Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/17/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zweimal gleich! - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal zwingen uns die Oppositionsparteien eine Geschäftsordnungsdebatte auf. ({0}) Aus nicht nachvollziehbaren Gründen weigern sie sich, die beiden justizpolitischen Themen - Reform des Zivilprozesses und Modernisierung des Schuldrechts - auf die Tagesordnung zu setzen. Deswegen bleibt uns, weil ja die Tagesordnung einvernehmlich vereinbart werden muss, nur noch der Weg dieser Debatte, obwohl wir eine solche eigentlich gar nicht wollen, sie aber sein muss. Nun haben wir uns schon daran gewöhnt, dass die Oppositionsparteien immer dann, wenn wir über die verPräsident Wolfgang Thierse nünftige und zukunftsweisende Rechtspolitik dieser Bundesregierung debattieren wollen, ({1}) dies mit allerlei Mätzchen zu verhindern suchen. ({2}) Bei allen wichtigen Justizthemen dieser Wahlperiode haben Sie Geschäftsordnungsdebatten angezettelt, sei es beim Gesetz über die Lebenspartnerschaften, bei der ersten Lesung der ZPO-Reform oder der zweiten und dritten Lesung der Mietrechtsreform. Der Grund liegt darin, dass Sie zu inhaltlichen Sachdebatten nicht in der Lage sind. ({3}) Heute sind Sie sogar zu feige, sich selbst hier hinzustellen und zu begründen, warum Sie eine solche Debatte nicht wollen. Sie lassen vielmehr uns den Vortritt, um zu sagen, warum eine solche Debatte sein muss. Wie sollen Sie von der Opposition auch eine politische bzw. rechtspolitische Sachdebatte führen können? In der Rechtspolitik sind Kreativität und Spontaneität der Unionspolitiker sowieso verkümmert. ({4}) Man kann sogar sagen: Sie sind rechtspolitisch entwöhnt. ({5}) Während Ihrer Regierungszeit wurde Rechtspolitik in der Union doch vornehmlich von dem Millionenschieber Kanther gemacht oder aber vom bayerischen Justizministerium ferngesteuert. ({6}) Herr Geis, Ihr Versuch, als Rechtspolitiker auf eigenen Füßen zu stehen, ging voll daneben. ({7}) Sie haben den von Ihnen eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Reform der ZPO von einem Bundesratsentwurf aus der vergangenen Legislaturperiode schlecht abgekupfert. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen. ({8}) Man könnte sagen: Ehe der Hahn dreimal gekräht hat, hat Norbert Geis sein eigenes Gesetz verraten. ({9}) Bei der F.D.P. war es nicht anders. ({10}) Ihr Ministerium hat immer zugearbeitet. Ihre Minister haben im Stile einer 4-mal-100-Meter-Staffel den Stab weitergegeben und waren immer nur darauf bedacht, den Ministersessel für den Nächsten vorzuwärmen. ({11}) Die einzige Konstante war der Parlamentarische Staatssekretär Funke, der acht Jahre überstanden hat und dem wir die heutige Debatte verdanken. Ich komme noch darauf zurück. Ich frage nur: Wo ist Herr Funke heute? ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hartenbach, die Frage nach dem Verbleib des Kollegen Funke mag zwar interessant sein; aber jetzt sollten Sie sich zur Geschäftsordnung äußern. ({0})

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, das tue ich doch schon die ganze Zeit; denn das, was ich darlege, gehört dazu. ({0}) - Okay, Herr Merz, ich würde sofort aufhören, ({1}) wenn Sie jetzt sagen würden: Wir stimmen den beiden Aufsetzungsanträgen zu. ({2}) Natürlich sind wir wieder schuld daran; ({3}) denn Sie haben triftige Gründe, uns vorzuwerfen, dass wir - Herr Präsident, ich spreche jetzt wirklich zur Geschäftsordnung - dem Wunsch der Oppositionsparteien nach einer Debatte nicht nachgekommen seien. ({4}) Was wollen wir denn und was müssen wir machen? ({5}) Wir wollen und müssen noch in dieser Woche das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in erster Lesung in das parlamentarische Verfahren einbringen. Wir tun dies doch nicht, weil wir Sie ärgern wollen, ganz im Gegenteil: Wir tun dies doch, um eine breite parlamentarische Beratung zu ermöglichen. Würden wir warten, bis das Parlament den Regierungsentwurf bekäme, dann würden wir in erheblichen Zugzwang geraten. Dann würde ich Ihnen auch Recht geben, wenn Sie sagten: Wir müssen das alles in einem Hauruckverfahren durchbringen. - Genau das wollen wir nicht. Wir bringen einen Koalitionsentwurf ein, sodass die Opposition frühzeitig in die Beratungen eingebunden werden kann und wir die Sommerpause nützen können. Wir wollen Sie schon jetzt in alle Beratungen integrieren. Wir bieten Ihnen das an, so wie wir es Ihnen schon einige Male angeboten und es auch umgesetzt haben. Ich komme nun auf die ZPO-Reform zu sprechen. ({6}) Wir haben in den Berichterstattergesprächen in einer beispiellosen Art und Weise versucht, die ZPO-Reform mit den Oppositionsparteien klar zu machen. Wir haben Ihnen immer wieder gezeigt, dass wir bereit sind, Sie an den Beratungen zu beteiligen. Nur, Sie müssen das akzeptieren. Nun wollen wir zu einem guten Ende kommen, ({7}) nachdem wir uns mit dem Deutschen Anwaltverein, dem Deutschen Richterbund und unseren Ländervertretern einig sind. Wir werden heute Nachmittag über die ZPO-Reform nicht nur debattieren, sondern sie mit der Mehrheit des Hauses auch verabschieden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hartenbach Alfred Hartenbach ({0}): Ich bin sofort fertig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

- damit liefern Sie mir das Stichwort -, Sie müssen zum Ende kommen.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lade Sie herzlich ein: Hören Sie auf, Oppositionspolitik nur als Obstruktionspolitik zu verstehen! Beteiligen Sie sich vielmehr an den Beratungen zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz und zeigen Sie, dass Sie mehr können, als nur Nein sagen! Ich stelle den Antrag, unseren beiden heutigen Aufsetzungsanträgen zuzustimmen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Herrn Kollegen van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Rede des Kollegen Hartenbach gehört hat ({0}) und vor allen Dingen gemerkt hat, dass er praktisch keine Argumente vorgetragen hat, ({1}) der versteht, warum er in der Vergangenheit so intensiv Pirouetten drehen musste. Wir als Opposition haben es sehr viel besser, weil wir nämlich Argumente für unseren Antrag haben, ({2}) sowohl die Debatte über die Reform des Zivilprozesses als auch die Debatte über die Reform des Schuldrechts in einer anderen Form durchzuführen. Der Kollege Hartenbach hat gesagt, das, was vorgeschlagen werde, sei vernünftig und zukunftsweisend. ({3}) Wenn das so ist, Herr Kollege Hartenbach, dann verstehe ich überhaupt nicht, warum Sie unserem Wunsch, diese Debatte morgen als ersten Punkt und damit zu einer günstigen Zeit durchzuführen, damit sich jedermann ein Bild davon machen kann, nicht entsprechen. ({4}) Die Debatte ist doch vor allem deshalb auf den frühen Nachmittag und damit auf eine Zeit außerhalb der Kernzeit verschoben worden, weil sogar der „Spiegel“, der nicht im Verdacht steht, der Regierung zu kritisch gegenüberzustehen, in dieser Woche die Schlagzeile veröffentlicht hat: Mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben einer umfassenden Zivilprozessreform ist Justizministerin Herta Däubler-Gmelin weitgehend gescheitert. Das ist der wesentliche Grund, warum wir das heute Nachmittag debattieren sollen und nicht zu einer besseren Zeit beraten können. Es gibt übrigens noch einen zweiten und für uns ebenfalls wichtigen Grund: Es gibt eine gute Übung im Deutschen Bundestag, dass dann, wenn die wesentlichen Berufe im Bereich der Justiz ihre jährlichen Zusammenkünfte haben - Juristentag, Anwaltstag, RechtspfleAlfred Hartenbach gertag -, die rechtspolitischen Sprecher vereinbaren, zu der Zeit, wenn die Eröffnungsveranstaltung ist, keine rechtspolitische Debatte durchzuführen, weil es der Respekt vor diesen Berufen gebietet. ({5}) Heute Nachmittag findet genau zu dem gleichen Zeitpunkt, zu dem die Koalition diese Debatte angesetzt hat, der Rechtspflegertag in Hamburg statt. Wir wollen, dass wir weiterhin diesen Justizberufen Respekt zollen ({6}) und unseren rechtspolitischen Sprechern die Möglichkeit geben, dort die Anregungen der Praxis aufzunehmen und sich an der Diskussion zu beteiligen. ({7}) Was das Schuldrecht anbelangt, so haben wir zu Beginn dieser Woche eine Vorlage von über 680 Seiten bekommen. ({8}) Wir sind nicht bereit, eine solche Behandlung im Bundestag hinzunehmen; denn die Fraktionen müssen selbstverständlich die Möglichkeit haben, sich ein solches Paket vernünftig anzuschauen, in ihren Gremien zu beraten und dann in die Debatte einzutreten. ({9}) Wir haben - Sie haben uns Obstruktion vorgeworfen, ({10}) Herr Hartenbach, überhaupt keine Obstruktion gezeigt, sondern - ganz im Gegenteil - einen vernünftigen Vorschlag gemacht: Wir haben Ihnen angeboten, morgen Vormittag die Debatte zur Zivilprozessreform durchzuführen sowie gleichzeitig im Vorgriff im Rechtsausschuss schon die notwendige Anhörung für den Bereich des Schuldrechts zu beschließen und damit sicherzustellen, dass es keine Verzögerung gibt. Von daher gibt es also überzeugende Argumente bei der Opposition. Wir wollen, dass die Zivilprozessreform zu einer vernünftigen Zeit debattiert wird und dass respektiert wird, dass die Rechtspfleger ihren Rechtspflegertag haben. Wir wollen außerdem eine vernünftige Beratung auch bei den Oppositionsfraktionen sicherstellen. Deshalb bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag, dass nämlich die Debatten so nicht stattfinden, wie die Koalition sie will. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Ab- stimmung. Wer stimmt für die Aufsetzungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Aufsetzungsan- träge sind mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Damit werden der Entwurf des Zivil- prozessreformgesetzes heute nach der Aktuellen Stunde und der Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgeset- zes morgen als erster Tagesordnungspunkt beraten. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkt 3 a und b so- wie Zusatzpunkt 2 auf: 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Vertrauen und Solidarität - die Chancen der Zukunft nutzen b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelungen über die Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) - Drucksache 14/6041 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Versorgungsangleichung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2}) - Drucksache 14/6054 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({3}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt. ({4})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wenn Sie nicht hier bleiben wollen, schnell und vor allem sehr ruhig den Saal zu verlassen, damit die Rednerin nicht gestört wird.

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank, Herr Präsident. ({0}) - Es wird ja sehr viel wichtiger sein, dass Sie mir zuhören, damit Sie endlich auf den richtigen Weg kommen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das deutsche Gesundheitswesen sei zu teuer und es bedürfe dringend einschneidender Veränderungen - das sind seit gut zehn Jahren landauf, landab verkündete Behauptungen. Alle waren sich darin immer einig, ob Regierung, Opposition, Pharmaindustrie, Krankenhäuser, Patienten, Ärzte, Kassen, Arbeitgeber oder Gewerkschaften. Damit hörte allerdings die Einigkeit schon auf. Gemeinsame Lösungen waren schwierig. Im Ergebnis stehen wir weiterhin vor einer Vielzahl von Problemen und sind mit der Einschätzung konfrontiert, dass unser Gesundheitssystem reformbedürftig ist. Unabhängig davon, dass wir unser Gesundheitssystem zukunftsfähig machen müssen, stelle ich bei dieser Gelegenheit einmal fest: Wir haben in Deutschland hervorragende Ärzte und Ärztinnen. Unsere Unfall- und Nothilfe ist vorbildlich. Krankenkassen bemühen sich um optimale Leistungen, Service und Effizienz. Die Qualität unserer Krankenhäuser ist herausragend. Überall, von den Pflegerinnen und Pflegern und den Sachbearbeitern der Krankenkassen bis hin zu den Ärztinnen und Ärzten treffen wir auf sorgfältig arbeitende, verantwortungsbewusste und qualifizierte Menschen. ({2}) Der Dienstleistungsbereich Gesundheitsmarkt bietet große Chancen für Beschäftigung und entfaltet auf dem Arbeitsmarkt positive Wirkungen. Unser Gesundheitswesen wird von vielen anderen in der Welt mit Anerkennung betrachtet. Die deutsche Pharma- und Medizinprodukteindustrie produziert weltweit gefragte Exportartikel. Im Übrigen sind ihre Erwerbs- und Exportchancen nicht nur in Bezug auf den deutschen Markt, sondern ebenso auf den europäischen Binnenmarkt und den internationalen Wettbewerb sehr gut. Wenn wir in Deutschland auf etwas stolz sein können, dann auf unser Solidarsystem und die Leistungen, die von ihm tagtäglich erbracht werden. Deshalb ist es höchste Zeit, den Beschäftigten im Gesundheitswesen unseren Dank und unsere Anerkennung auszusprechen. ({3}) - Da darf auch die Opposition klatschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Krankheit gehört leider zum Leben. Wir können sie nicht wirklich verhindern und wir können nicht vorhersagen, wer wann krank wird, durch Unfälle Behinderungen davontragen oder dem Stress am Arbeitsplatz nicht gewachsen sein wird. Es ist ein Teil des Schicksals, dem wir nur ohnmächtig Tribut zollen können. Ich bin sicher, dass auch die Entschlüsselung der menschlichen Gene daran im Kern nichts ändern wird, wenn wir auch hoffen, damit viele Krankheiten bekämpfen zu können. Einen absoluten Schutz vor Krankheit gibt es nicht. Deswegen ist die Gestaltung des zukünftigen Gesundheitswesens eine Aufgabe, die alle Menschen betrifft und interessiert. Wir, die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen, stellen uns der Verantwortung, ein leistungsfähiges, effizientes Gesundheitswesen auch für die Zukunft zu sichern. Das schafft und sichert Vertrauen bei Patientinnen und Patienten, die sich in ihrer Not auf unsere solidarische Versicherung und die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsversorgungssysteme verlassen müssen. ({4}) Ausgangspunkt unserer Gesundheitspolitik ist die Vorsorge, und zwar die Vorsorge gegen den am Ende unkalkulierbaren Schicksalsschlag der Krankheit. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass sich die Menschen fragen: Was passiert, wenn meine Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird? Werde ich die notwendigen Aufwendungen für Diagnose und Therapie erbringen können? Werde ich am Ende hoffentlich auch geheilt sein? Wird das Gesundheitswesen durch gemeinschaftliche Anstrengungen mich und meine Familie vor einem finanziellen Desaster bewahren? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darauf im Wesentlichen zwei Antworten gefunden: Erstens. Da jeder Einzelne dieselbe Chance auf Gesundheit hat und dasselbe Risiko der Krankheit trägt, teilen wir die Kosten der Krankheit und ihrer Behandlung nach einer sozialen Staffelung, die die finanzielle Leistungsfähigkeit berücksichtigt, solidarisch unter allen potenziell Betroffenen auf. Ich sage hier ganz deutlich: An dieser Grundidee bzw. diesem Leitgedanken unseres Solidarsystems werden diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen festhalten. ({5}) Zweitens. Da wir das Risiko einer Erkrankung nicht verhindern können, müssen wir es beeinflussen; wir müssen vorbeugen. Daran gemessen müssen wir feststellen, dass die Prophylaxe in der Systematik der Leistungen und in der Finanzierung im Gesundheitswesen immer noch nicht hinreichend verankert ist. ({6}) Zu einem erheblichen Teil liegt die Vorbeugung natürlich in der Verantwortung des Einzelnen. Nicht der Arzt kann der Erkrankung vorbeugen, sondern nur eine vernünftige Lebensweise. Ich appelliere an die Verantwortung der Einzelnen. Vorbeugung und gesundheitliche Aufklärung müssen gestärkt werden. Wir werden dies tun, indem wir die entsprechenden Mittel für Werbung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die in diesem Bereich eine wesentliche Arbeit leistet, bereitstellen. Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir müssen das solidarische Verhalten des Einzelnen einfordern. Die Solidargemeinschaft hat immer zwei Seiten. Die eine ist, dass jeder Einzelne sich darauf verlassen können muss, dass die Solidargemeinschaft für ihn einsteht, wenn er Hilfe benötigt. Die andere ist, dass jede Einzelne und jeder Einzelne verpflichtet ist, alles zu tun und selbst mit dafür zu sorgen, dass die Solidargemeinschaft nicht in Anspruch genommen werden muss. Das ist unser Verständnis von Eigenverantwortung. ({7}) Diese Form der Eigenverantwortung ist etwas völlig anderes als die, die im unverantwortlichen Gerede eines niedersächsischen Landtagsabgeordneten und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden zum Ausdruck kommt. Dieser sagt - ich zitiere -: „Wir brauchen nicht alle Risiken in Solidarkassen zu fassen.“ Welche Risiken meint er denn? Welches Gesundheitsrisiko ist denn so harmlos, dass wir es ausschließen könnten und es nicht solidarisch aufgefangen werden müsste? Es ist doch bekannt: Der Vorschlag, dass jemand, wenn er jung und gesund ist, entscheiden soll, gegen welche Risiken er sich und seine Familie absichert bzw. welche Risiken er ausschließt, führt letztendlich dazu, dass Risiken ausgeschlossen werden, die später doch eintreten können. Man ist dann gegen diese Risiken nicht versichert und läuft in eine selbst gestellte Risikofalle. Ich frage Sie: Wer soll die Kosten tragen, wenn dann das Einkommen nicht mehr reicht? Diese Vorschläge lehnen wir ab. Sie bewirken nicht nur eine Ausgrenzung, sondern sie werden letztendlich dazu führen, dass die Kosten, die im Gesundheitswesen aufgebracht werden müssen, weiter steigen. Wir sollten in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen vielmehr versuchen, die Kosten durch sinnvolle Maßnahmen zu steuern und zu begrenzen. ({8}) Diese Regierung wird auch weiterhin dafür sorgen, dass jeder Kranke und jede Kranke ein Recht auf Leistung hat und dass kein Arzt fragen muss, ob eine bestimmte Leistung für einen Patienten oder eine Patientin ausgenommen ist, bevor er mit der Behandlung beginnt. Wir wollen keine Zweiklassenmedizin; wir wollen eine solidarisch finanzierte, medizinisch sinnvolle Betreuung aller Menschen in diesem Lande. ({9}) Eines ist doch klar: Das Soziale an der Marktwirtschaft - Sie rühmen sich ja immer, die Erfinder der sozialen Marktwirtschaft zu sein - ist doch die Solidarität: dass die Reichen für die Armen, die Arbeitenden für die Arbeitslosen und - das gilt für diesen Bereich - die Gesunden für die Kranken einstehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Maßnahmen nennen. Erstens. Gemäß dem Solidarprinzip wird der Osten vom Westen im Rahmen des Finanzausgleichs und des neu gestalteten Risikostrukturausgleichs unterstützt. Nach 2,8 Milliarden DM im vergangenen Jahr werden in diesem Jahr voraussichtlich 4,8 Milliarden DM an Beiträgen von westdeutschen an ostdeutsche Krankenkassen fließen. Dies wird sich gemäß der vereinbarten und von dieser Koalition beschlossenen Maßnahmen in weiteren Stufen steigern. Zweitens. Mit der Einführung des Wohnortprinzips werden wir mehr Gerechtigkeit schaffen und die Finanzsituation von Ärztinnen und Ärzten in Ostdeutschland verbessern. Das trägt dazu bei, deren Existenzängste zu mildern. ({10}) Weil wir gerade bei den neuen Bundesländern sind: Wir waren es, die mit dem Risikostrukturausgleich die letzte Sozialmauer eingerissen haben, und - ich mag die Koalition für diese Selbstverständlichkeit kaum loben wir waren es, die endlich den mit Hepatitis infizierten Frauen in der DDR wenigstens materiell geholfen haben, was Ihnen von CDU, CSU und F.D.P. acht Jahre lang nicht möglich war. Auch diesen Missstand haben wir beseitigt. ({11}) Der Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen, der einen fairen Wettbewerb sicherstellen sollte, war in den letzten Jahren in eine Schieflage geraten, sodass den großen Kassen, den Versorgerkassen, aber auch einigen Betriebskrankenkassen der finanzielle Kollaps drohte. Ihre Antwort auf die Gefährdung der Versorgung Millionen Versicherter war, der Wettbewerb selbst müsse es richten. Aber wenn wir so verfahren würden, ginge es zu Lasten aller Versicherten. Das wäre der direkte Weg in die Zweiklassengesellschaft; denn die gesetzliche Krankenversicherung ist kein Wirtschaftsunternehmen. Es geht nicht um einen ideologischen Streit, sondern darum, dass wir den Wettbewerb fair organisieren. Ich erinnere mich an Zeiten - sie sind allerdings schon lange her -, als die Begriffe „fair“ und „Wettbewerb“ auch für Sie noch zusammen zu buchstabieren waren. Ist es fair, wenn Krankenkassen, deren Versicherte höhere Krankheitsrisiken tragen, höhere Beiträge erheben müssen, weil einige Kassen Gesunde und Gutverdienende mit niedrigen Beiträgen umwerben und einfangen? Ich finde, nicht. ({12}) Ist es verantwortbar, wenn Menschen mit niedrigen Beiträgen in eine andere Kasse gelockt werden, während die größeren Kassen gerade die Mitglieder mit einem statistisch geringeren Gesundheitsrisiko verlieren und dadurch in eine Schieflage geraten, wodurch das ganze Solidarsystem ins Wanken gerät? Ich finde, dass das nicht verantwortbar ist. ({13}) Solange wir ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen brauchen, so lange muss uns klar sein, dass das nicht allein durch den Wettbewerb um niedrige Beiträge funktioniert; deshalb ist ein Solidarausgleich, wie wir ihn bei der Fortsetzung des Risikostrukturausgleichs planen, ein pragmatisches und übrigens mit der sozialen Marktwirtschaft konform gehendes Mittel, Schaden von allen Versicherten abzuwenden. Wir eröffnen dem Wettbewerb mit der angestrebten Reform ein neues Feld: das des Wettbewerbs um bessere Leistungen, insbesondere was die Steigerung der Leistungen für chronisch Kranke angeht. Wir wollen im Rahmen des Gesetzentwurfs über den Risikostrukturausgleich, den wir in den nächsten Wochen in den Deutschen Bundestag einbringen werden, allen Kassen die Möglichkeit geben, so genannte DiseaseManagement-Programme, also Programme zur besseren Versorgung chronisch kranker Menschen, als gezielte Leistungsverbesserungen für Kranke zu entwickeln. Dafür schaffen wir finanzielle Anreize. Seit vergangener Woche liegt im Deutschen Bundestag dazu das Vorschaltgesetz vor, das übrigens nicht, wie einige behaupten - das will ich an dieser Stelle einmal erwähnen -, in diesem Jahr den Wechsel von einer Krankenkasse zur anderen völlig unmöglich macht. Wir wollen, dass für jeden ab dem 1. Januar 2002 jederzeit der Wechsel möglich ist und dass freiwillig Versicherte und gesetzlich Versicherte endlich gleichgestellt werden, was bisher nicht der Fall ist. ({14}) Wir schlagen dem Parlament damit eine wahre Deregulierung vor. Da dieser Ausdruck eines Ihrer Lieblingswörter ist, meine Damen und Herren von der Opposition, hoffe ich auf Ihre Unterstützung. Gesetzliche Krankenkassen können heute kaum steuern, ob und wie viele ihrer Mitglieder besonderer Leistungen bedürfen. Dem wollen wir Rechnung tragen, indem ab dem 1. Januar 2003 ein so genannter Risikopool eingerichtet wird, damit Kassen für die Behandlung chronisch Kranker einen finanziellen Ausgleich erhalten. Damit eröffnen wir den Wettbewerb um beste Leistungen. Wir setzen dies an die Stelle einer Konkurrenz um unrealistische und unsolidarisch niedrige Beiträge; denn - auch das ist eine zentrale Zielsetzung dieser Regierung - wir wollen stabile und die Lohnnebenkosten senkende Beiträge für alle und wir wollen Leistungssicherheit für alle Versicherten. Damit meinen wir auch die mehr als 50 Millionen Versicherten, die Mitglieder von großen Kassen sind und ihren Kassen treu bleiben wollen. ({15}) Ich bin froh, dass wir eine Lösung gefunden haben, die im Konsens mit allen großen und allen gesetzlichen Krankenkassen umgesetzt werden soll; das ist der einzige Weg, um voranzukommen. Nichtsdestotrotz benötigt das Gesundheitswesen darüber hinaus eine langfristige Stabilität. Obwohl jeder Bürger und jede Bürgerin Gesundheit als das höchste Gut einschätzt, ist die Höhe für die Aufwendungen ins Gerede gekommen. Wir haben Verständnis dafür, dass die Menschen das, was sie brauchen, gern preiswert erhalten möchten. Deshalb kommen wir nicht darum herum, uns zu bemühen, die Effizienz unseres Gesundheitswesens zu steigern, damit wir die Kosten des Gesundheitswesens und auch die Kosten der Arbeit begrenzen. Unter Effizienzsteigerung verstehe ich zwei Dinge: Das eine ist Qualitätssteigerung und das andere ist die Steigerung der Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen. Das, was Ihnen vorgelegt wird - die Aufhebung des Kollektivregresses bei der Unterschreitung oder Überschreitung der Arzneimittelbudgetgrenzen -, ist eben nicht etwas - manche sind dieser Auffassung -, was gegen dieses Ziel spricht. Wir wollen das Ziel nicht aufgeben; wir setzen vielmehr auf Instrumente, die geeignet sind, das angestrebte Kostenbewusstsein tatsächlich zu erreichen. Die Ärzte und Ärztinnen machen doch zu Recht geltend, dass es einer einzelnen Praxis nicht möglich ist, das Auftreten von Leistungen für die Patienten so zu steuern, dass die verordneten Arzneimittel einem errechneten Durchschnitt entsprechen. Ich muss leider so handeln, weil ich es in diesem Fall unter anderem mit einem Erbe aus Ihrer Ära zu tun habe. Die Budgetierung gibt es nämlich etwas länger, als die rot-grüne Regierungskoalition regiert. ({16}) Uns leuchtet unmittelbar ein, dass ein Arzt mit sehr vielen HIV-Infizierten oder mit sehr vielen Krebspatienten oder mit sehr vielen älteren, chronisch kranken Menschen entsprechende Arzneimittel verordnen muss. ({17}) Deshalb brauchen wir eine Regressregelung, die die Besonderheiten der einzelnen Praxis berücksichtigt. Wir werden im Laufe der nächsten Woche dem Deutschen Bundestag eine Neuregelung vorlegen, die den Einzelfall, die Besonderheiten der Patientenstruktur jeder Praxis und die medizinischen Notwendigkeiten, fairer einbezieht und die zum Beispiel eine Beratung mit dem Ziel kostenbewusster Behandlung und Verschreibung vorsieht und erst nach diesen Zwischenschritten zur finanziellen Sanktion für die Überschreitung des Ausgabenvolumens der einzelnen Praxis greift. Auch hier fordern wir Eigenverantwortung und nicht mehr kollektive Haftung. ({18}) Ich würde mich jedenfalls darüber freuen, wenn Sie alle, die Sie hier so begeistert rufen, aber auch die Partner der Selbstverwaltung, Ärzte und Krankenkassen, diesen Weg mitgehen würden, weil wir eine Versorgung der Patienten anstreben, bei der tatsächlich das, was der Einzelne braucht - zum wirtschaftlich günstigsten Preis - im Mittelpunkt einer Behandlung stehen wird und nicht mehr irgendwelche abstrakten Budgets. Konsens herrscht unter den Beteiligten im Gesundheitswesen bei der Festbetragsregelung für Arzneimittel. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich Kassen und pharmazeutische Industrie auf einen Weg einigen. Die gefundene Regelung erlaubt es, die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Ich sage hier ganz deutlich: Auch dies ist ein Beweis dafür, dass wir Ausgaben begrenzen können, ohne dass wir bei den Leistungen kürzen. Auch in Zukunft wird jedem das Arzneimittel zur Verfügung stehen, das er braucht, um wirklich gesund zu werden oder seine Schmerzen zu lindern. ({19}) Einspareffekte versprechen wir uns auch von der Aufhebung der immer noch herrschenden Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor. Die Bereitschaft in der Ärzteschaft wächst, insbesondere den diagnostischen Aufwand durch bessere Zusammenarbeit der Praxen in einer Region zu begrenzen. Das wird nicht zuletzt den Investitionsbedarf der einzelnen Praxen senken und damit die Einkommenssituation von niedergelassenen Ärzten verbessern. Es wachsen auch die Chancen der Patientinnen und Patienten, in vernetzten Systemen versorgt zu werden, und gleichzeitig werden die Kosten für die Krankenkassen verringert. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind zum Teil geschaffen und die Programme zur Bekämpfung chronischer Erkrankungen, die wir mit dem Risikostrukturausgleich auf den Weg bringen werden, werden diese Zielsetzung noch weiter verstärken. So hat die beschlossene Gesundheitsreform 2000 über diese integrierte Versorgung hinaus auch die Grundlagen für eine bessere Qualitätssicherung der gesundheitlichen Versorgung geschaffen. Es ist Sache der gemeinsamen Selbstverwaltung, nun an der Optimierung dieser Aufgaben zu arbeiten. Es geht jetzt darum, die schnellere Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxen der niedergelassenen Ärzte und in die Krankenhäuser hineinzutragen, und es geht auch um eine Intensivierung der medizinischen Weiterbildung in diesen Fragen. Es geht uns um Leitlinien für qualitätsgestützte Behandlungen, die den Einfluss der Ärzte nicht schmälern werden und mit denen wir Transparenz- und Qualitätssteigerungen zu wirklichen Merkmalen unseres Gesundheitssystems machen werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Qualitätssicherungsgesetz für die Pflege, das Ihnen zur Beratung vorliegt und das den gleichen Prinzipien verpflichtet ist. ({20}) Dieses Prinzip, liebe Kolleginnen und Kollegen, verfolgen wir auch, wenn wir den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation der Pflegenden bei der Betreuung demenzkranker Patienten einbringen werden. Auch dieses wichtige Aufgabenfeld wird die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode angehen. ({21}) Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen, bei dem es ebenfalls scheinbar einen Zielkonflikt zwischen Beitragsstabilität und Qualitätssicherung gibt. Auffällig und schwer zu rechtfertigen ist es, dass das geltende Selbstkostenerstattungsprinzip es zulässt, dass die gleiche Operation in dem einen Krankenhaus teurer ist als in dem anderen. Es liegt auf der Hand, dass dem unterschiedliche Erfolge bei der Bemühung um Wirtschaftlichkeit in den Krankenhäusern zugrunde liegen. Das System der Fallpauschalen, das wir einführen werden, wird die Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfen und die Leistungen angemessen vergüten. Das ist gut so und deshalb halten wir an dieser Entscheidung fest. ({22}) Es wird sehr viel darüber geredet, dass im Gesundheitswesen sehr viel Streit ist. Ich kann nach meinen bisherigen Erfahrungen feststellen, dass der Streit zwischen den Beteiligten im Gesundheitswesen allmählich der Einsicht weicht, dass es nicht anders geht, als dass wir zu Gesprächen zusammenkommen. Die Einsicht wächst, dass wir die Zukunft nur gemeinsam gestalten können. ({23}) - Ich wundere mich, dass Sie lachen, Herr Kollege Seehofer. Das, was Sie jetzt immer als Hinterzimmerpolitik zu verunglimpfen suchen, war doch das, was Sie mit den Petersberger Beschlüssen erreichen wollten, wobei Sie aber an Ihrem Koalitionspartner und an dem damaligen Bundeskanzler Kohl, der Sie zurückgepfiffen und zur Untätigkeit verdammt hat, gescheitert sind. ({24}) Deshalb kann es sein, dass Sie aufgrund eigener Erfahrungen das, was ich heute mache, als Quadratur des Kreises ansehen. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir lassen uns davon nicht entmutigen. Die Bereitschaft aller Beteiligten, die eigenen Positionen zum Wohl der Patientinnen und Patienten zu überdenken, ist erkennbar. Die Aussichten, die Sicherung, ja sogar die Verbesserung der Leistungen des Gesundheitswesens mit dem volkswirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Ziel stabiler Beiträge zu vereinbaren, wachsen Schritt für Schritt. Wir werden nicht aufhören, dieses Ziel mit Engagement und Einsicht anzustreben, um zu einer tragfähigen Reform für dieses Gesundheitswesen zu kommen. Einer der Schritte auf diesem Wege ist die Einrichtung des runden Tisches, den ich ins Leben gerufen habe und an dem wir mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen darum ringen werden, Lösungen zu finden, um dieses Gesundheitswesen zukunftsfähig zu machen und um Qualität und Wirtschaftlichkeit zu dem zu machen, was unser Gesundheitswesen bestimmen soll. Wir wollen evidenzbasierte Medizin zum Wohle der Menschen in diesem Lande. Dabei werden wir nicht stehen bleiben. Wir reden mit allen, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen und die an diesem runden Tisch sitzen, über die Vorschläge, die sie einbringen. Wir werden die Ergebnisse der Gespräche dann zur Grundlage der politischen Beratungen machen. Der runde Tisch ist nicht geschaffen worden, um aktuelle Probleme, die wir hier im Bundestag bereden, zu diskutieren, sondern er ist geschaffen worden, um zu versuchen, die widerstrebenden Interessen im deutschen Gesundheitswesen zu bündeln, und zu prüfen, ob wir nicht zum Wohle der Patientinnen und Patienten in diesem Lande zu gemeinsamen, belastbaren Lösungen kommen können. ({25}) Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Sich an dieser Arbeit kreativ und konstruktiv zu beteiligen, dazu fordere ich Sie auf. Die Menschen in unserem Lande brauchen Vertrauen in die Sicherheit und Qualität unseres Gesundheitswesens ({26}) und sie brauchen Vertrauen in die solidarischen Leistungen dieses Gesundheitswesens. Wir alle haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Maßnahmen umgesetzt werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Hören Sie auf, sich zu verweigern; beginnen Sie endlich mitzuarbeiten - zum Wohle der Menschen in diesem Lande und für ein besseres Gesundheitswesen! ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Gesundheitsreform der rot-grünen Koalition wurde 1999 verabschiedet. Mit dieser Gesundheitsreform wurden die Budgets in Deutschland wieder eingeführt. ({0}) Wenn man die damals gehaltenen Reden nachliest, dann wird man finden, dass diese Gesundheitsreform - die noch nicht einmal zwei Jahre alt ist - als die Lösung der Probleme des deutschen Gesundheitswesens dargestellt wurde. Nun haben wir heute gehört, dass wesentliche Elemente dieser Gesundheitsreform korrigiert werden, insbesondere was das Arzneimittel- und Heilmittelbudget betrifft. Liebe Frau Kollegin Schmidt, das, was wir heute gehört haben, ist keine kreative, innovative Gesundheitspolitik, sondern stellt ausschließlich eine Reparatur der eigenen Fehlleistungen dar, die Rot-Grün zu verantworten hat. ({1}) Das Problem des deutschen Gesundheitswesens besteht in der Tat nicht in dem Maße dessen, was Pflegekräfte und Ärzte täglich segensreich an medizinischer Hilfe, an Zuspruch für kranke Menschen leisten. Auch ich möchte den vielen Frauen und Männern im deutschen Gesundheitswesen für diesen täglichen Dienst und die Hilfe am kranken Menschen danken. ({2}) Aber das Problem des deutschen Gesundheitswesens liegt nicht in der Leistung dieser Menschen. Das Problem des deutschen Gesundheitswesens liegt in den politischen Rahmenbedingungen, die Rot-Grün diesen Menschen durch Reglementierung und Budgetierung täglich mitgibt. ({3}) Ich möchte hier auch einmal energisch widersprechen, wenn immer wieder behauptet wird, das deutsche Gesundheitswesen sei im internationalen Vergleich nur Durchschnitt oder schlecht. ({4}) Die Qualität der Dienstleistungen ist gut, die politischen Rahmenbedingungen sind miserabel. Der Vergleich, den der Sachverständigenrat der Bundesregierung angestellt hat und der besagt, das deutsche Gesundheitswesen sei deshalb schlecht, weil das Verhältnis zwischen Kosten und Lebenserwartung ungünstig sei, ist wissenschaftlich höchst zweifelhaft. Wenn man nur die beiden Parameter, Ausgaben für das Gesundheitswesen und Lebenserwartung der Menschen gegenüberstellt, sie international vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, die Deutschen liegen in der unteren Tabellenhälfte, bedeutet das ja, dass wir ein besseres Gesundheitswesen hätten, wenn wir 10 Milliarden DM weniger für Gesundheit ausgeben würden. Hören wir also deshalb auf mit einer solchen oberflächlichen Betrachtung. Die Menschen sehen das offensichtlich ganz anders; denn jährlich schließen 23 Millionen Menschen eine Versicherung ab, damit sie im Falle einer Auslandserkrankung nach Deutschland in die Obhut des deutschen Gesundheitswesens zurückgebracht werden. Dieses Grundvertrauen in das deutsche Gesundheitswesen konnte nicht einmal diese Regierung verändern. ({5}) Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Sie haben nach der Bundestagswahl 1998 eine verhängnisvolle, falsche Richtungsentscheidung getroffen. Sie haben sich für die Wiedereinführung der Budgets im deutschen Gesundheitswesen entschieden. Ich möchte darauf hinweisen - das ist der Unterschied zu den Gesprächen, die Sie führen -, dass wir nach Petersberg 1996 die Budgets für die ambulante - ärztliche und zahnärztliche - Behandlung aufgehoben haben, ({6}) dass wir die Budgets für die Krankenhäuser aufgehoben und der Selbstverwaltung Instrumentarien in die Hand geBundesministerin Ulla Schmidt geben haben, die Arznei- und Heilmittelbudgets aufzuheben. Sie haben uns für diese Richtungsänderung, die wir vor der Bundestagswahl eingeleitet haben - weniger staatliche Reglementierung und mehr Eigenverantwortung für alle Beteiligten -, gegeißelt. Sie haben das als Sozialabbau beschimpft ({7}) und haben unsere freiheitlichen Elemente nach der Bundestagswahl zurückgenommen. Am Anfang Ihrer verhängnisvollen Gesundheitspolitik stand eine völlig falsche Richtungsentscheidung. ({8}) Wir haben Sie vor einer solchen Richtungsentscheidung, nämlich eine einnahmenorientierte Gesundheitspolitik zu betreiben und den Beteiligten im Gesundheitswesen vorzuschreiben, sie dürften für kranke Menschen nur das ausgeben, was an Einnahmen für die Krankenkassen zur Verfügung steht, gewarnt. Wir haben Sie davor gewarnt, dass, wenn Krankheiten und ihre Behandlung budgetiert werden, dies zu einer Qualitätsverschlechterung und zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen führt. ({9}) Nicht nur wir, sondern viele Experten haben Sie gewarnt. Der ehemalige SPD-Fraktionschef Klose hat zu dieser angeblichen Gesundheitsreform, die 1999 verabschiedet wurde, gesagt: Mein Hauptproblem ist die Philosophie, die diesem Entwurf zugrunde liegt. ({10}) Da wird in starkem Maße reglementiert und man tut so, als ob es eine richtige, für alle Patienten anwendbare Medizin gebe. Die wird vorgegeben nach der Melodie: Wir sagen euch, nach welcher Methode die Ärzte zu behandeln haben. Ich - so Klose habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem Entwurf der rot-grünen Koalition zugrunde liegt. Es geht um die grundsätzliche Entscheidung, ob man auf Reglementierung oder auf mehr individuelle Eigenverantwortung setzt. ({11}) Das war der Grundfehler, den Sie 1998 nach der Bundestagswahl gemacht haben. Jetzt sind Sie unter dem Druck der Realität dabei, diesen Grundfehler Stück für Stück zu korrigieren. Die Kuriosität besteht darin, dass die SPD-Bundestagsfraktion die damalige Gesundheitsministerin der Grünen gezwungen hat, wieder Budgets einzuführen, und dass die jetzige SPD-Gesundheitsministerin die von der SPD durchgesetzten Budgets wieder aufhebt mit bitterer Miene bei den Grünen, wie man sieht. ({12}) Frau Schmidt, wir werden sehr Obacht geben, ob das, was Sie vorhaben und wozu ich noch etwas Konkretes sagen werde, in der Betonfacharbeiterriege der SPD hier im Bundestag am Ende auch durchzusetzen ist. Sie tun dies ja nicht aus Überzeugung. Sie tun dies, weil die im Gesundheitswesen angerichteten Schäden Sie mittlerweile dazu zwingen, Ihre Gesundheitspolitik zu korrigieren. ({13}) Denn es ist unzweifelhaft, dass sich die Qualität der medizinischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zweieinhalb Jahren erkennbar, massiv und signifikant verschlechtert hat. ({14}) Selbsthilfegruppen, Umfragen von seriösen Instituten und wissenschaftliche Langzeitstudien, zum Beispiel die der Bremer Universität, ({15}) kommen zu dem Ergebnis, dass die von Ihnen wieder eingeführte Budgetierung dazu geführt hat, dass chronisch Kranke in vielen Fällen - dies sind etwa 10 bis 20 Prozent - die notwendige medizinische Behandlung nicht mehr erhalten. Die Langzeitstudie der Universität Bremen kommt sogar zu folgendem Ergebnis: Jedem vierten Patienten wurde das notwendige Arzneimittel aus Budgetgründen nicht verordnet. ({16}) Viele Patienten kommen sich mittlerweile aufgrund der Budgetierung wie Bittsteller vor; dies ist eine beschämende Situation für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland. ({17}) Frau Gesundheitsministerin, die Deutsche RheumaLiga berichtet, dass die Budgets zu erheblichen Problemen führen und dass Patienten und Ärzte gleichermaßen verunsichert seien. Das Arzt-Patienten-Verhältnis leidet unter den ständigen Budgetdiskussionen. Die Frauenselbsthilfegruppe nach Krebs weist darauf hin, dass dringend notwendige Heilmittel wie Lymphdrainage und Krankengymnastik nicht mehr verordnet werden. ({18}) Nur noch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalten eine adäquate Schmerztherapie. Auch Kinder zählen bereits zu den Opfern der Budgets. Der Bundesverband für Logopädie, der Verband der Ergotherapeuten und der Berufsverband für Pflegeberufe weisen darauf hin, dass es eine zunehmende Verordnungszurückhaltung der Ärzte gibt. ({19}) - Das war jetzt der größte Widerspruch: Es liegt nicht an den Ärzten, sondern an den Budgets. Durch diese wird es den Ärzten verweigert, das medizinisch Notwendige zu tun. Das ist doch die Realität. ({20}) Diese Verbände weisen darauf hin, dass die Folgen dieser Verordnungszurückhaltung Entwicklungsstörungen bei Kindern seien. Der Verband der Krankenversicherten stellt fest, es sei eine Unverschämtheit, wenn die Krankenkassen behaupten würden, es gebe keine Rationierung. Bei vielen Diagnosen, zum Beispiel bei MS, Morbus Alzheimer und Schizophrenie, ist mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland eine Unterversorgung evident. Frau Schmidt, genau heute veröffentlicht der Vorsitzende des Sachverständigenrates bzw. der Konzertierten Aktion, der Ihr Chefberater ist, Professor Schwartz, eine Untersuchung, wonach Deutschland hinsichtlich der Sterblichkeit durch Herzinfarkt, Brustkrebs und Darmkrebs zurückfällt. ({21}) Deutschland landet nie in der Spitzengruppe und die Tendenz geht hin zu einer relativen Verschlechterung. Nein, nicht die Aufhebung der Budgets, wie wir sie betrieben und immer vertreten haben, sondern das Festhalten an den Budgets führt zu einer Zweiklassenmedizin in der Bundesrepublik Deutschland. ({22}) Was macht es denn für einen Sinn, wenn Sie, Frau Schmidt, hier auftreten und vom Recht der Patienten auf eine gesundheitliche Versorgung reden, aber tatsächlich eine Politik betreiben, die gerade chronisch Kranke von einer hochwertigen Medizin ausschließt? Ich bleibe dabei: Eine Selbstbeteiligung in Höhe von 5 DM pro Medikament mit einer Befreiung der Kinder und Kleinverdiener, wie wir sie vor der Bundestagswahl eingeführt haben, ist sozialverträglicher als eine hundertprozentige Leistungsausgrenzung aufgrund Ihrer Budgetpolitik. ({23}) Sie selbst schreiben in Ihrem Referentenentwurf, mit dem Sie jetzt den Versuch machen, die Arznei- und Heilmittelbudgets aufzuheben: Die bisherigen gesetzgeberischen Bemühungen zur Sicherung der wirtschaftlichen Verordnung von Arznei- und Heilmitteln im Wege einer Budgetsteuerung waren wenig erfolgreich. ({24}) Vor allem stießen sie auf erhebliche Umsetzungsprobleme. Diese betrafen sowohl die Akzeptanz bei den beteiligten Vertragsärzten bis hin zu Ansätzen eines resignativen Verhaltens oder einer sich verfestigenden Verweigerungshaltung. ({25}) Das stellen Sie jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Regierungsübernahme, fest! Das haben wir Ihnen vor und nach der Bundestagswahl ständig gesagt. Sie haben es immer als sozialen Kahlschlag, sozialen Abbau und Kniefall vor den Ärzten diffamiert. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren, rechnen Sie mit Ihrer eigenen Gesundheitspolitik in der bisherigen Regierungszeit ab. Das ist der Inhalt Ihrer Regierungserklärung. ({26}) Mit Ihrer Reglementierungs- und Budgetierungspolitik haben Sie kein einziges Problem im Gesundheitswesen gelöst, sondern neue Probleme geschaffen. Das Gleiche gilt für den Risikostrukturausgleich. Wir haben gemeinsam - wir sind froh darüber - am Ende des 20. Jahrhunderts ein Wahlrecht für die Versicherten des Inhalts eingeführt, dass sie ihre Krankenkasse frei wählen können. Es war ein erbitterter Kampf und das Ganze trat 1996 in Kraft. ({27}) Gleichzeitig haben wir einen Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen ins Leben gerufen, damit eine Krankenkasse für Risiken, die sie nicht verantworten kann - etwa überproportional viele chronisch Kranke -, einen Finanzausgleich bekommt. Dann haben wir hier noch vor der Bundestagswahl ein Gesetz mit einem Gutachtenauftrag verabschiedet, um Einzelheiten des Risikostrukturausgleichs zu optimieren und zu verfeinern. Hier geht es nicht um eine Ausweitung des Risikostrukturausgleichs. Man muss einmal darauf hinweisen, dass beinahe 10 Prozent der Gesundheitsausgaben in Deutschland auf den Ausgleich zwischen den Krankenkassen entfallen. ({28}) Versuchen Sie doch nicht, den Eindruck zu vermitteln, als würden die Krankenkassen Rosinenpickerei betreiben. Die Betriebs- und Ersatzkrankenkassen, die angeblich „gute Risiken“ haben, zahlen 23 Milliarden DM als Finanzausgleich an andere Krankenkassen. Das wollen wir nicht ausweiten. Diesen Finanzausgleich kann man gerechter gestalten. Wir haben per Gesetz einen Gutachtenauftrag erteilt, aber das Erste, was Sie nach der Wahl getan haben, war, diesen gesetzlichen Auftrag im Bundestag wieder zu kassieren. Dadurch sind Sie in Zeitverzug geraten. Bezogen auf die Verfeinerung des Risikostrukturausgleichs haben Sie in den letzten zweieinhalb Jahren nicht gehandelt. Jetzt haben Sie den Versicherten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zwei Tage bis zum Kabinettsbeschluss Zeit gegeben, um noch die Krankenkasse zu wechseln. Jetzt können sie das nicht mehr. Wenn Sie es mit Wettbewerb und Wahlfreiheit wirklich ehrlich meinen, warum kündigen Sie den Versicherten für das nächste Jahr Wahlrechte an, heben aber die bestehenHorst Seehofer den Wahlrechte durch Kabinettsbeschluss auf? Warum haben Sie das getan? ({29}) Ich prophezeie Ihnen, dass Sie große Schwierigkeiten haben werden. Sie brauchen den Bundesrat, um diese Wahlrechte und den Risikostrukturausgleich im nächsten Jahr in Kraft setzen zu können. Den Leuten ein Recht wegzunehmen, ohne ihnen das neue Recht bereits gegeben zu haben - das ist staatsorientierte Gesundheitspolitik dieser Regierung. Sie haben im Grundsatz die volle Unterstützung, ({30}) wenn Sie die Arznei- und Heilmittelbudgets aufheben. Wir werden gespannt abwarten, wie das Gesetz, das Sie einbringen, im Parlament behandelt wird ({31}) und wie es das Parlament verlässt. Obwohl dieser Schritt einen Paradigmenwechsel in der rot-grünen Gesundheitspolitik darstellt - das muss man einmal deutlich sagen; noch vor anderthalb Jahren sind wir massiv kritisiert worden, weil unsere Haltung gegen die Budgets angeblich zulasten der Versicherten und Patienten gehe - und im Grundsatz richtig ist, ist er doch nur halbherzig und hasenfüßig. Ich frage Sie: Wenn Sie doch erkannt haben, dass sich die Budgets gegen die Patienten richten, warum heben Sie dann die Budgets nur für Arznei- und Heilmittel auf, nicht aber für die ärztliche Behandlung, die zahnärztliche Behandlung und die Krankenhausbehandlung? Dort treten nämlich die gleichen Rationierungseffekte auf; ({32}) auch dort findet die notwendige medizinische Versorgung der Patienten aufgrund der begrenzten Finanzmittel in vielen Fällen nicht mehr statt. Wir werden Sie in den nächsten Monaten zwingen, hierzu im Parlament Farbe zu bekennen. - Das ist der erste Punkt. Wir werden hier die Aufhebung auch dieser Budgets beantragen; das haben wir zum Teil schon getan. Sie werden dann dokumentieren können, ob Sie es mit einer Korrektur in Richtung einer freiheitlichen, eigenverantwortlichen Gesundheitspolitik wirklich ernst meinen oder ob dies nur Beruhigungspillen für die Beteiligten im Gesundheitswesen sind. Der zweite Punkt: Was nützt die Aufhebung eines Budgets, wenn nicht gleichzeitig die notwendige Strukturreform im Gesundheitswesen in Angriff genommen wird? Ich prophezeie Ihnen eines, Frau Schmidt: Die Aufhebung der Budgets und das Unterlassen einer strukturellen Gesundheitsreform wird Ihnen auf beiden Seiten des Gesundheitswesen, also sowohl auf der Einnahmeseite als auch auf der Leistungsseite, noch vor der Bundestagswahl erhebliche Schwierigkeiten bringen. ({33}) Dies wird zu einem Druck auf die Beiträge und auf die Qualität der Leistungen führen. Es entspricht nämlich gewissermaßen einer organisierten Orientierungslosigkeit in der Gesundheitspolitik, wenn man ein Instrument wegnimmt, ohne den Menschen zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Das kann und wird nicht gut gehen. Dies ist ein ganz großer Mangel. Deshalb möchte ich unsererseits wiederum darauf hinweisen: Wir wollen weg von diesem staatsorientierten Gesundheitswesen und hin zu dem Dreiklang von Wettbewerb, Wahlfreiheit und Transparenz. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie uns heute gesagt hätten, ob Sie endlich bereit sind, das, was wir vor der Bundestagswahl in das Gesetz geschrieben haben, zu vollziehen: dass die Versicherten über die Leistung und die Kosten der Leistung einen Beleg bekommen; denn nur ein informierter Patient ist auch ein mündiger Patient. Dazu haben Sie heute nichts gesagt. ({34}) Auch sagen Sie nach wie vor nichts zu dem Element eines geordneten Wettbewerbs innerhalb des Gesundheitswesens zwischen Ärzten und Krankenkassen. Krankenkassen müssen künftig wie Serviceunternehmen und dürfen nicht wie Behörden geführt werden. Wenn Ärzte und Krankenkassen selbstständiger wirtschaften und ein eigenständiges Profil entwickeln können, werden sie noch besser. Wir müssen daher bei allen Beteiligten im Gesundheitswesen das Interesse zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung wecken. Das gilt sowohl für die Kartelle als auch für die Zünfte, die in diesem Bereich vorhanden sind. Wir müssen den Beteiligten mehr Spielräume geben; denn sie können vor Ort durch ihre Innovationskraft, ihre Kreativität vieles besser regeln als wir als Gesetzgeber durch Paragraphen. Wir müssen weg von dieser reglementierten, an Paragraphen orientierten Gesundheitspolitik. Frau Schmidt, Sie werden nicht umhinkommen, den Weg, den wir vor der Bundestagswahl beschritten haben - wir haben den Menschen schon damals die Wahrheit gesagt ({35}) und den Sie zwar im Grundsatz, aber handwerklich miserabel in der Rentenreform verfolgt haben, auch in der Gesundheitspolitik weiterzugehen, nämlich den Menschen zu sagen: Das oberste Ziel, eine hochwertige Medizin für alle Menschen ohne Ansehen des Alters und des Standes - das muss unser sozialpolitisches Ziel bleiben -, ist nicht durch mehr Paragraphen zu erreichen, sondern nur dadurch, dass wir definieren, was als Regel- und Kernversorgung künftig solidarisch zu finanzieren ist. Wir müssen den Menschen aber auch sagen, dass eine hochwertige Medizin für alle nur dann möglich ist, wenn Wahlfreiheit und Eigenverantwortung hinzukommen. Denn mit gleich bleibenden Mitteln ist eine hochwertige Medizin für alle in der Zukunft aufgrund des medizinischen Fortschritts und der steigenden Lebenserwartung nicht zu erreichen. Solange Sie dieser Wahrheit ausweichen, werden Sie den Weg in die Zweiklassenmedizin weiter befördern, Frau Schmidt. Das wollen wir nicht. Wir wollen mehr Eigenverantwortung, weniger Staat, mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und weniger Gesundheitsbürokratie. Dann können wir das Ziel einer hochwertigen und auch sozial verantwortlichen Medizin erreichen. ({36}) Nun erklären Sie: Wir reden miteinander. - Das ist so durchsichtig, dass wir das natürlich durchschauen. Sie haben aus dem Kanzleramt ganz offenkundig den Auftrag erhalten, dass bis zur Bundestagswahl im Gesundheitswesen nichts mehr passieren darf. Das einzige Programm in der Gesundheitspolitik heißt Stillstand. Sie dürfen keine Wellen schlagen und müssen alle beruhigen. Frau Schmidt, Sie sind im Kern eine wandelnde Beruhigungspille. ({37}) Sie gehen durch das Land und sagen allen: Sie haben Recht und auch ihr habt Recht. - Es wird aber überhaupt nicht erkennbar, wohin es mit dem deutschen Gesundheitswesen geht. Was Sie machen - ich nehme einmal Anleihe aus dem Gesundheitswesen -, ist lediglich Linderung und Schmerztherapie, nicht aber Heilung. Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, Frau Schmidt, dass Sie sich bis zur Bundestagswahl durchmogeln und nach der Bundestagswahl die Menschen mit Ihrer Reglementierung und Budgetierung wieder überfallen - falls Sie überhaupt die Mehrheit bekommen. Wir werden uns mit unserem sozialverantwortlichen und freiheitlichen Konzept bemühen, Ihnen eine Alternative gegenüberzustellen. Die Realität, Frau Schmidt, hat uns Recht gegeben. Ihre Politik hat zu einer massiven Qualitätsverschlechterung geführt, insbesondere für jene, die das Gesundheitswesen ganz besonders brauchen, nämlich die chronisch Kranken. Sie haben uns gescholten, dass unser Weg unsozial sei. Jetzt zwingt Sie die Realität Stück für Stück auf den Weg, den wir schon immer vertreten haben. Ich habe meine Zweifel, ob Sie den Weg, den Sie vielleicht im Herzen tragen - das möchte ich Ihnen gar nicht absprechen -, bei den Betonfacharbeitern Ihrer Fraktion wirklich durchsetzen können. Wir werden dafür sorgen, dass Sie Gelegenheit bekommen, dies durch Abstimmungen zu dokumentieren. Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie vor der nächsten Bundestagswahl den Menschen erneut verschweigen, wohin die gesundheitspolitische Reise bei dieser Koalition gehen soll. Die Gesundheitspolitik ist die Achillesferse dieser Regierung. Wir werden das deutlich machen, sodass die Menschen dies merken. Herzlichen Dank. ({38})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Seehofer, wer Ulla Schmidt kennt - Sie kennen sie eigentlich recht gut -, der weiß: Wenn man versuchen würde, ihr Befehle zu erteilen, bräuchte man wahrscheinlich selber eine Beruhigungspille. Denn was einem da entgegenkäme, wäre sicher sehr, sehr aufregend. Das ist nicht das Markenzeichen der Politik Ulla Schmidts: Befehle zu empfangen und sie umzusetzen. Sie will - das haben wir heute gehört - Politik gestalten. ({0}) Wenn wir über die Weiterentwicklung der Gesundheitspolitik reden, sollten wir aus meiner Sicht zwei Dinge auseinander halten, nämlich die Qualität der Versorgung und die Maßstäbe, die wir daran anlegen, und die Frage der Ausgabenpolitik. Alle, die dies für zwei Seiten einer Medaille halten, sollten wissen, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist. Ja, wir brauchen Qualität, Transparenz und Kostenbewusstsein. Dafür müssen wir wissen: Wer sind die Hauptakteure im System? Sind das die Krankenkassen? - Nein. Sind das die Ärzte und Krankenhäuser? - Nein. Hauptakteure sind die Versicherten, die Patientinnen und Patienten. ({1}) Die rot-grüne Bundesregierung hat es zum ersten Mal geschafft, die Versicherten in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stellen. Die Patienten sind nicht länger Objekte, für die etwas entschieden wird, sondern gleichberechtigte Partner. Allerdings sind wir noch längst nicht bei einem partnerschaftlichen Dreiecksverhältnis zwischen Patienten und Versicherten, Krankenkassen und Ärzteschaft angekommen. Verantwortliche Politik wird diese Entwicklung weiter vorantreiben müssen, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Erstens. Die Frage, wie hoch die Beiträge der Versicherten für die gesetzliche Krankenversicherung sind, ist nicht nur, aber auch für den Arbeitsmarkt relevant. Sie entscheidet darüber, ob Solidarität innerhalb des Systems wirklich funktionieren kann. Deswegen werden wir - auch wenn wir richtigerweise über Instrumente reden und sie weiterentwickeln - nicht infrage stellen dürfen, dass die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger, die sie heute schon in Form von Beiträgen, Steuern und Abgaben zu tragen haben, nicht mehr erhöht werden dürfen. Zweitens. Wenn wir wollen, dass sich Versicherte - Patientinnen und Patienten - bewusst entscheiden, müssen wir sie in die Lage versetzen, eigenverantwortlich zu handeln. Nur so können Prävention und Gesundheitsförderung tatsächlich funktionieren. Die individuelle Kompetenz eines Jeden und einer Jeden muss gestärkt werden und das System muss für den Einzelnen endlich durchschaubar werden. ({2}) Dazu gehört unter anderem eine umfangreiche unabhängige Beratung, dazu gehören Anreize, Krankheiten zu vermeiden, eine gesunde Lebensweise zu praktizieren, und dazu gehört, bei Krankheiten Wahlmöglichkeiten zu erfahren und selbst entscheiden zu können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Göring-Eckardt, wenn Sie die Prävention so besonders hervorheben - in diesem Ziel sind wir ja sicherlich einer Meinung -, können Sie mir dann bitte einmal sagen, was Ihre Regierung tun wird, damit diese eine Mark pro Versicherten, die für Selbsthilfeförderung ausgegeben werden soll, nun wirklich wenigstens annähernd ausgegeben wird? Wir alle wissen, dass im vergangenen Jahr der ausgegebene Betrag zwischen 17 und 20 Pfennig lag. Die Selbsthilfegruppen brauchen aber - das wissen Sie so gut wie ich - jeden Pfennig, erst recht die 80 Pfennig, die noch fehlen, dringend, um genau das, was Sie gerade gesagt haben, so qualitativ und flächendeckend zu erreichen, wie es nötig wäre. Was wollen Sie tun? Wird endlich ein Pool gebildet oder was auch immer, damit diese Mark tatsächlich ausgezahlt wird?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Seifert, ich bin wie Sie der Meinung, dass wir dafür sorgen müssen, dass das, was wir beschlossen haben und was wir angekündigt haben, auch in die Realität umgesetzt wird. ({0}) Ich glaube, dass die sehr intensiven Gespräche, die hierzu mit den Krankenkassen und den anderen Beteiligten geführt werden, dazu führen werden, dass die Entwicklung, die damit angestoßen worden ist - so ist nun einmal der Verlauf, wenn man neu mit solchen Regelungen beginnt -, schneller vorangeht, was wir uns sicherlich alle gemeinsam wünschen. ({1}) Drittens. Prävention ist für das Gesundheitswesen - die Vorredner haben darauf hingewiesen - jetzt und in Zukunft von enormer Bedeutung. Deswegen müssen wir mit dem Kurs von Vorbeugung und Vorsorge - beides gehört zusammen - fortfahren. Viertens. Neben der Prävention, die dem Ziel dient, die Realisierung von Gesundheitsrisiken zu verhindern, müssen die physischen und psychischen Ressourcen gefördert werden, Krankheiten zu bewältigen. Prävention und Gesundheitsförderung müssen Hand in Hand gehen. Eben genau aus diesem Grund ist die Gesundheitsförderung wieder in den Leistungskatalog aufgenommen worden. Bei Volkskrankheiten wie Diabetes sieht man sehr gut, wie notwendig das ist. Herr Seehofer, Sie haben ja zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland bei einer Reihe von Erkrankungen nicht so weit sind, wie wir eigentlich sein wollen und auch sein sollten. Der Ansatz, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen und dabei nicht nur über die Finanzierung des Systems zu reden, sondern auch darüber, wie wir hier wieder vorankommen, wie wir zum Beispiel mit Aktionsprogrammen, mit schnellem Handeln diese Erkrankungen - eine Reihe von Krebserkrankungen gehören dazu - in Deutschland von der Qualität der Versorgung, von der ganzheitlichen Versorgung her bearbeiten können, ist der richtige Weg. Dafür ist so etwas wie der runde Tisch nach meiner Meinung ein richtiges Instrument, weil er deutlich macht: Hier geht es um Zusammenarbeit und um einen Wettstreit der Ideen. Lassen Sie mich noch einmal bekräftigen, dass die Senkung der Lohnnebenkosten und die stabilen Beitragssätze weiterhin zentrale Zielsetzung sind. Darin sind wir uns auch einig. Das Festbetrags-Anpassungsgesetz ist ein Beispiel für das Bestreben, hier weiterzukommen. Frau Schmidt hat auf die Einführung der Fallpauschalen und auf den RSA hingewiesen. Herr Seehofer, Sie können natürlich so weitermachen, dass Sie den Leuten suggerieren, sie hätten auf einmal schlechtere Wechselbedingungen, was das Krankenkassenwahlrecht angeht. Sie wissen genau, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Verbesserungen eingeführt werden und dass unser Kassenwahlrecht verbraucherfreundlicher sein wird als alles, was wir in der Vergangenheit hatten. Wenn man gemeinsam Fehler macht, dann sollte man nicht am Ende versuchen, daraus Kapital zu schlagen, sondern sollte diese Fehler gemeinsam beheben. Dazu kann ich Sie nur auffordern. ({2}) Unsere finanziellen Mittel sind begrenzt, auch wenn sie im Umfang zunehmen werden. Deswegen müssen wir uns überlegen, wofür wir jetzt und in Zukunft Geld ausgeben. ({3}) Wir müssen uns einer ehrlichen Diskussion stellen, die benennt, was im System überflüssig ist; ein jeder von uns kennt Mehrfachuntersuchungen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in dieser Frage mit Restriktionen und Appellen nicht weit kommen. Es wird fast immer eine Begründung dafür gefunden werden können, warum bestimmte Maßnahmen notwendig sind. Hier helfen nur mündige Patientinnen und Patienten, die selbst entscheiden und bestimmen können, was notwendig und sinnvoll ist, die von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt gut beraten werden, die aber auch unabhängige Informationen erhalten und verwenden können. Dennoch glaube ich, dass wir uns nicht dauerhaft der Frage verschließen können, wie der Leistungskatalog der GKV künftig aussehen soll. Wenn wir medizinisch notwendige Maßnahmen - insofern besteht ein Unterschied zu dem, was Sie, Herr Seehofer, zu Grund- und Regelleistungen gesagt haben; in diesem Punkt stimme ich nicht mit Ihnen überein ({4}) für alle erhalten und solidarisch finanzieren wollen, lohnt es sich, darüber zu sprechen, welche zusätzlichen Leistungen zur freien Wahl der Versicherten stehen können. Dazu gehört dann auch, nur Beitragsleistungen anzubieten, die beitragsfinanziert sind. Mittelfristig muss die Krankenversicherung - ebenso wie wir das bei der Rentenversicherung gemacht haben - von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden. ({5}) Wenn wir in diesem Zusammenhang über Gesundheitsziele und Qualitätsmanagement sprechen, muss darauf hingewiesen werden, dass es auch darauf ankommt, ressortübergreifend die gesundheitliche Situation zu verbessern. Das geht - auch wenn es banal klingen mag von Maßnahmen im Straßenverkehr bis hin zum Schlaumachen der Kinder in einem Fach Gesundheitserziehung. Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ ist hierfür beispielgebend und nachahmenswert. Die Umsetzung der GKV-Gesundheitsreform und vor allem die Umsetzung der in der Gesundheitsreform beschlossenen Qualitätsverpflichtungen für die Leistungsempfänger müssen vorangetrieben werden. Der Sachverständigenrat hat uns ja aufgefordert, gerade in Bezug auf die integrierte Versorgung tätig zu werden. An diesem Punkt werden wir weiter arbeiten. Das Pflegequalitätssicherungsgesetz ist hierzu ein wichtiger Schritt. Wir dürfen nicht nachlassen, das Gesundheitssystem zu modernisieren. Die rot-grüne Regierung hat mit der Regierungsübernahme die Weichen neu gestellt. Die Reparaturarbeiten, Herr Seehofer, finden nicht an dem, was wir gemacht haben, sondern an dem, was Sie uns hinterlassen haben, statt. ({6}) Wenn wir über Qualität und die Stellung der Versicherten bzw. Patienten reden, stellt sich die Frage nach Kompetenz - an erster Stelle -, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sowie nach solidarischer Finanzierung. Nur so kann die Durchsetzung dieser Ziele gewährleistet werden. Dies wird für Bündnis 90/Die Grünen bei weiteren Reformschritten im Mittelpunkt stehen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Koalition taumelt zwischen Staatsmedizin und sozialer Marktwirtschaft. ({0}) Anfänglich hatte ich geglaubt, die Ministerin würde sich Worten wie Patientensouveränität, Wettbewerb oder Wahlfreiheit nähern. Aber mittlerweile muss ich feststellen: Sie fällt wieder in alte Überlegungen zurück - eigentlich sehr schade! Auf der anderen Seite zwingt die Wirklichkeit sie zu handeln. Wir haben - Horst Seehofer hat es sehr eindrucksvoll gesagt - 1998 einen Wechsel herbeigeführt, mit vielen liberalen Bestandteilen. Das war richtig, weil es - davon bin ich fest überzeugt - keinen anderen Weg gibt. ({1}) Eine Säule Ihrer Staatsmedizin, die Budgetierung, wollen Sie jetzt einreißen. Sie machen das aber nur halbherzig: Sie wollen die Budgetierung bei Arznei- und Heilmitteln abschaffen und glauben, Sie könnten die Budgetierung in anderen Bereichen weiter etablieren, an ihr als tragender Säule der Gesundheitspolitik weiter festhalten. Das wird nicht funktionieren, und zwar deshalb, weil die Patienten das nicht mitmachen werden. Ich finde es gut, dass Sie die Budgetierung im Arzneimittel- und Heilmittelbereich zum Wohle der Patienten beseitigen wollen. Aber ich würde es auch vernünftig finden, wenn Sie sagen würden: Wir diskutieren auch über die Beseitigung der Budgetierung im ärztlichen und zahnärztlichen Bereich ({2}) sowie im Krankenhausbereich. An die Adresse vor allem der Politiker Ihrer Fraktion, die aus Ostdeutschland stammen, sage ich: Schauen Sie sich die Situation der ostdeutschen Ärzte einmal genau an! Die Situation dort ist so dramatisch, dass selbst freie Zahnarztpraxen in den neuen Bundesländern aus finanziellen Gründen nicht mehr übernommen werden. Wenn Sie Informationsveranstaltungen in den neuen Bundesländern machen und mit den Ärzten und den Patienten reden, dann wissen Sie, dass Ärzte in den neuen Bundesländern zu Honoraren arbeiten müssen, mit denen sich noch nicht einmal die Kosten decken lassen. Sie zerstören in den neuen Bundesländern zunehmend die Freiberuflichkeit. ({3}) Zu diesen Auswirkungen Ihrer Gesundheitspolitik haben Sie, Frau Schmidt, überhaupt nichts gesagt. Wer solKatrin Göring-Eckardt len die Träger Ihrer Gesundheitspolitik sein? Sollen es Freiberufler oder Staatsmediziner sein? Dies ist die entscheidende Frage der Zukunft. ({4}) Wohin eine Staatsmedizin führt, wissen wir aus Schweden und England. Sie sind dabei, eine solche Staatsmedizin zu etablieren. ({5}) - Hören Sie auf; Sie haben doch keine Ahnung! ({6}) Sie haben mit der Budgetierung die Freiberuflichkeit weitgehend zerstört. Sie glauben - das ist ein weiterer wichtiger Punkt Ihrer Gesundheitsreform -, Sie könnten den Wettbewerb intensivieren, wenn Sie das Kassenwahlrecht unter anderem durch Einführung eines Mindestbeitragssatzes neu regeln. Über einen Maximalbeitragssatz hätten wir diskutieren können. Aber wenn Sie jetzt einen Mindestbeitragssatz festschreiben und so die echte Wahlfreiheit bis nach den Bundestagswahlen abschaffen, in dem Glauben, dadurch die finanzielle Basis der großen Versorgungskassen zu sichern, merkt doch jeder, welches Spiel Sie treiben: Sie belügen und betrügen die Patienten bezüglich der Wahlfreiheit. ({7}) - Ich sage das so deutlich. Da gibt es kein Entkommen! ({8}) Sie könnten das Problem anders lösen, wenn Sie Mut hätten. Aber Sie haben keinen Mut, eine echte Reform durchzuführen. Sie verschieben ja alles. Wenn Sie den Mut hätten, bei den Vertragsgestaltungsmöglichkeiten größere Freiheiten zu erlauben, dann müssten Sie keinen Mindestbeitragssatz einführen und würden die Probleme über wettbewerbliche Strukturen lösen. Ich möchte Ihnen das an einem für den Krankenhausbereich typischen Beispiel deutlich machen. Warum haben Sie nicht den Mut, die einheitliche Vertragsgestaltung im Krankenhausbereich aufzuheben? ({9}) Wenn Sie das täten, könnten die großen Versorgungskassen ihre Leistungen zu niedrigeren Preisen einkaufen als kleine Krankenkassen, die nur wenige Leistungen einkaufen. Sie könnten so den Wettbewerb etablieren, dadurch Veränderungen herbeiführen und die Beitragssätze stabilisieren. Aber dazu haben Sie nicht den Mut. Sie wollen stattdessen mit planwirtschaftlichen Elementen das bisherige System aufrechterhalten. ({10}) Sie hoffen, mit den DRGs schnell zu einer Lösung zu kommen. Aber wenn Sie die Praxis kennen, dann wissen Sie, dass darüber nur geredet und nicht gehandelt wird. Das ist das Problem. ({11}) Sie wissen doch schon heute, dass die DRGs nicht zum geplanten Zeitpunkt, sondern erst viel später eingeführt werden können. Ich bin zwar für die Einführung der DRGs. ({12}) - Ja, aber wir wollen die DRGs nicht wie Sie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Budgets einführen. Wir wollen die DRGs als echte Preise. Das ist der himmelweite Unterschied zu Ihnen. Sie haben noch weitere Ideen: Qualitätssicherung eine prima Idee! ({13}) Aber Sie können dieses Thema nur etablieren, wenn Sie auch dafür sorgen, dass wir ausreichend Pflegekräfte in den Krankenhäusern haben. Wie ist denn heute die Situation? Teilweise gibt es doch überhaupt keine Nachwuchspflegekräfte in diesem Bereich. Es wäre gut, wenn Sie über Informationskampagnen diesen Beruf aufwerteten, damit wir diese Qualität, die wir fordern, auch erreichen. Sie schaffen es nicht! Schauen Sie sich die großen Krankenhäuser an, meine Damen und Herren: Gerade in den Ballungsgebieten gibt es mittlerweile einen großen Bedarf an Pflegekräften, der in Deutschland nicht aufgefangen werden kann. ({14}) Meine Damen und Herren, Ihre Politik geht weiter in die völlig falsche Richtung. Ihre Staatsmedizin wird scheitern und wir mit unseren liberalen Gedanken werden uns letztlich durchsetzen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich bin froh, dass Sie nicht Gesundheitsminister werden können. ({0}) Aber zum Thema: Es war der Grundfehler der Gesundheitsreform 2000, dass die volkswirtschaftliche Kennziffer „Beitragsstabilität der GKV“ zu einer Art Dogma in der Gesundheitspolitik erhoben wurde. An den daraus folgenden rigorosen Budgetierungen und der falschen Annahme, große Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen zu können, ist sie letztlich auch gescheitert. ({1}) Aber diese Gesundheitsreform hatte auch einen großen Vorzug. Das Solidarsystem sollte in allen wesentlichen Grundlagen erhalten werden. Jetzt aber erleben wir - und das waren unsere Befürchtungen von Anfang an -, dass jene Oberwasser bekommen, die schon immer ein anderes Gesundheitswesen wollten, ein Gesundheitswesen, das mit Privatisierung, Entsolidarisierung und mit rücksichtsloser Ökonomisierung medizinischer Arbeit an Stelle von Humanität verbunden ist. ({2}) Natürlich hat die SPD bisher im Wesentlichen dafür gestanden, solchen Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben. ({3}) Auch Sie, Frau Ministerin, haben Ihre heutige Erklärung unter das schöne Motto „Vertrauen und Solidarität“ gestellt. Ich habe mit Interesse in der „FAZ“ gelesen, dass Sie die Krankenversicherung nicht auf eine Grundversorgung reduzieren wollen. Sie haben das auch heute wieder bestätigt. Aber wie verträgt sich das mit den Äußerungen von Bundeskanzler Schröder und anderen SPDPolitikern, dass es auch im Gesundheitswesen nicht mehr ohne zusätzliche individuelle Zahlungen der Versicherten gehen wird? Wie ist das mit Ihren Aufforderungen an die Gesundheitsberufe in Einklang zu bringen, sich nicht mehr allein auf die Einnahmen der GKV zu verlassen, und wie verträgt sich das alles mit Ihren wiederholten Angeboten an die Union für eine erneute große Koalition im Gesundheitswesen? Hier, Frau Ministerin, liegen entscheidende Unklarheiten Ihrer Politik. Diesbezüglich schulden Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit wesentlich eindeutigere Erklärungen. ({4}) Andernfalls werden Sie, Frau Ministerin, entgegen all Ihren Absichten, kein Vertrauen schaffen und auch Solidarität nicht gewährleisten können. Im Übrigen wird ein konsensorientierter politischer Stil, wie Sie Ihn pflegen wollen, allein nicht weiterhelfen. Das Streben nach Dialog ist gut und der richtige Weg. Aber wer den Dialog sucht, muss vorher klare und vor allem eigene Vorstellungen zur Lösung der Probleme haben. In einen Dialog mit knallhart interessengeleiteten Gesprächspartnern zu gehen, um dann zu sehen, was am Ende herauskommt, davor, Frau Ministerin, kann man nur warnen! ({5}) Das Gesetz zur Anpassung der Arzneimittelfestbeträge ist ein anschauliches Beispiel dafür. Natürlich ist zu begrüßen, dass Sie die vertrackte Sache zügig angepackt haben. Dass dann aber eine erhebliche Absenkung der Einsparbeträge zugunsten der Pharmaindustrie herausgekommen ist und beinahe so etwas wie ein Festbetragsabschaffungsgesetz über die Bühne gehen sollte, ist nicht als erfolgreiche Gesundheitspolitik zu werten. Es ist, gelinde gesagt, eine ziemliche Katastrophe. ({6}) Auf solche Weise werden Sie die notwendigen Strukturveränderungen kaum voranbringen können. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Kosten wieder rascher steigen und das Ziel der Beitragsstabilität, das auch von Ihnen beschworen wird, nicht zu halten ist. Um hier nicht missverstanden zu werden: Mit wachsenden Kosten des Gesundheitswesens, die zu großen Teilen auf objektiv steigenden Bedarf zurückgehen, muss die Gesellschaft leben lernen. Für uns verbindet sich damit aber nicht der Untergang des Abendlandes. Im Gegenteil, ein modernes Gesundheitswesen ist - auch bei ernsthaftem Streben nach mehr Effektivität - ein dynamischer Wachstumssektor, dessen Entwicklung nicht ungestraft stranguliert werden darf. Die entscheidende Frage künftiger Gesundheitspolitik liegt also keineswegs darin, ob die gesellschaftlichen Aufwendungen über die Grundlohnsumme hinaus steigen dürfen oder nicht. Sie liegt in der Art und Weise, wie diese wachsenden Mittel aufgebracht werden. Das, Frau Ministerin, ist die zentrale Herausforderung, vor der Sie heute und gegebenenfalls auch in der nächsten Legislaturperiode stehen. Von uns können Sie immer dann Unterstützung erwarten, wenn es um die notwendige Erneuerung der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitswesens im Sinne von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit geht. ({7}) Mit gleicher Konsequenz aber werden wir einem Kurs in Richtung Entsolidarisierung, Deregulierung und Liberalisierung entgegentreten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Regina Schmidt-Zadel, SPD-Fraktion, das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Ihre Regierungserklärung hat gezeigt, dass die Gesundheitspolitik der Koalition eindeutig die Richtung verfolgt, die optimale Versorgung von kranken Menschen sicherzustellen. Dies stellen Sie in den Mittelpunkt Ihres politischen Handelns und dafür sage ich Ihnen ganz herzlichen Dank. ({0}) Ich bin Ihnen auch für Ihr entschlossenes Handeln dankbar. Ganz ausdrücklich begrüße ich es, dass Sie im offenen Dialog mit allen an unserem Gesundheitssystem Beteiligten nach Lösungen für die notwendigen Veränderungen suchen. Lassen Sie sich von den Schreiern, die unser Gesundheitssystem fast an die Wand gefahren haben, nicht irritieren! ({1}) Gerade von jemandem, der in der Regierung Kohl in verantwortlicher Position vieles zu dem beigetragen hat, was wir heute reparieren müssen, lassen wir uns hier nicht beschimpfen und in die Enge treiben. ({2}) - Ja, legen Sie ruhig die Hand ans Ohr. Die Menschen können nur sehr schwer nachvollziehen, dass jemand, der sechs Jahre lang Minister war und in dieser Zeit bestimmte Dinge nicht getan hat, diese jetzt ungeniert einfordert, Herr Seehofer. ({3}) Es ist auch Ihre Hinterlassenschaft: Heute haben wir den Flurschaden zu bereinigen, den Sie zu verantworten haben. ({4}) Wer im Gesundheitswesen - das haben die Wahlergebnisse gezeigt, Herr Dr. Thomae; weiter will ich auf Ihre Rede gar nicht eingehen - gelogen und betrogen hat, ({5}) das haben die Menschen registriert. Sie haben es bei der Bundestagswahl 1998 mit der Abwahl der alten Regierung quittiert. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wissen, dass die Bundesrepublik in vielen Ländern um ihr solidarisches Krankenversicherungssystem beneidet wird. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ({7}) - wer gelogen hat, habe ich dir gerade erzählt - haben von Anbeginn unserer politischen Arbeit für dieses System gekämpft und werden das auch weiterhin tun. Solidarität, das gemeinsame Handeln, die Hilfe der Starken für die Schwachen sind und bleiben unverrückbar der Kern unseres politischen Handelns. ({8}) Wir werden aktiv an den notwendigen Veränderungen unseres Gesundheitssystems mitarbeiten - die Frau Ministerin hat in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen und sehr darauf achten, dass die Solidarität in diesem Prozess erhalten bleibt. Auf welche Herausforderungen werden wir uns in den nächsten Jahren einstellen müssen? Zum einen ist es der begrüßenswerte Wandel und Fortschritt in der Medizin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren mussten die Menschen noch Angst haben, an Tuberkulose und Wundfieber zu sterben; heute ängstigen uns unter anderem Alzheimer und Krebs. Die große Herausforderung an den Medizinbetrieb zu Beginn dieses Jahrhunderts stellen die chronischen Krankheiten vor allem älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch jüngerer Menschen dar. Damit sind wir schon beim zweiten wichtigen Punkt angelangt: der Wandel in der Bevölkerungsstruktur. Wir alle leben heute - Gott sei Dank - statistisch gesehen länger als frühere Generationen. Wir sind uns alle bewusst, dass das seinen Preis fordert und wir vor großen Herausforderungen stehen, wenn dann noch die Zahl der jüngeren Menschen, die den Generationenvertrag mitfinanzieren, abnimmt. Auch das ist uns allen klar. Ich bin mir aber sicher, dass wir hierfür mit dem von den Koalitionsfraktionen eingeschlagenen Weg ({9}) Lösungen finden können. Das werden Sie sehen. - Wir werden nicht scheitern, sondern Ihnen beweisen, dass wir tragfähige Lösungen für die Probleme haben. ({10}) Nun zu den konkret anstehenden Änderungen: Die wichtigste - das wurde ja auch von Ihnen heute schon angesprochen - betrifft die heilige Kuh der Kollektivhaftung; so will ich es einmal nennen. Für das Instrument des Kollektivregresses sind auch Sie, Herr Seehofer, während Ihrer Amtszeit lange eingetreten. ({11}) Den Mut, es abzuschaffen, haben Sie nicht aufgebracht. ({12}) Wir bringen ihn auf. Wie Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird zurzeit die Abschaffung des Kollektivregresses vorbereitet. Die Ministerin ist darauf eingegangen. Die Verantwortung - da sollten Sie gut hinhören wird in die Hände der Ärzte und Krankenkassen gelegt werden. ({13}) In diesem Vorhaben kommt ein großer Vertrauensvorschuss insbesondere gegenüber der ärztlichen Selbstverwaltung zum Ausdruck. ({14}) - Wir haben uns viele neue Vorhaben auf die Fahne geschrieben; passen Sie einmal auf. Eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich nach Abschaffung des Kollektivregresses wäre eine große Niederlage für die Kassenärztlichen Vereinigungen auf ihrem Weg weg von staatlich verordneter Reglementierung, den Sie ja heute so beklagen; dass er eingeschlagen wurde, dafür tragen aber Sie selber auch Verantwortung. Ich möchte hier noch einmal betonen, ({15}) dass nach wie vor das gesetzlich verbriefte Gebot der Beitragsstabilität gilt. Die Verschreibung von Arzneimitteln - aber nicht nur sie, sondern auch die Verordnung von pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen - muss in Zukunft noch mehr vom Gesichtspunkt der Qualitätssicherung bestimmt werden. Hierin sind sich alle Beteiligten einig. Ich denke, das haben auch die Vorredner gezeigt. Die Begriffe „Qualität“ und “Qualitätssicherung“ wurden von vielen in den Mittelpunkt ihrer Reden gestellt. Es ist höchste Zeit, dass diese Begriffe nicht nur als Kampfinstrumente zur Durchsetzung eigener Interessen verwandt, sondern mit Inhalten gefüllt werden. Leider vergeht kein Tag, an dem wir nicht von neuem von Qualitätsdefiziten in Medizin und Pflege lesen und hören. Es darf nicht sein - ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alle in diesem Hause einig -, dass alte Menschen in deutschen Pflegeheimen nicht ordnungsgemäß versorgt werden oder gar Pflegefehler dazu führen, dass sie sterben. Es darf ebenso wenig sein, dass viel zu viele Röntgenuntersuchungen in Deutschland vorgenommen werden; nahezu jede zweite ist nämlich überflüssig. ({16}) - Lesen Sie es doch nach; Sie können doch lesen, Herr Seehofer. - Weitere Beispiele sind Ihnen bekannt. Warum sage ich Ihnen das? ({17}) Solche Fälle schaden nicht nur dem Ansehen des gesamten Systems, sondern sie schaden jedem einzelnen Versicherten und jedem einzelnen Kranken in mehrerlei Hinsicht: Jede unnötige Behandlung und Diagnostik birgt Risiken für die Gesundheit der Menschen. ({18}) Jede unnötige Behandlung und Untersuchung geht zulasten der Lebensqualität. Zu guter Letzt - es wird ja immer wieder gefordert, dagegen etwas zu unternehmen - kostet sie Zeit und Geld. Hierüber müssen wir, auch wenn es manchem und mancher schwer fällt, offen diskutieren. Das jüngste Gutachten des Sachverständigenrates - ich hoffe, Sie haben es gut gelesen -, ({19}) die Studie der WHO und viele andere Untersuchungen zeigen immer das Gleiche auf: Deutschland liegt - das geht auf Entscheidungen während Ihrer Regierungszeit zurück - weltweit bei den Gesundheitsausgaben an dritter Stelle, bietet aber nur eine mittelklassige Versorgung. Die Experten diskutieren offen darüber, die Versicherten spüren es: Die optimale Versorgung stand in den vergangenen Legislaturperioden nicht im Mittelpunkt des bundesdeutschen Gesundheitsbetriebes. ({20}) - Es kommt nicht nur auf die Arzneimittel an. Die Versicherten wissen nicht, welche Behandlung für ihre Krankheit die beste ist. Der Arzt steht in der Pflicht - darauf hat er einen Eid geschworen -, die Patienten bestmöglich zu behandeln. Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass sich der Arzt dabei im Spagat zu seiner eigenen finanziellen Existenz bewegt. ({21}) Diese beiden Aspekte sind ohne politische Vorgaben nicht zu vereinbaren. Die Versicherten können die Qualität der Behandlung, die in dem Spannungsfeld zwischen Heilung und Ökonomie steht, nicht oder nur schwer beurteilen. ({22}) Transparenz und Beratung sind nötig, damit die Patientinnen und Patienten eigenverantwortlich darüber entscheiden können, welche Behandlung sie wollen und welche nicht. Genau das ist es, was die Koalitionsfraktionen mit der Gesundheitsreform 2000 und den jetzt anstehenden Änderungen erreichen wollen ({23}) - die Frau Ministerin hat schon auf Punkte hingewiesen, beispielsweise Risikostrukturausgleich, die Sie während Ihrer Regierungszeit nicht geschafft haben ({24}) und auch - das sage ich ausdrücklich - gegen viele Widerstände erreichen werden. ({25}) Wir wollen den mündigen Patienten, der im Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems steht. ({26}) Wir wollen die optimale Versorgung von kranken und alten Menschen in dieser Republik. ({27}) Das ist das Ziel unserer Gesundheitspolitik. Wir werden es erreichen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Vielen Dank. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute mit einer Regierungserklärung zum Thema „Vertrauen und Solidarität“, weil die rot-grüne Gesundheitspolitik Vertrauen und Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung nachhaltig beschädigt hat. ({0}) Patienten, Versicherte, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Masseure, Krankenkassen, Krankengymnasten, Pflegekräfte, Demenzkranke und ihre Angehörigen sowie Krankenhäuser, Heime und Kassen haben inzwischen das Vertrauen in diese Gesundheitspolitik verloren. ({1}) Frau Schmidt-Zadel, wenn Sie jetzt sagen, Sie wären dabei, das zu reparieren, was wir hinterlassen haben, dann muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie möglicherweise im falschen Film sind; ({2}) denn was heute von der Ministerin gesagt worden ist, was schon vorgelegt worden ist und was in den nächsten Wochen vorgelegt werden soll, ist ausschließlich der Versuch, Ihre eigenen Fehlleistungen zu reparieren. ({3}) Es geht doch überhaupt nicht darum, was wir angeblich hinterlassen haben; denn was wir in der zweiten Hälfte der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, haben Sie zurückgenommen. Sie haben sogar den Spieß herumgedreht. Jetzt stellen Sie aber plötzlich fest, dass es falsch war, den Spieß herumzudrehen. Insofern sollten Sie keinen Popanz aufbauen. Den Patienten und Versicherten wurden im Wahlkampf 1998 unbegrenzte Leistungen zu stabilen Beiträgen versprochen. Die erste herbe Enttäuschung erlebten sie dann, als sie feststellen mussten, dass die Zuzahlung - wir sind in diesem Punkt ständig kritisiert worden - unter RotGrün nicht, wie angekündigt, drastisch, sondern nur sehr unwesentlich reduziert worden ist. ({4}) Die Senkung der Zuzahlung um die berühmte 1 DM ergab zwar in der Summe 1 Milliarde DM. Aber es hat der Oma in der Apotheke nicht sehr viel geholfen, dass die Zuzahlung von 9 DM auf 8 DM gesenkt wurde. Die zweite Enttäuschung stellte sich bei den Patienten und Versicherten ein, als Rot-Grün die Budgetierung der Arznei- und Heilmittelausgaben wieder einführte. Es darf nicht vergessen werden, dass es diese so genannten Budgets während unserer Regierungszeit gar nicht mehr gab. Die alte Regierung hatte nach der Erfahrung, die sie zugegebenermaßen erst machen musste, die Zeichen der Zeit erkannt und die Budgetierung abgeschafft. Sie haben sie wieder eingeführt und so zur Rationierung beigetragen. Es ist im Übrigen interessant, Frau Ministerin, dass Sie jetzt die Arzneimittelbudgets abschaffen und dafür arztund arztgruppenbezogene Richtgrößen einführen wollen. Ich habe genau im Gesetzentwurf nachgelesen: Nirgendwo steht dort das Wort „Budget“; es musste überall gestrichen werden. Bei den Richtgrößen heißt es jetzt: arzt- und arztgruppenbezogene budgetablösende Richtgrößenvolumen. ({5}) Ich lege auf das Wort „Volumen“ Wert. Man kann also auf die Idee kommen: Da müssen doch noch irgendwelche Restgrößen von Budgets sein. Im Grunde genommen ersetzt man das Wort „Budget“ nur durch den Begriff „Volumen“. Das ist noch nicht alles. Weil die GKV unter diesen Umständen ihrer Aufgabe als Solidargemeinschaft nicht mehr gerecht werden kann, schleicht sich bei den Patienten und bei den Versicherten zunehmend das Gefühl ein, immer mehr in das System zahlen zu müssen, aber immer weniger Leistungen zu bekommen. Mit der Budgetierung untergräbt Rot-Grün - das wissen Sie - das Vertrauen von Patienten und Versicherten in die Leistungsfähigkeit der Krankenversicherungen. Der Patient wird vor die Wahl gestellt, auf Leistungen zu verzichten oder 100 Prozent selbst zahlen zu müssen, wenn er ein bestimmtes Medikament braucht. Frau Schmidt, Sie haben in Ihrer ersten Rede - ich habe das Zitat dabei - gesagt: Wenn mich jemand fragt, wie ich denn mir ein solidarisches Gesundheitswesen ... vorstelle, dann ist für mich eines klar: In einem solidarischen Gesundheitswesen darf niemand auf den Gedanken kommen: Wenn ich nur mehr Geld hätte, dann würde ich besser behandelt. Leider kommen die Menschen inzwischen - aufgrund Ihrer Politik - auf genau diesen Gedanken. ({6}) Denn am Standort Deutschland sind GKV-Patienten bei wichtigen Erkrankungen mittlerweile unterversorgt und stellen sich die Frage, die nach Ihrer Meinung in Deutschland nie aufkommen dürfte. Auch das Vertrauen der Ärzteschaft in die Politik von Rot-Grün ist beschädigt. Den Ärzten wird immer wieder unterstellt - Frau Schmidt-Zadel, Ihre Zwischenrufe waren intellektuell und auch, was den Inhalt anbelangt, kaum zu übertreffen; Sie haben sinngemäß „Die Ärzte waren es; haltet den Dieb!“ gerufen -, sich auf Kosten der Patienten und Versicherten schadlos halten zu wollen. Es heißt, die Ärzte wollten nur mehr Geld. Mit diesen diffamierenden Unterstellungen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis belastet und damit wurde letztendlich der gesamten GKV Schaden zugefügt, weil die Patienten mangels Vertrauen mehr denn je von Arzt zu Arzt pilgern. Immer mehr Patienten haben das Gefühl - das hören sie von anderen -, ihr Arzt sei daran schuld, dass er dieses oder jenes nicht mehr verordne, und deswegen versuchen sie es einmal bei einem anderen Arzt. Die Ministerin erwartet von den Ärzten, mit immer weniger Geld eine evidenzbasierte Medizin sicherzustellen. Wolfgang Lohmann ({7}) Das ist die Quadratur des Kreises - das ist heute schon einmal gesagt worden - und kann nicht gut gehen. Nähmen Sie sich einmal die Zeit - ich mache Ihnen nicht den Vorwurf, zu wenig Gespräche zu führen -, um sich mit Vertretern der ostdeutschen Kassenärztlichen Vereinigungen zu unterhalten, ohne sie, wie neulich, quasi als Bettler abzuweisen, dann wüssten Sie, dass es diesen Ärzten nicht nur um ihr persönliches Einkommen - was übrigens legitim wäre -, sondern auch um die Sicherstellung einer flächendeckenden medizinischen Versorgung geht. ({8}) Wenn sich die Vergütungssituation der Ärzte in den neuen Ländern nicht grundlegend verbessert, dann wird es dort in den nächsten Jahren keine ambulante medizinische Versorgung mehr geben. Gelegentlich frage ich mich, ob das vielleicht sogar gewünscht ist. Es könnte sein, dass man alles in Richtung Krankenhaus abschieben möchte. Immer mehr Praxen finden jedenfalls keinen Nachfolger mehr. Hausärzte und Fachärzte warnen deshalb vor einem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung. Die Notrufe der Ärzte überhören Sie. Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf zum Wohnortprinzip gibt auf die Frage nach dem ärztlichen Honorar keine Antwort. Im Gegenteil, durch Ihren Gesetzentwurf wird ein Konflikt zwischen Ostärzten und Westärzten heraufbeschworen, nur damit eine Umverteilung von West nach Ost stattfindet. Alle Fachleute sagen schon längst, dass es aufgrund der Konsequenzen, die sich aus den Budgets ergeben, eine Unterversorgung gibt. Das heißt, auch die Ärzte im Westen können die entsprechenden Verordnungen nicht vornehmen. Jetzt wollen Sie, dass noch weniger Geld zur Verfügung gestellt wird, um das Problem zu lösen. Das reicht nicht. Eine Verbesserung der Honorarsituation wird nur erzielt, wenn man - in den von uns bisher vorgelegten Gesetzentwürfen ist das entsprechend verankert - auch bei den ärztlichen Vergütungen die Budgetierung beendet und beispielsweise Regelleistungsvolumina mit festen Punktwerten einführt. Der Koalitionsentwurf bleibt insofern Flickwerk und macht nur deutlich , dass der Geist der Budgetierung weiterhin in den Köpfen von Rot-Grün - Herr Kirschner, ich wollte nicht wieder von dem berühmten Betonfacharbeiter der Dreßler-Riege sprechen - wabert. Solange Sie diesen Geist nicht abtöten, wird aus dem, was Sie vorhaben, keine vernünftige Politik werden. Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte greift Rot-Grün - jedenfalls nach meiner Auffassung - die Patienten und die Versicherten massiv an. Frau Schmidt, Sie können doch keiner Bürgerin und keinem Bürger erklären, warum ihre Wahlrechte erst drastisch eingeschränkt werden müssen, um sie anschließend auszubauen. Die Leute fragen sich doch, ob da noch alles ganz in Ordnung ist oder ob sie, wie Dieter Thomae sagt, nicht doch hinters Licht geführt werden, sage ich einmal etwas vorsichtig in der Wortwahl. ({9}) Die Grünen sind offenbar schon nach zwei Jahren Koalition so degeneriert - um nicht zu sagen: sozialdemokratisch infiltriert; das könnten wir auch sagen -, dass ihnen ihre Identifikation als Bürgerrechtspartei völlig abhanden gekommen ist. Es ist doch nicht anders zu erklären, Frau Knoche, dass Sie in der Koalition nicht mehr für die Versicherten gekämpft haben. Frau Schmidt sagte heute: Wir wollen stabile und die Lohnnebenkosten schonende Beiträge. Mit der Einführung eines Mindestbeitragssatzes von 12,5 Prozent - Sie stellen ja ein Ultimatum, das muss gemacht werden - stehen den Versicherten und den Arbeitgebern todsicher Beitragssatzsteigerungen bevor; denn alle Kassen - zum Glück sind es eine ganze Reihe, die noch unter 12,5 Prozent liegen - müssen jetzt auf 12,5 Prozent erhöhen. Also schonen Sie nicht die Lohnnebenkosten und auch nicht die Beitragsentwicklung und Beitragsgestaltung. Wir können nicht erkennen, das Rot-Grün einem Konzept folgt, geschweige denn einem neuen Konzept. ({10}) Vielmehr stellen die jetzt vorgelegten Gesetzentwürfe ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen dar und sind nicht geeignet, die von Ihnen gewünschte Solidarität und das Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung wieder herzustellen. Die Beteiligten im Gesundheitswesen wissen ebenso wenig wie wir, wie die breite Öffentlichkeit, wofür Rot-Grün nun eigentlich steht. Was ist das Konzept der rot-grünen Bundesregierung? Was meint der Bundeskanzler, der heute Vormittag da war, wenn er von mehr Eigenverantwortung spricht? ({11}) Meint er damit die Ausweitung der Zuzahlung, eine höhere Selbstbeteiligung? Wird sich die Regierung der Einnahmenproblematik zuwenden? Dazu ist nichts gesagt worden. Bisher hat sie konsequent verschwiegen, dass aus hoher Arbeitslosigkeit und veränderter Altersstruktur Einnahmeprobleme entstehen. Wann und wie will die Regierung das Urteil des Verfassungsgerichts zur Gleichbehandlung von freiwillig Versicherten, Pflichtversicherten und Rentnern umsetzen? Vage Andeutungen bisher. Es ist übrigens interessant, dass Sie die freiwillig Versicherten eventuell den Pflichtversicherten gleichstellen wollen. Umgekehrt würde ja möglicherweise ein vernünftiger Schuh daraus. Aber das passt nicht in Ihre Gesamtrichtung; ich spreche noch einmal von Frau Schmidt-Zadel oder Herrn Kirschner. ({12}) Wie steht es mit dem Wettbewerb? Was ist mit dem Leistungskatalog? Auf einer Veranstaltung im ICC hat Herr Kirschner gestern am Schluss der Diskussion noch einmal definitiv festgestellt, dass für ihn - er wusste nicht genau, ob er auch für die Fraktion sprechen konnte - feststeht: Mit dieser Fraktion wird es niemals Kern- und Wahlleistungen oder Grund- und Wahlleistungen geben. Warum lese ich denn dauernd von Herrn Hovermann und anderen etwas anderes? Es ist doch ein Erosionsprozess in Wolfgang Lohmann ({13}) Gang gekommen. Das wollen wir und das will die Öffentlichkeit wissen. ({14}) Hat die Bundesregierung tatsächlich eine Vorstellung davon, wie sie das Gesundheitswesen reformieren will? Wenn das der Fall wäre, würden Sie - das glaube ich schon - das Konzept vorlegen. Stattdessen berufen Sie runde Tische ein, lassen die Verbände Lösungen erarbeiten, die Sie dann teilweise eins zu eins übernehmen, oder Sie machen sich zum Spielball der Verbände. Ein gutes Beispiel ist das zu beratende FestbetragsAnpassungsgesetz. Die Kassen hatten ursprünglich durch die Absenkung der Festbeträge ein Volumen von 1 Milliarde DM herausholen wollen. Nach dem Kuhhandel mit den Pharmaverbänden hat man sich auf 650 Millionen DM verständigt. Die Kassen melden aber schon jetzt Bedenken wegen der Realisierung dieses Einsparvolumens an. Das für diesen Gesetzentwurf eigentlich ausschlaggebende Problem ist mit dieser Vorlage aber noch nicht gelöst. Die Bundesregierung hat nicht geklärt, wer in Zukunft rechtssicher die Absenkung der Festbeträge vornehmen soll. Die Regierung wartet auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts; die Gerichtsentscheidung soll den Weg vorgeben. Dabei könnte die Bundesregierung doch, um in einen Dialog zu kommen, bereits jetzt sagen, ob sie in Zukunft an Festbeträgen festhalten - das wäre eine Möglichkeit, das würden wir mit Sicherheit unterstützen oder ob sie diese durch freie Preisverhandlungen ersetzen will - das würde vielleicht Dieter Thomae unterstützen. ({15}) Mit der jetzt vorgesehenen Übergangslösung wird die Rechtsunsicherheit jedenfalls nicht beseitigt. Ähnlich konturenlos verläuft die Entwicklung beim Thema Risikostrukturausgleich, RSA genannt, ({16}) den Sie bei Ihrer Inthronisation als zentrale Aufgabe mit auf den Weg bekommen haben. Statt selbst ein Konzept auf der Grundlage der von Ihrem Ressort eingeholten Gutachten zu erstellen, zwingen Sie erst die Gutachter für sich und dann die Kassen am runden Tisch zu einer gemeinsamen Lösung. Angesichts der Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitswesen steht, ist der Kompromiss im Grunde unverantwortlich. Frau Ministerin, ich rate dringend, sich wieder der am Gemeinwohl ausgerichteten Politik zuzuwenden. Sorgen Sie dafür, dass die gesetzliche Krankenversicherung, die wir alle unterstützen und jahrzehntelang unterstützt haben, wieder an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernisse angepasst wird, und lassen Sie sich dabei nicht von der Beliebigkeit leiten. Patienten, Versicherte, Ärzte und Pflegekräfte erwarten von Ihnen ein Konzept. Wenn Sie eines haben, dann legen Sie es vor und lassen Sie die Katze nicht erst nach der Bundestagswahl aus dem Sack; sonst bleiben Ihre Reden reine Fensterreden. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Herren und Damen! Herr Lohmann, ich verstehe es ja, dass Sie gesundheitspolitisch endlich einmal wieder aus der Vorhand spielen möchten, aber dazu müssten Sie erst einmal eine Leitidee vorstellen. Ich habe keine erkennen können. ({0}) Ihre Kritik war sehr kleinteilig; das sei Ihnen auch zugestanden. Aber worauf zielt sie denn? Das Einzige, was ich gehört habe, war, dass Herr Thomae, egal, um was es sich handelt, die Idee des Wettbewerbs, der Deregulierung in den Vordergrund stellt, ({1}) egal, was es gesellschaftspolitisch kostet. Das ist nicht unsere Vision. ({2}) Ich möchte jetzt etwas Wichtiges sagen; wir haben schließlich ungefähr Halbzeit, zu der Rückblick und Ausblick angebracht sind: Wenn eine Ökonomisierung der Beziehung im und zum Gesundheitswesen prägend wird, dann steigen die gesamtgesellschaftlichen Kosten, und eines geht verloren, nämlich das Vertrauen in dieses System. ({3}) Die Verluste sind beträchtlich. Wir können nie auf einen Ausbau der solidarischen Sicherungssysteme verzichten, wenn uns und den Menschen eines gewiss bleiben soll, nämlich dass der Kernauftrag, alles, woraus wir unsere Legitimation beziehen, ist: Heilen, Helfen, Lindern, Fürsorge, Vorsorge und - im Zeitalter der Gen- und Repromedizin - zuletzt auch das Recht auf Schicksal. Gerade das ruft aber nach mehr Verantwortung, nach mehr Gestaltung und ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier ständig einfordern. Es kann keine Selbstenteignung und kein Wegschieben von politischer Verantwortung für das geben, was die Kultur des Sozialen in der Gesellschaft in der nächsten Zeit ausmacht und prägt. Ich bin in keiner Weise bereit, die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens ohne Solidarität als feste Grundlage zu diskutieren. ({4}) Wolfgang Lohmann ({5}) Schon bekannt: Der Ausstieg aus der bewährten GKV ist teuer und selbst partiell können wir uns ihn nicht leisten. Aber gerade als Grüne, die ich noch immer einen Emanzipationsanspruch habe, weiß ich, dass der Verlust individueller Freiheit enorm ist, wenn die Sicherheit der Solidarität nicht mehr gegeben ist. ({6}) Diese Sicht unterscheidet sich grundlegend von jeder neoliberalen Idee und Ideologie. Die neue Ungleichheit, die dadurch entstehen würde, ({7}) und die Unfreiheit der Kranken und Versicherten ist auch mit fiktiven Beitragssätzen und fiktiver Stabilität nicht aufzurechnen. Modernität muss bitte immer frei sein von modischen Launen, die es bedauerlicherweise auch in der Politik immer wieder gibt. ({8}) Modernität heißt auf dem Feld der Gesundheit: Lassen Sie uns gesundheitspolitische Ziele definieren, die ethische Maßstäbe und humanitäre Ansprüche auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt für alle benennen. Diese stehen über den ökonomischen Anreizsystemen. ({9}) Das bedeutet, dass Wettbewerb kein Wert an sich ist, sondern dass soziale Gerechtigkeit das oberste Leitbild ist. Dann suchen wir uns die Steuerungsinstrumente aus, die geeignet sind, dies sicherzustellen. ({10}) Es wird gebetsmühlenartig mit Redundanz davon geredet, die Zuwächse und die Sicherheit in der GKV seien nicht mehr bezahlbar. Ich wiederhole hier, was ich schon sehr oft gesagt habe: Es gab und gibt sie nicht, die Kostenexplosion. ({11}) - Selbst jetzt, da wir die Zuzahlungen zurückgeführt haben, ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt durch die GKV gesunken und nicht gestiegen. Lassen Sie uns also bitte keine falschen Botschaften in die Welt setzen. ({12}) Beziehen wir uns auf das, was wir zu tun haben. Wenn der Druck auf die Beitragssätze da ist, dann resultiert er primär nicht aus den Leistungen und aus der Leistungserbringung, sondern er resultiert nach wie vor - so bedauerlich das auch ist - aus der geringen Lohnquote und aus der Tatsache, dass die hohe Arbeitslosigkeit mit ihrer Abfederung die Einnahmenausfälle bei der GKV hervorruft. ({13}) Das wiederum verlangt von uns, dass wir für die Stabilisierung der GKV endlich wieder die Option transportieren, dass dann die Beitragssätze stabil bleiben, wenn sich alle an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligen. ({14}) Das ist eine ökonomische Wahrheit und auch Klarheit, und die lässt sich sehr gut in die Gesellschaft hineintransportieren. Sie hat nämlich noch ein ganz wesentliches Moment. Eine moderne Krankenversicherung integriert. Sie schließt ein, sie schließt nicht aus. ({15}) Grund- und Wahlleistungen, Kostenerstattung, alles, was Sie heute hier vorgetragen haben, macht die GKV in hohem Maße unattraktiv, macht sie ungerecht, macht die Leistungserbringung im privaten Sektor für die Menschen, die die Leistungen brauchen, immer unbezahlbarer. Das ist ein Weg, den ich nicht gehen will. Lassen Sie uns also darüber reden, was denn eigentlich modern ist. Modern ist wie eh und je das Prinzip der GKV, und wer sich davon verabschiedet, hat seinen Modernisierungsanspruch längst aufgegeben. ({16}) Es gibt ein Thema - das wissen Sie -, das in sich engstens etwas damit zu tun hat, welche Werte für uns in der Gesundheitspolitik maßgeblich sind. Es sind neue Herausforderungen für uns gekommen. Wir haben in dieser Legislaturperiode versucht, in vielfältiger Weise parlamentarisch-demokratische Antworten zu geben. Es sind die Fragen der Bio- und Gentechnik, denen wir uns nicht verschließen können. Deshalb hier noch zwei, drei kurze Bemerkungen. Wenn wir an anderer Stelle über die Frage reden, ob Gene patentierbar sind, dann weiß ich als Gesundheitspolitikerin, wenn es diese Stoffpatente gäbe, hätte das weitreichende Auswirkungen darauf, zu welchem Preis und für wen künftig neue Medikamente verfügbar sind. Das ist eine wichtige Frage, mit der wir uns zu befassen haben. Wenn jetzt Gentests, prädiktive Tests, möglich sind, dann ist es unsere Aufgabe, zu sagen, dass sie nur im Rahmen der ärztlichen Behandlung einen Sinn haben, dass nur da die Sicherheit gegeben wird, dass niemand über diese Daten und Informationen fremdverfügt. ({17}) Das sind ganz wichtige Voraussetzungen, die wir der Bevölkerung garantieren müssen. Das schafft Vertrauen, das schafft Sicherheit und das bereitet auch den Boden für eine abgewogene rationale Debatte darüber, was die Chancen sind, was die Risiken sind, was wir tun müssen, damit das Ideal der Gleichheit und der Antidiskriminierung beibehalten wird, damit wir das also sichern können; denn nichts ist wichtiger als die Frage, wie wir mit Behinderungen, mit Anderssein, mit anderen Arten von Krankheiten und Bedingungen umgehen. Deshalb ist das auch eine eminent gesundheitspolitische Frage. Wenn ich sehe, wie Sie in Ihren Beispielen, den Leistungskatalog zu verschlanken, als allererstes auf die Idee kommen, die künstliche Befruchtung dem Privatbereich zu übereignen, sie sogar als Dienstleistung zu kategorisieren, dann weiß ich, welche Risiken damit verbunden sind. Ich weiß mich auch einig mit vielen im Hause, wenn ich die Kommerzialisierung des Frauenkörpers auf das Entschiedendste ablehne. Jedwede Bestrebungen im Bereich der Reproduktionsmedizin müssen wir zu einem Thema der Gesundheitspolitik machen. Auch wenn manche schmunzeln werden: Es wird sich alsbald zeigen, welche zentrale Rolle das, was ich soeben angesprochen habe, hat. ({18}) In diesem Sinne - ich habe mir noch vieles anzusprechen vorgenommen; ich muss aber zum Schluss kommen - bin ich absolut in Übereinstimmung mit den Forderungen, die die deutsche Ärzteschaft in der Biopatentierungsfrage erhebt. Wir tun gut daran, uns klarzumachen, dass wir all diese ethischen und menschenrechtlichen Herausforderungen in der Gesundheitspolitik nur dann beantworten können, wenn wir das Projekt der Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung weiter vorantreiben. Das ist Reform; das will ich umsetzen. Danke schön. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Detlef Parr für die Fraktion der F.D.P. das Wort.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin am Montag auf einer Ärzteveranstaltung in der Lutherstadt Wittenberg gewesen. Wenn ich diese Veranstaltung, Frau Ministerin, unter das Motto Ihrer Regierungserklärung „Vertrauen und Solidarität - die Chancen der Zukunft nutzen“ gestellt hätte, dann hätte man mich aus dem Brauhaus gejagt. ({0}) In den neuen Bundesländern ist nämlich das Vertrauen in eine sich zu ihren Gunsten entwickelnde Gesundheitspolitik längst verloren gegangen. Die Solidarität erschöpft sich im gemeinsamen Erdulden von Fremdbestimmung und Planwirtschaft. Die Chancen der Zukunft sind nicht abhängig von der Leistung, die dort erbracht wird, sondern vom Wohlverhalten der Banken. Ich zitiere aus dem Schreiben eines Facharztes: Ich fühle mich ein zweites Mal betrogen, denn schon zu DDR-Zeiten hatten wir Ärzte keinen guten Stand. Jetzt aber geht es sogar um die blanke Existenz! ({1}) Es ist ein Skandal, wie in unserem hoch entwickelten und weltweit anerkannten Wirtschaftsstaat mit engagierten Menschen, die wie kaum eine andere Berufsgruppe bereit sind, unter vollstem Einsatz Tag und Nacht Dienst am Nächsten zu leisten, umgegangen wird. ({2}) Frau Knoche, das ist die Realität im Osten unseres Landes und auch in manchen westlichen Regionen. Sie reden an dieser Realität vollkommen vorbei. ({3}) Neben den niedrigeren Arztzahlen, den damit verbundenen längeren Arbeitszeiten für Ärzte und ihr Personal und den in vielen Praxen nach zehn Jahren Niederlassung fehlenden Mitteln für notwendige Modernisierungsinvestitionen ist für die Qualität der medizinischen Versorgung die hohe Zahl von Ärzten in höherem Alter, die vergeblich nach jungen Nachfolgern suchen, am bedrohlichsten. Ihre Politik zeigt bisher keine berechenbaren Perspektiven auf. Zukunftschancen für junge Leute? Fehlanzeige! Die Studierenden stellen Ihnen die entsprechende Quittung aus. Vage Hoffnungsschimmer am Horizont reichen nicht aus, Frau Ministerin. Das System steht auf dem Kopf. Wir müssen es wieder auf die Füße stellen, und zwar mit den Säulen, die wir immer wieder nennen: mehr Wahlfreiheit, mehr Transparenz, mehr Patientensouveränität und mehr Wettbewerb. ({4}) Runde Tische hin, runde Tische her: Sie könnten sich viel Zeit sparen, die wir eigentlich schon jetzt nicht mehr haben. Wir haben im Gesundheitsausschuss seit 1998 eine Fülle von grundlegenden Anhörungen durchgeführt. Hätte man mehr zugehört und weniger weggehört, dann wären wir weiter. ({5}) Es sind Gutachten erstellt worden. Die Reformvorstellungen liegen auf dem Tisch. Ich denke, es reicht vollkommen aus, wenn man die Ergebnisse vorurteilsfrei nebeneinander stellt, die Alternativen bewertet und endlich zu einem umfassenden und in sich schlüssigen Handlungskonzept kommt, anstatt Zeit in vermeintlichen Konsensrunden zu vergeuden. Diese sind gut gemeint, aber mehr als deutlich als Hinhaltetaktik erkennbar. Ich hoffe sehr, dass Sie, Frau Ministerin, nicht nach der Devise verfahren, die Ludwig Marcuse so ausdrückt: „Die Zeit heilt nicht alles; aber sie rückt vielleicht das Unheilbare aus dem Mittelpunkt.“ Da spielen wir nicht mit. ({6}) Eine letzte Bemerkung: Die F.D.P.-Fraktion, Frau Ministerin, begrüßt Ihre offene Haltung zur Gentechnologie. ({7}) Wir haben am Dienstag unter den Obleuten auf der Grundlage des F.D.P.-Antrages „Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern“ eine Anhörung im Bundestag vereinbart. Ich habe gestern Ihrem Kanzler sehr genau zugehört, der dafür plädiert hat, dass wir bei der Beantwortung dieser Fragen über unsere Landesgrenzen hinaus schauen sollten, um zu sehen, auf welchen Wegen die anderen Europäer zu welchen Lösungen gekommen sind. Es sollten also nicht nur nationale, sondern auch internationale Experten angehört werden. Ich denke, wir müssen die hoch emotionale und polarisierte Debatte zwischen und in den Parteien und in der Öffentlichkeit zu einem sachorientierten Dialog zurückführen. Sie haben zu Recht zu mehr Gemeinsamkeit aufgerufen, die wir gemeinsam ausleben möchten, wo wir dies können. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie eine Anhörung zur rechtlichen Absicherung der Präimplantationsdiagnostik mit unterstützen und so zu einem wirklich sachorientierten Dialog darüber beitragen würden. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion erteile ich der Kollegin Hildegard Wester das Wort.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon bei der letzten Regierungserklärung der neuen Bundesgesundheitsministerin, meiner Kollegin Ulla Schmidt, hat es hier heftige Auseinandersetzungen über den richtigen Weg, über die richtigen Steuerungsinstrumente in der Gesundheitspolitik gegeben. Heute - wir erleben es alle - ist es genauso. Seit Jahren, fast schon seit Jahrzehnten diskutieren wir diesen so genannten Königsweg eines Systems zwischen staatlicher Steuerung, selbst verwaltetem System und zunehmendem Wettbewerb der Akteure. Die Mängel und Schwächen dieses Systems werden seit Jahren analysiert und diskutiert. An den Grundvoraussetzungen hat sich gar nicht viel geändert. Wir haben bereits 1992 in Lahnstein fraktionsübergreifend den Grundstein dafür gelegt, dort, wo es möglich und sinnvoll ist, wettbewerbliche Elemente in die gesetzliche Krankenversicherung einzubringen. Damals haben wir konsequent den Weg eingeschlagen, die Rechte der Versicherten, nämlich der Patientinnen und Patienten, zu stärken. Seitdem kann zum Beispiel jeder seine Krankenkasse frei wählen. ({0}) Das gilt trotz aller Unkenrufe auch weiter so. ({1}) Wir sind sogar noch einen Schritt weitergegangen: Ab 2002 soll jeder Versicherte, egal, ob pflichtversichert oder freiwillig versichert, mit einer Frist von sechs Wochen seine Krankenkasse neu wählen können. ({2}) Dies stellt nicht nur die längst überfällige Gleichstellung von Pflichtversicherten oder freiwillig Versicherten sicher, sondern ist gleichzeitig eine wesentlich flexiblere Regelung als die bisherige. ({3}) Diese beiden Grundpfeiler eines flexibleren Wahlrechts werden im Kampfgeschrei gerne vergessen und die angebliche Schlechterstellung der Versicherten wird beschrien. In der Reform des Jahres 2000 sind wir weitere Schritte hin zur Stärkung der Rechte der Patientinnen und Patienten gegangen. Das war nur konsequent und wird weiter unsere konsequente Linie bleiben. Viele Diskussionen der letzten Jahre um Kostendämpfung, Budgetierung oder Anbieterdominanz haben oft vergessen lassen, um was es im Gesundheitswesen eigentlich geht, nämlich um die Versicherten, die Patientinnen und Patienten. Es geht darum, diesen die Sicherheit zu geben, dass sie für ihre Beiträge eine vernünftige Versorgung immer dann erhalten, wenn sie sie benötigen. ({4}) Ich halte deswegen den Weg von Ulla Schmidt und der SPD, die Versicherten in den Mittelpunkt aller Maßnahmen im Gesundheitswesen zu stellen, für richtig. ({5}) - Natürlich war das der Fall und es wird auch der Fall bleiben. Denn die Effizienz des Systems spielt auch bei der Frage eine wichtige Rolle, ob und wie man die Patienten behandeln kann. ({6}) Dabei ist es unsere Aufgabe, allen Beteiligten und Akteuren im Gesundheitssystem einen Rahmen vorzugeben, der es ihnen ermöglicht, sich genau auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Ich glaube, darüber, dass sich alle politischen Maßnahmen daran messen lassen müssen, ob sie die Handlungsmöglichkeiten der Akteure im Gesundheitswesen, ihre jeweiligen Versorgungsbereiche eigenverantwortlich zu regeln und zu steuern, verbessern, besteht gar kein Dissens, auch wenn Sie den jetzt beschreien wollen. Viele der Maßnahmen, die die Ministerin eben genannt hat, erfüllen genau diese Kriterien. Sie geben den Ärzten, den Krankenkassen und weiteren Akteuren Instrumente an die Hand, die Versorgung der Versicherten beispielsweise mit Arzneimitteln und die Verantwortung für eine rationale Arzneimitteltherapie, die aber gleichzeitig wirtschaftlich ist, sicherzustellen. Das Ausmaß dieser Eigenverantwortung der Beteiligten ist für manche überraschend gekommen, möglicherweise auch für Sie, Herr Thomae, und für die CDU/CSU. ({7}) Aber ich hoffe, dass die erste Überraschung schnell konstruktiver Arbeit an den Zielen weicht. ({8}) Diese Ziele lauten, allen Versicherten eine an ihrem medizinischen Bedarf orientierte Arzneimitteltherapie zur Verfügung zu stellen, die Transparenz zu erhöhen und gleichzeitig Verantwortung für die Finanzierbarkeit des Systems zu übernehmen. Auch in weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen sehe ich den roten Faden in der Stärkung der Versichertenrechte und in der Verbesserung der Versorgung. Ein besonderes Augenmerk wird auf chronische Erkrankungen, die Stärkung der Prävention und die Entwicklung und Stärkung von morbiditätsorientierten Indikatoren gelegt - all dies sind richtige Maßnahmen, um eine zielgerichtete Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Lassen Sie mich noch kurz auf das eingehen, was heute Morgen von den Vorrednern seitens der F.D.P. und der CDU/CSU angerissen wurde. Ich halte es für falsch zu glauben, die Versichertenrechte würden dadurch gestärkt, dass ein Großteil der medizinischen Versorgung in die private Verantwortung überführt wird. Dieses Konzept wird auch dadurch nicht besser, dass es ständig wiederholt und beschrien wird. ({9}) Wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung und in unseren Zielen auf eine sozial gerechte Gesundheitspolitik verpflichtet, die allen Bürgern eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung gewährleistet und ein leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem sicherstellt; daran wird auch nicht gerüttelt. Wir wollen die Rechte der Versicherten stärken. Wir wollen die medizinische Versorgung vor allem der Patientinnen und Patienten verbessern, die sie am dringendsten benötigen. Wir wollen die Instrumente stärken, die den Akteuren Handlungsspielräume für die Erreichung dieser Ziele eröffnen, sie aber gleichzeitig auch in die Lage versetzen, mit den Geldern der Versicherten und Arbeitgeber vernünftig umzugehen. Wir wollen die Solidarität stärken und nicht schwächen. Unter diesen Prämissen - das hat die Ministerin eben bereits deutlich gemacht - werden wir auch an die Herausforderungen herangehen, die oft als Untergang der bisherigen traditionellen gesetzlichen Krankenversicherung beschrieben werden, nämlich auf die demographischen Herausforderungen, den medizinischtechnischen Fortschritt und die Veränderungen in der Arbeitswelt. Auf diese Herausforderungen müssen wir Antworten finden. Wir stellen uns diesen Fragen aber nicht unter dem Damoklesschwert einer Veränderung des gesamten Systems. ({10}) Wir werden sie vielmehr im Dialog mit den Beteiligten angehen, ohne unsere Ziele aus den Augen zu verlieren. Ich bin überzeugt, dass wir nur so das Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung stärken können. Man kann es nicht oft genug sagen: Nicht die Akteure stehen im Mittelpunkt, sondern die Patientinnen und Patienten. Im Rahmen einer solidarischen Krankenversicherung muss es unser Ziel sein, die Versorgung der Kranken zu verbessern, alle Möglichkeiten zur Verbesserung von Behandlungsabläufen zu nutzen und die wettbewerblichen Elemente da zu stärken und auszubauen, wo sie der Verbesserung der Versorgung, der Transparenz und der Vergleichbarkeit der Angebote dienen, und gleichzeitig sicherzustellen, dass dies auch finanzierbar bleibt. Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung eingehen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. April dieses Jahres vier Urteile verkündet. Insbesondere bei einem dieser Urteile, nämlich dem, in dem die Berücksichtigung der Erziehung von Kindern bei der Bemessung der Beiträge zur Pflegeversicherung gefordert wird, wird vermutet, dass es Auswirkungen auch auf die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung hat. Zumindest hat der Gesetzgeber die Aufgabe erhalten, dies zu überprüfen. Wir werden auch in dieser Frage, also bei der ungerechten Lastenverteilung zwischen Menschen, die Kinder erziehen, und Menschen, die keine Kinder haben, auf die Problematik der demographischen Entwicklung gestoßen. Durch die enge Verknüpfung von Demographie und unseren Sozialsystemen stehen wir vor großen Herausforderungen. Wir werden die Konsequenzen dieser Urteile in aller Ruhe und Sorgfalt prüfen. Dabei ist eines klar: Die Herausforderung, das Gesundheitssystem leistungsfähig und dabei bezahlbar zu halten, ist dadurch noch gewachsen. Gerade im Interesse der nachwachsenden Generation ist es aber wichtig, eine Leistung zu gewährleisten, die nicht vom Geldbeutel des Einzelnen abhängt. Eine schlechte Leistung aufgrund eines geringen Beitrags kann keine Lösung sein. Ich bin zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind, und hoffe, dass möglichst alle Beteiligten diesen Weg mitgehen. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Immerhin hat die Kollegin Wester zumindest gemerkt, dass auch die Pflegeversicherung in den Bereich der Gesundheitspolitik gehört. Das ist schon erfreulich. ({0}) - Ja, Frau Schmidt-Zadel, ich weiß. Frau Ministerin, Sie haben sich diesem Thema nur sehr kurz zugewandt. Ich will die wenige Redezeit, die der PDS noch bleibt, nutzen, um dazu etwas zu sagen. Was Sie Pflegequalitätssicherungsgesetz nennen, kann nicht das leisten, was wir brauchen. Wir brauchen nämlich kein Gesetz, das die Pflegequalität sichert, sondern wir brauchen ein Gesetz, das die Lebenssituation von Menschen, die in Pflegeheimen wohnen, verbessert. ({1}) Das ist etwas ganz anderes, als irgendwelche Strukturen und Verwaltungswege zu verändern. Leider ist das in den Vorlagen, die ich bisher gelesen habe, überhaupt nicht vorgesehen. Wenn Sie diesen Grundansatz nicht hineinnehmen, dann können alle Ihre Veränderungen und Verbesserungen nur Stückwerkelei sein. Ich finde, das haben die Menschen an ihrem Lebensende und natürlich auch dann, wenn sie länger in solchen Einrichtungen leben, nicht verdient. ({2}) Im Übrigen will ich daran erinnern, dass Sie bis Ende dieses Jahres verpflichtet sind, manches neu zu regeln. Darüber wurde bisher noch gar nicht geredet. Das Urteil des Verfassungsgerichts ist das eine. Das andere ist die Regelung der Kurzzeit- und Behandlungspflege. Diese und einige weitere Maßnahmen wurden nur bis Ende dieses Jahres verlängert. Ich bitte darum, dies einmal so zu regeln, dass die pflegeversicherten Menschen davon profitieren, diejenigen, die Hilfe, Unterstützung oder auch Assistenz brauchen. ({3}) Wir müssen endlich dazu kommen, dass nicht mehr das Teilkaskoprinzip im Vordergrund steht. Wir müssen in erster Linie an die Menschen denken, die Assistenz brauchen. Diesen muss so geholfen werden, dass es deren Lebensqualität verbessert. Den Dienstplan in einer Einrichtung zu optimieren kann nicht das entscheidende Kriterium sein. Das ist der Weg, aber nicht das Ziel, über das wir reden. Diese Verwechslung sollte nicht länger anhalten. Da ich noch eine halbe Minute Redezeit habe, will ich auf den Punkt eingehen, den die Kollegin Knoche sehr deutlich angesprochen hat. Ich bin ihr dafür sehr dankbar. Wenn wir die ethischen Maßstäbe, die wir bei der Präimplantationsdiagnostik bzw. bei der Verhinderung dieser Selektionsmaßnahme und bei anderen biomedizinischen Fragen brauchen, nicht auch in allen anderen Bereichen der Medizin anwenden, dann werden wir zu einer Marktwirtschaft im Gesundheitswesen kommen, die mit ethischen und humanistischen Maßstäben überhaupt nicht zu messen ist. Insofern, Herr Thomae, verstehe ich nicht, wie Sie dieser unglaublich unsolidarischen Herangehensweise so das Wort reden können. Jeder soll sich quasi vorher aussuchen, welche Krankheit er sich wünscht, und sich entsprechend versichern. Das kann es nicht sein. Wenn wir nicht zu dem universellen Prinzip zurückkehren - wir haben es leider schon durchbrochen -, die Starken für die Schwachen, dann werden wir mit ethischen und humanistischen Grundsätzen in der Gesundheitspolitik nicht mehr viel zu tun haben. Es tut mir Leid, aber das musste einmal gesagt werden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Eike Hovermann für die Fraktion der SPD das Wort.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Präsident hat nicht nur meinen Vornamen Maria unterschlagen, sondern mein vollständiger Vorname heißt korrekt eigentlich „Eike Anna-Maria“; deswegen bin ich hin und wieder auch schon mit Frau Hovermann begrüßt worden. Aber man gewöhnt sich ja an alles. Im Zuge der abstrakten Diskussion über das Thema „Budget“ will ich - auch in Anlehnung an das, was Sie, Herr Dr. Thomae, über Planwirtschaft gesagt haben - einiges aus dem konkreten Alltag von Herrn Seehofer in die Erinnerung zurückrufen. Erstens. Er hat seinerzeit die stationären Reha-Maßnahmen auf drei Wochen starr begrenzt - wider jede medizinische Notwendigkeit, wider jeden medizinischen Sinn. Die Folge war ein Drehtüreffekt, ein Ansteigen der Folgekosten im ambulanten Bereich und beim Medikamentenaufwand. Diese Zahlen sind nachprüfbar, Herr Dr. Thomae. Was war das jetzt? War das eine Budgetierung, war das eine falsche Budgetierung, war das Planwirtschaft? Oder muss nicht im Grunde jenseits der Frage „Budgetierung hin - Budgetierung her“ die eigentlich viel wesentlichere Frage gestellt werden: Wo muss das riesenhaft vorhandene Geld - 270 Milliarden DM - im deutschen Gesundheitswesen effektiv eingesetzt werden, an welcher Stelle in der ganzen Behandlungskette? Hierbei ist in der Vergangenheit ein schwerer Fehler geschehen; ({0}) an dem leiden wir natürlich, weil durch diese Entscheidungen seinerzeit Strukturen zusammengebrochen sind, weil Bäder keine Planungssicherheit mehr hatten und weil dort Unsicherheiten beim Personal entstanden sind, die bis heute nachwirken, weil man eben nicht wusste, worauf man sich einstellen sollte, ob das so richtig ist. Wir waren deshalb mit Herrn Gnahn und vielen anderen bayrischen Kurortdirektoren zusammen, mit Verwaltungsdirektoren, die zu uns kamen und fragten: Was machen die da? ({1}) Das kam dann noch hinzu. Der zweite Punkt: Der ganze Bereich der Prävention wurde aus dem SGB V herausgenommen. ({2}) - Frau Bergmann-Pohl, der Bereich der Prävention mit nachvollziehbaren geldlichen Leistungen ist seinerzeit von Ihnen herausgekürzt worden; auch deshalb sind doch die Vertreter der Bäder zu uns gekommen und haben sich beschwert, insbesondere Herr Gnahn. Der ist seinerzeit sogar vor lauter Schreck aus der CSU ausgetreten. ({3}) Der dritte Punkt, an den ich einmal erinnern möchte Budgetierung hin, Budgetierung her und Planwirtschaft, Herr Dr. Thomae -: Es wurden Zuzahlungen für den stationären Aufenthalt im Reha-Bereich erhöht, etwa 30 bis 40 Prozent; nachprüfbar valide Zahlen, Frau BergmannPohl, damit Sie nicht wieder sagen, das stimme nicht. Das hat vielfach dazu geführt, dass viele, denen eine Kur zugestanden worden war, diese Kur gar nicht mehr antreten konnten, weil sie zu viel Geld zuzahlen mussten. ({4}) Dass das natürlich in erhöhtem Maße zu Folgekosten geführt hat, Herr Lohmann ({5}), an denen wir heute noch leiden, ist ja wohl unbestritten. Also noch einmal: Die zentrale Frage ist wohl nicht das Thema „Budget hin - Budget her“, sondern die entscheidende Frage ist nach wie vor, wo das Geld in der gesamten Behandlungskette eingesetzt wird bzw. ob es sinnvoll, qualitätsgesichert und kontrolliert eingesetzt wird. Aus diesen Überlegungen heraus hatten wir seinerzeit den Gedanken des Globalbudgets entwickelt und gesagt: Je nachdem, in welchem Teil der Behandlungskette Notwendigkeiten entstehen, müssen wir in der Lage sein, Gelder aus dem einen Bereich in den anderen Bereich zu transferieren. Stellen Sie sich doch einmal vor - folgendes Problem begegnet uns ja in nächster Zeit; da bin ich auch wieder auf Ihre Planwirtschaft und die von Herrn Lohmann und von Frau Bergmann-Pohl gespannt -, wir bekommen die Liste der stationsersetzenden Leistungen; das heißt, zehn Operationen - ich greife einmal eine fiktive Zahl - werden demnächst aus dem stationären Bereich in den ambulanten Bereich verlagert, weil man weiß, dass die Qualität gleich, teilweise sogar höher als im stationären Bereich ist. Was müsste denn dann geschehen? Es müsste ein Transfer geschehen ({6}) vom stationären Bereich in den ambulanten Bereich, und zwar unter der Fragestellung: Wo wird das Geld am sinnvollsten ausgegeben? Dies bereitet uns aber noch Schwierigkeiten. Da möchten wir mit Ihnen gemeinsam konstruktiv arbeiten, weil Sie genau wissen, dass im Krankenhausgesetz noch einige Hindernisse bestehen, ohne weiteres Gelder aus dem stationären Bereich in den ambulanten Bereich zu transferieren. Eines darf aber nicht geschehen - das ist ja Ihr Ruf nach mehr Geld im System -, dass man nämlich sagt: Wir verlagern zehn Operationen aus dem stationären Bereich in den ambulanten Bereich. Das Geld dafür kriegen wir von dort aber nicht. Also muss zusätzlich Geld in den ambulanten Bereich hinein. ({7}) - Ja, ja, wären Sie seinerzeit unserem Globalbudget gefolgt; dann wäre das alles sehr viel besser möglich gewesen. ({8}) Der vierte Punkt, an den ich erinnern möchte: Wenn man jenseits der vielen abstrakten Diskussionen über Friede, Freude, Eierkuchen - das unterschreibt ja jeder in den konkreten Alltag geht, geht es doch um Folgendes: Ich erinnere mich sehr wohl, dass die Kurorte sagten, dass Herr Seehofer zur Stabilisierung der Entwicklung in Deutschland sagte: Wir machen jetzt ein Beitragsentlastungsgesetz. Wir machen ein Gesetz für mehr Wachstum und Beschäftigung zugunsten der Bäder. - Sie wissen, was dabei herausgekommen ist. Es geschah das genaue Gegenteil und zusätzlich gab es noch Beitragserhöhungen, und zwar Jahr für Jahr. ({9}) Ich will gar nicht darauf eingehen, dass das den Standort Deutschland hinsichtlich der Lohnnebenkosten enorm beschädigt und lädiert hat. Wir versuchen nicht nur umzusteuern, sondern haben dazu erste Schritte getan. Es geht um die entscheidende Frage: Wird das vorhandene Geld - hochgerechnet immerhin 270 Milliarden DM in diesem Jahr - an der richtigen Stelle ausgegeben? ({10}) In diesem Zusammenhang haben OECD, WHO und der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen gesagt: Es ist zwar viel Geld da, aber es wird nicht an der richtigen Stelle und nicht effizient genug ausgegeben. - In diesem Zusammenhang verweise ich auf das schon etwas malträtierte Beispiel vom Rolls Royce und einem Polo oder vom Mercedes und einem Golf. Ich sage immer: Die Deutschen bezahlen in der medizinischen Versorgung offensichtlich Geld fürs Taxi und gehen anschließend zu Fuß. ({11}) Wo liegen die Probleme? Immer noch steigen die Kosten für oftmals unnötig oder schlecht erbrachte Leistungen. Das ist ein ganz einfacher, aber schlimmer Umstand. Zu lange - Aspekt Gerätedichte - wurde zu wenig geprüft, ob der betriebene Aufwand in einem sinnvollen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen steht. Erst langsam setzt sich doch bei uns allen - ich nehme mich davon nicht aus - die Erkenntnis durch, dass viele teure Untersuchungen für den Patienten keinen medizinischen Nutzen haben; häufig kommt es im Gegenteil zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefährdung des Patienten. In diesem Zusammenhang erwähne ich Röntgenaufnahmen bei Doppeluntersuchungen. Eine ähnliche Problematik gibt es in dem Bereich ambulanter und stationärer Operationen, den ich eben schon gestreift habe. Es wird immer noch zu viel stationär, mit einer nicht sehr viel besseren Qualität als ambulant, operiert. Hier fehlt es an Geld und in diesem Bereich müssen wir zu Transferleistungen kommen. Ein Beispiel, das mich sehr bedrückt: Gleichzeitig wächst leider die Zahl der nicht erbrachten, aber dennoch abgerechneten Leistungen in einem Umfang von vielen Millionen Mark. Man spricht in diesem Zusammenhang, Herr Lohmann, vielfach abwiegelnd von einzelnen schwarzen Schafen, obwohl es sich nach überprüften Abrechnungen und Stichprobenuntersuchungen der Kassen eigentlich mehr um ganze schwarze Herden - damit sind nicht Sie bildlich gemeint - handelt. All diese Umstände gehen zulasten der Patienten und damit der Beitragszahler; sie betreffen vor allem diejenigen Bereiche, bei denen jede Mark dringendst notwendig gebraucht wird, nämlich für eine sinnvolle Sekundär- und Tertiärprävention oder für die Behandlung chronisch Kranker. Sie wissen aus der Anhörung - dem ist auch nicht widersprochen worden -, dass rund 500 Millionen DM pro Jahr eingespart werden könnten, wenn man Diabetes zeitgerecht und zielgerichtet behandeln könnte. Probleme bestehen auch bei der Ausbildung; ich nenne die Begriffe ganzheitlich versus Facharzt. Weil das häufig nicht klappt, sind wir zu der Lösung einer integrierten Versorgung gekommen, bei der die Kompetenzen aus allen Bereichen gebündelt werden. In dieser Anhörung ist also gesagt worden: 500 Millionen DM versickern im deutschen System, weil durch ein nicht zeitgerechtes Erkennen von Diabeteserkrankungen amputiert werden muss, weil zu viele Erblindungen oder Nierenversagen mit anschließenden hohen Dialysekosten auftreten. Das sind die Probleme des Gesundheitssystems. Mit Verlaub, Herr Dr. Thomae: Dahinter treten doch im Grunde genommen die Fragen nach dem Budget zurück. Wer diese Fehlentwicklungen unverdrossen ignoriert und nach mehr Geld für das System ruft, dem möchte ich die Einschätzung von Professor Reinhard, einem der berühmtesten Gesundheitsökonomen, der an sehr vielen Tagungen in Deutschland teilnimmt, mitteilen. Er skizziert das deutsche Gesundheitswesen so: In den langen Jahren, bis in die 80er- und 90er-Jahre, ist die deutsche Gesundheitspolitik auf eine reine Einkommenspolitik degeneriert. Genau an dieser Stelle liegt das Problem. ({12}) Es steht eben vielfach nicht der Patient im Vordergrund. Eben wurde argumentiert - ich weiß nicht, wer es war; ich glaube, Herr Parr -, die Ärzte im Osten hätten für ihre Praxen hohe Summen aufgewendet und könnten diese Kosten jetzt nicht erwirtschaften. Das ist doch nicht das Problem. Das Geld hat nicht den Investitionen der Ärzte zu folgen, sondern wir müssen die Frage beantworten: Was brauche ich für den Patienten? ({13}) Keine andere Frage gilt es zu beantworten. Wenn Geldströme nur deshalb verlagert werden, weil der Leistungserbringer nicht genug Geld erhält, hat der Patient Nachteile oder Schäden zu befürchten. Das ist, Herr Dr. Thomae, ein bisschen flach, aber nun ja. Mehr Geld bedeutet nicht automatisch mehr Qualität. Das Geld der Beitragszahler ist in der Vergangenheit häufig nicht der Leistung, sondern den Wünschen der gut organisierten Leistungserbringer gefolgt. Das wollen und müssen wir ändern. Die Bundesregierung hat mit der Gesundheitsreform 2000 erste Schritte zu mehr Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement getan. Hierfür sind schon viele Beispiele genannt worden. Ich komme zum Schluss, obwohl ich gerne noch auf den Versandhandel als neue wettbewerbliche Form und auf die integrierte Versorgung eingegangen wäre, bei der die KVen landesweit jeden Stock in den Weg werfen, nach dem Motto: Bloß keine neue Versorgungsform; denn es könnte sich dann ja offenbaren, dass diese besser ist und mehr Drive in die Versorgung der Patienten bringen könnte. Wir sind sehr froh, dass wir jetzt mit allen Leistungserbringern über alle schwerwiegenden Fragen am runden Tisch diskutieren werden. Vielleicht gibt es die Möglichkeit zu einem Lahnstein 2, Herr Seehofer. In Würdigung der Arbeit des Kollegen Lohmann mag man es auch Lüdenscheid 1 nennen. Wir hoffen, dass Sie auch aufgrund Ihrer Erfahrungen mit der Renten- und der Steuerreform konstruktiv mitarbeiten werden; denn auch wir wollen nicht, dass sich das manifestiert, was eine große deutsche Zeitung in der letzten Woche geschrieben hat: „Derzeit ist die Opposition nicht nur nicht regierungsfähig, sie ist noch nicht einmal oppositionsfähig.“ Schönen Dank für das Zuhören. ({14})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Carola Reimann ebenfalls für die Fraktion der SPD.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Gesundheitspolitiker müssen wir Lösungen verantworten, die den vielfältigen Interessen der Akteure - Ärzte, Krankenkassen, pharmazeutische Hersteller und vor allem Patienten - gerecht werden. Dazu gehören eine bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung und eine rationale Arzneimitteltherapie, die auch wirtschaftlich ist. Diesen Maßstäben ist der vorliegende Entwurf eines Festbetrags-Anpassungsgesetzes ebenfalls verpflichtet. Unser Vorschlag erlaubt eine moderate Entwicklung der Arzneimittelpreise und bildet so eine Voraussetzung für Beitragssatzstabilität. Worum geht es nun bei Festbeträgen? Die schon 1989 eingeführten Festbeträge für Arzneimittel sind ein Instrument zur Kostensteuerung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für die Kostensituation der Kassen ist die Entwicklung des Arzneimittelmarktes ein ganz wesentlicher Faktor. Es geht dabei um ein Finanzvolumen von 36,8 Milliarden DM - das sind die Zahlen von 1999 - bei 783 Millionen Verordnungen. Die Festbeträge ermöglichten in der Vergangenheit eine Begrenzung der Ausgaben für Medikamente. Das entlastete Beitragszahler und Kassen, und das bei einer Arzneimittelversorgung auf hohem Niveau. Gleichzeitig intensivieren Festbeträge den Preiswettbewerb, weil sie die Hersteller zwingen, ihre Marktanteile über günstige Angebote zu sichern, einen Wettbewerb, den die F.D.P. eigentlich so gerne möchte. Der Erfolg dieses Systems zeigte sich in der moderaten Preisentwicklung auf dem Gesamtmarkt. Nach den bislang geltenden Regelungen bestimmen die Spitzenverbände der Krankenkassen in Zusammenarbeit mit dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen die Festbeträge. Letzterer definierte die Gruppen von Medikamenten, für die Festbeträge galten. Die Festbeträge wurden mithin von den Selbstverwaltungsorganen unseres Gesundheitssystems ausgehandelt. Mit den Festbeträgen hatte man ein wirksames Instrument zur Stabilisierung der Kostensituation. Jetzt ist der Gesetzgeber erneut gezwungen, über Lösungen in diesem Bereich nachzudenken; denn das Bundessozialgericht hat in einem 1995 gefassten Beschluss das Festbetragsmodell als verfassungswidrig eingeschätzt. Das Verfahren ist in Karlsruhe noch anhängig. Darüber hinaus gibt es kartellrechtliche Bedenken: Die Krankenkassen seien Unternehmen und folglich seien deren Spitzenverbände Unternehmensvereinigungen. Hier könnte also ein Nachfragekartell bestehen. Das hindert jetzt die Krankenkassenverbände an einer rechtswirksamen Bestimmung der Festbeträge; denn das Bundeskartellamt will künftig Absprachen in diesem Bereich konsequent unterbinden. In Verantwortung für eine kosteneffiziente und bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung muss der Gesetzgeber deshalb jetzt handeln. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Festbetrags-Anpassungsgesetzes wird sich Rechts- und Planungssicherheit im Bereich der Arzneimittelversorgung wieder herstellen lassen. ({0}) - Das sage ich Ihnen gleich. - Dieser Gesetzentwurf hat nicht in einer dunklen Schreibstube das Licht der Welt erblickt. Er ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der pharmazeutischen Industrie. Durch die tatkräftige Geburtshilfe des Bundesgesundheitsministeriums konnten die vielfältigen Interessen in einer, wie ich finde, tragfähigen Lösung zusammengeführt werden. Wie sieht dieser Konsens nun konkret aus? Die Neuregelung schafft die gesetzliche Grundlage für eine einmalige allgemeine Anpassungsrunde der Festbeträge. Das heißt: Bis zum Ende des Jahres 2003 legt das Bundesministerium für Gesundheit die Festbeträge im Einvernehmen mit dem Wirtschaftsminister fest. Die Bestimmung der Festbeträge orientiert sich dabei an einer bedarfsgerechten, qualitativ hochwertigen und zugleich wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung. Sie folgt den bewährten Prinzipien und der Gesetzentwurf enthält die Kriterien: Mindestens ein Drittel der Verordnungen und mindestens ein Viertel der Packungen müssen zum Festbetrag verfügbar sein. Für die Absenkung der Festbeträge wurde eine Kappungsgrenze von 27,5 Prozent ausgehandelt. Damit bieten wir auch der pharmazeutischen Industrie einen sicheren Kalkulationsrahmen. Der vorliegende Entwurf erlaubt es, die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Festbeträge wirken sich positiv auf die Preisentwicklung aus. Erfahrungsgemäß ist mit Preissenkungen in diesem Bereich zu rechnen. Wir rechnen mit einem Einsparvolumen von jährlich 650 Millionen DM. Es sollte auch an dieser Stelle gesagt sein, dass es sich nicht um ganz kleine Beträge handelt. Gleichzeitig bietet die Lösung mehr Transparenz. Der Entwurf sieht neu vor, dass die betroffenen Präparate ins Internet eingestellt und die Beschreibungen vierteljährlich aktualisiert werden. Meine Damen und Herren, bei unserem Vorschlag handelt es sich um eine klar befristete Lösung. Wir möchten keineswegs die lange Tradition erfolgreicher Selbstverwaltung gegen Bürokratie und Vorschriften eintauschen. Wir meinen, dass die langfristige Sicherung einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung nur durch Kooperation zu bewerkstelligen ist. Das Festbetrags-Anpassungsgesetz ist deshalb mit einem Verfallsdatum versehen, nämlich dem 31. Dezember 2003. Wir brauchen eine ordnungspolitische Weiterentwicklung des Arzneimittelsektors, und zwar eine, die weit über die gegenwärtige Praxis hinausweist. Dazu müssen sich aber alle Akteure in einer vorurteilsfreien Diskussion zusammenfinden können. Dieser Gesetzentwurf schafft mit der Übergangslösung einen Zeitpuffer, der diesen Dialog ermöglicht, zu dem wir alle einladen. Zugleich begründet er natürlich einen neuen Wettbewerb der Ideen. Die Ziellinie ist der 31. Dezember 2003, und die Siegertrophäe ist eine umfassend abgewogene rechtssichere Lösung, die auch die künftige Rechtsprechung zum gegenwärtigen Festbetragssystem berücksichtigt. ({1}) Ein ganz entscheidender Schritt in diese Richtung ist bereits getan. Mit der Eröffnung des „Runden Tisches zur Zukunft des Gesundheitswesens“ hat die Bundesregierung ihren Willen zum Dialog dokumentiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Hintergrund der Verantwortung, die wir in der Gesundheitspolitik haben, können wir eine Kostenexplosion in der Arzneimittelversorgung nicht zulassen. Deswegen sehe ich zum vorliegenden Entwurf des Festbetrags-Anpassungsgesetzes keine Alternative. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Damit schließen wir die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 14/6041 und 14/6054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie Zusatzpunkt 3 auf: 4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Günter Nooke, Ulrich Adam, Klaus Brähmig, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Konzertierte Förderpolitiken für Ostdeutsch- land - Drucksachen 14/3546, 14/4125 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Friedrich Merz, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland 2015 - Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland - Drucksache 14/6038 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- schaft Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2000 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit - Drucksachen 14/4129, 14/4694 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Schubert ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Offensive für Zukunftsinvestitionen in neuen Bundesländern starten - Abwanderung stoppen - 10-Punkte-Programm für den Aufbau Ost - Drucksache 14/6066 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor, über den wir anschließend abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Günter Nooke. ({3})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über den Aufbau Ost - wieder einmal, könnte man sagen. Aber es ist notwendig! Nicht neue Konsensgespräche, runde Tische außerhalb des Parlaments und schon gar nicht Kungelrunden mit SPD-Ministerpräsidenten werden diesem Thema und dieser nationalen Herausforderung gerecht. Das Bündnis für den Aufbau Ost muss der Deutsche Bundestag sein, und es wäre sicher gut gewesen, wenn nicht nur meine Fraktion, die CDU/CSU, und die der F.D.P. hier konkrete Anträge zum Aufbau Ost vorgelegt hätten. ({0}) Doch die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung sind tief zerstritten. Derzeit gibt es ein chaotisches Durcheinander bei den SPD-Abgeordneten, bei den Grünen und auch bei den Mitgliedern der Bundesregierung. Die Chefsache Aufbau Ost von Bundeskanzler Gerhard Schröder beschränkt sich auf gestellte Bilder mit wiederentdeckten Cousinen in Thüringen. ({1}) Das gibt zwar für einen Tag Bilder in den Zeitungen, hat aber doch den Beigeschmack, dass damit die Menschen in den neuen Bundesländern für dumm verkauft werden. Bitte gehen Sie davon aus, Herr Bundeskanzler, dass Agitation und Propaganda in den neuen Bundesländern eine längere Tradition haben als im Westen und deshalb weniger geachtet und weniger wirksam sind, als Sie vielleicht meinen. Wolfgang Thierse, immerhin der Bundestagspräsident, hat sich in die Debatte mit dem falschen Bild vom Osten, der auf der Kippe steht, eingemischt. Ich habe es begrüßt, dass er damit ein wichtiges Thema wie den Aufbau Ost auf die gesamtdeutsche Tagesordnung gesetzt hat. Er kam nicht umhin, die von seiner eigenen Partei geführte Bundesregierung in massiver Weise zu kritisieren. Allerdings gibt es seitdem nicht nur im Parlament und in der Regierung, sondern auch in der Öffentlichkeit einen Wirrwarr an Fakten, Meinungen und unterschiedlichsten Interessen. Die Chefvolkswirte der deutschen Banken erklären, warum eine Sonderförderung für den Osten nicht notwendig ist. Ich behaupte, sie verfolgen damit vor allem ein Interesse: keine weiteren Kredite für den Osten. Sie haben Thierse kritisiert, dass das Bild vom „Osten auf der Kippe“ nicht stimme. Aber vielleicht sind sie es sogar, die nicht an den Osten glauben, auch wenn sie es nicht sagen. ({2}) Vielleicht haben gerade sie davor Angst, dass noch mehr faule Kredite für den Osten ihnen die Bilanzen verderben. Dem haben sich einige Sachverständige und Gutachter angeschlossen, die zuvor noch den Nachholbedarf des Ostens bei der Infrastruktur mit 300 Milliarden DM bezifferten und jetzt im Auftrag der Bundesregierung nur noch die Hälfte davon ermitteln. Daneben gibt es Demographen, die die Abwanderung von jungen, kreativen und flexiblen Menschen aus den neuen Bundesländern entweder für nicht problematisch oder sogar für wünschenswert halten. Andere wiederum meinen, diese Abwanderung sei die größte seit der Völkerwanderung nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die einen schädigen ihren Ruf, die anderen verfolgen eigene Interessen. Nur seriöse Politikberatung sehe ich weit und breit kaum. Wir befinden uns immer noch in einer Situation, in der die einen dramatisieren und die anderen die Lage unverantwortlich schönreden. Der Zeitpunkt dieser Diskussion ist natürlich nicht zufällig. Es geht bei den Verhandlungen von Bund und Ländern im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich und dem Solidarpakt II, der Anschlussfinanzierung nach 2004, um sehr viel Geld. Auftragsgutachten hin oder her, natürlich braucht der Osten noch besondere finanzielle Unterstützung und natürlich brauchen die von besonders hoher Arbeitslosigkeit geprägten Regionen in den neuen Bundesländern erhebliche Mittel für regionale Entwicklungen und für Aufträge, damit kleine und mittelständische Betriebe vor Ort stabilisiert werden können. ({3}) Natürlich brauchen wir auch mehr industrielle Kerne und Ansiedlung von Großbetrieben, damit die Chance einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung im Osten wenigstens bestehen bleibt. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle reden viel zu viel über Geld und zu wenig über Ziele und Prioritäten beim Geldausgeben. Wir haben deshalb in unserem Antrag „Deutschland 2015 - der Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland“ die grundsätzliche Richtung der Entwicklung beschrieben. Wir haben aus ostdeutscher Perspektive konkrete Vorschläge gemacht, wo Prioritäten gesetzt werden sollten, was notwendig ist und was zu tun wäre, und natürlich auch, welche finanzielle Unterstützung die neuen Bundesländer noch brauchen, damit Chancengleichheit für die Entwicklung in den neuen Ländern besteht. Als Erstes sage ich hier für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz klar: Die blühenden Landschaften im Osten Deutschlands gibt es. ({4}) Es ist viel erreicht: zuerst von den Menschen in den neuen Bundesländern, aber auch mit der Unterstützung vieler, die aus dem Westen in den Osten kamen, und derjenigen, die in den alten Bundesländern für den Osten gezahlt haben. Das Geld ist gut und sinnvoll angelegt. Wir sollten weiterhin festhalten: Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit in Freiheit sind positive Bezugspunkte für das nationale Selbstbewusstsein aller Deutschen. Es gibt aber erhebliche Probleme beim Aufbau Ost. Der Osten steht zwar nicht auf der Kippe, die neuen Länder befinden sich jedoch an einer Weggabelung. Wenn die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen so weitermachen wie bisher, wird es immer teurer und frustrierender. Heute fehlende Investitionstransfers führen morgen zu doppelten Sozialtransfers. ({5}) Die Wachstumsrate lag im vergangenen Jahr in Ostdeutschland bei 1,3 Prozent und in Westdeutschland bei 3,4 Prozent. Die Aufholjagd des Ostens gegenüber dem Westen hat sich in den letzten zwei Jahren ins Gegenteil verkehrt; der negative Trend hat sich sogar verstärkt. Die jetzige Bundesregierung hat dem bisher nichts entgegengesetzt. Sie hat auch kein Konzept erkennen lassen, wie sie ihm begegnen will. Ich kann mich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesregierung im Osten eine Strategie der „passiven Sanierung“ verfolgt. Derzeit wandern Arbeitskräfte, die im Westen gebraucht werden, aus dem Osten ab. Zusätzlich kommen ab 2006 wegen des radikalen Geburtenrückgangs nach dem Zusammenbruch der DDR immer weniger Menschen auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt. Dieser Bundeskanzler, der sich an der Zahl der Arbeitslosen messen lassen wollte, bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosenstatistik. ({6}) Unser Leitbild ist ein anderes: Wir halten am Ziel einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung fest und sind nicht, wie der Bundestagspräsident, der Meinung, dass Ostdeutschland als Industrieregion keine Chancen hat; schauen Sie einmal nach Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt und in den Ostteil sowie das Umland Berlins. Natürlich haben die neuen Bundesländer als Industriestandort sowie als Standort für moderne Dienstleistungen und für die Internet-Branche eine Zukunft. Unser Leitbild für den Aufbau Ost ist von einem föderalen Grundansatz geprägt. Elf Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit sind Unterschiede zwischen Nord und Süd nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in Ostdeutschland sehr wohl erkennbar. Gleichermaßen muss man aber feststellen, dass Unterschiede zwischen Ost und West bestehen. Diese sind von einer anderen Qualität: 40 Jahre getrenntes Leben in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hat die Menschen unterschiedlich geprägt und die Wirtschaft sowie die Infrastruktur unterschiedlich zur Entfaltung kommen lassen. Das kann in elf Jahren nicht aufgeholt werden. Der Verweis auf 16 Bundesländer mit unterschiedlichen Prägungen und Entwicklungen darf aber nicht dazu führen, dass das Thema Aufbau Ost von der Tagesordnung genommen wird. Wir fragen in unserem Antrag, wo Deutschland 2015 stehen soll, und erkennen an, dass der Weg dorthin zwischen den alten und den neuen Bundesländern unterschiedlich sein wird. Wir werden feststellen müssen, dass auch der Weg für Mecklenburg-Vorpommern, für Berlin und für Sachsen unterschiedlich sein wird. Wir wollen, dass jedes Bundesland - auch die östlichen - dazu seinen Beitrag leistet, die gesellschaftlichen Grundtrends erkennt und sie für die eigenen Entwicklungen nutzt. Es geht darum, nicht über die eigenen Schwächen zu jammern, sondern die eigenen Stärken zu nutzen. ({7}) Eine einseitige Orientierung auf die Angleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse der östlichen an die westlichen Bundesländer ist der falsche Maßstab. Es ist frustrierend und führt zur Resignation, wenn der Osten dem Westen auf ausgefahrenen Wegen hinterher hechelt. Natürlich wollen auch wir mehr Wachstum in den neuen Bundesländern. Das Ziel muss aber die Modernisierung Deutschlands sein. Es kann nicht darum gehen, Strukturen, die in den alten Bundesländern auch 1990 schon als modernisierungsbedürftig angesehen wurden, weiter auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Für den Osten kann es nicht gut sein, ausgefahrene Gleise in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik einfach weiter zu befahren. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kaspereit, Sie können gleich fragen. - Die neuen Bundesländer sollten sich nach unserer Auffassung nicht in jedem Einzelbereich an der alten Bundesrepublik orientieren und sie zum Leitbild nehmen. Für uns ist der Aufbau Ost kein Nachbau West. Deutschland 2015 ist für uns genau dann eine Vision, wenn östliche und westliche Bundesländer ihren jeweils eigenen Weg dorthin finden können. ({0})

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nooke, ich habe Sie gerne ausreden lassen. - Ich habe in Ihrem Antrag eine - und zwar nur eine - konkrete Aussage gefunden. Es besteht darin aber ein erheblicher Widerspruch: Auf der einen Seite fordern Sie die Öffnung von Tarifverträgen in der Wirtschaft und stellen damit auch die Tarifverträge in den alten Bundesländern in Frage, indem Sie von einem Vorbild für den Westen sprechen. Auf der anderen Seite wollen Sie den Bundesbediensteten die Angleichung auf 100 Prozent des Westgehalts ermöglichen, und zwar relativ schnell. In diesem Zusammenhang habe ich folgende Fragen: Wie hoch veranschlagen Sie die Kosten? Wie soll das Geld dafür aufgebracht werden? Meines Erachtens gibt es vier Möglichkeiten: Anhebung der Staatsverschuldung, höhere Transfers aus dem Westen in den Osten für konsumptive Zwecke, Verzicht auf Wirtschaftsförderung oder auf andere freiwillige Leistungen oder Personalabbau. Wie stellen Sie sich also konkret diese Finanzierung vor und wie wollen Sie sie politisch vertreten? ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kaspereit, wir haben vorgeschlagen, ab dem Jahr 2003 die Angleichung der Löhne und Gehälter in Zwei-Prozent-Schritten auf 100 Prozent bis zum Jahr 2007 auf Bundesebene herbeizuführen. Das kostet nach Schätzungen des Bundesinnenministers am Ende ungefähr 780 Millionen DM. Es ist richtig, dass wir vorgeschlagen haben, dass es für Berufseinsteiger in den Bundesbehörden heute schon den gleichen Lohn geben sollte. Es kann doch nicht richtig sein, dass mitten in Berlin elf Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit beim Innenminister in Moabit Westlöhne und beim Bauminister in der Invalidenstraße nur Ostlöhne gezahlt werden. ({0}) Weil wir wissen, dass dies in den neuen Bundesländern nicht ohne weiteres bezahlbar ist, haben wir in dem Antrag konsistenterweise geschrieben - ich muss sagen, dass Sie ihn doch nicht ganz richtig gelesen haben -: Öffnungsklauseln sollten ein Abweichen von der Stufenregelung auf Bundesebene erlauben. - Dass aber für Bundesbedienstete ungleiche Verhältnisse bestehen, ist nicht richtig. Wir wollen dem Innenminister die Hintertür verschließen, sein Nichthandeln damit zu begründen, dass die Länder nicht mehr Gehalt zahlen können. Diese Auffassung kann nicht richtig sein. ({1}) - Was das kostet, haben Ihre Kollegen in den Ländern doch gesagt! Herr Timm aus Mecklenburg-Vorpommern hat sich unserer Auffassung angeschlossen und fordert das Gleiche wie wir. Sie müssen diese Unstimmigkeit innerhalb der SPD selbst regeln. Ich habe ebenfalls gesagt, dass ich damit einverstanden bin, wenn Sachsen eigene Wege geht. Wir haben in unserem Antrag konkrete Punkte und grundsätzliche Aussagen zu verschiedenen Politikbereichen gemacht. Einen Punkt habe ich gerade genannt. Es geht bei der Wirtschaftspolitik natürlich um Ansiedlung in den neuen Bundesländern. Nur mit innovativen Produkten kann Ostdeutschland neue Absatzmärkte erobern. Das heißt auch, Kooperationsstrukturen zwischen Wirtschaft, Forschungseinrichtungen und Universitäten sind herzustellen. Überregulierungen sind abzubauen. ({2}) Überflüssige Verwaltungsvorschriften, die irgendwann in der alten Bundesrepublik in den 60er- und 70er-Jahren Sinn machten, können heute und morgen im Osten kontraproduktiv sein. Das gilt auch, wenn die Bundesregierung jetzt das Betriebsverfassungsgesetz mittelstandsfeindlich verschärft. ({3}) Bei unsinnigen Baustandards brauchen wir Öffnungsklauseln. In ostdeutschen Kindergärten kann zum Beispiel der Abstand der Kleiderhaken selbst bestimmt werden. Zuerst geht es um eine bessere Verkehrsinfrastruktur und um den Straßenbau in Ostdeutschland. Es geht auch um die Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur. Im Sinne der Vorschläge des Sprechers der ostdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz, Bernhard Vogel, fordern wir eine Infrastrukturpauschale, die für den Bau kommunaler Verkehrsanlagen, für Schulen, Bildungseinrichtungen und Umweltschutzprojekte wie Abwasserkanäle und Kläranlagen bereitgestellt wird. Es ist besser, jetzt einen Teil davon in Angriff zu nehmen, als wenn es erst in fünf oder zehn Jahren geschieht. Insofern ist die Forderung von Ministerpräsident Vogel nach einem Sonderprogramm Ost voll gerechtfertigt. ({4}) - Ich habe keine 40 Milliarden gefordert. Aber da Sie dazwischenrufen, muss ich Ihnen sagen: Sie sind doch nur neidisch, dass Herr Vogel das vorgeschlagen hat. ({5}) Der Bundeskanzler kann jetzt im Wahljahr nicht mehr durch die Lande ziehen und sagen, das sei seine Idee gewesen. Wir haben Ihnen die Tür verschlossen, mit billigen Wahlgeschenken in Höhe von 1 oder 2 Milliarden DM den Osten wieder vorzuführen. ({6}) Wir haben den Finger in die Wunde gelegt. Sie haben bislang nichts getan. Das Verabreichen von Placebos im Wahljahr lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({7}) Wir haben mit unserem Antrag - das will ich noch einmal betonen - nicht nur Forderungen aufgeschrieben, schon gar nicht nur solche, die Geld kosten. Wir haben auch an das Selbstbewusstsein der Menschen in den neuen Bundesländern appelliert, die zum Beispiel in Sachsen und Thüringen im Bildungsbereich eigene Wege gegangen sind, die auf dieses moderne Deutschland im Jahre 2015 hindeuten. Ich nenne zum Beispiel das Abitur nach zwölf Jahren oder die verstärkte Ausbildung im Technik- und Naturwissenschaftsbereich. Wir wollen mit diesem Antrag auch Schritte zur Reform des Föderalismus einleiten. Die Leitideen für die Gestaltung föderaler Beziehungen in Deutschland sollten Eigenständigkeit, klare Verantwortlichkeit und Transparenz sein. Ziel muss es sein, die Handlungsfähigkeit aller politischen Ebenen zu stärken. Wir brauchen in Bund und Ländern effizientere Entscheidungsstrukturen. Der Bund könnte Flexibilisierungsgesetze erlassen, die es den alten wie den neuen Bundesländern erlauben, bei der Erfüllung von Aufgaben im eigenen Wirkungskreis von bundesstaatlichen Standards abzuweichen, wenn die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung gewährleistet ist. ({8}) Wir wollen, dass Anreize geschaffen werden, damit Fähigkeiten und eigene Potenziale ausgeschöpft werden. Sowohl das Handeln als auch das Nichthandeln müssen Folgen haben. Die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg soll durchaus auch im Hinblick auf die Bundesländer den politisch Verantwortlichen zugerechnet werden. Was die Bundesebene angeht, haben wir zum Beispiel vorgeschlagen, sich beim Wohnungsbau zurückzunehmen, den Ländern Geld zur Verfügung zu stellen, damit sie eigene Konzepte umsetzen können. ({9}) - Wollen wir noch extra über den Wohnungsbau reden? Derzeit stellen Sie für den Osten kein Geld zur Verfügung. Herr Eichel sitzt auf dem Geld und Herr Schwanitz hält ihm den Rücken frei. ({10}) Der Aufbau Ost - das will ich abschließend sagen kann nach unserer Meinung nicht allein dadurch vorankommen, dass sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten im Kanzleramt treffen. Wenn diese Kungelrunde auch noch Beschlüsse über die Höhe des Solidarpaktes II fasst, Herr Bundeskanzler - und zwar in einer Art und Weise, die weit hinter dem zurückbleibt, was CDU- und SPDMinisterpräsidenten gemeinsam gefordert haben -, ({11}) dann ist das dreist und dumm zugleich. Dafür spricht auch die Ignoranz gegenüber den demokratischen Institutionen in unserem Land. ({12}) Ich fordere die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen auf, sich unserem Antrag anzuschließen und heute im Deutschen Bundestag gemeinsam mit uns für den Aufbau Ost zu streiten. Wir brauchen für den Aufbau Ost keinen runden Tisch, schon gar nicht mit halber Besetzung im Kanzleramt; wir brauchen nur die Zusammenarbeit der Vernünftigen in diesem Hause. Danke schön. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Kanzleramt, dem Kollegen Rolf Schwanitz.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vergangenen Woche, fast zur gleichen Uhrzeit wie heute, hat hier eine Debatte über das Maßstäbegesetz stattgefunden. In dieser Debatte gab es eine Situation - die Redner haben das nicht wahrgenommen, zumindest haben sie in ihren Reden darauf keinen Bezug genommen -, die mich persönlich sehr nachdenklich gemacht hat. Für die Zuschauer an den Bildschirmen muss man Folgendes sagen: Im Maßstäbegesetz sollen die Rahmenbedingungen für den neuen Länderfinanzausgleich - es geht um die Regelung der Hilfen für die neuen Bundesländer für die Zeit nach 2004 - festgelegt werden. Der amtierende Präsident hat kurz die Debatte unterbrochen, um eine Parlamentsdelegation aus Litauen zu begrüßen. Die Situation war ganz eigentümlich: Wir, die anwesenden Parlamentarier, befanden uns in einer emotionalen Debatte, in der wir darum rangen, wie es nach 2004 weitergeht. Eine wichtige Forderung war, dass die Hilfen für die neuen Bundesländer zehn Jahre nach 2004 fortgeführt werden. Der Ministerpräsident von Thüringen wies darauf hin - was ich gar nicht kritisieren will -, dass die ostdeutschen Länder im Jahre 2005 16 Jahre lang dasjenige Gebiet in Europa gewesen sein würden, das am meisten gefördert worden sei, woran sich nichts ändern dürfe. Und auf der Besuchertribüne schauten uns sehr interessierte, nachdenkliche und aufmerksame Gesichter zu. Mein Fazit dieser Situation sah so aus: Trotz aller Kontroversen in unseren Debatten und trotz all unseres Schlagabtauschs - manchmal in einer Grobschlächtigkeit, die ich nicht kommentieren will - müssen wir immer wieder überprüfen, ob die Maßstäbe, die wir persönlich in der politischen Auseinandersetzung anlegen, auch von anderen an solche Debatten angelegt werden. ({0}) Die Ministerpräsidenten der neuen Länder haben vor kurzem auf einer Ministerpräsidentenkonferenz erklärt: Es ist in den letzten zehn, elf Jahren sehr viel passiert in den neuen Bundesländern, der Aufbau Ost gelingt. Ich sage ausdrücklich: Die Bundesregierung teilt diese Einschätzung. Ich füge hinzu: Das, was wir in den letzten zweieinhalb Jahren geschaffen haben, kann sich sehen lassen. „Wir“ setze ich nicht nur synonym mit dem, was die Bundesregierung getan hat, sondern das ist natürlich eine Gemeinschaftsleistung: der Verwaltungen, der Regierungen der neuen Länder, auch der kommunalpolitischen Ebenen und vor allen Dingen derer, die die Arbeit in den Unternehmungen, in den Betrieben vor Ort zu leisten haben. Das ist eine stolze Entwicklung, die man übrigens auch quantifizieren kann. Die für mich persönlich - jeder mag da andere Kennzahlen haben - ganz wichtigen drei Parameter sind das Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt, die Arbeitslosenzahlen - vor allen Dingen übrigens die der Unterbeschäftigung; denn bei denen, die am ersten Arbeitsmarkt nicht unterkommen, liegt ja das eigentliche Problem - und die Größe der Ausbildungsplatzlücke, also die Anzahl jener Jugendlichen, die am 30. September eines jeden Jahres noch nicht in feste Ausbildungsverhältnisse gekommen sind. Bei allen drei Parametern lagen wir in den Jahren 1999 und 2000 besser als im Jahr 1998, dem letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, und wir werden auch in diesem Jahr besser liegen. Ich will ausdrücklich sagen: Es ist richtig, wir haben in der Tat noch keine Situation wie in den alten Bundesländern. Wir haben beim Bruttoinlandsprodukt nicht die Wachstumsraten, wir haben gesamtwirtschaftlich gesehen andere Wachstumsgeschwindigkeiten, ({1}) wir haben noch nicht westdeutsche Verhältnisse. Wir haben besondere strukturelle Probleme in den neuen Bundesländern, die natürlich durchschlagen und die sich auch in den Bilanzen, insbesondere wenn man die Summen anschaut, niederschlagen. Aber ob Politik sich hinstellen und so tun darf - Herr Nooke, Sie haben das gerade noch einmal getan -, als könne man ein wie auch immer geartetes staatliches Sonderprogramm generieren, durch das dieser Unterschied zwischen Ost und West innerhalb von zwei Jahren ausgeglichen werden könne, das darf auf seine Redlichkeit hin sehr wohl kritisch hinterfragt werden. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Türk?

Not found (Gast)

Nein, ich möchte gern im Zusammenhang vortragen. Meine Damen und Herren, man muss das Bild differenziert analysieren. Das, was grobschlächtig immer mit dem schönen Bild der „Schere zwischen Ost und West“ beschrieben wird, wird der differenzierten Entwicklung in den neuen Bundesländern nicht gerecht. Auf der einen Seite hat das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe eine ganz erfreuliche Entwicklung genommen. Im letzten Jahr hatten wir bei der Produktion einen Zuwachs von 13 Prozent, völlig anders übrigens als Anfang und Mitte der 90er-Jahre, als Sie herumgelaufen sind und gesagt haben, wir seien im Osten die Wachstumsregion Nummer eins. Damals kam das Wachstum ausschließlich aus der Baubranche. Jetzt ist die Industrie der Wachstumsmotor der neuen Bundesländer geworden mit 13 Prozent Steigerung des Produktionswachstums. ({0}) Beim überregionalen Absatz, beim Export, haben wir einen Zuwachs von sage und schreibe 28 Prozent. ({1}) Ich erinnere mich noch an das letzte Frühjahr, als Sie von der Opposition hier eine Debatte losgetreten haben: Der Osten würde vom Exportboom abgekoppelt. 28 Prozent Zuwachs innerhalb eines Jahres sind eine stolze Leistung. ({2}) Wenn das Ifo-Institut gestern beispielsweise feststellte, „die Auslastung der westdeutschen Industrie ist rückläufig“, freut mich das nicht. Man sollte sich nicht freuen, wenn im Westen ein Rückgang zu verzeichnen ist. Doch gleichzeitig steht da, der ostdeutschen Industrie gehe es besser. Ich zitiere: Die ostdeutsche Industrie dürfte auch in diesem Jahr die Rolle des Konjunkturmotors übernehmen. Einer Studie zufolge ist die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auch in den internationalen Märkten wirksam geworden. Darüber können wir uns alle freuen, meine Damen und Herren. ({3}) Ursache für die unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten ist vor allen Dingen die Situation der ostdeutschen Bauwirtschaft. Da gibt es nichts darum herum zu reden. ({4}) Das hat übrigens auch eine förderpolitische Geschichte. Es sind entsprechende Kulissen aufgebaut worden und es gibt schmerzliche Überkapazitäten. ({5}) Deswegen finde ich es intellektuell unredlich, so zu tun, als gäbe es diesen strukturellen Anpassungsprozess nicht. Ohne die ostdeutsche Bauwirtschaft haben wir bei den Leistungsparametern der ostdeutschen Branchen ein Wachstum von 3,1 Prozent. ({6}) Das ist in etwa vergleichbar mit der westdeutschen Situation. Damit wird klar, welche Wirkung die schwierige Anpassungssituation in der ostdeutschen Baubranche gesamtwirtschaftlich, auch am Arbeitsmarkt, in den neuen Bundesländern hat. Der Strukturwandel ist in vollem Gange. Staatlichkeit kann diesen Anpassungsprozess nicht mit einem besonderen programmatischen Zauberstab auf wenige Jahre verkürzen. Er sollte auch nicht in die Zukunft verschoben werden; denn das wäre ein Beladen der Zukunft der neuen Bundesländer mit nicht ausgestandenen Problemen der Gegenwart. Auch dazu kann ich nicht raten. Deswegen von meiner Seite noch einmal ein ganz klares Signal: Die Debatte über diesen besonderen Impuls, von dem Sie sich versprechen, damit innerhalb von zwei Jahren westdeutsche Verhältnisse zu erlangen, vernebelt die eigene strukturelle Situation in den neuen Bundesländern ({7}) - Sie können ja nachher dazu noch etwas sagen -, knüpft an vormundschaftliche Vorstellungen von Politik und Staatlichkeit an, als könne der Staat über solche ökonomischen Entwicklungsprozesse hinwegzaubern, und - ich finde, auch das sollte man einmal aussprechen - gefährdet den Wunsch nach und die Dauerhaftigkeit von Solidarität. ({8}) Denn es kann nicht nur nach den ostdeutschen Wünschen gehen; es muss auch nach der Akzeptanz solcher Programme in den alten Bundesländern gehen. Solidarität ist ein Konto, das man nicht nur einseitig überziehen darf, sondern das auch gepflegt werden muss und bei dem man um Akzeptanz, Unterstützung und Hilfe nachsuchen muss. Das ist ein wichtiger Punkt. Deswegen ist dieser Wettlauf um das schwerste Milliardenprogramm für eine solidarische Unterstützung der neuen Bundesländer in den nächsten Jahren schädlich. ({9}) Es gibt allen Grund, stolz auf das zu sein, was die Menschen in den letzten Jahren geschaffen haben. Es war richtig, dass wir die bundespolitischen Instrumente der Förderpolitik nach dem Regierungswechsel neu ausgerichtet haben - der Etat des Bundeswirtschaftsministers und der Forschungsetat von Frau Bulmahn haben eindeutig eine klare Technologieorientierung erfahren -, dass wir auch regionalpolitisch Maßnahmen ergriffen haben, indem wir dort die Förderkonzepte ausgebaut haben und mit InnoRegio in 25 Modellregionen einen Schritt tun, der in den acht Jahren Ihrer Regierungstätigkeit nicht getan worden ist, und dass wir dies mit den zusätzlichen Hilfen aus den UMTS-Lizenzeinnahmen noch verstärken und dadurch in den nächsten Jahren Wachstumskerne entwickeln werden. Auch das ist ein richtiger Schritt innerhalb der neuen Konzeption der Bundesregierung. Andere werden sicherlich noch einiges dazu sagen. ({10}) Innerhalb des Infrastrukturausbaus dürften die Prioritäten eigentlich nicht streitig sein - jedenfalls nicht jenseits Ihrer Vorstellung, in den Kassen noch Gelder zu finden, um milliardenschwere Programme zu finanzieren. Wir haben eine Schwerpunktsetzung beim Straßenausbau. 60 Prozent aller Straßeninvestitionen in der Zuständigkeit des Bundes erfolgen in den neuen Bundesländern. Das gilt auch für die Schiene, bei der die Investitionen knapp darunter liegen; und bei den Wasserstraßen sieht es nicht anders aus. Damit werden die Prioritäten sehr deutlich zugunsten der neuen Länder gesetzt. Dafür müssen wir uns nicht verstecken. Aber dafür zu werben, dass dies auch gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird, ist eine schwere Aufgabe, die gewürdigt werden sollte. ({11}) Wir wollen bei dem Thema Stadtumbau nicht die Strategie verfolgen, die ich acht Jahre lang erlebt habe, als ich noch in der Opposition gesessen habe, nämlich so zu tun, als sei das eine Angelegenheit ausschließlich der Länder und der Kommunen. ({12}) Wir gehen das Thema Stadterneuerung grundsätzlich an. Wir haben im letzten Herbst eine Altschuldenhilfegesetzgebung gemacht, die dem Bund in den nächsten zehn Jahren 700 Millionen DM zur Altschuldenhilfe für vom Leerstand bedrohte Unternehmungen abverlangen wird. Es ist wichtig und richtig, dass wir dies tun. ({13}) Wir sind dabei, das Wohnungsbauförderrecht, den sozialen Wohnungsbau zu ändern. Wir müssen auch - das will ich klar sagen - im Bereich der Hilfe für die Stadterneuerung zusätzliche Impulse geben, ({14}) wenn wir diesen Weg gehen wollen. Wir sind fest dazu entschlossen. Herr Nooke, Sie haben in Ihrem Antrag - vorhin in der Debatte tauchte das noch einmal auf - von einem neuen Leitbild und von einer Weggabelung gesprochen, an der man stehe. Wenn irgendjemand ein neues Leitbild oder eine Weggabelung braucht, dann sind Sie es mit Ihrer Oppositionspolitik, meine Damen und Herren. ({15}) Ich meine das übrigens sehr ernst. Sie stehen vor der Wahl, ob man in den nächsten Jahren aus einem puren ostdeutschen Populismus - beim Lohn haben wir das vorhin gesagt - beim öffentlichen Dienst einen ungedeckten Scheck, den andere in der Kommune zu bezahlen haben, rüberreicht und bei den Arbeitnehmern in den Betrieben sagt, da mögen sich die Westdeutschen, bitte schön, an den Zustand der ostdeutschen Tariflosigkeit gewöhnen. ({16}) Das ist purer Ostpopulismus, der hier zum Ausdruck kommt. ({17}) Ihr Antrag ist ja noch einmal verändert worden, Herr Nooke. Das Thema Freizügigkeitsregelung quasi zwangsweise durch die Fraktion verändert zu bekommen ist sehr interessant. Ich habe schon gelesen, dass Sie Übergangsregelungen mit begrenzter Freizügigkeit für die EUOsterweiterung ursprünglich nur in den Grenzregionen des Ostens wollten und dann in der Fraktion entschieden worden ist: Nein, wir brauchen sie für Ostdeutschland insgesamt. ({18}) Dass Sie das als ostdeutscher Abgeordneter nicht erkannt haben, zeigt, wie wenig Problembewusstsein Sie in der Wahrnehmung der Situation in den neuen Bundesländern haben. ({19}) Wir stehen in der Tat vor schweren, aber, wie ich finde, auch vor lohnenswerten Debatten über die Situation und den weiteren Weg. In einem Punkt - die Debatte ist nicht beendet - sollten wir sie gemeinsam führen - dazu lade ich Sie herzlich ein -: in dem Punkt, dass das eine Generationenaufgabe ist, dass wir dazu die Kraft und die Ausdauer sowie die Hilfe dafür - da bin ich nicht anderer Meinung als Sie -, auch im Interesse der alten Bundesländer, aufgrund deren Interessenlage aufbringen müssen. Dazu gehören aber auch andere Themen. Ich reiße zum Schluss noch einmal eines an. Wir haben auch große regionale Unterschiede in den alten Bundesländern, die bisher in unserer Wahrnehmung keine Rolle gespielt haben. Dass beispielsweise der Einwohner in RheinlandPfalz im Verhältnis zu dem Einwohner in Hessen im Durchschnitt ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 70 bis 73 Prozent erwirtschaftet, ohne dass sich der Rheinland-Pfälzer als Bürger zweiter Klasse fühlt, ist etwas, worüber wir reden müssen. Das hat bisher in der Debatte keine Rolle gespielt. Es gibt also konfliktbeladene Themen, über die öffentlich zu sprechen sich lohnt. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bei dieser Weggabelung als Fraktion und ostdeutsche CDU-Abgeordnete vor einer Entscheidungssituation sehen, dann freut mich das. Wenn Sie den Weg für die richtige Entscheidung finden, dann fände ich das ganz toll. So verstehe ich Ihren Antrag und so sollten Sie sich auch bewegen. Schönen Dank. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, wenn Sie in Ihrer Rede sagen, Sie sind fest dazu entschlossen, dann muss ich Sie fragen: Was haben Sie eigentlich die ersten zweieinhalb Jahre Ihrer Regierungszeit gemacht? Das ist die Frage, an der wir Sie messen. ({0}) Ich muss Ihnen ganz einfach sagen: Die Menschen in den neuen Bundesländern schauen, ob da, wo der Staat etwas tun kann, ganz bewusst für sie Entscheidungen in eine richtige Richtung getroffen werden. ({1}) Da kann ich nur sagen: Der A3XX wird in Hamburg gebaut. Und das letzte Wort des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder war, das sei auch besser so, denn da könnten die Pendler aus Niedersachsen besser hinkommen als nach Mecklenburg-Vorpommern. Das merken sich die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Der Transrapid wird wahrscheinlich gar nicht gebaut. Und wenn er in Deutschland gebaut wird, dann entweder in Bayern oder im Ruhrgebiet. Das merken sich die Menschen in den neuen Bundesländern. Wenn Herr Scharping in seinem Ressort kürzt, dann muss ich Ihnen ehrlich sagen: Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass der Ort, an dem das Zusammenwachsen der Bundeswehr geradezu symbolisch stattgefunden hat - in Eggesin -, von den Kürzungen am stärksten betroffen ist. ({2}) Es fehlen Symbole. An solchen Symbolen könnte man erkennen, dass für die Bundesregierung der Aufbau Ost Priorität hat. ({3}) Sie sagen, dass die Situation der Bauindustrie sehr schlecht ist. Natürlich ist das so. Aber warum hat der Bundeskanzler Holzmann zu retten versucht und sich überhaupt nicht um den ostdeutschen Mittelstand gekümmert? Das ist die Frage, die wir stellen. ({4}) Herr Schwanitz, Sie versuchen hier, den Eindruck von Sachinteresse zu erwecken. Sie sollten einmal unseren Antrag lesen. Wir haben von einem Leitbild 2015 gesprochen. Wir haben nicht gesagt: „Der Osten steht auf der Kippe“, sondern wir haben gesagt: Wir sind an einer Weggabelung und brauchen eine neue Anstrengung und Öffnungsklauseln für die einzelnen Bundesländer, damit die dort bestehende Unterschiedlichkeit gelebt werden kann. Ein solches Vorgehen entsprach noch nie sozialdemokratischem Denken - außer in Ansätzen; aber da werden Sie sich nicht durchsetzen. Lieber Herr Schwanitz, sprechen Sie doch einmal darüber, dass das Abitur in Thüringen und Sachsen innerhalb von zwölf Jahren gemacht werden kann. Auch Ihr Wirtschaftsminister sagt, dass er dies prima findet. Es gibt aber kein einziges SPD-regiertes Land, das eine ernsthafte Anstrengung, das Abitur nach zwölf Jahren zu ermöglichen, unternimmt. ({5}) Die Menschen in Sachsen und Thüringen würden stolz sein und ganz Deutschland würde etwas davon haben, wenn Sie darauf hinweisen würden. Das hätte ich heute von Ihnen erwartet. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung, Herr Staatsminister Schwanitz. - Danach gebe ich der Kollegin Christa Luft zu einer weiteren Kurzintervention das Wort.

Not found (Gast)

Frau Kollegin Merkel, Sie haben noch einmal Ihren Antrag ins Gespräch gebracht. Ich will ausdrücklich feststellen: Eine Diskussion über ein Leitbild ist in Ordnung. Aber dann sollten Sie auch eines vorlegen. ({0}) Das, was Sie in Ihren Antrag hineingepackt haben, sind Allgemeinplätze gröbster Art. Große Teile, die Sie in diesem Antrag ansprechen, betreffen allein die föderale Zuständigkeit; mit dem Abitur haben Sie gerade ein solches Thema angesprochen. Er ist also nahezu substanzlos, was bundespolitische Zuständigkeiten betrifft. ({1}) Wenn Sie den Mut haben, in der Überschrift dieses Antrages von einem Leitbild 2015 zu sprechen, dann sollten Sie das in Ihren eigenen Reihen klären. Ich finde das sehr gewagt, um es einmal vorsichtig auszudrücken. ({2}) Ich habe folgende herzliche Bitte: Wenn wir es ernst damit meinen, dass in Ostdeutschland eine Generationenaufgabe vor uns liegt, zu deren Lösung in beiden Teilen des Landes noch schwere Lasten geschultert werden müssen, dann sollten wir mit solchen Diffamierungsstrategien und damit aufhören, dieses Thema auf Stammtischniveau zu behandeln. Das haben Sie hier aber leider getan. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Luft, bitte schön.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatsminister, ich stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, innerhalb von zweieinhalb bzw. drei Jahren könne eine neue Regierung nicht all das verändern, was sie vorgefunden hat. Das ist völlig klar. Aber was mich wundert, ist, dass man innerhalb von zweieinhalb bzw. drei Jahren seine Position zu den bestehenden Sachverhalten so ändert, wie Sie das getan haben. Ich sehe und höre Sie immer noch, wie Sie damals von der Oppositionsbank aus die Situation in den neuen Bundesländern beurteilt haben. Heute schätzen Sie sie ganz anders ein. Das wundert einen natürlich schon. ({0}) Ich möchte Folgendes feststellen: Wir haben in Ostdeutschland einen Anteil an der gesamtdeutschen Wohnbevölkerung von etwa 18 Prozent, aber einen Anteil an den gesamtdeutschen Arbeitslosen von mehr als 33 Prozent. Dies ist ein erstes großes Problem. Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie haben kein Wort dazu gesagt, was Sie den arbeitslosen Menschen in den neuen Bundesländern - die nicht alle „Faulenzer“ sind, wenn ich das richtig sehe -, ausgehend von dieser Debatte, anzubieten haben. Bei einem 18-prozentigen Anteil an der gesamtdeutschen Wohnbevölkerung haben wir trotz der Wachstumsraten, die Sie hier lobend erwähnt haben, einen 11-prozentigen Anteil an der Erzeugung des Bruttoinlandsprodukts, einen 7-prozentigen Anteil an der Industrieproduktion des ganzen Landes, einen 3,6-prozentigen Anteil am Export und einen etwa 5 Prozent hohen Anteil am Forschungspotenzial. Wenn man diese Zahlen analysiert, sieht man, wo die eindeutigen Schwerpunkte und wo die Schwachstellen liegen, nämlich nach wie vor im verarbeitenden Gewerbe, im Export und beim Forschungs- und Entwicklungspotenzial. Dort ist anzusetzen, wenn es in den neuen Bundesländern zu einem sich selbst tragenden Aufschwung, wie Sie das nennen, kommen soll, damit die Menschen, die dort leben und arbeiten, ihr Geld mit ihren eigenen Händen verdienen können und nicht auf Alimente angewiesen sind. ({1}) Seit 1998 hat sich - leider, so muss ich sagen; dabei darf man nicht übersehen, dass sich bestimmte Dinge zum Positiven verändert haben - an der Produktionslücke nichts verändert. Nach wie vor werden im Osten Güter und Leistungen im Wert von 200 Milliarden DM mehr verbraucht, als dort produziert werden - aber nicht deshalb, weil die Leute dort nicht bereit wären, die Ärmel aufzukrempeln. Von dem 1,8-Fachen des westdeutschen Durchschnitts bei der Arbeitslosenrate 1998 sind wir inzwischen bei dem 2,5-Fachen angelangt. Zudem hält die Abwanderungswelle an. Sie sagen zwar, Sie hielten nichts von martialischen Überschriften wie etwa der, dass der Osten ausblute. Aber dazu kann ich nur sagen: Der Osten wird ausbluten, wenn es so weitergeht. Natürlich muss man die jungen Leute darin bestärken, zu wandern. Das ist keine Frage. Aber warum wandern die eigentlich nur zwischen Ost und West ({2}) und nicht auch zum Beispiel von Greifswald nach Dresden oder von Cottbus nach Schwerin? Dies wäre doch auch eine Wanderungsbewegung. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war eine klare Frage, aber Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke schön. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun hat der Kollege Schwanitz die Möglichkeit, darauf zu antworten.

Not found (Gast)

Frau Kollegin Luft, zum Thema Abwanderung empfehle ich, von der schmerzlichen Dimension, die die Debatte durch solche Worte wie „Ausbluten“ - in der Debatte werden ja noch viel schwerere Geschütze aufgefahren ({0}) bekommt, wegzukommen und sich die Fakten anzuschauen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es in den neuen Bundesländern enorme Umbrüche gibt. Das Abwandern, das Gehen von West nach Ost, ist nur eine Dimension. Es gibt die Stadt-Land-Dimension, die sich übrigens in den alten Bundesländern seit den 70er-Jahren als Suburbanisierung vollzogen hat und dort seit Anfang der 90er-Jahre mit Brachialgewalt hineinbricht. Die ostdeutschen Länder liegen auch bei der Intensität des grenzüberschreitenden Wanderns nicht an der Spitze, sondern die höchsten Werte entfallen auf alte Bundesländer. Sachsen liegt dabei sogar unterhalb des deutschen Durchschnitts. Ich will Ihnen einmal vorlesen, was die sächsische Industrie dazu gerade erklärt hat: Festzuhalten bleibt: Es gibt parallel zur natürlichen Bevölkerungsbewegung eine rege Wanderung aus Sachsen, nach Sachsen und in Sachsen. Die Wanderungen sind nicht auf eine bestimmte Richtung beschränkt, sondern verlaufen vielgestaltig und unterliegen verschiedenen Einflüssen. Vom Ausbluten der Region kann daher nicht gesprochen werden. Zwar wandern eher junge Personen, doch dies gilt für die Fort- genauso wie für die Zuzüge und ist Ausdruck gewachsener Normalität. Ich empfehle, den Blick zu öffnen, auch mit anderen zu reden und sich nicht nur selektiv die Daten herauszusuchen, die in die eigene Argumentation passen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich nunmehr der Kollegin Cornelia Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts des „Jahresberichts 2000 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“, den wir heute zur Kenntnis nehmen, muss sich die Bundesregierung ein Hinterfragen der Bilanz der Chefsache Aufbau Ost gefallen lassen. ({0}) Lassen wir dazu doch bitte einmal die Bevölkerung in den neuen Bundesländern zu Wort kommen. Nach der jüngsten Umfrage des Emnid-Instituts sind 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern von der rot-grünen Bundesregierung enttäuscht, was ihr Engagement in den neuen Bundesländern angeht. ({1}) Das wundert auch nicht. Denn wenn man sich die letzten Wochen, Monate und Jahre ansieht, wenn man sich insbesondere die Äußerungen des Bundeskanzlers, der den Aufbau Ost zur Chefsache gemacht hat, vor Augen hält, hat man den Eindruck, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Im April noch rügt der Bundeskanzler den Bundestagspräsidenten Thierse für seine Äußerung, der Osten stehe auf der Kippe, und lehnt schlichte Aktionsprogramme für Ostdeutschland ab. Kurz darauf verkündet der Kanzler ein Sonderprogramm: Bis zu 2 Milliarden DM für den Ausbau von kommunaler Infrastruktur, ({2}) Schulen und Straßen im Osten. Es sei jedoch nicht sinnvoll, darüber in der Öffentlichkeit allzu sehr zu diskutieren, sagt der Kanzler; so zitiert in der „Süddeutschen Zeitung“. Alle Tageszeitungen vom gleichen Tage waren voll mit Überschriften wie „Schröder plant Milliardenhilfe für den Aufbau Ost“, „Schröder wird von allen Seiten zur Ostförderung gedrängt“. Von einer geplanten Sommerreise ist die Rede - Reisen ist gut, Reisen bildet, Herr Bundeskanzler -, auf der er mitteilen soll, wie hoch die Förderung ausfallen wird. Aber eine Woche nach dieser Berichterstattung gab er der deutschen Öffentlichkeit bekannt, das sei alles Schnee von gestern, es werde kein weiteres Geld für die Chefsache Aufbau Ost geben. Meine Damen und Herren, wer so unzuverlässig Politik für die neuen Bundesländer betreibt, der hat versagt, der hat nichts vorzuweisen, der nimmt den Aufbau Ost nicht ernst genug. ({3}) Es ist für die Bundesregierung und auch für uns als Opposition in diesem Hause noch immer ein Verfassungsauftrag, die innere Einheit zu vollenden. Das ist ein Thema, das uns allen am Herzen liegen sollte. Wenn ich mir die Politik der Bundesregierung in den letzten Jahren anschaue, dann stelle ich fest, dass mehr Gesetze beschlossen wurden, die den Konjunkturaufschwung in den neuen Bundesländern förmlich behindern. ({4}) Durch die Steuerreform werden Personengesellschaften und damit das Handwerk, die Freiberufler und der Mittelstand benachteiligt. Auch die Ökosteuer belastet das Handwerk, den Mittelstand und die Bürger immer mehr. Die Grünen werden nicht müde, eine weitere Erhöhung der Mineralölsteuer zu fordern. Die gesetzlichen Regelungen zur Scheinselbstständigkeit behindern jegliche Eigeninitiative und jede Existenzgründung. ({5}) Diese Kritik ist berechtigt - deswegen müssen Sie sie sich anhören -, ({6}) denn ohne ein verändertes Denken in dieser Frage wird es mit dem Aufbau Ost nicht vorangehen. Wir sind uns bewusst, dass man die Entwicklung, die die alte Bundesrepublik in 40 Jahren vollzogen hat, nicht in zehn Jahren nachholen kann. Deswegen brauchen wir eine differenzierte Betrachtungsweise. Es gibt doch bereits, wie gerade gesagt wurde, ermutigende Entwicklungen in den neuen Bundesländern. Es sind „Leuchttürme“ entstanden; sie befinden sich insbesondere um Hochschulstandorte. Es gibt neue Wissenszentren, aus denen innovative Forschungsunternehmen ausgegründet wurden. Ich nenne nur Jena, Dresden, Leipzig und Halle. Ihnen fällt außer dem von mir Genannten sicher noch viel mehr ein. ({7}) Herr Staatsminister, Sie haben die Zuwachsraten in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe angesprochen. Diese Zahlen können sich sehen lassen; das ist richtig. Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe steigt. Die Wachstumsrate der Bruttowertschöpfung beim verarbeitenden Gewerbe ist im Vergleich mit allen anderen Branchen mit 8,3 Prozent am höchsten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die industrielle Basis in den neuen Ländern viel zu schwach ist, weil viele Industriebetriebe weggebrochen sind. ({8}) Wahr ist auch, dass die Zuwächse im verarbeitenden Gewerbe nicht ausreichen, um neue Beschäftigungsimpulse zu setzen und die Arbeitslosenquote zu senken. ({9}) Sie müssen den Aufbau Ost viel ernster nehmen; ({10}) denn auch der negative Trend bei der Jugendarbeitslosigkeit - sie liegt bei 18 Prozent - kann nicht ermutigen. Ich freue mich, dass Sie dies wenigstens jetzt ernst nehmen; sonst würden Sie sich ja nicht so aufregen. ({11}) Das ist ein Zeichen dafür, dass Ihnen das, was ich Ihnen hier sage, ganz schön wehtut, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({12}) Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben die Abwanderung angesprochen. Ich würde das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Abwanderung junger Menschen aus einem Landstrich Deutschlands darf man nicht bagatellisieren, vor allem dann nicht, wenn es die jungen, fleißigen, kreativen und fachlich ausgebildeten Menschen sind. ({13}) Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik; das sage ich ganz deutlich. Wenn Sie den jungen und mobilen Menschen mit Ihrer Politik keine Zukunftsoptionen geben können, dann ist es doch verständlich, wenn sie sich ökonomisch gesund verhalten und sich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz im Westen Deutschlands suchen. Wir wollen diesen Menschen auch in den neuen Bundesländern eine Zukunft bieten. Ich denke, dies muss unser gemeinsames Ziel sein. ({14}) - Sie bekommen von mir auf jede Frage eine Antwort. ({15}) Uns, der F.D.P., ist die Solidarität mit den neuen Bundesländern besonders wichtig. ({16}) Dies entspricht unserer Tradition als gesamtdeutscher Partei, die auch durch unsere liberalen Außenminister vertreten worden ist, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, insbesondere von der SPD. ({17}) Es geht darum, Steuern in Deutschland zu senken. ({18}) Es geht darum, nicht erst im Jahr 2005 eine neue Steuersenkungspolitik zu betreiben. Wir brauchen ein Niedrigsteuergebiet Deutschland. Das wird insbesondere auch den neuen Bundesländern zugute kommen. Es geht nicht darum, eine isolierte Forderung nach der Abschaffung des Solidaritätszuschlages in den Vordergrund zu stellen. ({19}) Wir geben zu, dass wir bei der Vermittlung von Politik Fehler gemacht haben. Das sage ich ganz deutlich. ({20}) Wir sehen unsere Fehler aber ein und versuchen, sie zu korrigieren. Sie sind noch nicht mal bereit, Ihre Fehler einzusehen und Ihre Politik zu korrigieren. Das ist doch der entscheidende Unterschied. ({21}) Lassen Sie mich zum kreativen Teil der F.D.P.-Bundestagsfraktion kommen. ({22}) Berechtigte Kritik ist der eine Teil meiner Rede. Aber wir alle kommen in der Debatte nur dann weiter, wenn wir uns ernsthaft darüber unterhalten, wie es mit den neuen Bundesländern weitergehen soll. Ich vermisse - das sage ich ganz deutlich - ein Gesamtkonzept der Bundesregierung. Bisher haben Sie uns dies nämlich nicht vorgelegt. Deswegen gibt es keinen Grund, der Opposition Vorwürfe zu machen, wenn sie Gesamtkonzepte in den Deutschen Bundestag einbringt; Herr Schwanitz, das ist nicht berechtigt. ({23}) Ich möchte Ihnen drei Schwerpunkte aus unserem 10-Punkte-Programm nennen, die uns besonders wichtig sind. Dies fällt übrigens auch in Ihre bundespolitische Zuständigkeit, Herr Schwanitz. Erstens. Der Infrastrukturausbau muss verstärkt werden. Das halten wir für eine der wichtigsten Aufgaben in den nächsten Jahren. Damit müssen wir jetzt beginnen. Wir alle sind uns bewusst, dass die 80 Milliarden DM zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern in der Vergangenheit eine großartige Leistung waren. Aber man darf die Prioritätensetzung auch beim Infrastrukturausbau nicht aufgeben. In diesem Zusammenhang möchte ich als Beispiele die Ostsee-Autobahn - Mecklenburg-Vorpommern wurde schon genannt -, die A 20, nennen. Die Grünen melden vor Ort ständig ihre Bedenken zum Bau dieser Autobahn an. Wir wissen, dass der Autobahnbau gerade in der Ostseeregion weit hinter dem Bedarf herhinkt. Dabei geht es dort um Projekte wie die Anbindung an die A 1 nach Lübeck, die Ortsumfahrung von Wismar, aber auch die A 11 nach Stettin oder die Rügenquerung, die immer noch auf Eis liegen. Es hätte schon viel mehr gemacht werden können. Ich denke, die grüne Verzögerungstaktik ist ein Grund dafür, dass diese Projekte in der Vergangenheit nicht realisiert werden konnten. ({24}) Unter Prioritätensetzung verstehe ich etwas anderes. Sie haben als Erstes den ICE Nürnberg-Erfurt-Leipzig-Berlin als Hochgeschwindigkeitsstrecke aus den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ herausgenommen. ({25}) Damit wird der Osten aus dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz abgekoppelt. Das ist so. ({26}) Was ist denn das für eine Prioritätensetzung? Alle namhaften wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Bundesrepublik haben bereits darauf hingewiesen: Ohne Verkehrswege, die Lebensadern einer Region sind, gibt es keine Investitionen und Arbeitsplätze. ({27}) Mobilität ist im schnelllebigen Informationszeitalter eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftlichen Aufschwung. Deswegen sind wir der Auffassung: Auch mit Blick auf die EU-Osterweiterung und unter Berücksichtigung der Zunahme des PKW- und Güterverkehrs brauchen wir ein Sonderprogramm für den Infrastrukturausbau in den neuen Ländern. ({28}) Zweitens. Die Forschungsstandorte in den neuen Bundesländern müssen gestärkt werden. Der Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur ist die Keimzelle für moderne und zukunftssichere Arbeitsplätze. Das heißt aber auch: Wir dürfen die neuen Länder bei Investitionen in Hochschule und Forschung nicht im Regen stehen lassen. ({29}) Wir brauchen einen Nachteilsausgleich. Deswegen haben wir mit unserem Antrag ein Programm in Höhe von 1,17 Milliarden DM zum Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur vorgeschlagen, aber insbesondere auch zum Nachteilsausgleich. ({30}) Sie selbst haben doch die Chance verspielt, mit den Zinsersparnissen durch den Verkauf der UMTS-Lizenzen einen besonderen Akzent für die neuen Bundesländer zu setzen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({31})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. Ich möchte Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, in der Tat ist die Redezeit für dieses Thema immer zu kurz, besonders für die F.D.P., die eben viele gute Vorschläge für den Aufbau Ost hat. ({0}) Das Dritte sei hier noch genannt: Eine Existenzgründeroffensive wollen wir gemeinsam auf den Weg bringen. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sollten uns dabei unterstützen. ({1}) Der Erfolg dieses Landes - das möchte ich als letzten Satz sagen - auch mit Blick auf die europäische Integration wird auch und insbesondere davon abhängen, wie wir den Anschluss der neuen Länder an den Wirtschaftsaufschwung der Bundesrepublik meistern. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz das Wort; er spricht für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir die Debatte über den Aufbau Ost heute nicht mehr aus der Lamäng der allgemeinen Gefühlslage führen, sondern endlich einmal - darauf habe ich mich gefreut - anhand von Papieren, und zwar anhand des von der Bundesregierung vorgelegten Berichts zum Stand der deutschen Einheit und anhand der Anträge der Opposition. ({0}) Damit kann sich jeder, der lesen kann und das gelesen hat, ein Bild machen, wie die einen den Aufbau Ost betreiben und voranbringen und aus welch einer diffusen Mixtur aus dürftigen und überzogenen Forderungen das Repertoire der anderen besteht. ({1}) Frau Pieper, Sie haben dankenswerterweise bereits zwischen dem kreativen Teil des Antrags der F.D.P. und den anderen drei Punkten - das lasse ich offen - getrennt. ({2}) Dabei stößt der CDU-Antrag zunächst wirklich auf Interesse, Günter Nooke, wenn dort ein neues Leitbild versprochen wird. Wenn man dieses Leitbild aber sucht, stößt man auf einen Irrgarten. Offenbar ist die Kampfparole von Friedrich Merz zum Regierungsangriff, die er ausgegeben hat - Widersprüche, Sprüche und Plagiate -, als eigener Arbeitsauftrag missverstanden worden. ({3}) Das jedenfalls spiegelt sich in diesem Antrag wider. Er ist eine Fundgrube für Stilblüten. So viel vielleicht zu den blühenden Landschaften. Ich zitiere hier nur ganz kurz, Günter Nooke. Das Kapitel „Leitbild“ beginnt mit dem Anspruch, dass der Aufbau Ost „eine kreative Neuausrichtung“ braucht. Sieh mal an! Nur verliert sich dieser Anspruch im Nirwana eines solchen Satzes wahrer Leitkultur: Deutschland 2015 ist dann eine Vision, wenn auch die östlichen Bundesländer ihren eigenen Weg dorthin finden können. ({4}) Na, das finde ich grandios; das finde ich absolut grandios. Der Zeitrahmen ist verändert worden. Wenn man dann wirklich sucht - ich habe mir die Mühe gemacht, in deinen Pressegesprächen usw. zu suchen, wo das Leitbild ist -, dann findet man nur Negativbeschreibungen: Der Osten darf kein Grüngürtel zwischen Westdeutschland und Osteuropa werden. Die Weggabelung scheint also offenbar zwischen grünen Streifen und blühenden Landschaften zu verlaufen, für die wir uns entscheiden können, ({5}) also eine biologische Betrachtung der Ostlandschaft. Oder ich zitiere die F.D.P., die davor warnt, dass der Osten nicht zum Altersheim werden darf. ({6}) Bis 1998 gab es scheinbar nur Erfolge zu feiern; wenn ich Ihre damaligen Reden höre. Unter der rot-grünen Koalition scheint dort im Osten aber die Apokalypse ausgebrochen zu sein. Wo leben wir denn? ({7}) Ich will Ihnen eines ganz ernsthaft sagen: Den Abstieg Ost hat es gegeben; der hat sich ereignet, und zwar in den Jahren zwischen 1996 und 1998. Wir hatten 1994 ein Wirtschaftswachstum von 11,4 Prozent, und 1998, als Gerhard Schröder das Wort von der Chefsache geprägt hat, und zwar nicht, weil er sich da überpotent gefühlt hat, sondern weil er die Sache eben in die Hand nehmen wollte ({8}) - billiges Lachen! -, hatten wir 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum. 0,7 Prozent! Der Begriff „Kippe“, der in diesem Zusammenhang geprägt worden ist, ist richtig; er kam nur zwei Jahre zu spät. 1998 stand der Osten auf der Kippe. So sieht es aus. ({9}) - Nein, ich beantworte Ihnen diese Frage am Ende; ich will diesen Gedanken jetzt nicht unterbrechen. ({10}) Ich will Sie mit Ihrer eigenen Politik konfrontieren; denn so leicht kommen Sie mir hier nicht davon. ({11}) 1995 ist uns von Herrn Rexrodt ein Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt worden; dieser Bericht nannte sich „Die Hälfte des Weges“, die Hälfte des Weges ist geschafft. ({12}) Ich frage Sie: Was gibt es denn noch zu tun? Der Aufbau Ost müsste nach Ihrer Meinung doch abgeschlossen sein. ({13}) - Was heißt hier „billige Ablenkung“? Sie haben im Grunde genommen noch nicht einmal den Mut, Ihre späte Erkenntnis einzugestehen und zuzugeben, dass Sie sich absolut getäuscht haben, dass Sie über Jahre hinweg die falschen Zielgrößen ausgegeben haben und dass Sie den Elan, der anfangs im Osten vorhanden war, gebrochen haben, weil Sie die Menschen enttäuscht haben. Noch nicht einmal dieses kleine Quäntchen Selbstkritik kommt in Ihren Anträgen zum Ausdruck. ({14}) Ich finde, der Antrag, aber auch deine Rede, Günter Nooke, hat einige freudige Überraschungen zu bieten. Ich habe 1991 im Bundestag gesagt, der Aufbau Ost dürfe kein Nachbau West werden. Vielleicht rührt es noch aus gemeinsamer Parteiverbundenheit, dass das bei dir so haften geblieben ist. ({15}) Die westdeutschen Gebrauchsmuster reiben sich an der ostdeutschen Realität, sodass man sie nicht im Maßstab 1:1 übertragen darf. Was hat, Angela Merkel, denn in der Zeit, in der die Modernisierung Deutschlands hätte betrieben werden können, eigentlich stattgefunden? Ich frage: Wer hat diese Bürokratie aufgebaut, sodass jetzt gefordert werden muss, die Überregulierung abzubauen? Was haben wir denn in den Jahren 1990 bis 1998 erlebt? ({16}) Es gab doch Möglichkeiten, das Verwaltungsrecht, das Steuerrecht oder anderes zu vereinfachen. Der Mut dazu hat nicht gereicht. Wir haben einen Schnäppchenverkauf durch die Treuhand erlebt. Wenn man jetzt die Affäre Leuna/Elf Aquitaine nachvollzieht, kann man sehen, wie geschmiert der Aufbau Ost damals gelaufen ist. ({17}) Man kann sehen, wie Subventionen aus dem Fenster geworfen wurden, und zwar in einer Streubreite, dass offenbar auch einige Milliönchen im Adenauerhaus hängen geWerner Schulz ({18}) blieben sind. Darum sollten Sie sich, Angela Merkel, kümmern und nicht um die Frage, ob die Großprojekte - Großraumflugzeug A 380 oder Transrapid - durch den Kanzler aufgehalten werden. Das sind doch Ammenmärchen. Solche Projekte allein bringen doch den Osten nicht voran. Wir haben im Osten eine Deindustrialisierung sondergleichen erlebt. Die heutigen Strukturschwächen des Ostens haben mit der Tatsache zu tun, wie in den 90erJahren Wirtschaftspolitik betrieben worden ist. Es wurden Kungelrunden gebildet, anstatt einen großen nationalen Kraftakt, der Standortverlagerungen sowie eine Industrieund Strukturpolitik beinhaltete, zu vollziehen. Ich finde, man kann es sich nicht so leicht machen, dass man einfach in die Opposition hineinschlittert und meint, diese acht Jahre Regierung spielten überhaupt keine Rolle mehr. Die jetzige Bundesregierung hat eine doppelte Erblast übernommen. Sie besteht zum einen aus dem Wirtschaftsbankrott der DDR - ich will das nicht weiter ausführen; Sie können das bei Gerhard Schürer nachlesen und zum anderen aus der Deindustrialisierung, die in den Jahren 1990 bis 1998 stattgefunden hat. Das Wunder des Ostens ist, dass wir heute eine Reindustrialisierung und ein Wirtschaftswachstum von 13 Prozent in der gewerblichen Wirtschaft haben. Diese Entwicklung hat erst in den letzten Jahren stattgefunden und hat ihre Ursache in einer Umorientierung der Förderpolitik der Wirtschaft. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vaatz?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. - Wir haben sektorale Disparitäten und Strukturschwächen. Ich denke beispielsweise an die Abwicklung der industrienahen Forschung und den ergebnislosen Kampf von Paul Krüger als Forschungsminister. Er hat sich mit vielen Anträgen bemüht, diese Entwicklung aufzuhalten und Mittel in den Personal- und Sachmittelaufbau der Forschung des Ostens zu stecken. Doch was ist passiert? Der Forschungsbereich ist auf einen Niedrigststand abgebaut worden. Frau Pieper, ich staune, wie sich durch Ihren Antrag das Grundmissverständnis zieht, der Aufbau Ost sei eine Staatsaufgabe. Wo sind denn Ihre liberalen Positionen geblieben, die Ihre Partei sonst vertritt? Da Sie sich neuerdings mit Wissenschaft und Forschung beschäftigen, sollten Sie sich einmal die Studie des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung anschauen. In dieser Studie wird die Produktivitätslücke Ostdeutschlands vor allen Dingen darauf zurückgeführt, dass es einen Qualifizierungsmangel durch die mangelnden Investitionen in Forschung und Technologie in den neuen Bundesländern gibt. Das heißt: Der Ruf nach Risikokapital wird so lange nichts bringen, so lange die Unternehmen nicht riskieren, auch in Köpfe zu investieren. Dieser Aufgabe müssen sich Unternehmen, Verbände, Kammern und dergleichen mehr stellen. Man darf solche Forderungen nicht nur einseitig an den Bundeskanzler richten. Das ist doch einfach und naiv. ({0}) Ich hätte große Lust, diesen Antrag noch weiter auseinander zu nehmen und auf einige Dinge näher einzugehen. Ich habe selten einen so miserablen und substanzlosen Antrag gesehen. ({1}) - Nein, Günter Nooke, ich möchte auf den eigentlichen Skandal Ihres Antrags eingehen; denn wenn das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, das Leitbild für Ostdeutschland sein soll, dann gute Nacht! In dem CDU/CSU-Antrag steht allen Ernstes - ich frage mich, wie ein solcher Antrag an den CDU-Sozialausschüssen vorbeikommen konnte -, dass im Zuge der EU-Osterweiterung im ostdeutschen Grenzgebiet - man höre und staune! - eine „maquiladora“-Industrie aufgebaut werden sollte. Wer den Begriff nicht kennt, dem erkläre ich ihn. Mit diesem Begriff bezeichnet man beispielsweise die Betriebe in Sondergebieten von Mexiko, die Lohndumping betreiben und in denen unter miserabelsten Arbeitsbedingungen bei Umgehung von Arbeitsschutz-, Gesundheitsschutz- und Umweltschutzbestimmungen nach brutalsten Ausbeutungsmethoden produziert wird. Alle mir bekannten Sozialwissenschaftler warnen vor solchen Twin-plantStrukturen in Europa, weil dadurch soziale Brennpunkte geschaffen würden, die es bisher nicht gegeben hat. Nationale Ressentiments und Nationalismus werden nicht auf sich warten lassen, wenn solche Strukturen etabliert werden. Wenn das das Leitbild für Ostdeutschland ist, dann gute Nacht! ({2}) In dem Antrag der CDU/CSU lassen sich zahlreiche Widersprüche finden. Im Grunde genommen stehen in fast allen Kapiteln immer nur These und Antithese nebeneinander. Die Synthese soll wahrscheinlich die Regierung leisten. Das machen die Antragsteller nicht selbst. Nehmen wir die Infrastruktur als Beispiel. Es wird die Einführung einer kommunalen Infrastrukturpauschale, was immer das auch sein mag, und gleichzeitig die Abschaffung des Gießkannenprinzips gefordert. ({3}) Nehmen wir zum Beispiel die Angleichung der Löhne in Ost und West. In dem CDU/CSU-Antrag lässt sich kein Zeitplan für diese Angleichung in den unterschiedlichen Branchen finden. Gleichzeitig soll - das wird betont „eine zeitlich überschaubare Perspektive der Angleichung“ sogar Bestandteil des Leitbildes sein. Das ist völlig widersprüchlich. Darüber wird sicherlich nicht nur Werner Schulz ({4}) Thomas de Maizière in der sächsischen Staatskanzlei den Kopf schütteln. Nehmen wir den Föderalismus als Beispiel. Es werden Flexibilisierungsgesetze, was immer das auch ist - es wird nicht erklärt -, und gleichzeitig die strikte Gleichbehandlung im föderalen System gefordert. Wunderbar! Im Kapitel über die Stadtsanierung ist zu lesen, dass man den Leerstand in Ostdeutschland nur auf die Abwanderung zurückführt. Wir haben zudem gehört, dass es sich in Ostdeutschland um die schlimmste Abwanderung seit dem Dreißigjährigen Krieg handelt. Wer so etwas anführt, der hat keine Mauer, sondern einen Hirnriss im Kopf. Das kann ich einfach nicht mehr nachvollziehen! ({5}) Gleichzeitig wird gefordert, die Regelung der Eigenheimzulage zu verlängern, obwohl diese Zulage sowie die unsinnigen Steuerabschreibungen, mit für die Schaffung von Überkapazitäten im Bau, und dafür, dass jetzt 1 Million Wohnungen in Ostdeutschland leer stehen, verantwortlich sind. - Den Leerstand haben wir nicht aus der DDR übernommen. Sie sind verantwortlich für Zersiedelung im städtischen Umfeld, Entstädterung und dafür, dass es Fehlallokationen in unglaublichen Größenordnungen gegeben hat, dass Büropaläste entstanden sind und so eine Scheinblüte in Ostdeutschland vorgegaukelt werden konnte und dass verprellte Anleger zurückgeblieben sind. Dass Sie so etwas fordern, ist unglaublich. Nehmen wir die Arbeitsmarktpolitik als Beispiel. Im CDU/CSU-Antrag wird der Abbau von ABM-Stellen gefordert, von einer Opposition, die 1998, als sie noch an der Regierung war, die Zahl der ABM-Stellen - man höre und staune! - von 130 000 auf 300 000 gesteigert und betont hat, dass man das nicht nur im Wahljahr mache, sondern kontinuierlich fortführen werde. Diese Opposition fordert jetzt den Abbau von ABM-Stellen, wobei ich betonen muss: Die Zahl der ABM-Stellen liegt heute wieder unter 200 000, und das bei einem gleich bleibenden Niveau der Arbeitslosigkeit im Osten. Das ist ein großer Erfolg, der leider oft nicht so deutlich wahrgenommen wird. ({6}) Ich betone deswegen nochmals: Obwohl wir ABM-Stellen abgebaut haben, ist die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen. Das ist ein großer Erfolg und macht deutlich, dass wir neue Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt geschaffen haben. ({7}) Nehmen wir die Erinnerungskultur als Beispiel. In dem CDU/CSU-Antrag beschränkt man sich auf ein Denkmal für die Freiheits- und Einheitsbewegung. Das ist alles, was sich dem Antrag zu diesem Thema entnehmen lässt. Es wird nicht etwa gefordert, dass mehr über die DDR gelernt werden muss, damit die Kandidaten bei Günther Jauch nicht regelmäßig bei den DDR-Fragen durchfallen. ({8}) Nehmen wir zum Beispiel die Schul- und Bildungspolitik. Dazu lässt sich im CDU/CSU-Antrag nur ein armseliger Kanon finden: Abitur nach12 Jahren, Kopfnoten und berufspraktischer Unterricht. Die F.D.P.-Fraktion fordert in ihrem Antrag noch die flächendeckende Ganztagsschule. Kein Wort über Demokratiemangel, humanistische Bildung oder darüber, wie der Rechtsradikalismus im Osten verringert werden kann! Ich muss Ihnen also zusammengefasst sagen: Dieser Antrag ist ein politisches Armutszeugnis ersten Ranges. In den gewünschten Kopfnoten ausgedrückt, würde ich es so formulieren: Fleiß und Mitarbeit gut, Kreativität und Konstruktivität mangelhaft. Sie werden in der Opposition sitzen bleiben und nicht blühende Landschaften, sondern ein Wiederholen, ohne einzuholen, zu erwarten haben. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es liegen nunmehr zwei Wünsche auf Kurzinterventionen vor. Herr Kollege Schulz, Sie können dann selber entscheiden, ob Sie auf jede einzelne Intervention oder nachher geschlossen antworten. Zunächst bekommt die Kollegin Cornelia Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Schulz, ich muss mich schon wundern und frage mich, ob Sie unsere Anträge überhaupt gelesen haben. Ich befürchte, dass Sie das nicht getan haben; denn sonst hätten Sie hier nicht so argumentieren können. Lassen Sie mich kurz auf das Gesagte eingehen. - Sie haben erwähnt, dass der Industrieaufschwung erst seit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung stattfinde. Ich darf Sie daran erinnern: Seitdem es diese rotgrüne Bundesregierung gibt, ist die Prioritätensetzung, was auch Standortentscheidungen der Industrie anbelangt, nicht mehr gegeben. Unter einer früheren Regierung, auch mit Beteiligung der F.D.P.-Wirtschaftsminister, sind Standortentscheidungen auch immer ein Thema für die Politik gewesen; sonst gäbe es nämlich die Industriestandorte, die wir jetzt in den neuen Ländern haben, gar nicht. Bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis! ({0}) Sie sprechen von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die unter Ihrer Regierung bei gleichem Stand der Beschäftigungsquote, die für die neuen Bundesländer beängstigend ist, rückläufig sind. Wir können ja nicht wollen, dass sie doppelt so hoch bleibt wie in den alten Ländern. Das ist auch ein bedeutender sozialer Sprengstoff. Bitte berücksichtigen Sie, dass die Arbeitslosenquote auch zurückgegangen ist, weil wir einen Bevölkerungsrückgang haben. Sie können ja Ihren Erfolg nicht damit begründen, dass immer mehr Menschen - glücklicherweise - in Rente gehen können, sondern Sie müssen sich Werner Schulz ({1}) daran messen lassen, wie viele Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern entstehen. Das ist der Punkt. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, kommen Sie doch bitte jetzt zum Schluss.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, dass Sie es sind, die jegliche Eigeninitiative blockieren. Ich habe die Beispiele genannt. Ich habe das Beispiel Steuerreform genannt und ich habe das Beispiel der gesetzlichen Regelung der Scheinselbstständigkeit genannt. Das blockiert Eigeninitiative und schafft keinen neuen Gründergeist, kein neues Unternehmertum. Sie sollten Ihre Aussagen eher relativieren. Mogeln Sie sich bitte nicht ständig durch, indem Sie Begründungen suchen, die einfach nicht mehr der Realität entsprechen! Nehmen Sie Ihre Aufgabe bei der Chefsache Aufbau Ost endlich wahr! Dann haben Sie unsere Unterstützung. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer weiteren Kurzintervention der Kollege Nooke.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kollegen von der Koalitionsfraktion der SPD sind ja noch dran. Ich habe mich gewundert, lieber Werner Schulz, dass man sich hier für die Regierung so einspannen lässt und eine konstruktive Debatte, die ich mir eigentlich gewünscht hätte, in solch einer Weise verhindert, wie das hier passiert ist. Das war meines Erachtens nicht nur unbefriedigend, sondern das war im Rahmen dieser Debatte total ungenügend. Ich möchte einfach darauf hinweisen: Mit so viel unsinniger, unangebrachter Polemik kann man das Nichtwissen und die chaotischen Zustände innerhalb der Regierungskoalition und der Bundesregierung nicht übertünchen. ({0}) Ich habe wirklich selten erlebt, dass jemand von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hier so schwach in einer Debatte aufgetreten ist, ({1}) in der es wirklich um eine nationale Herausforderung geht. Ich will dir das lediglich noch als altes Ressentiment zugestehen. Ich will etwas zu der „maquiladora“-Ansiedlung sagen und darauf hinweisen, dass es in unserem Antrag doch Konzepte gibt, über die man ja reden kann. Zumindest weise ich erst einmal darauf hin, dass es an der amerikanisch-mexikanischen Grenze heute prosperierende Regionen gibt, dass das sehr wohl zum Erfolg geführt hat und dass es vielleicht für die neuen Bundesländer besser ist, es kommt die Hälfte der Arbeitsplätze dorthin, als dass gar keine Arbeitsplätze geschaffen werden. ({2}) - Vielleicht schauen Sie sich erst einmal an, was in der Substanz in unserem Antrag steht, ({3}) anstatt in einer Kaskade von falschen Behauptungen ein Bild an die Wand zu malen, das in keiner Weise gerechtfertigt ist. Wir haben einen Weg beschrieben, über den wir gemeinsam sprechen können. Wie viel Geld wir heute und morgen sowie beim Solidarpakt II in die Hand nehmen, steht gar nicht in unserem Antrag. Auch darüber können wir miteinander sprechen. Aber dass wir jetzt Investitionen - zum Beispiel bei der Infrastruktur - brauchen, um in den neuen Bundesländern die Produktivität zu erhöhen, ist doch eigentlich Konsens. Sie aber laufen hier wie ein angeschossenes Wildschwein herum. ({4}) - Ich muss einfach einmal dieses Bild benutzen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auf diese Bemerkung sollte der Kollege Werner Schulz jetzt antworten.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme das Wort „Wildschwein“ zurück und gebe dem Kollegen Schulz die Chance, sich von seiner Rede zu distanzieren. ({0}) Des Weiteren würde ich mich freuen, wenn die Beiträge aus der SPD-Fraktion wirklich einmal Klarheit schafften, welche Meinung Parlamentarier hier zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder als dem „Chefsachenkanzler“, der von einer Staatsaufgabe redet, und Bundestagspräsident Thierse, der den Osten schlecht redet, vertreten. Danke. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung gebe ich dem Kollegen Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Wildschwein ist geschenkt. Es ist Ihnen offenbar über die Weggabelung gelaufen und hat bei Ihnen zur Verwirrung beigetragen. ({0}) Frau Pieper, ich möchte den Zensurenaustausch hier eigentlich nicht fortsetzen. Ich war schon geneigt, Ihnen für den Antrag eine Vier zu geben. Angesichts der Tatsache aber, dass Sie gerade die Beschäftigungsquote und die Arbeitslosenquote durcheinander gebracht haben, muss ich sagen, dass Sie das Ganze möglicherweise doch nicht verstanden haben. Die Beschäftigungsquote ist im Osten teilweise sogar etwas höher als im Westen. Es ist wesentlich komplizierter, als Sie glauben: Die Arbeitslosigkeit ist im Osten doppelt so hoch, aber die Beschäftigungsquote liegt bei etwa 72 Prozent. Darüber, was das heißt, müssen wir einmal ernsthaft diskutieren. Zu den Industrieansiedlungen: Frau Pieper, ich weiß, dass über sie in der Ära Helmut Kohl offenbar in Kungelrunden entschieden worden ist. Damit hat man jetzt ja auch seine Schwierigkeiten, was Elf Aquitaine und Leuna anbelangt. Eine solche Ansiedlung ist nach wie vor eine unternehmerische Entscheidung. Ich drösele Ihnen gern noch einmal auf, wie es beim A3XX gelaufen ist: Da haben sich zwei deutsche Standorte gleichzeitig beworben, Hamburg und Rostock, und es bestand die große Gefahr, dass die Produktion gar nicht nach Deutschland kommen könnte ({1}) - selbstverständlich -, weil wir uns in einem europäischen Standortwettbewerb befanden und es eine unternehmerische Entscheidung und nicht eine Entscheidung des Bundeskanzlers war. Das führt uns also nicht weiter. Zu Günter Nooke: Eigentlich sollten wir uns mit dem Antrag nicht weiter beschäftigen. Aber wir müssen es in unseren Beratungen tun. Ich freue mich darauf. Man müsste das Material dem „Scheibenwischer“ überweisen, weil genügend Textstellen satirischen Wert haben. Natürlich ist ein Leitbild enthalten, die „maquiladora“-Industrie. Wenn das aber das Leitbild ist - von der DDR-Gestattungsproduktion über die verlängerten Werkbänke, die wir erlebt haben, hin zur „maquiladora“-Industrie -, dann habe nicht ich etwas zurückzunehmen, sondern die CDU/CSU-Fraktion und die gesamte Partei. Daran sollten Sie arbeiten. Sie haben hier ein ernsthaftes politisches Problem. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt erhält der Fraktionsvorsitzende der PDS, Roland Claus, das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach, dass ich gerade darüber nachgedacht habe, wie wohl Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern unsere Debatte wahrnehmen. Ich fürchte, wir sind wieder einmal dabei, eine gemeinsame Chance zu vertun. ({0}) Zunächst muss ich über unlauteren Wettbewerb reden, Herr Kollege Nooke. Manches von dem, was in Ihrem Antrag steht, ist nun hinreichend kritisiert worden; das muss man nicht noch ergänzen. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Forderungen, die wir für vernünftig halten. Allerdings handelt es sich in aller Regel um Forderungen, die die PDS vor Jahren erhoben hat und die Sie übernommen haben. ({1}) Das geht zum Teil bis hin zu wörtlichen Formulierungen von Christa Luft oder Gregor Gysi. ({2}) Jetzt haben wir folgendes Problem: Sie stellen dieses so dar, als wenn das neu aus der Kiste geholter Zauber wäre. Wir aber müssen der erstaunten Öffentlichkeit erklären, warum manches, was von uns schon früher gesagt wurde, immer noch und immer wieder vertreten wird. Das ist unlauterer Wettbewerb. ({3}) Der Antrag verdient aber auch an einer Stelle Respekt. Wenn das in diesem Antrag enthaltene Angebot wirklich ernst gemeint ist, dass gemeinsam darüber gestritten und nachgedacht werden soll, was denn für die neuen Länder nützlich ist - Sie nicken ja jetzt ein wenig zaghaft -, ({4}) dann müsste die CDU/CSU-Fraktion endlich ihren anachronistischen Beschluss aufheben, gemäß dem jeder Vorschlag von der PDS-Fraktion, auch in Bezug auf die neuen Länder, schon deshalb abzulehnen sei, weil er von dieser Fraktion komme. Das geht nämlich nicht zusammen. ({5}) Sie müssten sich auch noch zu etwas anderem durchringen: Wenn das, was Sie vorgeschlagen haben, nunmehr die richtige Lösung für die Belange der neuen Länder darstellt, dann müssten Sie ehrlich eingestehen, dass dieser Vorschlag die schärfste in diesem Hause vorgetragene Kritik an Ihrer eigenen Regierungspolitik von 1990 bis 1998 ist. Daran kommen Sie nicht vorbei. ({6}) Ansonsten ist Ihr Ruf an der jetzigen Weggabelung „Kommt nur her, wir kennen den richtigen Weg und zeigen ihn euch schon!“ ein wenig deplatziert. Die Leute haben nicht vergessen, wohin die von Ihnen eingeschlagenen Wege geführt haben. ({7}) Nun haben wir auch wahrgenommen, dass der Kanzler im Land der unbekannten Cousinen eingetroffen ist. ({8}) Das Erstaunliche war dabei, dass die Fernsehbilder den Eindruck erweckten, als kämen diese Szenen aus Fernost. ({9}) Werner Schulz ({10}) Wir alle sollten eines akzeptieren: Die Menschen in den neuen Ländern haben inzwischen ihr Selbstbewusstsein wiedergewonnen und können damit auch etwas anfangen. Auch Sie dürften mittlerweile bemerkt haben, dass die PDS im Zusammenhang mit dem Thema deutsche Einheit sich nicht auf die Rubrik „Meckern und jammern“ beschränkt. ({11}) Das setzt aber voraus, dass wir gemeinsam - und nicht nur die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern - das Hinzukommen neuer Länder und der dort wohnenden Menschen nicht länger als Belastung, sondern als Chance begreifen. ({12}) Deshalb haben es die Menschen in den neuen Ländern auch nicht so gerne, wenn man ihnen sagt: „Der Segen kommt von oben“ oder von einer Chefsache spricht. Sie wünschen sich, dass Bedingungen geschaffen werden, damit sie mit der eigenen Hände und Köpfe Arbeit zu einem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung beitragen können. Hierfür müssen wir die Bedingungen schaffen. ({13}) Nun haben Sie seitens der Koalition andere Konzepte kritisiert. Ich finde, dass Sie in Bezug auf die Verbindlichkeit Ihrer Absichten mit Ihrem eigenen Bericht kritischer sein sollten. Ihr Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit hat einen wesentlichen Mangel. Auf der einen Seite analysiert er Sachverhalte ziemlich klar. So sagt er zum Beispiel: In den Bereichen Forschung und Entwicklung bleibt der Osten erheblich zurück. Ich erinnere Sie, dass die Potenziale auf unter 20 Prozent des Standes zu DDR-Zeiten zurückgefahren wurden. Weiterhin stellt er richtig fest, dass es Marktzugangsbarrieren gibt. Auf der anderen Seite bleibt er aber bei der Analyse stehen und klammert die daraus zu ziehenden Konsequenzen aus. Dieses kritisieren wir an dem Bericht. Meine Damen und Herren, wir alle sind nicht nur Gast, sondern auch engagierte Besucherinnen und Besucher von Unternehmen. Oftmals wird uns gesagt: Ihr müsst euch gar nicht so sehr dafür einsetzen, dass noch mehr Geld kommt; das Problem ist vielmehr, dass wir die für die Förderung eingesetzten Mittel nicht zweckbestimmt erhalten können und nicht an der Bürokratie vorbeikommen. Es müsste endlich gelingen, Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung zusammenzubringen. ({14}) Die Problematik dabei ist nicht einmal so sehr, dass Steuermittel aus den alten Ländern in den neuen Ländern nicht ankommen - es wäre ja nicht so schlimm, wenn diese Mittel dorthin zurückfließen würden, wo sie hergekommen sind -, sondern dass Steuermittel, die für die Wirtschaftsförderung gedacht waren, auf einmal auf Konten von Banken und Unternehmen landen, für die sie wirklich nicht vorgesehen waren. Da kann man also etwas ändern, auch ohne dass zusätzliches Geld fließt. ({15}) - Wir werden gerne die Gelegenheit nutzen, Ihnen das zu erläutern. ({16}) Auch wir setzen uns dafür ein, dass eine kommunale Investitionspauschale von jährlich mindestens 3 Milliarden DM aufgelegt wird, und zwar ohne Ergänzungsfinanzierung durch die Kommunen, die das in vielen Fällen gar nicht leisten können. Wir brauchen eine Altschuldentilgung bei den Wohnungswirtschaftsunternehmen. Ich war des Öfteren bei Hofe, also in Sachsen. Nicht nur durch Abwanderung, sondern auch durch andere Migrationsprozesse - da können Sie rechnen, wie Sie wollen - hätte Sachsen im Jahre 2100 - vorausgesetzt, diese Prozesse laufen so weiter wie bisher - exakt noch 1 Million Einwohner. Das ist die Realität, auf die wir uns einstellen müssen, auch bei der Frage der Unterstützung der Wohnungswirtschaft. ({17}) Sie müssen natürlich auch eines wissen: Als Niedriglohngebiet hat der Osten in der Zukunft keine Chancen. Wenn Niedriglöhne ein Standortvorteil wären, dann müssten wir an vielen Stellen schon längst weiter sein. ({18}) Ich muss noch ein Wort an die CDU/CSU richten. Sie fordern in Ihrem Antrag auf, die Probleme gemeinsam anzupacken und etwas für die neuen Länder zu tun. Ich will Ihnen aber ein konkretes Beispiel für Ihr Demokratieverständnis nennen: Bei der Landratswahl auf der Insel Rügen landet die PDS-Kandidatin - das muss für Sie sehr kurios sein - auf Platz eins mit mehr als 20 Prozent Vorsprung vor dem CDU-Kandidaten. Eine Stichwahl steht an. ({19}) Nun sagen Sie sich: Wollen wir doch einmal schauen, ob es nicht einen Trick gibt. - Das dortige Wahlgesetz schreibt vor, dass auf eine Kandidatin, die als Einzelbewerberin antritt, 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten entfallen müssen. Jetzt kommt es: Auf Geheiß von Berlin, von Frau Merkel ziehen Sie auf Rügen Ihren CDU-Kandidaten zurück ({20}) und versuchen mit diesem Trick, die Wahl einer PDSLandrätin zu verhindern. Das ist Ihr Demokratieverständnis. ({21}) Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger auf Rügen nicht durchgehen lassen. Sie werden nicht verhindern können, was Sie verhindern wollen. ({22}) Ich will eine letzte Bemerkung zum Antrag der CDU/CSU machen. Sie konnten es wiederum mehrfach nicht unterlassen, die DDR und das nationalsozialistische Regime gleichzusetzen. Dafür erfinden Sie das Wort von der Erinnerungskultur. Ich will Ihnen dazu sagen: Die PDS geht, wie aktuelle Debatten hinreichend belegen, wahrlich kritisch und selbstkritisch mit ihrer Verantwortung für die DDR um. Sie tritt auch für eine Opferentschädigung ein. ({23}) Aber eines muss auch für Sie klar sein: Demokratische Sozialistinnen und Sozialisten im Deutschen Bundestag werden es niemals hinnehmen, dass das Nazi-Regime und die DDR - von wem auch immer - auf eine Stufe gestellt werden. Danke. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Scheffler.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege Nooke, mich wundert schon, dass Sie als erster Redner in dieser Debatte zum Stand der deutschen Einheit die Zeit von 1990 bis 1998, in der Sie an der Regierung waren, ausblenden. Sie blenden beispielsweise völlig aus, auf welcher Basis die neue Bundesregierung 1998 mit ihrer Arbeit beginnen musste. Sie lassen, wie auch in Ihrem Antrag, die immense Staatsverschuldung in Höhe von 1,4 Billionen DM völlig außer Acht. Früher habe ich immer gedacht, so etwas wie Wunsch und Wolke seien nur in den Anträgen der PDS zu finden. Bei Ihnen ist das teilweise noch schlimmer. Sie sprechen von einem zusätzlichen 400-Milliarden-DM-Programm: jährlich 40 Milliarden DM. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber spricht von einem Familienlastenausgleich in Höhe von 60 Milliarden DM. Ihr Fraktionsvorsitzender, Kollege Merz, spricht von einem Modell, das vorsieht, Steuern in Höhe von 40 Milliarden DM zu senken. Mich wundert das schon ein bisschen. ({0}) - Noch mehr? - Wenn Sie die Regierung übernähmen was sich keiner wünscht -, stiege die jährliche Neuverschuldung erneut, nämlich um circa 80 Milliarden DM. Ihnen ist bekannt, dass sich Finanzminister Eichel, der Bundeskanzler, die Bundesregierung und die Koalitionsparteien das anspruchsvolle Ziel gesetzt haben, die Nettoneuverschuldung bis zum Jahre 2006 auf null zurückzuführen. Genauso unseriös, wie Sie bis 1998 Infrastrukturpolitik betrieben haben, so unseriös sind auch Ihre neuen Vorschläge - soweit das, was Sie vorgetragen haben, überhaupt Vorschläge enthielt. ({1}) Eines ist natürlich klar - darin sind wir uns einig -: Die finanziellen Anstrengungen für den Ausbau der Infrastruktur werden auch in den nächsten zehn, 15 Jahren immense Lasten mit sich bringen. Es sind gewaltige Anstrengungen - das ist der Unterschied -, die die neuen und die alten Länder in Deutschland gemeinsam - im Konsens oder zumindest aufeinander abgestimmt - schultern müssen. Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie in den vergangenen Jahren nicht nur in den neuen Ländern unterwegs waren, sondern dass Sie auch mit den Verantwortlichen in Bayern und Baden-Württemberg gesprochen haben. Vielleicht haben Sie sich auch mit dem jetzigen hessischen Verkehrsminister unterhalten. Können Sie sich erinnern, wie die Reaktion war, wenn immer neue Forderungen gestellt wurden? Noch nicht einmal in Bezug auf das, was Staatsminister Schwanitz vorhin über die Vereinbarung des Bundeskanzlers mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten vorgetragen hat, gibt es mit den von mir genannten Regierungen der alten Länder einen entsprechenden Konsens. ({2}) Dort sagt man: Jetzt ist Schluss mit lustig; zehn Jahre nach der deutschen Einheit müssen einmal die Schlaglöcher in Bayern, in Baden-Württemberg oder in Hessen geflickt werden und muss die fehlende Infrastruktur ergänzt werden. Wenn Sie darauf hinweisen, dass ein erheblicher Infrastrukturstau aufgelöst werden muss, dann sage ich Ihnen: Sie haben mich und natürlich auch die Bundesregierung auf Ihrer Seite. Es kommt also nicht von ungefähr, dass ab dem Jahre 2005 für etwa 15 Jahre erhebliche Mittel investiert werden. Aber: Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir zukünftig immer größere Summen von A nach B schieben, wenn wir ständig einen Wettlauf um mehr Geld veranstalten. Damit ist weder uns in diesem Hause noch den Menschen außerhalb geholfen. Dagegen ist es eine Hilfe - in unseren Beratungsunterlagen kommt das entsprechend zum Ausdruck -, wenn die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nachhaltig vorangetrieben wird. ({3}) Wir regen konkrete Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur an; es geht nicht nur um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, sondern auch um den Ausbau von Schulen und des Wohnumfelds. Natürlich ist in den letzten Jahren - zu Zeiten Ihrer Regierung, das sage ich ausdrücklich, aber insbesondere nach der Regierungsübernahme - an den verschiedenen Standorten viel getan worden. Kollegin Pieper und Staatsminister Schwanitz haben darauf zu Recht hingewiesen. Aber durch die verstärkte Förderung im Infrastrukturbereich in den letzten zwei Jahren ist der Investitionsstau schon jetzt erheblich abgebaut worden. Insofern haben der pauschale Vergleich Ostdeutschlands mit Westdeutschland und das Verteilen nach dem Gießkannenprinzip überhaupt nicht geholfen. Kollege Schulz hat die Investitionspauschale konkret angesprochen. Der Vergleich in Bezug auf Westdeutschland oder den internationalen Wettbewerb ist für die Menschen in den neuen Bundesländern überhaupt nicht hilfreich. Denn Förderpolitik Ost vollzieht sich natürlich auf vielen Ebenen und mit verschiedenen Prioritäten. Peter Eckardt wird nachher auf die Problemfelder Wissenschaft, Forschung und Technik eingehen, in denen wir seit 1998 - ich könnte hier einige Beispiele aus dem Ostteil Berlins oder auch aus den Regionen Sachsen/Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern nennen, auch aus dem Bereich der Telekommunikation - schon erhebliche Fortschritte erzielt haben. Trotz Abbau von ABM, SAM und LKZ - das wurde schon angesprochen - wurde die Arbeitslosigkeit insgesamt erheblich verringert. Ich darf im Übrigen daran erinnern, Kollege Nooke, dass der Verkehrshaushalt trotz Haushaltskonsolidierung der mit Abstand größte Investitionshaushalt des Bundes ist. Rund 39 Prozent der gesamten investiven Ausgaben betreffen Investitionen im Verkehrsbereich, ob nun Straße, Schiene oder Wasserweg. Staatsminister Schwanitz hat auf die Prioritäten hingewiesen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: In den letzten zwei Jahren gab es in den Verhandlungen mit den Ländern, ob unter Minister Müntefering, Minister Klimmt oder jetzt Minister Bodewig, ({4}) ob mit den alten oder den neuen Ländern, für eine weitere Erhöhung über die 60 Prozent für die neuen Länder hinaus überhaupt keine Akzeptanz. Das wissen Sie natürlich ganz genau, weil Sie ebenso wie die F.D.P. den Straßenbau in den Vordergrund Ihres Antrages gestellt haben. ({5}) Trotzdem hat diese Bundesregierung das geschultert. Sie wissen natürlich, dass der Investitionshaushalt für den Straßenbau in diesem und insbesondere im nächsten Jahr der höchste überhaupt nach 1990 war. Zu keiner Zeit hat Ihr Haushalt hier wirklich geglänzt, ob bei Wissmann oder bei Krause, der ja durch andere Dinge in den letzten Tagen wieder in der Zeitung erwähnt wurde. Geglänzt haben Sie in Ihrem Verkehrshaushalt mit einem unseriösen, erheblich unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan. Mit dieser Erblast von minus 80 bis 100 Milliarden DM müssen wir seit 1998 umgehen. ({6}) Dazu braucht man dann überhaupt nichts mehr zu sagen. ({7}) Die Bundesregierung bedient sich unkonventioneller Mittel, was Sie bis 1998 überhaupt nicht fertig gebracht haben. Ich erinnere nur an die streckenbezogene LKWGebühr, die wir ab 2003 einführen, oder an die zusätzlichen Mittel, die wir durch die Zinseinsparung aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen erhalten. Aus all diesen Dingen wird sichtbar, dass in der Prioritätenliste der Bundesregierung der Verkehrshaushalt an erster Stelle steht, natürlich prioritär in den neuen Ländern. Das gilt auch noch für den Bereich Bildung und Forschung. Als weiteres Beispiel möchte ich die EU-Osterweiterung nennen, weil das Stichwort heute schon des Öfteren gefallen ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Denken Sie mit Ihrem weiteren Beispiel aber auch an die Zeit.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich erinnere nur an das EFRE-Sonderprogramm, das gerade in den letzten Tagen von der Europäischen Union bestätigt wurde. Wo waren Sie denn? Bis 1998 hätten Sie dieses EFRE-Programm doch auch auflegen können. Die neue Bundesregierung hat hier innovativ und kreativ neue Finanzierungsquellen erschlossen, von denen gerade die neuen Länder von Rostock bis Zittau in erheblichem Maße profitieren. ({0}) Gleiches gilt - auch da könnte ich Beispiele aufzeigen für den Bausektor.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, jetzt muss ich Sie doch ermahnen, zum Schluss zu kommen.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Kollege Nooke, Sie und Ihre Fraktion waren es doch, die 1999 die KfW-Mittel auslaufen lassen wollten. Die neue Regierung hat die Mittel nicht nur verstetigt, sondern erhöht. Insofern kam von Ihnen nicht viel Neues. ({0}) Das, was in den nächsten 15 Jahren getan werden muss, wird heute auf den Weg gebracht. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Katherina Reiche.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen nahm ich an einer Veranstaltung zu dem Thema „Berlin-Brandenburg im Jahr 2011“ teil. Zu Beginn der Veranstaltung wurden fiktive Nachrichten vorgelesen, wie sie vielleicht im Jahr 2011 aussehen könnten: „Der Flughafen Berlin Brandenburg International ist noch immer nicht ausgebaut“; „Das Zukunftsprojekt Transrapid ist gebaut, aber nicht als Hauptstadtanbindung, sondern zwischen München und Prag“; „Die Einwohnerzahl der neuen Länder hat sich im Vergleich zu 1990 halbiert“. Dieses Szenario ist zum Glück nur fiktiv. Trotzdem wird die Politik nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden, solchen Entwicklungen mit aller Kraft entgegenzuwirken. Dazu sind immer wieder neue Ideen und kreative Konzepte gefordert, die Wege eröffnen. Dies gilt in besonderem Maße für die neuen Länder. ({0}) Es ist viel erreicht worden, dank der Aufbauleistung der Menschen in den neuen Ländern, aber auch dank der Solidarität der Menschen in den alten Ländern. Dennoch verlangen die neuen Länder weiterhin besondere Aufmerksamkeit. Dies ist der Kern unseres Antrages. Eines der Kernprobleme besteht in der nach wie vor starken Abwanderung, besonders der jungen qualifizierten und motivierten Menschen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Seit 1990 haben über 1 Million Menschen den Osten verlassen. Die Abwanderungsbewegung nahm Mitte der 90er-Jahre ab; seit 1998 ist sie wieder sprunghaft angestiegen. ({1}) Der negative Wanderungssaldo lag 1999 bei 44 000 Menschen, die von Ost nach West gegangen sind. Eine Besserung ist bislang leider nicht zu verzeichnen. Nun mag es falsch sein, die Abwanderung zu dramatisieren; denn wir haben die berechtigte Hoffnung, dass ein Teil der jungen Leute zurückkommt. Aber was Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende Frau Gleicke im Magazin „Wirtschaft & Markt“ äußert, ist dann doch hanebüchen. Sie schreibt: „Pure Illusion ist die Annahme, dass alle jungen Leute in absehbarer Zeit den Arbeitsplatz ihrer Wahl am eigenen Heimatort finden können.“ - Ich frage mich: Wo bleibt denn Ihr politischer Anspruch, dies zu ändern? Sie schreibt weiterhin: „Liebe Eltern, seid stolz auf eure Kinder, wenn sie den Mut finden, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung; wir wollen doch, dass sie es zu etwas bringen.“ Sie äußern dann Ihre Hoffnung, dass sie auch wiederkommen, und schreiben: „Wenn nicht, dann kommen eben andere junge Leute. Wir sind doch ein Volk in einem gemeinsamen Land.“ - Ich weiß nicht, woher diese Leute kommen sollen; ich finde diese Ansichten wirklich naiv. ({2}) Gerade die Folgen der Abwanderung geben zusätzlich Anlass zur Sorge, nämlich der zunehmende Wohnungsleerstand und der Mangel an Fachkräften, die wir in Ostdeutschland dringend brauchen. Wenn man sich heute noch einmal die Worte des Kanzlers in Erinnerung ruft, er wolle den Aufbau Ost zur Chefsache machen, kann man nur feststellen, dass dies Wahlkampfrhetorik war und dass außer Spesen nicht viel gewesen ist. ({3}) Die Ankündigungen sind von den Menschen jedoch sehr wohl gehört worden und viele haben Hoffnungen in diese Worte gesetzt. Sie aber lassen vielen Worten nur wenige Taten folgen. Der Vertrauensverlust - diese Worte muss sich der Bundeskanzler gefallen lassen - lässt sich auch nicht damit ausgleichen, dass er im Sommer durch die neuen Länder tourt. Stattdessen kommt es darauf an, dass die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Diese Rahmenbedingungen haben wir in unserem Antrag ganz klar beschrieben. Lassen Sie mich etwas zur Ausbildungssituation in den neuen Ländern sagen. Im vergangenen Jahr ist die Anzahl der Ausbildungsverträge um 7,8 Prozent zurückgegangen, im Bereich des Handwerks sogar um 12,3 Prozent. Auch hier haben die vollmundigen Ankündigungen der Bundesregierung bislang nicht viel bewirken können. Das Vorzeigeprojekt JUMP hat sich als wenig effektiv erwiesen. So ist von 770 000 Jugendlichen lediglich die Hälfte in eine Ausbildung gekommen und nur ein ganz geringer Teil hat die Chance, im ersten Arbeitsmarkt einen Job zu finden. Der von der Bundesregierung selbst gesetzte Bewertungsmaßstab hinsichtlich ihrer Arbeit - die spürbare Reduzierung der Arbeitslosigkeit - ergibt im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit ein ganz besonders negatives Ergebnis. Weitaus bedauerlicher aber ist es, wenn der Bundeskanzler ein von Jugendlichen gewünschtes Gespräch über ihre persönliche Ausbildungssituation mit der Begründung ablehnt, er sei ausgepfiffen worden. Wenn der Herr Bundeskanzler zur Jobparade nach Schwerin fährt, dann muss er sich schon den einen oder anderen kritischen Kommentar gefallen lassen. Und der fällt eben bei jungen Leuten manchmal ruppiger aus. ({4}) Aber statt das Gespräch zu suchen, hat er die Jugendlichen mit einer arroganten Attitüde abgewiesen und ist einfach gegangen. Das war eine echt blamable Vorstellung. Ein weiteres Thema, das unserem Antrag zugrunde liegt, ist die Erweiterung der Europäischen Union. Wenn die EU in absehbarer Zeit erweitert wird, dann liegt Ostdeutschland im Herzen Europas. Allerdings müssen die jetzigen Grenzregionen auch auf ihre veränderte geopolitische Lage vorbereitet werden. Vorschläge kommen jedoch nicht etwa aus Berlin, sondern aus den neuen Ländern und aus Brüssel. So war es die Europäische Kommission, die einen Aktionsplan für die deutsche Grenzregion vorgeschlagen hat. Kern dieses Aktionsplanes ist der Ausbau von Schienen und Straßen, was unbedingte Priorität erhalten muss. Dies sagen auch wir deutlich in unserem Antrag. Die Osterweiterung wird aber eben nur Erfolg haben, wenn die Menschen informiert sind und von den zu erwartenden Vorteilen überzeugt werden. Ängste und Vorbehalte der Menschen muss man ernst nehmen. Man kann nicht über sie hinweggehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheffler?

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde ganz gern fortfahren. - Schon heute ist zu erkennen, dass die mit der Osterweiterung verbundene Vergrößerung des Binnenmarktes zu wirtschaftlichen Vorteilen führen wird, sowohl in Ostdeutschland als auch in den Erweiterungsgebieten. Der größere Binnenmarkt wird den Unternehmen weitere Arbeitsplätze eröffnen. Nur kommt es jetzt eben darauf an, angemessene Übergangsfristen zu finden, die den Interessen diesseits und jenseits der Oder Rechnung tragen. Herr Bundeskanzler - er ist nicht mehr da, ich wünschte, er wäre da -, es reicht nicht, Ostdeutschland medienwirksam zu bereisen oder nach elf Jahren die ostdeutsche Verwandtschaft wiederzuentdecken. ({0}) Der zuständige Staatsminister für die Angelegenheiten der neuen Länder spielt in der Öffentlichkeit keine Rolle, weder bei politischen Entscheidungen noch in der öffentlichen Wahrnehmung. Er muss sich sogar seinen Abgesang in aller Öffentlichkeit gefallen lassen - das tut mir schon fast wieder Leid -, gerüchteweise ist der Oberbürgermeister aus Potsdam, Matthias Platzeck, als Nachfolger im Gespräch. ({1}) Das gäbe mit dem neuen SPD-Hoffnungsträger Ost dann allenfalls wieder nette Bilder mit freundlichen Menschen. Nur, alter Wein wird in neuen Schläuchen auch nicht besser. Was wir brauchen, ist eine kluge Politik mit Herzblut für Ostdeutschland. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Ich finde es natürlich gut, dass ich heute bei dieser Debatte reden darf, als jemand, der den größten Teil seines Lebens in Westdeutschland verbracht hat, dort sozialisiert wurde und sich für dieses Thema interessiert hat. Aber ich hätte es auch gut gefunden, wenn zu den Entwürfen, die Sie „Deutschland 2015“ nennen - Werner Schulz hat ja schon gesagt, was der Antrag sprachlich und inhaltlich wert ist -, nicht nur jemand wie Sie, Herr Nooke, sondern auch Ihre Parteivorsitzende oder Ihr Fraktionsvorsitzender eine Rede gehalten hätte, statt die Darstellung von Gegenentwürfen auf eine Kurzintervention zu verschieben. Das hätte ich als jemand, der das immer mit Interesse beobachtet, ganz gut gefunden. ({0}) - Der Herr Staatsminister hat das ganz gut gemacht, denke ich. ({1}) - Jawohl, Herr Nooke! Da ich Sie ja aus dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder kenne, weiß ich, wie das mit Ihren Anträgen nervt: Berichterstattungen über die Förderung eines jeden Pflastersteines in jedem brandenburgischen Dorf! Ich hätte erwartet, dass wenigstens in diesem Antrag „Deutschland 2015“ etwas Übergreifendes, Richtungweisendes steht. Als jemand, der das als Westdeutscher beobachtet hat, muss ich feststellen: Die neuen Länder, über deren Entwicklung wir heute hier im Hause diskutieren, befinden sich elf Jahre nach der deutschen Einheit in vielen Regionen und Branchen in einem viel versprechenden, aber - wie man weiß - noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess. Dies gilt auch für Wissenschaft und Forschung. Natürlich gab es schon - beginnend 1990 - Fortschritte auf vielen Gebieten und in vielen Regionen. Das ist nicht zu bestreiten. Aber schon vor Jahren konnte eigentlich klar sein: Neben der Entwicklung der Infrastruktur, auf die schon mein Kollege Scheffler hingewiesen hat, wird in den neuen Ländern die verstärkte Förderung von Innovationen und die der Wettbewerbsfähigkeit nur über Wissenschaft und Forschung erfolgreich sein. Die flächendeckende, nicht gezielte und pauschale Förderung aus früheren Zeiten, wie wir sie seit fast einem Jahrzehnt kennen, wird es nicht schaffen, den Aufschwung Ost zu vollenden. Den Hochschulen und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie ihrer Vernetzung und Kooperation mit der Wirtschaft, besonders mit der mittelständischen, kommt für die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplatzentwicklung in Ostdeutschland eine Schlüsselrolle zu. Zunehmend tragen individuelle Kompetenz, Wissen, Kreativität, Selbstständigkeit, Kommunikationsstrukturen - die derzeit unterentwickelt sind -, die Zusammenarbeit und Eigeninitiative zum wirtschaftlichen Erfolg in der technischen Produktion und in den Dienstleistungen bei. Manche Illusionen wären den Menschen in den neuen Ländern erspart geblieben, hätte die CDU/CSU manche ihrer heutigen Forderungen nicht nur früher gestellt - so wie sie das jetzt in ihrer Anfrage zur konzertierten Förderpolitik für Ostdeutschland tut -, sondern auch realisiert. Ich denke, die Opposition versucht heute, zu suggerieren, erst mit dem Regierungswechsel 1998 habe sich die Entwicklung in den neuen Ländern verschlechtert. Einige von Ihnen wissen, dass ich aus einer Region komme, die an der Nahtstelle zwischen den neuen und den alten Ländern seit zehn Jahren die Probleme hautnah erlebt und in der man weiß, dass die Förderung des Aufbaus Ost auch Akzeptanz im Westen benötigt. Denn der Erfolg in den neuen Ländern hängt wesentlich auch von den Menschen in den alten Ländern ab. Gerade Wissenschaft und Forschung gedeihen nur in der Kooperation zwischen Ost und West und dem Ausland. Das akademische Leben an den Universitäten und Fachhochschulen hängt sehr stark davon ab, dass dort Menschen aus allen Teilen Deutschlands und dem Ausland lehren, forschen und studieren. Hier müssen ostdeutsche Universitäten und Fachhochschulen noch mehr Werbung machen, um sich und ihre zum Teil exzellenten Angebote zu präsentieren. ({2}) Ohne eine neue und vor allen Dingen qualitative Politik des Aufbaus Ost ist ein nachhaltiger Erfolg nicht oder nur langsam zu erreichen. Ich habe nach der Lektüre des vorliegenden CDU/CSU-Antrages und der Großen Anfrage der CDU/CSU den Eindruck, dass immer noch die alte Politik betrieben wird, dass man immer noch das Alte - wenn auch mit neuen Worten - fordert: Verteilung der Fördergelder, möglichst viel für den eigenen Wahlkreis, ohne Blick für die neuen Notwendigkeiten einer gezielten Förderung unterschiedlicher Regionen und Bereiche, die auch einmal nicht den eigenen Wahlkreis betreffen können. Sie können sich ja einmal die Mühe machen, in der Großen Anfrage der CDU/CSU die Wörter „Forschung“ und „Wissenschaft“ zu suchen. Sie werden sie nicht finden. Dafür finden Sie aber die Begriffe Förderebenen, Förderprogramme, Fördertöpfe, Förderung, Wirtschaftsförderung, Förderquellen, Förderkonzepte, Förderstellen, Förderkompetenz, Förderpolitik und Fördervolumina in großer Menge. Die Wörter „Wissenschaft“ und „Forschung“, die zentralen Inhalte und Ziele einer neuen qualitativ erfolgreichen Ostpolitik, kommen auch im Antrag der CDU/CSU „Deutschland 2015“ kaum vor. Auf den Seiten 6 und 7 werden diese Begriffe spärlich und ohne jeden Zusammenhang benutzt. Das Leitbild Ost wird dann aber auf drei Seiten mit konservativer Bildungspolitik gefüllt: Kopfnoten, bilinguale Angebote und achtjährige gymnasiale Bildungsgänge sollen verpflichtend sein und dann endlich den Aufbau Ost schaffen. Welche Naivität und welcher Eingriff in die föderalen Kompetenzen! Die Große Anfrage und der Antrag der CDU/CSU bestätigen: Nach acht Jahren CDU/CSU-Politik in der Ostförderung musste die Bundesregierung im September 1998 einen Strategiewechsel vollziehen, um dem Aufbau Ost neuen Schwung zu geben. ({3}) Dieser Strategiewechsel ist gelungen und verspricht erfolgreich zu sein. Einige wenige Zahlen aus dem Bereich Wissenschaft und Forschung: Im Bundeshaushalt 2001 werden 8,2 Prozent mehr Mittel in Bildung und Forschung investiert als 1998. Von diesen Mitteln profitieren ostdeutsche Einrichtungen der Wissenschaft und Forschung in hohem Maße. Für die Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung stehen jährlich mehr als 3 Milliarden DM zur Verfügung. Ich könnte noch weitere Zahlen nennen. So standen zum Beispiel für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau etwa 30 Prozent aller Mittel bereit. ({4}) - Herr Kollege Nooke, die Intelligenz eines sozialdemokratischen Abgeordneten reicht aus, ein paar Zahlen und Begriffe in den Zusammenhang zu bringen, und zwar besser, als Sie das in Ihrem Antrag gemacht haben. ({5}) Hätte ich eine Rede mit hohem Unterhaltungswert halten wollen, hätte ich Werner Schulz in der Interpretation Ihres Antrages sprachlich und inhaltlich erheblich überboten. ({6}) Das habe ich mich hier nicht getraut und deshalb nicht gemacht. ({7}) Wir reden im Ausschuss noch einmal darüber, wie das intelligent aussehen könnte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, könnten Sie uns einmal erklären, warum der Bundestagspräsident in letzter Zeit permanent von den Ostdebatten fern gehalten wird? ({0})

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich Ihnen, Herr Kollege, nicht erklären, weil ich an diesen Entscheidungen nicht beteiligt bin. ({0}) - Ich nicht. Ich denke, dass Sie auf einen bestimmten Begriff rekurrieren, der in der öffentlichen Debatte eine große Rolle gespielt hat, der - vorsichtig ausgedrückt unglücklich war und auch die Situation nicht korrekt beschrieben hat. Aber da er in der gesamten Presse und in 100 Presseerklärungen der CDU nun 500-mal behandelt worden ist, müsste jetzt eigentlich Schluss damit sein. Einigen wir uns darauf: Die Wahl der Begrifflichkeit von Herrn Thierse über die Frage, was nun in Ostdeutschland vor sich geht und was nicht, ist nicht das Wichtigste. Ich habe mich davon distanziert und jetzt ist Ende. ({1}) - Der Begriff „Kippe“ lässt sich sprachlich erheblich variieren, von Müll bis Kinderspielplatz. Er ist nicht geeignet, einen sozial relevanten Zusammenhang der Entwicklung eines Landes ausreichend zu beschreiben. ({2}) Das wissen auch Sie ganz genau. Kritik ist okay - einmal, zweimal oder dreimal -, aber dann muss es das gewesen sein. ({3}) - Das weiß ich nicht. Fragen Sie ihn doch! ({4}) - Herr Nooke, wir kennen uns nun schon drei Jahre, ({5}) aber ich komme immer mehr zu der Einsicht, dass ich mit Ihren Interpretationen der sozialen Wirklichkeit im Wesentlichen nicht übereinstimme. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich die entsprechenden Zahlen vortragen können, aber die vorhin genannten Stichworte zeigen: Wissenschaft und Forschung entscheiden über die Chancen Deutschlands im internationalen Wettbewerb. Sie entscheiden auch über die Frage, wie schnell und gut sich Ost und West sozialwirtschaftlich angleichen. Wir hätten reden müssen über das Jugend-Sofortprogramm JUMP, die BAföG-Erhöhungen dieser Koalition und weitere Maßnahmen, die den Menschen in den ostdeutschen Ländern helfen, ihr zum Teil schweres Schicksal zu bewältigen. ({6}) Ich bin im Westen Deutschlands aufgewachsen und werbe überall dort, wo ich hin komme - ich glaube, so gut kennen wir uns -, auch dafür, dass wir die Chancen für Ostdeutschland als gemeinsame politische Aufgabe von Ost und West begreifen ({7}) und natürlich auch Erfolg als unseren gemeinsamen Erfolg ansehen. Danke. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang formulieren: Der Aufbau Ost ist und bleibt eine deutsche Erfolgsgeschichte und darauf können wir als Deutsche stolz sein. ({0}) Wir können stolz sein auf den Aufbauprozess, auf die Leistungen der Menschen in den neuen Ländern, auf die Leistungen der Politik, auch auf die solidarischen Leistungen der Menschen aus den alten Bundesländern. ({1}) Wir können auch auf das stolz sein, was dem vorangegangen ist, nämlich eine friedliche Herbstrevolution - etwas Einmaliges in dieser Welt. ({2}) Ich finde es richtig, dass darauf insbesondere im Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit verwiesen wird. Schlecht ist allerdings - das will ich an dieser Stelle sagen -, dass die Bundesregierung nicht die Größe hat, die ganze Wahrheit auszusprechen. So wird zwar zum Jahr 1989 wörtlich Willy Brandt zitiert, der festgestellt hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, aber sonst niemand. Ich verstehe ja, dass Sie Ihre damaligen Vorderen Lafontaine und Schröder, die gegen die deutsche Einheit waren und sich heute dafür schämen müssen, nicht erwähnen. Zur Vollständigkeit gehört aber, dass damals Helmut Kohl die Chance ergriffen und die deutsche Einheit staatlich gestaltet hat. ({3}) Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit ist mit der rot-grünen Brille geschrieben worden; das wird ganz deutlich. Ich warne deshalb jeden, der diesen Bericht liest, dies mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Strickmuster ist einfach - ich möchte dies ähnlich ausdrücken, wie Sie es gesagt haben, Herr Schulz -: Die Erfolge, die bis 1998 geleistet worden sind, konnten Sie in diesem Bericht zwar nicht verschweigen; aber Sie weisen in epischer Breite auf eine Vielzahl von Defiziten hin. Anschließend, nach 1998, beginnt nach Meinung von Rot-Grün das goldene Zeitalter des Aufbau Ost, der Chefsache. - Allein: Die Menschen haben die Nase voll von dem, was sie in Sachen Aufbau Ost seitens Rot-Grün seit 1998 erlebt haben. Sie haben den Aufbau Ost in den letzten zweieinhalb Jahren sträflichst vernachlässigt. Ich meine, das muss sich ändern. ({4}) Der Osten steht nicht auf der Kippe; er braucht neue Impulse. ({5}) Ich habe das Gefühl, dass das, was Thierse zu Anfang dieses Jahres beschrieben hat, nicht die Situation in den neuen Bundesländern ist, sondern der geistige Zustand der SPD-Fraktion bzw. im Bundeskanzleramt. Es zeigt sich ganz deutlich, dass die damalige Debatte zum Aufbau Ost, auch wenn sie heute fortgeführt würde, niemandem nutzt. Die Lage in den neuen Bundesländern ist nicht einfach. Ich will die Stimmung wie folgt beschreiben: Die Bürger in den neuen Bundesländern bewegt die hohe Arbeitslosigkeit. Sie bewegt das Gefühl, dass sie keine Perspektive haben, aus dieser Arbeitslosigkeit herauszukommen; dies hat sich seit 1998 dramatisch verschlechtert. Sie bewegt aber auch die Tatsache - jede Oma und jede Mutter verspürt dies -, dass ihre Kinder, dass die jungen Leute in die alten Bundesländer abwandern. - Woran liegt das? Für meine Begriffe ist dies im Kern das Ergebnis der Politik von Schröder, der den Aufbau Ost als Chefsache betrachtet. Schröder hat kein Herz für die neuen Bundesländer und deshalb entstand diese Hoffnungslosigkeit. ({6}) Wir von der Union sehen das anders und fordern daher Handlungsbedarf durch die Politik ein. Wir sind der Meinung, dass durch politisches Engagement in der Vergangenheit viel erreicht worden ist und dass die neuen Bundesländer jetzt erneut einen Impuls, politisches Engagement, brauchen. Die neuen Bundesländer brauchen Visionen. Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, diese in unserem Antrag „Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland“ aufzuführen. ({7}) Wir sind uns in diesem Hause diesbezüglich in vielen Fragen einig. Ein wichtiges Element für die Fortsetzung des Aufbaus Ost ist der Solidarpakt. Ich finde es lobenswert, dass sich die neuen Bundesländer parteiübergreifend aufgemacht haben und insofern in Vorleistung getreten sind, als sie die renommierten deutschen Wirtschaftsinstitute beauftragt haben, festzustellen, wie der Bedarf nach 2004 aussieht. Das Ergebnis ist uns allen bekannt: Die Institute haben im Infrastrukturbereich einen Nachholebedarf von 300 Milliarden DM und für den Ausgleich des kommunalen Defizits jährlich 10 Milliarden DM ermittelt. Die Aussage, dass der Solidarpakt fortgesetzt werden soll - in diesem Wunsch sind wir, die Länder und auch wir in diesem Hause, uns wohl einig -, war ein gewisses Aufbruchsignal. Aber nach dem, was wir in den letzten Wochen in den Zeitungen lesen mussten, dass sich der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten aus Ostdeutschland zusammengesetzt und Leistungen im Rahmen des Solidarpaktes abgestimmt - Bernhard Vogel hat gesagt: „ausgekungelt“ - hat, die den aufgestellten Forderungen der Wirtschaftsinstitute nicht mehr entsprechen, ist ein wichtiges und positives Signal wieder einmal ins Negative verkehrt worden. ({8}) Das, was als Ergebnis herausgekommen ist, entspricht nicht dem, was als notwendig erklärt worden ist. Damit bleibt der Aufbau Ost für Bundeskanzler Schröder das, was er seit 1998 ist: Nebensache! ({9}) Zu Recht beschweren sich - ich nenne Zahlen, die ich in Zeitungen gelesen habe - die Ministerpräsidenten aus den neuen Bundesländern, dass die Summe von 200 Milliarden DM, die für die nächsten 15 Jahre vorgeschlagen worden ist, zu niedrig ist. ({10}) Ministerpräsident Höppner aus Sachsen-Anhalt erklärt, dass die vorgeschlagene Summe nur 40 Prozent des Notwendigen abdeckt. ({11}) Ich will das nicht in aller Breite unterstützen, aber es zeigt, in welche Richtung es geht. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass der Solidarpakt über weitere zehn Jahre fortgesetzt werden muss, und zwar dort, wo er heute ist, mit den Mitteln, die heute zur Verfügung stehen. ({12}) Es geht beim Aufbau Ost jedoch nicht allein ums Geld. Es geht auch um politische Initiativen. Ich will Ihnen einmal ein positives Beispiel aus der Vergangenheit nennen: die Einkaufsinitiative Ost. ({13}) Das ist eine politische Begleitung des Solidarpakts gewesen. Ich kann Ihnen eine Vielzahl von Firmen aus meinem Wahlkreis zeigen, die heute nur deshalb existieren, expandieren und auf den internationalen Märkten agieren, weil ihre ersten Aufträge aus dieser Einkaufsinitiative resultierten. ({14}) Ich meine, es wäre ein richtiger Schritt, wenn der Bundeskanzler die deutsche Wirtschaft an seinen Tisch riefe und diese Einkaufsinitiative wiederbelebte. Das wäre wahrhaftig eine Tat im Sinne der Chefsache Aufbau Ost. Er könnte sich auch für die Ansiedlung von industriellen Kernen einsetzen, so wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Frau Merkel hat es bereits deutlich gesagt: Beim A3XX haben Sie versagt. Weitere Projekte haben Sie nicht vor. Wenn wir beim Aufbau Ost vorankommen wollen, dann müssen Sie erfolgreiche Initiativen auf den Weg bringen. Ich wünsche mir, dass wir so etwas in diesem Haus gemeinsam angehen. Sie jedoch machen nichts. Der Bundeskanzler fährt auf einer Sommerreise durch das Land und verkündet Wohltaten, die ihm niemand glaubt. Falls ihn jemand kritisiert - das darf natürlich nicht sein; Frau Reiche hat dazu ein Beispiel genannt; genügend andere gibt es aus Sachsen -, dann wird versucht, dies in den Medien herunterzuspielen. Letztlich soll nur Erfolg verkündet werden, auch dann wenn es keinen gibt. Herr Schwanitz, Sie haben es richtig gesagt: Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe. Er ist in einer Generation zu bewältigen. Aber momentan gibt es eine Unterbrechung. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als letztem Redner in der Debatte gebe ich nun dem Abgeordneten Christian Müller das Wort.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass es für eine ehemalige Regierungspartei eine Gratwanderung ist: Sie muss aus heutiger Sicht Politik machen und gleichzeitig das im Auge zu behalten, was sie in der Vergangenheit gewollt hat. Insofern ist diese Debatte bemerkenswert: Herr Claus hat Ihnen bestätigt, dass Sie nun gewissermaßen Forderungen der PDS aufgegriffen haben und damit Ihre eigene Regierungspolitik infrage stellen. Sie sind also tatsächlich in der Opposition angekommen. Ansonsten habe ich gehofft, diese Debatte würde ein bisschen mehr Klarheit bringen, was Ihre etwas unscharfen Bilder betrifft, die Sie in Ihrem Antrag verwenden. Die Weggabelung hat heute ja schon einmal eine gewisse Rolle gespielt - ein unzutreffender Begriff, denn er impliziert ja, man sei heute an einem kritischen Punkt angekommen, an dem die Entscheidung gefällt werden müsse, die richtige Entscheidung werde von der CDU gefällt und die falsche sei die, die wir letztlich verfolgen. Mit einer derartig monokausalen und einschichtigen Betrachtungsweise ist dem Prozess, der jetzt seit nunmehr zehn Jahren läuft, vermutlich überhaupt nicht beizukommen. ({0}) Im Übrigen würde es Ihnen ja vermutlich auch nicht gefallen, wenn man diese Weggabelungstheorie vielleicht im Jahre 1996 aufgestellt hätte; denn das hieße ja, dass damals die Weiche falsch gestellt worden ist, als nämlich die staatliche Nachfrage so erheblich zurückgeführt wurde. Das kann es ja wohl nicht sein. Ich werbe doch sehr dafür, dass wir diesen komplexen Prozess ein wenig differenzierter betrachten. Wenn dazu noch eine Bemerkung gestattet ist: Ich glaube, der entscheidende Punkt, der letztlich auch die Entwicklung der letzten zehn Jahre zur Folge hat, war in gewisser Weise die Einführung der Deutschen Mark in der damaligen DDR, mit all ihren grandiosen Vorzügen. ({1}) - Was auch immer Sie wünschen! In jedem Fall haben wir damals die Industriegesellschaft alter Prägung verlassen. Insofern ist das Leitbild, von dem Sie sprechen, eigentlich vorgegeben. In dieser postindustriellen Gesellschaft, die jetzt zu einer wissensbasierten Gesellschaft wird und die auch eine Dienstleistungsgesellschaft sein muss, finden wir uns im Osten wieder, und zwar früher als andere, früher als die Leute aus der alten Bundesrepublik Deutschland. Insofern ist es auch völlig irrelevant, danach zu fragen, ob nun das Leitbild Bundesrepublik West das Leitbild für den Osten sein kann. Diese Frage ist im Grunde genommen längst von der Realität beantwortet. Ich komme zu einem zweiten Punkt. Wir erleben eine Entwicklung, die als eine Transformation, die nicht abgeschlossen ist, zu beschreiben ist. Sie wird auch ständig neue Impulse erhalten. Heute wurde hin und wieder schon der Begriff der EU-Osterweiterung erwähnt. Natürlich ist auch die EU-Osterweiterung ein weiterer wichtiger Impuls, der dieser Transformation letztlich eine neue Richtung - oder zumindest veränderte Richtungen - verleihen kann und wird. Daran werden erhebliche Erwartungen geknüpft; auf lange Sicht lässt die zentralere Lage in Europa eine günstigere Entwicklung erwarten. Dieser Prozess wird aber auch mit gewissen Risiken verbunden sein - Risiken, über die wir inzwischen ein wenig mehr wissen. Dieser Prozess bedarf also einer Begleitung. Wir werden eine sehr intensive Regionalförderungspolitik benötigen. Nicht nur die Europäische Union begleitet diesen Prozess, beispielsweise mit dem Kohäsionsbericht. Dieser gibt sehr tief greifende Empfehlungen und beschreibt als permanente Probleme den Strukturwandel, die Demographie, die Globalisierung und alle damit verbundenen Fragen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch darauf lenken, dass die Bundesregierung - in diesem Fall das Bundeswirtschaftsministerium - mit einer sehr umfassenden Studie, „Preparity“ genannt, auf einer sehr soliden Grundlage analytisch tätig geworden ist. Inzwischen liegen also gute Handlungsempfehlungen für diese Begleitung des Integrationsprozesses unserer Nachbarn auf dem Tisch. Diese sollte man in diese Betrachtung einbeziehen. ({2}) Natürlich hat das alles Folgen für die Regionalpolitik. Wir werden zusätzliche Spielräume benötigen - darauf ist bereits in anderen Debatten hingewiesen worden -, weil wir ja nach dem Jahre 2006, nach dem Auslaufen der EUFörderungsperiode, natürlich veränderte Bedingungen vorfinden werden. Folglich ist es nur richtig, wenn sich unsere Bundesregierung im Post-Nizza-Prozess darum bemüht, dass wir nationale Spielräume behalten oder zurückgewinnen, die es uns gestatten, unsere eigenen Disparitäten besser behandeln zu können. ({3}) - Ihre Zwischenbemerkung, Herr Nooke, enttäuscht mich zutiefst, da zumindest in Ihrem Antrag eine etwas weisere Erkenntnis enthalten ist. Sie haben darin geschrieben, am Ende komme es auf eine Schwerpunktsetzung an, ({4}) und zwar bei einer Verstetigung von Mitteln - die wir ja alle akzeptieren und die auch notwendig ist -, und weniger auf Geld an sich. ({5}) Wir werden im Grunde genommen miteinander einiges zu tun haben. Sie sollten in diesem Zusammenhang - ich weise Sie ausdrücklich darauf hin - vielleicht die Antwort auf die Große Anfrage etwas genauer lesen; denn sie beschreibt den Weg. Man kann die Zuständigkeiten ja beleuchten; man kann feststellen, wer laut Verfassung für Regionalentwicklung zuständig ist. Es ist eine Aufgabe der Gemeinden, der Kreise und in besonderer Weise der Länder. Auch der Europäischen Union fallen nach dem EG-Vertrag Kompetenzen auf diesem Gebiet zu. Was Sie möglicherweise überlesen haben könnten: Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie unter dem Eindruck dieser Entwicklung, die sich mit der EU-Osterweiterung verschärft, Bund und Länder in einer größeren Verantwortung sieht, zu koordinieren, anzuregen und letztendlich Prozesse vorwärts zu bringen. Wir sind schon mittendrin - Sie haben das möglicherweise ebenso übersehen -: Wir haben mit den heute bereits erwähnten Projekten im Zusammenhang mit der Technologieförderung, dem Inno-Regio-Wettbewerb und den innovativen regionalen Wachstumskernen als Nachfolge etwas vor uns, was am Ende nur gelingen kann, wenn wir - darauf ist es angelegt - eine bessere Vernetzung verschiedener raumwirksamer Bundespolitiken zustande bringen. Genau darin besteht die Arbeit dieser Bundesregierung, die Sie heute gelegentlich polemisch kritisiert haben. Wenn Sie diese Tatsachen ernst nehmen, müssen Sie zu der Erkenntnis kommen, dass Ihr gesamter Antrag in seiner merkwürdigen Vielgestaltigkeit an den Realitäten erheblich vorbeigeht. Diese Bundesregierung gestaltet diesen Prozess der nächsten Jahre durch eine vernünftige Wirtschafts- und Technologieförderung; denn das hat etwas mit einer wissensbasierten Gesellschaft zu tun. Ich glaube, Sie könnten sich an diese Initiativen anlehnen. Es wäre besser, wenn Sie in der nächsten Zeit bei der Behandlung Ihrer Anträge in medias res gingen und darüber nachdächten, was noch besser zu machen ist. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6038 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Angelegenheiten der neuen Länder. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Jahresberichts 2000 der Bun- desregierung zum Stand der deutschen Einheit die An- nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/6074. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6066 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a sowie 26 d bis 26 p - es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte - auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ - Drucksache 14/6028 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes ({1}) - Drucksache 14/5943 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Rechtsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({3}) - Drucksache 14/5910 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption - Drucksache 14/5437 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Rechtsfragen auf dem Gebiet der internationalen Adoption und zur Weiterentwicklung des Adoptionsvermittlungsrechts - Drucksache 14/6011 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten - Drucksache 14/5438 Christian Müller ({7}) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wohnungsbaurechts - Drucksache 14/5911 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistik im Handel und Gastgewerbe - Drucksache 14/5813 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen von 1995 und 1998 des Basler Übereinkommens vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung ({11}) - Drucksache 14/5854 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/5944 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({13}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Tourismus m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Monika Balt, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst - Drucksache 14/5831 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung n) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({15}) - - Drucksache 14/5858 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss o) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2000 - Einzelplan 20 - - Drucksache 14/5888 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss p) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt „Brennstoffzellen-Technologie“ - Drucksache 14/5054 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({17}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i sowie über die Zusatzpunkte 4 a und 4 b. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Das Wort zu einer persönliche Erklärung zur Abstimmung wünscht der Abgeordnete Dr. Fink. - Er scheint im Moment nicht anwesend zu sein. Ich gebe ihm später noch eine Chance, weil wir jetzt erst über den Tagesordnungspunkt 27 a bis 27 i abstimmen. Tagesordnungspunkt 27 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung anderer Vorschriften ({18}) - Drucksache 14/4660 ({19}) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({20}) - Drucksache 14/6029 Berichterstattung: Abgeordnete Gerd Höfer Thomas Kossendey Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung auf Euro-Beträge im Lastenausgleich und zur Anpassung der LAG-Vorschriften ({21}) - Drucksache 14/5440 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({23}) - Drucksache 14/5850 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Hagemann Hartmut Koschyk Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Petra Pau Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 27 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des integrierten Küstenzonenmanagements in Europa KOM ({25}) 545 endg.; Ratsdok. 11322/00 - Drucksachen 14/5172 Nr. 2.73, 14/5632 Berichterstattung: Abgeordnete Anke Hartnagel Helmut Lamp Marita Sehn Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Vorschlags die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung des PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 27 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Hildebrecht Braun ({27}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Drucksachen 14/2365, 14/5791 Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Andreas Schmidt ({28}) Hans-Christian Ströbele Dr. Evelyn Kenzler Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2365 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 e: Beratung der zweiten Beschlussempfehlung und des zweiten Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({29}) zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung - Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen für den Zeitraum 2001 bis 2006 KOM ({30}) 567 endg., Ratsdok.-Nr. 13537/99 - Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf KOM ({31}) 565 endg., Ratsdok.-Nr. 13540/99 - Drucksachen 14/2952 Nr. 2.9, 14/4146 Nr. 2.19, 14/3738, 14/5837 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5837? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Nur die CDU/CSU hat sich enthalten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 266 zu Petitionen - Drucksache 14/5977 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 266 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen; nur die PDS hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 27 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 267 zu Petitionen - Drucksache 14/5978 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 267 ist wiederum mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen; die PDS hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 27 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 268 zu Petitionen - Drucksache 14/5979 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 268 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ohne Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen. Tagesordnungspunkt 27 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 269 zu Petitionen - Drucksache 14/5980 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 269 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Initiative des Europäischen Parlaments zur Buchpreisbindung in Europa unterstützen - Drucksache 14/6056 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/6056? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Der Kollege Fink hat eine persönliche Erklärung zur Abstimmung abzugeben.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion - das haben Sie ja eben erlebt - stimmt dem interfraktionellen Antrag, die Initiative des Europäischen Parlaments zur Buchpreisbindung in Europa zu unterstützen, eindeutig zu. Ich bringe jedoch gleichzeitig mein Unverständnis und meine Empörung darüber zum Ausdruck, dass die PDS beim Einbringen dieses Antrages ausgegrenzt wurde. Dies ist umso weniger verständlich, als wir in den bisherigen Debatten zur nationalen Buchpreisbindung unsere Position engagiert und übereinstimmend mit allen anderen Parteien formuliert haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Fink, leider muss ich Sie belehren, dass Sie mit diesem Instrument nur über Ihr persönliches Abstimmungsverhalten eine Erklärung abgeben dürfen. ({0}) Sie sind ja nun schon fast ein erfahrener Parlamentarier und sollten das wissen. Deswegen darf ich Ihnen nicht die Möglichkeit geben, Ihre Empörung für die Fraktion mit diesem Instrument auszudrücken. ({1})

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Empörung, Frau Präsidentin, hören Sie ja: dass es darum ging, dass wir von dem Antrag - ({0}) -„Meine“ Empörung!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, was Sie ausdrücken wollten, ist ausgedrückt worden. Sehen Sie das auch so? - Gut. Vielen Dank. ({0}) Wir fahren in den Abstimmungen fort. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 1 BvQ 23/01 - Drucksache 14/6070 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung und in dem angekündigten Verfahren in der Hauptsache Stellungnahmen abzugeben. Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - EnthaltunVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuss, den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth mit der Prozessvertretung zu betrauen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen, während sich CDU/ CSU, F.D.P. und PDS enthalten haben. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur Reform der Erbschaftsbesteuerung Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch schön, dass es im Bundestag auch Professoren gibt. Nun geht es in der Aktuellen Stunde um die Haltung der Bundesregierung zur Reform der Erbschaftsbesteuerung, was aber nicht nur Professoren und Professorinnen, sondern alle Bürgerinnen und Bürger interessiert. Wir haben in der vergangenen Woche zur Kenntnis nehmen müssen, dass Herr Bundeskanzler Schröder und Herr Finanzminister Eichel erklärten, die Reform der Erbschaftsbesteuerung um weitere zwei Jahre zu verschieben. Damit wollen sie weitere zwei Jahre an einer verfassungswidrigen Bewertung des Grundbesitzes festhalten. Sie wollen auf Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe verzichten und begraben ihr Versprechen, Vermögende stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Deshalb unterstützen wir als PDS mit allem Nachdruck die Initiative von fünf SPD-geführten Bundesländern, die Grundbesitzbewertung zu reformieren. Es ist auch Sache dieses Hauses, in dieser Frage nicht einfach ein „Basta“ des Kanzlers zu akzeptieren. Daher fordere ich Sie alle auf, diese Länderinitiative zu unterstützen. Ich hoffe, dass die SPD-Linken, die Entsprechendes am Wochenende verkündet haben, dies mit Erfolg in ihrer Fraktion durchbringen werden. ({0}) Dabei geht es nicht um die kleinen Sparer und Sparerinnen. Aber: Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat vor Kurzem gezeigt, dass Armut und Reichtum in unserer Gesellschaft weiter auseinander driften. Das allein ist schon schlimm genug. Entscheidend ist, dass mit diesem Auseinanderdriften die Lebenschancen von Menschen ebenfalls stärker auseinander gehen. Dies macht sich auch und gerade an der Erbschaftsbesteuerung fest: Erbschaften bevorteilen nun einmal insbesondere die Menschen, die schon von Geburt an über eine höhere Vermögensausstattung verfügen. Umgekehrt werden diejenigen benachteiligt, die es ohnehin schwer haben, ihre soziale Stellung zu verbessern. Wenige erhalten zufällig - es ist nicht ihr eigenes Verdienst, sondern das ihrer Eltern, Verwandten oder Bekannten - und ohne eigene Leistung üppigen Vermögenszuwachs, während die große Masse der Menschen weitgehend leer ausgeht. Erbschaften sind damit zu einem wesentlichen Faktor sozialer Gegensätze geworden. ({1}) Uns in der Politik müsste es demgegenüber darum gehen - wir als PDS halten an diesem Anspruch fest -, die Chancengleichheit der Menschen am Start ins Leben und im Leben zu gewährleisten. Sie, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, hatten dies auch in Ihrem Koalitionsvertrag verankert. Dies würde dann aber bedeuten, wieder eine sozial gerechte Erbschaftsteuer einzuführen; denn dadurch könnte die Möglichkeit geschaffen werden, wirklich Vermögende stärker an der Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben zu beteiligen. ({2}) Nun könnten Sie natürlich sagen, dass die Erbschaftsteuer im vergangenen Jahr gerade einmal 5,8 Milliarden DM eingebracht habe, also etwa so viel wie die Branntweinsteuer. Weniger als 1 Prozent aller Steuereinnahmen entfällt damit auf die Erbschaftsteuer. Aber gerade darin besteht doch der Skandal: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 1,5 Millionen Vermögensmillionäre. Obwohl nach Schätzungen der Deutschen Bundesbank jährlich 100 bis 200 Milliarden DM an privatem Sach- und Geldvermögen vererbt werden, gehen nur 5,8 Milliarden DM in die Steuerkasse ein. Diesen Zustand könnte man relativ leicht durch eine Veränderung von Freibeträgen und Steuersätzen ändern. Dadurch wären Mehreinnahmen möglich und Herr Eichel bräuchte nicht mehr die Erhöhung des Kindergeldes unter einen Finanzierungsvorbehalt zu stellen, was doch der eigentliche Skandal ist. Niemand in diesem Hause - das gilt gerade für uns demokratische Sozialisten und Sozialistinnen - will mit einer Reform der Erbschaftsbesteuerung „Oma ihr klein Häuschen“ wegsteuern. Ein solcher Vorwurf ist lächerlich. Es geht um die wirklich Vermögenden in dieser Republik. Die Erbmassen sind nun einmal sehr unterschiedlich verteilt. In gerade 4 Prozent aller Erbfälle ist der Nachlass höher als 1 Million DM und in der Hälfte aller Fälle liegt er mehr oder weniger deutlich unter 100 000 DM. Die Erben in der Mehrheit der Fälle werden heute nicht zur Erbschaftsteuer herangezogen und würden auch nach einer Reform nicht herangezogen werden. Wir haben unsere Vorschläge dazu bereits in der letzten Legislaturperiode auf den Tisch gelegt. Wir werden Sie auch in dieser Wahlperiode nicht in Ruhe lassen, sondern verlangen, dass an diesem Thema weiter gearbeitet wird. Die SPD beschloss 1999 auf ihrem Parteitag, „die Gerechtigkeitslücke“ durch ein Mehr an Erbschaftsteuer zu schließen. Damals verlangten die Delegierten dies wohl als Tribut für die Absage an die Vermögensteuer seitens der Bundesregierung. Der Kanzler versprach es ihnen damals. Zwei Jahre später sind Sie bereit, das „Basta“ des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Bundeskanzlers zu akzeptieren und weitere zwei Jahre ohne eine Reform verstreichen zu lassen. Das kann nicht im Sinne der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande sein. ({3}) Wir halten es für notwendig, die Reform anzupacken, und sind sehr gespannt, wie sich die Bundesregierung und Sie heute äußern werden. Ich bedanke mich. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks das Wort.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach § 138 Abs. 4 des Bewertungsgesetzes gelten die im Rahmen der Bedarfsbewertung maßgebenden Wertverhältnisse vom 1. Januar 1996 für die Feststellung von Grundbesitzwerten nur noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Nach diesem Zeitpunkt tritt ein verfassungswidriger Zustand ein, sofern der Gesetzgeber nicht tätig wird. Das den Ländern zustehende Aufkommen der Erbschaft- und Grunderwerbsteuer wäre dann ernsthaft gefährdet. Mit der Befristung hat sich der Gesetzgeber selbst verpflichtet, bis zum Ablauf des Jahres 2001 tätig zu werden. Die Bundesregierung hält unverändert an der Auffassung fest, dass die Initiative zur Änderung von Steuern, deren Aufkommen den Ländern zusteht, von den Ländern ausgehen sollte. Die Länder wirken über den Bundesrat an der Gesetzgebung mit und können über den Bundesrat Bundesgesetze einbringen. Der Bund will die Länder bei Steuern, die in deren Bereich fallen, nicht in eine bestimmte Richtung drängen. Sie sind bei Steuern, die in ihre Hoheit fallen, in erster Linie selbst gefordert. Die Bundesregierung hat es den Ländern deshalb überlassen, die Schlussfolgerungen aus den praktischen Erfahrungen mit der Bedarfsbewertung zu ziehen. Die Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt haben einen Gesetzesantrag zur Änderung des Bewertungsgesetzes im Bundesrat eingebracht. Inhaltlich wird darin eine Lösung vorgeschlagen, für die sich die obersten Finanzbehörden aller Länder auf Fachebene ausgesprochen haben. Der Finanzausschuss des Bundesrates hat heute jedoch mit Mehrheit vorgeschlagen, die im geltenden Gesetz enthaltene Befristung um zwei Jahre zu verlängern. ({0}) Die Bundesregierung ist bereit, den Ländern weiterhin fachliche Unterstützung zu gewähren. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, Sie spielen hier den Unschuldsengel. In Wahrheit treiben Sie mit den Erben ein ganz falsches Spiel. ({0}) Erster Punkt: Es gibt einen SPD-Parteitagsbeschluss aus dem Jahre 1999. In diesem Parteitagsbeschluss ist klipp und klar festgehalten, dass die SPD eine Höherbewertung des Grundvermögens bei der Erbschaftsteuerberechnung erreichen möchte. Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe nicht irgendwo, sondern im Bundesfinanzministerium eingerichtet. Diese hat ihre Arbeit nicht nur aufgenommen, sondern auch mit folgendem Ergebnis abgeschlossen: Statt der bisherigen durchschnittlichen Bewertung des Grundvermögens mit 50 Prozent des Verkehrswertes soll es künftig mit 80 Prozent bewertet werden. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn Sie dies nicht gewollt hätten, dann hätten Sie nicht diesen Parteitagsbeschluss gefasst und die Arbeitsgruppe nicht eingesetzt. ({2}) Ein zweiter Punkt: Es liegt ein Antrag der SPD-regierten Länder im Bundesrat vor; Sie haben davon gesprochen. Dieser wurde übrigens nicht nur von der PDS initiiert, sondern auch von den Grünen, und zwar in den Ländern, in denen sie mitregieren, beispielsweise in Schleswig-Holstein. Dieser Antrag wurde im Bundesfinanzministerium erarbeitet. Auch bezüglich dieses Punktes können Sie nicht sagen, Sie seien unschuldig und hätten damit nichts zu tun. Sie können sich nicht aus der Verantwortung stehlen. In diesem Gesetzentwurf ist statt der bisher geltenden durchschnittlichen Orientierung an 50 Prozent des Verkehrswertes eine Orientierung an circa 72 Prozent des Verkehrswertes enthalten. Hinzu kommt die Erhöhung des Vervielfältigers sowie eine Änderung bei den Bodenrichtwerten. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Sie wieder einmal abzocken und die Linken in Ihren eigenen Reihen zufrieden stellen wollen. ({3}) Ich möchte ein Drittes klarstellen: Erst nach massivem Protest von uns und den unionsregierten Ländern ({4}) in den letzten Wochen wird jetzt erwogen, die geltende Regelung um zwei Jahre zu verlängern. Es ist wirklich zu offensichtlich, dass Sie sich damit nur über den Wahltermin retten wollen, ({5}) um danach das zu realisieren, was Sie eigentlich vorhaben und schon vorbereitet haben. Ihre Begründung lautet immer, eine Reform sei verfassungsrechtlich notwendig. Ich kann Ihnen sagen, was das Verfassungsgericht moniert hat. Es hat Mitte der 90er-Jahre moniert, dass das Grundvermögen nach den alten Einheitswerten von 1964, aber das Kapitalvermögen nach den aktuellen Werten bewertet wird. Es hat angemahnt, dass das Grundvermögen realitätsnah und zeitnah bewertet werden muss. Genau das haben wir 1996/97 mit der Novellierung des Erbschaftsteuergesetzes getan. Es ist nicht gefordert worden, dass das Grundvermögen genauso wie das Kapitalvermögen bewertet werden muss. Das wäre im Übrigen auch nicht sachgerecht, weil Grundvermögen nicht genauso verwertbar ist wie Kapitalvermögen; denn es unterliegt beispielsweise im Mietbereich und im Betriebsvermögensbereich sozialen Bindungen. Der Handlungsbedarf liegt einzig und allein darin - nur darum geht es -, die Wertgrenze, von der Sie gesprochen haben, in Bezug auf die Bodenrichtwerte bei unbebauten Grundstücken und in Bezug auf die Mindestbewertung bei bebauten Grundstücken zu prüfen; denn dafür gelten die Werte von 1996 bis Ende dieses Jahres. Bis Ende dieses Jahres muss also die Prüfung erfolgt sein. Wenn sie ergibt, dass sich die Grundstückspreise in Deutschland im Großen und Ganzen nicht erhöht haben, dann spricht hinsichtlich der Erbschaftsteuer nichts für eine Erhöhung der Bewertung. ({6}) Aus dieser Überprüfung können sich genauso gut andere Konsequenzen ergeben. Ich nenne Ihnen zwei mögliche Alternativen: Entweder gelten die aktuellen Bodenrichtwerte weiterhin, oder die geltende Regelung wird verlängert. Es darf aber nicht nur eine Verlängerung um zwei Jahre geben, um sich über den Wahltermin zu retten. Es muss vielmehr wie bisher eine Verlängerung um mindestens fünf Jahre geben. ({7}) Wir fordern Sie deshalb auf, von Ihren Erhöhungsplänen grundsätzlich und endgültig Abschied zu nehmen und die jetzige Regelung nicht nur bis kurz über den Wahltermin hinaus zu verlängern; denn die Bürger in diesem Land haben ein Recht darauf, zu wissen, was nach der Wahl für längere Zeit auf sie zukommt und nicht nur bis unmittelbar nach der Wahl. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr schade, dass bei diesem Thema immer eine gewisse Aufregung mitschwingt, die meines Erachtens völlig unangebracht ist. Es geht nicht um eine Steuererhöhung, ({0}) sondern es geht darum, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 umgesetzt werden. ({1}) Frau Hasselfeldt, es gibt sehr unterschiedliche Auslegungen des Urteils des Verfassungsgerichts; ({2}) das wissen Sie. Sie legen es aber in Ihrem Sinne aus. Wir wissen von Verfassungsjuristen und -juristinnen, dass man es auch anders bewerten kann. ({3}) Man kann auf solch polemische Weise Gerichtsurteile nicht einfach vom Tisch wischen und sagen: Das interessiert uns nicht. ({4}) Es geht um eine realitätsnahe Bewertung von Immobilienvermögen annähernderweise zu den Verkehrswerten. Sie haben gesagt - das stimmt -, dass die jetzige Bewertung zum 31. Dezember dieses Jahres ausläuft. Die Länder haben mit dem Bundeskanzler vereinbart, dass es eine Verlängerung gibt ({5}) und dass man die Zeit nutzt, zwischen den Ländern Einvernehmen herzustellen, um zu einer vernünftigen Neubewertung zu kommen. ({6}) Es ist doch vollkommen klar, dass die Mehrheit der Länder im Bundesrat zustimmen muss. ({7}) Es ist ein gemeinsames Anliegen, eine grundlegende Regelung zu finden, die von den Ländern - dazu gehören auch die CDU- und CSU-regierten Länder wie beispielsweise Bayern - getragen wird. ({8}) Ziel der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist im Prinzip die Umsetzung des Grundsatzes der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermögensarten. Auch von Herrn Kirchhof haben wir letztens wieder gehört, dass man diese Vorgabe so durchhalten muss. Der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermögensarten gilt natürlich auch für den Erbfall oder für den Fall, dass etwas verschenkt wird. ({9}) Bislang ist es so, dass Geld- und Grundvermögen nicht gleichermaßen besteuert werden. Deswegen muss man Überlegungen anstellen, wie man auf vernünftigem Wege zu einer verfassungsrechtlich dauerhaften Regelung kommt, um das Ziel der Aufhebung der unterschiedlichen Besteuerung von Geld- und Grundvermögen zu erreichen. ({10}) Es ist natürlich verständlich, dass die Länder zur Aufrechterhaltung ihrer Steuereinnahmen - die Erbschaftsteuer ist eine reine Ländersteuer - eine entsprechende Gesetzesinitiative gestartet haben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Bewertungsgrundsätze im Expressverfahren geändert werden oder ob die Geltungsdauer der im bestehenden Gesetz existierenden Regelungen nur für einen Übergangszeitraum verlängert wird. Die Bundestagsfraktionen - das gilt sowohl für die Oppositionsfraktionen als auch für die Koalitionsfraktionen - können durchaus erwarten, dass die Bundesländer im Bundesrat über die herbeizuführende Änderung oder Verlängerung des Bewertungsgesetzes befinden, dass sich im Bundesrat also eine mehrheitliche Meinung bildet, mit der wir uns dann befassen. Dieser Weg ist vollkommen korrekt. Die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer und die Länder haben über sie gemeinsam zu diskutieren und zu entscheiden. ({11}) Ich möchte noch etwas zu den Zahlen sagen: Die Erbschaftsteuereinnahmen sind im Jahr 2000 um 200 Millionen DM - 1999 lagen sie bei 6 Milliarden DM, im Jahr 2000 bei 5,8 Milliarden DM - zurückgegangen. Wir sehen also, dass die Situation durchaus schwierig ist. Die Länder sind enttäuscht - das ist klar -, dass ihre Erwartung, dass die Höhe ihrer Einnahmen zunimmt, wenn das Vermögensvolumen, das vererbt oder verschenkt wird, zunimmt, nicht erfüllt worden ist. Ziel einer Reform der Erbschaftsteuer muss ihre verfassungsrechtlich gerichtsfeste Ausgestaltung sein. Dazu gehört meines Erachtens tatsächlich die Notwendigkeit, die Grundsätze für die Bewertung von Immobilienvermögen zu ändern, ohne dass es zu einer Belastung von selbst genutztem Immobilieneigentum, also von Gebrauchsvermögen, kommt. Das von Ihnen so gerne benutzte Bild, Omas Häuschen werde dann mehr besteuert, ist vollkommen falsch. Omas Häuschen soll der nächsten Generation steuerfrei vermacht werden. Auch darf kein Betrieb im Falle einer Betriebsübergabe an einen Erben gefährdet werden. Das haben wir immer wieder eindeutig gesagt und diese Auffassung wird von allen Ländern so geteilt. Die Forderung nach Gleichbehandlung unterschiedlicher Vermögensarten wird noch einsichtiger, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie sich das Bruttovermögen der privaten Haushalte zusammensetzt. Es hatte 1997 einen Bestand von 14 Billionen DM. Davon entfielen auf den Immobilienbestand im In- und Ausland sowie auf das Gebrauchsvermögen 9 Billionen DM; das sind 62 Prozent. Etwa 38 Prozent machte das private Geldvermögen aus. In den kommenden Jahren werden schätzungsweise 4,4 Billionen DM vererbt; das ist doppelt so viel wie in den 90er-Jahren. Es ist also grundsätzlich zu erwarten, dass das Erbschaftsteueraufkommen der Länder im Trend steigen wird. Auch die Oppositionsparteien können sich nicht der Tatsache verweigern, dass wir eine verfassungsgerechte Lösung brauchen. Im Hinblick auf die gesamte Debatte bitte ich um mehr Ehrlichkeit, Frau Hasselfeldt. Danke. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die seit Monaten andauernde Debatte über die Erhöhung der Erbschaftsteuer ist durch ein weiteres Machtwort des Bundeskanzlers für zwei Jahre beendet worden. Anscheinend hat der Bundeskanzler als erster in der SPD gemerkt, dass Steuererhöhungen in einem Wahljahr Wählerstimmen kosten könnten. Der SPD in denjenigen Ländern, die im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht haben, durch den die Erbschaftsteuer erhöht werden sollte, war das egal, da dort - so Frau Simonis keine Wahlen anstehen. Deutlicher kann man sich nicht ausdrücken. Die SPD als Partei der so genannten Neuen Mitte hat wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Vermögen höher zu besteuern, sollte diesmal über die Erbschaftsteuer umgesetzt werden. ({0}) Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Ihnen ja so sehr am Herzen liegt, verwehrt Ihnen das Bundesverfassungsgericht. Eine Vermögensabgabe - das haben Sie ebenfalls lange diskutiert - ist rechtlich nicht möglich. Also musste diesmal die Erbschaftsteuer herhalten. Hier macht Ihnen - deutlicher kann das überhaupt nicht sein - das Bundestagswahljahr 2002 einen Strich durch die Rechnung, und das hat der Kanzler folgerichtig erkannt. Aber niemand soll sich Illusionen machen. Sie geben Ihre Pläne nicht auf, Sie verschieben sie bis zur nächsten Bundestagswahl. Ehrlich wäre es doch, den Bürgern ganz deutlich zu sagen, dass Sie nach der nächsten Bundestagswahl, sollten Sie noch regieren, was ja unwahrscheinlich ist, ({1}) die Erbschaftsteuer und die Grunderwerbsteuer erhöhen werden. Haben Sie eigentlich einmal mit Bürgern und Unternehmern gesprochen und sie gefragt, was sie davon halten? Die Antwort dürfte ziemlich eindeutig sein. Aber es ist das alte Spiel: Sie predigen den Menschen medienwirksam so genannte Jahrhundertreformen und hinten herum erhöhen Sie die Steuern. ({2}) Das gilt nicht nur für die jetzt aufgeschobene Erbschaftsteuer, das gilt auch für die Ökosteuer, deren weitere Erhöhung ja bereits beschlossen ist. ({3}) Ich bin sehr gespannt, wann der Bundeskanzler sich hierzu äußert. Auch Populismus, meine Damen und Herren, wird irgendwann berechenbar. Es lässt sich schon heute voraussagen, dass es zumindest eine Diskussion und eine Auseinandersetzung über die weiteren Stufen der Erhöhung der Ökosteuer geben wird. Ebenfalls ist klar, dass diese Diskussion medienwirksam selbstverständlich vom Bundeskanzler eröffnet wird. So durchsichtig ist dieser Populismus allmählich geworden. Zurück zur Sache: Die Anhebung der Erbschaftsteuer durch eine höhere Bewertung der Immobilien ist keineswegs vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden - das ist hier schon gesagt worden -, aber die Autoren des Gesetzentwurfes behaupten das. Das ist falsch. Im Gegenteil, Karlsruhe hat ausdrücklich entschieden, dass Immobilien weniger hoch bewertet werden können als sonstiges Vermögen. Verworfen wurde lediglich das alte Einheitswertverfahren mit Werten aus 1964. Das einzige Argument, das die fünf genannten SPD-geführten Länder vorbringen, ist also schlichtweg falsch. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist vielmehr ausdrücklich zu entnehmen, dass Grundvermögen einer hohen Sozialbindung unterliegt, dass es Mieterschutzbestimmungen und öffentlich-rechtliche Auflagen gibt, die die Verwertbarkeit von Grundvermögen einschränken. Auch volkswirtschaftliche Erwägungen wie die Höhe des Mietniveaus und die Lage der Bauwirtschaft können bei der Bewertung von Grundvermögen herangezogen werden. Das alles wird nicht beachtet. Das geltende Bewertungsrecht kann also fortgeführt werden. Aus diesem Grund hat die F.D.P.-Fraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt, der das geltende Bewertungsrecht für fünf weitere Jahre festschreibt. Dieser Zeitraum ist allein deswegen gerechtfertigt, da sich die Immobilienpreise in den letzten Jahren nicht wesentlich erhöht haben ({4}) und nichts für einen starken Preisanstieg in der nächsten Zeit spricht oder darauf hindeutet. Ich kann Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur bitten und auffordern, diesem Entwurf zuzustimmen, dann machen Sie etwas Vernünftiges. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Lothar Binding.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben sehr oft das Wort „Wahl“ gehört, jetzt von der F.D.P., auch von der CDU. Es soll ja so sein, dass auch für die CDU, natürlich auch für die CSU, und für die F.D.P. im nächsten Jahr Wahlen sind. Man fragt sich, warum Sie eigentlich diese Chance nicht auch nutzen, um konstruktive Modelle und Gesetzesvorhaben einzubringen, über die wir in diesem Sinne reden können. ({0}) Den Vorgaben nach zu urteilen sind im Hause alle irgendwie mehr oder weniger - manche deutlich weniger - für soziale Gerechtigkeit, manche sehr christlich, manche eher frei. ({1}) Doch muss man gucken, was denn genau unter dieser Überschrift passiert. Die CDU/CSU kümmert sich zum Beispiel mit Schwerpunkt - es vergeht keine Debatte, in der das fehlt - um das Stichwort „630 Mark“. ({2}) - Vielen Dank für den Applaus. Das zweite Thema ist die Ökosteuer. Es gibt aber noch ein ganz großes Thema, nämlich das große Geld, um das Sie sich auch kümmern. Jetzt frage ich mich, inwiefern unsere Gesellschaft mit der Zielstellung soziale Gerechtigkeit mit diesen drei Themen wirklich vorankommt. Die F.D.P. ist in einer ganz ähnlichen Situation. Um unsere Gesellschaft weiterzubringen, kümmert sie sich nicht ohne Erfolg in den Medien - erstens um das große Thema „18 Prozent“. Das zweite große Thema heißt „Big Brother“ und das dritte große Thema heißt „Möllemann“. ({3}) Auch diese drei Themen sind nicht zwingend geeignet, unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Nun zur PDS. Mit der PDS tut man sich immer etwas schwerer, denn erstens ist sie dabei, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Das ist sehr lobenswert, aber nicht unbedingt zukunftsweisend und zielführend für die Entwicklung unserer Gesellschaft. ({4}) - Ihrer Gesellschaft, aber nicht unserer Gesellschaft. Das Zweite, das uns mehr Probleme macht, ist die Diskussion über die reine Lehre. Denn die reine Lehre funkGerhard Schüßler tioniert immer nur, wenn man die Gruppe hinreichend klein macht. ({5}) Ich vermute, dass das bei Ihnen jetzt hinreichend sein könnte. Ich möchte noch kurz auf die Bundesverfassungsgerichtsurteile eingehen, aufgrund derer bisher zu viel oder zu wenig passiert ist. 1995 wurde festgestellt, dass die Bewertung von Grundbesitz mit Einheitswerten, des übrigen Vermögens aber mit Verkehrswerten nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Der zweite wichtige Punkt, der noch nicht vorgelesen wurde: Die verschiedenen Vermögensarten - jetzt mögen Sie Ihre Argumente vor diesem Hintergrund noch einmal reflektieren - müssen im Verhältnis zueinander realitätsgerecht bewertet werden. Es werden genannt: landwirtschaftliches, Betriebs-, Grund- und sonstiges Vermögen. Drittens. Familienangehörigen ist der Nachlass im Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses steuerfrei zu belassen. Der Bundestag änderte daraufhin 1996 das Bewertungsgesetz und führte die Bedarfsbewertung zur Berechnung der Erbschaft-, Schenkung- und Grunderwerbsteuer ein. Für bebaute Grundstücke wurde 1997 das Ertragswertverfahren eingeführt. Wenn ich richtig informiert bin, ging das auf eine Gesetzesinitiative aus Bayern zurück. Das ist ein Hinweis darauf, dass es nicht hinreichend war. Der Bundestag schaffte daraufhin 1997 die Vermögensteuer ab bzw. sie lief leer. Jetzt habe ich einmal nachgeschaut, welche Konsequenzen das im Haushalt hatte, und konnte feststellen, dass im Haushalt überhaupt keine Einbußen zu verzeichnen waren. Das fand ich sehr interessant. Irgendjemand hat hier von Steuererhöhungen gesprochen. Ich habe einmal geschaut, warum die Abschaffung der Vermögensteuer keine Auswirkungen im Haushalt hatte; sie wird abgeschafft und keiner merkt es. Mit ihrer Abschaffung war am Rande eine kleine Steuererhöhung einhergegangen, und zwar die Anhebung der Grunderwerbsteuer um 75 Prozent von 2 auf 3,5 Prozent. ({6}) - Wir schauen mal, wie das im Verhältnis zur Vermögensteuer gewirkt hat. Diese Umverteilung war für mich das gravierendste Beispiel, aus dem sich für uns Handlungsbedarf ergibt, und zwar Handlungsbedarf auf einer seriös vorbereiteten Grundlage ({7}) und nicht in aller Hektik und womöglich noch bis tief in irgendeinen Wahlkampf hinein, sondern in der nächsten Legislaturperiode. ({8}) Das Zweite war das Ungleichgewicht - Frau Hasselfeldt hat es schon zitiert - zwischen bebauten und nicht bebauten Grundstücken. Wir stellen fest, dass die bebauten Grundstücke gegenwärtig im Durchschnitt mit 51 Prozent ihres Verkehrswertes und die unbebauten Grundstücke mit durchschnittlich 72 Prozent des Verkehrswertes bewertet werden. Da ist die vorhin genannte Relation, die das Bundesverfassungsgericht vorsieht, nicht eingehalten. Hieraus ergibt sich der zweite Handlungsbedarf, der ebenfalls nicht kurzfristig und hektisch vorbereitet werden darf, sondern seriös und langfristig vorbereitet werden muss. ({9}) Deshalb werden wir eine solche Gesetzesvorlage seriös vorbereiten. Mit Blick auf die Zeit darf ich eine solche Gesetzesinitiative, sicherlich gestützt auf die intensive Mitarbeit der Oppositionsfraktionen, für die nächste Legislaturperiode ankündigen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Erbschaftsteuerdebatte heute geht es offensichtlich nicht nur um Erbschaftsteuer, es geht um mehr. ({0}) Es geht um die Frage, ob wir wollen, dass die Menschen in unserem Land Wohneigentum schaffen oder ob die Politik das verhindern will. ({1}) Hier tut sich die Kluft zwischen der sozialistischen Denkweise der Regierung auf der einen Seite und von CDU/CSU auf der anderen Seite ganz klar auf. ({2}) Da hilft auch das Geeiere von Ihnen, Herr Binding und Frau Scheel, überhaupt nicht. Wir sagen Ja zum Wohneigentum in privater Hand. Wir wollen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Wohneigentum bilden. Sie wollen dies offensichtlich nicht. Frau Staatssekretärin, Ihr Redebeitrag strotzt trotz seiner Kürze vor Scheinheiligkeit. In Wahrheit wollen Sie mit Ihrer Neidkampagne Ihre ideologischen Theorien aus der Mottenkiste durchsetzen und gleichzeitig die Grundstückseigentümer abkassieren. ({3}) Lothar Binding ({4}) Ständig verschlechtern Sie die Rahmenbedingungen im Wohnungsbau, seien es die steuerlichen Bedingungen, seien es Kürzungen im sozialen Wohnungsbau oder bei der Eigenheimzulage. Das Ergebnis lässt sich bereits ablesen: Von einem Jahr aufs andere bricht die Zahl der Baugenehmigungen ein, von Januar 2000 auf 2001 um über 30 Prozent. ({5}) Das ist das Ergebnis rot-grüner Wohnungsbaupolitik. Eine alarmierende Entwicklung! ({6}) Bei der Grundsteuer läuft still und leise das gleiche Spiel wie bei der Erbschaftsteuer an. Eine dringend notwendige Grundsteuerreform kommt nicht, aber gleichzeitig wird versucht, über die Neubewertung der Grundstücke Grundstückseigentümer abzuzocken. Welche Konsequenzen das in den Kommunen und bei den Mietern hat, ist Ihnen letztlich egal. Wenn Sie die Grundstücke für die Berechnung der Erbschaftsteuer und der Grundsteuer höher bewerten, heißt dies - erstens - für die Mieter höhere Mieten. Und die Mieter sind durch hohe Energiekosten und die Ökosteuer schon genug gestraft. ({7}) Zweitens. Für die Kommunen, die für die Bewertung der Grundstücke zuständig sind, bedeutet dies einen wesentlich höheren bürokratischen Aufwand. Denn wir wissen alle, es muss erheblich präziser bewertet werden. Wer erstattet den Kommunen diesen Aufwand? Hier bahnt sich erneut ein Verschiebebahnhof zulasten kommunaler Haushalte an, wie wir es in der Vergangenheit von RotGrün ständig gewöhnt waren. Nun befürchtet der Bundeskanzler, dass dieses Thema vor der Bundestagswahl möglicherweise ungeeignet ist, Stimmen zu gewinnen, und er hat es vorübergehendend durch ein Basta „eingesammelt“. Ob er es schafft, durch Machtworte die Diskussion in der eigenen Partei zu beenden, wird sich herausstellen. ({8}) Es zeigt sich auch hier, dass die SPD nach wie vor als Partei der alten Linken und auf keinen Fall der Neuen Mitte agiert. ({9}) Ich bezweifele auch, dass der Bundeskanzler endlich erkannt hat, dass Rot-Grün die Menschen in diesem Land schon mehr als genug zur Kasse gebeten hat, angefangen vom unsäglichen 630-Mark-Gesetz bis zum Abkassieren an der Tankstelle. ({10}) Die Steuer- und Abgabenbelastung war in Deutschland noch nie so hoch wie zurzeit. Deshalb heißt das Gebot der Stunde, nicht rauf, sondern runter mit den Steuern. ({11}) Was sind die Folgen dieser geplanten Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer? Erstens. Viele Menschen werden sich überlegen, ob sie überhaupt noch Wohneigentum schaffen. Sie schädigen deshalb einmal mehr ein wichtiges Element der dringend notwendigen privaten Altersvorsorge. Zweitens. Die Bauwirtschaft wird weniger Aufträge bekommen. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland wird weiter sinken. Sie haben Deutschland beim Wirtschaftswachstum schon jetzt auf den letzten Platz in Europa hinunterregiert. Drittens. Viele Erben von kleinen und mittleren Firmen werden den Betrieb verkaufen müssen, um ihre verschärfte Erbschaftsteuer zahlen zu können. ({12}) Das ist aktive Vernichtung von Existenzen und von Arbeitsplätzen. ({13}) Meine Damen und Herren, CDU und CSU sind gegen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Damit bieten wir eine klare Alternative zum Durcheinander in der SPD. Wir fordern Rot-Grün deshalb auf, die Verschleierungstaktik aufzugeben und endlich Farbe zu bekennen, damit die Menschen in diesem Land wissen, was auf sie zukommt, und zwar vor der Wahl und nicht erst nach der Wahl. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Götz, ich bin etwas irritiert. Ich habe den Eindruck, als ob die Denkfähigkeit proportional zur Nähe des Wahltages abnimmt und Abgeordnete zwar ein Assoziationsvermögen in alle Richtungen entwickeln, aber nicht wirklich auf den Tagesordnungspunkt zu sprechen kommen. ({0}) Ich frage mich, was die Erbschaftsteuer mit Baugenehmigungen zu tun hat. Sollen denn die Häuser in den Sperrmüll geworfen werden? Das hat niemand beantragt. Die Rede, die soeben gehalten worden ist, habe ich nicht verstanden. Es hat geklappt - Kollege Binding hat es angekündigt -: Die Stichworte „630-DM-Jobs“ und „Ökosteuer“ sind gefallen. „Bingo!“ kann ich da nur sagen. ({1}) Ich fände es aber trotzdem von einem sonst als Stadtund Baupolitiker sehr engagierten Kollegen gut, wenn er zur Sache diskutieren würde. Von daher sollten wir festhalten: Sie hatten mit Ihrer Koalitionsmehrheit eine Befristung der Gültigkeit des Bewertungsgesetzes bis zum 31. Dezember dieses Jahres beschlossen. Sie haben also 1996, als das Bewertungsgesetz in der Form, in der es jetzt vorliegt, beschlossen worden ist, Überprüfungsbedarf gesehen. ({2}) Ich finde, Sie sollten dazu stehen und hier nicht billige Wahlkampfpolemik und Neidkampagnen betreiben. Letztere schüren Sie in einer fast unanständigen Form, ({3}) anstatt ernsthaft, methodisch und unter dem Aspekt der Gerechtigkeit und Belastbarkeit darüber zu diskutieren, um welche Aufgaben es hier geht. Das ist unser Job und nicht, dumme Sprüche zu machen. ({4}) Ich möchte es konkret formulieren: Ich setze mich eindeutig für eine Verlängerung der Gültigkeit des Bewertungsgesetzes ein; das habe ich schon in früheren Reden getan. Ich würde mich zur Stunde nicht festlegen wollen, ob diese Verlängerung um zwei, drei oder mehr Jahre erfolgen sollte. ({5}) Dies hat inhaltliche Gründe: Ich bin der Meinung, dass es eine wichtige Aufgabe ist, das Bewertungsrecht für Grundsteuer, für Grunderwerbsteuer und für Erbschaftsteuer inhaltlich zusammenzuführen, damit hier endlich ein Stück Vereinfachung erreicht und nicht ständig das eine Bewertungsrecht gegen das andere ausgespielt wird. ({6}) Das hat eine sehr bedeutende Folge: Wir können bei den Bodenrichtwerten nicht mehr mit der Bedarfsermittlung arbeiten, ({7}) wie das jetzt bei der Erbschaftsteuer getan wird. ({8}) Darüber haben wir schon intensiv fachlich diskutiert. Bei den Bodenrichtwerten müssen wir zu einer neuen Form der Differenzierung kommen. Denn nur dann kann man die Bestimmungen zur Grundsteuer neu formulieren und das Einheitswertsystem anders definieren. ({9}) - Es geht nicht um Steuererhöhungen, sondern um die Systematik bzw. die Grundlagen. Sie sollten hier nicht wie die Geier sitzen und rufen „Das sind Steuererhöhungen“ angesichts dessen, dass es bei diesem Thema um eine klare Systematik im Bewertungsrecht geht. Dieser Aufgabe sollten Sie sich stellen. Ganz so primitiv sollten Sie sich nicht verhalten. Auch als Opposition haben Sie hier ein Stück weit politische Arbeit zu leisten und nicht nur dumme Sprüche zu machen. ({10}) Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe. Denn wir befinden uns in einer historischen Phase. Es geht zurzeit nicht nur um die permanente Gesetzmäßigkeit von Wertsteigerungen der Immobilien. Wir leben derzeit vielmehr in einer Phase mit enormen Umbrüchen: sei es durch Konversionen im Militärbereich; sei es durch die vielen Industriebrachen; sei es dadurch, dass Immobilien aufgrund neuer Anforderungen völlig anders strukturiert werden; sei es dadurch, dass wir im Osten einen großen Wohnungsleerstand haben, während in München oder Hamburg enorme Wertsteigerungen zu verzeichnen sind. ({11}) Es besteht also eine enorme Differenzierung bei der Wertentwicklung. Es gibt Eigentümer, die schon jetzt bzw. in Zukunft mit Wertsenkungen werden leben müssen. Es gibt Eigentümer, die eine Wertsicherung, und Eigentümer, die enorme Wertsteigerungen zu verzeichnen haben. Von daher ist ein Eingehen auf diese Differenzierung nötig. Eines muss ich sagen: Ich bin sehr dafür, dass wir die Reform des Bewertungsverfahrens verschieben und jetzt nicht weiter daran arbeiten, weil sie in das ganze System integriert werden muss. Aber wenn Sie sich einmal den Gesetzentwurf der Nordländer ernsthaft ansehen, dann stellen Sie fest, dass sie eine stimmige Form der Differenzierung vorschlagen. Das, was soeben vorgeworfen wurde, nämlich dass bei einem solchen Vorgehen Betriebe aufgeben müssten, ist überhaupt nicht wahr. Bei Geschäftsgrundstücken wird der Vervielfältiger 12 vorgeschlagen. Dies ist also sogar ein Stück günstiger als das, was im jetzigen Bewertungsrecht steht. ({12}) Sie sprechen von Dingen, von denen Sie nichts verstehen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, das einmal genauer zu betrachten. In dem Gesetzentwurf der Nordländer wird sehr sorgfältig mit den jetzigen Problemen umgegangen. Es geschieht also kein Raubbau an den armen Bürgern unseres Landes. ({13}) Daher: Erstens klar verschieben, das Bewertungsrecht jetzt erst einmal verlängern, zweitens Integration mit dem sonstigen Immobilienbewertungsrecht und drittens sorgfältige Beratung und dann bitte nicht ständig auf dem Rücken dieses Themas Neidkampagnen züchten, sondern sorgfältig zwischen Gerechtigkeit und Belastbarkeit der Bürger in unserem Land abwägen. Auch Sie stehen in der Verantwortung, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Bevorzugung gegenüber anderen Vermögensgegenständen wirklich zu rechtfertigen. Dieser Verantwortung sollten Sie sich stellen, und zwar auch schon vor der Wahl. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht die Abgeordnete Pia Maier.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein herzliches Dankeschön an Frau Eichstädt-Bohlig, die es nach all den Ausflügen in diverse andere Politikfelder geschafft hat, zum Thema zurückzukommen. Allerdings konnten auch Sie mir nicht erklären, warum die vielen Probleme, die Sie angesprochen haben, von den zwei damit befassten Ministerien, die - beide in SPDHand - schon 1999 von der SPD aufgefordert worden sind, eine solche Reform vorzunehmen, in den letzten anderthalb bis zwei Jahren nicht gelöst worden sind. Warum das nicht geschehen ist, versteht heutzutage keiner, der weiß, welch ein Apparat hinter diesen Ministerien steckt, und der sich noch an die Wahlversprechen und die Versprechen des 99-er Parteitages der SPD erinnert. Ich möchte ein paar Worte dazu verlieren, was Erben und Erbschaft in diesem Land eigentlich bedeuten, und zwar basierend auf dem nationalen Armuts- und Reichtumsbericht, den ich mir sehr genau angesehen habe. Bei der Erbschaftsteuer und vor allem bei der Erbschaft gilt der Grundsatz: Wer hat, dem wird gegeben. In diesem Land werden soziale Verhältnisse vererbt, und zwar sowohl arme wie auch reiche. Eine Erbschaft von über 5 000 DM erwarten unter allen Erben 18 Prozent der Westdeutschen, aber nur 8 Prozent der Ostdeutschen. Das bedeutet eine Verfestigung sozialer Missverhältnisse zwischen Ost und West in diesem Land. Eine Erbschaft über 5 000 DM erwarten unter allen Erben 35 Prozent der Hochschulabsolventen und -absolventinnen, aber nur 8,7 Prozent der Hauptschulabgänger. Dies bezieht sich jeweils auf die 40- bis 85-Jährigen der Bevölkerung dieses Landes. Daran sehen Sie, wie durch die Erbschaften, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen, die sozialen Verhältnisse oder vielmehr die Missverhältnisse in diesem Land fortgeführt und verstärkt werden. Drei Viertel der Hochschulabsolventen erben überhaupt, aber nur knapp die Hälfte der Hauptschulabsolventen. Wenn man sich diese Tatsachen, die auch im Armuts- und Reichtumsbericht stehen, ansieht, fragt man sich, warum Sie nicht die Chance ergreifen, mit einer Erbschaftsteuer eine Politik der Umverteilung, eine Politik des sozialen Ausgleichs anzugehen, den die rot-grüne Regierung eigentlich schon vor einiger Zeit versprochen hat. ({0}) Aber Sie folgen weiterhin dem Grundsatz „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ und gehen nicht nach einem Grundsatz vor, der lauten könnte: Armut bekämpfen, Reichtum begrenzen. ({1}) Weder beim Vorschlag der fünf Länder, die vom Bundeskanzler und vom Bundesfinanzminister zurückgepfiffen worden sind, noch bei unseren Vorschlägen zur Erbschaftsteuer geht es darum, Omas Häuschen nicht mehr vererbbar zu machen. Vielmehr geht es um große Vermögen und darum, dass die normalen Durchschnittshäuser durch Freibeträge für die Kinder gesichert werden sollen. Wenn man sich ansieht, dass mit der jetzigen Einheitswerttabelle bei einem Verkaufswert des Grundstückes von 1,2 Millionen DM abzüglich der Freibeträge eine Erbschaftsteuer in Höhe von rund 32 000 DM herauskommt, sieht man, dass hier große Vermögen wirklich in einem sehr geringen Maße belastet werden. Eine solche Belastung ist für Inhaber großer Vermögen wirklich gut zu tragen. Aber ein Grundstück im Wert von 1,2 Millionen DM ist nicht das, was der Durchschnittsverdiener besitzt. Aber ich verstehe schon, dass derjenige, der 1 Million DM auf seinem Konto nicht mehr findet, auch die 32 000 DM nicht mehr findet bzw. vergisst, sie zu überweisen. ({2}) Mit der Vertagung der Erbschaftsteuerreform haben Sie die Möglichkeit vertan, eine Umverteilung zugunsten der Länderfinanzen vorzunehmen. Wäre die Erbschaftsteuerreform jetzt durchgeführt worden, hätten Sie die Landespolitik stärken können. Mit den Einnahmen aus der Erbschaftsteuer hätten die Länder zum Beispiel Ganztagseinrichtungen für Kinder und eine bessere Ausstattung der Schulen und Hochschulen finanzieren können. Damit hätten die sozialen Verhältnisse, die mit Erbschaften fortgesetzt und verfestigt werden, ausgeglichen werden können. So aber haben Sie das grundlegende Problem der Vererbung von Vermögen und damit der Verfestigung sozialer Verhältnisse außer Acht gelassen, und zwar per Dekret von zwei Ministerien, nachdem die Länder versucht hatten, ihre berechtigten Interessen durchzusetzen. ({3}) Sie müssen sich schon den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie keine Umverteilungspolitik machen, dass Sie die Armut nicht bekämpfen wollen und den Reichtum noch nicht einmal in so geringem Maße, wie es durch eine Erbschaftsteuer geschehen würde, begrenzen wollen. Danke schön. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Das BundesverfassungsFranziska Eichstädt-Bohlig gericht entschied in seinem Urteil von 1995, dass Immobilien- und Grundbesitz realitätsnäher erfasst werden müsse. Die daraufhin von der damaligen Regierung eingeführte Neuregelung war allerdings befristet und läuft am 31. Dezember dieses Jahres aus. Aus diesem Grund wurde von uns schon in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, zu diesem Thema eine Sachverständigenkommission einzuberufen. Diese Kommission, bestehend aus Praktikern der Finanzverwaltungen aller Länder, Bausachverständigen und verschiedenen Vertretern des Bundesministeriums, hat inzwischen einen Bericht vorgelegt. Fünf Bundesländer bereiteten aufgrund dessen eine Gesetzesinitiative für den Bundesrat vor. Leider wird heute wie auch schon am 10. Mai letzten Jahres, als wir ebenfalls eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema hatten - damals allerdings auf Antrag der CDU/CSU, die dieses Thema für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen missbrauchen wollte -, seitens der Opposition völlig am Thema vorbeigeredet. ({0}) Statt Aufklärung war und ist auch heute Panikmache angesagt. Die Opposition auf der von mir aus gesehen rechten Seite dieses Hauses schreit Zeter und Mordio und die Opposition links außen sieht bei Erben Reichtum, der so schnell wie möglich umverteilt werden muss. Immerhin ist auch die PDS-Fraktion der Meinung, dass im Erbfall niemals Einfamilienhäuser weggesteuert werden dürfen und auch der Fortbestand von Familienbetrieben nicht gefährdet werden darf. Darin geht die PDS ausnahmsweise konform mit uns; denn das ist in unseren Reihen noch nie strittig gewesen und wird es auch nie sein. ({1}) Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das weder die CDU/CSU- noch die F.D.P.-Fraktion hören will. Sie begeben sich lieber in die Welt von Grimms Märchen und erzählen Schauergeschichten, und das nicht erst seit heute. ({2}) Ich habe noch einmal die Reden in der Debatte im letzten Jahr zu diesem Thema gelesen. Damals sprach unter anderem Herr Thiele, der heute leider nicht gesprochen hat. Er sagte, „dass Rot-Grün an das sauer erarbeitete und ersparte Geld der Bürger in unserem Land heran will“. Es tut mir Leid, aber ich kann nicht ganz erkennen, wodurch sich der Steuerpflichtige, also der Erbe, das Geld so sauer erarbeitet haben soll. Als Erbe würde ich mir eine solche Unterstellung verbitten; denn das anzunehmen lieferte höchstens Stoff für einen Kriminalroman. Herr Götz, zu Ihrer Rede möchte ich nur Folgendes sagen: Mein Mathematiklehrer benutzte für solche Beiträge immer eine sehr kurze Formel; sie lautete: b2. Das bedeutet: Der Inhalt ist blühender Blödsinn. ({3}) - Nein, bei mir nicht. ({4}) Frau Hasselfeldt von der CDU/CSU-Fraktion indes ignorierte in ihrer Rede das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und führte aus, die SPD habe schon immer eine Erhöhung der Erbschaftsteuer gewollt und benutze die Erbschaftsteuer als ideologisches Neidinstrument. Diese Äußerung ist nicht neu und zeigt nur, wie wenig Sie bei diesem Thema an einer konstruktiven Mitarbeit interessiert sind. Interessant ist auch, dass es durchaus vermögende Menschen gibt, die das völlig anders sehen. Gates senior zum Beispiel, der nun nicht gerade einer der Ärmsten ist, ist der Meinung, dass Kinder kein Recht auf Reichtum haben, nur weil sie in eine reiche Familie geboren wurden. ({5}) - Ich finde es schon peinlich, wenn Sie Herrn Gates nicht kennen. ({6}) Ich hoffe, Sie können wenigstens mit den Computern von ihm umgehen, die Sie benutzen. In der „Financial Times Deutschland“ wurde er vorgestern wie folgt zitiert: Ein gutes Leben soll man sich erarbeiten. Es sollte nicht von dem Bauch abhängen, in dem man zufällig sein Leben beginnt. Ich finde, das ist ein Zitat, über das man vielleicht auch in Ihren Reihen nachdenken kann. ({7}) Bei ihrem Neidvorwurf übersah Frau Hasselfeldt anscheinend, dass Immobilien und Grundbesitz im Steuerrecht viel niedriger als Geldvermögen bewertet werden. Wo bleibt die immer von Ihnen viel zitierte Steuergerechtigkeit, alles gleich zu besteuern? Warum muss derjenige, der eine Million als Geldvermögen erbt, 90 000 DM Steuern zahlen und derjenige, der Immobilien erbt, die auf dem Markt mehr wert sind, keine Steuern zahlen? Das kann doch nicht in Ihrem Sinne sein. Dieser Zustand ist durch nichts gerechtfertigt und wird immer wieder Gegenstand von Gerichtsverfahren sein. Dabei ging und geht es niemals um „Oma ihr klein Häuschen“. Aber das interessiert Sie nicht, sondern diese Irrigkeit wird von Ihnen immer wieder nach dem Motto verbreitet: Wenn man etwas nur lange genug behauptet, glaubt es vielleicht sogar außer einem selbst noch einer. Vor allem solche haltlosen Unterstellungen sind der Grund, dass sich die Länder, die letztendlich betroffen sind, momentan keine einheitliche Meinung dazu gebildet haben. Dennoch ist gesetzliches Handeln notwendig, da sonst ab dem nächsten Jahr keine Grundstückswerte mehr festgestellt werden könnten und folglich keine Steuerveranlagungen mehr durchgeführt werden. Die daraus resultierenden Steuerausfälle wären für die Länder nicht verkraftbar. Daher wird es zu einer erneuten Befristung kommen, die den Ländern erst einmal Rechtssicherheit verschafft. Gleichzeitig gibt uns das genügend Zeit, um auf der Grundlage des mittlerweile vorliegenden Berichtes der Kommission gut und umsichtig vorzubereiten, wie man eine verfassungsrechtlich sichere und gerechtere Bewertung von Grund- und Immobilienbesitz umsetzen kann. Das kann allerdings nur im Einvernehmen aller Länder geschehen. Ich bin zuversichtlich, dass auch die CDU/ CSU-geführten Bundesländer nicht umhinkommen, sich an dieser Arbeit zu beteiligen; denn die Länder sitzen in dieser Frage alle in einem Boot. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hansgeorg Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der „Basta-Kanzler“ hat wieder zugeschlagen - zum Glück, wie man in diesem Fall sagen muss. Der Versuch, die Erbschaftsteuer drastisch zu erhöhen, ist vorerst gestoppt. Oder war es doch wieder nur ein abgekartetes Spiel? Einige Länderfürsten preschen unter tätiger Mitwirkung des Bundesfinanzministeriums vor, um neue Steuererhöhungen zu erreichen, ({0}) und der Kanzler kann sich zum Retter der Häuslebesitzer aufschwingen. ({1}) Großzügig lässt er die Pläne auf Eis legen und beschwichtigt die Ministerpräsidenten am Kamin. Ganz so glücklich damit scheinen aber Simonis, Möller und Co. doch nicht zu sein; denn sie verkündeten rasch, dass diese Erhöhung nur aufgeschoben sei. Auch die Linken in der SPD setzen nach und verkünden ihre alten Parolen, dass leistungsloses Vermögen stärker belastet werden muss. ({2}) Nordrhein-Westfalen springt dem Retter bei und bringt mit einem Verschiebeantrag, wie wir es gerade gehört haben, den lahmenden Gaul über die Hürden. Dies geschah getreu dem Motto, wie es die „Süddeutsche Zeitung“ vorgestern zum Ausdruck brachte: Das Ende der Politik ... Gerhard Schröder macht den Stillstand zur Chefsache. ({3}) Ein bei uns sehr populärer fränkischer Kabarettist würde sagen: Aufgemerkt, das dicke Ende kommt noch! - Aber die Wähler sollen dieser Koalition erst einmal wieder ihre Stimme geben. Dann werden sie schon sehen, was auf sie zukommt. Das wurde vor den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bereits vorexerziert: Kaum ist gewählt, schon quält die SPD die Steuerzahler. So schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 28. März dieses Jahres. Was wollen die fünf SPD-geführten Länder mit ihrem Vorschlag erreichen? Was bringt er für Auswirkungen? Aufgrund der Verfallsklausel - das haben wir schon gehört -, nach der die für die Grundstücksbewertung maßgeblichen Wertverhältnisse nur bis zum 31. Dezember 2001 gelten sollen, meinten die Länder SchleswigHolstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, eine weitere Verschärfung im Bewertungsrecht erreichen zu müssen. Finanzminister Möller aus Schleswig-Holstein sagte im Bundesrat am 30. März 2001 dazu: Ziel des Gesetzentwurfs ist es, erstens eine Annäherung der Grundbesitzwerte an den Verkehrswert zu erreichen, zweitens das Bewertungsverfahren zu vereinfachen und drittens das Aufkommen der Länder aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie der Grunderwerbsteuer zu sichern. Hier war wohl „erhöhen“ gemeint; denn eine gerechtere Bewertung ließe sich auch aufkommensneutral erreichen. - Der Vorschlag hätte Erhöhungen der Verkehrswerte von durchschnittlich 51 Prozent auf durchschnittlich 72 Prozent erreicht. Hier wird immer das Urteil des Verfassungsgerichts zitiert. Meine Damen und Herren, dieses Urteil hätte sehr wohl ausreichend Spielraum gelassen und eine sachbezogene Differenzierung bei der Bewertung von Vermögenswerten ermöglicht. Wenn jetzt gesagt wird, dass der Zustand, den wir zur Zeit haben, verfassungswidrig sei, dann frage ich Sie, wie man mit einem Antrag auf Verschiebung diese Verfassungswidrigkeit beseitigen kann. ({4}) Meine Damen und Herren, an zahlreichen Beispielen lässt sich nachweisen, wie groß die Erhöhung wäre. Lassen Sie mich ein Beispiel zitieren, das der bayerische Finanzminister in der Bundesratssitzung genannt hat: Eine Alleinerbin, eine Tochter, erbt ein Zweifamilienhaus in Amberg in der Oberpfalz - das ist nun weiß Gott keine Gegend, in der der Jetset zu Hause ist -, die Wohnungen haben eine Wohnfläche von 123 m2, die Grundfläche beträgt 800 m2, die monatliche Kaltmiete für eine Wohnung 1180 DM, der Bodenrichtwert 250 DM. Die Erbschaftsteuerbelastung beträgt zurzeit 0 DM, nach den Vorschlägen von Herrn Möller beliefe sie sich auf 15 180 DM. Dann gab es einen modifizierten Vorschlag, nach dem es immer noch 13 800 DM gewesen wären, und nach den Vorstellungen der Sachverständigenkommission wären es sogar 21 000 DM gewesen. Oder lassen Sie mich ein zweites Beispiel anführen, weil es immer heißt, der Enkel solle nicht das Häuschen der Oma verkaufen müssen. Natürlich muss er es nicht wegen der Erbschaftsteuerbelastung verkaufen, aber ich frage mich: Wieso ist es gerechtfertigt, bei solchen geringfügigen Vermögen überhaupt diese Steuer zu verlangen? Dazu noch ein Beispiel aus der Oberpfalz - das sind jetzt aktuelle Werte -: ein Häuschen, 1961 gebaut, Wohnfläche 115 m2, Grundstücksfläche 500 m2, Monatsmiete 950 DM. Die Erbschaftsteuerbelastung beträgt zur Zeit bereits 2 450 DM, die künftige Belastung nach dem Vorschlag liegt bei 12 000 DM. Meine Damen und Herren, dieses Beispiel beweist ganz genau, dass die Redensart, ein kleines Häuschen solle nicht belastet werden, völlig daneben liegt. Der Kanzler hat erkannt, dass das eine Zeitbombe sein könnte; deswegen hat er die Sache gebremst. Lassen Sie die Diskussionen, lassen Sie es bei den bisherigen Werten! Das wäre sachgerecht und auch vernünftig. Schenken Sie den Wählern vorher reinen Wein ein! Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Lydia Westrich für die SPD-Fraktion das Wort.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade; gerade die Fraktion der PDS und oft auch die F.D.P.-Fraktion beklagen sich immer darüber, dass wichtige Themen so weit in die Abendstunden geschoben werden. Hier sitzen wir jetzt zur besten Zeit und unterhalten uns mit Leidenschaft - zum wievielten Mal? - über die Erhöhung der Erbschaftsteuer: ({0}) Eine Aktuelle Stunde dazu im November 1999, eine im Mai 2000, eine im Mai 2001; sollen wir denn den Termin für das nächste Jahr schon miteinander ausmachen, Frau Hasselfeldt? ({1}) Mit welchem Pathos und welchem Tremolo Sie hier über Chimären reden! Nach dem kommenden Sonntag - das war damals der Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen - davon sind wir überzeugt - werden Sie die Katze aus dem Sack lassen! So hat es Heinz Seiffert im Mai 2000 gesagt. 53 oder 54 Sonntage sind nun ins Land gegangen. Und gibt es etwas? - Nichts! „Die arme Katze“, könnte man sagen. Die einzige Erhöhung der Erbschaftsteuer in den letzten Jahren haben doch Sie von der CDU/CSU und der F.D.P., Frau Hasselfeldt, vorgenommen. Diese Erhöhung war laut Herrn Repnik - er ist ja ein wichtiges Mitglied Ihrer Fraktion, werte Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU - familienfreundlich und unternehmerfreundlich. Wenn aber eine Erhöhung von Steuern in Ihren Augen familienfreundlich und unternehmerfreundlich sein soll, dann begreife ich Ihr Pseudo-Wehklagen überhaupt nicht. Selbst Herr Thiele hat im Mai 2000 bestätigt, dass er und seine Fraktion zu dem höheren Aufkommen aufgrund der Erbschaftsteuererhöhung stehen. Noch letzte Woche versuchten Sie uns mit Anträgen zur Verbesserung der Situation des Mittelstandes vorzuführen. Die Wahrheit ist: Sie hätten in den letzten Jahren Zeit gehabt, eine Verbesserung der Lage des Mittelstandes herbeizuführen. Sie hätten in dieser Zeit ein Paradies für den Mittelstand schaffen können. Sie verstehen sich aber nur als reiner Marketingverein und fordern, was nicht wehtut, um dann Belastungen - wie Herr Repnik es tut - als freundlich zu verkaufen. ({2}) Ich verstehe die Intention der PDS, diese Aktuelle Stunde zu beantragen, weil sie es als Gelegenheit sieht, ihre Pläne zur massiven Erhöhung der Erbschaftsteuer zum wiederholten Male vorzustellen. Ich erkenne auch die Anstrengungen der Länder an - vor allem von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt -, ihre eigene Steuerbasis zu verbessern. Finanzminister Claus Möller aus Schleswig-Holstein hat aus seiner Sicht eine wirklich sorgfältige Argumentation zu diesem Thema vorgelegt. Auch Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU haben wiederholt die soziale Verpflichtung des Eigentums - wie es auch die PDS vorgetragen hat - bekräftigt. Herr Binding und Frau Eichstädt-Bohlig haben wieder einmal versucht, Ihnen die Grundlage genau zu erklären, um eine sachliche Diskussion zu ermöglichen. Wenn alle Länder fordern, ihre eigenen Einnahmequellen so gut es geht zu verbessern, kann sich das ganze Haus dieser Möglichkeit nicht verschließen. Solange dieses Ereignis aber nicht eintritt, ist jede Diskussion überflüssig. Seit zwei Jahren versuchen Sie mit wilden Spekulationen die Menschen zu verunsichern, weil es Ihnen nicht passt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Erbschaftsteuererhöhungsfraktionen, dass wir - SPD und Bündnis 90/Die Grünen - wahr gemacht haben, was Sie nur in Sonntagsreden von sich geben. Wir haben die Steuerbelastungen für die Bürger, die Familien, die Unternehmen sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit unserer rot-grünen Mehrheit massiv gesenkt. ({3}) Endlich klaffen Brutto- und Nettoeinkommen nicht mehr so weit auseinander und die Menschen merken das. Sie aber können das anscheinend nicht verkraften. Anstatt sich mit den Menschen zu freuen, dass sie mehr Geld zur Verfügung haben, hetzen, spekulieren und verunsichern Sie. Das ist alles, was Sie können, anstatt mit uns neue Möglichkeiten zu erreichen, um eine gute, verfassungsrechtlich tragfähige Bewertungsreform auf die Beine zu stellen. Hansgeorg Hauser ({4}) Gerade im sensiblen Bereich von Erbschaftsfällen und Schenkungen brauchen wir Rechtssicherheit. Deshalb war es richtig, dass die Bundesregierung eine klare Position bezogen hat. Rechtssicherheit bei der Erbschaftsteuer ist für die Menschen wichtiger als ideologisch geprägte Debatten. Neid oder Privilegierung des Reichtums dürfen keine Rolle spielen. Die Bürger brauchen Vertrauen und wir brauchen eine sachliche und gründliche Diskussion. Jetzt sind Sie dran, endlich die Interessen der Menschen zu vertreten und damit aufzuhören, mit wilden Spekulationen immer nur Unfrieden zu stiften. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Westrich, wenn Sie sagen, diese Debatte sei überflüssig, haben Sie sich im Verlauf der Debatte eigentlich selbst widerlegt. Heute ist völlig klar geworden: Nicht nur die Regierung spielt auf Zeit, sondern auch SPD und Grüne tun dies. Wenn Rot-Grün weiter an der Regierung ist, wird die Erbschaftsteuer in diesem Land erhöht werden. Das ist für die Menschen unter dem Strich deutlich geworden. Das ist wichtig. ({0}) Wenn man die Reden Revue passieren lässt, ist viel wichtiger, darauf zu schauen, wer nicht gesprochen hat, als zu schauen, wer gesprochen hat und was der vielleicht gesagt hat. Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Warum spricht Detlev von Larcher - er ist ja Mitglied des Finanzausschusses - nicht? ({1}) Der ist nicht da; haben Sie den bei diesem Thema weggesperrt, um die Widersprüche nicht allzu deutlich werden zu lassen? ({2}) Warum spricht denn Andrea Nahles nicht, von der wir hören, im Oktober gebe es von der parlamentarischen Linken einen neuen Vorstoß, um das Vorhaben auf den Weg zu bringen? ({3}) Wieso spricht Finanzminister Möller nicht, der nach der Kanzlerkungelrunde trotzig erklärt hat, an den Plänen festzuhalten? Wieso hört man nichts von Frau Ministerpräsidentin Simonis? Also: Es ist häufig aufschlussreicher, sich anzuschauen, wer nicht spricht, als sich anzuhören, was die gesagt haben, die gesprochen haben, was im Übrigen auch nicht besonders erhellend war. ({4}) Frau Scheel - sie ist leider schon gegangen; aber es wird ihr sicherlich jemand darüber berichten - hat sich in ihrer Situationsanalyse geirrt, als sie festzustellen glaubte, dass das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer gesunken sei. Vielleicht verfügt sie über andere Zahlen als ich. Mir liegen die Zahlen des Bundesfinanzministers vor. Nach denen ist das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer kontinuierlich gestiegen, nämlich von 1996 von etwas über 4 Milliarden DM auf 6,2 Milliarden DM im Jahr 2000. Das ist auch ganz logisch; denn wir alle reden von einer „Erbschaftswelle“. Es ist also völlig klar, dass auch das Volumen des Erbschaftsteueraufkommens wächst. Hinzu kommt, dass der demographische Faktor auch in diesem Bereich wirkt. Wenn weniger Kinder vorhanden sind und deshalb weniger Freibeträge genutzt werden können, erhöht sich das Erbschaftsteueraufkommen. Wenn nicht mehr in direkter Linie, sondern weitläufiger vererbt wird, dann können nur geringere Freibeträge in Anspruch genommen werden. Aber Ihnen reicht dieser Trend nicht. Sie wollen 500 Millionen DM mehr haben und halten sich bislang nur taktisch zurück. Der Bundesfinanzminister hat seine Sprecherin erklären lassen: Aus unserer Sicht ist eine Erbschaftsteuererhöhung vorerst nicht erforderlich. ({5}) Dieser Satz lässt beim Steuerbürger in Deutschland alle Alarmglocken läuten. ({6}) Es ist völlig klar, wo dieses Thema demnächst behandelt werden wird: Es ist ein Thema für die Mauschelrunden. In den letzten zweieinhalb Jahren ist es in der Politik ja wie auf einem orientalischen Basar zugegangen. ({7}) Sie tauschen - das war die erste Rate - Rente gegen Ladenschluss. Dann tauschen Sie - das war die zweite Rate Rente gegen Betriebsverfassungsgesetz, dann Steuerreform gegen Stadtstaatenprinzip und Sportstadion sowie Altersvermögensaufbau gegen 1 200 Jobs hier im Umland. Vielleicht nutzt man das Thema der Erbschaftsbesteuerung auch noch, um Herrn Holter in MecklenburgVorpommern zu trösten. ({8}) Das Thema ist jetzt in dem großen Topf, aus dem Kompensationen geleistet werden sollen und mit dessen Hilfe Wohlverhalten hergestellt werden soll. Wenn Sie sich das, was auf dem Tisch liegt, wirklich einmal anschauen würden - Hansgeorg Hauser hat es eben schon deutlich gemacht -, dann würden Sie feststelLydia Westrich len, dass Sie tatsächlich an „Oma ihr klein Häuschen“ gehen, um diesen Ausdruck aufzugreifen. Wenn wir schon von der Oma und ihrem kleinen Häuschen sprechen, dann sollten wir uns auch den Enkel betrachten. Wenn Sie sich die Grundstücks- und Immobilienpreise in den Ballungsräumen anschauen und mit dem Verkehrswert vergleichen, dann werden Sie selbst bei einer nur überschlägigen Rechnung feststellen, dass der Enkel schon heute nicht erbschaftsteuerfrei erben kann und dass seine Belastung nach Ihren Plänen sogar noch auf das Dreifache steigen wird. Wenn man eine Immobilie im Wert von 1 Million DM erbt, dann muss man mit einer Erbschaftsteuer in Höhe von mindestens 60 000 DM rechnen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie wollen sich - das ist völlig klar - über die Wahl hinaus retten. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir sagen: Bürger aufgepasst! SPD und Grüne wollen an „Oma ihr klein Häuschen“! Wer Vorsorge treffen will und nicht möchte, dass das geschieht, der hat das selber in der Hand und muss bei der Wahl im nächsten Jahr CDU/CSU wählen. Dann wird das verhindert. Danke schön. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluss dieser Aktuellen Stunde gebe ich das Wort an die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! All denjenigen, die später zu uns gestoßen sind, möchte ich sagen: Hier findet zurzeit eine Aktuelle Stunde statt. Aktuell könnte man natürlich über viele Themen reden. Ich denke zum Beispiel an Leuna und an Biedenkopf. Es gibt unheimlich viele Dinge, die die Leute im Moment interessieren. Stattdessen reden wir über ein Thema, über das wir traditionell eigentlich jährlich diskutieren. Wir reden ungefähr jedes Jahr im Mai über die Erbschaftsteuer. ({0}) Das macht eigentlich wenig Sinn, weil wir aktuell gar nicht vorhaben, in diesem Bereich etwas zu verändern. ({1}) Ein wenig aktueller ist die Ökosteuer, über die wir monatlich reden. Dieses Thema spielte in die heutige Debatte ein bisschen mit hinein. Das war sozusagen halbaktuell. Aber wir reden, wie gesagt, eigentlich über die Erbschaftsteuer. Ich möchte kurz auf das eingehen, was meine Vorredner gesagt haben. Es ist inhaltlich immer das Beste, wenn man als letzte Rednerin spricht; denn dann ist das meiste schon zum Thema gesagt worden. Ich finde es sehr ehrenwert, dass die PDS für eine angemessene Besteuerung sorgen möchte. Etwas anderes wollen auch wir nicht ({2}) und werden wir in Zukunft auch nicht tun. Die Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen, dass es sich um eine Länderinitiative handelt und dass dies auch so bleiben wird. Wir sind sehr gespannt, wie sich diese Initiative in den nächsten Jahren entwickeln wird. Was mich sehr freut, ist, dass vor allem die CDU/CSU unsere Parteitagsbeschlüsse ausgiebig liest. ({3}) Das ist wichtig für Sie. Sie können nur davon lernen. Ich lese Ihre leider nicht. ({4}) Deshalb wäre es gut, wenn Sie ab und zu auch einmal hier vortragen würden, was Sie perspektivisch machen möchten. ({5}) Was ich persönlich immer wieder schade finde, ist, dass hier über „linke“ Sozialdemokraten so geredet wird, als ob das ein Schimpfwort wäre. Ich kann Sie beruhigen: Bei uns in der Partei werden die Leute nicht abgestempelt. Damit haben wir kein Problem. ({6}) Sie fordern immer wieder: Sagen Sie doch den Leuten vor der Wahl die Wahrheit; dann merken sie es nicht erst hinterher. Sie gehen also ganz automatisch - wie wir natürlich auch - davon aus, dass wir die Wahl gewinnen. ({7}) Das freut mich sehr und das macht mich zufrieden. Schwierig wird es in Zukunft, so denke ich, mit der F.D.P. Wir wissen, dass Sie nächstes Mal mitregieren möchten. Das wird schwierig; denn Sie müssen Ihre Meinung dann komplett ändern. Aber das F steht wohl für „flexibel“ oder „Fallschirmspringen“. Da werden Sie die Kurve schon kriegen. ({8}) Zu Herrn Götz möchte ich noch kurz anmerken: Auch wir stehen natürlich zum Wohneigentum. Wir möchten auch, dass die heutigen Erben sich ein Haus bauen können. Ich bin zuversichtlich, dass sie mit all unseren Steuerreformen dazu auch in der Lage sein werden. Die Apokalypse, die Sie an die Wand gemalt haben, werden wir also erst einmal für zwei Jahre verschieben, und dann wird sie auch nicht so dramatisch werden, wie Sie das befürchten. Herrn Hauser wollte ich noch fragen, woher er den Begriff „leistungsloses Vermögen“ hat. Den kannte ich bisher nicht. Wenn Sie keine Nutzungsrechte daran haben, würden wir den in Zukunft gern verwenden. ({9}) Ich finde den ganz gelungen. Bei uns habe ich das noch nicht gehört. ({10}) Aber Sie können mich ja gern aufklären. Zu Herrn Willsch noch: Ich sehe das Ganze nicht so dramatisch. Wenn Sie neidisch darauf sind, dass wir gestalten können und dass wir vielleicht auch ein bisschen verhandeln, wenn wir Reformen machen, dann tut mir das Leid. Aber Sie werden sich damit arrangieren müssen. Das wird auch in Zukunft so bleiben. ({11}) Ich danke Ihnen. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den heute Morgen aufgesetzten Zusatzpunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung der von der Bundesregierung und von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses - Drucksachen 14/4733, 14/3750, 14/6036 Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Die Fraktion der CDU/CSU hat ihren Gesetzentwurf zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens, Drucksache 14/163, zurückgezogen. Wie heute Morgen beschlossen, beträgt die Dauer der Aussprache eineinhalb Stunden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf Dauer wird die bürgerliche Rechtspflege nicht in der Lage sein, ohne weitergehende Maßnahmen diesen Geschäftsanfall und - erst recht nicht - die vom Gesetzgeber übertragenen neuen Aufgaben zu bewältigen und dem rechtsuchenden Bürger in angemessener Zeit Rechtsschutz zu gewähren. So heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU-Fraktion vom Anfang dieser Legislaturperiode. In diesem Antrag ist neben dem verstärkten Einsatz von Einzelrichtern eine „Einschränkung des Angebots der Rechtsmittel“, wie es so schön heißt, sprich: eine recht rigorose Befugnis zur Zurückweisung von Berufungen bis zu einem Streitwert von sage und schreibe 60 000 DM vorgesehen. Dieser Gesetzentwurf, über den wir, wie gesagt, heute mit zu beraten und auch mit zu entscheiden haben, liegt in der unseligen Tradition der vielen so genannten Rechtspflegeentlastungsgesetze, mit denen wir in den zurückliegenden Legislaturperioden immer dann befasst, manchmal fast traktiert wurden, wenn die Justiz mit ansteigenden Fallzahlen in Schwierigkeiten geriet. Dann wurde an der Streitwertschraube mit der Folge gedreht, dass wir inzwischen fast eine Art Zweiklassenjustiz haben: Hohe Streitwerte genießen komfortabelsten Rechtsschutz bis hin zum Bundesgerichtshof; Verfahren mit niedrigeren Streitwerten müssen sich unabhängig davon, wie existenziell ihre Bedeutung für die Beteiligten ist, mit begrenzten Rechtsmittelmöglichkeiten begnügen. Die Folge ist auch, dass die Amtsgerichte, die den größten Teil aller Zivilrechtsverfahren zu schultern haben, zum Teil rettungslos überlastet sind. Richterinnen und Richter, die jährlich über 700 Fälle zu bearbeiten haben, können auch bei noch so gutem Willen dem Einzelfall nicht die Zuwendung zukommen lassen, die Rechtsuchende von der Justiz zu Recht erwarten können. Die von der Regierung und den Koalitionsfraktionen heute zur Abstimmung gestellte Zivilprozessreform führt zu deutlichen Verbesserungen. Zivilrechtliche Auseinandersetzungen sollen künftig wieder so von den Gerichten bewältigt werden können, dass die Rechtssuchenden möglichst schon in erster Instanz mit einem abschließenden Ergebnis rechnen können, und zwar in einem Verfahren, das ihren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht. Verstärkte Aufklärungspflichten des Gerichtes sollen schon in einem frühen Stadium den Rechtssuchenden die Chancen und Risiken des Verfahrens offen legen. Dem Ziel, bereits in diesem Stadium zu einem fairen Ausgleich zu kommen, dient auch die Verpflichtung des Gerichts, vor der streitigen Verhandlung im Rahmen einer Güteverhandlung eine vergleichsweise Regelung anzustreben. Erhöhte Aufklärungspflichten schaffen nicht nur Transparenz und verhindern Fehleinschätzungen durch die Prozessparteien, sondern verstärken gleichzeitig die Bereitschaft, im Vergleichswege eine Lösung zu suchen. Wir brauchen diese Stärkung der ersten Instanz dringend; denn allein die Zahl der durchlaufenen Instanzen ist noch kein zwingender Beleg dafür, dass bessere Ergebnisse erzielt werden. Eine gründliche Befassung und ein transparentes Verfahren in der ersten Instanz rechtfertigen es auch, aussichtslose Berufungen durch einstimmigen Beschluss der Berufungskammer bzw. des Berufungssenates zurückzuweisen. Anders als dies noch der CDU/CSUAntrag vorsieht, sollen auch in diesem Falle die Prozessparteien nicht plötzlich mit einer solchen Entscheidung konfrontiert werden. Das Berufungsgericht hat vielmehr seine Absicht, die Berufung zurückzuweisen, unter Nennung der Gründe mitzuteilen und dem Berufungsführer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dadurch werden zur Verbitterung Anlass gebende überfallartige Entscheidungen vermieden und dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen. Durch die Reform des Berufungsverfahrens wird die Durchführung erkennbar aussichtsloser Berufungen verIngrid Arndt-Brauer mieden und bereits nach Abschluss der ersten Instanz Rechtssicherheit hergestellt. Dem von manchen so hervorragend beherrschten Spiel, durch eine exzessive Ausnutzung des Instanzenzuges sich möglichst lange Zahlungs- und Leistungspflichten zu entziehen, wird mit diesen prozessualen Möglichkeiten Einhalt geboten. Rechtlich und tatsächlich zweifelhafte Entscheidungen der ersten Instanz können aber nach wie vor, wie die einschlägigen Vorschriften zeigen, in der Berufungsinstanz gründlich überprüft werden. Gerade auch die einschlägigen Vorschriften zur Berufung zeigen, dass der Reform die intensive Beratung im Parlament und in der Fachöffentlichkeit sowie im Kreis ausgewiesener Experten gut getan hat. Ich glaube, wir können mit Fug und Recht behaupten, dass kaum ein rechtspolitisches Reformvorhaben eine so umfassende Beratung im Parlament und in der Öffentlichkeit erfahren hat. ({0}) Dazu hat die sicherlich streitbare, aber immer offene Dialogbereitschaft des Justizministeriums entscheidend beigetragen. Auch bei der immer heftig umstrittenen Frage der Abgrenzung von Kammer- und Senatszuständigkeit gegenüber einem verstärkten Einsatz von Einzelrichtern wurde letztlich ein, wie ich meine, recht vernünftiges und ausgewogenes Ergebnis erzielt. Schließlich wissen wir aus der täglichen Praxis, dass auch bei komplizierten und bedeutenden Verfahren die Akzeptanz einzelrichterlicher Entscheidungen letztlich nicht hinter Kammer- und Senatsentscheidungen zurücksteht. Aus vielerlei Gründen, wie zum Beispiel der Heranführung junger Richterinnen und Richter an die gerichtliche Praxis und für höchst diffizile und umfangreiche Prozessmaterien in erster und vor allem in zweiter Instanz, benötigen wir jedoch auch in Zukunft Kammern und Senate. Gerade auch die Neuregelung des Revisionsrechtes zeigt, dass wir bei der Zivilprozessrechtsreform Ernst machen mit unserem Anliegen, Rechtsmittel nicht nach der jeweiligen Höhe des Streitwertes zur Verfügung zu stellen oder zu verweigern. In Zukunft ist die Revision gegen alle Berufungsurteile unabhängig vom Streitwert dann möglich, wenn sie durch das Berufungsgericht zugelassen oder über eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof erstritten wird, wenn auch erst nach einer Übergangsregelung von fünf Jahren. Die in einem sozialen Rechtsstaat höchst ungerechte und willkürliche Streitwertgrenze von 60 000 DM wird endlich abgeschafft. Insgesamt konnten die meisten der angestrebten Reformziele erreicht werden. In Zukunft wird es bei der Lösung zivilrechtlicher Konflikte wieder stärker darauf ankommen, welche prozessualen Instrumente jeweils geboten sind, um einen Rechtsstreit einer vernünftigen Lösung zuzuführen, und weniger darauf, welcher Streitwert dem Verfahren zugrunde liegt. Zwar wurde im Zuge der parlamentarischen Beratung, wobei die Bundesländer frühzeitig einbezogen wurden, letztlich eine Konzentration aller Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten noch nicht realisiert. Dies ändert aber nichts daran, dass mit diesem Gesetz eine innere Reform des Zivilprozesses in die Wege geleitet wird. Es schadet nicht, die Konzentration der Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten zunächst einmal in der Praxis zu erproben und aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen dann die notwendigen und gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen. In Anbetracht der außerordentlich guten Erfahrungen, die wir in unserem Gerichtswesen mit eindeutigen Zuweisungen von Funktionen an die jeweiligen Instanzen gemacht haben, wäre es sicherlich sinnvoll gewesen, auch diesen Schritt bereits jetzt zu vollziehen. Zur praktischen Realisierung einer Reform des Zivilprozessrechtes ist aber eine breite Akzeptanz erforderlich. Erst wenn diese Akzeptanz gegeben ist, wird der damit beabsichtigte Erfolg auch eintreten. Zusammenfassend, meine Damen und Herren, kann ich feststellen, dass mit dieser Reform die Justiz gut für ihre zukünftigen Aufgaben gerüstet ist. Herzlichen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein großer Wurf sollte es werden. Die alte Dame ZPO sollte nicht nur aufpoliert werden, ({0}) sondern es sollte eine Runderneuerung erfolgen. Wie der Kollege Siemann so treffend gesagt hat: Dieses Reformvorhaben ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Die Luft ist raus. Aus der großen Reform, die eine Jahrhundertreform werden sollte, ist ein Reförmchen geworden. ({1}) Die SPD und auch die Grünen wollten damit ja in die Geschichte eingehen, zumindest in die Rechtsgeschichte. ({2}) Mit dieser rechtspolitischen Ruine werden sie in die Geschichte eingehen, aber nicht so, wie sie es geglaubt haben. Insgesamt sind wir dankbar dafür, dass diese Reform entsprechend zusammengestutzt worden ist. Wir haben auf diese Weise, wie ich meine, unsere gut funktionierende Justiz erhalten. Die jetzigen Regelungen werden den Justizablauf zwar behindern, aber sie werden ihn nicht maßgeblich stören können. ({3}) Verehrte Frau Justizministerin, an Ihrer Stelle würde ich hier eigentlich heute in Sack und Asche Buße tun, denn Sie haben diese Reform nun wirklich in der Öffentlichkeit angepriesen. Lesen Sie doch einfach einmal, was der „Spiegel“, den ich sonst gar nicht so gern zitiere, von dieser Woche dazu schreibt. Dann werden Sie feststellen, was der „Spiegel“ und ähnlich ausgerichtete Zeitschriften von Ihrer Reform halten. ({4}) - Warum müssen Sie immer so meckern? Nur weil ich Geis heiße? Lassen Sie es doch einmal bleiben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns in aller Ruhe diesen Scherbenhaufen, der nun übrig geblieben ist, betrachten. ({5}) Wie ist es zu diesem Scherbenhaufen gekommen? Ich habe noch nie einen solch massiven Widerstand der Fachwelt gegen ein Reformvorhaben der Regierung erlebt. Die Anwälte sind regelrecht auf die Barrikaden gegangen; ({6}) sie haben Anzeigen geschaltet und das Gespräch mit dem Bundeskanzler gesucht. Die Richter waren nicht etwa verschnupft. Nein, sie haben ganz erheblichen Widerstand gegen diese Reform geleistet. 23 deutsche Oberlandesgerichtspräsidenten haben auf ihrer Konferenz im Sommer letzten Jahres zu dieser Reform ihr kategorisches Nein erklärt und Widerstand angekündigt. ({7}) Diesem Widerstand konnten Sie nicht länger standhalten. Es hätte einer Kamikazementalität bedurft, um diesen geballten Angriff der Fachwelt aushalten zu können. ({8}) Sie haben aus diesem Grunde nachgegeben und nicht, wie ich vermute, aus besserer Einsicht. Das Ziel Ihrer Reform, die Dreistufigkeit unseres Gerichtsaufbaus - wenn auch in verschiedenen Schritten zu erreichen, haben Sie im Grunde nicht aufgegeben. Das zeigt sich nach der Reform der Reform an Veränderungen hinsichtlich der Berufungsinstanz, an der Experimentierklausel und an der zentralen Stellung des Einzelrichters. Ich werde das nachher noch erläutern. Auch wir hatten einen Entwurf vorgelegt. ({9}) Er stammt aus der letzten Legislaturperiode. Wir haben ihn seinerzeit mit den Ländern erörtert und entwickelt. Sie haben daran mitgewirkt. Es war deshalb auch ganz logisch und richtig, dass die großen Parteien diesen Entwurf, soweit es den ZPO-Anteil angeht, in der letzten Legislaturperiode gemeinsam verabschiedet haben. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass es keinen Widerstand gegen den ZPO-Teil gab. Weil dieser Entwurf im Vermittlungsausschuss aufgrund einer Klausel - über die man streiten kann, die ich aber gar nicht für so verkehrt halte - gescheitert ist und schließlich der Diskontinuität verfallen ist, war es logisch, dass wir ihn neu einbringen. Wir hatten die Hoffnung, dass wir auf ein neues Interesse stoßen. Aber Sie wollten über diesen Entwurf nicht sprechen. Sie wollten vielmehr groß herauskommen und Ihren eigenen Entwurf einbringen. Sie haben deshalb unseren Entwurf von vornherein nicht behandeln wollen. Wir haben zugestimmt, zunächst die Beratung Ihres Entwurfs abzuwarten, obwohl wir unseren Entwurf vorher eingebracht haben. ({10}) Unser Entwurf wurde aber nicht zum Gegenstand der Beratung. Ich gebe Ihnen zu, dass wir unseren Entwurf nach dieser Diskussion heute nicht so verabschieden würden, wie wir ihn eingebracht haben. ({11}) Frau Ministerin, im Übrigen haben wir hier noch nie ein Gesetz so verabschiedet, wie es in das Parlament eingebracht wurde. Im Rechtsausschuss gab es schon viele fruchtbare Diskussionen und es wurden dort schon immer Änderungen vorgenommen. Es sei festgehalten, dass wir gemeinsam schon viele gute Regelungen auf den Weg gebracht haben. Es sei auch anerkannt, dass die entsprechende Diskussion, die wir mit Ihnen im Rechtsausschuss geführt haben, fruchtbar - wir konnten das Schlimmste verhindern; das wissen Sie - im Sinne einer vernünftigen ZPO-Regelung war. ({12}) - Es waren die Opposition und - wenn ich das einmal so sagen darf - die außerparlamentarische Opposition, nämlich die Fachwelt, die einen so großen Widerstand geleistet haben, weil sie mit Ihrem Entwurf nicht einverstanden sein konnten. ({13}) Es ist völlig klar, dass auch unser Entwurf heute nicht so zur Abstimmung gestellt worden wäre, wie wir ihn eingebracht haben. Diese Erkenntnis haben wir aufgrund der Diskussion in den letzten eineinhalb Jahren gewonnen. Weil unser Entwurf nicht Gegenstand der parlamentarischen Erörterung geworden ist - Sie haben sich nicht darauf eingelassen -, war es logisch und richtig, ihn am Ende zurückzuziehen. Woran entzündete sich der Widerstand? Die Fachwelt hat insgesamt erkannt, dass unsere Rechtsordnung einen sehr schweren Schaden nehmen würde, wenn Ihre Reform unverändert und ungestutzt in das Gesetzblatt aufgenommen werden würde. Deswegen hat die Fachwelt sofort heftigsten Widerstand geleistet. Der Widerstand und die Diskussion entzündeten sich zunächst einmal an den Regelungen bezüglich des Berufungsverfahrens. Sie hatten diesbezüglich ganz andere Vorstellungen. Sie wollten aus der Berufungsinstanz eine reine Rechtskontrollinstanz machen. Durch die Diskussion sind Sie eines Besseren belehrt worden. Ihren Vorstellungen wurde sozusagen die Spitze genommen. ({14}) - Frau Präsidentin, vielleicht könnten Sie einmal die Frau Ministerin bitten, damit aufzuhören, Witze zu machen. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich möchte die Frau Justizministerin bitten, keine Zurufe von der Regierungsbank zu machen, um die Würde des Parlaments zu wahren. ({0}) - Aber nicht zu laut, Frau Ministerin, das stört den Redner. Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, solange Sie über Ihr eigenes Versagen lachen, soll es mir recht sein. ({0}) Wir haben mit Recht angenommen, es sei wichtig, dass die rechtsuchende, in einem Prozess unterliegende Partei die Chance haben muss, mit ihrem Sachvortrag voll und ganz in die nächste Instanz zu gehen. Bei der Berufung geht es nicht um Rechtskontrolle - in einer Rechtsstreitigkeit ziviler Natur macht die Rechtskontrolle 10 Prozent aus -, sondern um den Sachverhalt und bei der Feststellung des Sachverhalts werden die Fehler gemacht. ({1}) Deshalb ist es wichtig, dass man in zweiter Instanz die Möglichkeit hat, den Sachverhalt erneut und ohne Einschränkung überprüfen zu lassen. Diejenigen Einschränkungen, die wir in den Jahren 1990 und 1993 vorgenommen haben, gingen vielen von uns - ich erinnere an die Haltung der F.D.P. - aus den von mir genannten Gründen eindeutig zu weit. Unsere Lehre sollte sein: Es ist gefährlich, an der falschen Schraube zu drehen. Es ist wichtig und notwendig, dass der Rechtsuchende, der in der ersten Instanz unterlegen ist, seinen Sachverhalt voll und ganz in die zweite Instanz einbringen kann. Wir nehmen die von uns selbst 1990 und 1993 eingeführten Beschränkungen hin; aber damit ist es auch gut. Die Beschränkungen dürfen nicht weiter gehen. Sie aber verschärfen die Beschränkungen heute. ({2}) Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Wir sind der Meinung, dass dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger auch nach der Reform dieser Reform immer noch nicht genügend Rechnung getragen wird. ({3}) - Herr Stünker, stänkern Sie nicht immer so viel und lassen Sie mich ausreden! - Wir lehnen diese Reform daher auch in diesem Teil ab. Der Versuch, für die Zuständigkeit aller Berufungen das Oberlandesgericht zu bestimmen, hat eine heftige Diskussion hervorgerufen. Unserer Auffassung nach kann man bei einem Streitwert von 1 200 DM - bekanntlich ist jetzt ab diesem Streitwert die Berufung möglich - einer rechtsuchenden Person, die in erster Instanz unterlegen ist, nicht zumuten, vor einem weit entfernten Oberlandesgericht zu klagen, damit die dortige Berufungsinstanz seine Sache überprüft. ({4}) Das ist eingesehen worden. Wir haben hier immer wieder getrommelt und Sie haben sich unseren Argumenten letztendlich angeschlossen und Ihr Vorhaben zurückgezogen. Allerdings sind Sie bei der Experimentierklausel geblieben. Damit unternehmen Sie den Versuch, die von Ihnen gewünschte Dreistufigkeit doch noch durchzusetzen. Sie warten ab, ob der so heftige Widerstand mithilfe der Experimentierklausel nicht doch eines Tages gebrochen werden kann. Das wollen wir nicht akzeptieren. Wir wollen die Dreistufigkeit nicht. Uns passt die ganze Richtung nicht. Die Dreistufigkeit gab es schon einmal, und zwar während der Kriegszeit. Die Dreistufigkeit wurde durch das Rechtseinheitsgesetz von 1950 abgeschafft. Damals wurde erklärt: Wir schaffen die Dreistufigkeit ab, weil wir meinen, dass es besser ist, wenn der Bürger vom Amtsgericht zum Landgericht geht und dort seine Berufungssache vortragen kann. In der DDR wurde bis zur Wiedervereinigung die Dreistufigkeit beibehalten. Wir brauchen die Fehler der Kriegszeit - kriegsbedingt war die Dreistufigkeit vielleicht notwendig; das will ich nicht beurteilen -, die man in der DDR, blind wie man war, fortgesetzt hat, nicht zu wiederholen. Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie die Dreistufigkeit weg und bleiben Sie bei unserem System, das - ich gebe es zu - aus dem Jahre 1877 stammt. In diesem Jahr ist das GVG entstanden und es hat sich bewährt. Auch aus diesem Grund wehren wir uns gegen die Experimentierklausel. Außerdem meinen wir, dass mit dieser Klausel eine gewisse Unübersichtlichkeit entsteht. Es könnte sehr leicht der Fall eintreten, dass man in dem einen Land vor dem Oberlandesgericht klagen muss, um seine Berufung vorzutragen, während man in einem anderen Land vor einem Landgericht klagen muss. Das alles bedeutet Rechtsuneinheitlichkeit. Wir fallen zurück in die Zustände des 18. Jahrhunderts, als wir das alles schon einmal hatten. ({5}) Das wollen wir nicht. Wir lehnen aus all diesen Gründen diese Experimentierklausel ab. ({6}) Letzter Punkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie billigen dem Einzelrichter eine zu große Bedeutung zu. Sie geben ihm einen zu großen Wirkungskreis und schaffen auf diese Weise praktisch die Kammer am Landgericht ab. ({7}) - Lesen Sie Ihren eigenen Entwurf durch. - Die Kammer wird praktisch zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Unser Entwurf sah das nicht vor. Wir hatten die Kammer immer noch beibehalten. Aber ich gebe zu, Herr Stünker, dass die Stellung des Einzelrichters auch in unserem Entwurf aus heutiger Sicht und nach diesem Diskussionsprozess uns zu weit geht. Das haben wir alle in der letzten Legislaturperiode noch für richtig gehalten. Sie nicht, Herr Stünker, weil Sie noch nicht Mitglied dieses Hauses waren. Ich bin der Meinung, dass wir damals bei der Bedeutung, die wir dem Einzelrichter eingeräumt haben, zu weit gegangen sind. Wir hätten heute diesen Vorschlag in unserem eigenen Entwurf so nicht verabschiedet, wenn es denn überhaupt zur Diskussion darüber gekommen wäre. Das ist ganz sicher. ({8}) Es gibt erhebliche Bedenken gegen die Abschaffung des Kammersystems. Warum wollen Sie dieses Kammersystem abschaffen? ({9}) - Sie haben es praktisch abgeschafft. Lesen Sie Ihren Entwurf einmal richtig durch! Das sage nicht nur ich, das sagen auch die Fachkreise. Wir hatten das Ganze schon einmal. Ich wiederhole: In der Kriegszeit wurde das Kammersystem abgeschafft, 1950 wurde es durch das Rechtseinheitsgesetz wieder eingeführt. Man hat es damals aus zwei Überlegungen wieder eingeführt: einmal, weil man meinte, auf diese Weise junge Richter besser auf ihre Tätigkeit vorbereiten zu können - das haben Sie mit berücksichtigt -; aber zum Zweiten auch, weil die Kammer für die Rechtsfindung besser geeignet ist. Sechs Augen sehen vielleicht mehr als zwei Augen. Wir reden heute überall von Teamarbeit. In der ganzen Welt wird Teamarbeit groß geschrieben, nur nicht bei der Justiz. Das ist eigentlich nicht einzusehen. Deswegen sind wir gegen die Abschaffung der Kammer und gegen die besonders herausgehobene Position des Einzelrichters. Auch insoweit lehnen wir den Entwurf ab. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das waren die drei wichtigsten Gründe, die uns dazu führen, auch die Reform der Reform abzulehnen. Aber wir haben noch andere Punkte, mit denen wir uns nicht einverstanden erklären können. Das Güteverfahren ist für uns zu formalisiert. Die Pflicht zur Aktenkundigmachung gerichtlicher Hinweise halte ich für zu formalistisch. ({10}) - Darüber haben wir lang und breit diskutiert. Die Gehörsrüge wird nicht helfen, das Verfassungsgericht zu entlasten. Ich habe auch größte Bedenken gegen die Pflicht Dritter, Schriftstücke und Urkunden vorzulegen. Damit ziehen wir Dritte in einen Rechtsstreit hinein. Das sollten wir nicht tun. Auf zivilrechtlicher Ebene haben Dritte in einem Rechtsstreit, der zwischen zwei Parteien geführt wird, nichts verloren und sie sollten deswegen auch nicht in den Streit hineingezogen werden. Das Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsvereinheitlichung und der Rechtsfortbildung dienen soll, können wir nicht unterstützen. Man kann sich darüber unterhalten, ob man die Streitwertbindung bei der Revision beibehalten soll. Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber das Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsvereinheitlichung und nur noch der Rechtsfortbildung dienen soll - und das auf Kosten der streitenden Parteien ({11}) und in dem die Einzelfallgerechtigkeit verloren geht, halten wir für falsch. Deshalb lehnen wir auch diesen Punkt der Reform ab. Wir sind der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf zu einer Rechtsruine geworden ist, die wir der Bevölkerung so nicht zumuten können. Ich möchte Sie bitten - obwohl ich weiß, dass ich diese Bitte vergebens ausspreche -: Nehmen Sie Ihren Entwurf zurück! Sie täten damit der deutschen Rechtsöffentlichkeit und der deutschen Rechtskultur einen Gefallen. Aber Sie werden es nicht tun. Wir werden diesen Entwurf ablehnen. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war nun wirklich ein zirkusreifer Eiertanz, den Sie hier gerade vorgeführt haben. ({0}) Da haben Sie letzte Woche einem Gesetzentwurf Ihrer Fraktion zugestimmt, von dem Sie im Laufe der Woche gemerkt haben, dass er so schlimm ist, dass Sie ihn wieder zurückziehen müssen und ihn nicht mehr zur Abstimmung stellen wollen. Immerhin, Sie haben etwas dazugelernt. Aber, Herr Geis, das war nun wirklich keine konsequente rechtspolitische Position. ({1}) Ich finde es schon sehr beachtlich, wie die Diskussion in Ihrer Fraktion verlaufen sein muss. ({2}) Sie haben offensichtlich ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass Sie die Koalition in Punkten angegriffen haben, die in Ihrem Gesetzentwurf in einer rechtsstaatlich äußerst problematischen Art und Weise stehen und bei denen die Koalition ausgewogene und vertretbare Lösungen gefunden hat. ({3}) - Ich habe ihn gelesen und manches - ich komme nachher noch auf einen Punkt zu sprechen - finde ich wirklich erschreckend. Mehr Bürgernähe, mehr Transparenz, mehr Effizienz das ist die Überschrift über die Zivilprozessreform, die wir heute verabschieden. Diese Reform schafft den Spagat zwischen mehr Rechtsstaatlichkeit für die Rechtsuchenden und zügiger Erledigung von Rechtsstreitigkeiten. Wenn es unter Schwarz-Gelb um die Zivilprozessordnung ging, so wurden ausschließlich reine Beschleunigungsmaßnahmen beschlossen. Die so genannten Rechtspflegeentlastungsgesetze gingen regelmäßig zulasten der Rechtsuchenden. Sie waren Rechtsmittelverhinderungsgesetze. Gedreht wurde an der Streitwertschraube, falsche Urteile erwuchsen in Rechtskraft. Zur Not konnte allenfalls das Bundesverfassungsgericht korrigierend eingreifen. Wir alle wissen, wie hocherfreut Karlsruhe über diese Aufgabenzuweisung war. Die Koalition kehrt mit dieser Reform den Trend der vergangenen Jahre um, obwohl auch Rot-Grün diesmal an der Streitwertschraube gedreht hat, allerdings in die andere Richtung. Wir haben die Berufungssumme auf 1 200 DM gesenkt und wir haben mit einer Zulassungsberufung selbst für wertmäßig darunter liegende Streitfälle ein Rechtsmittel geschaffen. Mit der Abhilfeentscheidung bei Verletzung des rechtlichen Gehörs entlasten wir das Bundesverfassungsgericht und wir schaffen vor allem die Möglichkeit, eklatant fehlerhafte Urteile zügig zu korrigieren. Das ist auch ganz wichtig für den kleinen Mann als Rechtsuchenden vor Gericht. Der Stuttgarter Professor Udo Kornblum hat im „Deutschen Anwaltsblatt“ vom November 2000 im emotionslosen Juristendeutsch gesagt, wie man diese Maßnahmen interpretiert. Sie seien „eine nicht unbeträchtliche Verbesserung des gegenwärtigen Rechtszustands“. Recht hat er! ({4}) Nicht der Wert eines Rechtsstreites soll künftig darüber entscheiden, ob ein Urteil anfechtbar ist. Diese Philosophie zieht sich durch die gesamte Reform. Im Revisionsrecht haben wir auf die willkürliche Rechtsmittelwertschranke von 60 000 DM ganz verzichtet. Ohne dass - das betone ich - die Einzelfallgerechtigkeit auf der Strecke bleibt, wird sich der BGH künftig wieder auf seine ureigensten Aufgaben konzentrieren: die Überprüfung von Grundsatzfragen sowie die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Es war schon unglaublich, mit welchen teils recht widersprüchlichen Argumenten der Reformkritiker sich die Koalition im Gesetzgebungsverfahren auseinander setzen musste. Mal hieß es, wir würden die Rechtsmittel der Bürger im Hinblick auf zu viel Effizienz beschneiden, mal hielt man uns vor, die Reform gehe nicht weit genug, eigentlich würde alles beim Alten bleiben. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Diese Reform ist eine gelungene Mischung richtiger Maßnahmen, mit denen die Interessen aller am Zivilprozess Beteiligten hinreichend berücksichtigt werden. Mit der Experimentierklausel bleibt die Perspektive der Dreistufigkeit im Instanzenzug gewahrt. Sicher, mir wäre es lieber gewesen, wenn wir die Berufungsinstanz sofort einheitlich bei den Oberlandesgerichten installiert hätten. Herr Geis hat heute in seiner Rede eigentlich nicht einen einzigen Grund angegeben, warum dies falsch wäre; er hat nur wortreich erklärt, dass er dagegen ist. Ich hoffe daher, dass sich möglichst viele Bundesländer an dem wissenschaftlich begleiteten Experiment beteiligen werden. Wir haben eine flexible Regelung geschaffen. Ich bin mir sicher, dass es 2007 nur vernünftig sein wird, das GVG entsprechend zu ändern. Aber, Herr Geis, vielleicht könnten Sie hier Ihren Einfluss in den unionsgeführten Ländern noch einmal geltend machen. Möglicherweise überlegen Sie sich noch einmal, wenn das Gesetz beschlossen ist, ob es nicht einen Versuch wert wäre, dass es in A- und B-Ländern zu entsprechenden Versuchen kommt. ({5}) Wer aber, wie die Union, in allen Bereichen der Justizpolitik getreu dem Adenauer-Motto „Keine Experimente“ verfährt, der sollte hier mit seiner Kritik lieber zurückhaltender sein. Meine Damen und Herren, profitieren werden von der Reform in erster Linie die Rechtsuchenden in diesem Land. Die Lobby für diese Gruppe ist ja im Gesetzgebungsverfahren oft zu kurz gekommen. Manche Organisationen haben vorgegeben, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Ich erinnere nur an den großen Automobilklub, der in seinen Stellungnahmen um die Rechtsstellung der Autofahrer als Geschädigte von Verkehrsunfällen fürchtete. Ich glaube, wir Grüne sollten bei künftigen rechtspolitischen Vorhaben wieder vermehrt die zahlreichen Fahrradorganisationen in diesem Lande um ihren kompetenten rechtspolitischen Rat fragen. ({6}) Die Berufsverbände waren bei dieser Reform oft hin und her gerissen. Manche Interessenvertreter mussten nach außen gelegentlich etwas anderes verkünden, als sie zuvor noch in persönlichen Gesprächen gegenüber der Volker Beck ({7}) Koalition geäußert hatten. Breit angelegte Anzeigenkampagnen einer Organisation waren sicher Wasser auf die Mühlen der Opposition. Aber, Herr Kollege Funke, so wie Sie im Berichterstattergespräch den Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, Herrn Rechtsanwalt Dr. Streck, angegangen sind, nur weil er nicht nach der Pfeife der F.D.P. tanzen wollte, war schon ziemlich unglaublich. ({8}) Es soll kein Missverständnis entstehen: Diese Justizreform sendet nicht das Signal aus: Prozessieren lohnt sich wieder. In Deutschland wird nämlich zu viel prozessiert. Mit der Reform der Rechtsmittel wollen wir die Parteien nicht ins Rechtsmittel drängen. Im Gegenteil: Mit der Stärkung der ersten Instanz bei Amts- und Landgerichten durch Akzentuierung der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflichten, aber auch durch Beibringungspflichten der Parteien wird sich die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen erhöhen, gerade die der ersten Instanz, übrigens auch bei den Rechtsuchenden, die nicht anwaltlich vertreten sind. Das hat die AgV, die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, in ihrer Stellungnahme ausdrücklich gewürdigt. Wir wollen, dass die Parteien möglichst auch dann einen Richterspruch akzeptieren, wenn sie den Prozess verlieren. Wenn eine Partei künftig zügiger zu einem berechtigten Titel kommen wird, weil zum Beispiel eine komplette Beweisaufnahme, deren Ergebnis bereits vorher feststeht, nicht wiederholt werden muss, dann bedeutet auch dies keine Erosion des Rechtsstaates, sondern Qualitätsverbesserung. Am liebsten wäre es uns, wenn die Parteien von zeitraubenden und kostspieligen Rechtsstreitigkeiten überhaupt verschont blieben. Deshalb ist die Einführung einer obligatorischen und trotzdem flexiblen Güteverhandlung auch im Zivilprozess ein echter Fortschritt. Nachdem 1999 bereits die außergerichtliche Streitbeilegung in Kraft getreten ist, stärkt die Koalition den Gütegedanken jetzt auch im Gerichtsverfahren selbst. ({9}) Die Modernisierung des Zivilprozesses ist keine bloße Worthülse. Wie modern wir den Zivilprozess machen, zeigt beispielsweise die neu geschaffene Möglichkeit der Videokonferenz im Prozess. Zeugen müssen nicht mehr Hunderte Kilometer zurücklegen, um zwei Minuten vernommen zu werden. Mit einer solchen Regelung minimieren wir letztlich die Kosten eines Prozesses, die ja am Ende von den Rechtsuchenden zu tragen sind. Noch zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens warf uns die Opposition vor, alles gehe hopplahopp und sie sei bei den Beratungen nicht hinreichend einbezogen worden. Wie sich in einer der letzten Rechtsausschusssitzungen herausgestellt hat, ist diese Kritik jetzt wohl vom Tisch. Herr Geis, Sie haben uns sogar ausdrücklich für die kommunikative Offenheit gelobt. ({10}) Für dieses Lob bedanken wir uns. Aber, Herr Geis, es wäre jetzt nur konsequent, wenn Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen diesem Gesetz heute zustimmen würden, ({11}) zumal, wie Sie selbst am besten wissen, der Entwurf Ihrer Fraktion, der heute Morgen ja noch vorhanden war, dem, was wir heute beschließen, sogar ähnelt, nur mit einem kardinalen Unterschied: Die Reform der rot-grünen Koalition ist rechtsstaatlich ausgereifter. Wenn ich mir in Ihrem Entwurf beispielsweise die Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichtes bei offensichtlicher Unbegründetheit anschaue, dann wird mir wirklich angst und bange. ({12}) Von der Wahrung des rechtlichen Gehörs kann da nun überhaupt keine Rede mehr sein. Auf einen solchen Abbau der Justizgrundrechte der Bürgerinnen und Bürger hat sich die Koalition bei dieser Justizreform zu Recht nicht eingelassen. ({13}) Wir haben eine vernünftige Reform vorgelegt. Nach ein paar Jahren Praxis werden Sie dies wahrscheinlich selbst hier an diesem Pult bestätigen können. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesjustizministerin war ja mit dem hohen Anspruch einer allumfassenden Justizreform gestartet. Aus dieser Justizreform ist nun nichts geworden. Gerade einmal eine Novelle zur Zivilprozessordnung ist es geworden. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, wenn auch das Ergebnis nach wie vor abzulehnen ist. ({0}) Zu Recht haben praktisch alle am Wirtschaftsleben und am Justizwesen Beteiligten die ursprünglichen Vorschläge der Bundesjustizministerin abgelehnt. Dies gilt insbesondere für die angestrebte Dreistufigkeit unseres Gerichtswesens. Herr Kollege Beck, wenn Sie nicht telefonieren würden, würde ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch das jetzige Ergebnis von der Bundesrechtsanwaltskammer, in der alle Anwälte vertreten sind, abgelehnt wird. In der Tat habe ich in dem Berichterstattergespräch, das wir mit dem Präsidenten des Anwaltvereins geführt haben - das ist auch mein Präsident; ich bin ja Mitglied des DAV -, gefragt - ich habe ihn nicht angegriffen -, wie er denn nun zu dieser Justiznovelle steht. Da hat er nicht sagen können: „Ich bin dafür“ oder: Volker Beck ({1}) „Ich bin dagegen“. Es gab vielmehr ein entschiedenes Sowohl-als-auch. ({2}) - Herr Urbaniak, ich weiß, dass Sie Juristen sonst sehr schätzen. Wir haben ja schon viele schöne Dinge gemeinsam umgesetzt. - Dieses Sowohl-als-auch vom Präsidenten des Anwaltvereins fand ich in der Tat nicht gerade zielführend. ({3}) Diese Ablehnung durch die Beteiligten erfolgte meines Erachtens auch deshalb zu Recht, weil das Bundesjustizministerium den Reformbedarf im Zivilprozess nicht hat darlegen können. Wer eine Reform will, trägt sozusagen die Beweislast dafür, dass tatsächlich auch ein Reformbedarf vorhanden ist. ({4}) Die deutsche Ziviljustiz funktioniert im Vergleich zu der in anderen europäischen Ländern im Großen und Ganzen gut. Der Bürger erhält innerhalb einer angemessenen Zeit ein Urteil. Natürlich kann man sich überall Verbesserungen wünschen und umsetzen. Vieles Wünschenswerte, beispielsweise die Ausstattung der Gerichte mit technischen Hilfsmitteln, liegt aber in der Länderkompetenz. Jede Novellierung der Zivilprozessordnung hat sich meines Erachtens an zwei Grundfragen zu orientieren: Erstens. Der Rechtsschutz des Bürgers muss verbessert und darf nicht verkürzt werden. Zweitens. Die Belastung der Justiz darf zumindest nicht verschärft werden. Beide Voraussetzungen erfüllt die Novelle nicht, ({5}) wenn auch nicht zu verkennen ist, dass einzelne Verbesserungen in der ZPO, wie zum Beispiel die Videovernehmung von Zeugen, durchaus sinnvoll sind. Der Bürger hat ein Interesse daran, dass sein Prozess schnell und zügig abgewickelt wird und er rasch ein Urteil erhält, das er auch schnell vollstrecken lassen kann. Auch ist es im Interesse des Rechtsfriedens, dass der Bürger in möglichst kurzer Zeit weiß, wie das Gericht entscheidet. Ich sage Ihnen voraus - auch Sie als Anwalt, Herr Kollege Bachmaier, der zu den Gerichten zu gehen hat, werden das alsbald feststellen -, dass dieses Ziel nicht erreicht wird, sondern dass sich im Gegenteil gerade die erstinstanzlichen Fälle länger hinziehen werden. ({6}) Die Verhandlungen in erster Instanz müssen von den Parteien gründlicher vorbereitet werden - auch von Ihnen, Herr Bachmaier -, ({7}) im Übrigen auch in den Fällen, in denen Sach- und Rechtslage weitestgehend unstreitig sind. Vor allem die mündliche Verhandlung muss von den Richtern intensiver als bisher vorbereitet werden ({8}) und in den mündlichen Verhandlungen muss mit den Parteien intensiver und länger beraten werden. ({9}) Dabei werden Vermerke über die im Rahmen der Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO gemachten Hinweise abgefasst und die Frage einer vergleichsweisen Streitbeilegung angesprochen werden müssen. ({10}) Dies muss auch noch protokolliert werden. All diese Formalisierungen der mündlichen Verhandlung führen automatisch zu stärkeren Belastungen der Gerichte. Bereits nach der geltenden Fassung der §§ 139 - ich komme genau zu dem, was Sie sagen wollen - und 278 ZPO hat der Richter Hinweispflichten. Jeder verständige Richter hat diese in der Vergangenheit auch wahrgenommen. ({11}) Dies gilt auch hinsichtlich der gütlichen Streitbeilegung nach § 278 ZPO in der jetzigen Fassung. Jeder verständige Richter hat schon im Interesse des Rechtsfriedens in jedem Stadium des Verfahrens auf einen Vergleich hingewirkt. ({12}) Dazu brauche ich aber die Formalisierung nicht. Ursprünglich war im Regierungsentwurf vorgesehen, dass die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen in der zweiten Instanz praktisch nicht mehr hätten überprüft werden können. Nachdem aber sowohl der Richterbund als auch die Anwaltsverbände hiergegen Sturm gelaufen waren, ist § 529 ZPO überarbeitet worden. Trotzdem erscheint uns die gefundene Formulierung nicht ausreichend, denn sie führt zu erheblichen Einschränkungen hinsichtlich eines neuen Sachvortrags in der zweiten Instanz. Damit ist der Individualrechtsschutz des Bürgers eingeschränkt; aber auf den kommt es meines Erachtens an. ({13}) Wir haben jetzt abzuwarten, wie die Gerichte § 529 ZPO auslegen. Das bedeutet zunächst einmal Rechtsunsicherheit und gerade die wollten wir eigentlich vermeiden. ({14}) - Ja, aber bis der Rechtsstreit zum BGH kommt, Herr Kollege, dauert es einige Zeit. In dieser Zeit besteht eine gewisse Rechtsunsicherheit. Das können Sie doch nicht bestreiten. ({15}) In den Beratungen des Rechtsausschusses und in den Berichterstattergesprächen haben wir hinsichtlich der Revision angeregt, dass ähnlich wie in der Finanzgerichtsordnung die Revision bei schwerwiegender Verletzung von Verfahrensgrundsätzen zulässig sein sollte. Dies ist von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden, obwohl eine Angleichung der Prozessordnungen durchaus zweckmäßig wäre. Auch dies führt zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes des Bürgers. Demgemäß wird die Nichtaufnahme dieses Revisionsgrundes von uns abgelehnt. Zur Verkürzung des Rechtsschutzes trägt auch bei, dass in der Berufungsinstanz - sowohl beim Landgericht als auch beim Oberlandesgericht - weitgehend Einzelrichter tätig werden und vom Kammer- bzw. Senatsprinzip abgewichen wird. Die F.D.P. spricht sich nach wie vor gegen eine Konzentration der Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten aus. Dieser Einstieg in die Dreistufigkeit, der jetzt durch die Experimentierklausel ermöglicht wird, führt in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Instanzenzuges zu einem Flickenteppich. Es kann eigentlich nicht richtig sein, wenn ein Hamburger Bürger einen anderen Instanzenzug hat als sein niedersächsischer Nachbar. Das kann für die Rechtsordnung nicht gut sein und führt zu anachronistischen Verhältnissen. ({16}) Die §§ 142 und 144 ZPO sind von Herrn Geis schon angesprochen worden. Diese Vorschriften führen eine Pflicht zur Vorlage von Urkunden gegen den Willen einer Partei und eines nicht am Prozess beteiligten Dritten ein. Das entspricht dem angloamerikanischen Discovery-System, das unserer zivilprozessualen Inter-partes-Lösung zuwiderläuft. Berechtigte Geschäftsgeheimnisse der Parteien und vor allem auch des unbeteiligten Dritten bleiben völlig ungeschützt. Die Amerikaner haben eine Reihe von Vorschriften, durch die Geschäftsgeheimnisse geschützt werden können. Wir sind hier aber der reinen Lehre gefolgt und haben keine entsprechenden Schutzvorschriften in § 142 ZPO aufgenommen. Die vorliegenden Vorschriften führen zu einer erheblichen Belastung für die Justiz. Zudem wird sich jeder findige Anwalt zum Beweis seiner Behauptung zunächst einmal auf Schriftstücke beziehen, die sich im Besitz Dritter befinden, was die Prozesse unnötig verlängern wird und zu unnötigem Streit führt. Das mindert den Rechtsschutz des Bürgers und erhöht die Kosten des Verfahrens insbesondere in der ersten Instanz. Auch die Zahl der Berufungs- und Revisionsverfahren wird nicht etwa, wie beabsichtigt, geringer, sondern größer. Damit wird die von den Ländern einmal angestrebte Kostenneutralität nicht gegeben sein. Die Länderfinanzminister haben jedoch bereits angekündigt, nicht mehr Richterstellen zu bewilligen, sodass viele Richter befürchten, dass sie noch mehr Arbeit bekommen werden, obwohl sie schon am äußersten Rand ihrer Kapazitäten angelangt sind. ({17}) Diese für die Richter zusätzliche Belastung scheint die Koalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Eine Überlastung der Richter aber führt zu schlechten Urteilen. ({18}) Durch Justizunfälle wiederum ist der Rechtsfrieden, der gerade in der Demokratie eine große Rolle spielt, gefährdet. Vielen Dank. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler das Wort für die PDS-Fraktion.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende einer langen, intensiven und zum Teil durch heftige Auseinandersetzungen geprägten Diskussion zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses. Im Unterschied zu meinen Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, der F.D.P. und des Deutschen Anwaltvereins sehe ich durchaus erheblichen Reformbedarf in der Justiz angesichts deutlich unterschiedlicher Arbeitspensen der Richter an den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten, ({0}) eines überholten vierstufigen Gerichtsaufbaus und einer notwendig gewordenen bürgerfreundlicheren, transparenteren und effektiveren Justiz. Dass wir der vorliegenden Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses dennoch nicht zustimmen können - allerdings ohne Triumphgefühl und überzogene Polemik -, ist nicht so sehr auf eine Reihe von durchaus begrüßens-, zumindest jedoch bedenkens- oder erprobenswerten Einzelvorschlägen zur Stärkung der Eingangsinstanz zurückzuführen, sondern auf die zugrunde liegende Gesamtkonzeption in ihren zu erwartenden Auswirkungen auf die verschiedenen Instanzen der Zivilgerichtsbarkeit und nicht zuletzt auf die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger. Bei der Abwägung des Für und Wider des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurfes waren für meine Fraktion vor allem folgende Aspekte ausschlaggebend: Die Zivilprozessreform stand von Anfang an unter der Maßgabe der Kostenneutralität als einer Grundvoraussetzung für die Zustimmung der sie umsetzenden Bundesländer. Die begrüßenswerte und notwendige Stärkung der ersten Instanz sollte deshalb im Wesentlichen über die Schaffung einer einheitlichen Berufungsinstanz bei den Oberlandesgerichten, einschließlich der Einschränkungen bei den Rechtsmitteln, erreicht werden. Da die deutlich höheren Arbeitspensen der Amtsrichter im Vergleich zu ihren Kollegen an den Landgerichten und insbesondere Oberlandesgerichten ohnehin eine personelle Verstärkung bei den Eingangsgerichten notwendig machen, äußerte ein nicht geringer, ja sogar großer Teil der Sachverständigen in der Expertenanhörung Ende Dezember letzten Jahres erhebliche Zweifel daran, ob die voraussichtlich an den OLGs frei werdenden Stellen ausreichen würden, um die für die Stärkung der Eingangsinstanz erforderliche deutliche personelle Aufstockung zu ermöglichen. ({1}) Auch wir sind der Auffassung, dass eine kostenneutrale Reform nach dem vom Bundesjustizministerium entwickelten Konzept nicht machbar ist. Im Unterschied zu den Ländern, die nicht mehr Geld für die Justiz ausgeben wollen, bin ich jedoch der Meinung: Eine bessere Justiz muss in vertretbarem Rahmen auch mehr kosten dürfen. Eine solche Forderung ist weder realitätsfern noch unverschämt, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Justiz zu einem nicht geringen Teil über Gerichtskosten selbst finanziert und seit Jahren im Zuge etlicher Justizentlastungsgesetze unter erheblichem Sparzwang steht. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass Sie, Frau Ministerin, diese vorgefundene Situation nicht zu verantworten haben, die Schwierigkeiten einer Justizreform schon lange vorausgesehen haben und sich in einer Zwickmühle befinden. Als Fazit bleibt jedoch: Ohne die für die wünschenswerte Stärkung der Eingangsinstanz notwendige deutliche personelle Aufstockung werden die Amtsrichter mit der erweiterten Dokumentations- und Hinweispflicht und den grundsätzlich erhöhten qualitativen Anforderungen an die Verhandlungsführung, insbesondere der Streitschlichtung, aber auch der Sachverhaltsaufnahme, in eine Überforderungssituation gebracht. Eine wesentliche Folge, die vor allem zulasten der Bürgerinnen und Bürger geht, werden längere Verfahrensdauern sein. Die tatsächlich gewollte Stärkung der Eingangsinstanz durch mehr Bürgernähe und Effizienz kann sich damit in das Gegenteil verkehren. Die Einführung der so genannten Experimentierklausel hat zwar als Zugeständnis an die Länder, insbesondere an die Flächenländer, die zu Recht wegen der Bürgerferne der Berufungsgerichte interveniert hatten, dazu geführt, dass deren Widerstand spürbar abgeflaut ist. Summa summarum wird sich jedoch das eingangs beschriebene Problem weiter zuspitzen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen ein Rechtsexperiment. Doch was geschieht in dem ganz überwiegenden Teil der Länder, die von dieser Experimentierklausel keinen Gebrauch machen? Hier werden keine Richter zur Stärkung der ersten Instanz frei. Auch die Hoffnung, die Länder würden unter dem Druck des Faktischen die notwendige personelle Aufstockung der ersten Instanz in die Wege leiten, reicht nicht. Unter dem Strich bleibt also ein deutlich gestiegener Arbeitsanfall in der ersten Instanz, ohne dass eine Bereitstellung der dafür erforderlichen Stellen in Sicht ist. In den neuen Bundesländern stellt sich die personelle Situation für die Stellenfreisetzung in der zweiten Instanz noch ungünstiger dar, weil durch die gerichtliche Umstrukturierung Anfang der 90er-Jahre der Altersdurchschnitt der an den OLGs tätigen Richter bekanntlich in der Regel niedriger ist. Die schon erwähnten Rechtsmittelbeschränkungen in der zweiten Instanz stellen einen weiteren Knackpunkt des Reformvorhabens dar. Die Absenkung der Berufungssumme und die Einführung einer Zulassungsberufung sind zunächst einmal begrüßenswerte Neuerungen. Auch erkenne ich durchaus an, dass die heftig umstrittene Einzelrichterregelung durch die Einführung einer Kannbestimmung sinnvollerweise abgeschwächt wurde. Die Beschlussverwerfung bei offensichtlich unbegründeten Berufungen ohne mündliche Verhandlung und ohne Überprüfungsmöglichkeit stellt jedoch einen deutlichen Verlust an Rechtsschutz dar. Ebenso verhält es sich mit der jetzt vorgesehenen grundsätzlichen Bindung an die Tatsachenfeststellung in der ersten Instanz. Der dadurch verringerte Rechtsmittelschutz wird durch die Ausnahmeregelungen zur Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages nur abgeschwächt, aber nicht beseitigt. Benachteiligt werden vor allem diejenigen, die sich in erster Instanz, meist aus finanziellen Gründen, nicht anwaltlich vertreten lassen, soweit nicht das Berufungsgericht selbst unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen eine erneute Sachverhaltsfeststellung für nötig erachtet. Gerade sie sind es jedoch, die meist aus Unerfahrenheit und Rechtsunkenntnis nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Instanz vortragen und deshalb darauf angewiesen sind, dass sie in der zweiten Instanz gegebenenfalls durch einen Rechtsanwalt noch eingeführt werden können. Eine solche Regelung läuft damit dem Grundsatz der Bürgernähe zuwider und führt dazu, dass eine wirksame rechtliche Vertretung ohne Rechtsanwalt in erster Instanz wesentlich risikovoller wird. Schließlich ist die Einführung der Grundsatzrevision bei gleichzeitiger Abschaffung der Streitwertrevision für meine Fraktion zwar akzeptabel; dies setzt jedoch die Einführung eines weiteren Zulassungsgrundes im Interesse des Individualrechtsschutzes voraus, und zwar das Vorliegen eines entscheidungserheblichen Verfahrensmangels. Auch wenn meine Fraktion aus den genannten Gründen dieser Reform als Gesamtpaket nicht zustimmen kann, möchte ich mich am Ende dennoch sowohl für die bei den Berichterstattergesprächen als auch bei der Anhörung im Rechtsausschuss eingeräumten Möglichkeiten der ausführlichen Diskussion und des Austausches bedanken. ({2}) Danke. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker für die SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verabschiedung einer wirklichen Strukturreform des Zivilprozessrechts, wie sie das Hohe Haus hier gleich vornehmen wird, ist historisch. Heute ist ein guter Tag für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Land, ({0}) ein guter Tag vor allen Dingen für die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger in ihrem berechtigten Anspruch, als Prozessparteien schneller zu ihrem Recht zu kommen und vor allen Dingen die Entscheidungen auch zu verstehen, die letztlich dabei herauskommen. ({1}) Es ist aber ebenso ein guter Tag für die Richterinnen und Richter; sie werden zukünftig jeden Zivilrechtsstreit mit einem hocheffizienten und vor allem flexiblen Prozessrecht moderieren und entscheiden können, mit einem Zivilprozessrecht, das sie in die Lage versetzen wird, die neu und vermehrt auf die Zivilgerichtsbarkeit zukommenden Aufgaben in der Zukunft ohne neue Personalanforderungen zu bewältigen, ({2}) zudem mit einem Zivilprozessrecht, mit dem das Verfahren für alle an ihm Beteiligten transparenter werden wird, und letztlich einem Zivilprozessrecht, das endgültig Schluss macht mit der obrigkeitsstaatlichen Annahme, Herr Kollege Geis, gutes Recht oder umfassender Rechtsschutz müssten von der Höhe des zu entscheidenden Streitwerts abhängig sein. Damit wird in diesem Land endgültig Schluss gemacht ({3}) und darauf sind wir stolz. - Ich bin über Jahrzehnte hinweg Praktiker gewesen, Herr Kollege Geis, wie Sie wissen. ({4}) Wirkliche Rechtsstaatlichkeit zeigt sich für uns darin, dass jedem Rechtsuchenden unabhängig vom materiellen Wert und der Höhe des Begehrens das ganze umfassende Instrumentarium der Rechtsfindung bei der Streitschlichtung oder -entscheidung zur Verfügung stehen wird. Zukünftig kann also - um das einmal praktisch darzustellen - auch die Kaufpreisforderung oder die Werklohnforderung mit einem Streitwert von 5 000 DM in die letzte Instanz bis zum Bundesgerichtshof kommen, wenn sich eine Partei völlig falsch behandelt fühlt und meint, es sei Unrecht, was da geschehen sei. Das ist mehr Bürgernähe, Herr Geis; das ist neu und das ist wichtig an unserem Entwurf. ({5}) Lassen Sie mich noch einmal ganz kurz die Schwerpunkte der skizzierten Reform nennen, und zwar aus einem bestimmten Grund, zu dem ich hinterher noch ein Wort sagen werde. Was machen wir? Wir sehen Neuregelungen mit der Einführung moderner Kommunikationsmittel im Zivilprozess durch Zulassung einer Verhandlung im Wege der Videokonferenz vor, die Institutionalisierung des Schlichtungsgedankens im Zivilprozess durch die Einführung einer Güteverhandlung, die Erhöhung der Transparenz und Akzeptanz richterlicher Entscheidungsfindungen durch eine stärkere Betonung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflichten, die Einführung des originär zuständigen Einzelrichters mit trotzdem noch wesentlichen Bestandteilen der Kammerzuständigkeit, den Abbau von streitwertabhängigen Zugangsbarrieren - darauf ist bereits hingewiesen worden - und eine deutlichere Funktionsdifferenzierung der Rechtsmittelebenen durch die Umgestaltung der Berufung in ein Instrument zur Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung. Wir führen beschleunigte Erledigungsmöglichkeiten bei substanzlosen Berufungen ein. Das Ganze ist die Wegbereitung zur Harmonisierung der Verfahrensordnungen in unserem Rechtssystem. Wer dies alles, Herr Kollege Geis - aber Sie haben ja Herrn Siemann als Wortschöpfer angegeben, glaube ich -, ein „Reförmchen“ nennt, der weiß wohl nicht, worüber er redet, der kennt den deutschen Zivilprozess nicht, wie er sich heute darstellt. Was wir hier letztlich machen, das ist eine grundlegende Reform. ({6}) Herr Kollege Geis, wenn Sie davon reden, wir würden damit wieder die Zuständigkeitsverhältnisse - von einem Flickenteppich hat der Kollege Funke gesprochen - und Rechtsverhältnisse des 17. oder 18. Jahrhunderts schaffen, wenn wir bei der Konzentration der Berufungen bei Oberlandesgerichten eine Experimentierklausel einführen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Davon ist das, was in unserem Gesetz steht, weit entfernt. ({7}) Das ist moderne Gesetzgebung, Herr Geis, wie wir gestern in der Anhörung zur Juristenausbildung von vielen Professoren gehört haben. Wir schaffen mit einer Experimentierklausel die Möglichkeit, dass sich die einzelnen Bundesländer differenziert beteiligen und der Gesetzgeber dann nach einer gewissen Zeit auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse ({8}) darüber entscheidet, wie die Zuständigkeiten denn in Zukunft aussehen sollen. Tut er es nicht, gilt das alte, heute geltende Recht; schafft er eine Neuregelung, gilt sie bundeseinheitlich. Wo ist da der Flickenteppich, von dem Sie gesprochen haben? Wo sind da die Verhältnisse des 18. und 19. Jahrhunderts? Sie bauen immer Popanze auf, von denen dann letzten Endes nur Luft übrig bleibt. ({9}) Wir sehen die Konsequenzen unseres Gesetzentwurfes. Auf Dauer wird die Rechtseinheit erhalten bleiben. Aus einem weiteren Grunde ist heute ein sehr guter Tag ({10}) für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Lande, denn bis heute Morgen gab es ja noch den Entwurf der Unionsparteien, der nun wohl zurückgenommen worden ist. ({11}) - Gott sei Dank, Herr Kollege Manzewski, genauso ist es. Die F.D.P. hat zu dieser Frage überhaupt nichts vorgelegt. Das heißt, rechtspolitisch betrachtet, stehen Sie heute im Grunde genommen nackt da. ({12}) Plötzlich bestreiten Sie einen rechtspolitischen Reformbedarf, den Sie 1998 noch gesehen haben, weil Sie selber keine konkreten Vorstellungen haben. ({13}) Nachdem Sie Ihren Entwurf zurückgenommen haben, ist nach meiner Überzeugung ein von Anfang an verfehlter rechtspolitischer Ansatz Gott sei Dank endgültig gescheitert. Die ständige Heraufsetzung der Streitwertgrenzen in Bezug auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen Amts- und Landgerichten sowie die Erhöhung der Beschwerdewerte für Berufungen und Revisionen, wie sie in den letzten 15 Jahren von Ihnen vorgenommen worden ist, haben letztendlich zu immer weniger Bürgernähe und Effizienz in der Justiz geführt. ({14}) Das ist heute das einheitliche Urteil in der Fachöffentlichkeit. Von daher, Herr Kollege Funke, ist der Reformbedarf, den Sie eben noch bestritten haben, für den Fachmann evident. Genauso wird es heute in der Praxis auch gesehen. ({15}) Sie haben letzten Endes die Amtsgerichte, die heute im Durchschnitt jährlich knapp 750 Verfahren pro Richter zu bearbeiten haben, immer stärker belastet. ({16}) Ein solches Vorgehen ist eben nicht bürgernah, sondern das genaue Gegenteil davon. ({17}) Die Kritik, die Sie heute an unserem Reformentwurf, teilweise lautstark und vehement - Herr Kollege Röttgen wird sicherlich gleich als praktizierender OLG-Anwalt pro domo sprechen -, vorgetragen haben, dass die Reform bereits im Ansatz überflüssig und aus einem großen Reformversprechen ein Reförmchen geworden sei, nehme ich gelassen entgegen. Ich weiß, wovon ich rede. Die heute auf den Weg gebrachte Strukturreform des Zivilprozesses wird unumkehrbar sein. Sie wird die Streitkultur auf den verschiedenen Seiten des Zivilprozesses verändern. ({18}) Sie wird insbesondere die Struktur der Amts-, Land- und Oberlandesgerichte - hören Sie zu, Herr Geis - auf Dauer verändern. Wir werden als Ergebnis dieser Reform im Zivilprozess zukünftig mehr Richterinnen und Richter an den Amtsgerichten haben und werden mehr Richterinnen und Richter dort einsetzen können, wo bereits heute 1,5 Millionen rechtsuchende Menschen ihre Erfahrungen mit der Justiz machen. ({19}) - Herr Kollege Hirche, ich gebe Ihnen gerne Privatunterricht, um Ihnen das zu erklären. Das ergibt sich aus dem System dieser Reform. Wir können das gerne nachher besprechen. Die Stärkung der ersten Instanz wird mit diesem Entwurf auf den Weg gebracht. Das Ganze wird unumkehrbar sein. ({20}) - Herr Kollege Hirche, warten Sie es ab. Wir werden über dieses Thema in einigen Jahren reden. ({21}) Herr Kollege Geis, ich vermag Ihre Kritik auch aus einem weiteren Grund sehr gelassen zu ertragen: Diese Koalition wird mit ihrem Reformgesetzentwurf den jetzt eingeschlagenen Weg der Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Justiz generell unbeirrt fortsetzen. ({22}) - Nach der Zivilgerichtsbarkeit kommt der Strafprozess, Herr Kollege Geis, und danach - ich habe es Ihnen schon einmal gründlicher erklärt - die freiwillige Gerichtsbarkeit. Ich betone - ich habe das mit großer Freude in den letzten Tagen in einer Pressemitteilung gelesen -, dass auch der nordrhein-westfälische Justizminister Jochen Dieckmann deutlich erklärt hat: Zur notwendigen Modernisierung der Justiz werden wir alle Binnenressourcen ausschöpfen. - Diese Vorschläge werden wir noch in dieser Legislaturperiode auf den Tisch legen. Am Ende wird ein neues Bild einer modernen ordentlichen Gerichtsbarkeit stehen, die in der Lage sein wird, angesichts der zunehmenden Internationalisierung und Europäisierung des Rechts den globalen Veränderungen, denen wir uns zu stellen haben, zukunftsorientiert standzuhalten und weiterhin schnell und gut in diesem Land Recht zu sprechen. Das wird das Ergebnis sein. Ich freue mich auf die nächsten Jahre der Erprobung. Wenn es der Wähler zulässt, dass ich im Jahre 2007 hier noch stehen darf, garantiere ich Ihnen, dass wir ein positives Ergebnis erzielt haben werden. Schönen Dank. ({23})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, eineinhalb Jahre lang haben Sie versucht, sich durchzusetzen. Sie haben die ganze Zeit versucht, an Ihrem Kurs festzuhalten, und haben nur ein paar marginale und kosmetische Änderungen vorgeschlagen. Sie haben im Grunde genommen sogar - das gehört zu den Kosten Ihres Festhaltens - eine Blockade der Rechtspolitik hingenommen. Es gibt in dieser Bundesregierung bekanntlich nur wenige Leistungsträger. Aber es gibt noch weniger Minister, die eine so magere Bilanz vorzuweisen haben wie Sie in der Rechtspolitik. Das liegt an der Selbstblockade, die Ihre Justizreform in der Rechtspolitik herbeigeführt hat. ({0}) Sie als Mitglieder des Rechtsausschusses wissen, dass die Liste der Ankündigungen der rot-grünen Regierung enorm lang ist, dass aber die Zahl der Punkte, über die federführend im Rechtsausschuss beraten wird, immer geringer wird. Sie bekommen keine Ergebnisse zustande. Sie machen nur Ankündigungspolitik. Anderthalb Jahre lang haben Sie es versucht. Dann musste die Selbstblockade beendet werden. Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und RheinlandPfalz stand die Ministerin vor der Alternative, entweder ihr Scheitern einzugestehen oder entgegen ihrer persönlichen Überzeugung - Sie halten ja den ursprünglichen Entwurf nach wie vor für richtig; das spricht auch gar nicht gegen Sie - Zugeständnisse zu machen, einzuknicken und die Operation „Gesichtswahrung“ durchzuführen. Im ersten Fall hätte es nur eine Verliererin gegeben, nämlich die Bundesjustizministerin, die ihr Scheitern hätte eingestehen müssen. Im zweiten Fall - Einknicken und Gesichtswahrung - gibt es zwei Verlierer, nämlich die Bundesjustizministerin und die Ziviljustiz in Deutschland. Das sind die tatsächlichen Verlierer. ({1}) Es stimmt zwar, dass der jetzige Gesetzentwurf nicht mehr so schlimm ist wie am Anfang. Er hat sich von einer rechtsstaatlichen Katastrophe zu rechtspolitischem Murks gewandelt. ({2}) Das ist der Weg, den Sie zurückgelegt haben. Es war kein Weg des Lernens, sondern des Scheiterns; denn es besteht kein Zweifel daran: Im Vergleich zur jetzigen Zivilprozessordnung wird der Entwurf für Verschlechterungen sorgen. Es wird nichts besser werden. Er bringt fast nur Nachteile. ({3}) Es gibt eine Ausnahme - diese war nie umstritten -, nämlich die Einführung der Möglichkeit der Videokonferenz im Zivilprozess. Das haben wir immer begrüßt. Davon abgesehen gibt es nur Nachteile für die Ziviljustiz und die rechtsuchenden Bürger. ({4}) Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land nur falsche Versprechen gemacht. Lieber Herr Bachmaier, die Ministerin hat mehr Transparenz versprochen. Herausgekommen ist eine Rechtswegzersplitterung. Im Zeitalter der europäischen Harmonisierung sorgen Sie für eine nationale Rechtswegzersplitterung. Das, was bereits vor 125 Jahren als historisch überwunden galt, wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eingeführt. Sie sind - das wissen Sie doch selber - von der Öffnungsklausel nicht überzeugt. Sie wissen, dass Sie sich auf einen faulen Kompromiss einlassen und dass das nicht gut ist. Trotzdem müssen Sie mitmachen; denn die Öffnungsklausel ist das große Pflaster für das politische Scheitern der Bundesjustizministerin. Ihre Funktion ist, zu verdecken, nicht zu verbessern. Damit werden Sie Ihrer Verantwortung für eine qualitativ gute Justiz in unserem Land nicht gerecht. ({5}) Sie haben mehr Effizienz versprochen. Herauskommen wird Mehrarbeit für die ohnehin schon jetzt überlasteten Amtsgerichte. Das wird zu längeren Verfahrensdauern führen, vielleicht zu schlechteren Urteilen. Jedenfalls können die an der Front, in den Amtsgerichten, Ihre Suppe auslöffeln. ({6}) Versprochen wurde mehr Bürgernähe. Herauskommen wird: mehr Einzelrichter statt Kollegialgerichte - kein Fortschritt in der Qualität der Rechtsfindung. Außerdem wird es in der Berufung weniger Akzeptanz für ein Urteil geben, wenn der eine Einzelrichter den anderen Einzelrichter aushebelt. Darum ist unsere Position, dass möglicherweise in der Eingangsinstanz der Einzelrichter entscheidet, aber dass immer dann, wenn in der Eingangsinstanz der Einzelrichter entschieden hat, in der Berufungsinstanz ein Kollegialgericht entscheiden sollte, weil dies höhere Akzeptanz bei den Bürgern mit sich bringt. ({7}) Was herauskommen wird, ist die Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung. Der Bürger muss nicht mehr gehört werden. Über seine Sache wird gar nicht mehr geredet, sondern er wird beschieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. - Die Zurückweisungsbeschlüsse in der Berufungsinstanz werden weniger Akzeptanz für zivilgerichtliche Entscheidungen mit sich bringen. ({8}) Versprochen worden ist mehr Bürgernähe. Der Zugang zum Bundesgerichtshof wird aber zum glücklichen Zufall für den Bürger. Diese rechtsstaatlich gravierende Verschlechterung bleibt unter dem Strich übrig. Die Amputation des Bundesgerichtshofs, die Abschaffung des Bundesgerichtshofs als Instanz des Individualrechtsschutzes bedeutet, dass er nicht mehr für den einzelnen Bürger, der klagt, ihm sei Unrecht geschehen, zuständig sein kann. ({9}) Er soll vielmehr objektive Rechtsfortbildung betreiben. Die Abschaffung des höchsten deutschen Zivilgerichts als eines Gerichts, das für Einzelfallgerechtigkeit zuständig ist, trifft den Punkt, an dem der Bürger Justiz kennen lernt - nämlich nicht in der objektiven Rechtsordnung, sondern in seinem Fall. ({10}) Sie haben es sogar abgelehnt, dass Verfahrensmängel, die sich im Urteil der vorherigen Instanz niedergeschlagen haben, mit der Revision vor dem Bundesgerichtshof angefochten werden können. Selbst ein Verfahrensmangel, der das Urteil beeinflusst hat - ein ergebniskausaler Verfahrensmangel -, kann nicht mehr vor dem Bundesgerichtshof gerügt werden. Das ist statt mehr Bürgernähe weniger Rechtsschutz für den Bürger. Alle Versprechungen, die Sie gemacht haben, lösen Sie nicht ein. ({11}) Sie wissen das auch; aber trotzdem werden Sie heute dafür im Bundestag eine Mehrheit finden. ({12}) - Aber, Herr Kollege Dr. Bürsch, versuchen Sie es in irgendeinem deutschen Gericht, bei dem die Richter und Anwälte über diese Zivilprozessreform entscheiden könnten. Sie würden in keinem deutschen Gericht eine Mehrheit für diese Reform finden, weil die Praktiker des Zivilprozesses - das ist doch nicht die Kritik der CDU/CSU, der Opposition - von Ihnen nicht mit dieser Reform beglückt werden wollen. Sie lehnen sie nach wie vor ab, weil sie Verschlechterungen bringt. Das ist das Ergebnis. ({13}) Wir können uns über das Scheitern der Ministerin nicht freuen. ({14}) Das Bedrückendste an der Geschichte ist, dass Sie aus Ihren Fehlern nicht lernen. ({15}) Das ist der entscheidende Punkt: Sie lernen nicht. Das Scheitern der Ministerin in der Justizreform birgt im Grunde die Quelle neuen Unheils in sich. Denn Sie brauchen nun einen anderen Erfolg. Hier sind Sie gescheitert. ({16}) Diesen Erfolg suchen Sie jetzt auch. Darum wird das nächste Projekt herausgehauen. ({17}) Jetzt ist das Schuldrecht an der Reihe, ein Herzstück, vielleicht das Herzstück des deutschen Privatrechts. In der letzten Woche wurde es im Kabinett verabschiedet. Gestern kam die Drucksache mit 686 Seiten Umfang in meinem Büro an. Morgen soll die Debatte sein. ({18}) Sie wissen gar nicht, was Sie beschließen. Die Folgewirkungen können Sie nicht einschätzen. Sie wollen das durchpeitschen, weil Sie auf einen Erfolg angewiesen sind, weil Sie nach einem Erfolg dürsten, den Sie bislang in zweieinhalb Jahren nicht gehabt haben. Darum müssen Sie nun, wie gesagt, ein neues Projekt raushauen. Das ist im Grunde das entscheidende Versagen: Die Rechtspolitik Ihrer Regierung befindet sich aufgrund Ihres Verhaltens und Ihres Stils in einem aktionistischen Teufelskreis, der darin besteht, dass aus dem einen Scheitern das nächste übereilte Projekt folgt, das nichts Gutes bringen wird. ({19}) Lassen Sie mich die heutige Debatte über diesen zentralen Bereich der Rechtspflege, in dem die Bürger ihr Recht suchen, zum Anlass nehmen, eine allgemeine Bemerkung zum Stil der Rechtspolitik seit 1998 zu machen. Wie man an diesem Fall, aber auch darüber hinaus studieren kann - als Rechtspolitiker unserer Fraktion bedauern wir dies, und zwar nicht unter parteipolitischen Gesichtspunkten, sondern um des Zieles willen, dem wir uns alle verschrieben haben -, muss konstatiert werden, dass es seit 1998 einen Stilwandel in der Rechtspolitik gegeben hat. Diesen Wandel spüren wir in fast jeder Rechtsausschusssitzung. Die Mehrheit geht vor dem Argument, das Sich-durchsetzen-Wollen vor dem Aufeinanderzugehen, Tempo vor Sorgfalt. Das ist ein neuer Stil. Ich bin kein Fossil des Rechtsausschusses - ich hoffe, dass man mir das noch ansieht -, aber immerhin seit 1994 Mitglied dieses Ausschusses. Dort herrscht ein neuer Stil, der nicht gut ist, weil bei ihm die Qualität und die Beherrschbarkeit des Rechts und seiner Institutionen als Schutz davor, dass uns der Rechtsstaat in einer komplexen Gesellschaft über den Kopf wächst, auf der Strecke bleiben. In einer verflochtenen, hoch komplexen Gesellschaft ist die Gefahr gegeben, dass wir die Regulierungen, die wir selbst beschließen, nicht mehr beherrschen können. Wer nicht auf Qualität und auf das Argument setzt, sondern auf Mehrheit und Geschwindigkeit, beschädigt die Beherrschbarkeit des Rechts. Das ist nicht parteipolitisch gemeint. Vielmehr ist unsere allgemeine Sorge, dass in diesem anderen, neuen Stil die eigentliche Fehlleistung und Fehlleitung rot-grüner Rechtspolitik besteht. Wir bitten Sie, darüber nachzudenken, ob dieser Stil im gemeinsamen Interesse nicht geändert werden sollte. Herzlichen Dank. ({20})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort der Bundesjustizministerin Dr. Herta DäublerGmelin. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Justiz ({0}): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine Sorge, lieber Herr Röttgen, ich werde nicht auf das eingehen, was Sie sagten, sieht man von einer einzigen Bemerkung ab. Das, was Sie über Stil gesagt haben, ist ein Punkt, bei dem Sie sich an die eigene Nase fassen müssen. ({1}) In den Beiträgen, die wir in dieser wichtigen Fachdebatte von den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen gehört haben, ist mir Folgendes so richtig deutlich geworden: Wenn man Ihnen zuhört, dann weiß man, warum die Modernisierung der Justiz in den 16 Jahren, in denen Sie die Mehrheit hatten, keinen Schritt vorankam. ({2}) Das liegt einfach daran, meine Damen und Herren, dass Sie sich ständig widersprechen, dass Sie Ihre Meinungen - ich werde Ihnen das gleich anhand einiger wichtiger Justizpolitiker darlegen, die es in Ihren Reihen ja auch gegeben hat und gibt - ständig so ändern, wie Sie es gerade brauchen. Wenn Sie dann noch auch nur die Hälfte Ihrer Kreativität, die Sie darauf verwenden, gute Gesetzesvorhaben in der Öffentlichkeit madig zu machen, dazu nutzten, Sachargumente in die Diskussion einzubringen, dann wären wir wirklich schon viel weiter. Es ist geradezu lachhaft, jetzt so zu tun, als sei RotGrün in der Rechtspolitik nicht erfolgreich. Gerade in den letzten beiden Wochen hat der Bundestag eine Reihe von wichtigen Reformgesetzen beschlossen, die Sie alle schon hätten realisieren können, angefangen vom Mietrecht bis hin zur elektronischen Grundlage des Rechts- und Gerichtsverkehrs. Zu nichts waren Sie in der Lage. ({3}) Wenn man sich aber so wenig ernsthaft auseinander setzt, wie es jetzt gerade geschehen ist, dann braucht man sich darüber nicht zu wundern. Jetzt gehen Sie auch noch her und sagen den Bürgerinnen und Bürger öffentlich, diese Justizreform sei nicht nötig. Wo leben Sie denn? ({4}) - Entschuldigen Sie, das haben Sie doch gerade gesagt. Sie wissen doch ganz genau, dass jeder Brief, in dem sich Handwerker oder Unternehmer zum Beispiel über die Zahlungsmoral oder säumige Schuldner beklagen, das Gegenteil bescheinigt. ({5}) Sie wissen auch ganz genau, dass selbst Ihre eigenen Mitglieder dieses bestätigen. So hat der heutige Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer 1998 im Namen der Kammer, in der ich Mitglied bin, einen offenen Brief an uns Politiker gerichtet, in dem er beklagt, dass die Überlastung der Justiz einen kritischen Punkt erreicht habe. ({6}) Lassen Sie mich die Beispiele fortführen und einen Kollegen von der F.D.P. heranziehen: Vor zweieinhalb Jahren hat das F.D.P.-Mitglied Professor Schmidt-Jortzig, mein Vorgänger, dieses auf dem Deutschen Juristentag in Bremen zum Anlass genommen, zu sagen, dass er für die Dreistufigkeit sei und diese jetzt endlich umgesetzt werden müsse. ({7}) Gelegentlich zitieren Sie ja hier auch Herrn Minister Goll. Wogegen wollen Sie sich mit dem Anführen seiner Aussagen eigentlich wenden? Er hat 1998, als Bund und Länder über diese Reform diskutiert und Anregungen gesammelt haben, gesagt, er sei für eine Umgestaltung der Berufungsinstanz schrittweise hin zu einer RechtsüberDr. Norbert Röttgen prüfungsinstanz. Heute tun Sie, meine Damen und Herren, so, obwohl wir das gar nicht vorhaben, als sei das Blendwerk vom Teufel. Darf ich auch Sie, sehr verehrter Herr Funke - Sie wissen, wie ich Sie schätze -, daran erinnern, was Sie auf dem 12. Verwaltungsrichtertag 1998 gesagt haben? Da haben Sie sich darüber ausgelassen, dass die erste Instanz gestärkt werden ({8}) und der Instanzenzug reformiert werden müsse. Hierfür könne die Dreistufigkeit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Modell dienen. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit diesem Modell werde über die Übernahme desselben auch in andere Verfahrensordnungen diskutiert. Weshalb wollen Sie denn hier der staunenden Öffentlichkeit weismachen, dass überhaupt nichts geändert werden müsse? Hoch qualifizierte Rechtspolitiker, von denen auch Sie einige in Ihren Reihen hatten und haben, gehen sogar noch weiter. Ich erinnere Sie an das, was der ehemalige Rechtsausschussvorsitzende Eylmann immer wieder sagte. ({9}) Ich bitte Sie darum, hiermit ernsthaft umzugehen und dieses nicht einfach deswegen, weil Sie Rot-Grün nicht mögen oder in der Opposition sind - ich gebe ja zu, dass das schwer ist -, abzutun. ({10}) Wenn Sie an Ihre Parteifreunde, die jetzt nicht mehr Mitglieder des Bundestages sind, nicht erinnert werden wollen, dann bedenken Sie wenigstens ein Wort des jetzigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, übrigens auch Mitglied der CDU, der sagte: Der Weg immer neuer Entlastungsgesetze, der in den vergangenen Jahren beschritten worden ist, mit dem Versuch, die Symptome zu lindern, kann nicht weiter beschritten werden. Es muss an den Kern gegangen werden; die Zeit dafür ist überreif. Bedenken, mit einer einheitlichen Eingangsinstanz werde in Flächenländern ein Verlust an Bürgernähe einhergehen, sind nicht gerechtfertigt. Meine Damen und Herren, diese Beispiele mögen als Vorbemerkung reichen, um die Ernsthaftigkeit Ihrer Argumentation zu beleuchten. Wir werden auf dem Weg, die Justiz zu modernisieren, fortschreiten. Wir werden die entsprechenden Vorschläge weiter auf den Tisch legen und Sie weiter zur Mitarbeit einladen. Wir werden weiterhin sämtliche Praktiker aus den Gerichten, den Ländern und der Wissenschaft, die sich beteiligen wollen, einladen und bitten, bei uns mitzumachen. Wir werden gute Anregungen von diesen aufnehmen. Das ist, Herr Geis, kein Zeichen von Schwäche - das mag vielleicht bei Ihnen so sein -, sondern ein Zeichen von Stärke, wenn man sich zutraut, über Fragen zu diskutieren und gelegentlich gute Sachargumente auch aufzunehmen. ({11}) Wir werden auch Sie weiterhin dazu einladen. Die Modernisierung der Justiz ist um der Bürger willen nötig, die Sie durch das ständige Heraufsetzen der Streitwertgrenze empfindlich getroffen haben. 80 Prozent müssen sich nämlich an das Amtsgericht wenden, um ihr Recht einzuklagen. Es ist Ihr „Verdienst“ - diese Tatsache muss festgehalten werden -, dass heute die 80 Prozent, die zu den Amtsgerichten gehen müssen, die schlechtesten Bedingungen vorfinden. Die Amtsrichterinnen und Amtsrichter dort haben die meiste Arbeit - die richtige Zahl wurde schon genannt -, nämlich durchschnittlich 750 Fälle pro Jahr. Wir werden mit dieser Reform die Stellung der Amtsgerichte stärken. ({12}) Sie werden Ihren Wählerinnen und Wählern erklären müssen, warum Sie dagegen waren. Ich will Ihnen einen zweiten Grund nennen - die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben schon darauf hingewiesen -, warum diese Reform nötig war. Gerade für die Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht bei den Amtsgerichten suchen, müssen die Berufungsbedingungen, die sich während Ihrer Regierungszeit verschlechtert haben, verbessert werden. ({13}) Wir verbessern mit diesem Gesetz die Berufungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Davon sind 80 Prozent der Klagenden betroffen. Sie werden den Bürgerinnen und Bürgern erklären müssen, warum Sie ihnen die besseren Bedingungen, die wir schaffen wollen, vorenthalten wollen. Den Amtsrichtern müssen Sie erklären, warum Sie sie nicht entlasten wollen. Ich nenne Ihnen einen dritten Grund. Wir wollen in der Tat, dass aussichtslose Prozesse - also Prozesse, die durch ein Kollegialgericht einstimmig als aussichtslos angesehen werden - nicht wie bisher allein wegen ihres Streitwerts durch die Instanzen gezogen werden können. Dieses wollen wir im Interesse einer zügigen Rechtsprechung, auf deren Notwendigkeit uns gerade die mittelständische Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger immer wieder aufmerksam machen. ({14}) Das erreichen wir mit unserem Gesetz. ({15}) Wenn Sie dagegen sind, werden Sie der mittelständischen Wirtschaft sowie den Bürgerinnen und Bürgern erklären müssen, warum Sie weiterhin für diese Form des Justizkredits eintreten. Das ist aber Ihr Problem. ({16}) Lassen Sie mich für die Öffentlichkeit in sieben Punkten zusammenfassen, was wir mit diesem Gesetz erreichen wollen. Erstens. Wir stärken die Amtsgerichte, was Sie aber nicht mittragen wollen. Wir schaffen bessere Bedingungen für 80 Prozent der Bürger, die bei den Amtsgerichten ihr Recht suchen. Wir helfen auch den Amtsrichterinnen und Amtsrichtern, die sich oft bitter darüber beklagt haben - das wissen wir doch alle -, dass sie in den 16 Jahren Ihrer Regierung zu den „Lasteseln“ der Justiz gemacht worden seien. Zweitens. Wir setzen auch im Zivilprozess ganz entschieden auf die Schlichtungskultur. ({17}) Wir haben bei der außergerichtlichen Streitschlichtung angefangen. Wir werden sehr sorgfältig schauen, was gerade die Länder, in denen Sie regieren, in Bezug auf die Schlichtungskultur unternehmen. Frau Kenzler, Ihre Auffassung, dass es zu mehr Arbeit für die Amtsrichterinnen und Amtsrichter führen wird, wenn sie mit den Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen eines Schlichtungsversuchs verstärkt sprechen müssen, ist nicht ganz korrekt; denn die Stärkung des Schlichtungsverfahrens bringt die große Chance mit sich, dass es weniger streitige Urteile gibt. Diese Urteile sind es aber, die Arbeit machen. ({18}) Auch unter diesem Aspekt ist die Schlichtung eine sehr wichtige Sache. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Union einmal aufhören würden, dazwischenzurufen, ({19}) würde ich Ihnen gerne sagen: Alle diese Überlegungen, die in das Gesetz eingegangen sind, beruhen natürlich auf guten Vorbildern, wie wir sie in einigen Ländern bei den Amtsgerichten und Landgerichten finden. Wir haben uns dort sehr sorgfältig umgeschaut, um diese guten Modelle zum Vorbild nehmen zu können. Schon aus diesem Grunde handelt es sich um sinnvolle Regelungen. Drittens. Wir erweitern die Berufungsmöglichkeiten gerade für die Verfahren vor dem Amtsgericht. Wir straffen die Berufung da, wo das rechtsstaatlich einwandfrei möglich ist. Diese Straffung fällt moderater aus als die, die Sie in Ihrem Entwurf, den Sie glücklicherweise zurückgezogen haben, vorgeschlagen haben. Gerade die Bürgerinnen und Bürger und die mittelständische Wirtschaft sind uns dafür dankbar. Viertens. Wir weiten das Tätigkeitsfeld des Einzelrichters aus. Er entscheidet durchweg in amtsgerichtlichen Verfahren. Er soll aber auch dann bei landgerichtlichen Verfahren zum Einsatz kommen, wenn der Fall nicht eine besondere Spezialmaterie umfasst. Es macht Sinn, wenn ein Gremium nur im Falle einer Spezialmaterie tätig wird. Aber da, wo das nicht der Fall ist, soll der originäre Einzelrichter tätig sein. Wir sind der Meinung, dass in einfachen Spezialfällen rückübertragen werden kann. Wir sind auch der Auffassung, dass die Tätigkeit des Einzelrichters ausgeweitet werden kann. Wir sind zudem - fünftens - fest davon überzeugt, dass die Landesjustizminister - sie tragen schließlich Verantwortung für die Justiz und können nicht einfach so daherschwätzen - selbstverständlich dafür sorgen werden, dass aufgrund der frei werdenden Stellen neue Arbeitsplätze bei den Amtsgerichten - also dort, wo sie hingehören - geschaffen werden. ({20}) Noch eine kleine Reminiszenz: Sie haben behauptet, Sie hätten die Tätigkeit der Einzelrichter in viel höherem Maße ausgedehnt, Sie hätten sogar die Anfänger, also die Proberichter, zu Einzelrichtern gemacht. - Das alles spricht nicht für Ernsthaftigkeit, sondern erklärt, warum es mit Ihrem Versuch der Modernisierung überhaupt nichts geworden ist. ({21}) Sechstens: das Revisionsrecht. Was Sie hier schildern, ist falsch. Es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, dass ein oberstes Bundesgericht Grundsatzentscheidungen klären muss, Rechtsfortbildung im Einzelfall betreiben muss und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung - insofern geht es natürlich um Qualitätsaspekte - sichern muss. Wer das bestreitet, der stellt sich nicht nur gegen die Richter des Bundesgerichtshofs, ({22}) sondern - das wissen Sie ganz genau - der weiß nicht, wovon er redet. Ich muss wirklich sagen: Einiges von dem, was Sie hier geboten haben, hätte schon ein bisschen gehaltvoller sein können. ({23}) Es ist schon ganz gut, dass Sie wenigstens anerkennen, dass mit Zustimmung aller Beteiligten unter Einhaltung der notwendigen Voraussetzungen der Einsatz von elektronischen Geräten, mit denen heute jeder Anwalt arbeitet, jetzt auch bei Gericht möglich sein soll.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Ja.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bitte, Herr Kollege Gehb.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da Sie, Frau Ministerin, fragen, ob wir wissen, wovon wir reden: Erklären Sie mir bitte, ob es einen Grund gibt, warum ausgerechnet in der ZPO der Revisionsgrund „entscheidungserheblicher Verfahrensmangel“, so wie er in der VwGO, in der StPO und in der Finanzgerichtsordnung besteht, keinen Platz gefunden hat. Gibt es dafür irgendeine Erklärung? Ich habe noch nicht gehört, warum dieser Revisionsgrund auf der Strecke geblieben ist.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Lieber Kollege, der Wortlaut der von Ihnen genannten Verfahrensordnungen ist nicht ganz richtig. Lassen Sie mich ganz eindeutig sagen: Generell gibt es viele Gemeinsamkeiten und es gibt manche Unterschiede. Daraus erklärt sich - wenn auch nicht in jedem Fall, so doch in diesem Fall - das, was Sie wahrscheinlich meinen. Wir kommen jetzt - siebtens - zur Experimentierklausel. Herr Röttgen hat hier erklärt, dies sei eine Öffnungsklausel, und tut so, als würde er den Unterschied nicht kennen. Das ist ein bisschen wenig. Sie sollten noch einmal aufmerken: Wissen Sie, woher der Gedanke der Experimentierklausel kommt? - Zum einen kommt dieser Gedanke aus der Praxis in den Ländern, wo man sagt: Wir brauchen noch etwas mehr Zeit zum Diskutieren. Da uns daran liegt, im Einklang mit der Praxis vorzugehen, greifen wir diesen Gedanken auf. Zum anderen hat auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Professor Scholz, Mitglied der CDU, diese Überlegung dezidiert vorgetragen. Wenn Sie schon anfangen zu polemisieren, dann sollten Sie sich die Stellen, an denen Sie das tun, ein bisschen glücklicher heraussuchen. ({0}) Wir sind der Meinung, dass Sie sehr viel mehr an eigener Aktivität und Initiative hätten einbringen können. Wenn das geschehen wäre, dann wären wir im Hinblick auf die nötige Umgestaltung und Modernisierung unserer Justiz weiter. Jeder, der angesichts der Veränderungen in der Welt und der damit verbundenen Herausforderungen die starke Stellung der Justiz bewahren will, jeder, der den großen Einfluss der Richterinnen und Richter, der unabhängigen dritten Gewalt in unserem Rechtsstaat bewahren will, der muss modernisieren. Wenn man mit Ihnen unter vier Augen redet, dann stimmen Sie uns darin zu. Warum sind Sie nicht einmal so mutig, stellen sich hierher und sagen: Jawohl, das ist so, wir müssen das gemeinsam angehen und wollen das auch. Sie haben erklärt - das ist ihr Problem -, bei der ZPO-Reform nicht mit uns zusammenzuarbeiten. Wir werden Ihnen noch viele andere Möglichkeiten geben, das zu tun. Übrigens: Wir führen die ZPO-Reform in Zusammenarbeit mit dem Richterbund, in Zusammenarbeit mit der Praxis, in Zusammenarbeit mit vielen Amtsrichterinnen und Amtsrichtern sowie in Zusammenarbeit mit vielen Wissenschaftlern durch. Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt ans Ende der Beratungen zu diesem wirklich wichtigen Schritt der Justizreform - im Rahmen der Modernisierung der Justiz, die natürlich weitergeht. Deswegen werden Sie mir gestatten, dass ich mich bei all denen bedanke, die es anders gemacht haben als Sie und die wirklich mitgearbeitet haben: ({1}) Das sind die Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses, die nicht nur mitreden konnten, sondern in der Tat jahrelang heftig mitdiskutiert haben. Das sind die Berufsverbände. Das sind weite Bereiche aus Wissenschaft und Praxis. Das sind viele Länderjustizminister, übrigens auch solche, die nicht in die Nähe der rot-grünen Mehrheit gehören. Vor allem aber will ich mich an dieser Stelle beim Präsidenten a. D. des Amtsgerichts Stuttgart, Herrn Netzer, und seiner Gruppe ganz herzlich bedanken, die eine enorme Arbeit geleistet hat ({2}) und die - lassen Sie mich das einfach noch einmal sagen - im Gegensatz zu vielen aus Ihren Reihen, die wir gehört haben, die Praxis nun wirklich aus dem Effeff kennen. Wenn Sie mir gestatten, füge ich noch einen Satz hinzu. Auch der Vorgänger von Herrn Netzer als Abteilungsleiter, Herr Hilger, der in den Ruhestand gegangen ist, und sein Stellvertreter, der leider viel zu früh gestorbene Reinhard Schubert, sollen an dieser Stelle bedacht werden. Sie haben zusammen mit ganz vielen Kolleginnen und Kollegen in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die seit Jahren an diesem Projekt arbeitet, eine gute Arbeit gemacht, und es ist wichtig, dass wir uns auch an dieser Stelle an sie erinnern. ({3}) Meine Damen und Herren, ich danke all denen, die diesen Schritt mit uns gehen. Ich glaube, jetzt kommt es darauf an, in den Ländern - gerade bei den vielen Richterinnen und Richtern, die hier mitmachen wollen und mitmachen werden - dafür zu sorgen, dass sie auch mitmachen können. Wir werden jedenfalls in der nächsten Legislaturperiode den ersten Bericht über die Erfahrungen einbringen und dann die nächste Stufe der Modernisierung weitergehen. Ganz herzlichen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Norbert Geis. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, ich möchte natürlich nicht auf Ihre ganze Rede antworten, aber noch einmal in drei Punkten die Gegenposition klarmachen. Erstens. Sie vergessen nach meiner Auffassung bei allen Ihren Ausführungen immer wieder, dass wir nach dem Urteil der internationalen Fachwelt eine hervorragend funktionierende Justiz haben und dass die Fachwelt in Deutschland größte Bedenken hatte, dass durch Ihre Reform diese hervorragend funktionierende Justiz beschädigt werden könnte. ({0}) Zweitens. Wir haben in vielen Podiumsdiskussionen, in vielen Beratungen im Parlament und auch in vielen Berichterstattergesprächen unsere Gegenpositionen dargetan, zusammen mit den Anwälten, mit den Richtern und mit anderen Fachleuten aus dem Bereich der Rechtswissenschaft. Ergebnis dieses langen Diskussionsprozesses, an dem wir teilgenommen haben, war, dass Sie wichtige Positionen Ihrer Reform zurückgenommen haben. Deswegen können Sie nicht sagen, wir hätten uns überhaupt nicht beteiligt. Diese Reform, so wie sie heute auf dem Tisch liegt - mit der wir immer noch nicht einverstanden sind -, ist auch ein Ergebnis dieser Diskussion. Drittens. Es ist richtig, dass in der Kommission für die Rechtsmittelreform die Dreigliedrigkeit indirekt immer wieder mitdiskutiert worden ist, und richtig ist auch, dass sich an den Diskussionen in dieser Kommission Fachleute aus den Länderministerien beteiligt haben und dass die Länder zu einer größeren Reform ausholen wollten. Das ist wahr. Aber wahr ist auch, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrer Gesamtheit immer an der Viergliedrigkeit festgehalten und sich gegen die Dreigliedrigkeit gewehrt hat. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Ministerin Däubler-Gmelin, bitte.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Das war ja schon viel besser. ({0}) Wenn man fachlich und sachlich mit jemandem argumentieren will, darf man natürlich nicht solche unernsten Beiträge halten, wie wir sie vorhin gehört haben. Wenn Sie angesichts des vereinigten Rechtsraums in Europa und angesichts all der Herausforderungen, die dadurch zusätzlich auf uns zukommen - zwei europäische Gerichte und zusätzliche Spezialgerichte -, weiter an der Viergliedrigkeit festhalten wollen, kann ich Sie nur bitten, diese Position zu überdenken. Sie waren schon einmal weiter. In Richtung F.D.P. will ich hinzufügen: Herr Professor Schmidt-Jortzig, mein Vorgänger im Amt, hat vor zweieinhalb Jahren auf dem Deutschen Juristentag doch nicht nur für sich gesprochen, sondern selbstverständlich auch als Justizminister und damit für die ihn tragende Mehrheit aus CDU/CSU und F.D.P. Was also soll das jetzt? Ich habe Ihnen gerade vorgetragen, was Herr Eylmann, Herr Scholz und x andere Leute sagen und was Herr Dombek vor zwei Jahren zur Überlastung der Justiz, die den kritischen Punkt erreicht habe, gesagt hat. Wenn das noch nicht genügt, dann will ich jetzt wiederholen: Wenn Sie der Meinung sind, man könne 1,5 Millionen Menschen - das sind, wie gesagt, etwas mehr als drei Viertel aller Rechtsuchenden, die heute vor Gericht müssen - mit den schlechtesten Bedingungen abspeisen und das sei eine vorbildliche Justiz, dann kann ich Sie nur bitten, auch dies zu überdenken. Nochmals: Wenn jemand heute streitwertbedingt zum Amtsrichter muss, dann trifft er auf Richterinnen oder Richter, die in aller Regel hervorragend sind, aber pro Person 750 Fälle im Jahr zu bearbeiten haben. ({1}) Wenn es um 10 000 DM oder mehr geht, dann sind es 170 Fälle und bei den Oberlandesgerichten sind es 69 Fälle. Diese Zahlen kennen Sie alle genau. Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Wenn wir die Amtsrichterinnen und die Amtsrichter weiterhin als die Lastesel der Justiz nutzen und ihnen dann auch noch sagen, es sei doch alles toll und es müsse nichts geändert werden, meinen Sie nicht, dass sich diese Kolleginnen und Kollegen nicht mehr ernst genommen fühlen ({2}) und dass sie den Eindruck haben, die CDU/CSU habe keine Ahnung von den Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen? Ich appelliere an Sie, einmal darüber nachzudenken, ein bisschen von Ihrer Grundhaltung, Nein zu sagen, abzurücken, sich den Sachproblemen zu stellen und mit uns die Modernisierung der Justiz Punkt für Punkt anzugehen - durch Ihre Zustimmung zu der ZPO-Reform. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Helmut Wilhelm für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe diese Woche im „Spiegel“ gelesen, die ZPO-Reform sei gescheitert; die Kollegen Geis und Röttgen haben hier ja ins gleiche Horn gestoßen. Zwar habe ich den „Spiegel“ natürlich noch nie für eine profunde juristische Fachzeitschrift gehalten, ({0}) aber hier liegt er besonders schief. Ich jedenfalls freue mich, dass wir heute eine neue, moderne und ausgewogene Zivilprozessordnung auf den Weg bringen können. ({1}) Viel mehr Verfahren als bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden, und zwar endgültig bereits in erster Instanz - in einer ersten Instanz, die zudem mehr Zeit und Personalressourcen hat und sich damit sorgfältiger auseinander setzen kann, als es bisher möglich war. Das hat ganz einfach damit zu tun, dass ein Amtsrichter heute über 700 Verfahren im Jahr zu bearbeiten hat, sein Kollege am OLG aber nur 75. ({2}) Was an diesem krassen Missverhältnis erhaltenswert sein soll, meine Damen und Herren von der Opposition, vermag ich wirklich nicht zu erkennen. ({3}) Im Gerichtssaal des Amtsgerichts hat der Rechtsuchende zum ersten Mal mit der Justiz zu tun und dort soll er auch nachvollziehen können, warum das Gericht so und nicht anders entscheidet. Dass der ursprüngliche Entwurf im Lauf des parlamentarischen Verfahrens einige Änderungen erfahren hat - die, nebenbei gesagt, die Grundtendenz nicht verändert haben -, ist doch gerade die Konsequenz sorgfältiger parlamentarischer Arbeit. Wir haben mit Vertretern der Fachverbände diskutiert, mit den Berichterstattern der Opposition, mit Ihnen, meine Damen und Herren, wir haben im Rechtsausschuss eine umfangreiche Expertenanhörung durchgeführt und wir sind bereit, den strittigen Punkt der Berufungszuständigkeit über einen gewissen Zeitraum hinweg zu experimentieren. So haben die Länder in eigener Zuständigkeit die Möglichkeit, in der täglichen Praxis herauszufinden, inwieweit unsere Vorstellungen von einer Konzentration der Berufung bei den Oberlandesgerichten machbar und zweckmäßig sind. Ich bin mir da ganz sicher: Diese Erfahrungen werden letztlich dazu führen, dass unsere Vorstellungen zum Tragen kommen. Dass wir Experten angehört haben, dass wir verändert und berechtigten Vorschlägen Rechnung getragen haben, das ist doch solide, qualitätsvolle parlamentarische Arbeit und nicht etwa - wie der „Spiegel“ und auch Sie irrigerweise meinen - Ausdruck des Scheiterns. Nein, wer hier gescheitert ist, das ist die Opposition. ({4}) Denn wenn ich mir Ihre alten Gesetzentwürfe ansehe, dann wussten doch auch Sie, dass diese Reform überfällig war. Aber diese Erkenntnis in Taten umzusetzen, das haben Sie nie geschafft. Ihr ständiges Drehen an der Streitwertschraube hat die Situation nur verschlimmert. Auch heute haben Sie nichts anderes parat als ein simples Nein. Eigentlich sollten Sie uns dankbar sein, dass wir endlich die überfällige komplette Reform machen. ({5}) Die CDU/CSU hatte ja selbst einen Entwurf - ich bezeichne ihn jetzt als Klandestinentwurf -, der einige Ähnlichkeiten mit unserem aufwies. ({6}) Aber der verschwand irgendwo in der Versenkung. ({7}) Ich bedanke mich beim Ministerium, ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Ministerin, für die geleistete umfangreiche Arbeit. Ich bedanke mich bei den Verbänden, die den Entwurf durch konstruktive Kritik begleitet haben, die Regelungsalternativen entwickelt haben und die - siehe das letzte Gespräch der Berichterstatter aller Fraktionen mit den Verbänden der Anwälte und Richter - das Gesetz letztlich als positiv bewertet haben. ({8}) Mit Ihrem alternativlosen Nein standen Sie zum Schluss doch ziemlich allein da. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 14/6036. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Zivilprozesses in der Ausschussfassung anzunehmen, Drucksache 14/4722. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6061? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen. ({0}) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Fraktionen Helmut Wilhelm ({1}) der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Reform des Zivilprozesses auf Drucksache 14/3750 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 5: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski ({2}), Wolfgang Zeitlmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Islam in Deutschland - Drucksachen 14/2301, 14/4530 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ruprecht Polenz.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Islam in Deutschland. Wir hatten zur Vorbereitung dieser Großen Anfrage 1999 im Deutschen Bundestag eine Anhörung mit führenden Vertretern islamischer Verbände veranstaltet; denn wir wissen, für die Integration der dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer sind Fragen von Kultur und Religion von zentraler Bedeutung. Die Frage nach dem Islam in Deutschland ist deshalb eine der Kernfragen einer modernen Integrationspolitik. Daher haben wir uns so intensiv damit beschäftigt. Auf der Grundlage unseres Fragenkatalogs hat jetzt die Bundesregierung eine umfassende Bestandsaufnahme über den Islam in Deutschland erarbeitet. Ich möchte der Bundesregierung dafür danken. Denn aus dieser Antwort ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für politische Initiativen des Bundes, der Länder und der Gemeinden. Meine Damen und Herren, von unserer heutigen Islamdebatte sollten konkrete Botschaften an die circa 3,2 Millionen Muslime in Deutschland ausgehen: Erstens. Wir achten und respektieren ihre religiösen Überzeugungen. Zweitens. Wir respektieren und achten sie als unsere Nachbarn in den Städten und Gemeinden. Deshalb interessieren wir uns für ihren Glauben, für ihre religiösen Überzeugungen und für die Hochkultur des Islam. Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes gewährleistet die Religionsfreiheit in Deutschland auch für Muslime. Jeder Muslim soll in Deutschland ein Leben nach seinen religiösen Überzeugungen führen können. Allerdings gelten für Muslime dieselben Schranken und Grenzen, die sich aus der Wertordnung des Grundgesetzes auch für Christen und andere Religionsgemeinschaften ergeben. Wir wollten mit unserer Großen Anfrage auch ermitteln, wo in diesem Rahmen ein Leben nach den islamischen Geboten in Deutschland noch auf Schwierigkeiten stößt, damit wir diese Schwierigkeiten überwinden können. Wenn man Menschen, die keine Muslime sind, nach ihrer Einstellung zum Islam fragt, so überwiegen nach meinem Eindruck zwei ganz gegensätzliche Sichtweisen: Die einen entwickeln Skepsis und Sorge bis hin zu Angst vor einer akuten Bedrohung für die christlich-abendländische Kultur; andere neigen zu einer unreflektierten, naiven Idealisierung und Harmonisierung des Islam. Einen Grund für diese Idealisierung und Harmonisierung sehe ich darin, dass vor lauter multikultureller Beliebigkeit die Vorstellung dafür abhanden gekommen ist, dass religiöse Überzeugungen auch die Lebenswirklichkeit nachhaltig und durchaus konflikthaft prägen können. Man sollte schon ernst nehmen, dass religiöse Glaubenswahrheiten auch Absolutheitsansprüche gegenüber Gläubigen formulieren und dass es zu nicht hinnehmbaren Konflikten kommen kann, wenn diese Absolutheitsansprüche mit durchaus weltlichen Mitteln gegen Andersgläubige durchgesetzt werden sollen. Weil der Islam die Grenzen zwischen Religion und Politik, zwischen Staat und Religion nicht in gleicher Weise zieht, wie sich dies bei uns durch Säkularisierung und Aufklärung herausgebildet hat, müssen wir festhalten, dass in Deutschland die Wertordnung des Grundgesetzes für die Ausübung aller Religionen gilt. Eine Einführung der Scharia zum Beispiel wäre mit dem Grundgesetz selbstverständlich nicht vereinbar. Ein solches Ziel wird - das möchte ich ausdrücklich hinzufügen - allenfalls von einer verschwindend geringen Zahl der Muslime in Deutschland angestrebt. Der Generalsekretär des Verbandes der Islamischen Kulturzentren hat auf einer Anhörung, die die CDU/CSUFraktion zu diesem Thema abgehalten hat, ausdrücklich auf Folgendes hingewiesen: Auch in der islamischen Orthodoxie ist anerkannt, dass Muslime, die in einem nicht islamischen Staat leben und dort Religionsfreiheit und die übrigen Grundrechte genießen, ihrerseits zur Loyalität zu diesem Staat und seiner Rechtsordnung verpflichtet sind. Woher kommen Skepsis und Sorge, ja sogar Angst vor dem Islam? Ich sehe hierfür vor allem drei Gründe: Es ist erstens vor allem die falsche Gleichsetzung von islamistischem Fundamentalismus mit dem Islam. Dabei geht es den Islamisten um eine Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke. Die Islamisten wollen den Islam als Herrschaftsmittel einsetzen und damit eigene Herrschaftsansprüche begründen, in erster Linie übrigens gegenüber den Regierungen in islamischen Ländern, denen sie „unislamisches Handeln“ vorwerfen. Ein zweiter Grund sind die Terroranschläge, die von islamistischen Organisationen begangen werden, also Selbstmordkommandos, die auch bei uns Angst auslösen und die fälschlicherweise dem Islam zugerechnet werden, obwohl der Islam Terror und Gewalt verbietet. Vizepräsidentin Petra Bläss Nicht zuletzt die Schreckensherrschaft, die die Taliban in Afghanistan errichtet haben, oder die blutigen Auseinandersetzungen in Algerien wirken auf das Bild ein, das sich viele vom Islam machen. Es mag auch sein, dass für manche, die ohne Feindbild nicht leben können, der Islam an die Stelle des zusammengebrochenen Kommunismus getreten ist. Hinzu kommt - wie ich meine - eine unvollständige und damit einseitige Wahrnehmung der gemeinsamen Geschichte, die vor allem die Konflikte und Kriege betont, von Karl Martell über die Kreuzzüge bis zu den Türken vor Wien. Übersehen werden dabei Epochen weitgehend friedlichen Zusammenlebens wie im Spanien zur Zeit der Omaijaden. Übersehen wird dabei auch, wie viele kulturelle Errungenschaften beispielsweise in der Mathematik, der Astronomie oder Architektur wir der islamischen Welt verdanken. Vielleicht sollten die Länder auch hier das bewährte Mittel gemischt zusammengesetzter Schulbuchkommissionen nutzen, um die Darstellungen in den Geschichtsbüchern einmal zu überprüfen. Festzuhalten bleibt, dass es oft Unkenntnis und gegenseitiges Unverständnis zwischen Muslimen und der einheimischen, christlich geprägten Bevölkerung gibt. Umso wichtiger ist deshalb ein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen. Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass die beiden christlichen Kirchen vielfältige Foren für interreligiöse Gespräche anbieten. Es gibt nachbarschaftliche Begegnungen zwischen Kirchengemeinden und muslimischen Moscheengemeinden und am „Tag der offenen Moschee“ machen jedes Jahr viele tausend Gäste von dem Angebot zum besseren Kennenlernen Gebrauch. Manchem dürfte erst durch solche Begegnungen bewusst werden, dass es in seiner Nachbarschaft eine Moschee gibt. Die meisten Gebetsstätten sind bisher nach außen kaum kenntlich. Sie sind in Wohnhäusern, gewerblichen Gebäuden und Ähnlichem untergebracht ... heißt es zutreffend in der Antwort der Bundesregierung. Ich meine, es wäre eine Aufgabe der Kommunen, rechtzeitig geeignete Grundstücke für den Bau von Moscheen planungsrechtlich auszuweisen, damit Muslime nicht in Gewerbegebiete oder Hinterhöfe abgedrängt werden, wenn sie in ihren Gotteshäusern beten wollen. ({0}) Ich hatte vor einem Jahr die Gelegenheit, die prächtige blaue Moschee in Isfahan zu besuchen. Man spürt dort, welche Kraft vom Islam ausgegangen ist, wenn Menschen trotz ihrer eigenen Armut über Jahrzehnte und Jahrhunderte an der Vollendung solcher Bauten gearbeitet haben. Ich bin deshalb überzeugt davon, dass Respekt und Achtung vor der Weltreligion Islam wachsen werden, wenn die Möglichkeit zur Errichtung angemessener islamischer Sakralbauten in der Stadtplanung berücksichtigt wird. Jeder zehnte Schüler an deutschen Schulen bekennt sich zum islamischen Glauben. Das sind mehr als 700 000. Trotzdem gibt es bis heute in keinem Bundesland islamischen Religionsunterricht als ordentliches Pflichtfach, so wie es katholischen oder evangelischen Unterricht gibt. Es ist Sinn und Zweck des Religionsunterrichts, eine systematische Werteerziehung zu vermitteln, die bei der persönlichen und gesellschaftlichen Orientierung helfen soll. Dies wird muslimischen Kindern in unseren Schulen bislang verwehrt. Da hilft auch ein irgendwie gearteter Ethikunterricht wenig, denn ohne die substanzielle Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensbekenntnis kommen die Schüler leicht in die Gefahr einer undifferenzierten Gleichmacherei oder Gleichgültigkeit, statt dass sie die jeweiligen Besonderheiten religiöser Überzeugungen in ihrer Andersartigkeit tolerant verstehen lernen. ({1}) Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich deshalb dafür ein, dass die Voraussetzungen für die Erteilung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Pflichtfach an öffentlichen Schulen geschaffen werden. Dieser Religionsunterricht soll ein islamisches Selbstverständnis in einer christlich geprägten Gesellschaft entwickeln helfen. Er soll jungen Muslimen das Verständnis und die Akzeptanz der Wertenormen der deutschen Gesellschaft ermöglichen und so dazu beitragen, kulturelle Spannungen abzubauen. Nun ist bekannt, dass sich der Islam nicht als Kirche organisiert, mit der man ein Konkordat schließen könnte. Es wäre deshalb gut, wenn die großen Dachorganisationen der Muslime in Deutschland, also Zentralrat und Islamrat, dem Staat als verlässliche Partner für islamischen Religionsunterricht gegenübertreten könnten. Der Zentralrat hat bereits einen viel versprechenden Lehrplan für einen muslimischen Religionsunterricht formuliert. Wie katholischer und evangelischer Religionsunterricht unterliegt auch islamischer Religionsunterricht dem staatlichen Schulrecht und der staatlichen Schulaufsicht. Über die Ziele und Inhalte aber entscheiden die Religionsgemeinschaften nach eigenen Maßgaben. Eine weitere Voraussetzung nach unseren Vorstellungen ist, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist, auch beim islamischen Religionsunterricht. Der Umstand, dass zwei Drittel der Muslime in Deutschland aus der Türkei stammen, würde bei einer Durchführung in türkischer Sprache außerdem „nur“ das türkische Verständnis des universellen Islam vermitteln und jeden dritten Muslim in Deutschland ausgrenzen. Besonders wichtig ist es, dass die Lehrkräfte, die zur Durchführung des islamischen Religionsunterrichts autorisiert werden, möglichst bald eine theologische Ausbildung in Deutschland erhalten. ({2}) Langfristig müssen deshalb ordentliche Studiengänge in islamischer Theologie an deutschen Hochschulen eingerichtet werden. Ich weiß, dass beispielsweise die Universität Münster gern einen solchen Lehrstuhl einrichten würde. Es liegt jetzt am Land Nordrhein-Westfalen, die dafür erforderlichen Mittel bereitzustellen. Bis dahin müssen Übergangsregelungen getroffen werden, damit der islamische Religionsunterricht in absehbarer Zeit Pflichtfach an öffentlichen Schulen in den Bundesländern werden kann. Allerdings darf man sich von der Einführung des islamischen Religionsunterrichts nicht die Abschaffung von Korankursen versprechen. Die Korankurse wird es auch weiterhin geben. Denn dort wird das Rezitieren der Suren des Korans auf Arabisch unterrichtet - eine für orthodoxe Muslime obligatorische Pflicht. Anders zu bewerten sind natürlich die so genannten wilden Korankurse, in denen Kinder indoktriniert werden. Ihnen muss - unabhängig von der Einführung islamischen Religionsunterrichts mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten entgegengewirkt werden. ({3}) Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Schluss: Der Deutsche Bundestag debattiert heute über den Islam in Deutschland. Wir wollen dies in einem Geist der Achtung und des Respekts vor dieser Weltreligion tun. ({4}) Uns wird bei dieser Debatte bewusst, wie wichtig für Muslime ihre religiöse Überzeugung ist. Wir spüren, wie sehr es Muslime verletzen muss, wenn ihre Religion herabgesetzt oder verächtlich gemacht würde. Das, meine Damen und Herren, gilt übrigens auch für Christen. Es wäre deshalb ein wichtiger Ertrag unserer Debatte, wenn wir das allgemeine Bewusstsein auch dafür schärfen könnten. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Islam ist eine der großen Weltreligionen und - das muss man sich deutlich machen - fast 3 Millionen Menschen in Deutschland gehören ihm an. Dennoch - das muss man zugeben - erscheint der Islam der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft oft ein Stück fremd oder manchmal auch ein Stück bedrohlich. Die Bundesregierung hat diese Große Anfrage daher ausdrücklich begrüßt und sie für eine umfassende Bestandsaufnahme genutzt. Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für dieses umfangreiche Werk gesorgt haben, ausdrücklich ein Dankeschön sagen. ({0}) Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus mangelnder Kenntnis des Islams. Information und Aufklärung sind daher geboten, um Verständnis für die in Deutschland lebenden Muslime zu fördern. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es unter ihnen auch Anhänger islamistischer Strömungen gibt, die Anlass zu Sorge geben. Es ist daher gut, dass sich der Bundestag mit der heutigen Debatte der Situation der islamischen Minderheit in Deutschland zuwendet. Ich sage vorweg: Gerade bei diesem Thema besteht die Notwendigkeit der Differenzierung. Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland endgültig anerkannte Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche. Der Staat darf und soll sich nicht in religiöse Fragen einmischen. Umgekehrt dürfen Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, staatliches Handeln bestimmen zu dürfen. Auf dieser Grundlage hat sich in Deutschland ein von gegenseitigem Respekt getragenes Verhältnis partnerschaftlicher Kooperation zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen entwickelt. Die Bundesregierung erwartet von den hier lebenden Muslimen und ihren Gemeinschaften, dass sie diese Trennung von staatlichen und religiösen Fragen beachten, da dies für ein friedliches Miteinander ganz entscheidend ist. Die Bundesregierung achtet die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime ihren religiösen Pflichten nachkommen. Aber ich sage ebenso deutlich: Sie wird nicht zulassen, dass religiöser Eifer und religiöses Eiferertum staatliches Handeln beeinflussen. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 4 die Glaubensund Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum oder als Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört auch die religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsgemeinschaften können daher die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Formen des bürgerlichen Rechts vor allem in der Form des eingetragenen Vereins erwerben. Diese Rechte gelten für alle in Deutschland, also auch für die muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig davon, ob ihre Herkunftsstaaten ebenso verfahren. Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung fort, wonach Religionsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen den besonderen Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten können. Dieser den islamischen Vereinigungen bisher nicht verliehene besondere Status gewährt einer Religionsgemeinschaft - das muss man sagen zusätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür aber wäre, dass sich die Muslime eine Organisationsform gäben, die sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar machte, so wie dies die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden tun. Etliche der gestellten Fragen konnte die Bundesregierung aus rechtlichen Gründen nicht oder nur begrenzt beantworten. Sie hat die aus dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche folgende Pflicht des Staates zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität zu beachten. Diese Pflicht zur Neutralität verbietet es dem Staat, sich zu theologischen Fragen zu äußern. Das gilt umso mehr, wenn diese auch innerhalb der Religionsgemeinschaften nicht eindeutig geklärt oder sogar strittig sind. Dies gilt beispielsweise für die in den muslimischen Ländern sehr unterschiedlich beantwortete Frage zum Verhältnis von Staat und Religion. Die Bundesregierung hat deshalb die Fragen zur islamischen Lehre - das darf ich so formulieren - mit Zurückhaltung beantwortet. Diese erklärt sich nicht aus Desinteresse, sondern allein aus der Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität. Auch viele Fragen zur Religionszugehörigkeit oder Religionsausübung konnte die Bundesregierung aus rechtlichen, aber insbesondere aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht beantworten. Wer dies kritisiert, wie zum Beispiel die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in einem Bericht vom 28. Februar 2001, und behauptet, die immerhin über 90-seitige Antwort der Bundesregierung zeige vor allem, wie dürftig die Informationen über Leben und Alltag der Muslime seien, übersieht nach meiner Auffassung wesentliche Fakten. Es liegen keine Daten darüber vor, weil sich, wie bereits gesagt, die Muslime keinen Status und damit keine Auskunft über sich selbst geben. Es liegt und lag nicht am mangelnden Willen der Bundesregierung. Nach Art. 30 des Grundgesetzes liegt die Zuständigkeit für die Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei den Ländern. Lieber Herr Kollege Polenz, das darf nicht übersehen werden. Dies gilt für zahlreiche in der Großen Anfrage gestellte Fragen der Religionsausübung. Sie haben beispielsweise Fragen des Religionsunterrichtes in den Schulen und der Einrichtung von theologischen Lehrstühlen an Hochschulen angesprochen. Die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Eintragung religiöser Vereine in das Vereinsregister, das Friedhofswesen, die Seelsorge in Krankenhäusern und Strafanstalten, die Erteilung von Baugenehmigungen für religiöse Gebäude sowie die meisten kulturellen Angelegenheiten müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Dennoch hat die Bundesregierung nicht einfach auf die Zuständigkeiten der Länder verwiesen. Im Interesse der auch aus gesamtstaatlicher Sicht ungemein wichtigen Integration der Angehörigen des Islams hat sie sich um eine möglichst umfassende Beschreibung der Situation der Muslime in Deutschland bemüht und daher eine Umfrage bei den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden durchgeführt. Deren Ergebnisse wurden in die Antwort aufgenommen. Hierbei wurden auch Möglichkeiten der Eingliederung der Muslime und die noch ungeklärten Probleme deutlich gemacht. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch den Ländern und dem Deutschen Städtetag für die gute Zusammenarbeit bei der Beantwortung dieser Großen Anfrage danken. Für die islamischen Spitzenorganisationen ist die Frage des islamischen Religionsunterrichts besonders wichtig. Die Länder haben hierzu entsprechend den jeweiligen landeseigenen Gegebenheiten verschiedene Modelle entwickelt. In Übereinstimmung mit den christlichen Kirchen - auch das sollte gesagt werden - besteht parteiübergreifend Konsens, dass die Einführung eines regulären islamischen Religionsunterrichts durch den Staat an staatlichen Schulen sehr wünschenswert wäre. Das sollten wir auch gemeinsam miteinander umzusetzen versuchen. Eine Schwierigkeit liegt für die Länder jedoch darin, dass sie keine muslimische religiöse Gemeinschaft vorfinden, die auch mit der notwenigen Autorität nach innen mit ihnen über die Gestaltung des Religionsunterrichts verhandeln kann. Das erklärt sich wesentlich daraus, dass es im Islam grundsätzlich keine mitgliedschaftlich verfassten Organisationsstrukturen gibt. Klar ist jedoch, dass die Muslime die einzelnen Fragen ihrer Religionsausübung im Rahmen unseres föderalen Systems weiterhin mit den zuständigen Ländern und Kommunen werden verhandeln müssen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sieht vor allem in der Gestaltung der Rahmenbedingungen der Integration der Zuwanderer eine wichtige Aufgabe der Politik. Je mehr sich die Zuwanderer und ihre Nachkommen in die Gesellschaft integrieren, umso weniger wird schließlich ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion ein Problem darstellen. Das gilt auch für die muslimischen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Über die zahlreichen Einzelmaßnahmen hinaus ist allerdings ein umfassendes Konzept für die Integration der dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer erforderlich. Ich denke, dass gerade die Ergebnisse dessen, was uns in den nächsten Wochen vorliegen wird - auch im Hinblick auf die vom Bundesinnenminister eingesetzte Zuwanderungskommission -, hier erörtert und diskutiert werden müssen. Maßnahmen der Integration müssen allen Zuwanderern gleichmäßig zugänglich sein; sie dürfen und müssen jedoch auch die kulturellen und sozialen Besonderheiten der einzelnen Zielgruppen berücksichtigen. Das gilt besonders auch für die unerlässliche Sprachförderung. Insoweit ist beispielsweise zu bedenken, dass viele der in Deutschland lebenden türkischen Männer Frauen aus der Türkei heiraten, die ohne jegliche Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen. Dies wirkt sich leider auch auf ihre Kinder aus, die oft nur mit geringen Deutschkenntnissen in die Grundschulen kommen. Aber das Beherrschen der deutschen Sprache ist eine gute und notwendige Voraussetzung für eine gelungene Integration; deswegen muss dort auch ein Schwerpunkt liegen. Im Bereich der inneren Sicherheit gilt es, sich eingehend mit bestimmten Erscheinungsformen des Islams zu befassen. Die Antwort auf die Große Anfrage listet daher eine Reihe islamistischer Organisationen auf, die der Verfassungsschutz beobachtet. Ich möchte hier auch deutlich sagen, dass die Bundesregierung im Einzelfall sogar das Verbot besonders gefährlicher islamistischer Vereine erwägt, denn wir sind der Auffassung: Deutschland darf kein Tummelplatz für islamistische Extremisten werden. Es ist aber sehr darauf zu achten, meine Damen und Herren, dass der Islam als Religion in seinen vielen Facetten und unterschiedlichen kulturellen Traditionen keineswegs mit seiner ideologisch-extremistischen Instrumentalisierung durch einige islamistische Strömungen und Organisationen gleichgesetzt werden darf. Die Zahl der Mitglieder islamistischer Organisationen in Deutschland beläuft sich zurzeit auf circa 31 000 Muslime. Die Gefahren, die von dieser Minderheit ausgehen können, nehmen wir sehr ernst. Diese dürfen und sollten aber nicht dazu benutzt werden, Feindbilder aufzubauen. Allerdings sollte den muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch bewusst sein, dass ein Beitritt oder eine Unterstützung solcher Organisationen einem friedlichen Zusammenleben in dieser Gesellschaft nicht förderlich ist. Selbst die scheinbar harmlose Inanspruchnahme der verlockenden sozialen Aktivitäten solcher islamistischer Gruppen erschwert letztendlich die gewünschte Integration. Für den Dialog mit dem Islam gibt es auf Bundesebene leider bisher keinen inländisch organisierten Gesprächspartner mit der nötigen Autorität nach innen. Nach dem im Sommer 2000 erfolgten Austritt des Verbandes der Islamischen Kulturzentren aus dem Zentralrat der Muslime gibt es zurzeit fünf islamische Spitzenorganisationen, von denen allerdings keine für alle oder eine klar abgrenzbare Gruppe für die Muslime repräsentativ ist. Das ist in der Tat ein Problem. Zudem kann die Bundesregierung nicht mit Organisationen sprechen, die die Verfassungsschutzbehörden als islamistisch einstufen oder die von islamistischen Gruppierungen gesteuert werden. Sie kann auch nicht mit Organisationen verhandeln, die mit ausländischen staatlichen oder parteilichen Strukturen personell und organisatorisch eng verbunden sind. Wir wollen es mit Gesprächspartnern zu tun haben, die uns glaubwürdig dartun können, dass sie ihre Angelegenheiten und Probleme aus eigener Kraft in Deutschland, innerhalb unserer rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, regeln wollen. Eine vernünftige Eingliederung ist für eine friedliche, zivile Bürgergesellschaft unerlässlich. Dabei müssen die Menschen aufeinander zugehen. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass die Muslime - ebenso wie alle anderen Zuwanderer - die Sprache des Landes lernen, die Grundelemente der Verfassung annehmen und organisatorische Strukturen entwickeln, die es ermöglichen, gemeinsam berührende Fragen auf allen Ebenen im Dialog zu klären. In den Ländern gibt es dazu bereits Ansätze. Hier haben sich Muslime oft in Organisationen zusammengefunden, die die zu klärenden Fragen - also Fragen des islamischen Religionsunterrichtes, der muslimischen Bestattungen oder der Gefangenenseelsorge - konkret mit den zuständigen Behörden vor Ort verhandeln. Erinnert sei an den vor Ort stattfindenden christlich-islamischen Dialog; das ist bereits erwähnt worden. So können sich langsam vertrauensvolle Gesprächsbeziehungen entwickeln. Aufbauend auf diesen Erfahrungen können dann repräsentative und kooperative Spitzenorganisationen eingerichtet werden. Gegenseitiges Voneinanderlernen und gegenseitiges Voneinanderwissen bewahrt uns vor Vorurteilen und fördert somit die Toleranz im Miteinander. Bundestagspräsident Thierse hat in seiner kürzlich gehaltenen Rede „Islam und der Westen“ zu Recht auf ein Sprichwort griechischen und arabischen Ursprungs hingewiesen: „Der Mensch ist der Feind dessen, was er nicht kennt.“ Damit wir kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erfahren, muss in Bildung und Erziehung einiges mehr getan werden. Ich denke, dass wir diesen Dialog suchen müssen. Wir sind dazu bereit und bieten an, die Probleme gemeinsam anzugehen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat nun für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Edzard SchmidtJortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich bei diesem sehr grundsätzlichen Thema zunächst einmal den Blick auf uns selbst richte, auf das Eigenverständnis, das aus Fragen und Antworten spricht. In Deutschland und der deutschen Bevölkerung wird als Unterscheidungsmerkmal nicht auf Herkunftsländer oder Staatsangehörigkeit abgestellt, sondern auf eine Religionszugehörigkeit; so als würde Deutschland im Übrigen oder überhaupt von einer - eben von einer anderen Religionszuordnung bestimmt, und zwar natürlich, wie es auch allenthalben zwischen den Zeilen hervortritt, vom Christentum. Bei einer solchen Anfrage und einer solchen grundsätzlichen Diskussion sollten wir einmal innehalten und ein nüchternes kritisches Auge auf die Realitäten haben. Zweifellos ist Deutschland ein Land, das auf dem kulturgeschichtlichen Sockel des Christentums steht und sicherlich auch christlich geprägt ist. Das wird man nach wie vor sagen können. Aber schon bei der Formel „ein christliches Land“ melden sich manche Zweifel. Jedenfalls ist die Zahl der Mitglieder der christlichen Religionsgemeinschaften und namentlich der beiden großen christlichen Kirchen kontinuierlich zurückgegangen. Nun muss das allein noch nicht viel besagen; denn christliches Bekenntnis kann sich theoretisch auch außerhalb der offiziellen und traditionellen Gruppierungen entfalten und die Flucht aus der förmlichen Mitgliedschaft kann auch ganz profane Gründe haben wie den, von der Kirchensteuer befreit zu sein. Ein Austritt ist aber immer ein Beleg für innere Entfremdung bzw. mindestens für deren Anfang. Die generell wachsende Gleichgültigkeit gegenüber christlich-kirchlichen Belangen in der Gesellschaft lässt sich allenthalben feststellen. Dabei ist meines Erachtens die Suche nach transzendentalem Halt im Leben sicherlich nicht weniger wichtig für die Menschen auf dieser Welt geworden. Man mag sogar meinen, die Hektik, die mit der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung einhergeht, die Unermesslichkeit vieler moderner Problemstellungen oder schlicht die Vereinsamungstendenzen in der Massengesellschaft hätten die Orientierungsbedürftigkeit eher wachsen lassen. Aber offensichtlich erfüllen die christlichen Kirchen - das gilt nicht nur für sie, sonParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper dern für alle - die Bedürfnisse kaum noch so unangefochten, wie es früher einmal der Fall gewesen ist. Jedenfalls tummeln sich auf diesem Feld immer mehr so genannte Jugendreligionen, Meditationskulte und weltliche Heilslehren. Aber auch andere Religionen finden ihre Anhänger. Nach der deutschen Wiedervereinigung - ich erinnere mich noch sehr genau an den Zungenschlag der damaligen Kommentierungen - hat man gesagt, Deutschland sei nun evangelischer geworden; denn zahlenmäßig hatte die evangelische die römisch-katholische Kirche überflügelt. Aber die Größenordnungen sind relativ und die Zahl der Mitglieder dieser beiden Kirchen hat abgenommen. Real gesehen wurde Deutschland nicht evangelischer, sondern atheistischer. Den wenigen und überdurchschnittlich aktiven Christen aus der ehemaligen DDR stehen ungleich mehr unchristliche, ja, areligiöse Menschen gegenüber, die teils transzendental uninteressiert oder teils aktiv in weltlich-materialistischen Werteordnungen befangen sind. Dass nun gleichzeitig die Zahl der islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland aufgrund von Zuwanderung und generativer Verbreiterung enorm gestiegen ist, ist eine ergänzende Entwicklung. Auch sind gewiss etliche Bekehrungen bzw. Konvertierungen zum Islam zu verzeichnen. Jedenfalls sind die Muslime in Deutschland durchaus nicht mehr ethnisch homogen. Ihre Herkunft lässt sich nicht länger nur auf den Orient oder auf Nordafrika beschränken. Dass die islamischen Religionsgemeinschaften längst die größte nicht christliche Religionsgruppe in Deutschland ausmachen und zahlenmäßig eine beachtliche Größe erlangt haben, ist allenthalben bekannt. Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU von circa 3 Millionen Mitgliedern aus. Zum Verhältnis zum „Islam in Deutschland“, so lautet die Überschrift der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der Antwort der Bundesregierung, ist zunächst eindeutig festzustellen, dass ihm volle Toleranz zusteht. Deutschland ist nicht nur a limine ein laizistischer Staat, sondern auch ein religiös und weltanschaulich neutrales Gemeinwesen. „Es besteht keine Staatskirche“, steht in der Verfassung, wenn auch nur in den Fußnoten, weil es eine der übernommenen Formeln aus der Weimarer Zeit ist. Weiter heißt es: Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte - in Deutschland sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. In concreto hat der festgestellte Sachverhalt nun jedenfalls spezielle wie generelle Folgen. Auf diese will ich, wenn ich darf, noch kurz eingehen. Erstens. Ganz praktisch bedeutet die staatliche Pflicht zur unparteilichen Pflege und Ermöglichung geistlicher Entfaltung der Menschen etwa, dass islamische Religionsgemeinschaften den gleichen Rechtsstatus beanspruchen können, wie ihn die christlichen Kirchen haben, also den einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. ({0}) Auf die verwaltungsrechtlichen Schwierigkeiten, die das macht, wurde schon hingewiesen. Die deutsche Verwaltung muss aber wohl, da die Lebenssachverhalte in unserem Lande nun einmal so sind, wie sie sind, hier umdenken und manche ihrer überkommenen Vorstellungen von den Formvoraussetzungen überdenken. Denn diese Formvoraussetzungen, die wir bisher als selbstverständlich angesehen haben, können von den islamischen Gemeinschaften ihrer Identität nach so nicht erbracht werden. Vielleicht sollte man den Regelstatus einer öffentlichrechtlichen Körperschaft ohnehin durch eine eigenständige Verbandsrechtsform ersetzen. Das gäbe jedenfalls die Gelegenheit, öffentlich-rechtliche Körperschaft durch einen viel spezifischeren Status auszutauschen; denn öffentlich-rechtliche Körperschaft ist auch schon jetzt für Religionsgemeinschaften kein optimales Instrument. ({1}) Zweitens. Eine andere Konsequenz ist natürlich - auch darauf wurde schon vielfach hingewiesen, und hier gilt, wie ich finde, Ähnliches wie zu dem Punkt, den ich eben angeschnitten hatte -, dass auch die Muslime einen Schulreligionsunterricht verlangen dürfen. Auch hier freilich sind gegebenenfalls die vertrauten Strukturen, in denen der Staat diesen Unterricht mit einer betreffenden Religionsgemeinschaft vereinbart, vorhält und garantiert, zu modifizieren und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Jedenfalls ist es meines Erachtens nicht mehr zulässig, dieses Problem aus den alten Bunkern heraus anzugehen. Drittens. Generelle Folgerung aus der neuen Wirklichkeit in Deutschland schließlich ist, dass der Islam hierzulande deutlicher zur Kenntnis genommen werden muss, dass ihm gegenüber die noch immer vorhandene öffentliche Ignorierung und Ausgrenzung aufhören und dass ein Klima des gegenseitigen Interesses und des Dialogs - in geistlicher wie geistiger Auseinandersetzung natürlich, aber in Partnerschaft - beginnt. Die gemeinsamen Wurzeln lassen sich verdeutlichen. Vielleicht könnte gar eine „abrahamische Erörterung“ geführt werden. In verschiedenen Punkten kann gewiss auch fruchtbare Kooperation erfolgen. Hoffnungsvoll stimmt etwa - ich kann das jedenfalls ganz persönlich sagen - die Erfahrung, die im Rahmen der Europaratsbemühungen um biomedizinische Grenzsetzungen zu machen war. Hier stellte sich nämlich heraus, dass beispielsweise die monotheistischen Religionen mit ihren festen Vorstellungen vom göttlich bestimmten und mit unverwechselbarer Identität ausgestatteten Menschen sehr entschieden am gleichen Strang zogen. Quintessenz: Toleranz, Akzeptanz und Einbezug heißt also die Devise -und nicht mehr Indifferenz und Verdrängung. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir werden dem Islam in seinem gesamtgesellschaftlichen, zivilisatorischen Kontext nur dann gerecht, wenn wir begreifen, dass der Islam im Prinzip kein Problem mit Pluralismus hat, im Prinzip kein Problem mit Rationalismus und auch mit Wissenschaft hat. Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen, welche Rolle der Islam in der Vergangenheit spielte. Im maurischen Spanien beispielsweise ist das zustande gekommen, was wir heute Abendland, was wir heute westliche moderne Zivilisation nennen. Vieles von dem, was wir heute in unseren Schulen über die griechische Antike lehren und lernen, verdanken wir dem maurischen Spanien, dass nämlich vieles an Wissen nicht verloren gegangen ist, das sonst heute nicht mehr bestehen würde. Es ist der Islam, der häufig mit dem Islam, wie er uns heute entgegentritt, einem eher bäuerlich geprägten Volksislam, verwechselt wird. Man darf diesen Islam nicht mit dem Islam verwechseln, wie er uns in der Vergangenheit entgegentrat. Islamische Gesellschaften haben gerade in der zivilisatorisch bedeutsamen Blütezeit Platz für Menschen gehabt, die nicht Teil des Islams waren, die andersgläubig waren, die nicht praktizierten. Man kann nicht von einem streng islamisch-monolithischen Gesellschaftsaufbau sprechen. Wie sonst wäre erklärbar, dass in der Blütezeit des Islam jemand wie Hafis seine schönsten Gedichte geschrieben hat? Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal Gedichte von Hafis aus dem heutigen Iran gelesen hat. Sie sind sehr zu empfehlen. Die Gedichte von Hafis sind wahrscheinlich ohne den Einfluss von recht viel Rotwein gar nicht zu erklären. In diesen Kontext gehört auch die Geschichte von Nasreddin Hodja, die man sich vom Balkan bis an die Grenzen Westchinas erzählt. Diese Gedichte, die sehr viel Obrigkeitskritik enthalten, wären nicht ohne einen sehr liberalen Zeitgeist zu verstehen, der damals geherrscht haben muss. Ebenfalls sehr ans Herz legen möchte ich Ihnen die Bektaschiden-Witze oder Bektaschiden-Geschichten, die man in unserem Kulturkreis leider viel zu wenig kennt. Die in ihnen enthaltene Kritik an der religiösen Obrigkeit und der staatlichen Führung spricht für einen - im Vergleich zu dem, was damals in Europa vorgeherrscht hat - sehr liberalen Zeitgeist. Wenn wir hingegen von Fundamentalismus sprechen, dann dürfen wir diesen - darauf haben meine Vorredner eindrücklich hingewiesen - nicht mit dem gesamten Islam gleichsetzen. Der Versuch von frommen, orthodoxen Muslimen, einen uniformen Islam zu kreieren, muss zurückgewiesen werden. Dieser Versuch, den es in der Geschichte des Islam immer gab, wird der Breite des Islam nicht gerecht. Ich muss deshalb aber auch einen Teil dessen korrigieren, was meine Vorredner gesagt haben. Es war sicherlich sehr gut gemeint. Aber der Wunsch nach einer islamischen Dachorganisation, die analog zu den christlichen Amtskirchen aufgebaut ist, wird das Gegenteil dessen bewirken, was wir wollen. ({0}) Ich kann sehr gut verstehen, dass gerade die Landesregierungen den Wunsch verspüren, einen Ansprechpartner auf Landesebene zu bekommen, mit dem man den Religionsunterricht und viele andere praktische Probleme, die in einer Zivilgesellschaft geregelt werden müssen, regeln kann. Aber wir dürfen vom Islam nicht Dinge verlangen, die nicht Bestandteil des Islam sind. Das Bild des Christentums - das Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ - ist nicht 1:1 auf den Islam übertragbar. Eine vergleichbare, volkskirchenartige Struktur sollte deshalb vom Islam nicht verlangt werden. Die Konsequenz daraus wäre eher, dass die Gruppen sich durchsetzten, von deren Durchsetzung wir nicht unbedingt begeistert wären. Gerade weil das so ist, ist eine Quantifikation, wie viele Muslime in Deutschland und in Europa leben, sehr schwierig. Wer ist denn, bitte schön, Muslim? Welche Institution definiert, wer Muslim ist? Ich bin mit meiner Geburt Muslim geworden. Die Tatsache, dass meine Eltern Muslime sind, macht mich zum Muslim. Um Muslim zu sein, genügt bereits ein Satz: „Al-hamdu-li-llahi, Müslümanim“ - „Allah sei gepriesen, ich bin ein Muslim“. Das Verlassen des Islam ist nur durch Konversion oder Tod möglich; das muss beides nicht unbedingt sein. Daher rate ich dazu, bei der Diskussion zu berücksichtigen, dass wir es mit einer völlig anderen Struktur zu tun haben und dass die Strukturen des Islam im Hinblick auf Eintritt und Austritt nicht mit denen des Christentums vergleichbar sind. Insofern sollten wir den Anspruch aufgeben, das zu definieren. Wie schwierig das ist, erkennt man an einer Meldung der Nachrichtenagentur ddp von heute. Daran sieht man, dass auch die Journalisten sich damit sehr schwer tun. Da wird eine Abgeordnete genannt, und die Rede ist von der „einzigen bekennenden Muslimin“ im Deutschen Bundestag. Mir war bisher nicht bekannt, das wir eine Art Religionspolizei im Deutschen Bundestag oder wo auch immer in der deutschen Gesellschaft haben. Daran sehen Sie, wie schwer wir uns mit der Definition tun. Wir sollten islamistischen, orthodoxen Organisationen nicht erlauben, zu definieren, wer Muslim ist und wer kein Muslim ist. Wir sollten ihnen nicht erlauben, zu definieren, dass der Muslim eine bestimmte Religionspraxis haben muss, damit er als gläubiger Muslim gelten kann. Wir sollten aber gleichzeitig auch selber diesen Anspruch nicht erheben. Nur dann kommen wir der Aufgabe nach, die wir in der Demokratie zu leisten haben, nämlich dass wir diejenigen in der säkularen Gesellschaft schützen, die sich zwar Muslime nennen, deren religiöse Praxis sich aber diametral von der Praxis orthodoxer Muslime unterscheidet. In der Demokratie muss es also möglich sein, dass Menschen nicht bzw. anders praktizieren. Es muss möglich sein, dass einige Menschen den Ramadan einhalten, während dies andere nicht tun. Beides muss in der Demokratie erlaubt und möglich sein. Diesen Schutz zu gewährleisten ist unsere Aufgabe als Demokraten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eckart von Klaeden?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Özdemir, ich stimme dem, was Sie zuletzt gesagt haben, in allen Punkten zu. Zu der aufklärerischen Tradition, zu der auch Sie sich gerade bekannt haben, gehört gerade auch, dass der Staat keine religiösen Inhalte definieren soll. Wie schaffen wir es, einen Partner zu finden, mit dem der Staat Übereinkünfte zur Ausgestaltung des Religionsunterrichtes treffen kann? Da der Staat diese Aufgabe nicht übernehmen soll, wird es ja ohne einen Partner nicht gehen können.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frage ist völlig berechtigt. Man muss deshalb das Gespräch mit den unterschiedlichsten Organisationen suchen. Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist heterogen, so wie er auch weltweit heterogen ist. Es gibt Muslime aus unterschiedlichen Ländern, die unterschiedliche Sprachen sprechen - darauf hat Kollege Polenz bereits hingewiesen - und unterschiedlichen Konfessionen angehören. Innerhalb der jeweiligen Konfessionen gibt es unterschiedliche Rechtsschulen und Sekten. Dies ist übrigens ein Phänomen, mit dem wir es sehr häufig zu tun haben. Viele Phänomene, die uns ärgern, sind auf Sekten und nichts anderes zurückzuführen. Diese mit dem Islam gleichzusetzen wäre ungefähr genauso, als wenn Sie eine christliche Sekte mit dem Christentum gleichsetzten. Ich glaube, das sollten wir weder beim Christentum noch beim Islam machen. Sie haben es auch nicht getan. Es wird uns nicht erspart bleiben, dass wir das Gespräch mit vielen, nicht nur mit einer Organisation suchen. Insofern stimme ich mit dem überein, was alle hier gesagt haben. Auf der Basis der Werte unserer Verfassung, die von Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, von allen getragen werden kann, muss man sich mit unterschiedlichen Organisationen über die Frage des Religionsunterrichts unterhalten. Ich stimme auch hier mit dem Kollegen Polenz überein, dass dieser Religionsunterricht in deutscher Sprache von Lehrern, die bei uns ausgebildet wurden, durchgeführt werden muss. Selbstverständlich werden wir dabei die Erkenntnisse der al-Aksa-Moschee und der Theologischen Fakultät von Istanbul einbeziehen. Die Theologen werden aber hier in deutscher Sprache ausgebildet. Diese werden in Deutschland unter der Verantwortung des jeweiligen Kultusministeriums die Kinder im Vormittagsunterricht und nicht in der Weise eines Konsulatsmodells unterrichten. Ich glaube, so kommen wir auf den Weg, den wir alle gemeinsam gehen wollen. Warum ich in dieser Frage so insistiere, will ich an einem Beispiel deutlich machen. Mir scheint es, dass sich hier ein weit verbreiteter Irrtum eingeschlichen hat, dass nämlich Säkularismus und die Verteidigung des Laizismus mit einer autoritären Struktur gleichgesetzt wird. Als Beispiel dafür wird gerne die Türkei angeführt. Es waren nun gerade die Putschisten des 12. September 1980 in der Türkei, die dort den zwangsweisen muslimisch-sunnitischen Religionsunterricht eingeführt haben, zu Beginn übrigens auch für die Christen. Heute noch ist dieser Unterricht für alevitische Kinder verpflichtend. Sie müssen sich vorstellen, dass Sie in der Schule im Religionsunterricht lernen, dass die Religionsgemeinschaft, der Sie angehören, etwas Verwerfliches ist. Ich möchte verhindern, dass das auf deutschem Boden - egal, wer in welchem Land regiert - oder wo auch immer in Europa geschieht. ({0}) Wir haben eine Verantwortung für die Heterodoxen und für die Minderheiten im Islam, ob es die Bahai oder die Aleviten sind. Auch für deren Schutz sind wir gewählt. Deren Rechte müssen wir durchsetzen und verteidigen. Es kann in der Demokratie keinen Alleinvertretungsanspruch geben. Keiner der so genannten Dachverbände kann den Anspruch erheben, dass er allein für alle Muslime in der Bundesrepublik Deutschland spricht. Genauso wenig wie die katholische Kirche den Anspruch erheben kann, dass sie auch für die Protestanten spricht, kann es die protestantische Kirche für andere. Dieses gilt übertragen auch für den Islam. Ich möchte das zusammenfassen, was ich gesagt habe: Es muss ein Dialog mit allen Organisationen auf der Basis des Grundgesetzes stattfinden, Alleinvertretungsansprüche müssen zurückgewiesen werden. Das Recht, ein Bild zu definieren, wie der Muslime zu sein hat, hat niemand. Ein solches gilt es ebenso zurückzuweisen. Die islamische Theologie gewährt niemandem eine Definitionsgewalt. Das Kalifat gibt es nicht mehr; auch wir werden es nicht einführen. Deshalb hat niemand das Recht, zu sagen, dieser sei ein guter Muslim und diese sei eine schlechte Muslima. Unsere Demokratie muss dafür Sorge tragen, dass die Menschen, die bei uns leben, unabhängig von ihrer Herkunft - es gibt zunehmend auch deutsche Muslime, Menschen, die hier geboren sind und muslimischen Glaubens sind - bei uns geschützt sind. Ich will verhindern, dass folgende Situation in der Bundesrepublik Deutschland Realität wird: In der Türkei gibt es Gebiete, wo der religiöse Druck besonders groß ist, weil die Orthodoxen in der Mehrheit sind. Dort stehen Menschen - vor allem beispielsweise Aleviten - im Fastenmonat morgens auf und schalten das Licht ein, damit es so aussieht, dass sie sich an die im Fastenmonat geltenden Regeln halten. Die Nachbarn sollen nicht den Eindruck haben, sie seien schlechte Muslime oder sie würden den Islam nicht praktizieren. Diese Situation wird Gott sei Dank auch in der Türkei kritisiert. Ich möchte verhindern, dass diese Situation in Deutschland eintritt, dass nämlich in bestimmten Quartieren Menschen der Meinung sind, dass sie nur dann als gute Muslime von ihrer Nachbarschaft akzeptiert werden, wenn sie eine bestimmte Praxis des Islam beachten. Es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern. ({1}) Ich glaube, dass diese Gesellschaft eine Chance hat, einen Dialog in Gang zu setzen. Dazu sind wir alle aufgerufen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den katholischen Theologen Küng, der mit seinem Weltethosprojekt - das ist meines Erachtens ein sehr wichtiges Projekt, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde - einen Gesprächsprozess in Gang gebracht hat. Dieses Projekt wird von vielen Theologen, auch von islamischen Theologen, unterstützt. Es ist gut, dass gerade in Deutschland dieser Dialog geführt wird. Darin liegt eine große Chance. Wir dürfen allerdings nicht den Fehler machen, den Eindruck zu erwecken, uns würde es darum gehen, eine Art deutschen Islam zu schaffen. Dieses ist theologisch nicht haltbar. Der Staat hat nicht das Recht und auch nicht die Aufgabe, zu definieren, welches die richtige und welches die falsche Religion ist. Wir müssen den Muslimen hier die Chance geben, eine eigene Glaubenspraxis zu entwickeln. Das Gespräch zwischen Juden, Muslimen, Christen, Atheisten und Andersgläubigen in der Bundesrepublik Deutschland kann eine Chance sein, den weltweiten Dialog der Weltregionen zu fördern, wenn es darum geht, die Schöpfung zu bewahren und sich für den Weltfrieden sowie für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Angesichts der Versäumnisse in der Vergangenheit und der Aufgaben in Gegenwart und Zukunft haben die großen Buchreligionen eine gemeinsame Verantwortung, sich stärker für den Dialog einzusetzen und sich dem Druck der Politik, die in vielen Ländern versucht, die Religion für ihre Zwecke zu missbrauchen, entgegenzusetzen. Es liegt mir sehr viel daran festzustellen: Das Zusammenleben von Muslimen, Christen, Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften, aber auch Konfessionslosen kann nicht auf der Grundlage einer virtuellen abendländischen Identität aufgebaut werden. Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen, wie sich diese abendländische Identität aus unterschiedlichsten Quellen gespeist hat und wahrscheinlich auch in Zukunft speisen wird. Wenn wir versuchen, die europäische oder auch die deutsche Identität quasi als Erbengemeinschaft von Karl Martell oder Prinz Eugen zu konstituieren, dann grenzen wir damit Menschen aus, die muslimischen, jüdischen oder anderen Glaubens sind. Darum sollte man diesen Versuch zurückweisen. Die Sicherung des christlichen Abendlandes gegen den Islam gehört der Vergangenheit an; darum geht es heute nicht mehr. Siege über Mauren und Türken dürfen nicht das moderne Bild einer kulturell vielfältigen Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland längst haben, prägen. Wer so denkt, verhält sich etwa so wie die nordirischen Protestanten, die noch heute in provozierenden Umzügen die Siege Wilhelm von Oraniens gegen die Katholiken feiern. Das konstituierende Element Europas ist gerade der Gedanke der Vielfalt. Deshalb gilt: All diejenigen, die sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen, sind in diesem Land willkommen. Wenn sie hier leben, dann sind sie Teil unserer Gesellschaft, egal, welchen Glaubens sie sind. Deshalb ist der Islam Bestandteil Europas genauso wie der Bundesrepublik Deutschland. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Dr. Heinrich Fink für die PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit der vorliegenden Drucksache 14/4530 ist mehr als nur eine Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion geleistet worden. Damit sind erstmalig wichtige Informationen zusammengestellt und zugänglich gemacht worden, die bisher im Bedarfsfall nur unzulänglich und dank aufwendiger Recherchen erlangt werden konnten. Leider kann ich in der kurzen Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, nicht auf die großen Leistungen eingehen, sondern nur meinen Respekt erweisen. Der durch die Anfrage bedingte Frage-Antwort-Stil des vorliegenden Textes ist eine begrüßenswerte Leseerleichterung und Informationsquelle, nicht nur für Interessierte. Die nun vorliegenden Antworten beanspruchen nicht - das ist ausdrücklich betont und das finde ich sehr wohltuend -, eine abschließende Information zu sein. Sie werfen jeweils neue Fragen auf, die dringend weiterer Antworten bedürfen. Sie sind eine wichtige Voraussetzung für einen Dialog zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, wobei Positionen der beiden Kirchen bzw. der christlichen Religionsgemeinschaften einen speziellen religiösen Dialog im kulturellen Dialog darstellen. Dankenswerterweise ist darüber eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland erschienen mit dem Titel: „Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland“. In dieser Handreichung wird behandelt, was in der Drucksache fehlt, nämlich die theologischen Differenzen. Ich finde es sehr gut, dass die Drucksache darauf nicht eingeht; denn das wäre - der Kollege Özdemir hat eben versucht uns das zu erklären - eine Einmischung in innerreligiöse Angelegenheiten. Auf Seite 3 der Drucksache wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Islam kein monolithischer Block sei und dass die sprachliche Vereinfachung leider immer wieder zu einer inhaltlichen Verkürzung führe. Es wird ausdrücklich erwähnt, dass, wenn schon innerhalb eines muslimischen Landes Unterschiede konfessioneller Art zu Spannungen und Konflikten führen, die kulturell unterschiedlichen islamischen Traditionen, zum Beispiel von Menschen aus der Türkei, aus Bosnien, aus dem Libanon oder aus Afghanistan, bei uns in Deutschland zu oft als unlösbare Widersprüche verstanden werden. Gerade diese Verständigungsschwierigkeiten werden in den Antworten leider nicht berücksichtigt. Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder, die mit diesen konfessionell wie kulturell extrem unterschiedlichen ErfahrunCem Özdemir gen und Prägungen ihrer Religion in Deutschland einer fremden, säkularisierten Kultur begegnen, haben kaum eine Chance, abendländisch-religiöses, also christliches Leben in Kirchen und Gemeindezentren zu erleben. Dieses Leben bleibt für sie unsichtbar und daher fremd. Ich gehe gleich auf eine positive Situation ein. Tendenzen zu Parallelgesellschaft und Gettobildung müssen daher keineswegs schon eine Kritik an den Strukturen unseres demokratischen Rechtsstaates sein; vielmehr sind sie möglicherweise nur ein Schutz vor der totalen Irritation in einer Gesellschaft, zu deren demokratischen Errungenschaften die für Moslems unverständliche Trennung von Staat und Religion gehört. Wo können Moslems die Kultur des Abendlandes lernen? Wo können Deutsche Religion und Kultur des Islams lernen? Ich möchte mit Erich Fried fragen, wo sie „lernen wollen lernen“ können. Gerade Begegnungsangebote von Kirchengemeinden zu gemeinsamen Festen, vielleicht sogar jeweils im Wechsel von Kirche und Moschee, sind für viele Muslime und für viele Christen sehr hilfreich. In Städten, in denen es jüdische Gemeinden gibt, ist der Trialog ein besonderer Gewinn. Nicht selten kommt es bei diesen Begegnungen zu dem Aha-Erlebnis, dass sich alle drei auf den gleichen Stammvater - auf Abraham - berufen. Allein das Bewusstsein des gemeinsamen Vaters sollte uns toleranter werden lassen und uns dazu bewegen, dass wir uns nicht weiterhin als Stiefgeschwister begegnen. Es stellt sich die Frage, ob im alltäglichen Miteinander, etwa am Arbeitsplatz, Menschen muslimischen Glaubens überhaupt ausreichend Informationen über die abendländisch-europäische Kultur erhalten. Wie können sich in dieser Kultur Menschen öffnen, ohne sich selber in irgendeiner Weise am Ende aufzugeben und ohne ihre eigene kulturelle Identität zu verlieren? Es darf nicht zu einer Assimilation kommen, wie wir es in der jüdischen Tradition des 19. Jahrhunderts leider erlebt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir uns schon einmal klar gemacht, was in muslimischen Familien vorgeht, wenn lieb gewordene, verbindliche Traditionen, die sogar ein Gesetz für sie sind, von der jungen Generation abgelehnt werden? Es ist doch nicht nur das Tragen des Kopftuches, sondern es ist zum Beispiel die Tradition der Autorität des Vaters. Mir erzählte neulich ein Großvater, er habe es als Demütigung empfunden, dass er vor einer deutschen Behörde sich von seiner zehnjährigen Enkelin dolmetschen lassen musste, was ich gar nicht schlimm fand, was aber in seiner Tradition eine Demütigung ist. Für uns muss es Integration heißen. Es heißt Erfahrungsaustausch im Bereich gesellschaftlicher und rechtlicher Akzeptanz. Ich halte es für gefährlich, dass neben Isolierung als Folge negativer Erfahrungen wie Ausgrenzung und Angst gleich von Rückzug in extremistische Gegenpositionen die Rede ist. Fundamentalismus ist nicht bedeutungsgleich mit Terrorismus. Unsere Gesellschaft hat keine lebendige Dialogerfahrung aufzuweisen. Deswegen erscheint es mir dringend notwendig, für einen Verständigung schaffenden Dialog zwischen Deutschen und Muslimen nachhaltig einzutreten und ihn zu organisieren. ({0}) Wir müssen, auch ernsthaft finanziell gestützt, gerade für junge Menschen räumliche Begegnungsmöglichkeiten schaffen, die möglicherweise dann zum Dialog über Inhalte führen, zu gemeinsamer außerschulischer Betätigung wie Sport, Musik, Spiel. Hier möchte ich ganz besonders den Lehrern danken, die in ihren Klassen muslimische Kinder betreuen. Die Lehrer sind für viele muslimische Kinder die intensivsten Ansprechpersonen und haben wesentlich zur Integration und Einführung in unsere säkulare Gesellschaft beigetragen. Nicht schon das Grundgesetz als solches bietet die Grundlage dafür, sondern erst der demokratisch gewährte Lebensraum schafft die Voraussetzung für Erfahrung von Integration. Das zum Slogan gewordene Diktum von Max Frisch: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es sind Menschen gekommen“ verdeutlicht das Problem. Nicht allein die sozialen und marktpolitischen Probleme der Flüchtlinge und abendländischen Arbeitskräfte müssen gelöst werden. Auch die kulturellen Prägungen, die uns bis dahin fremd waren, müssen vertieft und wahrgenommen werden, und zwar von uns, um in ihrer Bedeutung überhaupt erst einmal für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen begriffen zu werden. ({1}) Dazu gehört der Islam als eine neue Herausforderung in unserer Gesellschaft, der wir uns stellen müssen. Mir liegt ausdrücklich daran - ich wiederhole, was Kollegen schon gesagt haben -, mich bei den Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die uns mit diesem „Kompendium zum Islam in Deutschland“ dazu verhelfen wollen, den Islam und damit auch unsere durch den Islam veränderte Kultur besser zu verstehen. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Das Thema „Islam in Deutschland“ finde ich schon deshalb passend für eine Diskussion zu jetziger Zeit, weil sich alle Parteien mit den Fragen einer Zuwanderungs- und Integrationskonzeption beschäftigen. Genau in diesen Rahmen gehört auch dieses wichtige Thema. Ich bin auch froh, wenn ich das hier ergänzend noch sagen darf, dass sich in dieser Diskussion ein Konsens anzudeuten scheint. Ich würde mich freuen, wenn beim Konsens über ein Zuwanderungs- und Integrationskonzept der Blick nicht nur in Richtung ökonomische und demographische Notwendigkeiten geht, sondern wenn in diesen Konsens auch die humanitären Aspekte voll einbezogen würden. ({0}) Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Integrationsdebatte wird häufig - vielleicht führt unsere Debatte dazu, dass sich das ändert - über rechtliche, soziale, ökonomische und andere Fragen diskutiert. Das ist selbstverständlich richtig. Aber ich glaube, wir müssen in dieser Integrationsdebatte viel stärker Fragen der Kultur und der Religion, Fragen der kulturellen Identität etc. aufnehmen. Sie sind wichtig, gerade in einer Zeit, in der - das betrifft die Mehrheitsgesellschaft wie die Minderheitsgesellschaften - die Angst vor Identitätsverlust gestiegen ist. Durch einen Zuwanderungsprozess könnte diese Angst sogar noch gesteigert werden. Deshalb finde ich es so wichtig, dass wir uns mit solchen Themen, die die kulturelle und religiöse Identität von Menschen betreffen, beschäftigen. Ich möchte die Harmonie, die bei diesem Thema ausgebrochen ist, nicht stören. ({1}) Aber ich habe mich beim Lesen dieser Anfrage doch manchmal gefragt: Wo soll das Ganze eigentlich politisch hinführen? Was ist das Erkenntnisinteresse dieser Großen Anfrage? Ich gestehe, dass ich mir meine eigene Frage nicht so richtig beantworten konnte. Ich möchte erst einmal denen ein großes Dankeschön aussprechen, die diese 93 Seiten, die fast Lehrbuchcharakter haben, hier vorgelegt haben. Ich weiß aber auch, dass manche Fragen bereits behandelt worden sind. Zum Beispiel zu Fragen bezüglich Islamisten und Fundamentalisten gibt es den Bericht des Verfassungsschutzes, in dem viele Informationen enthalten sind. Es gibt auch die Broschüren, die wir von der Ausländerbeauftragten bekommen haben: „Muslime in Deutschland“. Es gibt eine Menge zu diesem Thema. Trotzdem finde ich die Debatte sinnvoll, weil wir die Informationen hier komprimieren. Aber ich wollte bei dieser Gelegenheit auch auf jene Broschüren hinweisen, um zu zeigen, dass das nichts Neues ist. Ich will, wie ich zu Beginn gesagt habe, das Thema in einen Zusammenhang mit Integrationsprozessen bringen. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass man nicht von dem Islam und den Muslimen sprechen kann. Das ist nicht nur abstrakt und akademisch wichtig, sondern dabei geht es auch um das Veränderungspotenzial, das in der Religion und in der Kultur generell liegt. Kultur und Religion sind keine homogenen Blöcke. Sie sind veränderbar und sie verändern selbst. Sie werden geprägt vom gesellschaftlichen Umfeld und sie prägen auch das gesellschaftliche Umfeld. Ich möchte daran erinnern, dass es zurzeit in Deutschland eine Diskussion über einen europäischen Islam gibt. Ich weiß, dass diese Diskussion und selbst dieser Begriff sehr umstritten sind. Aber ich bekenne mich dazu: Ich möchte einen Islam, der in der europäischen Gesellschaft verwurzelt ist; denn wir reden über Islam in Deutschland und nicht über Islam in Algerien oder sonst wo. Ich möchte gern einen Islam haben, der in dieser Gesellschaft, in der er von den Menschen, die hier leben, praktiziert wird, verankert ist. Dass der Islam eine große Weltreligion und in Deutschland die drittgrößte Glaubensgemeinschaft ist, ist bekannt. Aber auch ich möchte, wie Herr Polenz, die Frage stellen: Wie sieht eigentlich das Islambild in Deutschland aus? Sicher auch so vielfältig, wie die Richtungen sind. Aber manchmal, auch bei der Lektüre der Zeitungen, die darüber berichten, was in einigen islamischen Ländern geschieht, habe ich das Gefühl, dass die schlimmen Geschehnisse, von denen wir erfahren, mit dem Islam gleichgesetzt werden, dass viele, auch in Deutschland, Islam und Fundamentalismus faktisch als Einheit verstehen und dass der Islam nach dem Ende des Kommunismus in der öffentlichen Debatte als neues Feindbild aufgebaut wurde. Es gibt übrigens auch differenziertere Formen im Umgang mit dem Islam. Es wird zwar toleriert, aber nicht akzeptiert. In diesem Zusammenhang möchte ich an ein Begriffspaar erinnern. Wir benutzen zu Recht - im positivsten Sinne des Wortes - immer den Begriff der Toleranz. Aber ich hatte folgendes Erlebnis. Als ich einmal bei einer Veranstaltung das Hohelied der Toleranz gesungen habe, sagte mir ein Mensch arabischer Herkunft: Herr Barthel, ich möchte von Ihnen nicht toleriert werden, sondern ich möchte von Ihnen respektiert und akzeptiert werden. Denn bei dem Begriff der Toleranz klingt mit: Eigentlich mögen wir das nicht, aber wir lassen es zu. Ich finde, dass wir im Zusammenhang mit dem Islam bei uns nicht nur von Toleranz sprechen dürfen, sondern dass der Islam in dieser Gesellschaft als gleichwertig akzeptiert werden muss. ({2}) Es gibt aber - das möchte ich sehr positiv sagen - inzwischen ein ungestörteres Bild vom Islam, vielleicht gerade durch den Dialog, der durch Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit entstanden ist. Aber bei aller Achtung des Islam und der Muslime möchte ich hier durchaus noch erwähnen: Es gibt auch das Gegenteil davon. Denken Sie bitte daran, dass auch in Deutschland Moscheen angegriffen und zerstört wurden. Vergleichsweise ist darüber wenig berichtet worden und die Verurteilung war auch viel geringer, aber das ist nun wirklich ein manifester Angriff sowohl auf Muslime als auch auf den Glauben, übrigens auch auf den Dialog zwischen den Menschen aus verschiedenen Kulturen. Was mich bei diesem Fragenkatalog verwundert hat, war folgende Frage: Unter der Überschrift „Islam in Deutschland“ ist die Frage nach der Situation der Christen in islamischen Staaten gestellt worden. Ich will jetzt kein Missverständnis aufkommen lassen. Ich halte das für eine ganz wichtige Frage. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir darüber hier auch schon einmal gesprochen. Mir ist auch bekannt, wie schlimm in manchen arabischen Ländern die Situation von Christen oder Angehörigen anderer Religionen, die nicht islamisch sind, ist, etwa in der Frage der Diskriminierung usw. Ich halte es für vollkommen richtig, diese Frage zu behandeln. Das wäre vielleicht auch ein Auftrag an die deutsche Außenpolitik. Eckhardt Barthel ({3}) Doch im Zusammenhang mit dem „Islam in Deutschland“ diese Frage zu stellen - ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sollen damit Rückschlüsse auf Deutschland gezogen werden, eine Art Rückkopplung? Das hielte ich natürlich für äußerst bedenklich. Wenn wir Berichte aus Afghanistan oder Algerien hören, stellen sich Verbindungen zum Islam und zu Muslimen her. Vielleicht wird denen dann - gar nicht bewusst - eine Verantwortung zugeschrieben. Das wäre meines Erachtens etwas ganz Schlimmes. Ich bin auch sicher, dass Sie das nicht gemeint und nicht diese Absicht verfolgt haben. Doch ich will vor diesen Verbindungen, die da hergestellt werden könnten, warnen. Es ist beim Islambild noch weit verbreitet, diese Verbindung zwischen einigen islamischen Staaten, dem Islam generell und den Menschen, die hier leben, herzustellen. Selbstverständlich gibt es in Deutschland Islamisten. Die Antwort der Bundesregierung hat das ja gerade deutlich gemacht. Es gibt Fundamentalisten und Islamisten, also Menschen, die die Religion für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren und am liebsten weltweit einen Gottesstaat etablieren würden, die mit einem Absolutheitsanspruch auftreten, den sie religiös begründen und der eigentlich nichts von dem zulässt, was in unserer Verfassung an Werten niedergeschrieben ist. Es ist klar, dass Organisationen dieser Art nicht der Religionsfreiheit unterliegen, sondern in die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes fallen. Allerdings sollte man hier - ohne ein Wort davon zurückzunehmen - doch einen Blick auf die Realität werfen. Es ist gut, dass das in der Antwort auch mit genannt ist. Von den etwa 3 Millionen sind dies 30 000. Das ist etwa 1 Prozent aller Muslime, die in Deutschland leben. Aber, meine Damen und Herren, das sind immerhin noch 30 000 zu viel. Das ist sicherlich nicht die Frage; bloß soll es in der richtigen Relation dargestellt werden. Die Anerkennung des Islams auch im Integrationsprozess ist deshalb so wichtig, weil die Alternative dazu führen könnte, dass sich die Menschen in Selbstisolierung oder Selbstethnisierung begeben und dann die besten Integrationsbemühungen vergebens wären. Es muss deutlich werden, dass Muslime in diesem Land Teil dieser Gesellschaft sind, und umgekehrt übrigens auch, dass sie sich selbst als Teil dieser Gesellschaft verstehen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort bewusst das neue Staatsbürgerschaftsrecht mit aufgeführt. Da kann man sich erst einmal wundern, ob das dazugehört. Ich glaube jedoch, es ist richtig, dass dieses Staatsbürgerschaftsrecht mit dabei ist, weil es auch signalisiert: Du gehörst dazu, unabhängig vom Glauben. Es gibt ja so eine Aussage, so eine Art Gratulation. Wenn jemand eingebürgert wurde, dann sagt man nicht: Ich gratuliere zur Einbürgerung. Es gibt vielmehr den Spruch - natürlich, wie sich das gehört, in Englisch -: Welcome to the club. Ich finde, das ist genau die Sache, um die es hier geht. Das ist eine richtige Formulierung. Insofern ist die Frage der Einbürgerung eine wichtige Frage: Wer gehört dazu? Da kann es nicht nach der religiösen Herkunft gehen. Meine Damen und Herren, es ist notwendig, dass dieses Thema im Religionsunterricht und in Religionskunde mit behandelt wird. Es ist richtig, wir benötigen Kenntnisse der Religionen, zumindest der Religionen, die von Menschen in unserem Lande praktiziert werden. Ich will es einmal so sagen: Ich halte es für wichtig, dass Kinder christlichen Glaubens wissen, was das Zuckerfest bedeutet, und dass Kinder muslimischen Glaubens wissen, was Ostern bedeutet. Die Kenntnis der Alltagskultur meines Nachbarn führt dazu, dass ich für ihn Verständnis entwickeln und mit ihm umgehen kann. Auf diese Art und Weise ist - auch das ist ein Ziel der Integrationspolitik vor Ort ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft möglich. ({4}) Die Koranschulen sind erwähnt worden. Ich kenne hier in Berlin eine Menge Koranschulen und kann nur sagen, dass diese den Menschen und dem Glauben gegenüber unwürdig sind. Was dort teilweise gepredigt oder gelehrt wird, das ist sicher nicht das, was wir uns in einem demokratischen Land unter dem Islam vorstellen. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche: Ich habe mir ein paar Mal Predigten, die im Offenen Kanal gesendet wurden, übersetzen lassen. Wenn man das hört, gehen einem - ich darf das einmal so locker sagen - die Schnürsenkel auf. Deswegen geht es hierbei genauso wie beim Religionsunterricht darum, Alternativen zu schaffen. Es gibt viele - auch liberale - Eltern, die möchten, dass ihre Kinder religiös erzogen werden. Wenn sie keine Alternative haben, dann schicken sie ihre Kinder in die Koranschule. Deswegen ist es unsere Aufgabe, eine Alternative anzubieten. Ich weiß, wie schwer das ist: Ich habe an manchem runden Tisch gesessen, an dem Vertreter verschiedener religiöser Richtungen - von sehr gläubigen Schiiten bis hin zu liberalen Aleviten - zusammensaßen. Man versuchte dort, sich auf eine Trägerschaft für den Religionsunterricht zu einigen. Das ist jedes Mal gescheitert. Ich bin nicht sehr optimistisch, dass man sich in Zukunft einigen wird. Es ist richtig geantwortet worden: Das Problem ist, dass wir bei der Lösung von solchen Kompetenzfragen keinen Ansprechpartner haben. Der Islam hat, um das einmal kurz zusammenzufassen, keinen Vatikan. Das ist das Problem beim Angebot von Religionsunterricht in den Schulen. Das Gleiche betrifft meines Erachtens die Religionslehrer. Es kann nicht gut gehen, wenn Kinder von Lehrern unterrichtet werden, die weder die Landessprache noch das gesellschaftliche Umfeld, noch die möglichen Konflikte von Kindern kennen, die sich auf der einen Seite in einer liberalen Schule befinden und möglicherweise auf der anderen Seite in einem streng religiösen Elternhaus leben. Das bewirkt Konflikte, die die Kinder austragen müssen. Das müsste von jemandem, zum Beispiel von einem Religionslehrer, aufgefangen werden, der in dieser Gesellschaft zu Hause ist und die Sprache der Kinder spricht. Deswegen ist es notwendig, dass wir derartige Lehrer bekommen. Eckhardt Barthel ({5}) Mich hat es betroffen gemacht, als ich in der Antwort auf die Große Anfrage las, dass es in Deutschland keinen Lehrstuhl für Islamische Theologie und keine Studiengänge für islamischen Religionsunterricht gibt. Herr Körper, Sie haben auf die Kompetenzfrage hingewiesen. Das ist, so glaube ich, an dieser Stelle nicht entscheidend. Denn das ist die Beschreibung eines Mangels, der meines Erachtens zwingend behoben werden muss. ({6}) Meine Damen und Herren, in dieser Großen Anfrage wurden auch ein paar Reizpunkte genannt, vor denen man sich gerne drückt. Auch wir haben uns heute davor gedrückt. Ich nenne einmal zwei dieser Punkte - sie sind als Frage formuliert und dann auch beantwortet worden -: Das ist die berühmte Frage nach dem Kopftuch und die Frage nach dem Schächten. Dies sind zwei Themen, mit denen jedenfalls ich, wenn ich in der Öffentlichkeit über den Islam spreche, permanent konfrontiert werde. Insofern unterscheidet sich die Diskussion, die ich vor Ort führen muss, von der, die wir hier führen; das ist verständlich. Aber das sind Themen, zu denen man etwas sagen muss. Ich möchte zu beiden noch ein paar Sätze sagen: Ich glaube, wir sollten die Kopftuchfrage auf kleinerer Flamme kochen und nicht so viel in diese Frage hineininterpretieren. Ich weiß, das Kopftuch kann Ausdruck eines fundamentalistischen Glaubens sein. Aber ich weiß auch, dass es bei vielen Frauen Ausdruck eines modischen Schmuckes ist. Die Palette der Motive ist sehr breit. Ich weiß, dass dem nicht alle zustimmen. Aber gerade bei jungen Frauen ist diese Bandbreite durchaus zu sehen. Ich würde mich freuen, wenn wir damit in dem Bereich, in dem die Neutralitätspflicht und die negative Bekenntnisfreiheit nicht betroffen sind, etwas pragmatischer umgehen würden. Ich möchte gern einmal ein Beispiel aus Holland dafür bringen, wie man das macht. Die Holländer zeigen uns in vielen Bereichen, wie man damit umgeht. Es gibt dort eine Lebensmittelkette, in der drei Kolleginnen ein Kopftuch tragen wollten. Darüber gab es eine lange Diskussion. Man hat sich zu folgendem Ergebnis durchgerungen: Die Kolleginnen trugen alle die gleiche Schürze. Diese Schürze hat man für alle um ein Tuch ergänzt. Einige trugen es um den Hals und die anderen um den Kopf. Von dem Moment an stellte das Tragen des Kopftuches in dieser Kette kein Problem mehr dar. ({7}) Man kann also mit diesem Thema sehr pragmatisch umgehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Barthel, ich muss jetzt ganz pragmatisch mit der Zeit umgehen. Sie sind bereits ein Stück über Ihre Redezeit hinaus.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe es befürchtet, deswegen ein Schlusssatz: Der Dialog der Religionen, den Sie auch in Ihrer Frage ansprachen, existiert. Das ist ja das Schöne. Wenn unsere Debatte, die wir heute führen, dazu beigetragen hat, die Dialogbereitschaft zwischen den Religionen zu fördern, war es eine gute Debatte. Ich bedanke mich. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Barthel, ich glaube, so einfach, wie Sie es sich zum Schluss gemacht haben, kann man es sich mit dem Kopftuch nicht machen. Das brauchen wir aber auch nicht zu vertiefen. Ich kann auch Ihre Interpretation von Toleranz überhaupt nicht akzeptieren, weil ich glaube, dass das ein sehr ernst zu nehmender und hier nicht umzudeutender Begriff ist, ohne den wir eigentlich überhaupt nicht zusammenleben könnten, zumindest nicht friedlich. Deswegen sollten wir uns auf diesen Begriff verständigen. Es reizt mich auch, zu sagen: Natürlich kann man über die Auswahl der Fragen, die wir gestellt haben, unterschiedlicher Auffassung sein. Aber diese Fragen sind - und darauf hat Herr Polenz zu Beginn hingewiesen - Ergebnis von Gesprächen und einer Anhörung, die dokumentiert ist. Im Zweifelsfall können Sie nachlesen, wie diese Fragen zustande gekommen sind. Ich stimme ausdrücklich all dem, was hier vorher gesagt worden ist, zu, auch Ihnen, Herr Özdemir. Ich finde es ausgesprochen gut, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass der Islam kein Problem mit Pluralismus, Rationalismus und Wissenschaft hat! Aber außerhalb dieses Hauses ist auch das viel zu wenig bekannt. Deswegen ist ein wesentlicher Punkt und eine wesentliche Begründung dafür, dass wir diese Große Anfrage gestellt haben und heute über die Antwort sprechen, die Tatsache, dass wir viel mehr dafür tun müssen, dass die Menschen den Islam und das, was damit verbunden ist, kennen lernen. ({0}) Ausgangspunkt ist die Feststellung gewesen - auch darauf hat Herr Polenz hingewiesen -, dass wir in Deutschland Probleme haben. Ich denke, hier ist der richtige Ort, sie zu benennen, darauf hinzuweisen und uns nicht darum herumzumogeln. Es gibt diese Probleme in den Wohngegenden, in den Schulen, in den Kindergärten, also eigentlich in allen Alltagsbereichen. Wir müssen uns auch damit befassen, warum das so ist und was wir dagegen tun können, damit die Angst abgebaut wird, von der hier auch schon mehrfach die Rede gewesen ist. Es gibt eben Angst. „Angst ist ein schlechter Ratgeber“, sagt ein altes Sprichwort. Angst haben die Menschen vor Dingen, die sie nicht kennen. Die MögEckhardt Barthel ({1}) lichkeiten, die wir Menschen haben, mit Angst umzugehen und sie abzubauen, sind vielfältig. Uns stehen viele Möglichkeiten offen, uns mit Unbekanntem auseinander zu setzen und es kennen zu lernen. Wie eben schon erwähnt, haben die christlichen Kirchen ständig Kontakt mit den Muslimen und den sie vertretenden Organisationen. Es gibt eine hervorragende Handreichung der EKD mit dem Titel „Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland“, die ich allen nur wirklich ans Herz legen kann und die viele ganz konkrete Handlungsanweisungen und auch Aufklärung enthält. ({2}) Ich hoffe, dass unsere Anfrage einen Beitrag dazu leistet, mehr Verständnis zu haben, aber auch dazu, die Probleme genauer zu erkennen und zu benennen. Herr Polenz hat schon darauf hingewiesen, dass wir uns schon seit geraumer Zeit mit dieser Problematik befassen. Nun gibt es sicherlich Ereignisse, auf die wir sehr schnell und kurzfristig antworten und reagieren müssen. Es gibt aber auch Entwicklungen, die wir mit Sorgfalt und Bedacht bedenken und die wir mit sich langfristig auswirkenden Maßnahmen versehen müssen. Um ein solches Thema geht es hier und heute: Es nutzt meiner Ansicht nach wenig, ständig den Begriff der Integration im Mund zu führen, ohne die Bedingungen zu kennen und sie zu beschreiben, unter denen Integration erst möglich ist. Es nutzt auch wenig, Integration zu fordern, wenn nicht klar und deutlich gesagt wird, dass beide Seiten integrationsbereit sein müssen und dass man diese Bereitschaft auch erkennen können muss. Sie wissen, dass ich aus dem Schulbereich komme. Ich behaupte, dass die Bereitschaft zur Integration vor zehn bis 15 Jahren viel größer und deutlicher gewesen ist, als sie es heute in den Schulen ist. Das ist so! Das wird Ihnen jeder bestätigen, der sich in diesem Bereich auskennt. ({3}) Das muss uns nachdenklich machen. Darüber müssen wir uns austauschen und zu Lösungen kommen. Wir müssen uns fragen, warum das so ist. Beide Seiten müssen diese Integrationsbereitschaft zeigen und sie deutlich machen. Sonst schaukelt es sich gegenseitig hoch. Schließlich zitiere ich aus dem Papier der Zuwanderungskommission der CDU Deutschlands: Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik können nur dem gelingen, der sich seiner eigenen nationalkulturellen Identität gewiss ist. Darauf haben Sie eben auch hingewiesen. Hier liegt, glaube ich, ein ganz wesentlicher Grund für die eingangs beschriebenen Ängste und Sorgen, die wir nicht wegreden können, sondern die wir ernst nehmen müssen - ob sie nun berechtigt sind oder auch nicht. Meine Damen und Herren, ohne Diskussion über die eigene Identität, über die deutsche Identität und ein eindeutiges Bejahen derselben und ohne eine Diskussion über das eigene Selbstverständnis können - ich würde sogar sagen: dürfen - wir über Integration überhaupt nicht sprechen. Insofern habe ich persönlich - das darf ich hier sagen - die fast irrationale Debatte über die Verwendung des Begriffes „deutsche Leitkultur“ überhaupt nicht verstanden. Das heißt doch nicht: Deutschland, Deutschland über alles. Das heißt auch nicht: Es gibt nur eine Kultur, unter der sich alle anderen zusammenfinden müssen. Vielmehr heißt es, dass es in diesem unseren Land Regeln gibt, die alle Menschen, die hier leben, einhalten müssen, damit ein friedliches Miteinander überhaupt möglich ist. Das ist auch mehr als Verfassungspatriotismus. Denn in der Verfassung steht nicht geschrieben, dass man die deutsche Sprache lernen, verstehen, sprechen und möglichst auch schreiben können sollte. Es gibt Dinge, die für uns selbstverständlich sind, aber längst nicht für alle anderen, die bei uns leben oder zu uns kommen: etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Trennung von Staat und Kirche. Aber dies sind die Bedingungen, unter denen wir hier leben und die Akzeptanz finden müssen. Wir brauchen diese Akzeptanz - nicht mehr, aber auch nicht weniger -, weil sie Basis des Zusammenlebens, und zwar des friedlichen Zusammenlebens ist. ({4}) Wir dürfen sie nicht nur von Ausländern und von Menschen, die hierher kommen, erwarten. Sie ist ganz selbstverständlich von jedem Deutschen und jeder Deutschen zu erwarten. Meine Damen und Herren, im Übrigen schüttelt man im Ausland über unsere Debatte nur den Kopf, weil man es dort für ganz selbstverständlich hält, wie man mit der eigenen Leitkultur umgeht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist, aber ich habe nur Kommentare gehört nach dem Motto: undenkbar. Das höchste der Gefühle war: typisch Deutsch. So lauteten die Kommentare, die ich gehört habe. Meine Damen und Herren, wie gesagt: Man darf den Menschen in unserem Lande - das meine ich ernst - nicht die Möglichkeit nehmen, sich zu ihrem Lande zu bekennen. Man darf dieses Bekenntnis nicht mit einem negativen Vorzeichen versehen und ihnen absprechen, stolz sein zu dürfen. Auch diese Debatte hat mich gestört. Wenn jemand stolz sein möchte, soll er es doch sein. Entweder man ist es oder man ist es nicht. Das ist doch Wurscht. Aber wir müssen doch dafür keine Maßstäbe anlegen. Frau Präsidentin, wenn ich die Herren von der SPD-Fraktion, die sich so angeregt unterhalten, wirlich fürchterlich störe, höre ich auf zu sprechen. Es stört mich schon ein bisschen. ({5}) Wie gesagt: Wenn man den Menschen abspricht, stolz sein zu dürfen, oder dies mit einem negativen Vorzeichen versieht, dann nimmt man ihnen ein Stück ihrer Identität. Dass wir aber auf die Bereitschaft jedes einzelnen Menschen angewiesen sind, brauche ich doch eigentlich nicht zu betonen. Meine Damen und Herren, trotzdem würden wir die Realität nicht vollständig beschreiben, wenn wir nicht auch auf die anderen Kulturen und Religionen hinweisen würden, die in zunehmendem Maße bei uns anzutreffen sind. Ich habe deshalb ein wenig weiter ausgeholt, weil bei der Frage nach den Bedingungen, unter denen Integration stattfinden kann, nun auch deutlich werden wird, was für jede Gesellschaft und jedes Staatswesen gilt. Ich zitiere noch einmal den Beschluss des CDU-Bundesvorstands: Jedes Staatswesen und jede Gesellschaft muss auf ein bestimmtes, gemeinsames Fundament, ein gegenseitiges Vertrauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl achten. Zu diesem Fundament gehört auch die Akzeptanz eines gemeinsames Grundwertekanons. Anders kann ein Gemeinwesen mit unterschiedlichen individuellen Lebensvorstellungen nicht stabil bleiben. Ohne Loyalität gegenüber den Wertvorstellungen des Aufnahmestaats und einem entsprechend gemeinsamen Identitätsbewusstsein kann unser Gemeinwesen weder seine Aufgaben erfüllen, noch seine Bürger für das Gemeinwohl in die Pflicht nehmen. ... Integration ist in diesem Sinne weder einseitige Assimilation noch unverbundenes Nebeneinander auf Dauer. Multikulturalismus und Parallelgesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander sein auf dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität. Daraus ergeben sich einige Fragen, die zu diskutieren sind: Erstens. Kann man gläubiger Muslim sein und sich dennoch loyal gegenüber den grundlegenden Wertvorstellungen des Aufnahmestaates Deutschland verhalten? Antwort: ja. Das haben wir gelernt und ausführlich diskutiert. Herr Polenz hat schon darauf abgehoben, wie diese Frage in der Anhörung eindeutig geklärt worden ist. Manche glauben es aber vielleicht nicht. Deswegen muss man es den Menschen draußen ständig und auch von dieser Stelle aus sagen. Die größte Zahl der hier lebenden Muslime verhält sich entsprechend. Sie haben sich selbstständig gemacht oder gehen einer regelmäßigen Arbeit nach. Anders verhält es sich mit den extremistischen Gruppierungen. Auch das ist hier schon gesagt worden. Ihre Zahl umfasst ausweislich der Beantwortung der Großen Anfrage und, wie Herr Barthel gerade gesagt hat, des neuesten Verfassungsschutzberichtes zwischen 31 000 und 32 000 Muslime. Ich zitiere aus dem Bericht: Den Ideologen dieser Denkrichtung geht es nicht um eine Exegese des Koran, die auf die Fragen der modernen Welt eingeht und sie zu berücksichtigen versucht, sondern um eine Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke. 32 000 Muslime sind 1 Prozent der hier lebenden Muslime. Es ist schon seltsam: 1 Prozent ist ungefähr die Zahl der sich in Irland bekriegenden Katholiken und Protestanten. Wenn man es genau untersucht, entspricht die Zahl von 1 Prozent wahrscheinlich auch der der Rechts- und Linksextremisten in unseren eigenen Reihen. Sie zum Maßstab für die Beurteilung der Loyalität zu unserem Staat zu machen ist unredlich, auch wenn diese Menschen zweifellos lauter sind und dadurch mehr auffallen. ({6}) Zweitens. Kann oder darf sich ein gläubiger Muslim klar und deutlich für unsere Verfassung und unsere Staatsordnung entscheiden und sich in unsere kulturellen Lebensverhältnisse einordnen, ohne in religiöse Konflikte zu geraten? Antwort: Daran hindert ihn der Islam nicht. In der Anhörung ist diese Frage ebenfalls eindeutig beantwortet worden. Zur Frage des Tragens eines Kopftuchs kennen Sie alle die Debatte. Ich habe schon eben etwas zur Diskussion in Baden-Württemberg gesagt. Aber meiner Ansicht nach reichen diese Fragen und Antworten nicht aus. Die Angst der Menschen mag darin begründet sein, dass ihnen Frauen mit Kopftüchern, denen sie auf der Straße begegnen, fremd vorkommen. Dass die Zahl dieser Frauen zunimmt, dass sie oft das Bild ganzer Stadtteile prägen und dass sich die Stellung der Frau im Islam zweifellos von der der deutschen Frau unterscheidet, macht deutlich, dass die Zahl der Zuwanderer mindestens ebenso im Auge behalten werden muss wie die Frage der Ansiedlung dieser Menschen. Aus meiner zehnjährigen Tätigkeit im Rat der Stadt Düsseldorf weiß ich: Kommunikation mit diesen Frauen ist in den meisten Fällen nur selten bis gar nicht möglich, weil sie oft nur wenig oder kein Deutsch sprechen. Sie werden zum Teil ganz bewusst und gezielt von Außenkontakten fern gehalten, und zwar nicht durch den Koran und den Islam, sondern durch ihre Männer. Auch bei uns gibt es sicherlich einige, die das ganz toll finden. Aber dieses Thema will ich jetzt nicht vertiefen. - Ich gebe sofort zu: Das war ein nicht ganz passender Scherz. Aber ich meine es sehr ernst. Das ist keine Verpflichtung, die aus dem Koran kommt. Es sind ihre Männer, die das so organisieren. Das Erlernen der Sprache und der Schrift wird diesen Frauen fast unmöglich gemacht. Sie werden ausgegrenzt, was ihre Gettoisierung fördert. Dem, denke ich, gilt es entgegenzuwirken, und zwar von allen Seiten. Ich habe es früher nicht gewusst und erst jetzt erfahren, Herr Özdemir: Das erste Wort im Koran heißt „lies“ von „lesen“. Das finde ich toll und dies wird auch von emanzipierten, selbstbewussten und gut ausgebildeten Musliminnen immer wieder betont. Von diesen Frauen gibt es - auch das gehört dazu - eine zunehmende Zahl. Das finde ich sehr erfreulich. Es ist sehr begrüßenswert, wenn in diesem Hohen Hause nun endlich Einigkeit darüber herrscht, dass das Erlernen und der Gebrauch der deutschen Sprache ebenso wie die Akzeptanz der Grundwerte ein eindeutiges Integrationskriterium ist. Ich zitiere aus dem letzten Bericht der Ausländerbeauftragten aus dem Jahr 2000: Wir müssen eindeutige Kriterien für Integration definieren - und die sind vor allem Sprachkompetenz und die Akzeptanz der gesellschaftlichen Grundwerte. Lassen Sie mich noch einen Augenblick bei dem Begriff der Toleranz bleiben, meine Damen und Herren; meine Ausführungen dazu richten sich an Herrn Barthel mit seiner Frage nach der Situation der Christen in anderen Ländern. Es gibt natürlich keine Kollektivhaftung der Mitglieder von Weltreligionen. Selbstverständlich sind in einem freiheitlichen Verfassungsstaat die Menschenrechte nicht von der Menschenrechtslage in anderen Staaten abhängig, denn unsere Maßstäbe sind absolut und nicht ein gnädiger Gunsterweis. Aber man wird schon, wenn man sich gegenseitig verstehen, vertrauen und auch achten will, fragen dürfen: Wie hältst du es, der du Religionsfreiheit in Deutschland in Anspruch nimmst, mit der Freiheit von Christen und Juden in anderen Teilen der Welt und wie steht es mit der Gleichberechtigung der Frau und des Mannes? Und wie ist es mit den Menschenrechten? Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In den Leitsätzen des Deutsch-Türkischen Forums heißt es: Integration ist für uns eine wechselseitige Annäherung von Deutschen und Menschen ausländischer Abstammung unter Wahrung ihrer kulturellen Identität. In diesem Annäherungsprozess ist es natürlich, dass die Minderheit einen längeren Weg gehen muss als die Mehrheit. Ich halte dies für eine realistische Einschätzung; auch um die sollte man sich nicht herummogeln. Ich wünschte mir, dass ein Teil der Vorbemerkung aus der Anfrage auch dem Stil der heutigen Debatte entspräche. Ich fände das sehr erfreulich. Deshalb darf ich zum Schluss zitieren: Eine Assimilierung der Zuwanderer wird von keiner Seite ernsthaft in Betracht gezogen. Die hier lebenden Muslime sollen ihre kulturelle und religiöse Identität nicht preisgeben. Allerdings ist von ihnen zu verlangen, dass sie sich in die Strukturen eines demokratischen Rechtsstaates einfügen,

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Philipp, ich muss auch Sie leider etwas bremsen.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich führe nur noch kurz das Zitat zu Ende, wenn ich das darf: das Grundgesetz uneingeschränkt bejahen, insbesondere die Trennung von Staat und Religion anerkennen und keine Parallelgesellschaft oder Gettobildung anstreben. Ich hoffe, dass die heutige Debatte dazu beigetragen hat, dass diese beiden Gruppierungen weiter und enger aufeinander zugehen. Ich bedanke mich sehr. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dietmar Nietan, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union - Drucksache 14/6057 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Ursula Burchardt.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Beratung unseres Antrages findet im Kontext einer immer intensiver werdenden Debatte über die zukünftige Gestaltung und die zukünftige Gestalt Europas statt und sie zielt auf die anstehende Tagung des Europäischen Rates in Göteborg ab. Unsere Botschaft für diesen Europäischen Rat lautet: Europa muss nachhaltiger und demokratischer werden. ({0}) Als größter Wirtschaftsraum der Welt trägt die Europäische Union eine besondere Verantwortung für die Sicherung der Lebenschancen und der Lebensqualität heutiger und zukünftiger Generationen, und wie kaum eine andere Region der Welt steht Europa in der Pflicht, wenn im Jahre 2002 Bilanz gezogen wird, was zehn Jahre nach Rio tatsächlich geschehen ist, nicht nur Deklarationen, sondern substanzielle Ergebnisse und neue Weichenstellungen vorzuweisen. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich das Vorhaben der europäischen Staats- und Regierungschefs, im Juni in Göteborg eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie auf den Weg zu bringen, ({1}) und wir begrüßen ausdrücklich den Verfahrensvorschlag der Kommission; sie schlägt vor, den Lissabon-Prozess, der darauf zielt, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, um die Dimension der Nachhaltigkeit zu erweitern. Diese Erweiterung ist notwendig, denn die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ist die existenzielle Bedingung für mehr Wohlstand, mehr Lebensqualität und mehr soziale Stabilität in Europa - in Verantwortung für die gesamte Welt. Ich denke, eine nachhaltige Gemeinschaft ist eine Vision, für die man Menschen begeistern kann, für die man sie gewinnen kann.Diese Vision bietet die Chance, Skepsis gegenüber Europa und seiner künftigen Entwicklung zu überwinden, wenn sie offensiv angegangen, umgesetzt und genauso kommuniziert wird. ({2}) Doch die Skepsis gegenüber der Union hängt nicht nur mit einer bislang fehlenden Vision und Kommunikation zusammen. Ich denke, für 99 Prozent der Bürgerinnen und Bürger - Abgeordnete sind auch nur Menschen - ist undurchschaubar, wer wo wie für sie entscheidet - und was. Mehr Demokratie ist also angesagt. Transparente Entscheidungsprozesse, klare Verantwortlichkeiten und Abgrenzungen, die Frage, was auf den unterschiedlichen Ebenen - auf der europäischen Ebene, in den Mitgliedstaaten, den Ländern, Regionen und Kommunen - zu regeln ist, sowie die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, all das steht zur Klärung an. All das ist aber nicht ausreichend, um das viel beschworene Demokratiedefizit zu beheben und die Zivilgesellschaft zu stärken. Wenn man sich ansieht, wie Entscheidungen vorbereitet werden und damit letztendlich auch Vorentscheidungen getroffen werden, stellt man fest, wie groß der Einfluss der Bürokratien ist. Deswegen sagen wir: Mehr Parlament ist angesagt. Mehr als bisher müssen sich die Parlamente der Mitgliedstaaten das Recht und den Raum nehmen, auf die inhaltliche Zukunftsgestaltung Europas Einfluss zu nehmen. ({3}) Um es einmal ganz drastisch zu formulieren und es auf den Punkt zu bringen: Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages wollen wir uns nicht mit der Rolle eines Exekutivorgans europäischer Gesetzgebung zufrieden geben. Deswegen wollen wir mit unserem Antrag der Bundesregierung für den Gipfel in Göteborg einen ganz klaren Verhandlungsauftrag mit auf den Weg geben. Die bisherigen Kommissionsvorschläge zur Nachhaltigkeitsstrategie finden in vielen Punkten unsere Zustimmung, sollten aber an einigen entscheidenden Stellen verbessert werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang drei Punkte: Erstens. In dem Konsultationspapier sind entscheidende Problemfelder benannt, die angegangen werden müssen: Klimawandel, Gesundheitsschutz, Erhalt der natürlichen Ressourcen, Mobilität, Armut und demographischer Wandel. Aus unserer Sicht ist es unverzichtbar, diesen Katalog um die Agrarpolitik und den Verbraucherschutz zu erweitern. ({4}) Zweitens. Die Nachhaltigkeitsstrategie braucht eine starke ökologische Säule. Das 6. Umweltaktionsprogramm bietet sich an. Der dazu vorliegende Entwurf ist allerdings noch zu schwach. Er muss durch konkrete Ziele, Zeitpläne, Maßnahmen und Überprüfungsmechanismen ergänzt werden. ({5}) Drittens. Nicht nur die Umweltpolitik steht in der Pflicht. Diese Erkenntnis verfolgt die EU seit mehr als zwei Jahren; Stichwort: Cardiff-Prozess. Umweltbelange sollen integraler Bestandteil der Fachpolitiken - Wirtschaft, Finanzen, Verkehr und Energie - werden. Wir sind der Meinung, dass die Forschungspolitik - der Forschungsministerrat - aus diesem Prozess der Integration von Umweltpolitik in die Sektorpolitiken nicht länger ausgeklammert werden darf. Gerade die Forschungspolitik ist ein entscheidender Bereich, in dem sich die Weichenstellung für die Zukunft vollzieht. ({6}) Ich komme zum Schluss: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie und appelliere an Sie - an alle Seiten des Hauses -: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wenn wir diesen heute verabschieden, so ist das Ausdruck parlamentarischen Selbstbewusstseins, des Willens, künftig stärker auf die Gestaltung Europas Einfluss zu nehmen und die Interessen unserer Kinder und Enkelkinder wahrzunehmen. Ich denke, je ungeteilter das Votum des Deutschen Bundestages ausfällt, desto stärker wird das Signal in Europa wirken. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Christlich Demokratische Union und die Christlich-Soziale Union können Ihrem Antrag unter keinem Gesichtspunkt zustimmen. Das gesamte Verfahren im Zusammenhang mit diesem Antrag ist in höchstem Maße erstaunlich: Wir haben den Antrag Dienstagabend vorgelegt bekommen. ({0}) - Sie am Mittwochmorgen, also im Grunde genommen zeitlich gleich. - Trotzdem wollen Sie diesen Antrag heute bereits abschließend beraten und darüber beschließen. Sie gehen damit von dem guten Verfahren ab, solche Anträge zuerst in den Ausschüssen - im konkreten Fall im Umweltausschuss und im Wirtschaftsausschuss - zu beraten. Es stellt sich die Frage: Warum wählen Sie auf einmal eine solche Verfahrensweise, mit der Sie die inhaltliche Beratung im Bundestag verhindern? Für diese Hektik gibt es überhaupt keine Veranlassung; denn es ist allgemein bekannt, dass das 6. Umweltaktionsprogramm, worauf sich Ihr Antrag bezieht, bis zum Gipfel in Göteborg nicht mehr durch das Europäische Parlament kommen wird. Im Europäischen Parlament sind inzwischen 300 Änderungsanträge zu dem eingebracht worden, was Sie selbst gerade als konkretisierungsbedürftig bezeichnet haben. Sie selbst haben ja zugegeben, dass das, was im Augenblick vorliegt, noch nicht ausgereift und in sich geschlossen sei. Erstaunlich ist ja, dass gerade die sozialistische Fraktion viele Änderungsanträge eingebracht hat, auf die ich gleich noch genauer eingehen werde. Es stellt sich nun die spannende Frage: Warum wollen Sie die inhaltliche Diskussion, die im Augenblick in Europa stattfindet, nicht auch im Deutschen Bundestag führen? Warum führen Sie ein Verfahren durch, das gerade die inhaltliche Diskussion im deutschen Parlament verhindert? Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das tun. Man muss sich nur einmal die Punkte konkret anschauen, die strittig sind. In Art. 4 des Kommissionsentwurfes zum Umweltaktionsprogramm heißt es - ich wende mich insbesondere an die sozialdemokratischen Vertreter, die sich bisher lautstark für die Steinkohle und die Braunkohle eingesetzt haben -, dass „Subventionen für Kohle die Umstellung auf umweltfreundlichere Energien hemmen“, und dort wird die „Abschaffung von Energiesubventionen für nicht erneuerbare Energiequellen“ vorgeschlagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ruhrgebiet, die Sie bisher immer dafür gestritten haben, dass alles zusammengefasst wird - Herr Weiermann, hier waren wir immer einer Meinung -, Ihnen muss doch klar sein, dass Sie dann, wenn Sie den vorliegenden Antrag verabschieden, Positionen stärken, die den klaren Interessen der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen zuwiderlaufen. ({1}) - Frau Burchardt, ich habe nichts dagegen, wenn wir zum Beispiel darüber diskutieren, ob die Kohlesubventionen weiter heruntergefahren und dafür andere Bereiche - das alles steht in dem Kommissionsentwurf, zu dem Sie Ihren Antrag vorgelegt haben - subventionieren werden sollten. Aber warum diskutieren wir darüber nicht im deutschen Parlament? Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir das nicht tun. Sie haben Angst, dass die im 6. Umweltaktionsprogramm enthaltenen konkreten Aussagen bekannt werden; denn wenn sie bekannt würden, dann würde die Diskussion in Ihrer Fraktion erst richtig losgehen. Wo wollen Sie - da wird es spannend - die Subventionen hinlenken: wie bisher in den Bereich der Kohle oder in den der erneuerbaren Energien? In Ihrem Antrag heißt es: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung dazu auf, bei der Beratung der Vorschläge der Europäischen Kommission für ein 6. Umweltaktionsprogramm dafür Sorge zu tragen, dass der vorliegende Entwurf um konkrete Ziele und Zeitpläne ergänzt wird. Welche konkreten Ziele und Zeitpläne meinen Sie? Auf diese Frage geben Sie in Ihrem Antrag überhaupt keine Antwort. Das ließe sich reihenweise fortsetzen. Heute Nachmittag haben uns Vertreter von Betriebsräten und Mitarbeiter aus der Chemieindustrie besucht. In der Chemieindustrie wird im Augenblick darüber diskutiert, wie sich die Politik bezüglich der Chemikalien verändern wird. Darauf wird im Umweltaktionsprogramm eingegangen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, warum Sie als Sozialdemokraten eine konkrete Diskussion im Deutschen Bundestag nicht wollen. Die Europäische Union fordert zum Beispiel die Einführung eines Emissionshandels. Das hört sich im ersten Augenblick phantastisch an. Es stellen sich nur folgende Fragen: Soll der Emissionshandel auf europäischer Ebene durchgeführt werden? Dazu gibt es keinen konkreten Vorschlag. Soll der Emissionshandel auf nationaler Ebene durchgeführt werden? Sie selbst wissen doch, dass Ihre Vorberatungen noch lange nicht so weit sind, dass Ihre Regierung einen Gesetzentwurf zum Emissionshandel auf nationaler Ebene einbringen kann, wo ein solcher Handel sinnvoll wäre. Die Europäische Union schlägt in den Begleitpapieren zum 6. Umweltaktionsprogramm vor, einen Emissionshandel auf Unternehmensebene durchzuführen. Das bedeutet, dass Sie den großen chemischen Fabriken Chargen vorgeben müssen. Es ist ganz klar, dass multinationale Konzerne wie BASF einen Teil ihrer Produktion ins Ausland verlagern werden, wenn ihnen solche Caps vorgegeben werden. Betriebsräte von der IG BCE sind zu uns gekommen und haben gesagt: Das, was Rot-Grün machen will und in den Antrag hineingeschrieben hat, darf auf keinen Fall realisiert werden, weil das nicht nachhaltig ist. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich, zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten abzuwägen. In dem Entwurf des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments gibt es Stellen, an denen man als Umweltpolitiker die Frage aufwerfen muss, ob es ökologisch sinnvoll ist, wenn die Produktion aufgrund falscher Vorgaben nur verlagert wird. Dadurch werden Arbeitsplätze beeinträchtigt, und Sie gewinnen ökologisch überhaupt nichts für die gesamte Situation. Das alles steht in diesen Papieren. Und Sie bringen am Dienstag einen Antrag ein und sagen: Den wollen wir am Donnerstag ohne Beratung in den Ausschüssen schon abschließend behandeln. ({2}) - Das ist das Thema! - Sie wollen durch diese Vorgehensweise nur eine intensive Beratung in den Ausschüssen verhindern. Wo war denn bisher die heftige Kritik am so genannten 5. Umweltaktionsprogramm? Es war einhellige Meinung - das ist auch am letzten Mittwoch im Umweltausschuss bei einem anderen Tagesordnungspunkt gesagt worden, als nämlich der Bericht des Umweltbundesamtes vorgelegt wurde -: Das 5. Umweltaktionsprogramm ist zu nebulös gewesen, es hat keine richtigen Leitideen für die Umweltpolitik enthalten. Aber - so sagten auch die Fachleute - das jetzt vorliegende 6. Umweltaktionsprogramm muss sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, dass es in vielen Bereichen noch viel weniger konkret ist als das Vorgängerprogramm. Es wird in diesem Programm überhaupt nicht dargestellt, wie zum Beispiel die Verzahnung zwischen den verschiedenen medialen Bereichen, zwischen den verschiedenen sektoralen Bereichen stattfindet. Es soll jetzt neue Ansätze geben: Querschnittsaufgabe Nachhaltigkeit. Das ist ja richtig. Sie sagen: Ich brauche jetzt eine Leitidee, um diese Verzahnung tatsächlich herzustellen. Recht haben Sie. Aber sagen Sie uns doch einmal in dem Antrag, wie Ihre Leitidee konkret aussehen soll, um diese Verzahnung zu ermöglichen! Das steht an keiner Stelle in Ihrem Papier, weil Sie nämlich, wenn Sie es täten, in Ihrer Fraktion Fronten aufreißen würden - bei den Grünen vielleicht nicht, aber bei der SPD -, wie es in der Kohle- und wie es in der Umweltpolitik weitergeht, wie es in der Chemikalienpolitik weitergeht. Es gibt ja Ausführungen in diesem Umweltaktionsprogramm auch zur Chemikalienpolitik. Es wird gesagt: Das müssen wir unterstützen. Zu der Frage zum Beispiel, ob auch für den letzten kleinen mittelständischen Handwerker Vorgaben gemacht werden müssen - wenn etwa ein Lack angewendet wird -, sagen Sie nichts. Das sind die Themen, die im Augenblick diskutiert werden. Deshalb kann ich nur sagen, dass Ihr gesamter Antrag nur einen tieferen Grund hat: Sie wollen eine Aussprache zu den wirklich spannenden Themen, wie nämlich Ökonomie, Ökologie und Soziales verbunden werden können, im Deutschen Bundestag nicht führen. Sie kneifen, ({3}) Sie tauchen weg und legen einen Antrag vor, der nur ganz allgemein und pauschal ausgerichtet ist. Ich kann zusammenfassend nur sagen: Ihr Antrag soll Initiative vortäuschen. Er ist jedoch letztlich nichts anderes als das Eingeständnis von Unfähigkeit, konkret Profil zu zeigen, Profil im Sinne einer nachhaltigen Umweltpolitik. Mit Blick auf die Vorbereitung für Göteborg wie auch für den Weltgipfel im Jahre 2002 in Südafrika fordern wir die Bundesregierung auf, die nationale und internationale nachhaltige Umweltpolitik zu konkretisieren, die Aussprache hier in diesem Hause zu suchen, konkrete Initiativen, wie es sie bei den Vorgängerregierungen gab, aufzugreifen und nicht mehr, wie mit diesem Antrag, nur verbale Absichtserklärungen vorzutragen. Gleich wird mein Fraktionskollege Arnold Vaatz auch darauf hinweisen, wie schlecht bisher die Umweltpolitik teilweise koordiniert worden ist. Man kann abschließend wieder einmal sagen, dass Sie einen allgemeinen Antrag vorgelegt haben, weil der Satz auch für Sie gilt: Wenn ein Kapitän nicht weiß, welches Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Paziorek, um in der Sprache des Seemanns zu bleiben: Das einzige Problem Ihrer Rede war, dass Sie nicht wissen, auf welchem Dampfer wir sind. Das ist Ihr Problem. ({0}) Es tut mir herzlich Leid. Es ist normalerweise, Kollege Paziorek, pure Polemik, wenn man sagt: Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Aber ich muss Ihnen in dem Fall wirklich allen Ernstes sagen: Sie haben in Ihrer gesamten Rede zum 6. Umweltaktionsprogramm und zu dem entsprechenden Antrag geredet. Das ist aber nicht das Thema der heutigen Tagesordnung. Wir reden heute über die europäische Nachhaltigkeitsstrategie ({1}) und nicht über das Umweltaktionsprogramm. Insofern haben Sie komplett am Thema vorbei gesprochen. ({2}) Deswegen werde ich auch im Einzelnen gar nicht auf Sie eingehen können. ({3}) Ich werde in einem Punkt auf Sie eingehen, bei dem es Überschneidungen gibt. Bisweilen sagen Europaspötter: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber die der Europäischen Union noch langsamer. Das hat sehr lange Gültigkeit gehabt. Aber gestern hat uns die Europäische Kommission überrascht, mich jedenfalls. Ich hatte mit der Vorlage der Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union durch den Präsidenten der Kommission persönlich, Herrn Prodi, gestern nicht gerechnet. ({4}) Sie steht unter dem Titel „A Sustainable Europe for a Better World: A European Union Strategy for Sustainable Development“. Kollege Paziorek, das ist das Thema, darum geht es. Dazu haben Sie nicht gesprochen. ({5}) Dieser Entwurf soll in Göteborg besprochen und diskutiert werden. Das war der Grund, warum wir gesagt haben: Wir müssen das heute ins Plenum bringen, um unserer Regierung noch einmal einen Anstoß zu geben, wie sie über diese Strategie verhandeln soll. ({6}) Was steht nun in diesem Papier? Ich finde, es ist für die Verhältnisse der Europäischen Union durchaus ehrgeizig. Es erfüllt übrigens in vielen Bereichen bereits die Ziele unseres Antrages. Es benennt die zentralen Herausforderungen aus europäischer Sicht: Treibhauseffekt und Klimawandel, Gesundheitsgefahren und Lebensmittelsicherheit, Armut - übrigens keine Frage des Umweltaktionsprogramms -, Überalterung der Bevölkerung - auch kein Umweltthema -, Artenrückgang und Artensterben und schließlich übermäßige Belastungen durch Verkehr. Dieses Konzept hat eine klare Gliederung. Es enthält konkrete Qualitätsziele, die ich nicht in allen, aber in vielen Bereichen sehr interessant finde. Darüber müssen wir streiten. Es wird vorgeschlagen, eine jährliche Berichterstattung einzuführen und jedes Jahr zum Frühjahrsrat der Europäischen Union neben dem Beschäftigungsgipfel einen Nachhaltigkeitsinformationsgipfel zu veranstalten. Das ist ein echter Fortschritt. Herr Paziorek, auf europäischer Ebene gibt es demnächst einen Nachhaltigkeitsrat. Er wird „Round Table“ heißen. Dessen Konstruktion entspricht unserer Konzeption eines Nachhaltigkeitsrates für Deutschland. Ich finde es auch sehr interessant, dass die Europäische Union klipp und klar sagt: Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung - Kollegin Burchardt hat das angemahnt -, mehr Bürgerengagement im Sinne der nachhaltigen Entwicklung. Wir müssen auch mehr in Sachen Bildung für nachhaltige Entwicklung tun - ein schöner Vorschlag. ({7}) Ich darf Ihnen einige dieser, wie ich finde, anspruchsvollen Ziele einmal vortragen: Die Europäische Union will die Treibhausgase bis zum Jahre 2020 um jährlich 1 Prozent, gemessen an 1990, reduzieren. Das ist sehr anspruchsvoll und deutlich mehr als das, was bisher auf der Ebene der Europäischen Union verhandelt wurde. Die Europäische Union will - das wird die CDU nicht freuen - bis zum Jahre 2002 eine Richtlinie zur europaweiten, harmonisierten Energiebesteuerung und Ressourcenbesteuerung vorlegen. ({8}) Dann ist Schluss mit der billigen Tankstellenrhetorik der CDU. Dann wird sozusagen europaweit Ökosteuer gemacht. ({9}) Die EU schlägt vor, dass bis 2020 biogene Treibstoffe einen Anteil von 20 Prozent erreichen sollen. Das ist ebenfalls ein anspruchsvolles Ziel, das uns auch national herausfordert. Sie will im Bereich der Chemikalienpolitik - das hatten Sie kurz angesprochen, weil es auch im Umweltaktionsprogramm steht - bis 2020 zu einer sicheren Kreislaufwirtschaft ohne Belastungen für Umwelt und Mensch kommen. Auch dies ist ein weit reichendes Ziel. Beginnen will man 2004 mit der Umsetzung des Weißbuchs in einer neuen Richtlinie. Es wird die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch vorgegeben. Das ist ein Ziel, über das wir auf nationaler Ebene schon lange diskutieren. Wenn es aber europaweit gilt, auch für die neuen Staaten, dann ist es sehr ambitioniert. Die externen Preise des Verkehrs, die gesellschaftlichen und ökologischen Kosten, sollen internalisiert werden, und das schon ab 2005. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich einige Gedanken machen, wie Sie zukünftig überhaupt noch in der Debatte eine Rolle spielen wollen. Schwerpunkt der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen soll eindeutig der öffentliche Verkehr sein. Das ist der neue Akzent, den wir als neue Regierung setzen. Er gilt jetzt also auch europaweit. Jetzt habe ich die EU viel gelobt. Ich will auch deutlich machen: Es ist nicht alles gut. Wir sehen noch Verbesserungsmöglichkeiten. Dass man den Aspekt der Umweltentwicklung weitgehend ausgeklammert und gesagt hat, das liefern wir erst nächstes Jahr nach, ist zum Beispiel schade; denn damit macht sich die EU ein Stück weit angreifbar. Sie verfährt nämlich nach dem Motto: Wir handeln nur in unserer komfortablen, elitären europäischen Festung nachhaltig. Es ist aber auch nötig, dass die Europäische Union ihre Wirtschaftsweise und den Lebenswandel ihrer Bürger am Maßstab der Nachhaltigkeit misst und auf Auswirkungen auf andere Länder überprüft. Es muss auch in Europa über den „ökologischen Rucksack“ unserer Lebensweise diskutiert werden. Eine europäische Strategie der Nachhaltigkeit muss auch aufzeigen, wie wir die ökologischen Problempakete anpacken, die wir zulasten der Dritten Welt schnüren. ({10}) Unser Wunsch an die Regierung und damit an den Rat in Göteborg ist, dass auch für andere Felder, auf denen es noch nicht so konkrete Maßnahmen wie zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes gibt - das kann man nachlesen -, sondern eher allgemeine Absichtserklärungen vorherrschen, konkrete Ziele mit Zeitangaben und möglichst einleuchtenden Indikatoren vorgegeben werden. Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle der schwedischen Ratspräsidentschaft außerordentlich danken. Sie hat dafür gesorgt, dass Nachhaltigkeitsstrategien auf europäischer Ebene so weit vorangebracht wurden. ({11}) Ein Grund dafür, dass sie es so erfolgreich tun konnte, lag in ihrer Glaubwürdigkeit; denn schon seit 1996 gibt es in Schweden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie auf gesetzlicher Basis, die mehrfach überarbeitet und mit ganz konkreten Zielen für viele Bereiche versehen wurde. Ich möchte auch noch einmal den Begriff der Umweltintegration aufgreifen, der vom Kollegen Paziorek aus einem anderen Blickwinkel angesprochen wurde. Damit möchte ich deutlich machen, warum Sie meiner Meinung nach ein Stück weit an der Sache vorbei gesprochen haben. Das Prinzip der Umweltintegration, das gerade durch das Umweltaktionsprogramm nochmals verstärkt werden soll, nachdem das, wie man im Rückblick feststellen muss, durch das 5. Aktionsprogramm nicht gelungen ist, gilt es weiterhin durchzusetzen. Das wird überhaupt nicht bestritten und auch im Entwurf zur Nachhaltigkeitsstrategie ausdrücklich noch einmal betont. Hier liegt kein Konkurrenzverhältnis vor, sondern hiermit wird ein ökologischer Schwerpunkt gesetzt, der Teil des europäischen Vertragswerkes ist, gemäß dem Umweltziele in alle anderen Politikbereiche zu integrieren sind. Aber hierbei geht es eben nur um Umweltziele, während die Nachhaltigkeitsstrategie weit über das Ökologische hinausgeht und ein ambitionierteres Vorhaben ist; sie hat nämlich soziale, ökonomische und weitere Dimensionen. Auch diese müssen nachhaltig gestaltet werden. ({12}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Die EU hat lange gezögert und lange gebraucht, bis sie die in Rio eingegangenen Verpflichtungen aufgegriffen und in konkretes Handeln bzw. in Strategievorschläge umgesetzt hat. Der Antrag der Koalitionsfraktionen wurde noch aus dem Geist heraus geschrieben, die EU müsse angetrieben werden, damit sie endlich etwas vorlege. Heute müssen wir sagen: Sie hat etwas geliefert, was nicht schlecht ist. Jetzt müssen wir aufpassen - das sage ich ganz besonders an die Adresse der Opposition -, ({13}) dass wir den internationalen Anschluss nicht verlieren. Wir müssen jetzt sehr aktiv, kreativ und partizipativ an einer europäischen und an einer deutschen Nachhaltigkeitsstrategie arbeiten. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt grundsätzlich den Vorstoß der EU-Kommission, den Lissabon-Prozess um die Umweltdimension zu erweitern und somit eine Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit in der EU einzuleiten. ({0}) Aber der Antrag, den Sie hierzu vorlegen, ist schon bemerkenswert. ({1}) Er ist deshalb bemerkenswert, weil Sie trotz einstimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages die Sache bis vor kurzem verschlafen haben. ({2}) Nachdem Sie die Koalition gebildet und die Regierungsverantwortung übernommen hatten, hatten Sie sofort erklärt, dies umsetzen zu wollen; es gab ja auch schon während der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestages. Aber nach dieser Erklärung vor zweieinhalb Jahren kam erst einmal lange nichts. Vor zwei Jahren, nämlich im Juni 1999, hat der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig beschlossen, dass ein nationaler Nachhaltigkeitsrat eingesetzt werden soll. Im Januar 2000 hat das Plenum des Deutschen Bundestages dies ebenfalls einstimmig beschlossen. ({3}) Im Juni 2000 habe ich nachgefragt: Es wurde geantwortet, der Nachhaltigkeitsrat werde in Kürze eingesetzt. ({4}) Im April 2001 haben Sie ihn endlich zu Wege gebracht. Sie haben dafür also knapp zwei Jahre gebraucht. Trotzdem haben Sie jetzt den Anspruch, den Nachhaltigkeitsprozess in Europa vorantreiben zu wollen. Da werden die anderen Länder angesichts der Leistungen, die Sie hier in Deutschland erbracht haben, aber beeindruckt sein. ({5}) Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass Ihr Antrag nur Aktivität vortäuscht. ({6}) Bemerkenswert finde ich es auch, dass Herr Bury zu diesem Thema reden wird. Ich begrüße den Herrn Staatsminister ganz besonders. ({7}) Er sollte eigentlich schon seit Januar im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages einen Bericht abgeben, weil die Regierung in dieser Frage nicht vorwärts kam. Es gab aber immer zig Gründe, warum er sich im Umweltausschuss nicht hat sehen lassen. Ich bin also gespannt darauf, was er uns heute zu sagen hat. Vorhin wurde das Beispiel von Herrn Prodi gebracht. Sie können daraus lernen. Vielleicht kommen Sie dann besser voran als bisher. Hinzu kommt, dass der nationale Nachhaltigkeitsrat von vornherein torpediert wird. Es soll doch das Ziel erreicht werden, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte bei Entscheidungen für die Zukunft gleichermaßen zu berücksichtigen. Das haben wir gemeinsam festgelegt. Stattdessen erklärt der Bundeskanzler Gerhard Schröder - meines Wissens von der SPD - laut ddp aus Anlass der Einführung des Nachhaltigkeitsrates, dieser solle kein zweiter Umweltrat sein; er solle vielmehr ökonomische Fragen berücksichtigen. Mir scheint sinnvoll zu sein, dass Sie erst einmal Herrn Schröder informieren und auf Linie bringen, bevor Sie Europa voranbringen wollen. ({8}) Obwohl Sie bis heute national keine Handlungsfelder definiert haben - der Nachhaltigkeitsrat wurde ja gerade erst eingesetzt -, legen Sie in Ihrem Antrag ein ganzes Sammelsurium von Handlungsfeldern für die europäische Ebene fest. ({9}) Sie haben sie vorhin genannt, Frau Burchhardt und Herr Hermann. Ich brauche sie deswegen nicht zu wiederholen. ({10}) Sie haben diese Handlungsfelder noch um zwei Punkte über das hinaus, was die EU-Kommission vorschlägt, erweitert. Sie, Herr Hermann, nennen das ambitioniert. ({11}) Ich sehe das nicht so. Die F.D.P. unterstützt diesen Katalog nicht, weil er nicht zielführend ist und weil er zu viel enthält. Damit werden Sie auf jeden Fall scheitern. ({12}) Die Begriffe sind außerdem zu weit gefasst. Sie haben selbst gesagt, Frau Burchhardt, die Punkte müssten noch konkretisiert werden. Es gibt keine klare Kompetenzverteilung. Bei den Punkten, die in dem Katalog von der EUKommission und von Ihnen aufgelistet werden, besteht die Gefahr der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips. Um es klar zu sagen: Die F.D.P. will eine klare Kompetenzverteilung zwischen EU und Nationalstaaten im Verfassungsvertrag bis 2004 regeln. Dabei können wir uns gerade im Umweltbereich einiges an gemeinschaftlichen Regeln vorstellen, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Wir dürfen nicht national, sondern müssen europäisch und international in der Umweltpolitik handeln, aber unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Das ist weder mit dem EU-Vorschlag noch mit Ihrem Antrag sichergestellt. ({13}) Hinzu kommt: Sie machen den Vorschlag, den Nachhaltigkeitsprozess durch ein Monitoring zu überwachen. Das ist prinzipiell richtig. ({14}) Aber im Rahmen der Lissabon-Strategie dürfen keine überflüssigen neuen bürokratischen Elemente eingeführt werden. Auf den ersten Blick ist Ihr Antrag ganz in diesem Sinne. Sie sagen, es existiere bereits ein Monitoringsystem; dieses könne man in den Umweltbereich einbeziehen. Was Sie allerdings nicht sagen, ist, dass in diesem Monitoringprozess bisher nur wirtschaftliche und soziale Indikatoren berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich um Daten, die heute schon erhoben werden und beim Statistischen Bundesamt abgerufen werden können. Aber das, was Sie in Ihrem Antrag an Themen behandeln, wird dazu führen, dass eine ganze Reihe von Daten erst einmal erhoben werden muss. Das entsprechende Datenmaterial liegt gar nicht vor, um es in einen Monitoringprozess einzubeziehen. ({15}) So schafft man neue Bürokratie und erreicht nichts anderes, als Berichtspflichten einzuführen, die neben hohem bürokratischem Aufwand wahrscheinlich nichts anderes bringen als Datenfriedhöfe. ({16}) Ich komme zum Schluss. Die F.D.P. begrüßt grundsätzlich - ich sage es noch einmal - die Erweiterung der Lissabon-Strategie um die Umweltdimension. Auch wir wollen eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie, die alle drei Säulen des Begriffs umfasst. Ein solches Vorhaben kann man aber nicht im Hauruckverfahren - ohne Befassung im Ausschuss und ohne saubere Abstimmung durchs Plenum peitschen. Hier einfach abzustimmen wird der Sache insgesamt nicht gerecht und deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-Fraktion das Wort.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Konferenz von Rio 1992 ist der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ zu einem umweltpolitischen Leitbild geworden. Die integrierende Betrachtung ökologischer, ökonomischer und sozialer Probleme macht den übergreifenden Zusammenhang deutlich, in den die Umweltprobleme gestellt werden müssen. Die Koalition hat in ihrem Antrag hoch gesteckte Ziele formuliert, was die PDS sehr begrüßt. Zu Recht sind die bisher weitgehend unverbundenen Sektorstrategien zur Einbeziehung des Umweltschutzes aufeinander abzustimmen; zu Recht wird von der Stärkung der Beschäftigung gesprochen; denn man kann dem Markt nicht die Dimension einer sozialökologischen Nachhaltigkeit überlassen. Schließlich ist im Antrag von klaren Zielvorgaben und zeitlich definierten Schritten zur Umsetzung die Rede. Leider finden sich im Forderungsteil jedoch keine konkreten Vorstellungen und keine Angebote als Auftrag an die Bundesregierung. ({0}) Ein Vergleich des vorliegenden Antrags mit der von der Koalition formulierten nationalen Nachhaltigkeitsstrategie macht deutlich, dass es gravierende Unterschiede gibt: Warum werden nicht auch die Atomkraft, mehr Generationengerechtigkeit, eine breitenwirksame Medien- und Bildungsoffensive sowie friedenspolitische Aspekte in die europäische Nachhaltigkeitsstrategie einbezogen? Schwerpunkte einer Nachhaltigkeitsstrategie müssten unter anderem sein: eine Langfrist- und Folgeorientierung, die Verbindung von regionalen und globalen Analyseebenen, die Orientierung an gesellschaftlichen Bedürfnisfeldern, eine Akteurs- und Anwenderorientierung, Sozialverträglichkeit und die Bildung und Erziehung zur nachhaltigen Entwicklung. Oft verbirgt sich hinter dem Etikett „nachhaltige Entwicklung“ nur eine schöne Ummantelung konkreter Projekte, deren Nachhaltigkeit für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft umstritten ist. Seit Jahren ist ein zunehmendes ökologisches Unwohlsein in der Gesellschaft zu beobachten. Um dem Einhalt zu gebieten, gibt es inzwischen sehr viele Papiere zur Nachhaltigkeit auf allen Ebenen. Sie sollen den Ergebnissen von Rio, der Agenda 21 oder dem Vertrag von Amsterdam Rechnung tragen. Auch in der Wirtschaft haben sich fast alle großen Konzerne die Nachhaltigkeit in ihre Unternehmensphilosophie geschrieben, mit dem Erfolg, dass seit Jahren die profunden Aussagen und Analysen in Umweltberichten, des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen und der damaligen Enquête-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ zunehmenden Ressourcenverbrauch, abnehmende Artenvielfalt sowie hausgemachte Katastrophen verkünden und dass seit Jahren bei jeder Rationalisierung, bei jeder Fusion Arbeitsplätze abgebaut werden. Seit Jahren wird politisch verbal auf Nachhaltigkeit gesetzt; aber nachhaltig gestalten sich nur die Profite der Großindustrie. Auch bei dem Verbraucher stellt sich - bewusst oder unbewusst - ein zunehmendes ökologisches Unwohlsein ein. Das beginnt frühmorgens beim Zähneputzen mit dem Geschmack von chloriertem Wasser. Das setzt sich fort, wenn man - bei ständig steigenden Preisen für eine Umweltkarte - mit dem Bus im Stau steht, und es endet mit einem Biss ins Ungewisse, obwohl die Qualität und die Sicherheit deutscher Lebensmittel schon von jeher als die besten propagiert werden. Der Hauptkonflikt für eine nachhaltige Entwicklung besteht nun einmal zwischen den wirtschaftsorientierten Kapitalinteressen sowie dem Wunsch nach menschenwürdigen Lebensbedingungen und Lebensweisen, die das untrennbare Verflochtensein von Mensch und Natur beinhalten. ({1}) Die Nachhaltigkeitsstrategie scheint daher eher eine End-of-pipe-Strategie, eine Reparaturtechnologie, zu sein. Sie bekämpft nicht die wahren Ursachen von Umweltzerstörung, Hunger in der Welt, Fehlernährung in den Industrieländern sowie von wirtschafts- und sozialpolitisch negativen Tendenzen in Entwicklungsländern. Was uns in diesem Antrag fehlt, ist die Einsicht der Politik, dass eine breite Integration des Umweltschutzes mit einer Weiterentwicklung der Öffentlichkeitsbeteiligung verbunden werden muss. Deshalb wird sich die PDS bei der Abstimmung über diesen Antrag der Stimme enthalten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt der Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts des schnellen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels wächst das Bedürfnis nach einer langfristigen Orientierung deutscher und europäischer Politik. Die Frage lautet: Wie wollen wir in Zukunft leben? Wir müssen heute die Weichen stellen, damit auch nachfolgende Generationen in einer gesunden Umwelt leben und ihre Chancen auf Bildung, befriedigende Arbeit und Wohlstand ergreifen können. Unser Leitfaden ist die Idee der nachhaltigen Entwicklung. Ich begrüße es deshalb, dass auch auf EU-Ebene eine Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet wird. Wer in Göteborg die europäische Diskussion glaubwürdig führen will, muss auch im eigenen Land die Herausforderung annehmen. Bei allem Respekt, Frau Kollegin Homburger, da verdeckte Ihr starker Auftritt doch eher die schwachen Inhalte Ihrer Partei. ({0}) Ich freue mich ja, dass Sie jeden Schritt unserer fortschrittlichen Politik so aufmerksam verfolgen. ({1}) Ich kann das auch verstehen; denn Sie hatten in 16 Jahren, von denen Sie acht Jahre persönlich hier zugebracht haben, einige Gelegenheit, in puncto Nachhaltigkeit Weichen zu stellen. Aber das einzig Nachhaltige Ihrer Politik war, dass sie nachhaltig falsch war und ist. ({2}) Für die Bundesregierung bedeutet Nachhaltigkeit nicht einfach die Fortsetzung der Umweltpolitik mit anderen Mitteln. Nachhaltigkeit ist ein Handlungsprinzip, das für alle Politikbereiche gilt: ({3}) von der Haushaltskonsolidierung über die Stärkung der Zukunftsbereiche Bildung und Forschung bis zur neuen Säule der Altersvorsorge oder dem Einstieg in eine neue Energiepolitik. Zukunftsfähigkeit ist der rote Faden des Regierungshandelns. Die Bundesregierung hat zudem einen Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, das „Green Cabinet“, eingesetzt. ({4}) Seine wichtigste Aufgabe ist es, für die Rio-Folgekonferenz 2002 in Johannesburg eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln. Schon während des Arbeitsprozesses ist ein kontinuierlicher Dialog mit den gesellschaftlichen Gruppen und der Bevölkerung vorgesehen. So hat auch der Rat für nachhaltige Entwicklung seine Arbeit aufgenommen. Von ihm erwarten wir Beiträge zu diesem Dialog, weiterführende Impulse für die Strategie und Vorschläge für konkrete Maßnahmen. Wir wollen den bereits existierenden Kommissionsberichten nicht einfach einen weiteren hinzufügen, sondern uns auf zentrale Handlungsfelder konzentrieren und dafür konkrete Projekte auf den Weg bringen. Im Mittelpunkt steht für uns die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz. Das ist unsere Antwort auf steigende Ölpreise und auf die Herausforderungen des Klimaschutzes. ({5}) Damit vermindern wir die Abhängigkeit von Importen, geben Impulse für Innovationen und mehr Beschäftigung. Ich sehe darin zugleich einen entscheidenden Beitrag, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Wir wollen, dass Deutschland die Nummer eins ist, wenn es um neue, hocheffiziente und umweltverträgliche Technologien geht. Wir konzentrieren uns dabei zunächst auf die Handlungsfelder Klimaschutz und Energie, Mobilität sowie Umwelt, Ernährung, Landwirtschaft. ({6}) Meine Damen und Herren, die klare Setzung von Prioritäten ist auch unsere entscheidende Forderung für den Europäischen Rat in Göteborg. Angesichts der Krise der europäischen Landwirtschaftspolitik gehört für mich vor allem die Neuorientierung der europäischen Agrarpolitik und ihre Verknüpfung mit den Themen Umwelt und Gesundheit zu den Kernthemen. ({7}) Auf diesem Gebiet hat die Europäische Union umfassende Kompetenzen. Hier muss Europa zeigen, wie wir nachhaltige Entwicklung künftig buchstabieren. Wir wollen, dass nachhaltige Entwicklung zu einem gemeinsamen europäischen Projekt wird. Mit der gleichrangigen Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Belange knüpft das Konzept der Nachhaltigkeit an europäische Traditionen an und weist Europa zugleich den Weg in die Zukunft. Diesen Weg wollen wir in Göteborg fortsetzen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bury, die Kollegin Homburger hat nach meiner Auffassung zu Recht gesagt, dass es schon richtig ist, dass Sie keine Fortsetzung der Umweltpolitik mit anderen Mitteln betreiben. Was Sie betreiben, ist der Stillstand der Umweltpolitik mit anderen Leuten. ({0}) Ich bin auch einer Meinung mit dem Kollegen Hermann. Sie sind auf dem richtigen Dampfer, Herr Kollege Hermann, aber ich habe das Gefühl, Sie sind mit dem richtigen Schiff auf hoher See vor Anker und merken das nicht. ({1}) Das Problem, das ich hier sehe, ist folgendes. Es dürfte in diesem Raum niemand sein, der der Auffassung ist, dass wir keine klaren Kriterien für Nachhaltigkeit brauchen. Ich bin auch überzeugt, dass es notwendig ist, uns sehr genau Gedanken darüber zu machen, wie das Monitoring aussehen muss, damit wir die Zielabweichungen von der Nachhaltigkeit in verschiedenen Politikdisziplinen feststellen können. Daran gibt es sicher keinen Zweifel. Aber der Teufel steckt nach meiner Auffassung im Detail. ({2}) Es muss klar werden, wo diese großen philosophischen Forderungen tatsächlich die Erde berühren, ({3}) wo sie die Umweltpolitik erreichen und in sie eingreifen. Da schweigen Sie sich in Ihrem Antrag leider aus ({4}) und das bemängeln wir. Ich will zum Beispiel fragen: Wie soll nach Ihrer Meinung nach diesen Kriterien ein Zustand, wie er im europäischen Umweltrecht im Augenblick vorhanden ist, nämlich dass es sehr viele unterschiedliche Gesetze gibt, die nicht übereinstimmen, bewertet werden, zum Beispiel die Tatsache, dass in Dänemark Dosenverkauf verboten, aber die Herstellung von Dosen erlaubt ist und wir uns in Deutschland mit den importierten Dosen und der Mehrwegquote herumschlagen? Solche Fragen sind konkreter Natur. Der Bürger wartet darauf, beurteilt zu sehen, an welcher Stelle in diesem Zusammenhang die Nachhaltigkeitsprinzipien verletzt werden. Das machen Sie aber nicht. ({5}) Als Nächstes zum Thema Vollzugsqualität. Sie wissen alle, dass europaweit gleiche Trinkwassernormen gelten, und diese werden scheinbar ordentlich eingehalten. Aber wenn Sie nach Griechenland oder Süditalien fahren, müssen Sie sich oft die Frage stellen, ob das Trinkwasser die gleiche Qualität hat, wenn es leicht bräunlich aussieht und etwas Nachgeschmack hat. Die EU sagt, es habe die gleiche Qualität. Jetzt ist meine Frage: Wenn es in der Europäischen Union diese Vollzugsdifferenzen gibt, wie wollen Sie dann - diese Frage müssen Sie beantworten eigentlich garantieren, dass Nachhaltigkeitskriterien eine höhere Autorität entfalten als die bisherigen Richtlinien und tatsächlich eingehalten werden? ({6}) Dazu sehe ich nichts in Ihrem Papier. Wenn über diese Dinge keine Auskunft zu erhalten ist, dann haben Sie uns letzten Endes weiße Salbe zugemutet, statt etwas Konkretes zu sagen. ({7}) Wenn Sie aber nichts Konkretes sagen, wenn Sie nicht einmal sagen, wie Sie beispielsweise Zielabweichungen, die durch das Monitoringsystem festgestellt werden, sanktionsbewehren wollen, wie Sie überhaupt die Diskussion darüber beginnen wollen, dann führen Sie die Menschen in die Irre. Sie spiegeln ihnen vor, dass Sie ein Problem in Angriff genommen und gelöst haben, während Sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht erkannt haben. ({8}) Noch etwas gefällt mir an diesem Papier nicht. Wir haben uns in letzter Zeit sehr viel darüber unterhalten, welchen Raum eigentlich freiwillige Verpflichtungen im Wirtschaftsbereich einnehmen sollen. Ich halte es für äußerst gefährlich, wenn der Eindruck erweckt wird, dass das Instrument der freiwilligen Verpflichtung, das ein wichtiges Stück Wettbewerb bei der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien darstellen könnte, durch den zu schnellen Griff nach ordnungspolitischen Regeln außer Kraft gesetzt wird bzw. keinen Raum mehr erhält. Das muss nach meiner Auffassung in ein solches Papier hinein. ({9}) Wenn Sie solche Papiere vorlegen, dann gibt es noch etwas zu beachten. Der Bürger auf der Straße - das gilt für jedes Land der Europäischen Union - möchte die Transparenz des Ganzen erkennen können. Er möchte wissen, wie die Entscheidungen fallen, und er möchte insbesondere wissen, ob Sie nun eigentlich mehr Regulierung oder mehr Deregulierung vorhaben. ({10}) Sie aber geben keinerlei Auskunft darüber, was Sie vorhaben. Es ist noch eine weitere Frage von Bedeutung: Inwiefern sollen beispielsweise die Nachhaltigkeitskriterien bei den europäischen Förderprogrammen berücksichtigt werden? ({11}) Es wär interessant, zu wissen, ob Sie europäischen Förderprogrammen nur noch dann zustimmen wollen, wenn sie mehr Nachhaltigkeit bringen. ({12}) Sagen Sie das doch! Wir wissen aber, dass Ihnen das wehtäte, weil Sie ganz genau wissen, dass Sie dann sehr viel Widerspruch ernten würden, auch bei den europäischen Mitgliedsländern. Doch an dieser Stelle muss meines Erachtens das Fuhrwerk nach vorn geschoben werden. Die Vorspiegelung, man könne darauf verzichten und eine Reihe von wolkigen Bemerkungen machen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({13}) Dann sage ich Ihnen noch etwas. Ich sehe nicht, wie Sie das Prozedere gestalten wollen, solche Kriterien zu entwickeln. Sie haben eine ganze Reihe von Angeboten, zur Mitarbeit bekommen. So haben die Länder auf der ACK im Mai dieses Jahres angeboten, Ihnen ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die Kommunen haben erhebliche Erfahrungen bei der lokalen Umsetzung der Agenda 21 gesammelt. Ich frage Sie: Wie wollen Sie alle diese Erfahrungen in den europäischen Prozess einbringen? Meine Damen und Herren, solange Sie darauf keine Antwort geben können, sollten Sie nicht solche Anträge stellen. Überlegen Sie sich das noch einmal in Ruhe und bringen Sie dann etwas ein, das wirklich Hand und Fuß hat. Ihr Antrag ist ein genaues Abbild der stagnierenden Überlegungen der Bundesregierung zur Nachhaltigkeit. Er ist unausgegoren, undifferenziert, wenig durchdacht, wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und schadet der Umwelt deshalb mehr, als er ihr nützt. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion das Wort.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wirklich überrascht, wie man einen so klar strukturierten Antrag so missverstehen kann wie Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({0}) Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dieser Antrag werfe für Sie Fragen über Fragen auf, dann stimmt mich das wieder hoffnungsfroh, denn Sie kennen den Spruch: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Also fragen Sie weiter! ({1}) Wenn Sie zudem der Meinung sind, dieser Antrag sei sehr unkonkret und unspezifisch, dann kann ich Ihnen auch da weiterhelfen. Ich empfehle Ihnen das schöne dicke Buch mit 120 Seiten, in dem die SPD-Bundestagsfraktion aktuell alle Facetten nachhaltiger Politik für Deutschland und Europa beschrieben hat. Ich stelle es Ihnen gerne zur Verfügung. Vielleicht sind Sie dann in der Lage, unserem nächsten Antrag zu diesem Thema zu folgen. ({2}) Sie reden hier wirklich an der Sache vorbei. Wir sprechen über das Konsultationspapier der Kommission zur Nachhaltigkeitsstrategie, das seit ungefähr zwei Monaten vorliegt und gestern zusammen mit einem, wie ich finde, hervorragenden Papier der Kommission zur Konkretisierung dieser Nachhaltigkeitsstrategie vorgestellt wurde. Interessant ist, dass sich keiner Ihrer Beiträge auf diese Papiere der Kommission bezog. Ich weiß nicht, ob Sie sie nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Aber genau um diese Aktionen der Europäischen Kommission dreht sich unser Antrag. ({3}) Frau Kollegin Homburger hat auf die anderen Staaten der EU verwiesen. Ich möchte hier hervorheben, dass die Europäische Kommission SPD und Grüne ausdrücklich gelobt hat, weil wir eines der wenigen Parlamente sind, die überhaupt einen konkreten Antrag zur Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union vor dem Gipfel in Göteborg behandeln. Das zeigt, dass wir an dieser Stelle sehr fortschrittlich und unserer Zeit ein ganzes Stück voraus sind. ({4}) Was ist dagegen einzuwenden, dass wir versuchen wollen, die ehrgeizigen ökonomischen Ziele des LissabonProzesses um ökologische und soziale Ziele und Leitplanken zu ergänzen? Nur so wird aus diesem Prozess doch ein nachhaltiger Prozess und genau das ist es, was wir mit diesem Antrag erreichen wollen. Wir haben diesen Antrag eingebracht in der Hoffnung, dass einem so guten Anliegen eigentlich jeder zustimmen kann. Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass wir ihn noch einmal in den Ausschüssen beraten müssen, weil er eigentlich klar gegliedert diesen fortschrittlichen Prozess unterstützt. Dass Sie ihm nicht folgen wollen, spricht nicht gerade für Sie. Ich will sehr deutlich sagen, dass die Kommission in ihren gestrigen Vorschlägen dazu, diesen Nachhaltigkeitsprozess weiterzubringen und in Zukunft zum Beispiel bei der Überarbeitung der gemeinsamen Agrarpolitik ein Hauptaugenmerk auf die nachhaltige Entwicklung zu richten, die Politik der Bundesregierung hin zu einer Agrarwende erkennt und unterstützt. Auch da waren wir unserer Zeit einen Schritt voraus, was man von Ihnen nicht behaupten kann. ({5}) Die Kommission schlägt jetzt vor, dass der europäische Gipfel in jedem Frühjahr nicht nur die Nachhaltigkeitsstrategie bewerten soll, sondern auch, wie die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie in der Europäischen Union und in den einzelnen Mitgliedstaaten gelingt. Damit sind wir genau an dem Punkt, von dem der Kollege Vaatz gesprochen hat, nämlich dass wir über Sanktionen erst dann diskutieren können, wenn wir ein Überprüfungssystem und dementsprechend Indikatoren geschaffen haben, ({6}) aufgrund deren wir dann Sanktionen verhängen können, wenn die entsprechenden Ziele nicht erreicht werden. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass Sie an dieser Stelle diese Reihenfolge offensichtlich verwechselt haben. ({7}) Wir stehen historisch gesehen vor der Chance - wir wollen die Bundesregierung mit unserem Antrag bestärken, diese Chance zu nutzen -, auf dem Gipfel in Göteborg einen wirklich großen Schritt weiterzukommen, nämlich die nachhaltige Strategie in alle Politikbereiche der Europäischen Union zu integrieren. Das ist ein großer Schritt, der natürlich konkretisiert werden muss; da sind wir uns einig. ({8}) Aber ich sage sehr deutlich: Jetzt geht es darum, diesen Schritt in Göteborg durchzusetzen. Dafür braucht die Bundesregierung Rückendeckung. Ich kann Sie nur auffordern - das sollte eigentlich auch in Ihrem Interesse sein -, durch eine große Mehrheit für diesen Antrag eine solche Rückendeckung für die Bundesregierung herzustellen. Denn es handelt sich in der Tat um sehr ehrgeizige Ziele. Die sollten wir jetzt gemeinsam angehen. ({9}) Lassen Sie mich als Europapolitiker zum Schluss noch etwas sagen: Sie sehen an diesem Antrag und zum Beispiel auch an der Implementierung eines runden Tisches, der unserem System des Nachhaltigkeitsrates folgt, dass die Bundesregierung in Europa auf diesem Feld eine fortschrittliche Politik macht. Sie muss jetzt darangehen, diese fortschrittliche Politik auch mit den europäischen Partnern umzusetzen. Sie sehen daran in aller Deutlichkeit, dass wir nicht nur in der Diskussion über die konstitutiven Elemente und die institutionellen Reformen, die wir im Rahmen des Leitantrages der SPD betreffend Europa debattieren werden, führend sind, sondern dass wir unsere Vorschläge hinsichtlich der Reform der Institutionen auch mit konkreten Inhalten füllen. Folgen Sie uns auf diesem Weg! Ich glaube, wir alle haben etwas davon. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/6057? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun ({0}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({1}) - Drucksache 14/4423 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) - Drucksache 14/6060 Berichterstattung: Abgeordnete Birgit Roth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. eine Redezeit von acht Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat für die antragstellende F.D.P.-Fraktion die Kollegin Gudrun Kopp das Wort.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die liberale Handhabung von Rabatten und Zugaben bringt allen Marktbeteiligten Vorteile: den Verbrauchern wie dem Handel. - So lautet das Ergebnis einer jüngsten internationalen Expertenbefragung in verschiedenen benachbarten EU-Ländern, die bereits Erfahrungen mit einer solchen Liberalisierung haben. Das hat die F.D.P. schon vor Jahren gewusst, nämlich in Person des ehemaligen Wirtschaftsministers Günter Rexrodt, der seiner Zeit weit voraus war ({0}) und die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vorangebracht hat. Allerdings hat dieses Vorhaben im damaligen Bundesrat keine Mehrheit gefunden. Aber wir versuchen es wieder. Seit sieben Monaten schon liegen die beiden erneuten Anträge der F.D.P.-Bundestagsfraktion auf Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vor. Wir wollen damit nicht nur EU-Richtlinien erfüllen. Durch die Liberalisierung wollen wir Preisvorteile für die Verbraucher im elektronischen Geschäftsverkehr, aber auch im Handel schaffen. Aber was bedeutet das? Es ist typisch deutsch, da wieder allerhand Ängste zu schüren und Probleme aufzubauen, die eigentlich gar keine sind; denn es wird niemand nach Basar-Manier oder in Preiskriegen über den Preis für ein halbes Pfund Butter streiten. Natürlich geht es vielmehr darum, dass auch höherwertige Güter zu günstigen Preisen abgegeben werden sollen - zum Wohle der Verbraucher. Wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, trauen den Bürgern zu, dass sie diese Wahl eigenständig treffen können und dass sie keine Bevormundung durch den Staat brauchen, der befürchtet, dass diese Entscheidung nicht von erwachsenen Menschen allein getroffen werden könnte. ({1}) Ich hoffe, wir sind uns einig darüber, dass Auswüchse durch das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, also das UWG, verhindert werden. Eine Umfrage der Beratungsgesellschaft Ericsson Consulting, die in verschiedenen europäischen Ländern im vergangenen Monat durchgeführt wurde, hat zudem ergeben, dass eine Liberalisierung der Regelungen in Rabattgesetz und Zugabeverordnung den größeren Firmen keinerlei Vorteile gegenüber den kleinen Firmen gebracht hat, sondern dass von der Liberalisierung sowohl der kleine und mittelständische Handel als auch die Großbetriebe profitieren. Ich denke, wir brauchen nicht zu befürchten, dass es durch die Liberalisierung zu Konzentrationstendenzen im Handel kommen wird. ({2}) Heute entscheiden wir leider nur über einen unserer Anträge, nämlich über den Antrag zur Abschaffung des Rabattgesetzes. Ich hoffe, dass wir am heutigen Abend mit Ihrem Votum unter Beweis stellen, dass wir im Deutschen Bundestag auch einmal auf ein Gesetz verzichten können, das längst überflüssig ist. Ich denke, das wäre vernünftig. Ich verhehle nicht, dass ich mich darüber wundere, dass Sie von der CDU/CSU-Fraktion ein wenig zögerlich sind und zum einen überlegen, eine Anhörung zu diesem Thema zu machen, die am 25. Juni stattfinden soll, und zum anderen, ob nicht gerade dem mittelständischen Handel ein weiteres Jahr an Übergangsfrist zugestanden werden soll, damit entsprechende Marketingstrategien vorbereitet werden können. Ich denke, das brauchen wir nicht. Der Handel weiß lange genug, was auf ihn zukommt. Wir sollten nicht länger verzögern und Rechtsunsicherheit schaffen. ({3}) Zu allem Überfluss ist unser Antrag auf Abschaffung des Rabattgesetzes im Wirtschaftsausschuss schon vor einigen Wochen von Rot-Grün abgelehnt worden. ({4}) Das Kuriose dabei ist, dass die Regierungsfraktionen inzwischen einen eigenen Antrag gleichen Inhalts vorgelegt haben. Allerdings - das gestehe ich Ihnen zu -: Sie wollen das Gleiche wie die F.D.P.-Fraktion, nur sind die Inhalte noch nicht von jeder Fraktion genannt worden. Insofern hoffe ich, dass Sie heute Abend den Mut haben, einem Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion zuzustimmen. Das wäre einmal etwas ganz Kühnes: völlig auf den Inhalt bezogen und weg vom Taktieren. ({5}) Wir haben seit neuestem ein Verbraucherministerium, ein Ministerium, das sich fernab von Agrarkrisen auch um den umfassenden Verbraucherschutz kümmern sollte. Ich vermisse in diesem Zusammenhang die Anwesenheit der Verbraucherministerin oder eines Vertreters bzw. einer Vertreterin aus dem Verbraucherministerium. ({6}) Frau Künast hat sich zum Inhalt überhaupt nicht geäußert. Das ist eben vom Wirtschaftsministerium und im Wirtschaftsausschuss bearbeitet worden und hat mit dem Verbraucherministerium null Komma nichts zu tun. Ich finde, das beweist sehr schön, wie wenig Bedeutung die Bundesregierung dem umfassenden Verbraucherschutz und der umfassenden Verbraucherpolitik tatsächlich beimisst. ({7}) Es ist schon klar, dass der Umbau der Agrarpolitik, der nun seit vielen Monaten angekündigt wird - obwohl sich recht wenig tut -, viel Arbeit macht. Aber wir als F.D.P.Bundestagsfraktion haben gleich gewarnt und gesagt: Dies ist eine Überforderung des Ministeriums. Wichtige andere Fragen wie die des Wettbewerbs, der Wirtschaftspolitik kommen hier einfach zu kurz. ({8}) Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie sehr herzlich, heute Abend dem Antrag der F.D.P.Bundestagsfraktion auf Abschaffung des Ladenschlussgesetzes zuzustimmen und mutig nach vorne zu gehen, um den Verbrauchern die Möglichkeit zu bieten, endlich von günstigeren Preisen zu profitieren. Denn Sie alle wissen, dass in der Praxis Preisrabatte von weit über 3 Prozent bei höherwertigen Gütern an der Tagesordnung sind. Ob Möbel, Automobile oder andere Artikel gekauft werden, es ist längst an der Tagesordnung, dass sich Verbraucher entsprechend orientieren. Ich finde, sie sollten das mit Fug und Recht möglichst bald tun. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem hier debattierten Gesetzentwurf begehrt die F.D.P.-Fraktion die Aufhebung des Rabattgesetzes. Das Anliegen der F.D.P.-Fraktion, Frau Kollegin Kopp, hat durchaus seine Berechtigung. In der Vergangenheit hat es immer wieder Bemühungen gegeben, das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung abzuschaffen. Der bisherige Widerstand der Wirtschaftsund Verbraucherinteressenverbände ({0}) ist spätestens nach der im Juli letzten Jahres in Kraft getretenen EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, den so genannten E-Commerce, gewichen, zu Recht. Denn danach muss sich ein Anbieter, der über das Internet wirbt, ausschließlich an das Wettbewerbsrecht seines Heimatlandes halten. ({1}) - Frau Kollegin, ich möchte Ihnen eines vorschlagen: Sie lassen mich jetzt ein paar Minuten lang reden, anstatt hier hereinzuschreien. Dann bin ich gerne bereit, Ihnen Rede und Antwort zu stehen. ({2}) Sie können mir auch eine Zwischenfrage stellen. Aber ich bin gerade dabei, meine ersten zwei Sätze zu reden und Sie schreien schon dazwischen. ({3}) Warten Sie doch erst einmal ab. ({4}) Für Anbieter mit Sitz in Deutschland würde dies eine massive Benachteiligung gegenüber ihren Mitbewerbern aus den Nachbarländern bedeuten, da Deutschland in diesem Zusammenhang innerhalb der Europäischen Union die einengendsten Vorschriften hat. Insoweit bin ich doch völlig auf Ihrer Seite, werte Frau Kollegin. Konkret würde dies bedeuten, dass Anbieter aus anderen EU-Staaten innerhalb der EU und damit auch in Deutschland mit hohen Rabatten und attraktiven Zusatzleistungen Kunden werben dürften, während dies einheimischen Anbietern untersagt wäre. Daher teile ich - Frau Kollegin, das sage ich ganz deutlich - das grundsätzliche Ansinnen der F.D.P., dies nicht tatenlos hinzunehmen, und halte es nur für folgerichtig, dass der Gesetzgeber zugunsten der Chancengleichheit Vorgaben schaffen muss, um Wettbewerbsnachteile deutscher Unternehmen im In- und Ausland zu verhindern. Deshalb weise ich in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass die Bundesregierung eigene Gesetzesentwürfe vorgelegt hat, die genau dies zum Inhalt haben. ({5}) Insofern - jetzt werde ich ein bisschen ernster und allmählich auch böse - ist es mir völlig unverständlich - das sage ich ganz klar -, warum wir hier heute gesondert den Antrag der F.D.P.-Fraktion debattieren müssen. Dies kostet das Parlament nur Zeit und bringt in der Sache wenig. ({6}) Man gewinnt vielmehr den Eindruck - das sage ich Ihnen ganz klar -, dass Sie diese Debatte ausnutzen, ({7}) um ein wenig politisches Profil zu erlangen, das Sie ansonsten überhaupt nicht aufweisen können. ({8}) Es hätte Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P.-Fraktion, ganz gut angestanden, hier etwas zurückhaltender zu sein, ({9}) weil Sie lediglich auf einen fahrenden Zug aufgesprungen sind. Das möchte ich hier einmal ganz klar sagen. ({10}) Die Bundesregierung hat - daran möchte ich Sie erinnern - erst im letzten Jahr eine ausführliche Anhörung zu diesem Gesetzesvorhaben durchgeführt, ({11}) an der über 70 Verbände und Interessengruppierungen teilgenommen haben. Sie hat zu Recht erst einmal das Ergebnis dieser Anhörung abgewartet, was Sie leider nicht getan haben. ({12}) Nachdem die F.D.P.-Fraktion dann mitbekommen hat, wohin der Zug fährt, in welche Richtung sich die Bundesregierung positionieren wird und wie ihr Meinungsbild sein wird, hat sie ganz schnell einen eigenen Gesetzentwurf aus der Tasche gezogen und eingebracht. Dieses Verhalten mag zwar legitim sein, ändert aber nichts daran, dass die F.D.P. lediglich den Ball aufgenommen hat, der von der Bundesregierung bereits längst ins Spiel gebracht worden war.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Manzewski, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp?

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, meine Frage können Sie dazu nutzen, ein wenig abzukühlen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Initiative zur Abschaffung des Rabattgesetzes und auch der Zugabeverordnung schon lange vor dieser Zeit von der F.D.P., von Herrn Rexrodt, erfolgt ist, wie ich das eben gesagt habe? ({0}) Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unsere Anträge vom November des letzten Jahres datieren? Sie haben eben davon gesprochen, dass wir auf den fahrenden Zug aufgesprungen seien. Sie als Regierungsfraktion sind es gewesen, die vor wenigen Wochen Ihren gleich lautenden Antrag nachträglich eingebracht haben. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihnen das unangenehm sein mag, aber dass Sie damit leben müssen?

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich möchte Ihre letzte Frage zuerst beantworten. Es ist natürlich richtig, dass Sie den Gesetzentwurf als Erste eingebracht haben. Dies geschah allerdings erst - das habe ich vorhin eindeutig gesagt -, nachdem die Bundesregierung eine Verbandsanhörung durchgeführt hat und klar war, in welche Richtung sich die Bundesregierung positionieren würde. Das als erste Antwort. Wenn Sie sagen, Sie haben vor drei, vier oder fünf Jahren bereits eine Gesetzesinitiative eingebracht, dann mag das sein. Ich weiß es nicht. Ich war damals noch nicht im Bundestag. Entscheidend ist doch, dass offensichtlich nichts passiert ist. ({0}) - Frau Kollegin, wir haben immer noch das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung. Sie sind doch in der Regierung gewesen. Sie können mir doch keine Vorwürfe machen. Wenden Sie sich an Ihren ehemaligen Koalitionspartner und nicht an uns. ({1}) - Frau Kollegin, ich bin möglicherweise ein bisschen lauter geworden, weil Sie nicht in der Lage gewesen sind, meine bis dahin ruhig vorgetragene Rede vernünftig anzuhören. Damit müssen Sie leben. ({2}) - Sie ist wirklich fürchterlich. Das sehe ich genauso. Aber ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren. Man kann über alles diskutieren. Ich will damit sagen, dass die Intention Ihres Gesetzentwurfs von uns im Grundsatz geteilt wird. Was ich nicht verstehe - Sie haben es selbst angesprochen - ist, warum nicht abgewartet wird, bis der Diskussionsbedarf, der offenbar besteht, befriedigt ist. Die überwiegende Mehrheit der Wirtschafts- und Verbraucherverbände spricht sich tatsächlich für eine ersatzlose Abschaffung aus. Aber es gibt einzelne, wenn auch wenige Verbände, die unsicher sind, ob die bestehenden Gesetze ausreichen, um vor einer Verwilderung der Wettbewerbssitten zu schützen. Dazu gehört zum Beispiel auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, der HDE. Ich teile zwar die Bedenken dieses Verbandes im Wesentlichen nicht. Aber ich halte es in der Sache für vollkommen richtig, die Bedenken des Einzelhandels ernst zu nehmen. Dafür sind jedenfalls mir persönlich, Frau Kollegin, Thema und Klientel viel zu wichtig. Ich befürworte deshalb eindeutig die Vorgehensweise, nicht zu schnell zu handeln, weil wir uns nichts vergeben, wenn wir diese Anhörung und die Diskussion abwarten. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist für mich auch Mittelstandspolitik, die Sorgen des Einzelhandels ernst zu nehmen. Deswegen verstehe ich Ihre Ungeduld nicht. Der Deutsche Bundestag wird eine Anhörung durchführen, um abzuklären, ob Rabattgesetz und Zugabeverordnung ersatzlos gestrichen werden können oder ob nicht doch noch im UWG verankerte Auffangregeln zum Schutz des Wettbewerbsrechts geschaffen werden müssen. Nach der Anhörung - davon bin ich fest überzeugt werden wir mit noch größerer Sicherheit sagen können, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben oder ob wir nicht doch noch Maßnahmen ergreifen müssen, um den Betroffenen ihre Ängste zu nehmen. Ich selbst habe - darauf habe ich bereits in der letzten Rede hingewiesen - lediglich bei den so genannten Kundenbindungssystemen Bedenken. Zum einen befürchte ich, dass hier die Konzerne im Vorteil sein könnten. Das ist aber nur meine momentane Sorge. Zum anderen sehe ich die Gefahr, dass die Verbraucher, um in den Genuss der dort ausgegebenen Bonuspunkte zu kommen, keinen Preisvergleich mehr anstellen. Auch hierüber - deswegen halte ich sie für sehr wichtig - wird die Anhörung Klarheit bringen. Es wäre sehr schön und sachgerecht gewesen, Frau Kopp, wenn auch Sie diese Anhörung noch abgewartet hätten. Bereits hieraus ergibt sich, wie unsinnig die heutige Debatte ist. ({3}) - Das ist meine Auffassung. Es wird hierdurch deutlich, wie wenig sich die F.D.P. offensichtlich für die Belange des Einzelhandels interessiert. Anders kann man Ihre Argumentation nicht interpretieren. Wenn ich, was zurzeit öfters vorkommt, Frau Kollegin, zu diesem Thema mit den regionalen Vertretern der Verbände Gespräche führe, wird dieses Verhalten - um es vorsichtig auszudrücken - nicht gerade freundlich zur Kenntnis genommen. Dies zeigt dann aber auch ganz deutlich, Frau Kollegin Kopp, welche Interessen die F.D.P. vertritt - jedenfalls nicht die des Einzelhandels. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Ich halte es für sehr wichtig, dass die Bundesregierung das Vorhaben weiter begleiten wird. Das Bundesjustizministerium hat deshalb zutreffenderweise parallel zu dieser Reform eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Verbraucherverbände und der beteiligten Wirtschaftskreise eingerichtet, um die Rechts- und Wirtschaftspraxis im Bereich von Zugaben und Rabatten zu verfolgen und zu bewerten. Diese Arbeitsgruppe wird aber auch Vorschläge für die weitere Modernisierung des Rechts gegen den unlauteren Wettbewerb - die ich für wichtig erachte - und - das halte ich für noch wichtiger - für ein europäisches Harmonisierungskonzept erarbeiten. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der zunehmenden Verflechtung internationaler Märkte und der wachsenden Bedeutung grenzüberschreitender Marketingstrategien wird es entscheidend darauf ankommen - darauf lege ich sehr viel Wert -, unabhängig von dem, was wir hier beschließen, international vereinheitlichte Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zu schaffen. Insoweit halte ich es dann auch für richtig, dass sich die Europäische Kommission nicht zuletzt auf Initiative der Bundesregierung, der ich dafür sehr danken möchte, verpflichtet hat, Vorschläge für geeignete Regeln für das Marktverhalten von Unternehmen zu erarbeiten. Ich denke, dies ist der einzig richtige Weg, mit diesem Thema sachgerecht umzugehen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Herr Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Manzewski, ich denke, an einer Stelle sollten wir ganz redlich sein: Beim Rabattgesetz und bei der Zugabeverordnung war es wirklich vor allem und immer nur die F.D.P., die beides eigentlich schon lange hat abschaffen wollen. Damals waren die SPD und wesentliche Teile der CDU/CSU dagegen. Dass sich aber eine kleinere Koalitionspartei gegenüber dem größeren Koalitionspartner nicht immer durchsetzt, ist nicht nur verständlich, sondern sogar begrüßenswert. Was würden sonst die Grünen permanent mit Ihnen machen, Herr Staffelt! ({0}) Das ist doch einfach nur vernünftig. An dieser Stelle sollten wir uns wirklich nicht streiten. Es besteht auch Einigkeit darüber, dass das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung in ihrer jetzigen Form nicht aufrechterhalten werden können und abgeschafft werden sollen; darüber gibt es keinen wirklichen Streit. Ich brauche jetzt auch nicht die Gründe dafür zu nennen, warum das alles so ist. Das wissen wir: technologische Gründe, Inländerdiskriminierung, Umgehungstatbestände, die Tatsache, dass die Kunden klüger geworden sind - ich könnte die Liste der Gründe beliebig verlängern; darüber gibt es ja viele Untersuchungen. ({1}) Aber die Ziele, die mit diesen beiden Gesetzen über viele Jahre angestrebt werden sollten, nämlich der Verbraucherschutz und die Sicherung des Wettbewerbs, bleiben ja wichtig. Die Frage ist: Wie können wir diese Ziele in der sich verändernden Zeit dennoch verfolgen? Wie kriegen wir das hin? Deswegen finde ich es zu kurz gedacht, einfach zu sagen: „Ersatzlos weg damit“, ohne dass man abwartet, wo es ein Problem gibt, und sich dann fragt: Wie kann man diesem Problem begegnen? Das ist nach meiner Meinung zu kurz und nicht nachhaltig gedacht; die Nachhaltigkeit ist hier ja heute breit diskutiert worden. Machen wir uns nichts vor: Das, was wir hier tun, bewirkt eine sehr bedeutende Veränderung der Verhaltensweisen im deutschen Markt. Die Beziehung zwischen Kunde und Kaufmann, die eigentlich ein ganz wesentliches Element jeder Marktwirtschaft ist - vielleicht das wesentliche Element -, wird gründlich geändert. Viele Veränderungen sind mit diesen so unwirklich klingenden Gesetzen verbunden. Sie betreffen das Verhalten von Käufern und Herstellern, das Verhalten von Käufern und Verkäufern - alles das wird verändert. Wenn man da bei einer schwachen Handelsstruktur Fehler macht, kann das bei manchen Betroffenen zu erheblichen Problemen führen. Deswegen müssen wir das Thema ernst nehmen. Man kann nicht einfach sagen: Weg damit! Ich will jetzt nicht eine lange Liste aufführen, welche Veränderungen im Einzelnen stattfinden. Unglaublich viel wird sich im deutschen Käuferverhalten, im Verhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern verändern. Der Einzelhandel ist in Deutschland so schwach strukturiert, dass ich keine Experimente nach der Methode erleben will: Schauen wir erst einmal, wie viele dabei auf der Strecke bleiben; dann fällt uns vielleicht etwas ein. Da lautet meine Frage: Wie sind wir darauf vorbereitet? Wir haben genug Zeit gehabt. Wir wissen seit spätestens zwei, drei Jahren - CDU/CSU und SPD -, dass das nicht zu halten ist. Was haben wir denn getan? Wir erheben in diesem Zusammenhang die Forderung nach Entwicklung eines europäischen Lauterkeitsrechts. Dazu muss ich sagen: Fehlanzeige! Bisher ist nichts passiert. Schade! Ich will gar nicht genau angeben, was das sein müsste, aber es sollte etwas passieren. Das muss man aktiv gestalten. Dann wird dann gesagt, das sei in Europa schwer durchzusetzen. Das Wettbewerbsrecht, das es in Europa gibt, ist in Deutschland entwickelt worden; es ist damals mutig in die Europäische Union getragen worden und ist heute einer der wesentlichen Stützpfeiler für ordentliches Marktverhalten. Diesen Mut wünsche ich mir auch im Zusammenhang mit einem Lauterkeitsrecht. Ich denke, die Sache kann vorangehen, wenn der Kanzler wirklich will. Er hat bei der Frage des Übernahmerechts, allerdings zu spät, eine Aktion gestartet. Er ist dabei wohl von VW angesprochen worden. Die Sache war ihm offensichtlich so wichtig, dass er sich gegen alle 14 Länder stellt. Das ist eine interessante Entwicklung. Wenn er eine Sache wirklich ernst nehmen würde, zum Beispiel die Entwicklung eines vernünftigen, harmonisierten europäischen Lauterkeitsrechts, könnte er etwas bewegen. Ich muss in diesem Zusammenhang leider von einer Fehlgestaltung sprechen. Es ist wichtig, zu prüfen, wie es sich mit dem UWG und dem GWB verhält. Man muss sich überlegen, was man dort eventuell noch einbauen kann. Es gibt Vorschläge, die ich mir momentan noch nicht zu Eigen mache. Wir sind in diesem Bereich in einem Such- und Lernprozess. Aber diesen müssen wir wenigstens beginnen, damit wir die Betroffenen nicht alleine lassen und verhindern, dass sie Konsequenzen zu tragen haben, die sie existenziell bedrohen. Für die Verbraucherschützer ist es ein wichtiges und bisher nicht wirklich gelöstes Problem, wie eine irreführende Preisgestaltung verhindert werden kann. Eine solche wollen wir nicht; wir wollen fair miteinander umgehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir das regeln können und was uns dazu einfällt. Man darf in diesem Zusammenhang nicht so tun, als seien nur die Deutschen so verrückt. So finden wir in sieben europäischen Ländern Zugaberegelungen. Wir stehen somit nicht alleine mit unseren Überlegungen, das Marktverhalten fair zu gestalten, ohne die Innovationskraft zu beeinträchtigen und gleichzeitig Sicherheit und Solidität zu gewährleisten. Um diese Fragen zu klären, haben wir gesagt: Wir veranstalten ein Hearing. Ein solches gehört zum zentralen Bestand der parlamentarischen Mittel. Die Regierung veranstaltet selbstverständlich eine Anhörung, bevor sie einen Referentenentwurf macht. Aber wir waren alle nicht anwesend; vielleicht muss das geändert werden. Deshalb veranstalten wir ein eigenes Hearing; wir machen es auch relativ kurz: nur zweieinhalb Stunden. Angesichts des komplexen Themas müssen wir sehen, dass wir das so konzentriert hinbekommen, dass die richtigen Fragen gestellt werden können und die wichtigen Verbände und Interessenvertreter dabei sind. Ich denke, wir sind hier auf einem guten Wege. Morgen findet noch ein Obleutegespräch statt. Lassen Sie mich noch einen anderen Gedanken ansprechen, der mir sehr wichtig ist: Ich glaube, dass wir die größten Veränderungen in den Strukturen über die Entwicklung von Kundenbindungssystemen bekommen werden. In diesem Zusammenhang besteht ein unglaublich großes Veränderungspotenzial. Ich will dabei nur eine Frage ansprechen, die mir sehr wichtig ist: Im europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht gilt, dass Konzerne alles dürfen, weil sie eine Firma sind. An jedem Ort, an dem sie vertreten sind, können sie Absprachen treffen, Werbestrategien machen und einkaufen, wie sie wollen. Sie sind absolut frei. Dagegen sind selbstständige Händler und selbstständige Kaufleute durch einige Regeln im Wettbewerbsrecht daran gehindert, sich so zu verbinden, dass sie ähnliche Vorteile wie Konzerne erreichen können. Ein selbstständiger Kaufmann, der sich mit seinem Nachbarn - ein Nachbar in einer anderen Stadt oder in einer anderen Branche - beim Einkauf oder bei der Werbung derart verbinden würde, würde an Grenzen stoßen, die durch das Kartellrecht gezogen werden: Das ist eine Absprache. Das Wettbewerbsrecht darf aber nicht so gestaltet sein, dass derjenige, der es ausnutzen will, gezwungen wird, ein Konzern zu werden. Das würde bedeuten, dass das Wettbewerbsrecht eine Beschleunigungswirkung in BeHartmut Schauerte zug auf die Konzernbildung hätte; eine solche wollen wir alle nicht. Also muss man bei Kundenbindungssystemen überlegen: Welche neuen Freiräume muss ich zum Beispiel dem Einzelhandel geben, damit er, ohne das Kartellrecht zu verletzen, seine Einkaufs- und Verkaufsstrategien so entwickeln kann, wie es für ihn passt? Das ist ein objektiv gegebenes Problem. Deswegen dürfen wir nicht vorschnell Regelungen ersatzlos beseitigen, sondern müssen uns überlegen, welche Wirkungen eintreten und welche Maßnahmen wir treffen können, um die Wirkungen so zu steuern, dass sie die Chancen vergrößern und die Risiken vermindern. In diesem Zusammenhang sind wir alle gefragt. Deswegen dürfen wir das nicht überstürzen; es ist nicht kriegsentscheidend, ob wir eine Entscheidung in zwei, drei, fünf oder sechs Monaten treffen. Rabatt- und Zugabeverbote werden fallen. Dies betrifft viele selbstständige Existenzen sowie die Verbraucher. Lassen Sie uns deshalb vernünftige Ansätze finden, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen, und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Man kann Fehlentwicklungen in vielen Bereichen kommen sehen und vorsorglich die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Ich möchte zum Schluss kommen und nicht die ganzen 16 Minuten nutzen, die mir an Redezeit zustehen und die ich lieber bei einem anderen Thema und bei vollem Haus hätte; denn es wird zum selben Thema nach dem Hearing eine neue Debatte mit einem fast identischen Gesetzentwurf geben. Wir wollen - damit das klar ist - den Betroffenen Fragen stellen und von ihnen Antworten hören. Wir wollen ihnen zeigen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen und nicht einfach kaltschnäuzig über sie hinweggehen. Wir wollen mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen. Wir fordern erstens die Harmonisierung des Wettbewerbsrechts und des Lauterkeitsrechts in Europa, zweitens europataugliche Reformen des UWG und des GWB und drittens von der Bundesregierung - diese Bitte habe ich schon in der letzten Debatte Anfang April vorgetragen -, einen Bericht über den Stand der Harmonisierung des europäischen Wettbewerbsrechts vorzulegen, und zwar bald und rechtzeitig, damit wir aus ihm Konsequenzen für das ziehen können, was noch anzupacken ist. Dieser Bericht ist überfällig. Ich hoffe auf das Verständnis der F.D.P., wenn ich jetzt erkläre: Die Antragslage ist kompliziert. Sie haben wie wir und die Regierung einen eigenen Antrag eingebracht. Außerdem haben wir noch ein Hearing vor uns. In einer solchen Situation entscheiden wir nicht einfach. Wir wollen die Ergebnisse des Hearings abwarten und enthalten uns deswegen hier und heute der Stimme. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 5. April dieses Jahres wurde der Antrag der Bundesregierung zur Aufhebung des Rabattgesetzes auf den parlamentarischen Weg gebracht. Im Warum sind wir uns ja völlig einig: Die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ist in nationales Recht umzusetzen. Dann müssen in Deutschland anbietende ausländische Unternehmen kein Rabattgesetz beachten, deutsche Unternehmen im Ausland schon. Deutsche Unternehmen werden also am Markt diskriminiert. Darüber besteht absoluter Konsens. Am 9. Mai hat der Wirtschaftsausschuss eine Sachverständigenanhörung beschlossen. Ich weiß wirklich nicht, warum wir uns heute nochmals mit demselben Anliegen befassen müssen, ohne die anstehende Anhörung zu diesem Thema abgewartet zu haben. Es ist ja wohl guter parlamentarischer Brauch, auf Antrag Sachverständigenanhörungen durchzuführen. Aber Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., wollen heute abschließend über Ihren Antrag beraten. Sie sollen Ihren Willen bekommen. Gleich ist Ihr Antrag vom Tisch! ({0}) Ich frage mich natürlich - ich bin heute Abend sicherlich nicht der Einzige, der sich das fragt -, warum Sie so agieren. Diese sozusagen außerplanmäßige Befassung macht meines Erachtens keinen Sinn. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., vergeuden hier Ihre kostbare Debattenzeit und unsere gleich mit. ({1}) Fest steht doch, dass es in der Sache keinerlei Dissens gibt. Zumindest wir von Rot-Grün wollen und werden die Anhörung am 26. Juni nutzen, um uns eingehender informieren zu lassen, damit in der Sache noch kompetenter entschieden werden kann. ({2}) Ihr Antrag muss also abgelehnt werden, weil er zu früh, also zur Unzeit, eingebracht worden ist. Halten Sie von der F.D.P. Wissensvermehrung durch eine Anhörung für überflüssig? Ich verstehe Sie nicht. Wenn Sie dieser Meinung wären, würden Sie schon im Vorfeld nicht nur die sachverständigen Anhörpersonen, sondern letztendlich auch Ihre Wählerinnen und Wähler brüskieren. Aber meinetwegen, uns kann es nur recht sein. Dem Debattenstand vom 5. April ist zum jetzigen Zeitpunkt inhaltlich nichts Neues hinzuzufügen. Unnötige Wiederholungen sind mir ein Gräuel. Wer nutzlos meine Zeit mir nimmt, ist ein Dieb - diesen Spruch sollten wir verinnerlichen. ({3}) Da man nicht stehlen darf, werde ich Ihnen Ihre kostbare Debattenzeit nicht länger nehmen. Nach der Anhörung im Ausschuss sehen wir uns zum gleichen Thema hier wieder, ({4}) dann aber leider ohne den an sich richtigen F.D.P.-Antrag; denn der ist dann bereits beerdigt. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wäre die Häufigkeit des Aufrufs eines Themas in einem bestimmten Zeitabschnitt ein Wertmaßstab, müsste es um eine Jahrhundertreform gehen. ({0}) Diesen Eindruck müsste man gewinnen. Sie schauen so entsetzt, aber das ist einfach so. Innerhalb von nicht mehr als fünf Monaten reden wir jetzt zum dritten Mal darüber und haben schon das vierte Mal für Juni/Juli geplant. Ich habe gerade gehört: Die Argumente werden sich selbst nach der Anhörung nicht verändern. ({1}) Wenn ich in eine Anhörung gehe, versuche ich, immer noch etwas mitzunehmen. Wenn ich aber vorher schon feststelle, dass ich in eine Anhörung gehe und hinterher die gleiche Rede halte, dann können wir uns darauf verständigen: Wir halten zum vierten Mal die gleiche Rede und prüfen nur nach, ob sie so perfekt ist wie beim ersten Mal. Das ist aber eigentlich nicht der Sinn der Parlamentsarbeit. Wir haben über die Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung unsere Argumente ausgetauscht. Ich will hier nur noch einmal deutlich sagen, warum wir heute beide Gesetzentwürfe ablehnen. Die Abschaffung der beiden Rechtsnormen bedarf nach unserer Auffassung einer präziseren Regelung im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, wenn nicht Verbraucher und Händler vor einem heillosen Chaos stehen sollen. Das ist beispielsweise beim momentanen Rechtsstreit - Frau Kopp, Sie haben das vorhin anders gesagt, aber ich entnehme das einfach den Tickermeldungen von heute - zwischen Edeka und Fiat eindrucksvoll zu beobachten. Ich meine den heftig beworbenen Verkauf von Autos, gekoppelt beispielsweise mit Motorrollern, Druckern, Handys, Kameras oder Hotelübernachtungen - über alle denkbaren Vertriebswege. Natürlich geht es dabei auch um andere Rechtsnormen, aber eben auch - für den Verbraucher sogar vordergründig - um Rabatte oder Zugaben, je nach persönlicher Sichtweise: ob man tatsächlich im Moment alles braucht oder nur den Wagen, den man kaufen wollte. Drei Gerichte - das kann man heute nachlesen -, nämlich in Köln, Karlsruhe und Offenburg, sprechen Recht, aber alle in drei verschiedene Richtungen. Es gibt also durchaus eine Rechtsunsicherheit, eine Auslegungsmöglichkeit bei dem, wovon wir hier reden. Davor sollte man sowohl die Verbraucher als auch die Händler schützen. Es ist allein schon strittig, ob es bei dem Angebot überhaupt Rabatte gegenüber dem Einzelpreis der Waren gibt, also für den Kunden bei dem Geschäft Zugaben herauskämen. Bereits das sollte uns als Gesetzgeber aufmerksam machen. Der Fall Edeka/Fiat bietet gewiss nur einen kleinen Vorgeschmack - das sehe ich so; Sie mögen das anders sehen - auf das, was uns nach dem formalen Fall von Rabatt- und Zugabeverbot an bisher unbekanntem Marketing ins Haus steht. Das belegt aus unserer Sicht viererlei: Erstens. Offensichtlich reichen die bisherigen Normen in UWG und GWB nicht aus, um Verbraucher vor möglicherweise irreführenden Werbestrategien zu schützen. Zweitens. Nicht nur der erforderliche Verbraucherschutz gerät leicht ins Rutschen, sondern auch die Lieferanten der Händler. Wie sollen beispielsweise noch Marken aufgebaut und gehalten werden, wenn künftig alles und jedes als Zugabe verramscht werden kann? Drittens. Die Gemengelage ist schon so kompliziert, als dass man auch noch die CDU/CSU-Idee verfolgen sollte, Herr Schauerte, bei einer Regelung Übergangsfristen für bestimmte Marktteilnehmer einzuführen. ({2}) - Sie haben ja bestimmte Gruppen genannt! Ich sage jedenfalls voraus: Wir hätten dann plötzlich Unternehmen als mittelständische Einzelhändler, von denen wir es uns bisher nie erträumt hätten, dass sie sich als Mittelständler bezeichnen würden. ({3}) Das wäre auch wieder ein unnötiger Streit. Viertens. Wer sich angesichts aller Probleme als Gesetzgeber allein auf das Richterrecht verlässt, der ist verlassen. Deshalb, meine Damen und Herren von der Koalition: Gehen Sie nicht nach dem Motto „Augen zu und durch“ vor, schaffen Sie nicht jetzt schnell das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung ab und beobachten erst dann die Rechtspraxis. Der Preis könnte sich für viele Menschen - als Konsumenten, als Händler oder als Produzenten - als entschieden zu hoch erweisen. Kurzum: Wenn wir schon in eine Anhörung gehen - sie ist für den 25. Juni beschlossen -, sollten wir aus der Anhörung auch ein Stück klüger herausgehen und das bei der Gesetzgebung berücksichtigen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Birgit Roth von der SPD-Fraktion das Wort. Helmut Wilhelm ({0})

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche Rabattgesetz stammt aus dem Jahre 1933. Wir alle wissen, wie stark, wie schnell, wie rasant, wie grundlegend sich die Märkte und die Wirtschaftsabläufe seitdem verändert haben, sei es bei uns in Deutschland, sei es europaweit, sei es international. Deswegen liegt es jetzt auch an uns, die Herausforderungen anzunehmen und das Rabattgesetz auf einen aktuellen, auf den neuesten Stand zu bringen, denn wir wissen alle: Wir haben die E-Commerce-Richtlinie. Wir sind ja gerade dabei, diese in nationales Recht umzusetzen. Je schneller wir die wirtschaftlichen, aber vor allem auch die gesetzgeberischen Rahmenbedingungen verändern, desto besser wird es für die deutschen Anbieter sein. ({0}) Es ist bereits mehrfach erwähnt worden: Im Internet besteht eine Inländerdiskriminierung. Das ist überhaupt keine Frage. Wir haben sicherlich eines der restriktivsten Rabattgesetze, die es gibt, wahrscheinlich sogar das restriktivste überhaupt. Alleine aus wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten heraus können wir diese Situation nicht länger akzeptieren. Deshalb werden wir auch entsprechend handeln. Es hat von unserer Seite aus bereits letztes Jahr eine Verbändeanhörung mit über 70 Verbandsvertretern gegeben. Da hat sich die überwältigende Mehrheit für die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung ausgesprochen. Bereits letztes Jahr haben sich beide Minister - Frau Herta Däubler-Gmelin und der Wirtschaftsminister - ganz klar für die Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ausgesprochen. Den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir hier in den nächsten Wochen debattieren. Deswegen ein kurzer Satz an die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.: Ich glaube nicht, dass es darum geht, darüber zu streiten, wer denn nun angefangen hat, wer denn nun der Erste war. Wichtig finde ich, dass in diesem Bereich etwas passiert. Genau daran sind wir beteiligt. ({1}) - Dazu fällt mir immer spontan ein: Mensch, warum haben Sie es denn nicht gemacht? Sie hatten ja wirklich lange genug Zeit. Wir haben gewisse Übereinstimmungen in der Sache; das ist überhaupt keine Frage. Aber was wir nicht möchten, ist eine vorschnelle Lösung ({2}) zulasten des Mittelstandes; das muss ich Ihnen ganz klar sagen. Das, was Sie gerade machen, ist aus meiner Sicht mittelstandsfeindlich. Wir haben schon des Öfteren erwähnt - die CDU teilt diese Perspektive mit uns -, dass wir zum Bereich der Kundenbindungssysteme nochmals eine Anhörung machen sollten. Diese ist bereits auf den 25. Juni terminiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ich verstehe nicht, warum Sie nicht noch diese fünf Wochen abwarten, da wir doch diese Debatte seit Jahren führen. Wir sollten wenigstens abwarten, bis die Bedenken formuliert sind, und nicht im Vorfeld, nicht zur Unzeit handeln, wie es der Kollege von den Grünen so schön formuliert hat. Wir sollten den kleinen und mittleren Unternehmen Chancengleichheit zubilligen: im Bereich der Kundenbindungssysteme, im Bereich der Rabattkooperationen oder auch im Bereich der Bonussysteme. Ich möchte noch einmal betonen: Wenn wir an die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung gehen, dann sollten beide Seiten davon profitieren, sowohl kleine und mittlere Unternehmen als auch die Marktführer. ({3}) Deswegen stimmen wir dem Antrag der CDU/CSUFraktion auf eine Anhörung zu. Wir nehmen diese Bedenken ernst. Warten wir doch einfach einmal die Ergebnisse ab! In diesem Sinne können wir momentan nicht anders, als den Gesetzentwurf der Liberalen abzulehnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Rabattrechtsanpassungsgesetzes der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4423. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/6060, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetzt bekannt, wie die Debatte weiter ablaufen soll. Die Reden zu den Tagesordnungspunkten 8, 9, 10 und 11 sowie zu Zusatzpunkt 6 sollen mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll gegeben werden. Zum Tagesordnungspunkt 12 ist eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen; die F.D.P. gibt ihren Redebeitrag zu Protokoll. Die Reden zu Tagesordnungspunkt 13 sollen zu Protokoll gegeben werden; nur die PDS beabsichtigt, dazu zu reden. Sie sehen also: Es ist nur noch eine gute halbe Stunde, vielleicht eine Dreiviertelstunde, die wir hier zusammen arbeiten müssen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung Weißbuch zur Umwelthaftung - Drucksachen 14/3341 Nr. 2.17, 14/4115 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Winfried Hermann Eva Bulling-Schröter Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben werden, wie ich eben bekannt gegeben habe.1) Die Reden zu die- sem und zu den folgenden Punkten liegen übrigens alle in Schriftform vor. Ich erspare mir deshalb, die Namen der Redner jetzt im Einzelnen vorzutragen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/4115. Der Ausschuss empfiehlt in Kennt- nis des Weißbuches der Europäischen Kommission zur Umwelthaftung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Konzept der regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit umgehend korrigieren - Drucksache 14/4928 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Perus Rückkehr zur Demokratie unterstützen - Drucksache 14/4527 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol- len zu Protokoll gegeben werden.2) - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4928 und 14/4527 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen - Drucksache 14/5975 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Patentwesens an den Hochschulen - Drucksache 14/5939 Überweisungsvorschläge: Rechtsausschuss ({5}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol- len zu Protokoll gegeben werden.3) - Es gibt keinen Widerspruch. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/5975 und 14/5939 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 11 sowie zum Zusatzpunkt 6: 11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({6}) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Importverbot für qualgezüchtete Tiere - Drucksachen 14/3505, 14/6058 Berichterstattung: Abgeordneter Heino Wiese ({7}) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne Klappert, Heino Wiese ({8}), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 1) Anlage 2 2) Anlage 3 3) Anlage 4 der Abgeordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Albert Deß, Peter Bleser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Haltungs- und Ausstellungsverbot für qual- gezüchtete Tiere - Drucksache 14/6052 - Die Reden zu diesem Punkt sollen zu Protokoll ge- nommen werden.1) - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einem Importverbot für qualgezüchtete Tiere auf Drucksache 14/6058. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3505 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen zu einem Haltungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere auf Drucksache 14/6052. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Für die demokratische Erneuerung Pakistans - Drucksache 14/5684 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass der frak- tionsübergreifende Antrag „Für die demokratische Er- neuerung Pakistans“ nach monatelanger Arbeit und Ab- stimmung heute auf der Tagesordnung des Bundestages steht. Ich bin den Kollegen auch dafür dankbar, dass die Reden trotz der vorgerückten Stunde nicht zu Protokoll gegeben werden, sondern kurz persönlich Stellung ge- nommen wird. Dies ist nämlich auch ein Signal an die pa- kistanische Politik und an eine pakistanische Delegation, die sich derzeit in Berlin aufhält. Wir haben bis in die jüngste Zeit noch um die eine oder andere Formulierung gekämpft und Kompromisse ge- schlossen. Aber in den Kernaussagen waren wir uns par- teiübergreifend und zwischen Außen- und Entwicklungs- politikern sehr schnell einig: Pakistan befindet sich in einer sehr entscheidenden und kritischen Phase seiner Ge- schichte. Es steht sehr viel für das Land, für die Bevöl- kerung, aber auch für die gesamte Region Südasien auf dem Spiel. Deswegen sind auch wir als deutsche Parla- mentarier gefordert, das in unseren Kräften Stehende zu tun, damit die Weichen am Indus in die richtige Richtung gestellt werden, auch wenn unser Beitrag dabei natürlich nur bescheiden sein kann. Wir als Demokraten haben den Militärputsch in Pakis- tan vor eineinhalb Jahren nicht gutgeheißen. Aber wer sich in den Jahren zuvor mit Pakistan beschäftigt hat, konnte auch mit den durch demokratische Wahlen herbeigeführten politischen Zuständen nicht zufrieden sein. Die Pakistan-Freunde in Deutschland waren ent- täuscht und manchmal auch verzweifelt, zu sehen, wie das Land immer stärker durch Misswirtschaft, Korruption und außenpolitische Abenteuer litt. Wir haben alle vor der Entscheidung gestanden, das Prinzip Demokratie an sich hochzuhalten oder der Regierung des Generals Musharraf unter Bedingungen bei seinen angekündigten, dringend notwendigen Reformbemühungen Unterstützung zu ge- währen. Mit unserem Antrag haben wir uns für beides entschie- den. Musharraf hat angekündigt, die Zeit der Militär- herrschaft für grundlegende politische, soziale und wirt- schaftliche Reformen des Landes zu nutzen, die Wirtschaft wieder zu beleben, Korruption aufzudecken und zu ahnden sowie durch eine Rundumerneuerung von Staats- und Verwaltungsstrukturen die Grundlage für die Renaissance der Demokratie zu legen. In der Tat: Ohne eine solche Reform steht ohnehin jede Wiedereinführung der Demokratie nur auf dem Papier und ist zum Scheitern verurteilt. Die Regierung Musharraf hat den Ankündigungen viele konkrete Schritte - zum Beispiel bei der Korrup- tionsbekämpfung, bei der Neuordnung des Staatsaufbaus und auch bei der Reform der Gebietskörperschaften - fol- gen lassen. Die Rückkehr zur Demokratie ist nach ei- nem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Pakistan für Herbst 2002 geplant. Aber zum voreiligen Optimismus besteht leider kein Anlass. Die bisherigen Reformschritte sind mutig, aber für die notwendige Modernisierung von Staat, Wirt- schaft und Gesellschaft Pakistans noch nicht ausrei- chend. Die Außenpolitik Pakistans, zum Beispiel gegen- über Afghanistan und Indien, ist dubios. Die bis in einflussreiche Regierungs- und Militärkreise hinein wachsende religiöse Militanz und die zunehmende Stärke und Selbstständigkeit religiös motivierter paramilitä- rischer Gruppen erregen Besorgnis. Die Spannungen zwi- schen den einzelnen Provinzen und Volksgruppen steigen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 1) Anlage 5 Mein Eindruck ist, dass wir den reformwilligen Kräften von Politik und Regierung in Pakistan schnell die Hand reichen müssen - schneller als bisher geplant. Ich appelliere daher an die Bundesregierung, die kurzfristig abgesagten hochrangigen außenpolitischen Kontakte sehr rasch auf höchster diplomatischer Ebene anzugehen. ({0}) Außerdem müssen wir bei den anstehenden Regierungsgesprächen über die Entwicklungszusammenarbeit deutliche Signale setzen und unsere verstärkte Hilfe anbieten. Dies betrifft vor allem die Hilfestellung bei der Konzipierung und Durchführung der gesellschafts- und wirtschaftpolitischen Reformen und die Politikberatung. Das ist jetzt entscheidend. In diesem Punkt müssen unsere politischen Stiftungen gestärkt werden. ({1}) Ich bin dankbar, dass Pakistan in die Kategorie „Schwerpunktland“ der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eingestuft wurde. Aber dies müssen wir in Pakistan wieder mit Leben erfüllen. Zum Beispiel ist das Auslandsbüro der GTZ in kürzester Zeit von 20 auf vier Mitarbeiter abgemagert - aus Gründen, die wir teilweise parteiübergreifend mitgetragen haben. Wenn wir es ernst meinen mit unseren Anliegen, müssen wir ganz rasch den Personalbestand wieder hochfahren. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unsere Verbündeten, zum Beispiel in Europa, ebenfalls ihren Beitrag zur Stabilisierung der Region leisten. Wir müssen auch ernsthaft unsere guten Kontakte nutzen und unsere indischen Freunde dazu animieren, ihrerseits neue Initiativen für eine Stabilisierung der angespannten Situation auf dem indischen Subkontinent zu unternehmen. Es gab auch in der jüngsten Zeit entsprechende Signale von der indischen Seite. In dem vorliegenden Antrag drängen wir die pakistanische Regierung und die pakistanische Politik, mit den notwendigen Reformen die Grundlage für eine dauerhafte demokratische Stabilität zu schaffen, die Menschenrechte zu schützen und auf Frieden in der Region hinzuarbeiten. Aber wir senden auch aus dem Bundestag das Signal, dass wir den Reformkräften in Pakistan tatkräftig helfen wollen. Wir drängen die Bundesregierung, dies nun rasch und entschlossen zu tun; sonst könnte es bald zu spät sein. Dies wäre gefährlich für die ganze Region. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug von der SPD-Fraktion das Wort.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Die parlamentarische Geschäftsführerin unserer Fraktion hat mir geraten, meine elf Minuten Re- dezeit nicht unbedingt auszunutzen. Ich will das gerne be- herzigen. Ich möchte Sie bitten, nach den wenigen Sätzen, die ich vorzutragen habe, den Rest meiner Rede zu Proto- koll zu nehmen.1) Es ist genau 19 Monate her, seit am 12. Oktober 1999 der damalige Generalstabschef des pakistanischen Militärs General Pervez Musharraf in einem Militärputsch die Regierungsmacht in der Islamischen Republik Pakistan übernahm. Der Sturz des damaligen Premierministers Nawaz Sharif durch das Militär erfolgte in einer Zeit, in der sich Pakistan seit Jahren in einem ökonomischen, ökologischen und sozialen Niedergang befand und allgegenwärtige Korruption, Kriminalität, Armut und Bildungsnotstand das Land völlig lähmten und politisch handlungsunfähig machten. Pakistan ist ein Schlüsselland für die Stabilität in Asien. Obwohl Pakistan arm ist, hat es doch genügend höchst qualifizierte Wissenschaftler und Ingenieure, um Raketen und die Atomwaffe zu bauen. Pakistan gehört zu den vier Ländern, die dem Nichtverbreitungsvertrag bis heute nicht beigetreten sind. Deswegen hat Pakistan mit dem Bau und dem Test von Atomwaffen bisher keinen internationalen Vertrag gebrochen. Dennoch ist die sicherheitspolitische Entwicklung in diesem Land ein Anlass zur Sorge und ein Grund für politisches Handeln. ({0}) Seit einiger Zeit sprechen die Amerikaner, die Europäer, die Russen und die Chinesen über die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Für den Westen stehen Länder wie Nordkorea, Iran und Irak als Beleg dafür, dass die Proliferationsrisiken global gestiegen sind. In der Wirklichkeit sind es nicht diese drei, die nuklear geworden sind; in der Wirklichkeit handelt es sich vielmehr ausschließlich um zwei Staaten, die in der Diskussion so gut wie gar nicht vorkommen: Pakistan und Indien. Anders sieht es aus, wenn nicht von der Weiterverbreitung von Atomwaffen, sondern von der Weiterverbreitung von Raketentechnologie gesprochen wird. In diesem Fall sind Nordkorea und der Iran zutreffend benannt. Aber die wirklichen Weiterverbreiter von Raketentechnologie waren früher Russland und China; heute ist es Pakistan. Unser Interesse ist es, dass Pakistan mit der Macht, die es in den Händen hält, verantwortungsbewusst umgeht. Dies lässt sich nicht durch Boykotte und Sanktionen erreichen; dies erfordert vielmehr die internationale Einbindung des Landes. ({1}) Daran kann und sollte auch die Bundesrepublik Deutsch- land teilhaben, auch wenn die Gefahr, die heute von Pakistan ausgehen könnte, Deutschland noch nicht un- mittelbar, sondern nur indirekt berührt. 1) Anlage 6 Obwohl Pakistans Innenpolitik unübersichtlich und komplex ist, darf uns dies aus sicherheitspolitischen Gründen nicht daran hindern, die Zusammenarbeit mit diesem Land zu fördern und uns an der Einbindung dieses Landes in internationale Institutionen und Vertragswerke zu beteiligen. Asien insgesamt und der Teil Asiens, in dem Pakistan liegt, brauchen eine Sicherheitsarchitektur mit rüstungskontrollpolitischen Regimen, mit Abrüstungsvereinbarungen und mit militärischen vertrauensbildenden Maßnahmen. ({2}) Pakistan braucht ausländische Unterstützung beim wirtschaftlichen Aufbau und bei der Herstellung eines besseren Lebensstandards der Menschen. Außerdem braucht es Unterstützung bei der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und bei einer vergrößerten Teilhabe der Menschen an den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen des Landes. Dafür muss die Isolation Pakistans aufgehoben werden. Es ist richtig, diesem Land für eine Beteiligung des Westens an seiner Entwicklung eigene Leistungen abzufordern. Aber wir dürfen auch nicht die Geschichte sowie das Umfeld Pakistans außer Acht lassen und unangemessene Maßstäbe anlegen. ({3}) Unser gemeinsamer Antrag versucht, hier die Balance zu wahren. Er will die Bundesregierung ermutigen, gemeinsam mit unseren Partnern Pakistan eine Perspektive im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zu bieten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Da der Kollege Dr. Hoyer von der F.D.P.-Fraktion seine Rede zu Protokoll gegeben hat1), hat jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort. ({0}) - Die kommt danach. Opposition und Regierungsfraktionen sind abwechselnd dran. Bitte schön, Herr Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So Leid es mir tut, von meinen drei Minuten kann ich nichts mehr abgeben, sonst hätte ich das gerne getan. Das möchte ich versichern. Ich verstehe auch, wenn sich politisch Interessierte, die diese Debatte noch verfolgen, und auch Kolleginnen und Kollegen die Frage stellen: Muss man wirklich im Bundestag über die demokratische Erneuerung Pakistans diskutieren? Ich finde, wir sollten dies tun. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass die politischen Gewichte in der Welt sich so verschoben haben, dass sicherheitspolitische Entscheidungen nicht mehr von Europa allein oder nur von Europa und den USA zu treffen sind. Dafür will ich ein paar Argumente vortragen. In dieser Region, in den drei aneinander grenzenden Ländern Indien, Pakistan und China, leben über 50 Prozent der Weltbevölkerung. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. Es ist eine Region mit tiefen sozialen und kulturellen Gegensätzen und Spannungen und es ist leider - das hat Johannes Pflug auch ausgeführt - eine Region, in der es ständig zu militärischen Konflikten kommt. Ich nenne nur Stichworte, weil ich sie nicht einzeln aufführen kann: Afghanistan, Kaschmir-Konflikt, Taliban-Konflikt. In dieser Region drohen militärische Konflikte und alle drei von mir genannten Länder, Indien, Pakistan und China, verfügen über Atomwaffen und andere Massenvernichtungsmittel. Es gibt also viele Gründe, sich für eine aktive und berechenbare Außenpolitik in dieser Region einzusetzen. Das ist, wenn ich es richtig lese und davon absehe, dass ich natürlich sauer bin, dass wir nicht eingeladen wurden, an diesem Antrag mitzuarbeiten, in diesem Antrag vernünftig geleistet worden. Deswegen sehe ich auch keinen Grund, dem Antrag, nachdem wir ihn in den Ausschüssen debattiert haben, nicht zuzustimmen. Das ist das Positive; jetzt - ich bin Opposition - noch zu zwei Problemen. Ich finde, die Schwäche des Antrags liegt in dem, was nicht im Antrag steht. Der Antrag macht zu Recht zum Beispiel auf die Verantwortung Pakistans für die Taliban in Afghanistan aufmerksam, auch auf die entsprechende Verflechtung, er verschweigt aber die Vorgeschichte. Er verschweigt, dass eben diese Taliban, in Afghanistan selber wie auch in anderen Ländern, im Zuge des Systemkonfliktes auch Opfer des Systemkonfliktes geworden sind und dass die Taliban in Afghanistan vom CIA der USA gegründet, aufgerüstet und eingesetzt worden sind. Zu diesen Auswirkungen der Systemkonflikte muss man in einem solchen Antrag auch Stellung nehmen. Ich befürchte, wir werden diese Problematik in einem anderen Fall noch in neuer Variante bekommen. Darüber werden wir noch häufiger reden. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass ein Teil der Konflikte nicht in der Region wurzelt, sondern in die Region hineingetragen worden ist. ({0}) In den Antrag gehört auch hinein - damit möchte ich enden -, dass wir eine enge Entwicklungszusammenarbeit und demokratische Zusammenarbeit mit Pakistan, mit Indien und anderen Ländern in der Region wollen. Aber gerade weil die dortige Situation so kompliziert ist, sollten wir uns einer militärischen Zusammenarbeit und Rüstungslieferungen in diese Region kategorisch verweigern. ({1}) Der Appell an Pakistan, den Atomwaffenteststoppvertrag sowie den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atom- waffen zu unterschreiben, wird dann glaubwürdiger, 1) Anlage 6 wenn die Atomwaffenmächte selber signalisieren, dass sie zur Abrüstung bereit sind. Solange das nicht passiert und wenn wir uns nur an andere wenden und nicht selber vorangehen, werden wir auch in dieser Region nicht genügend Resonanz finden. Schönen Dank an diesem späten Abend. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin hat nun das Wort die Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Anschluss an das, was meine Kollegen schon ausgeführt haben, möchte ich insbesondere die Wichtigkeit der Unterstützung aller menschenrechtlichen Organisationen in Pakistan durch die Entwicklungszusammenarbeit, aber auch durch den menschenrechtspolitischen Dialog betonen. Bei meinen eigenen Besuchen in Pakistan ist mir insbesondere die Bedrohung der Frauenorganisationen, die sich um Menschenrechte und Frauenrechte kümmern, aber auch der Organisationen, die sich um die Frage der Minderheiten in diesem Lande, auch der religiösen Minderheiten, kümmern, klar geworden. Es gibt einen Dialog innerhalb des Landes und auch einen Dialog zwischen den Menschenrechtsorganisationen dieses Landes und Indien. Ich glaube, dass unsere Stiftungen in den vergangenen Jahren sehr viel dazu beigetragen haben, diese Menschenrechtsorganisationen zu unterstützen. ({0}) Was uns angeht, so müssen wir versuchen, die Isolierung des Landes aufzuheben; denn ohne eine wirkliche Kooperation erscheint auch eine Demokratisierung nicht möglich. Die Demokratisierung wäre aber auch in meinen Augen die Voraussetzung dafür, dass es zu einer Lösung des Konflikts zwischen den beiden Hauptkontrahenten in diesem Kontext, zwischen Pakistan und Indien, kommt. Die Signale aus Indien, die, insbesondere bei Besuchen in diesem Jahr bei vielen Gesprächen, auch mit den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des indischen Parlaments, sichtbar geworden sind, zeigen: Die Bereitschaft zu Gesprächen ist vorhanden. Ich glaube, dass entsprechende Zusammenschlüsse, auch wenn sie politisch, ökonomisch und menschenrechtlich bisher nicht funktioniert haben, gestärkt werden müssen und dass wir, auch als Mitglied der EU, das Unsere dazu beitragen können auch wenn wir in diesem Konflikt nicht direkt als Mittler auftreten sollten -, derartige Zusammenschlüsse und die Austauschprozesse, die dort laufen könnten, zu unterstützen. ({1}) Ein besonders ermutigendes Zeichen für die Kooperation zwischen Indien und Pakistan ist das „India-Pakistan People’s Forum“, das jedes Jahr Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Exmilitärs, Expolitiker und Parlamentarier zusammenführt, die über die Zukunft ihrer beiden Länder beraten. Das Problem, das, insbesondere in den letzten zwei, drei Jahren, im Weg gestanden hat, möchte ich als eine scharfe Islamisierung der innenpolitischen Situation in Pakistan bezeichnen. Pakistanische Intellektuelle sprechen von einer „Talibanisierung“ des Landes. „Talibanisierung“ würde heißen, dass die zivilen, die menschenrechtlichen Orientierungen gerade der Teile der politischen Klasse, die auf eine Demokratisierung gerichtet sind, nicht mehr zum Tragen kommen können. Gerade für uns aus der Bundesrepublik Deutschland ist es sehr wichtig, diejenigen in die Verantwortung für eine Demokratisierung dieses Landes mit hineinzunehmen, die bisher dazu beigetragen haben, das Land zu destabilisieren. ({2}) Das sind sowohl diejenigen, die im Nahen Osten und mittleren Osten zur Finanzierung der islamistischen Gruppierungen beitragen, die das Land von innen destabilisieren, wie auch diejenigen, die in den Jahren zuvor dazu beigetragen haben, dass überhaupt erst Taliban-Schulen entstehen konnten, die heute nicht nur Pakistan bedrohen, sondern auch in Afghanistan ein Schreckensregime errichtet haben, das sich jeder internationalen Einbindung entzieht. Insofern denke ich: Wir alle sitzen in dem Boot der Verantwortung. Ich hoffe, dass die Signale, die aus Indien in Richtung der pakistanischen Regierung, aber auch in Richtung der früheren Parlamentarier gesendet worden sind, aufgenommen werden. Der Appell geht natürlich genauso an die pakistanische politische Klasse, das, was bisher an Sicherstellung der Minderheitenrechte versäumt worden ist, nachzuholen zu versuchen. Dazu gehört insbesondere die Aufhebung der Blasphemiegesetze, durch die islamistische Gruppierungen in diesem Land heute sehr viel mehr Einfluss gewonnen haben, als das in den vergangenen Jahren der Fall war. ({3}) Sonst wird die Destabilisierung einer ganzen Region weitergetrieben. Ich glaube, wir haben die Verantwortung, den ganzen Prozess des Austausches weiter zu begleiten, insbesondere die Wiederherstellung von Menschenrechten, die Wiederherstellung von Demokratie und die Wiederherstellung der Gesetzestreue - Rule of Law wird das genannt - innerhalb des Landes. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5684 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e sowie den Zusatzpunkt 7 auf: 13 a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes ({0}) - Drucksache 14/4351 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 14/5349 - Berichterstattung: Abgeordnete Elke Wülfing b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschul- den auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum - Drucksachen 14/4350, 14/4693 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christine Lucyga c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern - Drucksachen 14/4011, 14/5556 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Otto ({5}) Reinhard Weis ({6}) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der PDS Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturel- lem Mietwohnungsleerstand - Drucksachen 14/4010, 14/5347 - Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Sabine Jünger, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Dranske retten - der Gemeinde eine Perspektive geben - Drucksache 14/5806 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Maßnahme-Programm zum wohnungswirt- schaftlichen Strukturwandel in den neuen Län- dern vorlegen - Drucksache 14/6051 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Alle Redner mit Ausnahme der Rednerin der PDS- Fraktion wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Auf die PDS-Fraktion entfällt eine Redezeit von sieben Minuten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christine Ostrowski.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute Vormittag wurde in der Kerndebattenzeit die Situation in Ostdeutschland beraten. Der Wohnungsleerstand Ost ist ein schreiendes Signal der Prozesse in Ostdeutschland. Unsere Anträge, die sich damit befassen, hätten heute Vormittag debattiert werden müssen. Die Anträge sind ans Ende der heutigen Plenardebatte geschoben worden. Alle Redner geben ihre Reden zu Protokoll und die Hälfte der Wohnungspolitiker ist auch abhanden gekommen. ({0}) - Nein, Sie ja nicht. Sie können nichts dafür, Sie sitzen ja noch da. Nun ist es ja nicht so, dass uns das aus der Kurve dreht; wir sind das ja gewöhnt. Denn Sie mögen es nicht, dass unsere Anträge zum Wohnungsleerstand Ost, zur Situa- tion der ostdeutschen Wohnungswirtschaft, behandelt werden. Dafür haben Sie Ihre Gründe. Erstens glauben Sie: Je später am Abend, desto weni- ger öffentliche Wirkung. Zweitens ist es Ihnen, der Re- gierungskoalition - Frau Eichstädt-Bohlig, es tut mir 1) Anlage 7 wirklich Leid - unangenehm. Außer einer unzulänglichen Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes haben Sie bisher an parlamentarischen Initiativen zum Wohnungsleerstand Ost nichts, aber auch gar nichts eingebracht. Das ist die Wahrheit. ({1}) Die CDU mit ihren primitiven Initiativen, die schon lange zurückliegen, kann man vergessen. Die F.D.P. hat gestern einen Antrag eingereicht. Die Hälfte dieser Forderungen haben wir hier schon vor Monaten eingebracht. Die andere Hälfte kann man nicht mittragen. Immerhin, Sie kommen, wenn auch spät. Das macht wahrscheinlich Ihre Trunkenheit, 18 Prozent usw. Tatsache ist: Hätte die PDS hier nicht Antrag für Antrag eingebracht, wäre am Bundestag bis jetzt der Wohnungsleerstand Ost, die Krise der ostdeutschen Wohnungswirtschaft vorbeigegangen. ({2}) Denn alles, was die Bundesregierung gemacht hat, läuft außerhalb des Parlaments ab. Selbst die heutige Abstimmung über einen Antrag, der schlicht lautet, die Bundesregierung solle unverzüglich ihr Maßnahmeprogramm zur Realisierung der Vorschläge der Leerstandskommission vorlegen, verhindern Sie. Man rate, warum. Sie tun es, damit der Antrag in den Ausschüssen so lange vor sich hinschmort, bis Sie aus dem Mustopf gekommen sind. Ich denke aber, meine Damen und Herren, diese Tricks helfen Ihnen nicht. Die Wohnungsunternehmen verfolgen sehr genau, welche Fraktionen etwas tun, welche Fraktionen aktiv sind und welche Fraktion welche Vorschläge einreicht. ({3}) Ich kann Ihnen sagen: Die PDS-Fraktion hat einen guten Ruf in der Wohnungswirtschaft und wir haben ihn zu Recht. Vor über einem Jahr haben Sie mit großer Inszenierung eine Expertenkommission eingesetzt, auf dass sie Lösungen für den Wohnungsleerstand finde. Vor einem halben Jahr hat sie ihre Vorschläge vorgelegt. Jetzt schreiben wir Mai und noch immer ist nichts passiert, aber auch gar nichts, abgesehen davon, dass die Mehrzahl der Vorschläge der Expertenkommission von uns bereits lange zuvor eingebracht worden war, Vorschläge zur Erhöhung der Investzulage im Altbestand, zur Erhöhung der Eigenheimzulage im Bestand, zur Schaffung eines Sofortprogramms für den Abriss. Man fragt sich natürlich, was die Experten - außer einer Zeitverzögerung - erreicht haben. Ich halte es für das Letzte, wenn Sie derart zögerlich an die Umsetzung selbst gestellter Aufgaben herangehen. ({4}) Seit Wochen sprechen die beteiligten Politiker von Sanierungsprogrammen statt von Umbauprogrammen. Das alles klingt furchtbar nett und furchtbar schön. Bis jetzt sind es leere Worte. ({5}) Jeder Tag, der verstreicht, führt zu einer leeren Wohnung mehr. Ich möchte Sie einmal Folgendes fragen - Sie können ruhig die Hand heben -: Wer von Ihnen war schon einmal in Dranske? ({6}) - Sehr schön, dass Sie fragen: Wo? Dranske ist Ihrer Meinung nach bestimmt ein unbedeutender Ort in der Bundesrepublik. Wunderbar! Dranske war einmal ein Bundeswehrstandort. Als solcher hatte er den Menschen Arbeit gegeben. Als die Bundeswehr wegzog, zogen die Menschen mit ihr weg. Er hatte einmal 3 700 Einwohner; jetzt hat er nur noch 2 200. Die Plattensiedlung in Dranske übertrifft alles, was ich bisher kennen gelernt habe. ({7}) Von den 700 Wohnungen in dieser Plattensiedlung steht die Hälfte leer. Ich kann nicht beschreiben, wie trostlos man sich vorkommt und wie öde es ist, wenn man in dieser Siedlung steht: Mit Brettern wurden die Haustüren zugenagelt. Man sieht kaputte Balkons, zerfetzte Gardinen und auch ein auf einen leeren Wohnblock aufgesprühtes Hakenkreuz. Dies ist ein übles Umfeld. Dranske hatte im Vertrauen auf Seriosität, Fairness und Sachverstand 700 Wohnungen vom Bund gekauft. Daran sind Sie von der CDU/CSU schuld; Sie haben das zu verantworten. ({8}) Dranske ist vom Bund über den Tisch gezogen worden, weil der Bund den Sanierungsaufwand unseriös kalkuliert und Vertragsbedingungen diktiert hat, die für diese Gemeinde unannehmbar und nahe der Sittenwidrigkeit waren. ({9}) Dranske kann diese 700 Wohnungen entweder erhalten - das ist unmöglich, weil es keine Mieter gibt - oder sie verkaufen; auch dies ist unmöglich, weil sich kein Käufer findet. ({10}) Die Lage ist extrem: Es bestehen Zwangsverwaltung und eine Verschuldung von 12 000 DM pro Einwohner. Während das Land Mecklenburg-Vorpommern seine letzten Gelder aus dem Wohnumfeldprogramm zusammenkratzt, um Dranske zu helfen, tut der Bund so, als ginge ihn das überhaupt nichts an. Das liegt nun wieder in der Verantwortung der Koalitionsfraktionen: Sie lassen diesen Ort sehenden Auges verkommen. Nun mag Dranske ein Ort sein, der unbedeutend ist. Er mag ein Ort sein, der einen Sonderfall darstellt. Aber Dranske ist auch und gerade ein Ort, der uns vor Augen führt, was aus Gemeinden im Osten werden kann, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Ich denke nur an die heutige Debatte über den Osten und an die schönen Sprechblasen vom Aufbau Ost, der gelingen wird, und daran, dass der Strukturwandel in vollem Gange ist. Besonders nett sind die Appelle an das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Dazu kann ich nur sagen: Ihr größtes Problem, das Sie in der Bundesrepublik Deutschland haben, ist Ostdeutschland. Sie haben es überhaupt nicht begriffen: ({11}) Was die Städte und Gemeinden dort brauchen, sind das Engagement und die finanzielle Unterstützung des Bundes. Was denn sonst? ({12}) Sie wollen nur wenig Geld zur Verfügung stellen; am besten gar keines. Wenn Sie Geld geben, dann sprechen Sie vorrangig von Straßen und von Infrastruktur. Ich würde gerne einmal wissen, wie viele sächsische Bürger in 80 Jahren über Ihre ausgebauten Straßen fahren werden, wenn Sachsen von jetzt 4,3 Millionen Einwohnern auf 1 Million geschrumpft sein wird. Es ist doch wohl ein Witz, dass sich der Ostbeauftragte heute Vormittag im Zusammenhang mit den Altschulden für die Entlastung um 700 Millionen DM gefeiert hat, die gerade einmal für die Sanierung von 85 000 Wohnungen reichen. Dazu möchte ich einmal einen Vergleich anstellen: Wir haben 1 Million leer stehende Wohnungen. Für diese 1 Million entsteht den ostdeutschen Wohnungsvermietern ein Einnahmeverlust von jährlich 2,2 Milliarden DM. Sie denken, mit 700 Millionen DM sei Ihre Leistung erbracht. Das ist doch wohl nicht wahr! Meine Damen und Herren, ergreifen Sie endlich Maßnahmen, die den Wohnungsunternehmen helfen und die wir heute unter anderem zur Abstimmung bringen! Streichen Sie die Altschulden für leere Wohnungen! Auch wenn Sie die Milliarden, die wir aus den UMTS-Erlösen fordern - wir haben den vorliegenden Antrag schon vor langer Zeit eingebracht -, schon längst verbraten haben, so führt für Sie an der Streichung der Altschulden kein Weg vorbei. ({13}) Kümmern Sie sich um die TLG-Genossenschaften! Es gibt nur zehn davon. Davon ist die Hälfte wirklich konkursbedroht. - Sie von der CDU/CSU tragen hierfür Verantwortung, weil Sie diese Wohnungen an die Genossenschaften veräußert haben, die sich im Vertrauen auf Sie neu gegründet haben. - Unterlassen Sie die Erhebung der Grundsteuer auf dauerhaft bewohnbare Wohnungen!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss und möchte noch einen Vorschlag machen: Der Ministerpräsident Roland Koch in Hessen und der Chefredakteur des „Focus“ haben für einen Tag ihr Amt getauscht. Diese Idee finde ich gar nicht so schlecht. Der Bundeskanzler sollte vielleicht einmal für einen Monat Bürgermeister in Dranske spielen. Ich verspreche: Wenn Bundeskanzler Schröder es schaffen würde, Dranske - gleichsam wie Münchhausen sich selbst am eigenen Zopf - aus dem Sumpf zu ziehen, dann spendiere ich ihm einen Kasten Rotkäppchensekt und leiste Abbitte. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes auf Drucksache 14/4351. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/5349, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung der PDS-Fraktion gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere Beratung. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschulden auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum“; das ist die Drucksache 14/4693. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4350 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern“; das ist die Drucksache 14/5556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4011 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturellem Mietwohnungsleerstand; das ist die Drucksache 14/5347. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4010 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen. Nun bleiben noch Tagesordnungspunkt 13 e und Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5806 und 14/6051 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Mai 2001, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.