als Sie mich. ({2}) Ich höre grundsätzlich zu, und ich finde, Sie haben ge- nau dasselbe gesagt wie heute nachmittag. Ich nehme die Debatte heute abend ehrlich gesagt nicht ganz ernst. Damit meine ich nicht den Beitrag von Herrn Kubatschka; den fand ich wirklich hervorragend. [Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Der hat auch dasselbe erzählt!) Das war eine gute Zusammenfassung unserer Beweggründe für den Atomausstieg und die Ablehnung dieses Gesetzentwurfs. Aber das Anliegen der PDS ist mir wirklich ein bißchen zu durchsichtig. Daß dies ein taktischer Antrag ist, steht doch völlig klar im Raum. Ich verstehe das ja; ich würde es als Opposition genauso machen. ({3}) Die Frage ist doch nicht: Wie erreichen wir es, Forderungen für den Atomausstieg aufzustellen? Das ist leicht zu beantworten; das haben wir auch immer getan. Auch die SPD hat einen Ausstieg innerhalb von zehn Jahren beschlossen. Aber Sie müssen lernen und verstehen - wie auch wir das tun -, daß die Abschaffung eines gesamten Technologiezweiges in einer Industriegesellschaft kein einfaches Unterfangen ist und daß man dabei viele Gesichtspunkte bedenken muß. Herr Kubatschka hat darauf schon hingewiesen. Ich glaube, daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf dem Anliegen, den Atomausstieg voranzubringen, in keiner Weise nützen. Sie nützen sich vielleicht selbst, indem Sie sich als die großen Atomaussteiger, die Einpeitscher und dergleichen mehr darstellen. Aber bringen Sie auch den politischen Prozeß voran, dieses gesellschaftlich mehrheitsfähig durchzusetzen? Das bezweifle ich. ({4}) Denn Politik bedeutet auch - Herr Kubatschka hat es gesagt -, zum richtigen Zeitpunkt etwas zu sagen oder zu machen. Da sage ich einmal folgendes: Es war völlig richtig, daß sich diese Bundesregierung auf die Suche nach einem Kompromiß mit den Stromkonzernen eingelassen hat. Ich glaube, nur dann können wir in der Bevölkerung Akzeptanz dafür bekommen, daß wir im Notfall, wenn die Stromkonzerne nicht kompromißfähig sind, den Ausstieg im Dissens durchziehen. ({5}) Es war deswegen richtig, daß wir uns die Zeit genommen haben. Wir werden diesen Prozeß zu gegebener Zeit beenden, wenn sich die Stromkonzerne als nicht kompromißfähig erweisen. Das heißt, hier auf die Tube zu drücken ist aus meiner Sicht völlig politikunfähig. Ich kann da nur Gysi und Bisky ernst nehmen, die Sie als Partei immer auffordern, politikfähiger zu werden und nicht immer Märchenprogramme und dergleichen mehr zu beschließen. ({6}) Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich ansprechen möchte. Ich nehme auch Ihre Rolle als Einpeitscher für den Atomausstieg nicht ganz ernst. ({7}) Ich habe einmal versucht, Zitate von Gysi oder Modrow, der damals noch in der Politik war, aus der Zeit des Tschernobyl-Atomunfalls zu finden. Wissen Sie was? In der DDR wurde Tschernobyl totgeschwiegen. Es gab keinen Fallout. Die Position der SED, bei der viele Ihrer Genossen an der Basis noch immer tätig sind ({8}) - ich weiß, Frau Bulling-Schröter nicht, aber sie tritt ja für ihre gesamte Partei auf -, war damals: AKWs im Kapitalismus sind unsicher, weil sie unter Gewinngesichtspunkten betrieben werden, aber sozialistische AKWs sind sicher, weil sozusagen die Arbeiterklasse sie betreibt. Das waren die AKWs, die selbst die CDU abgeschaltet hat; das muß man einmal sagen. ({9}) Nun kann man ja sagen, daß man lernfähig ist. In der Tat, auch die SPD hat nach Tschernobyl gelernt. ({10}) - Gut, vor Tschernobyl. Egal, sie hat gelernt. - Zwischen der Position von Helmut Schmidt und der heutigen Position besteht ein Unterschied. Aber dazu war ein intensiver Diskussionsprozeß notwendig. Dabei ging es nicht darum, daß man taktisch sagt: Welche Rolle spielen wir im neuen Parteiengefüge? Wir wollen die Linken ablösen, und deshalb müssen wir den Atomausstieg fordern. - Haben Sie die Auseinandersetzung über die Frage Atomausstieg mit Ihrer Basis geführt? Nein! ({11}) Zum Beispiel hat der Kreisverband Greifswald eindeutig Position bezogen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? ({0})

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was sagen denn all Ihre Schwesterorganisationen, die französischen Kommunisten, die tschechischen Kommunisten? ({0}) Wissen Sie das? ({1}) Ihre Schwesterorganisationen haben unisono immer noch das alte Schema drauf: Das ist eine tolle Technologie, weil es eine Großtechnologie ist und weil die Arbeiterklasse damit stark und groß wird. ({2}) - Ich verstehe ja, was Sie hier machen. Aber ich nehme diese Debatte nicht ernst. ({3}) Die Grünen haben eine lückenlose authentische Geschichte in der Frage des Atomausstiegs. Wir haben uns nie für die Atomtechnik stark gemacht. Der Atomausstieg ist nun ein schwieriger Prozeß, und ich akzeptiere Sie schlicht und einfach nicht als Einpeitscher für diesen Prozeß. Das mußte einmal gesagt werden. Danke. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Rede der Abgeordneten Birgit Homburger nehmen wir zu Proto- koll.*) Damit sind wir am Schluß der heutigen Debatte. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/841 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Oktober 1999, 13.00 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen einen schönen Abend.