Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/7/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bergmann, Sie haben heute erneut das Bundeserziehungsgeldgesetz als das Kernstück Ihrer Familienpolitik bezeichnet. Wenn das das Kernstück ist, ist diese Familienpolitik eine komplette Enttäuschung. ({0}) Sie haben mit Ihren Ankündigungen zur Familienpolitik große Erwartungen in der Bevölkerung geweckt. Im Koalitionsvertrag ist nachzulesen, dass sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Familien in unserem Land spürbar verbessern soll. Aber was tut sich? ({1}) Sie haben zwar das Kindergeld erhöht, aber auf der anderen Seite schlagen Sie mit der Ökosteuer voll zu. ({2}) Damit treffen Sie die jungen Familien mehr als alles andere. 300 DM minus im Portemonnaie einer jungen Durchschnittsverdienerfamilie, das ist eine ganze Menge. Darüber können auch Debatten nicht hinwegtäuschen. Wenn Sie zu weiteren Erhöhungen kommen, greifen Sie weiter tief ins Portemonnaie der jungen Familien. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Böhmer, immer dann, wenn wir etwas für die Förderung der Kinder und der Familien tun, kommt dieser Oppositionsreflex, dass die Ökosteuer die Familien so belaste. Da ich das erwartet hatte, habe ich mich zahlenmäßig darauf vorbereitet. Ich möchte Sie gern fragen, ob Sie wissen, dass eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 60 000 DM bei einer durchschnittlichen Leistung ihres PKWs von 15 000 km und einem normalen Stromverbrauch durch die Entlastung bei der Einkommensteuer, durch die Beitragssenkung in der Rentenversicherung und das erhöhte Kindergeld am Ende im Jahr 2 000 DM mehr im Portemonnaie hat als vorher unter Ihrer Regierung. Ist Ihnen das bekannt? ({0})

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau ScheweGerigk, weil ich wusste, dass Sie rechnen würden, habe auch ich gerechnet. Aber ich muss Ihnen sagen, das Ergebnis, das ich erhalten habe - das ist seriös gegengerechnet; dabei habe ich auch die Senkungen bei den Rentenversicherungsbeiträgen berücksichtigt; da wollen wir fair sein -, besagt, dass es nicht zu einem Plus kommt. ({0}) Was Sie auf der einen Seite geben, nehmen Sie auf der anderen Seite wieder weg. Ich reiche Ihnen die Berechnungen gern nach. 300 DM minus gilt für Familien mit 80 000 DM Durchschnittseinkommen. ({1}) Wir stehen nicht allein mit dieser Kritik, muss ich Ihnen sagen. Als am 15. Mai die Anhörung zum Bundeserziehungsgeldgesetz stattfand, hat die Vertreterin des DGB erklärt: Insgesamt bleibt der Gesetzentwurf deutlich hinter unseren Erwartungen zurück, auch hinter dem, was wir aufgrund der Koalitionsvereinbarung erhofft hatten. Der Verband allein erziehender Mütter und Väter bezeichnet die Anhebung der Einkommensgrenzen - ich Bundesministerin Dr. Christine Bergmann zitiere - als „völlig unzureichend, weil sie weiterhin Alleinerziehende zusätzlich auf die Sozialhilfe verweist“. ({2}) - Wenn Sie eine Frage stellen wollen, Frau Schmidt, können Sie das gern tun. ({3}) - Lassen Sie es! Sie bekommen meine Antwort nachher noch. Die Vertreter der evangelischen und der katholischen Familienverbände haben in dieser Anhörung zur Budgetierung gesagt: Die Budgetlösung ist ein Minusgeschäft für die Familien. - Das, was hier als Plus verkauft wird, ist ein dickes Minus in den Taschen der Familien. ({4}) Nicht umsonst haben die Vertreterinnen der deutschen Frauenverbände, von Gewerkschaften, Kirchen und Wissenschaft vor wenigen Tagen an den Bundeskanzler einen offenen Brief geschrieben. Sie haben ihn darin aufgefordert, das Gesetz zu Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld zu korrigieren. Und was geschieht hier? Keine Korrekturen, nichts! ({5}) Es ist bedauerlich, aber dieser Entwurf des Bundeserziehungsgeldgesetzes ist kein großer Wurf; es ist eine Reform im Westentaschenformat. Es findet hier keine Revolution in Sachen Familienpolitik statt, wie ich es in den letzten Debatten immer wieder gehört habe. Eine Revolution in Sachen Familienpolitik hat 1986 durch die Union stattgefunden, als wir Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt haben. ({6}) Wir haben in der Familienpolitik Maßstäbe gesetzt. Wenn Sie uns heute erneut vorwerfen, es gebe seit 14 Jahren einen Stillstand, dann möchte ich für Sie einige Fakten in den Blickpunkt rücken, die man wissen sollte, wenn man Familienpolitik macht. ({7}) Als das Erziehungsgeld eingeführt wurde, wurde die Zahlung zunächst auf zehn Monate begrenzt. Dann wurde die Frist auf 18 Monate und schließlich auf 24 Monate verlängert. Das ist kein Stillstand, das ist eine deutliche Weiterentwicklung. ({8}) Mit der deutschen Einheit standen wir vor einer großen Herausforderung. Wir haben all den jungen Familien in den neuen Bundesländern auf einen Schlag die Möglichkeit gegeben, Bundeserziehungsgeld zu erhalten. Es sind heute über 100 000 Familien, die jährlich in den Genuss dieser Leistung kommen. Das waren keine kleinen Schritte, sondern das war eine große Anstrengung seitens der CDU/CSU. ({9}) Ich will auch nicht vergessen zu erwähnen, dass der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Deutschen Bundestag von der Union durchgesetzt worden ist. ({10}) Wer bekennt eigentlich Farbe in der Familienpolitik? Wenn Sie darüber lachen, dann sage ich: Schauen Sie in die SPD-regierten Bundesländer. ({11}) Welches SPD-regierte Bundesland hat ein drittes Jahr Erziehungsgeld gewährt? Keines! Pure Fehlanzeige an dieser Stelle. ({12}) Die Länder, die Erziehungsgeld auch für ein drittes Jahr gewährt haben, sind die unionsregierten Länder Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen. ({13}) Die SPD war sogar so kühn, in Rheinland-Pfalz das Familiengeld für kinderreiche Familien abzuschaffen. Das war ein Skandal erster Klasse in Sachen Familienpolitik. ({14}) Aber ich stimme mit Ihnen überein: Es ist an der Zeit, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub weiterzuentwickeln. So weit sind wir uns einig. Nur, Frau Ministerin, es kommt darauf an, wie man das macht. Man muss es richtig machen! ({15}) Deshalb können Sie auch nicht die Augen vor unserer Kritik an Ihrem Entwurf zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes verschließen. Ich möchte die Kritikpunkte einmal nennen. Sie haben 7 000 DM Kinderfreibetrag versprochen und sind jetzt bei 4 800 DM gelandet. Darüber täuscht auch die anvisierte Erhöhung auf 6 140 DM nicht hinweg; denn damit bleiben Sie noch immer unter dem Existenzminimum für Kinder. Sie schaffen ungleiche Freibeträge für verheiratete Eltern und Alleinerziehende. Verheiratete Eltern sind Ihnen weniger wert; denn bei ihnen bleiben Sie unter dem Existenzminimum und bei Alleinerziehenden gehen Sie darüber hinaus. Wie wollen Sie diese Ungleichbehandlung begründen? Ich kann keine Argumente dafür sehen. ({16}) Dass die verheirateten Eltern gegenüber den Alleinerziehenden deutlich benachteiligt werden, kann nicht familienfreundliche Politik sein; dahinter verbirgt sich ein falsches Familienbild. ({17}) Ein weiterer Minuspunkt: Wo bleibt die Dynamisierung der Freibeträge und des Erziehungsgeldes als solchem? In Ihrem Gesetzentwurf ist dafür kein Ansatz zu sehen. Die Beträge bleiben unverändert. Sie haben uns immer heftig dafür kritisiert. Aber jetzt, da Sie die Chance haben, das zu ändern, bleiben Sie im Bereich kleiner Schritte, weil Sie der Mut verlässt. Wenn ich mir den Antrag anschaue, der im Jahre 1995 von Ihnen als damaliger Opposition hier vorgelegt worden ist, stelle ich fest, dass Sie jetzt meilenweit hinter Ihren damaligen Ansätzen zurückbleiben. Und wie ist es mit der Budgetlösung? Auf den ersten Blick kann man positiv feststellen: 900 DM pro Monat, das heißt 300 DM monatlich mehr, für Mütter und Väter, die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden. Aber ich habe mittlerweile gelernt, dass es bei Rot-Grün immer gut ist nachzurechnen. ({18}) Wenn man nachrechnet, stellt man fest, dass Ihre Regelung ein dickes Minusgeschäft für die Familien bedeutet, die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden; denn dann haben sie am Ende 3 600 DM weniger in der Tasche, als wenn sie sich für den vollen Erziehungsgeldzeitraum entscheiden. ({19}) Das ist keine tragfähige Lösung. Das ist Augenwischerei. Damit machen Sie nicht nur eine Milchmädchenrechnung auf. Dies ist auch entlarvend für Ihr Konzept. Ich habe mir die in Ihrem Gesetzentwurf unter dem Punkt „Kosten der öffentlichen Haushalte“ gemachten Ausführungen genauer angeschaut. Die Mehrausgaben, so steht hier zu lesen, würden kompensiert, und zwar zum einen - das ist ganz klar zu erkennen - durch die genannten Ansätze. Aber Sie haben zum anderen einen vierten Minuspunkt für die Familien in der Tasche. Hier steht nämlich - ich zitiere -: Diese Mehrausgaben werden großenteils kompensiert ... aufgrund der erhöhten Minderungsquote für das Erziehungsgeld bei Einkommen oberhalb der Einkommensgrenze ... Das heißt, Sie verteilen um, indem Sie die Minderungsquote von 40 auf 50 Prozent erhöhen. So sieht Ihre Familienförderung aus. Sie benachteiligen zahlreiche Familien, die dadurch zukünftig kein Erziehungsgeld mehr erhalten werden. ({20}) Deshalb sagen wir an dieser Stelle ganz klar: Das darf nicht sein. Eine solche Lösung werden wir nicht mitmachen. Wenn sich Eltern tatsächlich für eine Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes nur für ein Jahr entscheiden, dann werden sie im Anschluss daran in eine Betreuungsfalle für ihre Kinder tappen. Denn wer für den Lenkungsansatz ist, dass Eltern nur ein Jahr lang Erziehungsgeld in Anspruch nehmen, muss auch dafür sorgen, dass flexible Möglichkeiten der Kinderbetreuung vorhanden sind, damit die betroffenen Eltern nachher nicht vor dem Nichts stehen. Wenn ich an Bundesländer wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen denke, dann muss ich fragen: Wo gibt es dort ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten? ({21}) Die sollten Sie uns einmal nachweisen. Sie hatten immer allergrößte Schwierigkeiten, im Bereich der Kinderbetreuung voranzukommen. Deshalb muss ich feststellen: Durch die Budgetlösung wird eine Betreuungsfalle aufgemacht. Das ist nicht im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({22}) Ihr Gesetzentwurf enthält zwei Aspekte, die der gesellschaftlichen Veränderung Rechnung tragen sollen. Der eine Aspekt ist ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und der andere ist der, dass man den Erziehungsurlaub auf acht Jahre verteilt nehmen kann. Beides ist meiner Meinung nach eine Weiterentwicklung, die durchaus Sinn macht. Aber auch hier muss man die Frage stellen: Wird es damit gelingen, Vätern mehr Anreize zu geben - das ist ja das Ziel dieser Lösung -, tatsächlich Erziehungsurlaub zu nehmen? Ich glaube, wir sind uns bei diesem Anliegen sehr einig. Denn partnerschaftliche Erziehung muss unser gemeinsames Ziel sein. Nur, bei der Art und Weise, wie Sie an die Väter appelliert haben, schwingt die Skepsis durch, die viele von uns haben. Ich glaube deshalb, auch an dieser Stelle sind Sie mit Ihrem Entwurf zu kurz gesprungen. Wir sagen: Man muss besondere Anreize schaffen, damit beide Elternteile Erziehungsurlaub nehmen können. Das heißt, wir wollen einen Bonus von einem halben Jahr gewähren, wenn sich Vater und Mutter die Familienzeit, so wie wir sie uns vorstellen, teilen. Denn nur durch Anreize und Optionen wird es gelingen, dass junge Menschen, Väter und Mütter, wirklich Ja zur Erziehung ihrer Kinder sagen. ({23}) Wir haben unsere Vorstellungen im vergangenen Jahr auf dem Parteitag der CDU zur Familienpolitik klar formuliert. Sie werden sich in weiteren Diskussionen daran messen lassen müssen, was auf der einen Seite negative Entwicklungen und auf der anderen Seite innovative Lösungen im Bereich der Familienpolitik anbetrifft. Dem hier vorliegenden Gesetzentwurf können wir angesichts der dicken Minuspunkte nicht zustimmen. Wir haben unsere Änderungsvorschläge in einem Änderungsantrag und in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht. Ich habe soeben gehört, dass Sie jetzt endlich die Bezeichnung „Erziehungsurlaub“ ändern wollen. Denn der Erziehungsurlaub ist für Eltern keine Ferienzeit. Das ist harte Arbeit von Mutter und Vater und muss entsprechend gewürdigt werden. ({24}) Frau Ministerin Bergmann, ich hatte schon fast den Eindruck, Sie seien versucht, in Deutschland ein Preisausschreiben dahin gehend zu machen, wie der neue Begriff heißen soll. Jetzt bin ich ein Stückchen beruhigter, dass Sie sich endlich zu einer neuen Bezeichnung durchgerungen haben. Denn neue Bezeichnungen setzen Signale. Wir werden weiter mit aller Kraft daran arbeiten, ({25}) dass Eltern bzw. Familien keine Benachteiligungen erfahren, wie sie für viele Familien in dem vorliegenden Gesetzentwurf angelegt sind. Deshalb gilt es, über Ansätze zur Veränderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes weiter zu streiten. Wir wollen gleiche Chancen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({26})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Verpass nicht die Rolle deines Lebens!“ Mit diesem Appell trat ein Werbemanager vor kurzem an seine Geschlechtsgenossen heran, um deutlich zu machen, dass die eindimensionale Orientierung der Männer auf die Erwerbsarbeit sie um einen wichtigen Teil ihres Lebens beraubt, nämlich um das Leben mit Kindern. Nicht umsonst sprechen wir davon, dass Kinder in einer vaterlosen Gesellschaft aufwachsen, denn nur 1,5 Prozent der Väter entscheiden sich für den „Erziehungsurlaub“, den wir künftig „Elternzeit“ nennen. Frau Böhmer, ich muss mich über Ihren Vorwurf schon sehr wundern. Ich frage mich: Wer hat denn den Begriff „Erziehungsurlaub“ eigentlich eingeführt? ({0}) Nur jeder 16. Mann arbeitet Teilzeit - und das, obwohl sich nach einer Umfrage 86 Prozent der jungen Männer ein Leben in einer Partnerschaft mit Kind wünschen. Daneben fänden es drei viertel dieser Männer gut, wenn sich Männer mehr um Familie und Haushalt kümmern und dafür im Beruf kürzer treten würden. Bisher fanden Männer eine Reihe von Gründen, weshalb sie ihre Wünsche nicht in die Tat umsetzen konnten und Zaungäste in ihrer Familie waren; denn bisher standen sie vor der Entscheidung, entweder ganz an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben oder ganz für die ersten Lebensjahres ihres Kindes auszusteigen. Letzteres hatte natürlich Folgen: Erstens. Das Einkommen der Familie ging rapide zurück, denn immer noch verdienen Männer mehr als Frauen. ({1}) Zweitens war der Karriereknick vorprogrammiert; denn in unserer so angeblich fortschrittlichen Gesellschaft werden Männer noch immer als Softies angesehen, wenn sie Windeln wechseln und Babys füttern, statt Aktienkurse zu beobachten. ({2}) Die theoretische Aufgeschlossenheit der Väter wollen wir jetzt zu einer praktischen Verhaltensänderung führen. Wir wollen die Verhaltensstarre der Männer auflösen; denn mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Neugestaltung des Erziehungsgeldgesetzes gibt es einen Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für drei Jahre. Väter und Mütter können diese Zeit gleichzeitig in Anspruch nehmen. Wenn beide nicht mehr als 30 Stunden erwerbstätig sind, erhalten sie zudem das Erziehungsgeld. Das heißt, das alte gewerkschaftliche Motto „Samstags gehört Papi mir“ können wir auf den Freitag und den Montag erweitern. Väter können also für eine bestimmte Zeit ihr Kind zur „Chefsache“ machen, wie es eine Väterkampagne des nordrhein-westfälischen Frauenministeriums vorsieht. Im Gesetzentwurf festgeschrieben ist der Rechtsanspruch zunächst leider nur für Beschäftigte in Unternehmen ab 15 Personen. Ich hoffe aber, dass auch kleinere Betriebe mit weniger als 15 Personen, die einen hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten haben, diese Vereinbarung umsetzen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch zwei Verbesserungen nennen - wir haben aus der Anhörung und aus den vielen Anregungen gelernt -: Erstens. Die Zahl der Beschäftigten richtet sich nicht mehr nach dem Kündigungsschutzgesetz, denn das hätte 30 Beschäftigte mit Teilzeitarbeit bedeutet, sondern es sind tatsächlich 15 Personen. Die zweite Änderung: Es wird im Jahre 2004 eine Überprüfung geben, welche Probleme mit diesem Rechtsanspruch für Väter und Mütter sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Betriebe entstanden sind und welche gesetzlichen Änderungen notwendig sind, ({3}) denn wir betreten ein neues juristisches Gebiet. Insofern werden wir das Ganze kontrollieren. Die Auswertung erwarte ich mit Spannung, weil ich glaube, dass weniger die Mütter Probleme haben, ihren Rechtsanspruch umzusetzen, als vielmehr die Väter. Aber lassen Sie mich zum Kernstück der Neuregelung kommen. Es ist nicht das Kernstück der Familienpolitik, wie Sie, Frau Böhmer, vorhin gesagt haben, aber es ist ein wichtiger Baustein. ({4}) Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der ersten drei Erziehungsjahre stellt nun ein absolutes Novum dar. Hier ist es uns endlich gelungen, einen Einstieg während der Erziehungszeit zu wagen. Ich würde mir wünschen und ich hoffe, dass wir auch im Bündnis für Arbeit noch längere Zeiten als diese drei Jahre erreichen können. Das wird natürlich eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft sein müssen. ({5}) Die zweite wichtige Neuerung ist, dass nicht mehr entweder Vater oder Mutter die Erziehungszeit nimmt, sondern dass sie von beiden gleichzeitig genommen werden kann. Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden Jahre inklusiv eines flexiblen dritten Jahres, das bis zum achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen werden kann, nicht nur abwechselnd, sondern auch zu zweit genommen werden können. Vater und Mutter haben also einen Anspruch auf volle drei Jahre Erziehungszeit. Damit werden wir auch den Ansprüchen der EU-Richtlinie gerecht. Ein Jahr dieser drei Jahre ist das so genannte flexible Jahr, das in Absprache mit dem Arbeitgeber umgesetzt werden kann. Allerdings kann der Arbeitgeber dringende betriebliche Gründe nennen, die dem entgegenstehen. Ich hoffe aber, dass es auch hier eine einvernehmliche Lösung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt. Das Gesetz bringt weitere Vorteile: Begrenzt man die Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes künftig auf nur ein Jahr, besteht die Möglichkeit, für dieses Jahr im Rahmen des Budgets einen erhöhten Betrag in Höhe von 900 DM zu erhalten. Frau Böhmer, ich möchte an dieser Stelle mit einem Vorurteil von Ihnen aufräumen. Das ist doch keine Schlechterstellung. ({6}) - Lassen Sie mich das doch einmal ausführen. - Wenn Sie bisher ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen haben, haben Sie 600 DM im Monat bekommen. Wenn Sie sich künftig für nur ein Jahr Erziehungszeit entscheiden, werden Sie 900 DM erhalten, also 300 DM pro Monat mehr. ({7}) Schon in der Vergangenheit gab es viele Familien, die nur ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen haben. Deshalb bitte ich einfach, diese Rechnung nachzuvollziehen. ({8}) Als Ergebnis der Sachverständigenanhörung haben wir auch eine Härtefallregelung zum Budgetbetrag aufgenommen. Sollte also im ersten Jahr die Familie einer besonderen Härte ausgesetzt sein - wir denken hier etwa an eine erhebliche Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz -, kann zusätzlich während des zweiten Lebensjahres des Kindes der Betrag von 600 DM über zwei Jahre in Anspruch genommen werden. Was wollen Sie eigentlich noch mehr? ({9}) Hinzu kommt, dass künftig wieder mehr Familien Erziehungsgeld bekommen. Wir konnten eine Erhöhung der Einkommensgrenzen um rund 10 Prozent und eine stufenweise Erhöhung des Kinderzuschlags auf bis zu 6 140 DM im Jahre 2003 nach harten Verhandlungen mit dem Finanzminister durchsetzen. Immerhin sind das 100 Millionen DM mehr. Sie sagen nun, das sei viel zu wenig. Ich kann mich daran erinnern, dass auch Sie häufig Verhandlungen mit Finanzminister Waigel geführt hatten. Frau Nolte versprach uns immer, die Einkommensgrenzen zu erhöhen, konnte sich offensichtlich aber bei Finanzminister Waigel nicht durchsetzen. Das mussten wir erst in die Hand nehmen. ({10}) Dass die Einkommensgrenzen niemals erhöht wurden, hat dazu geführt, dass beinahe jede zweite Familie das volle Erziehungsgeld nach dem siebten Lebensmonat des Kindes nicht mehr erhalten hat. Wir reißen jetzt das Ruder herum und sorgen für eine bessere Förderung der Familien. Daran werden Sie uns auch nicht hindern, wenn Sie immer wieder die Ökosteuer diskutieren. ({11}) - Ich habe Ihnen ja gerade gesagt, wie die Entlastung der Familien ist. Ein weiterer Punkt, der sich auf die Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern positiv auswirken wird, ist die Erhöhung der zulässigen Teilzeitarbeit von 19 auf 30 Stunden. Heute schließt eine Erwerbstätigkeit von mehr als 19 Stunden den Bezug von Erziehungsgeld völlig aus. Damit kommen wir auch vielen Alleinerziehenden entgegen, die wir davor bewahren, in die Sozialhilfe abgedrängt zu werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört auch eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Hier gibt es gerade in den alten Bundesländern immer noch enorme Lücken. Das betrifft das Betreuungsangebot für Kinder unter drei und über sechs Jahre. Deutschland ist hier im europäischen Vergleich ein absolutes Schlusslicht. Nicht nur Kindertagesstätten, sondern auch Ganztagsschulen in allen Schulformen wurden aufgrund von ideologischen Vorbehalten der CDU/CSU und der F.D.P. nicht errichtet. ({12}) Darum teile ich zwar den Inhalt des PDS-Antrags, dass wir hier einen Nachholbedarf haben, nicht aber das Vorhaben der PDS, dass die Länder ausführen müssen, was der Bund beschließt. Nach diesem Muster ging die alte Bundesregierung beim Rechtsanspruch auf einen KinderIrmingard Schewe-Gerigk gartenplatz vor: Der Bund beschließt, die Länder und Kommunen zahlen. Dieses üble Spiel werden wir nicht weiterführen. Vielmehr werden wir dafür sorgen, dass die Länder und Kommunen wieder mehr finanzielle Spielräume haben, ({13}) damit sie diese dringend notwendigen Einrichtungen zur Verfügung stellen können. Hier können wir tatsächlich vom Osten lernen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen Gesetzesänderung werden wir natürlich nicht sofort die Wirklichkeit ändern; das ist mir auch klar. Aber wir geben Anreize und machen Angebote. Ich hoffe, dass die Eltern und insbesondere die Väter dieses aufgreifen werden. Wir werden dazu sicherlich noch eine Öffentlichkeitskampagne machen. Wir werden herausstellen, welche Bereicherung es auch für ein Leben von Vätern ist, wenn sie Zeit für ihre Kinder haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat das Wort die Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute Änderungen eines Schutzgesetzes für Eltern. Es geht um den Erhalt des Arbeitsplatzes nach der Geburt des Kindes und das Recht auf eine zeitlich begrenzte Beschäftigung während der Erziehungszeit. ({0}) - Natürlich ist das ein Schutzgesetz! Oder sehen Sie das nicht so? Sonst hätten wir es doch nicht. ({1}) Ich denke, der Schutz des Arbeitsplatzes nach der Geburt eines Kindes ist eine ganz wichtige Sache, und deshalb sind wir 1986 alle der Meinung gewesen, dass dieses Gesetz sein muss. ({2}) Von daher weiß ich überhaupt nicht, welchen Grund Sie haben, über diese Dinge zu lachen. Auch Sie wissen, dass manche Schutzgesetze für Frauen Beschäftigungsfallen waren, zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot. Sie sollten sich daher lieber ernsthaft mit der Sache beschäftigen und nicht, wenn die Opposition etwas sagt, nur darüber lachen. ({3}) Ich will jetzt zum eigentlichen Gesetz kommen. Alle Fraktionen haben Konzepte vorgelegt. Das Konzept der CDU/CSU ist ein bisschen dünn. Da hätte die große Oppositionsfraktion CDU/CSU doch mehr Substanz haben müssen. ({4}) Wir jedenfalls haben ein umfassendes Konzept vorgelegt. Der alte Erziehungsurlaub soll modernisiert werden, er soll den Bedürfnissen der Eltern und, so meine ich, der Betriebe gerecht werden; denn die Arbeitswelt hat sich verändert. Deshalb müssen wir alte Konzepte auf den Prüfstand stellen und neue entwickeln. Meine Damen und Herren, was ändert sich denn bei SPD und Grünen? Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung des Erziehungsgelds im ersten Jahr um 300 DM vor, und die Einkommensgrenzen werden um 10 Prozent erhöht. Wenn wir uns ansehen, wie sich die Löhne und Gehälter und die Kosten für Kinder entwickelt haben, dann wissen wir, dass das viel zu wenig ist. Wir haben noch einmal die Hälfte bei den Einkommensgrenzen draufgelegt. Wir wissen, dass auch das zu wenig ist, und wir hätten uns gern mit Ihnen darüber geeinigt, eine deutliche Anhebung der Einkommensgrenzen bei der Gewährung von Erziehungsgeld für Mütter und Väter umzusetzen. ({5}) Wir meinen allerdings, dass Ihre zeitliche Ausgestaltung nicht ausreicht. Frau Bergmann, ich muss schon sagen: Sie nehmen den Mund - ich meine das jetzt nicht direkt und persönlich - ziemlich voll, wenn Sie sagen: Wir tragen gelebter Vielfalt Rechnung. - Schauen Sie sich bitte unser Konzept an! Schauen Sie sich Ihr Konzept an! Dann werden Sie sehen, dass die Vielfalt nicht in Ihrem Konzept liegt, sondern ganz bestimmt in unserem. Ich werde das noch kurz erläutern. ({6}) - Ja, aber die SPD hätte doch ein bisschen mehr Vielfalt in ihr Konzept einbringen können. Das hat sie aber nicht, sie ist unserem Vorschlag nicht gefolgt. Wir meinen, dass dieses Gesetz immer noch ein zu enges Korsett für Eltern und Betriebe ist. Ein Schutzgesetz muss nämlich viel Raum geben, um die Erziehungszeit zwischen den Beteiligten flexibel zu vereinbaren und nach einvernehmlichen Lösungen suchen zu können. Warum geben Sie nicht, wie es unser Vorschlag vorsieht, vorab mehr Raum für individuelle Lösungen? ({7}) Bei unserem Vorschlag nimmt sich der Staat erst einmal zurück ({8}) und lässt die handelnden Personen individuelle Lösungen für sich selbst finden. Ich meine, das ist ein liberaler Ansatz, ({9}) den wir durchgängig - „gender mainstreaming“ - in allen Gesetzen durchsetzen werden, die Frauen und Familie betreffen. Ein Kritikpunkt am SPD/Grünen-Gesetz ist der neu eingeführte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der ersten Lebensjahre des Kindes. Dies geschieht bei Betrieben mit 15 und mehr Mitarbeitern. Ich habe mir wirklich die Mühe gemacht, Frau Schewe-Gerigk, im Ausschuss und im Parlament nachzufragen, wie Sie auf diese gesetzte Größe kommen. ({10}) Frau Schmidt hat gesagt: Diese Größe haben wir festgelegt. Sie hat es überhaupt nicht begründet. Sie hat dann noch angedroht, dass sie in den nächsten Jahren noch heruntergesetzt werde. Die Betriebe werden sich freuen. Sie sind sehr „mittelstandsfreundlich“. Wenn dann noch Ihr Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft kommt, werden wir sehen, ob die Betriebe nach wie vor bereit sind, Ihrer Regierung Zusagen über die Einstellung von Frauen zu machen. ({11}) Wir meinen, dass es sich Betriebe mit 15 bis 20 Mitarbeitern schwer überlegen werden, ob sie überhaupt noch Frauen einstellen. ({12}) Denn bei Inanspruchnahme des Rechtsanspruchs auf Erziehungsurlaub geraten sie in Schwierigkeiten. Ich will nur sagen: Man kann dies positiv sehen, aber man muss auch sehen, dass es zwei Seiten der Medaille gibt. Wir werden abwarten und sehen, wie sich dies entwickelt. ({13}) Der Deutsche Frauenrat hat Ihr Gesetz negativ bewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass mit der Reform hinsichtlich der Umverteilung von Erwerbs- und Erziehungsarbeit zwischen Männern und Frauen nichts erreicht wurde. Meines Erachtens ist der Anreiz für Männer, auch einmal Erziehungsurlaub zu nehmen - wie Frau ScheweGerigk es gesagt hat -, in diesem Gesetz sehr schwer zu finden. ({14}) Die PDS hat einen Antrag vorgelegt, Frau Schenk, der sich wirklich nicht finanzieren lässt. Das wissen Sie auch. Das Ganze ist reine Parteitaktik. Auf den Antrag der CDU kann ich eigentlich nicht eingehen, weil er kein rundes Konzept enthält. Er ändert nur die starken Verwerfungen, die SPD und Grüne haben. ({15}) Nun ganz kurz zu unserem Vorschlag: Wir wollen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einen großen Spielraum bei der Gestaltung der Erziehungszeit. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich gemeinsam einigen, wie oft bis zum Schuleintritt des Kindes gewechselt und wie gearbeitet wird, und zwar 600 Stunden in sechs Monaten. ({16}) Hier muss man sagen, dass bei unserem Vorschlag einfach vielfältigere Möglichkeiten für individuelle Lösungen bestehen. ({17}) Zur Erhöhung des Erziehungsgeldes: Wir haben 800 DM für zwei Jahre vorgeschlagen. Dies und die Einkommensgrenzen habe ich vorhin schon genannt. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Sie sich nicht bemühen, die Antragstellung für Familien - wie wir es vorgeschlagen haben - zu erleichtern. Dazu habe ich von Ihnen überhaupt nichts gehört. Es wäre schön, wenn die Rednerin der SPD auf diese Dinge einginge. Wir sind mobil. In jedem Bundesland gibt es andere Voraussetzungen und Ansprechstellen. Dies sollten Sie einmal mit den Ländern besprechen. Bei SPD und Grünen ist vieles erlaubt, nein: vieles verboten. Bei uns ist vieles erlaubt. - Dies war keine freudsche Fehlleistung, Frau Schmidt. Also: Bei der SPD und den Grünen ist vieles verboten und bei uns ist vieles erlaubt. ({18}) Wir tragen der Lebensvielfalt von Menschen, die in Partnerschaften leben, Rechnung. Wir wollen hier ein Stück weitergehen. Wir wollen das Gesetz gern mit Ihnen zusammen modernisieren, aber mit unseren Alternativen. Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist durch dieses Gesetz - da geben Sie mir Recht - sicher nicht erreicht worden. Das Gesetz mildert nur die Nachteile der Elternschaft. Zum Schluss habe ich noch einen Wunsch: Ich würde mir wirklich wünschen, dass viele junge Männer die Kraft finden - den Wunsch, Kinder mit zu erziehen, haben die jungen Männer -, ihrem Arbeitgeber zu sagen: Ich möchte einen Monat, zwei oder drei Monate bei meinem Kind bleiben. ({19}) Diejenigen, die diese Kraft finden, werden in unserer Gesellschaft auch von Frauen diskriminiert. Wenn ein Mann zu Hause ist, wird gesagt: Hausmann, der hat wohl keine Lust zu arbeiten. Dies muss sich in unseren Köpfen ändern. Dafür sitzen wir hier im Parlament und sprechen mit unseren Bürgern und Bürgerinnen. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Christina Schenk von der PDS-Fraktion das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In wohl kaum einem anderen Industrieland wird die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern so gezielt unterlaufen wie in der Bundesrepublik. Das 1986 eingeführte Bundeserziehungsgeldgesetz ist - das muss man so klar sagen - ein äußerst wirksamer Teil dieser Verhinderungsstrategie. Es erwies sich als regelrechte Frauenfalle: Für 600 DM Erziehungsgeld werden Frauen aus dem Arbeitsmarkt herauskomplimentiert. Nur etwa die Hälfte der Frauen - das wissen Sie genauso gut wie ich kehrt nach dem Erziehungsurlaub wieder in den Beruf zurück, und das meist zu verschlechterten Bedingungen. Der Anteil der Männer, die in den so genannten Erziehungsurlaub gehen, hat die 2-Prozent-Marke nie überschritten. Im Klartext: Das Bundeserziehungsgeldgesetz schafft in Verbindung mit der völlig unzureichenden Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Rahmenbedingungen für das Drei-Phasen-Modell, nicht aber für eine tatsächliche Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf. ({0}) Löblicherweise will Rot-Grün an dieser Situation etwas ändern. Die Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes wurde von der Bundesministerin Frau Bergmann gar als Kernstück ihrer Familienpolitik gepriesen. In Anbetracht des hier vorliegenden Entwurfs muss man konstatieren, dass das nichts als große Worte sind. Die Änderungen im Bundeserziehungsgeldgesetz bringen zum einen nur wenigen Eltern Vorteile und sind zum anderen teilweise nichts als Mogelpackungen. So wundert es mich auch nicht, dass vor genau einer Woche führende Vertreterinnen der Frauenverbände, der Gewerkschaften, der Kirchen und der Wissenschaft in einem offenen Brief massive Kritik an dem Gesetzentwurf der Bundesregierung geübt haben. Diese Kritik teilt die PDS voll und ganz. Ich möchte hier deutlich anmerken: Die Forderungen, die von diesen Vertreterinnen erhoben werden, entsprechen ziemlich genau dem, was in den Anträgen der PDS formuliert ist. Insofern, Frau Lenke, ist das nicht bloß reine Parteitaktik. Vielmehr entsprechen unsere Forderungen offensichtlich denen dieser Frauen und damit den Notwendigkeiten bei der Kinderbetreuung. ({1}) Der entscheidende Mangel ist, dass das Gesetz keine substanziellen finanziellen Verbesserungen für Familien bringt. Das Erziehungsgeld bleibt mit 600 DM ein Taschengeld. Berücksichtigt man allein die Preisentwicklung seit 1986, hätten 1999, also im vergangenen Jahr, bereits 863 DM gezahlt werden müssen. Der andere Punkt ist, dass die Einkommensgrenzen nur minimal erhöht werden. Nach der Gesetzesänderung werden gerade einmal 55 Prozent der Familien Erziehungsgeld erhalten; jetzt sind es 50 Prozent. Diese Zahl wird in Kürze sinken das ist auch so gewollt; das ist dem Gesetzentwurf zu entnehmen -; denn die Einkommensgrenzen sollen nicht dynamisiert werden. Damit werden die jetzigen Mehrausgaben eingefroren. Hier wird wieder auf Kosten der Familien gespart. Das ist für uns nicht akzeptabel. ({2}) Auch das budgetierte Erziehungsgeld, im Grunde genommen eine gute Idee, dient letztendlich der Mittelersparnis; das ist hier schon ausgeführt worden. Bei entsprechender Ausgestaltung könnte das budgetierte Erziehungsgeld der Einstieg in die Zahlung von Lohnersatzleistungen sein, wie das vielerorts anstelle von Erziehungsgeld gefordert wird. Es ist vor allen Dingen auch ein Signal, sich nicht in die Falle des Drei-Phasen-Modells zu begeben. Der Pferdefuß aber ist: Wer ein Jahr lang das erhöhte Erziehungsgeld von 900 DM in Anspruch nimmt, bekommt unterm Strich 3 600 DM weniger als diejenigen, die zwei Jahre lang 600 DM in Anspruch genommen haben. Da fehlen pro Monat 300 DM im Portemonnaie. ({3}) - Frau Schewe-Gerigk, Sie können nicht bestreiten, dass es unterm Strich tatsächlich ein Minus ist. Ich stelle also fest: Die Familienpolitik darf auch bei der rot-grünen Bundesregierung nichts kosten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - das ist nicht bestritten worden, insbesondere auch von uns nicht - ist nicht zum Nulltarif zu haben, sondern kostet selbstverständlich Geld. Das haben wir in unseren Anträgen auch ausgeführt. Aber die hier veranschlagten 400 Millionen DM sind dafür ein nachgerade lächerlicher Betrag. Noch ein Wort zu den Vätern: Ohne eine entsprechende finanzielle Kompensation der Einkommensverluste werden diese weder motiviert noch in die Lage versetzt, in den Erziehungsurlaub zu gehen oder auch nur den neuen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit wahrzunehmen. Das weiß auch die Bundesministerin; das ist nämlich das Ergebnis einer repräsentativen Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat. Ich frage mich natürlich, wozu, wenn daraus nicht die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen werden. Die PDS fordert die Zahlung einer Lohnersatzleistung statt der Ausstiegsprämie von 600 DM. Vätern würde so das Argument genommen, schon allein aus finanziellen Gründen den Erziehungsurlaub oder den Anspruch auf Teilzeitarbeit nicht wahrnehmen zu können. Unsere Vorschläge zielen auf eine tatsächliche Wende in der Familienpolitik, die die Diskriminierung von Frauen abbaut und Väter in die Erziehungsarbeit einbezieht. Deswegen wollen wir auch zu der hälftigen Teilung der Freistellung zwischen Frauen und Männern motivieren - nicht zwingen. Ein Teil der Freistellungsansprüche sollte nach unseren Vorstellungen nicht übertragbar sein. Wird der Anspruch nicht wahrgenommen, verfällt er. Andere Länder praktizieren ähnliche Regelungen bereits seit einiger Zeit erfolgreich. Ein individueller und nicht übertragbarer Rechtsanspruch würde Väter nicht nur ihren Kindern und ihren Partnerinnen gegenüber in die Pflicht nehmen, sondern sie auch gegen kinder- und familienfeindliche Zumutungen von Arbeitgebern und Kollegen schützen. Ein Wort zum Schluss. Auch das beste Vereinbarkeitsgesetz wird nichts nützen ohne ein bedarfsdeckendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. ({4}) Solange dieses nicht gegeben ist, werden die hier vorgeschlagenen geringfügigen Verbesserungen wirkungslos bleiben. Wer betreut denn den Nachwuchs, wenn Mütter und Väter 30 Stunden Teilzeit arbeiten wollen? Wohin mit dem Kind, wenn der betreuende Elternteil nach einem Jahr Bezug von budgetiertem Erziehungsgeld wieder voll beruflich einsteigen will? Die hier vorgeschlagene Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes bringt also weder die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern für Frauen und Männer noch fördert es die Teilhabe von Männern an der Erziehung ihrer Kinder. Das Arbeitsmarktrisiko Kind bleibt auch künftig bei den Frauen. Wir werden diesen Entwurf daher ablehnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Böhmer, Sie haben mir eine wunderbare Gelegenheit für einen Einstieg geboten. Sie haben Argumente gebracht, die zeigen, dass Ihre Politik dringend verlassen werden musste. Zwei oder drei Formulierungen, die Sie eben verwendet haben, zum Beispiel: „Weiterhin werden die Familien an der Grenze der Armut leben und Sozialhilfe beziehen, endlich muss etwas geschehen“, zeigen eindrucksvoll, dass das, was Sie in 16 Jahren Familienpolitik in diesem Land geleistet haben, zu dieser Entwicklung geführt hat. Es ist endlich Zeit, diesen Weg zu verlassen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wester, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böhmer?

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Wester, ist Ihnen bekannt, dass, als Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt worden sind, von der damaligen unionsgeführten Bundesregierung auf einen Schlag ein Betrag von 1,6 Milliarden DM für diese Leistungen zur Verfügung gestellt worden ist? Der Betrag ist im Verlauf der Jahre auf 7,2 Milliarden DM angestiegen. 1996 haben 95 Prozent der Eltern davon profitiert. Das sind Daten, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen. Sie können nicht immer wieder auf dem Argument des Stillstandes herumreiten. ({0}) Frau Wester, das, was die Union im Bereich Familienpolitik gemacht hat, waren Meilenschritte, Sie machen Trippelschritte. ({1})

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Böhmer, dazu muss ich Ihnen sagen: Als Sie das Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt haben, haben Sie im gleichen Zug das Mutterschaftsurlaubsgesetz abgeschafft, das es unter der sozial-liberalen Regierung gegeben hatte. Das war in meinen Augen ein Gesetz, das in eine richtige Richtung ging. Es hat sich zunächst einmal an Frauen gerichtet, die berufstätig waren. Es hat ermöglicht, dass Frauen anschließend in den Beruf zurückgingen. Die Leistung war am Einkommen orientiert, das durch die Erziehung dann ausfiel. Es ist sicherlich nicht der springende Punkt, wie viel Geld in die Hand genommen wird. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha! Wenn ich die Großtaten, die Sie hier verkünden - 1986 1,6 Milliarden DM auf einen Schlag -, einmal so hinnehme, dann frage ich mich doch: Was hat das Ganze denn gebracht? Sie haben eben selber gesagt, dass ein Großteil der Familien an der Armutsgrenze leben, dass viel zu viele Kinder sozialhilfeabhängig sind. Man muss sich dann doch fragen, wo die Förderung hingegangen ist. Sie haben durch Ihr Erziehungsurlaubsgesetz ein Gesetz geschaffen, das die Frauen aus dem Beruf herausgeholt hat. Es war ein Ziel dieses Gesetzes - ein Ziel, natürlich nicht das einzige -, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Es ist Ihnen zwar nicht gelungen, den Arbeitsmarkt zu entlasten, aber es ist Ihnen gelungen, die Frauen aus dem Beruf herauszuholen. ({0}) Insofern war Ihr Gesetz, wie Sie eben sagten, ein Meilenstein in Richtung Entwicklung von Armut und in Richtung Vertreibung von Frauen aus dem Beruf. Was wir jetzt hier vorlegen, ist genau das Gegenteil: Wir ermöglichen Frauen, wieder Erziehungsarbeit und Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden. ({1}) Insofern bekräftige ich das, was Frau Ministerin Dr. Bergmann sagte: Es ist ein Kernstück der Familienpolitik. Es gibt den Familien die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Es hat eben so geklungen, als ob wir den Familien nicht genügend Flexibilität einräumen würden. ({2}) Es wird niemand gezwungen, das Recht auf eine Reduzierung der Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen. Es ist ein Angebot an die Familien und diejenigen, die es wahrnehmen, werden eine Vielzahl von flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten für ihr Familienleben haben. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin Böhmer?

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich denke, das bringt nichts. Es bestehen große ideologische Schranken, sodass ich glaube, ich sollte mich nicht weiter damit auseinander setzen. ({0}) Ich bleibe dabei: Das Ziel der jetzigen Regierung, den Eltern mehr und vor allem flexible Zeit für die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder zu geben, ist nach wie vor richtig und wird weiterhin verfolgt. Der Gesetzentwurf, den wir heute - nach nicht einmal der halben Legislaturperiode - vorlegen und verabschieden werden, kann sich sehen lassen. Ich bin zuversichtlich und überzeugt davon, dass die Regelungen, auf die ich im Folgenden noch eingehen werde, das Ziel erreichen werden, Betreuungs- und Erwerbsarbeit für Väter und Mütter zu vereinbaren. ({1}) Im Einzelnen werden die neuen Regelungen von den unterschiedlichen Interessenlagen her unterschiedlich bewertet. Das ist völlig klar, das war auch nicht anders zu erwarten, hat sich auch in den Expertenanhörungen gezeigt und ist in vielen Zuschriften sowie Veröffentlichungen zum Ausdruck gekommen. Ich bin trotzdem fest davon überzeugt, dass es uns mit diesem Gesetz gelungen ist, einen Kompromiss vorzulegen, den alle Seiten mit ihren unterschiedlichen Interessen auch mittragen können und der in sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung birgt. ({2}) Die stärkste Kritik an dem Gesetzentwurf bezog sich auf die Höhe des Erziehungsgeldes sowie auf die Regelungen zur Einkommenshöhe, zur Einkommensgrenze und die Budgetierung. Das war nicht anders zu erwarten. Wir haben aber nie versprochen - auch nicht in der Opposition und das unterscheidet uns vielleicht von der heutigen Opposition -, dass wir in der Lage sein werden, das Erziehungsgeld zu erhöhen. Wir haben bei der Höhe der Einkommensgrenzen natürlich genau rechnen müssen und dabei das erreicht, was wir jetzt vorgelegt haben. Die Zahlen sind genannt worden, aber ich möchte eine Zahl noch einmal herausgreifen: Aufgrund dieses Gesetzes werden jährlich 300 Millionen DM mehr an Familien ausgezahlt. ({3}) Die Budgetierung, Frau Böhmer, ist weder ein Minusgeschäft für die Familien noch eine Betreuungsfalle, da es - wie ich eben bereits sagte - die freie Wahlmöglichkeit der Familien gibt, entweder die Budgetierung in Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich weiß nicht, für wie dumm Sie unsere Familien halten, wenn Sie annehmen, sie wären nicht in der Lage abzuschätzen, ob sie, wenn sie sich für ein Jahr Erziehungsgeld entschieden haben, anschließend eine Betreuung für das Kind haben werden. Das kann man den Familien mit Recht zumuten, da wir in einem Land mit gebildeten Menschen leben. Darauf sind wir sehr stolz. ({4}) Im Übrigen brauchen wir uns von niemandem - weder von der Opposition noch von irgendeinem Verband - vorrechnen zu lassen, wie stark das Erziehungsgeld verfallen sei, wenn man es mit dem Wert vergleicht, den es im Jahre 1986 gehabt hat. Wir können selber rechnen und wissen das. Wir haben aber nicht 16 Jahre die Verantwortung gehabt und auch nicht wie mancher Verband still zugesehen, wie die alte Regierung nichts getan hat. Wir haben jetzt mit diesem Haushaltsloch zu leben und dabei das Beste herauszuholen. Der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, ist ein Beweis dafür, dass uns das gelingen wird. ({5}) Wer 16 Jahre lang nicht gehandelt hat oder es hingenommen hat, dass nicht gehandelt wurde, sollte sich fragen, ob es hilfreich und der Sache dienlich ist, Fortschritte madig zu machen, die mit diesem Gesetzentwurf auf den Weg gebracht werden sollen. Es geht bei diesem Gesetzentwurf nicht in erster Linie um die finanzielle Wirkung, sondern es geht um Änderungen in der Struktur des Gesetzes. Das kann nicht oft und deutlich genug gesagt werden. So wünschenswert es wäre, diese strukturellen Veränderungen durch eine entsprechende finanzielle Leistung zu flankieren, so falsch wäre es, jetzt darauf zu verzichten, diese strukturellen Veränderungen vorzunehmen, nur weil die entsprechenden Finanzmittel nicht vorhanden sind. Ich möchte noch einmal in Bezug auf die 300 Millionen DM jährlich, die wir zusätzlich für Familien ausgeben, darauf hinweisen, dass wir versucht haben, dort eine soziale Komponente hineinzubringen, indem wir die Kinderzuschläge nicht nur jetzt deutlich erhöhen, sondern sie auch in den nächsten zwei Jahren noch einmal erhöhen. Das ist natürlich keine Dynamisierung, wie es geHildegard Wester fordert wurde, aber es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es weitergeht. Im Jahre 2004 wird es mit Sicherheit weitergehen. Dies ist ein Angebot und ein Versprechen an die Familien, auf das sie sich verlassen können. ({6}) Weiter möchte ich darauf hinweisen - auch wenn Sie das in Abrede stellen und mit der Ökosteuer verrechnen -, dass die Bundesregierung in der kurzen Zeit ihrer Regierungsverantwortung verschiedene Maßnahmen ergriffen hat, um Familien finanziell besser zu stellen. Sie wissen genau, dass es einer unserer ersten Schritte war, das Kindergeld zu erhöhen. Durch steuerliche Erleichterungen haben wir erreicht, dass Familien mit zwei Kindern ungefähr 2 000 DM mehr zur Verfügung haben. Über die Ökosteuer möchte ich jetzt nicht mehr sprechen. ({7}) Wir werden den Weg fortsetzen, die Familien finanziell zu entlasten. Dies geschieht aber nicht allein mit dem Erziehungsgeldgesetz. Die SPD-Fraktion und die Familienpolitikerinnen und -politiker der SPD-Fraktion werden es nicht hinnehmen, dass Kinder in diesem Land immer stärker zum Armutsrisiko werden. Diese Entwicklung werden wir stoppen. Wir haben sie zum Teil schon gestoppt. ({8}) Wir werden die Richtung ändern. Beide Eltern haben auch die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit gleichzeitig zu reduzieren. Denn wenn beide Eltern gleichzeitig arbeiten, können sie ihre Existenz besser sichern. Es ist unser Ziel, den Familien die Möglichkeit zu geben, ihre Existenz aus eigener Kraft zu sichern und so der Armutsfalle zu entgehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wester, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Falk, CDU/CSU-Fraktion?

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben am Schluss auf die materielle Seite stark abgehoben. Sie haben am Anfang bestritten, dass das der wesentliche Punkt sei. Daher muss ich Sie fragen, wieso die 7,6 Milliarden DM, die die CDU/CSU für die Familien eingeführt hat, an die Armutsgrenze führen und die Familien in den Ruin treiben, und die 300 Millionen DM, die Sie jetzt zusätzlich bringen, in die Zukunft weisen und die Familien von dem Armutsrisiko befreien. ({0}) Die 300 Millionen DM, wenn wir das umrechnen, sind ein Sechstel der Kindergelderhöhung um 10 DM. Wenn man das auf alle Kinder umrechnen würde, wären es pro Kind und Monat 1,66 DM. ({1})

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben den letzten Teil meiner Ausführungen nicht richtig verstanden. Wir wollen den Familien die Möglichkeit geben, ihre Erwerbstätigkeit beizubehalten und so ihre Existenz zu sichern. Sie wissen genauso gut wie ich: Man kann ein noch so hohes Kindergeld oder Erziehungsgeld zahlen: Am Ende des Bezugs dieser Leistung wird ein Elternteil, in der Regel die Mutter, entweder beruflich vor dem Nichts stehen oder eine geringe Arbeitszeit akzeptieren müssen, sodass er nicht mehr dazu beitragen kann, die Existenzsicherung zu gewährleisten. Es ist ein Ammenmärchen zu glauben, dass einer Familie damit gedient ist, wenn man ihr Geld in die Hand drückt, ohne die Strukturen zu schaffen, die es möglich machen, dass sie sich an der Erwerbsarbeit beteiligen kann. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wester, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Hanewinckel?

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollegin Wester, können Sie sich mit mir daran erinnern, dass zum Beispiel im Jahre 1996 bei dem jetzt so gerühmten Haushalt der CDU/CSU für die Familien beim Erziehungsgeld etwas mehr als 1 Milliarde DM eingespart worden ist, weil inzwischen nur noch vier von zehn Familien in den Genuss des vollen Erziehungsgeldes gekommen sind, da die Einkommensgrenzen in all den Jahren nicht mehr erhöht worden sind? Deshalb stelle ich die Zahl, die hier genannt worden ist, infrage; denn diese Milliarde DM ist nicht nur 1996, sondern auch in den darauf folgenden Jahren eingespart worden, weil die Zahl der Familien immer geringer wurde. ({0})

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe Ihnen Recht. Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Wir werden den Anteil der Erziehungsgeldberechtigten von 50 Prozent auf 55 Prozent anheben. Das mag sich wenig anhören. Frau Lenke wirft gerade ein, warum wir die 1 Milliarde DM nicht auf einen Schlag wieder einsetzen. Ich glaube, naiver kann man eigentlich nicht sein. Wie soll man das, was vielleicht vor 15 Jahren notwendig ({0}) gewesen wäre, heute in einen kaputtgefahrenen Haushalt einstellen, bei dem an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf besteht? ({1}) Wir werden während unserer Regierungszeit nach und nach und in verantwortungsvollen Schritten die Leistungen hochfahren, immer mit Blick darauf, dass der Haushalt konsolidiert werden muss und dass wir der jungen Generation keine so hohe Verschuldung hinterlassen können, wie wir sie derzeit haben. ({2}) Der wesentliche Punkt der strukturellen Veränderung, den ich eben angesprochen habe und der hier schon mehrfach genannt worden ist, ist das Recht auf Reduzierung der Arbeitszeit. Ich halte das für einen Meilenstein. Wer hätte denn vor zwei Jahren gedacht, dass es uns möglich wäre, gegen den Widerstand der Wirtschaft und anderer Interessenverbände ein Recht auf Reduzierung der Arbeitszeit einzuführen? An dieser Stelle muss man natürlich darauf hinweisen - das ist schon gemacht worden -, dass dieses Recht eingeschränkt ist, weil es nur bei Arbeitgebern gilt, die mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen. Ich habe eingangs von einem Kompromiss gesprochen. Hier wird er deutlich. Ich hätte mir auch etwas Besseres vorstellen können. Ich hätte sehr gerne auf die Grenze von 15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verzichtet. Deswegen bin ich sehr froh darüber - das gestehe ich ein -, dass wir in das Gesetz eine Überprüfungsklausel hineingeschrieben haben. Das heißt, die Bundesregierung soll in einem angemessenen Zeitraum Bericht erstatten, wie sich das Recht auf Reduzierung der Arbeitszeit auf Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und auch auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auswirkt. Wir werden dann im Licht der durch diesen Bericht gewonnenen Erkenntnisse Gelegenheit haben, festzustellen, ob politischer Handlungsbedarf besteht. Wenn er besteht, dann werden wir auch für entsprechende Lösungen sorgen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wester, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Wester, ich habe die Bitte in meiner Rede geäußert, dass irgendjemand von Ihnen sagt, wie die Grenze von 15 Mitarbeitern zustande gekommen ist.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich doch getan.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, Sie sollten es begründen. Erklären Sie mir doch einmal, wie Sie auf die Zahl 15 gekommen sind. Könnte die Grenze auch bei 14 oder 16 Mitarbeitern liegen? Sie sagen: Wir wollen die Grenze ganz abschaffen. Wie kommen Sie genau auf 15? Darauf hätte ich gerne ein Antwort von Ihnen.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe Ihnen eben gesagt, dass die Zahl 15 einen Kompromiss darstellt. Das ist ausgehandelt worden. Ich halte es für tragbar. Das ist in Ordnung. Im Leben und gerade auch im politischen Leben ist es so, dass man Kompromisse schließen muss. Meine Zielvorstellung ist die Abschaffung der Grenze von 15 Mitarbeitern. Daran werden wir arbeiten. Wenn Sie uns dabei helfen wollen, dann sind Sie herzlich willkommen. ({0}) Ich möchte das nicht weiter vertiefen. Ich habe es erklärt. Ich denke, das muss auch für Sie, Frau Lenke, ausreichen. An dieser Stelle muss ich allerdings noch einige Sätze zu dem offenen Brief des Deutschen Frauenrates sagen. So sehr ich verstehe, dass einige neue Regelungen als nicht weitreichend genug empfunden werden, so wenig verstehe ich die Fundamentalkritik, die in dem Schlusssatz gipfelt, das neue Gesetz erreiche seine Ziele nicht, nämlich die der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und der damit einhergehenden Umverteilung von Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit. Dies an der Betriebsgröße, dem nicht übertragbaren individuellen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit - er fehlt bei uns -, der fehlenden Einkommenskompensation und der nicht ausreichenden Zahl von Kinderbetreuungseinrichtungen festzumachen, das kann man natürlich tun. Aber man kann auch sagen, dass wir einen Riesenschritt in Richtung Gleichberechtigung getan haben. Das zum Ausdruck zu bringen hätte ich vom Deutschen Frauenrat erwartet. ({1}) Welcher Verband, der dem Deutschen Frauenrat angehört - ich habe es schon eben in einem anderen Zusammenhang gesagt -, hätte noch vor zwei Jahren geglaubt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Reduzierung von Arbeitszeit im Gesetz festschreiben würden? Auch die Erhöhung der zulässigen Arbeitszeit auf 30 Stunden und die Möglichkeit der gleichzeitigen Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs sind Ergebnisse, die von entscheidender Bedeutung für das Rollenverhalten in den Partnerschaften sein werden. Es wird für den Mann nämlich nicht mehr so leicht sein, die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs auszuschlagen, wenn es ihm möglich ist, die Arbeitszeit zum Beispiel nur um einige wenige Stunden in der Woche zu reduzieren. Die Frau wird in ihrer Forderung, eine möglichst hohe Stundenzahl erwerbstätig sein zu können, gestärkt und sie wird sie besser durchsetzen können. ({2}) Dies wird in den Familien ausgehandelt werden, was dann die für sie beste Lösung zur Folge haben wird. Dazu bedarf es keines Zwangs und keines staatlichen Eingriffs. Ich kann mich auch nicht der Auffassung anschließen, dass nur ein Erziehungsgeld in der Höhe einer Einkommenskompensation Männer dazu bewegen kann, Erziehungsurlaub zu nehmen. Frauen werden bei dieser Argumentation im Übrigen immer außen vor gelassen. Es gibt mittlerweile - Gott sei Dank - genügend Frauen, für die 600 DM Erziehungsgeld ebenfalls keine Einkommenskompensation darstellen. Über diese Frauen reden wir nicht. Sie werden genauso wie die Männer viel lieber auf einem höheren Stundenniveau erwerbstätig sein, als mit einem hohen Erziehungsgeld den vollen Erziehungsurlaub zu nehmen und damit in der Gefahr zu stehen, auf Erwerbsarbeit nach dem Erziehungsurlaub verzichten zu müssen. Natürlich gibt es noch viel zu viele Familien, für die die Höhe des Erziehungsgeldes von extrem hoher Bedeutung ist. Für diese Familien werden wir etwas tun müssen. Ich habe eben gesagt, dass das passieren wird. Hier liegt ein weites Betätigungsfeld für die Politik und für die Verbände, die uns angeschrieben und angesprochen haben; aber diese Probleme können nicht mit diesem Gesetz gelöst werden. Mit diesem Gesetz kann ebenfalls nicht das Problem der nicht ausreichenden Anzahl an Betreuungsplätzen gelöst werden; denn auf diesem Gebiet sind die Länder die Ansprechpartner. Sie wissen genauso wie ich, dass der Bund das nicht regeln kann. Ich bin zuversichtlich, dass die Initiativen von Ministerin Bergmann, mit den Ländern ins Gespräch zu kommen, um die Dramatik dieser Situation und den Handlungsbedarf zu verdeutlichen, Erfolg haben werden. ({3}) Abschließend kann ich nur an Sie alle appellieren, mit uns die Verbesserung der Situation von Familien, von Kindern, von Frauen und von Männern, bei allen Gesetzesvorhaben und in allen Handlungsbereichen voranzutreiben. Überfrachten Sie dieses Gesetz nicht mit Hoffnungen, denen ein einziges Gesetz nicht gerecht werden kann. Ich lade Sie ein, uns bei dieser großen Aufgabe behilflich zu sein. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Renate Diemers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000388, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Wester, Frau Dr. Böhmer hat es schon gesagt: Die großen Ankündigungen der Regierungskoalition im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinbarung in Bezug auf die Förderung der Familien haben auch bei vielen von uns eine gewisse Hoffnung hervorgerufen. ({0}) Es war die Hoffnung, durch ein gutes und auch finanzierbares neues Gesamtkonzept das Erziehungsgeldgesetz wirklich weiterzuentwickeln und unsere Wünsche in der Familienpolitik auch mit Ihrer Hilfe umzusetzen. Sie haben mit Ihrem Entwurf leider nicht nur uns enttäuscht. Das Erziehungsgeld war bei seiner Einführung 1986 das denkbar modernste Instrument. Wir hätten in der Folgezeit gerne Anhebungen und Dynamisierungen gehabt. Wir sind letztendlich am Finanzminister gescheitert. ({1}) Ihre Schadenfreude darüber und der ewige 16-Jahre-Vorwurf klingen hohl, da Sie nun die Möglichkeit hatten, einen großen Wurf zu landen, aber an Ihrem eigenen Finanzminister scheitern mussten. ({2}) An Ihrem guten Willen lag es wahrscheinlich nicht. Das gebe ich gerne zu. Sie hatten doch wirklich Großes vor und wir hätten Sie gern unterstützt. Aber der wahre Vater Ihres Gesetzes ist der Finanzminister. ({3}) Noch in der Koalitionsvereinbarung sprechen Sie richtigerweise vom Zusammenspiel von Familienpolitik und - unter anderem - Beschäftigungs- und Steuerpolitik. Dazu sage ich Ihnen jetzt noch einmal, auch wenn Sie es nicht hören möchten: Die Ökosteuer mit all ihren Auswirkungen auf das Portemonnaie ist familienfeindlich. ({4}) Bereits 1996 haben Sie, Frau Wester, in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage von der damaligen Parlamentarischen Staatssekretärin Gertrud Dempwolf erfahren, dass das Erziehungsgeld 1996, also zehn Jahre nach Einführung, bereits 750 DM hätte betragen müssen, wenn nur der Anstieg der Lebenshaltungskosten berücksichtigt worden wäre. ({5}) - Ich habe vorhin gesagt, warum wir das nicht machen konnten. Die Forderungen nach mehr familienpolitischen Leistungen waren doch auch im Bundestagswahlkampf von Ihnen, verbunden mit einer maßlosen Kritik an uns, zu hören. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen Veranstaltungen zu diesem Thema. Sie aber stellen im Jahr 2000 einen Entwurf vor, nach dem das Erziehungsgeld auf der Höhe von 600 DM pro Monat bleibt bzw. bei der Budgetvariante insgesamt um 3 600 DM verringert wird. Zum Thema Budget hat Frau Dr. Böhmer bereits ausführlich Stellung genommen. Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass neben der Schlechterstellung in finanzieller Hinsicht bei Inanspruchnahme der Budgetregelung ebenfalls eine Schlechterstellung in Bezug auf die Situation des Kindes erfolgen kann. Wir teilen nämlich nicht die Auffassung, wie sie in der Anhörung vonseiten des DGB zum Ausdruck gebracht wurde, dass es für ein Kind in den ersten Lebensjahren keinen Unterschied macht, ob es überwiegend zu Hause oder außerhäuslich betreut wird. Auf der Basis Ihrer Budgetregelung wird es bei zwölf Monaten Erziehungsurlaub dazu kommen, dass die Kinderbetreuung durch andere Personen als die Eltern der Normalfall sein wird. Dies ist nicht etwa nur ein Nebeneffekt, sondern von Ihnen ausdrücklich so gewünscht. Es passt einfach nicht in Ihr Weltbild - das sage ich hier noch einmal sehr deutlich -, dass Mütter oder Väter sich ganz der Familie widmen könnten. ({6}) Die Zukunft der Familie hängt im Wesentlichen von der Wertorientierung derer ab, die politische Verantwortung tragen und politisch gestalten. Die Aufgabe der Politik ist es, angemessen auf gesellschaftliche Veränderungen, auf veränderte Lebensentwürfe und auf ein verändertes Rollenverständnis zu reagieren. Allerdings wird das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Beruf nicht aufgehoben, solange nur die Frau bzw. die Mutter über die Familie definiert wird und der Vater im gesellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor überwiegend eine Außenseiterrolle in der Familie einnimmt. Das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck kommende Bestreben, die Väter stärker dazu zu ermuntern, Erziehungsurlaub zu nehmen, und zugleich die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu verbessern, findet unsere Zustimmung. Aber unserer Meinung nach ist es der falsche Weg, den Vätern als Ausgleich die Möglichkeit zu geben, fast Vollzeit außerhäuslich zu arbeiten. Unsere Idee, zum Beispiel ein Bonussystem zu schaffen, mit dem nicht übertragbarer zusätzlicher Erziehungsurlaub gewährt wird, wenn ihn beide Elternteile nehmen, wurde in der Anhörung durchweg als positiv beurteilt. ({7}) Die problematische Situation auf dem Arbeitsmarkt gerade für Frauen und Mütter ist uns vollkommen bewusst. Es ist sehr schwierig und fast unmöglich, ohne Nachteile längere Zeit aus dem Beruf zu sein. Die ursprüngliche Intention des Erziehungsgeldes war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hierdurch sollte die Erziehungsleistung honoriert und zugleich der Anschluss an das Arbeitsleben ermöglicht werden. Aus diesen Gründen war für Mütter oder Väter während des Erziehungsurlaubes eine Arbeitszeit von 19 Stunden erlaubt. Diese Obergrenze sollte auch unserer Meinung nach ausgeweitet werden. Das darf aber nicht zur Folge haben, dass aufgrund des dann erhöhten Einkommens trotz Anhebung der Einkommensgrenzen kein Anspruch auf Erziehungsgeld mehr besteht. ({8}) Der Hauptgrund für die meisten Frauen, beruflich tätig zu sein, ist, dass sie sich eine eigenständige wirtschaftliche und soziale Sicherheit aufbauen wollen. Der Wunsch der Frauen, sich vom alten Rollenverständnis zu trennen und ebenso wie die Männer eine lückenlose Erwerbsbiografie aufzubauen, geht einher mit einer allgemeinen Veränderung im Arbeitsleben. Auch wenn die Flexibilisierungen in Bezug auf die Arbeitszeit fast schon alltäglich sind, beginnt nun erst der Lernprozess, dass Veränderungen auch bezüglich des Arbeitsortes möglich sind, der dann zu Hause sein kann. Ich denke in diesem Fall an die alternierenden Arbeitsplätze. Das heißt: Der wachsende Einfluss der neuen Medien auf die Arbeitsplatz-, Arbeitsinhalts- und Arbeitsortsgestaltung eröffnet - neben den Risiken - auch große Chancen für die Erwerbstätigkeit von Vätern und Müttern; denn diese neuen Möglichkeiten lassen hoffen, dass die Frage nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt nicht nur immer stereotyp mit der klassischen Form von Teilzeitarbeit für Frauen beantwortet wird. ({9}) Die Devise muss lauten - das ist eine der Forderungen der CDU/CSU -: Die Arbeitswelt muss sich an den Familien orientieren und nicht umgekehrt, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Allerdings darf daraus nicht automatisch abgeleitet werden, dass Frauen, also auch Mütter, um jeden Preis erwerbstätig sein sollen. Mütter und Väter müssen die uneingeschränkte Wahlfreiheit haben, sich für die außerhäusliche Erwerbstätigkeit oder für die Familie - auch ausschließlich für die Familie; es gibt viele Frauen, die das möchten - oder aber für beides zu entscheiden. Die Wahlmöglichkeiten, die erst diese Wahlfreiheit gewährleisten, müssen verstärkt - da geben wir Ihnen Recht -, aufgebaut und ausgebaut werden. Aber nicht die ausschließliche gleichzeitige Wahrnehmung von Beruf und Familie ist unser Ziel, sondern die Vereinbarkeit beider Lebensinhalte unter besonderer Berücksichtigung der Interessen des Kindes. Um es zu verdeutlichen: Eine fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht zulasten der Kinder. Dass in vielen Fällen beide Elternteile arbeiten müssen - nicht um Karriere zu machen, sondern um finanziell über die Runden zu kommen -, ist uns allen sicher klar. Ich bin sehr froh, dass unsere Forderung, die mir gegenüber in der ersten Lesung noch mit hämischem Lachen Ihrerseits quittiert wurde, nämlich den Begriff „Urlaub“ zu ändern, von Ihnen berücksichtigt wurde. Ob der neue Begriff letztendlich „Familienzeit“, wie wir es vorschlagen, oder „Elternzeit“ lauten wird: Ich denke, wir werden uns in diesem Punkt sicherlich einigen. Wie schon gesagt: Sie haben mit Ihrer bisherigen Familienpolitik Chancen nicht genutzt. Sie haben vielmehr Gelegenheiten vorbeiziehen lassen und Möglichkeiten außer Acht gelassen. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung machen. Sie beziehen sich in der Diskussion immer wieder auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und machen dabei einen großen Fehler. Sie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, das Verfassungsgericht habe ausdrücklich festgestellt, dass CDU/CSU und F.D.P. in ihrer Regierungszeit eine schlechte Familienpolitik gemacht haben. ({10}) Das Gericht hat lediglich - das wissen Sie genau - auf die steuerliche Ungleichbehandlung in Bezug auf Kinderbetreuungskosten von verheirateten und nicht verheirateten Paaren hingewiesen. Ich möchte Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen, am Ende meiner Rede raten, sich einmal Zahlen ausdrucken zu lassen - Sie alle haben in Ihren Büros die Möglichkeit dazu -, die belegen, welche familienpolitischen Leistungen seit 1994 von der CDU/CSU und der F.D.P. auf den Weg gebracht wurden. ({11}) Ich rate auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der CDU/CSU-Fraktion, die Sommerpause zu nutzen, darauf hinzuweisen, dass wir ohne Ihre Zustimmung viele familienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht haben. Ich gebe Ihnen Recht, dass wir uns seit 1990 die eine oder andere Leistung mehr gewünscht hätten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Diemers, Ihre Redezeit ist schon weit überschritten.

Renate Diemers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000388, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber man muss Prioritäten setzen. Im Interesse der gesamtdeutschen Situation haben wir, so denke ich, die richtigen Entscheidungen getroffen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der Ausschussfassung auf den Drucksachen 14/3553 und 14/3808. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3838 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt, und zwar mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS bei Ja-Stimmen der CDU/CSU-Fraktion. Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der anderen Fraktionen angenommen. ({0}) Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend empfiehlt weiterhin unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 14/3808 die An- nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenom- men.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- sache 14/3842. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- trag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS und Ja-Stim- men der CDU/CSU abgelehnt worden. Abstimmung über den von den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Drucksa- chen 14/3118 und 14/3808. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3808, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS zum Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geför- derten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis zu 14 Jahren. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck- sache 14/2758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom- men. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS unter dem Titel „Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung für Frauen und Männer“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh- lung, den Antrag auf Drucksache 14/2759 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Erziehungszeit statt Erziehungs- urlaub“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e sei- ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck- 1) siehe Anlage 2 sache 14/3192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. bei Stimmenthaltung von CDU/CSU angenommen. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie die Zusatzpunkte 12 und 13 auf, 22 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Rainer Funke, Jörg van Essen, Hildebrecht Braun ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({3}) - Drucksache 14/326, 14/2347, 14/3779 ({4}) Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({5}) Dr. Evelyn Kenzler b) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Christina Schenk, Sabine Jünger, Christine Ostrowski, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übernahme der gemeinsamen Wohnung nach Todesfall der Mieterin/des Mieters oder der Mitmieterin/des Mitmieters ({7}) - Drucksache 14/308, 14/3780 ({8}) Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({9}) Dr. Evelyn Kenzler ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmeier, Bernhard Brinkmann ({10}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({11}), Marieluise Beck ({12}), Claudia Roth ({13}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Diskrimminierung gleichgeschlechterlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften ({14}) - Drucksache 14/3751 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({15}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, HansJoachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({16}), Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einbeziehung von eingetragenen Lebenspartnerschaften in die Hinterbliebenenversorgung - Drucksache 14/3792 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({18}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich gestern viele Kommentare aus einem bestimmten Verlagshause zu dem hier anstehenden Gesetzentwurf zu den Lebenspartnerschaften gelesen habe, weiß ich nun Bescheid: Sie reiten, die apokalyptischen Reiter, und zerstampfen auf ihrem Ritt durch das Brandenburger Tor mit ihren rot-grünen Hufen die heiligsten Werte der Nation. ({0}) Wie schön sind dagegen die Umfrageergebnisse, die heute Morgen zu lesen waren und die zeigen, mit welcher Gelassenheit offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung darauf reagiert. ({1}) Denn die meisten haben offenbar verstanden, dass es keineswegs Pflicht ist, nunmehr eine Lebenspartnerschaft einzugehen und homosexuell zu werden, Präsident Wolfgang Thierse ({2}) und dass niemandem, der eine solche Lebenspartnerschaft, ob hetero, homo oder sonst etwas auf dieser Welt, nicht eingeht, auch nur irgendetwas genommen wird. Es wird auch nicht das, was für die Förderung von Ehe und Familie zur Verfügung steht, budgetiert. ({3}) Die Mittel werden nicht aus einem Kuchen genommen. Grundrechte kann man normalerweise nicht budgetieren. Sonst müsste man auch den Anträgen der CDU/CSU, etwa die Ausgaben für die Bundeswehr zu erhöhen, Art. 6 entgegenhalten, denn dadurch würde ja das allgemein für andere Aufgaben zur Verfügung stehende Budget, wie zur Förderung von Ehe und Familie, verringert. So scheint es aber nicht zu sein und die Bevölkerung weiß das. Dass ältere Jahrgänge mit dem Thema große Schwierigkeiten haben, kann ich verstehen; ich kenne das auch aus meiner eigenen engeren Familie. Es ist für alte Menschen weiß Gott eine große Herausforderung. Welch einen Wandel haben diese Menschen in ihrem Leben bezüglich dieses Themas erlebt! Als sie jung waren, war es eine tödliche Bedrohung; es führte ins KZ. Als sie älter wurden, war es - sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR - über lange Zeit hochgradig strafbar und mit lebenslanger gesellschaftlicher Ächtung verbunden. Noch bis vor kurzem bestanden Unterschiede bei der Strafbarkeit hetero- und homosexueller Übergriffe, die erst in jüngster Zeit eingeebnet wurden. Und jetzt soll die Lebenspartnerschaft anerkannt werden? Dass Menschen mit einem solchen Wandel überfordert sind, kann ich gut verstehen. Ich werde auch nichts dagegen tun; denn die Überforderung ist zu groß, Herr Geis. ({4}) - Ich meine das nicht witzig; ich sage das wirklich ohne jeden Zynismus. Ich habe neulich im Bayerischen Rundfunk mit einer 81-jährigen Frau gesprochen, die mir erzählte, das sei gegen die Schöpfung, wie man es ja oft hört. Ich kann verstehen, dass manche Menschen, insbesondere ältere Männern, vor Aversion geradezu Pickel kommen. ({5}) Ich sage das voller Mitgefühl, weil ich das verstehe. Aber darum geht es nicht. Es geht Gott sei Dank besonders darum, für die nächsten Generationen eine Welt zu öffnen, in der - das sage ich, weil meine liebe Mutter mir beigebracht hat, dass man über sexuelle Dinge eigentlich nicht spricht ({6}) in dieser Hinsicht kein Unterschied mehr gemacht wird, in der das eine wie das andere normal ist und Bettgeschichten kein Thema mehr sind. ({7}) Darum brauchen wir die Gleichstellung: damit das Thema normalisiert wird, damit nicht hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen wird, damit es keine Rolle mehr spielt, schon gar nicht im Recht. Das ist unser Ziel. ({8}) Es wird gesagt, die Regelung verstoße gegen Art. 6 des Grundgesetzes. Lassen Sie mich etwas zu Art. 6 sagen, einer Vorschrift, die mir sehr wichtig ist und hinsichtlich derer ich alles tun würde, damit sie nicht beschädigt wird; denn Ehe und Familie sind eine lebensdienliche Sache und der Grundgesetzgeber hat gut daran getan, das im Grundgesetz zu regeln und damit für jedermann zur Vorschrift zu machen. Drei Funktionen von Art. 6 des Grundgesetzes sind Institutionengarantie, Leitbildfunktion und Grundrecht. Erstens. Institutionengarantie bedeutet, dass jeder, der heiraten will, es kann. Haben wir da irgendeine Änderung vorgenommen? Nicht die Spur! Die Vorstellung, die Ehe verlöre dadurch, dass man auch eine andere Form der Partnerschaft eingehen kann, ist mir nur aus einem tiefen Defätismus gegenüber der Ehe heraus erklärlich: als sei sie ein vertrocknender, unattraktiver Ladenhüter in irgendeiner Ecke. ({9}) So sehe ich die Ehe nicht. Die Menschen heiraten nicht, weil sie nur so steuerliche Vorteile bekommen können. Sie haben schon geheiratet, als es das Ehegattensplitting noch gar nicht gab. ({10}) Zweitens: Leitbildfunktion. Als gesellschaftliches Leitbild ist mir Art. 6 des Grundgesetzes ebenfalls wichtig. Leitbild eines verantwortlichen Umgangs mit einem Partner, für den man lebenslang Verantwortung übernimmt, selbst dann, wenn man ihn nicht mehr liebt; was ganz entscheidend ist. Dies ist unheimlich wichtig in einer Zeit, in der der Individualismus zunimmt. Das Leitbild Ehe und Familie gilt für diejenigen, die in Ehe und Familie leben. Herr Geis, es gilt nicht für katholische Priester, nicht für die evangelische Diakonisse und nicht für Menschen, die nicht heiraten können und die sich morgens beim Rasieren, beim Waschen oder wo auch immer fragen, ({11}) ob sie lieber einen Mann oder eine Frau heiraten. Dieser Punkt stellt sich für diese Menschen nicht. ({12}) - Ich versuche gar nicht mehr, Sie zu überzeugen. ({13}) Das Leitbild als Respekt der Unverheirateten vor Ehe und Familie wird durch das, was wir vorhaben, nicht beschädigt. Im Gegenteil: Durch die Ausdehnung dieses verantwortlichen, verlässlichen und verbindlichen Rechtsinstituts auf andere, die nicht heiraten können, steigern wir die Bedeutung des von der Ehe und Familie ausgehenden Magnetismus, der Aura der Begeisterung für wechselseitige Verantwortung - eine anthropologische Konstante, die wir in der Tat aus dem Familienrecht übernehmen und deswegen systematisch dem Familienrecht zuordnen müssen. Drittens: Grundrecht. Natürlich haben Homosexuelle gemäß Art. 2 des Grundgesetzes Grundrechte, wenn sie eine Partnerschaft eingehen. Nur, eines ist auch klar: Mit den vorhandenen zivilrechtlichen Möglichkeiten kann man nicht die angestrebten Alltagshilfen bekommen - die wollte man ihnen selbst auf dem kleinen Parteitag der CDU Ende letzten Jahres zugestehen -, ohne dass man Heterosexuelle benachteiligt. Denn die bekommen das alles nur, wenn sie sich extrem verpflichten, mit Kopf und Kragen beim Standesamt mit dem förmlich verbindlichsten Vertrag, den es auf dieser Welt überhaupt gibt - er ist förmlicher als ein Grundstücksverkehrsvertrag; denn das, was sie da tun, ist sehr schwerwiegend. Das können wir den Homosexuellen nicht billiger geben. Ich wiederhole, was ich oft gesagt habe: So nahe sind sie meinem Herzen nicht, dass ich irgendeinen Grund dafür sehe, sie besser als Heterosexuelle zu behandeln. Eine Gleichbehandlung bzw. Normalisierung ist angesagt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau von Renesse, vielleicht eignet sich dieses Thema nicht so sehr für flapsige Bemerkungen. ({0}) Hier treffen zwei verschiedene Auffassungen aufeinander. Es muss möglich sein, dass man mit Respekt und in Ruhe diese beiden Auffassungen zur Geltung kommen lässt. Dann kann man ja entscheiden, für welche Auffassung man steht. ({1}) Aber flapsige Bemerkungen, verehrte Frau Renesse, sind hier mit Sicherheit fehl am Platz. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird ein familienrechtliches Institut geschaffen, das der Ehe gleichgestellt ist. ({2}) Sie ändern 112 Gesetze, die alle Regelungen in Bezug auf die Ehe enthalten. Daraus ergibt sich die Gleichstellung des von Ihnen vorgesehenen Instituts mit Ehe und Familie. Das ist ja auch Ihre Absicht. 1996 haben die Grünen einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit Ehe und Familie eingebracht. Dies ist die Absicht des Herrn Beck, auch wenn er sagt, es handele sich nicht um eine Konkurrenz zur Ehe. ({3}) Die Grünen sind in dieser ganzen Auseinandersetzung das treibende Moment. Die SPD hat sich wohl dazu hinreißen lassen, weil die Koalition halten muss. Die Fachwelt ist sich darüber völlig einig, dass hier ein Institut entsteht, das in unserer Rechtsordnung gleichberechtigt neben der Ehe stehen wird. Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf entschieden ab. ({4}) Wir stimmen darin mit den beiden großen Kirchen und Umfrage hin, Umfrage her, es kommt auf die Fragestellung an - mit der Mehrheit der Bevölkerung überein. Da bin ich mir ganz sicher. ({5}) Zum ersten Mal in unserer Rechtsgeschichte - wenn wir einmal die Zeit des Nationalsozialismus und des Kommunismus ausblenden, in der die Ehe nur ein Schattendasein führen durfte - wird die ganz herausragende Stellung von Ehe und Familie in unserer Rechtsordnung in frage gestellt. Dagegen wenden wir uns. Wir halten deshalb diesen Gesetzentwurf für verfassungswidrig. ({6}) Das will überhaupt nicht heißen, dass wir uns nicht genau wie die Kirchen und auch die Mehrheit der Bevölkerung - gegen jegliche Diskriminierung von Homosexualität wenden. ({7}) - Das ist überhaupt kein Widerspruch. Sie haben es nur noch nicht begriffen. Freie Lebensformen müssen in einer freien Gesellschaft und in einem freien Staat frei gewählt werden können. Jeder hat dies zu respektieren. ({8}) Wir achten auch die durchaus aufopfernden Freundschaften zwischen solchen Partnern, die ein Leben lang bestehen können. Davor haben wir Respekt. Allerdings gilt dies nicht nur für gleichgeschlechtliche Lebenspartner, sondern für viele Lebensformen. Wir haben - dem Himmel sei Dank - viele Lebensformen in unserer Gesellschaft, bei denen die Partner ein Leben lang füreinander eintreten. Es besteht überhaupt gar kein Grund, eine Lebensform herauszugreifen und ihr eine besondere gesetzliche Regelung zukommen zu lassen. Das ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. ({9}) Auch das muss man einmal sehen. Das müssen Sie so sehen. Es gibt in Frankreich den Versuch, eine größere Regelung zu finden. Allerdings ist sie aufgrund der Schwierigkeiten, die dabei entstehen, bis jetzt nicht gelungen. Aber das können Sie nicht einfach übersehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Lebensformen können nicht mit der einzigartigen Stellung und Bedeutung von Ehe und Familie in unserer Gesellschaft verglichen werden. ({10}) Nirgendwo erfahren die Kinder größere Geborgenheit als bei Vater und Mutter. ({11}) Nirgendwo werden die Kinder besser heranwachsen als bei Vater und Mutter. Nirgendwo, das ist unbestritten, werden sie besser - das wissen Sie genauso gut wie ich, Frau von Renesse; darin stimmen wir überein - auf ihr Leben vorbereitet als in der Familie. Das erkennen wir an. Deswegen haben - auch darin sind wir uns einig - Ehe und Familie eine überragende Bedeutung für unsere Gesellschaft und für unseren Staat. Diese überragende Bedeutung respektiert und artikuliert Art. 6 des Grundgesetzes. Das ist ein Grundrecht. Normalerweise werden Grundrechte dafür geschaffen, um dem Einzelnen einen Freiheitsraum gegenüber dem Staat zu sichern. Aber bei zwei Grundrechten hat der Staat den Auftrag, alles zu tun, damit dieses jeweilige Grundrecht gewahrt bleibt und seine Bedeutung in der Gesellschaft behält. Das betrifft zum Ersten die Würde des Menschen und zum Zweiten Ehe und Familie. Deswegen kann sich der Staat nicht zurücklehnen und sagen: Die Zeiten und die Menschen haben sich geändert. Wir haben nicht mehr die gleichen Verhältnisse wie 1950. ({12}) Nein, wir haben die gleiche Verfassung. Wir haben in dieser Verfassung stehen, dass unabhängig davon der Staat verpflichtet ist, alles zu unternehmen, damit Ehe und Familie ihre überragende Stellung in unserer Gesellschaft behalten. Wer dies missachtet, missachtet die Verfassung, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das wissen Sie auch. ({13}) Sie haben doch selbst 1993 in der Verfassungskommission den Antrag gestellt, neben Ehe und Familie andere Lebensgemeinschaften ebenfalls unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen. Das war der Versuch, Ehe und Familie in der Verfassung mit anderen Lebensgemeinschaften gleichzustellen. Damals waren Sie der Auffassung, man brauche eine Änderung oder Ergänzung der Verfassung, um entsprechende gesetzliche Regelungen treffen zu können. Heute versuchen Sie, dies mit Gesetzen unterhalb der Verfassung, mit einfachgesetzlichen Regelungen, zu erreichen und widersprechen damit Ihrer Auffassung von 1993, als Sie noch der Meinung waren, wir brauchten erst eine Verfassungsänderung. ({14}) Wenn ich es richtig beurteile, machen Sie also sehenden Auges ein verfassungswidriges Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das können Sie so nicht stehen lassen. ({15}) Sie alle wissen, welche Bedeutung auch das Verfassungsgericht Ehe und Familie beimisst. Es gibt eine eindeutige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Sie können in vielen Urteilen nachlesen, dass die einzigartige Bedeutung von Ehe und Familie gewahrt bleiben muss und dass es nicht erlaubt ist, andere Rechtsinstitute gleichrangig danebenzustellen. Der frühere Verfassungsrichter Kirchhof hat klar und eindeutig erklärt: Wer andere Rechtsinstitute wie die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften neben Ehe und Familie stellt, pervertiert den Verfassungsauftrag. Die F.D.P. hat in ihrem Entwurf sehr wohl versucht, auf diese Lage Rücksicht zu nehmen. Das erkenne ich an, obwohl ich auch gegen diesen Entwurf bin. Dieser Entwurf ist etwas ganz anderes als das, was von der anderen Seite des Hauses vorgelegt wurde. Dort wird die Ehe kopiert und es gibt fast keinen Unterschied mehr. Jedenfalls sind die verbleibenden Unterschiede nicht wesentlich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich muss man auch die einzelnen Regelungen einmal betrachten. Was macht eigentlich der Standesbeamte, bei dem sich zwei Partner eintragen lassen wollen, wenn er genau weiß, dass es sich nur um eine Scheinpartnerschaft handelt? Es fehlt eine Missbrauchsregelung. Oder haben Sie nicht genauso wie wir und wie Ihr Innenminister die Befürchtung, dass über diese Regelung das Asylrecht umgangen werden kann? ({16}) - Dieser Vorwurf stammt nicht von mir, sondern ich wiederhole nur die Befürchtungen, die laut Zeitungsberichten der Innenminister hegt. Diese Befürchtungen sind doch nicht aus der Luft gegriffen; sie sind real. Belassen wir es dabei und versuchen Sie nicht, das mit irgendwelchen Zwischenrufen zu überdecken! Des Weiteren wird immer wieder behauptet, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften würden diskriminiert werden. Es gibt bei uns keine Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. ({17}) - Sie sehen die Diskriminierung darin, dass wir uns weigern, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und andere Lebensformen der Ehe gleichzustellen. Ich halte das nicht für Diskriminierung. ({18}) Dass es etwas ganz anderes ist, habe ich herauszuarbeiten versucht. Es wird immer das Argument gebraucht, dass, wenn der eine Partner, der den Mietvertrag unterschrieben hat, stirbt, der andere das Mietverhältnis nicht aufrechterhalten könne. Erstens einmal wird das ganz selten vorkommen und zweitens können beide den Mietvertrag unterschreiben. Was hindert sie denn, beide den Mietvertrag zu unterschreiben? ({19}) Dann wird immer das Beispiel angeführt - völlig aus der Luft gegriffen! -, einer der Partner liege im Krankenhaus und der Arzt müsse entscheiden, ob er ihn operieren solle oder nicht. ({20}) Durch eine einfache privatrechtliche Vollmacht kann man eine entsprechende Regelung heute schon treffen. Dazu brauche ich doch keine gesetzliche Regelung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun, F.D.P.Fraktion?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. Ich möchte nur noch den Gedanken zu Ende führen. Natürlich gibt es auch Rechtsfragen, die man nicht privatrechtlich oder durch privaten Vertrag regeln kann, beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist einer von 10 000 Fällen. Brauchen wir dafür ein Gesetz? Das frage ich Sie wirklich. - Herr Braun, bitte.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Geis, es gab in letzter Zeit zwei deutliche Signale vonseiten der CDU/CSU, die eine Einstellungsänderung der Fraktion und der hinter ihr stehenden Parteien zu dem Regelungsgegenstand nahe legten, der heute debattiert wird. So hat der Kollege Siemann vor drei Monaten hier im Bundestag bei der Behandlung unseres Antrags, jegliche Diskriminierung in der Bundeswehr in Zukunft zu unterbinden, auch die wegen der sexuellen Orientierung, deutlich gesagt, dass sich seine Fraktion nicht nur damit beschäftigt hat, sondern auch zu dem Ergebnis gekommen ist, dass man dem Antrag zustimmen will. Der Chef der Staatskanzlei in Bayern, Huber, hat vor ganz kurzer Zeit mitgeteilt, die CSU wolle ihr Verhältnis zu homosexuellen Partnerschaften neu ordnen und auf eine neue Basis stellen. Das fand sicherlich in Abstimmung mit dem Ministerpräsidenten und seinem Parteivorsitzenden Stoiber statt. Muss ich davon ausgehen, dass das, was Sie heute zu dieser Thematik ausführen, das Ergebnis dieses neuen Denkens der CSU darstellt? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Braun, soweit Sie Ihre Frage nicht polemisch gemeint haben, ({0}) will ich versuchen, eine Antwort zu geben. Sie können ganz sicher sein, dass es in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Frage der Ablehnung dieses Gesetzentwurfes zur Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaften mit der Ehe überhaupt keine unterschiedlichen Auffassungen geben wird. Die Unionsfraktion wird eine solche Gleichstellung in jedem Fall ganz einmütig ablehnen. Gleiches gilt auch für die CSU. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt Einzelfälle, die man nicht mit den jetzigen Bestimmungen regeln kann. Diese sind aber selten. Sie müssen sich überhaupt fragen: Für wen machen wir dieses Gesetz? ({2}) In Dänemark gibt es eine ähnliche gesetzliche Regelung. Seit 1988 besteht in Dänemark für gleichgeschlechtliche Partner die Möglichkeit, ihre gleichgeschlechtliche Partnerschaft registrieren zu lassen. ({3}) - Hören Sie einmal zu! 2 000 Menschen haben sich bislang registrieren lassen und zwei Drittel der Paare sind wieder auseinander gegangen. ({4}) Muss denn wirklich der Bundestag in Bewegung gesetzt werden, um für so wenige Fälle eine gesetzliche Regelung zu treffen? Ich sehe hinter der Forderung, nicht eheliche Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit der Ehe gleichzustellen, den ganz klaren Versuch, die eindeutige Vorrangstellung von Ehe und Familie in unserer Verfassung auszuhöhlen und zu untergraben. Das aber widerspricht nicht nur unserem religiösen Verständnis, sondern das widerspricht auch unserem Rechtsverständnis, und das widerspricht vor allem unserem Kulturverständnis. Deswegen lehnen wir das ab. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Tag hat gezeigt: Die Koalition hat ein optimistisches und positives Familienbild. Das haben wir heute Morgen in der Debatte über das Bundeserziehungsgeld, mit dem wir wirklich etwas für die Familien, also für die Menschen, die für Kinder sorgen und nicht bloß darüber reden, gezeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass wir Familienförderung nicht damit verwechseln, andere zu benachteiligen. Hier scheint der wesentliche Unterschied zwischen unserem und Ihrem Verständnis von Ehe und Familie zu liegen. ({0}) Es ist nicht das erste Mal, dass der Bundestag über die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diskutiert und streitet. Es ist aber das erste Mal, dass eine Regierungskoalition hier ein Gesetz zur rechtlichen Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften vorlegt. Das ist ein historisches Datum für die homosexuellen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Das ist ein Meilenstein für mehr Gerechtigkeit in Deutschland, für eine moderne und offene Gesellschaftspolitik. Bis 1969 war Homosexualität in der Bundesrepublik noch voll strafbar. Endgültig beseitigt wurde der unselige § 175 StGB erst 1994. Noch vor 15 Jahren galt gleichgeschlechtliches Zusammenleben vor deutschen Gerichten als sittenwidrig. Jetzt, im Jahre 2000, schicken wir uns an, die Standesämter für Schwule und Lesben zu öffnen. Wir bieten homosexuellen Paaren einen gesetzlich abgesicherten Rahmen für ihre Partnerschaft. Wir holen unsere schwulen Bürger und lesbischen Bürgerinnen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. ({1}) Auch wegen der schrecklichen Geschichte der Homosexuellen-Verfolgung in Deutschland ist dieses Haus den Schwulen und Lesben etwas schuldig. Übrigens - wenn wir schon bei Rückblicken in die Historie sind - ist es genau genommen nicht das erste Mal, dass sich hier in diesem Hause eine Regierungsmehrheit Sorgen um homosexuelle Lebensgemeinschaften macht. ({2}) Im Jahre 1962 hat hier eine CDU/CSU-F.D.P.-Regierung einen Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform vorgelegt. In diesem Gesetzentwurf hat man damals ausdrücklich an der bestehenden Strafbarkeit der Homosexualität festgehalten. Zur Begründung hieß es damals im Gesetzentwurf: Wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen. Meine Damen und Herren, Sie haben Recht behalten: So ist es auch gekommen. Heute, wo der Verfolgungsdruck weg ist, lebt die Mehrheit der Lesben und Schwulen in festen Beziehungen. Erfreulicherweise fühlen sich aber kaum noch Menschen belästigt, wenn ein homosexuelles Paar in die Nachbarwohnung einzieht. Die Mehrheit der Deutschen akzeptiert das. Die Mehrheit ist dafür, dass Schwule und Lesben gleiches Recht bekommen. Am heutigen Tag wurde von forsa eine Meinungsumfrage veröffentlicht: 56 Prozent der Bevölkerung unterstützen das Projekt von Rot-Grün und 37 Prozent haben sich dagegen ausgesprochen. Um deren Zustimmung werden wir weiter werben. ({3}) Der gesellschaftlichen Entwicklung wollen wir als Gesetzgeber jetzt Rechnung tragen. Von Island bis zum Mittelmeer gibt es die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Bisher gibt es einen großen weißen Fleck auf der Karte der Bürgerrechte von Lesben und Schwulen und das ist Deutschland. Schauen Sie einmal in die Länder, in denen es eine rechtliche Anerkennung gibt: Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, die Niederlande oder auch Frankreich. Nirgendwo ist die Ehe tangiert worden. Nirgendwo ist das Abendland untergegangen. Die Apokalypse, die Sie hier beschwören, ist schlichtweg ausgefallen. Dies können wir von diesen Ländern lernen. Deswegen bitte ich um etwas mehr Piano in dieser Debatte. Die eingetragene Partnerschaft, die Inhalt des heute von uns vorgelegten Gesetzentwurfes ist, ist ein fairer Mix von Rechten und Pflichten. Man muss deutlich sagen: Dies ist kein Projekt der Libertinage. Es ist ein republikanisches Projekt der Beendigung von Diskriminierung, ein Projekt einer werteorientierten und wertebestärkenden Politik. Man muss den Partnerinnen und Partnern, die dieses Gesetz - wenn es denn in Kraft tritt - auf sich anwenden wollen, mit auf den Weg geben: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Denn das Glück mag womöglich nicht ewig dauern, die Unterhaltsverpflichtungen nach dem Familienrecht können dies aber durchaus tun. Dies ist aber das Entscheidende: Wir schaffen hier keine Sonderrechte, sondern wir verschaffen den Menschen die Rechte, die sie brauchen. Hier kann es keine Rosinenpickerei geben. Verantwortung und Einstehen werden mit Unterhaltspflichten umfassend geregelt. Daraus ergeben sich zwingend entsprechende Folgeregelungen in anderen Rechtsbereichen. So haben wir zum Beispiel im Steuerrecht schlichtweg an den Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit angeknüpft. Schaffen wir gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen, können wir im Steuerrecht nicht so tun, als ob diese nicht bestünden. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir haben hier nicht das Ehegattensplitting auf die eingetragenen Partnerschaft angewandt, aber ein Realsplitting vorgesehen, um diesem Umstand gerecht zu werNorbert Geis den. Bei der Sozial- und Arbeitslosenhilfe müssen wir dies auch tun. Hier ist es zum Nachteil der Partner. Hier spart der Staat bei eingetragenen Partnerschaften entsprechend Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein. Auch dies ist sachgerecht und zwingend. Beim Erbrecht und beim Erbschaftsteuerrecht haben wir dem Grundsatz ebenfalls Rechnung getragen, dass man bei einer Partnerschaft, in der es Unterhaltspflichten gibt, beim Tod des Partners dem Überlebenden nicht einfach die gemeinsame Lebensgrundlage entziehen kann. Dies sind alles Dinge, die sich aus den Unterhaltsverpflichtungen ergeben: wohl abgewogen, wohl begründet und keine Tangierung von Art. 6 Grundgesetz. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zwingt uns - das sagt uns die deutsche Rechtsprechung inzwischen -, gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch im Ausländerrecht anzuerkennen und hier für Rechtssicherheit zu sorgen. Meine Damen und Herren, in einigen Bereichen schaffen wir gleiches Recht. In anderen Bereichen haben wir den bestehenden Abstand gelassen - der mag politisch unterschiedlich bewertet werden, ist aber erst einmal die Substanz des Gesetzes -: Es gibt kein Adoptionsrecht, keine Stiefkindadoption, kein Ehegattensplitting, es gibt einen Wahlgüterstand statt des gesetzlichen Güterstandes, wie wir ihn bei der Ehe kennen, und es gibt auch kein Verlöbnis. Also, meine Damen und Herren von der Opposition, auch Ihrer verfassungsrechtlichen Philosophie wird dieser Gesetzentwurf eigentlich gerecht. Die Lebenspartnerschaft nimmt niemandem etwas weg; sie schafft Rechtssicherheit. Sie, Herr Geis, verschanzen sich hier hinter einer Fehlinterpretation von Art. 6 der Verfassung. Reden Sie in Zukunft doch lieber einmal zur Sache! Glauben Sie im Ernst, es entspricht den Grundwerten unserer Verfassung, dass der Lebenspartner nach dem Tod seines Gefährten aus der gemeinsamen Mietwohnung geworfen werden kann? Glauben Sie wirklich, es ist im Sinne des Grundgesetzes, wenn zwei Menschen, die vielleicht jahrzehntelang zusammengelebt, füreinander gesorgt haben, vom Recht wie Fremde behandelt werden? Das kann doch nicht sein. ({4}) Glauben Sie im Ernst, es steht im Einklang mit unserem freiheitlichen Grundgesetz, dass Menschen, die sich lieben und lebenslang zusammenbleiben wollen, dieses Zusammenleben verboten wird, nur weil einer davon Ausländer ist? ({5}) - Wenn sie nicht einreisen dürfen, ist es verboten. ({6}) Nach der Rechtsprechung in Deutschland kann das menschenrechtswidrig sein. Was Sie hier als verfassungsrechtliche Dogmen verkünden, ist reine Phantasie. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Rechtssituation homosexueller Lebensgemeinschaften bislang erst einmal Stellung genommen. Es hat dabei darauf hingewiesen, dass homosexuellen Lebensgemeinschaften aus der fehlenden rechtlichen Absicherung „vielfältige Behinderungen“ der „privaten Lebensgestaltung“ entstehen können. Es hat weiterhin ausgeführt: Diese vielfältigen Behinderungen der privaten Lebensgestaltung werfen Fragen auf nach der Vereinbarkeit des derzeitigen Rechtszustandes mit Art. 2 des Grundgesetzes, freie Entfaltung der Persönlichkeit, mit Art. 1 des Grundgesetzes, Schutz der Menschenwürde, und mit Art. 3 des Grundgesetzes, Gleichheit vor dem Gesetz. Das sehen wir genauso wie das Bundesverfassungsgericht. Deshalb wollen wir hier Abhilfe schaffen. Mit der Eintragung auf dem Standesamt übernehmen Lebenspartner umfassende gegenseitige Fürsorge- und Unterhaltsverpflichtungen. Daher ist es nur gerecht, ihnen auch den rechtlichen Schutz zu gewähren. Das steht völlig im Einklang mit unserer Verfassung. Herr Geis, Sie sagen hier, Sie seien gegen dieses Gesetz. Die CDU/CSU hat gesagt, sie wolle die Benachteiligungen überprüfen. Sagen Sie doch nicht immer, wogegen Sie sind, sondern wofür Sie sind! Legen Sie das Ergebnis dieser Überprüfungen auf den Tisch! Die Schwulen und Lesben in diesem Lande erwarten auch von der Volkspartei CDU/CSU nicht warme Worte und Sonntagsreden auf Parteitagen, sondern konkrete Taten und Respekt durch das Gesetz. ({7}) Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Standesamt. Es gibt absurde Diskussionen in diesem Land. Das Standesamt war für mich bislang immer eine Behörde, die man in bestimmten Fällen aufsuchen muss: für die Anzeige von Geburts- und Todesfällen, bei Eheschließungen, bei Kirchenein- und -austritten. Jetzt wird aus dem Standesamt auf einmal eine geheiligte Stätte gemacht. ({8}) Das Standesamt ist eine Behörde und kein Traualtar. ({9}) Deshalb ist diese gesamte Aufregung völlig gegenstandslos. Ich bitte Sie, den Schwulen und Lesben die Öffentlichkeit der Zeremonie zu gestatten. Das ist eine Frage des Respekts. Eine moderne Gesellschafts- und Familienpolitik muss selbstverständlich auch gleichgeschlechtlichen Paaren Rechtssicherheit bieten. Es ist einer demokratischen Gesellschaft nicht zuträglich, wenn einem Teil der Bürgerinnen und Bürger wichtige Rechte vorenthalten bleiben. Vielen Dank. ({10}) Volker Beck ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile für die F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir Freien Demokraten begrüßen, dass wir hier heute eine solche Debatte auf der Tagesordnung haben. Wir begrüßen ausdrücklich, dass hier mit einem Gesetzentwurf eine Diskussion angestoßen und weitergeführt wird, die uns in diesem Hause im letzten Jahr, als wir unseren Gesetzentwurf eingebracht haben, schon einmal beschäftigt hat. Wir halten es für notwendig, dass Rechtsänderungen durchgesetzt werden. Deswegen möchte ich zunächst ein Wort an Sie, an die Abgeordneten der CDU/ CSU-Fraktion, richten. Ich glaube, es ist in diesem Hause unbestritten, dass Ehe und Familie die tragenden Säulen in unserer Gesellschaft sind. Aber die gesellschaftliche Realität zeigt auch, dass längst neue Formen des Zusammenlebens in unserem Volke entstanden sind. Ich finde, jede Partnerschaft ist wertvoll, in der Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. ({0}) Gerade die Konservativen beklagen, wie ich finde, zu Recht immer wieder die Tendenzen der Vereinzelung in der Gesellschaft. Die gibt es und die muss man sich sorgsam ansehen. Aber dann sollten auch gerade die Konservativen jede Initiative, die sich gegen diese Vereinzelungstendenzen richtet, unterstützen. ({1}) Sie sprechen von einem „Werteverlust“. Wenn jemand seinen zu Tode erkrankten Partner bis zum Schluss pflegt, ist das kein Werteverlust, sondern ein Wertegewinn in dieser Gesellschaft. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Westerwelle, Sie haben gerade im Zusammenhang mit der Pflege von Gemeinschaften gesprochen. Wie halten Sie es damit, wenn zum Beispiel zwei ältere Damen, zwei Witwen, oder Vater und Sohn in hohem Alter gemeinsam in einem Haushalt leben und sich gemeinsam unterstützen? Müssten auch sie entsprechende Gemeinschaften eingehen? Sie werden bei Ihrer Regelung ja regelrecht benachteiligt.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Verlaub gesagt: Nach dieser Frage verstehe ich nicht, warum Sie uns nicht unterstützen. Das ist nicht verständlich. ({0}) In Ihrer Frage kommt ja zum Ausdruck, dass Sie mehr wollen, dass Sie die neuen Formen des Zusammenlebens anerkennen wollen. ({1}) Wenn Sie das wollen, meine ich, müssten Sie Ihren Worten auch Taten folgen lassen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Kollege Geis hat noch eine Zwischenfrage.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Westerwelle, wir bejahen, dass solche Gemeinschaften - nicht nur gleichgeschlechtliche, sondern auch andere Gemeinschaften; ich habe es vorhin ausgeführt - einander ihr Leben lang stützen. Dies muss auch vom Staat respektiert werden. Aber berechtigt das schon die Forderung nach Gleichstellung mit der Ehe? Das ist unser heutiges Thema.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal bin ich damit einverstanden - darauf werde ich auch gleich noch eingehen -, dass es eine Gleichstellung schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geben kann. So hatte ich übrigens Frau Kollegin von Renesse ausdrücklich nicht verstanden. ({0}) - Eben, das hat sie ausdrücklich nicht erklärt. Ich finde sehr bemerkenswert, wie Frau von Renesse es hier eingeführt hat. ({1}) - Wir werden noch über Details des Gesetzentwurfes reden. Ich werde gleich noch ein paar Punkte aufzeigen. Das ist ganz selbstverständlich. Es ist die erste Lesung, bei der wir natürlich darüber reden müssen. Das ist gar keine Frage. Ich möchte Ihnen antworten, weil Sie in dieser Frage wieder die gleiche Geisteshaltung zum Ausdruck bringen. ({2}) - Lassen Sie das doch bitte! Ich muss darum bitten: Es ist in meinen Augen richtig, wenn der Kollege Geis seine Meinung vorträgt. Wir teilen diese Meinung vielleicht nicht, müssen sie aber ernst nehmen, weil sie in der Bevölkerung vertreten wird. Das finde ich selbstverständlich. Es ist eine ganz wichtige Frage. Wie das Niveau dieser Debatte ist, entscheidet darüber, wie die Akzeptanz dieses Vorhabens in der Bevölkerung sein wird. ({3}) Ich möchte Ihnen noch auf eine Sache antworten, in der es, glaube ich, bei Ihnen ein Missverständnis gibt. Wenn die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften abgebaut und abgeschafft wird, ist das keine Entwertung der Ehe. Wer sich gegen die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften wendet, attackiert damit nicht das Institut Ehe, sondern er möchte nichts anderes, als dass Menschen, die zusammenleben, dieses mit Rechten und Pflichten tun können. Er möchte, dass Menschen zusammenleben können, die - zumindest aus meiner Sicht heraus - Verantwortung übernehmen. Sie fordern bei jeder Laienpredigt und jeder Podiumsdiskussion immer wieder: Übernehmt Verantwortung füreinander, tretet füreinander ein und geht nicht den Weg in die Isolation, in die - Robinson-Crusoe-Gesellschaft! Das können Sie hier als Gesetzgeber faktisch mitbewirken. ({4}) Wir haben in den letzten Monaten die Töne aus der CDU/CSU - ob das Frau Merkel, Herr Kollege Polenz oder andere Kollegen gewesen sind - sehr aufmerksam verfolgt. Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass Bewegung in der Union vorhanden sei. Das von Ihnen, Herr Geis, Vorgetragene erinnert mich zum Teil - bei allem Respekt - an das Echo der 50er-Jahre. Aber wir sind heute weiter. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Geis hat eine zweite Zusatzfrage. Herr Kollege Westerwelle möchte seine Redezeit verdoppeln. Das ist sein gutes Recht. Die Redezeit wird angehalten.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich dafür. Kleinere Fraktionen, das heißt vorübergehend kleinere Fraktionen, können das immer gut gebrauchen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Westerwelle, ich freue mich mit Ihnen, dass Sie Ihre Redezeit verdoppeln können. Sie müssen mir aber schon Antwort auf meine Frage geben. Ich habe gefragt, ob es - bei allem Respekt für diese Lebensgemeinschaften - denn notwendig sei, solche Lebensgemeinschaften der Ehe gleichzustellen, um eine Diskriminierung zu verhindern. Das ist doch die eigentliche Frage bei diesem Gesetzentwurf. Sie dürfen nicht darauf eingehen, was Frau von Renesse gesagt hat, sondern Sie müssen den Gesetzentwurf betrachten.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Geis, ich habe ausdrücklich gesagt, es könne nicht um eine Gleichstellung gehen. Es gibt aber Regelungsbereiche, bei denen wir nicht so tun können, als gäbe es kein Problem. Nehmen Sie zum Beispiel das Zeugnisverweigerungsrecht, über das schon gesprochen worden ist. Eine solche Frage können Sie niemals über einen zivilrechtlichen Vertrag regeln, das muss vielmehr der Gesetzgeber regeln. Das mögen für Sie Ausnahmefälle sein, aber jeder Fall von Diskriminierung ist ein Fall, dem sich der Bundestag nicht verschließen darf. Es gibt auch andere Bereiche. Denken Sie zum Beispiel an das Erbschaftsteuerrecht: Zwei Personen leben jahrzehntelang in einer eheähnlichen oder nicht ehelichen Lebensgemeinschaft zusammen und haben ein gewisses Vermögen - denken Sie zum Beispiel an eine Eigentumswohnung - aufgebaut. Stirbt einer von beiden, geht diese Wohnung unter den Hammer, weil es nicht die entsprechenden erbschaftsteuerrechtlichen Möglichkeiten gibt. Das ist die Realität. Diese Frage können Sie nicht durch Verträge zwischen zwei Personen regeln. Das können Sie nur regeln, indem der Deutsche Bundestag endlich seinen Handlungsbedarf begreift. ({0}) Deswegen ist es aus meiner Sicht notwendig, dass die Ausschussberatungen konstruktiv stattfinden. Dem Deutschen Bundestag liegen mittlerweile mehrere Gesetzentwürfe vor. Wir werden darüber reden müssen, wie man zu einer verfassungsfesten Lösung kommt. Die Bedenken, die Bundesinnenminister Otto Schily vorgetragen hat, würde ich nicht zu gering achten. Wenn der Verfassungsminister der deutschen Bundesregierung öffentlich im „Tagesspiegel“ dieser Woche seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den vorgelegten Gesetzentwurf anmeldet, sollte man das ernst nehmen. ({1}) Ich habe eine große Sorge: Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit einen Gesetzentwurf durchbringen - was Sie könne -, ohne ihn zu verändern, wird es eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts geben - raten Sie einmal, von welcher Landesregierung! - und dann wird dieses Vorhaben vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Dann ist jede Chance für die nächsten zehn Jahre vertan. Deswegen: Gehen Sie in eine konstruktive Debatte! Wir werden jedenfalls mit Änderungsanträgen dazu beitragen, dass am Schluss eine verfassungsfeste Lösung gefunden werden kann. Eine Gleichstellung mit Ehe und Familie kann es nach Art. 6 des Grundgesetzes nicht geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich gemacht. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass dieses wichtige, ja auch historische Vorhaben, das viele in diesem Hause verbindet, am Bundesverfassungsgericht scheitern muss, weil es die Verfassungswirklichkeit ignoriert! ({2}) Dann ist dieses Thema erledigt. Dies wäre ein großer Schaden für diejenigen, die in dieser Sache einen Fortschritt wünschen. Jeder weiß, warum die beiden Koalitionsfraktionen den Gesetzentwurf einbringen und warum der Entwurf nicht von der Bundesregierung, vom Kabinett, eingebracht worden ist. Dies liegt daran, dass der Verfassungsminister intern und öffentlich geäußerte verfassungsrechtliche Bedenken hat. Diese Bedenken muss man ernst nehmen, weil sonst meiner Meinung nach eine gefährliche Situation entstehen würde. Die F.D.P. schlägt Ihnen vor - es ist ein legitimes Anliegen, dass wir das hier tun -, dass Sie sich unseren Gesetzentwurf noch einmal anschauen, der sich nur in einem wesentlichen Punkt von dem unterscheidet, was die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben. Sie haben eine Standesamtslösung vorgeschlagen. Das kann ich verstehen, weil das Standesamt für viele nicht nur eine Behörde ist, wie es vorgetragen worden ist, sondern auch eine Kulturinstitution. Damit verbinden viele Menschen Gefühle. Man kann es nicht einfach zu einer Behörde deklarieren. Das ist ganz selbstverständlich. Wenn Sie aber eine standesamtliche Lösung vorschlagen, dann laufen Sie Gefahr, dass ein Verfassungsverstoß erkennbar wird und wegen Art. 6 des Grundgesetzes eingeschritten werden müsste. Sie begeben sich damit in eine gefährliche Situation. Wenn das einmal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist, ist dieses Thema in der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Politik in den nächsten zehn Jahren unten durch. Das, was wir jetzt machen, muss aber der Verfassung standhalten. ({3}) Es darf uns nicht wie beim § 218 StGB gehen. Sie erinnern sich, dass wir dort maximale und meiner Meinung nach richtige Positionen gefunden haben, dann aber als Gesetzgeber beim Bundesverfassungsgericht regelmäßig gescheitert sind, weil die Minderheit, die unterlegen war, dieses Gericht angerufen hat. Deswegen sind Sie meiner Meinung nach gut beraten, wenn Sie sich eher der vertragsrechtlichen Lösung, die die F.D.P. vorgeschlagen hat, annähern, als dass Sie so starr auf der standesamtlichen Lösung beharren; das ist mehr ein Symbol. Diejenigen, die in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zusammenleben, möchten, dass sich auch die rechtliche Realität zu ihren Gunsten verändert. Um Symbole geht es dabei weniger. Es geht um handfeste Verbesserungen, um das handfeste Abschaffen von Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Lieber einen Schritt weniger, dafür aber die Sicherheit, dass es beim Bundesverfassungsgericht auch Bestand haben kann. ({4}) Deshalb möchte ich zum Schluss sagen: Das, was bisher von den beiden Regierungsfraktionen vorgelegt worden ist, nämlich die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften abzuschaffen, wird von den Liberalen unterstützt. Wir haben einen ähnlichen Gesetzentwurf eingebracht. Die Ausgestaltung dessen, was Sie vorgelegt haben, muss noch geändert werden. Das muss noch im Ausschuss besprochen werden. Ich habe sonst die Befürchtung, dass einige, die das zurzeit als Lieblingskind seit Jahren verfolgen, mit einem guten Gefühl nach der Abstimmung im Bundestag nach Hause gehen, aber mit einem schlechten Gefühl nach einer entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder zusammentreten müssen. Das wäre schade. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht die Kollegin Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung lesbischer und schwuler Paare gegenüber heterosexuell Lebenden ist in Deutschland seit langem überfällig. Insofern ist das Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung ein wichtiger Schritt, den wir begrüßen. Es gibt keinen einzigen Grund, homosexuellen Paaren das Recht auf Eheschließung vorzuenthalten. Die lesbische und schwule Zweiergemeinschaft unterscheidet sich nicht von der Heterosexueller. Hier wie da wird geliebt, wird gegenseitig Verantwortung übernommen, werden Kinder erzogen. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, Gleiches auch gleich zu behandeln. ({0}) Wenn Menschen nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von Rechten ausgeschlossen bleiben, die andere haben, ist das Diskriminierung und nichts anderes. Die Äußerungen von der konservativen Seite hierzu sind für mich unerträglich. Wenn behauptet wird, die eingetragene Partnerschaft gefährde Ehe und Familie, dann muss ich dazu feststellen, dass dies schon mit den elementaren Gesetzen der Logik unvereinbar ist. Keinem einzigen Heiratswilligen oder Verheirateten wird etwas vorenthalten oder genommen, worauf er bisher Anspruch hatte. Mit der Öffnung der Ehe für Homosexuelle würde lediglich der Kreis der Begünstigten erweitert. Die Behauptung, die Ehe und nur die Ehe sei auf Kinder ausgerichtet und müsse deshalb besonders gefördert werden, offenbart, mit Verlaub, eine blühende Fantasie, hat aber mit der Realität nichts mehr zu tun. ({1}) Zum einen nimmt die Zahl kinderloser Ehen zu. Zum anderen wachsen immer mehr Kinder bei allein erziehenden oder bei unverheirateten Eltern auf. Die Ehe ist nicht per se - das möchte ich ganz deutlich auch an die Adresse von Herrn Geis sagen - verlässlicher, verantwortlicher oder für Kinder förderlicher als andere Lebensformen. ({2}) Die hohen Scheidungszahlen und die Häufigkeit familiärer Gewalt in traditionellen Ehen belegen das. Nein, die Qualität von Beziehungen lässt sich nicht aus der Form des Zusammenlebens ableiten. ({3}) Auch die Behauptung, die eingetragene Partnerschaft stehe im Widerspruch zum Grundgesetz, überzeugt in keiner Weise. Art. 6 des Grundgesetzes enthält keineswegs ein Verbot, die der Ehe zugeordneten Rechte auch anderen Lebensgemeinschaften zugänglich zu machen. Das Verständnis zum einen von Ehe und zum anderen von Familie ist unstreitig abhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung. Zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit hat sich in dieser Hinsicht von 1949 bis heute eine gravierende Lücke aufgetan. Für eine herausgehobene Stellung der Ehe gibt es heutzutage keine vernünftige Begründung mehr. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, hier für eine Klarstellung zu sorgen. Das haben im Übrigen im Rahmen der damaligen Verfassungsdiskussion in der 12. Legislaturperiode außer der PDS auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert. Die Kritik der PDS am vorgelegten Gesetzentwurf ist folgende: Erstens. Die eingetragene Partnerschaft erhält im Vergleich zur Ehe nur eingeschränkte Rechte. Das ist nicht die erwartete Gleichstellung mit der Ehe. Besonders kritikwürdig sind die vorgesehenen Einschränkungen der Elternrechte. So ist zum Beispiel die Stiefelternadoption nicht vorgesehen. Es soll lediglich ein kleines Sorgerecht, nicht aber eine gleichberechtigte Elternschaft für lesbische und schwule Beziehungen geben. Für mich ist das nicht hinnehmbar. ({4}) Rot-Grün bietet damit ausgerechnet die Eltern-Kind-Beziehung als Projektionsfläche für Homophobie an. Das kann nicht angehen. Zweitens. Mit der eingetragenen Partnerschaft schafft Rot-Grün ein Sondergesetz nur für homosexuelle Paare. Sondergesetze zementieren immer die Diskriminierung, anstatt sie zu beseitigen. Lesbische und schwule Paare werden zu Paaren zweiter Klasse. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Der dritte Punkt ist der wichtigste. Das Modell der Ehe hat keine Zukunftsperspektive. Bereits heute gibt es eine große Vielfalt an Lebensformen. Das haben im Übrigen die Rednerinnen und Redner aller Parteien hier festgestellt. Diese Vielfalt wird nicht nur von Lesben und Schwulen, sondern auch von immer mehr heterosexuellen Menschen gelebt. In Großstädten ist die Ehe seit geraumer Zeit nicht mehr das dominierende Lebensmodell. Es wird heute hetero-, homo- oder bisexuell als Paar, zu mehreren oder auch allein gelebt, entweder mit Kindern oder ohne Kinder. In der Regel hat man nicht nur eine Beziehung im Leben; vielmehr folgen mehrere nacheinander. Das bedeutet keineswegs die Auflösung der Familie, wie Konservative behaupten. Familie ist heute einfach nur sehr viel vielfältiger als früher. In einer pluralistischen Gesellschaft muss der Staat die real gelebte Vielfalt des Zusammenlebens anerkennen und darf nicht einseitig das Ehemodell privilegieren. Das muss der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen. Der Staat hat alle Lebensformen Erwachsener rechtlich und finanziell gleich zu behandeln. Es muss allerdings ganz klar gesagt werden: Einer besonderen Unterstützung bedürfen nur diejenigen, die Kinder erziehen oder Pflegebedürftige betreuen. ({5}) Es ist unhaltbar, dass die kinderlose Ehe über das Ehegattensplitting jährlich mit bis zu 23 000 DM subventioniert wird, während die maximale Entlastung für ein Kind gerade einmal 5 000 DM beträgt. Die Homoehe - das sage ich zum Schluss - hätte zweifellos einen sehr hohen Symbolwert. Den hätte die rechtliche Gleichstellung aller Lebensweisen nicht minder. Allerdings wäre ihr praktischer Nutzen sehr viel größer. Danke schön. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta DäublerGmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Geis, Sie haben heute ein Wort gesagt, das mir sehr gut gefallen hat. Sie wandten sich an die linke Seite des Hauses und sagten, die Diskussion über diese Fragen müsse mit gegenseitigem Respekt geführt werden. Ich finde, das ist in Ordnung. Auch wenn es jetzt in die öffentliche Auseinandersetzung geht, sollten wir uns daran erinnern. Diese Äußerung haben Sie sicherlich nicht nur getan, um für Ihren persönlichen Standpunkt Respekt einzufordern, sondern auch, weil es die Arbeitsgemeinschaft der Schwulen und Lesben in der CDU von Ihnen erwartet. Sie hat eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie zwar mitteilt, die Union sei - jedenfalls vor der ersten Lesung im Bundestag - noch nicht reif, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, aber CDU-Chefin Angela Merkel und Generalsekretär Ruprecht Polenz hätten verbindlich zugesagt, dass es keine Unterschriftenkampagne der Union gegen das rot-grüne Gesetz geben werde. Das ist doch schon etwas. ({0}) Ich finde, dass die Grundanliegen des Gesetzentwurfs in der Tat herausgearbeitet werden müssen. Das beginnt mit dem Abbau von Diskriminierung. Der Abbau von Diskriminierung ist übrigens nichts, was jetzt der eine mit mehr oder der andere mit weniger Argumenten sozusagen als Privatsache vorantreiben könnte; vielmehr handelt es sich um ein Uranliegen unserer Verfassung und damit jeder verfassungsgemäßen Justiz- und Rechtspolitik. Ich betone in diesem Zusammenhang: Es ist auch dann ein Anliegen, wenn es sich nur um wenige Menschen handelt, für die eine bestimmte Regelung erforderlich ist. Ich halte den Abbau von Diskriminierung für dringend notwendig. Auf die unselige Kultur- und Rechtstradition gerade im Umgang mit Schwulen und Lesben ist schon hingewiesen worden. Sie dauert schon ein paar Jahrhunderte an und hat sich bis in die Neuzeit hinein fortgesetzt. Es geht nicht nur um die Nazis, die Homosexuelle in KZs auf schrecklichste Weise umgebracht haben. Diese Diskriminierung in der Kultur- und der Rechtstradition hat in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 70er-Jahre hinein angehalten. Von einigen wird sie noch immer betrieben. Wir müssen uns dessen wirklich bewusst sein. Herr Westerwelle, ich habe mich sehr über die Zustimmung gefreut, die Sie von allen Seiten bekommen haben, als Sie gesagt haben, das sei heute anders. Auch ich hoffe, dass es heute anders ist. Ich weiß aber, dass es den einen oder anderen gibt, der Richard von Weizsäcker noch heute übel nimmt, dass er 1985 auch die Homosexuellen in die Gruppe der KZ-Opfer aufgenommen und sie auf diese Weise geehrt hat. ({1}) Was ist denn eigentlich Diskriminierungsabbau? Herr Beck und auch Sie, Herr Westerwelle, sprechen von Anerkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität. Genau darum geht es. Aber diese Anerkennung bedeutet natürlich keine automatische Gleichstellung mit der Ehe. Weder ist dies so im Gesetzentwurf enthalten noch ist es notwendig. Man muss das Missverständnis offen benennen und auszuräumen versuchen, der Abbau der Diskriminierung durch Anerkennung dieser Lebensgemeinschaften, die Anerkennung der sexuellen Identität, sei eine Gleichsetzung mit der Ehe. Genau diese Gleichsetzung gibt es nicht. Wenn man die Frage stellt, was Anerkennung einer homosexuellen Lebensgemeinschaft unter Einbeziehung der sexuellen Identität eigentlich heißt, dann muss man sich entscheiden - das ist eine Frage nach dem eigenen kulturellen Verständnis - , wie man die andere, die gleichgeschlechtliche Orientierung betrachtet. Betrachtet man sie als andere Orientierung, wie Margot von Renesse oder auch ich es tun, oder als etwas, was eben doch den Ruch der Minderwertigkeit, also nicht nur den der Verschiedenheit, hat? Um diese Entscheidung kommt man nicht herum; denn wenn „anders“ im Sinne von „minderwertig“ gemeint ist, zumindest wenn man es so im Hinterkopf hat, dann wird man natürlich immer fragen, warum der Staat ein eigenes familienrechtliches Institut zur Verfügung stellen soll. Deswegen sagen wir: anders - ja, minderwertig - nein. ({2}) Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die darüber noch nicht nachgedacht haben, geht dahin, darüber zu diskutieren. Wenn man sagt, andersartig, aber gleichwertig, dann heißt das, dass das den Menschen mitgegeben ist und zur Würde des Menschen gehört. Damit steht es unter dem Schutz des Art. 1 Grundgesetz. Dann heißt das, dass auch die Handlungsfreiheit gemäß den Grenzen des Art. 2 gegeben ist und dass für entsprechende Lebensgemeinschaften das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 gilt. Wir sehen das so. Deswegen sind wir der Meinung, dass es sinnvoll ist, ein eigenes familienrechtliches Institut zu schaffen. Ich sage noch einmal: Das beruht auf der Basis von Art. 1, Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Warum sind wir denn der Auffassung, man sollte dieses familienrechtliche Institut schaffen? Hierfür haben wir zwei Gründe: Zum Ersten sind wir der Meinung, dass diese Lebensgemeinschaften im Rahmen des Diskriminierungsabbaus die Anerkennung verdienen, und zum Zweiten - da will ich einen Gedanken aufgreifen, den Sie, Herr Westerwelle, gerade auch schon angeführt haben wollen wir Bindungen und Partnerschaften stärken. Hier geht es aber um Bindungen und Partnerschaften in einem spezifischen Sinn, die sich von denen von Mönchen, Witwen oder Menschen, die andere pflegen - diese haben alle unsere Hochachtung -, unterscheiden, weil hier die besondere sexuelle Identität einbezogen wird. Das ist der Grund dafür, warum wir sagen: die ja und andere nicht. Es gibt noch einige andere Gründe, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum wir bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften von Menschen, die heiraten könnten, aber ihre Gründe haben, dieses nicht zu wollen, die Ungerechtigkeiten, zu denen es dort nach langen Jahren kommen kann, zwar grundsätzlich, aber nicht mithilfe eines Trauscheins zweiter Klasse oder irgendeines anderen familienrechtlichen Instituts ausgleichen wollen. Dies sind unterschiedliche Sachverhalte. Jetzt komme ich auf die mit Art. 6 Grundgesetz zusammenhängenden Fragen zu sprechen. Gestatten Sie mir, lieber Herr Westerwelle, folgende Anmerkung: Ich glaube, dass Sie den Bundesinnenminister, den wir alle sehr schätzen, ein bisschen sehr eigenwillig zu Ihrem eigenen Nutzen interpretiert haben. Ich sehe die Bedenken, die Sie haben. Auch ich bin der Meinung, dass wir eine Regelung brauchen, die hält. Lassen Sie mich das ganz deutlich unterstreichen. Ich nehme auch an, dass Karlsruhe zu dieser Frage angerufen werden wird. Deshalb muss man die verfassungsrechtlichen Grundlagen sehr sorgfältig prüfen. Das haben wir getan und werden es auch weiterhin tun. Wenn Sie zusätzliche Anregungen hierzu auch für die Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag haben, dann werden diese, da können Sie sicher sein, mit großer Sorgfalt geprüft. Was stellt denn Art. 6 Grundgesetz unter den besonderen Schutz des Staates? Zum einen die Familie: Sie besteht aus Eltern und Kindern, einem Vater, einer Mutter und einem eigenen oder angenommenen Kind. Dieses bedeutet aber auch, dass, wenn ein schwuler Vater ein eigenes Kind in die Partnerschaft mitbringt, dies eine Familie ist, die als solche unter dem Schutz von Art. 6 steht. ({3}) Bitte bedenken Sie: In der Öffentlichkeit gibt es hervorragende Beispiele nicht nur für Menschen, die andere pflegen, sondern auch für Menschen, die wie Patrick Lindner in Bayern ein krankes Kind adoptieren, was zulässig und wünschenswert ist, damit es diesem Kind gut geht. Selbstverständlich ist diese Beziehung eine VaterKind-Beziehung und steht damit ohne Zweifel unter dem Schutz des Art. 6. Das heißt, die Familie steht völlig ungeachtet der sexuellen Orientierung der Eltern oder eines Elternteils unter dem besonderen Schutz des Staates. Art. 6 schützt auch die Ehe, und zwar aus gutem Grund. Ich darf noch einmal wiederholen: Es ist ja interessant, dass wir, Herr Geis, Margot von Renesse, viele andere und ich, uns in nichts nachstehen, was die Ernsthaftigkeit unserer persönlichen Beziehungen - für uns ist ganz offensichtlich die Ehe das Lebensmodell - und die Bejahung, die wir dazu ganz eindeutig äußern, betrifft. Warum schützt denn Art. 6 die Ehe? Natürlich auch wegen der gemeinsamen Kinder, aber auch wegen der partnerschaftlichen Bindungen. Das heißt, hier ist eine besondere heterosexuelle, auf lange Dauer angelegte Bindung unter den besonderen Schutz des Staates gestellt, in der der Wunsch bzw. die Möglichkeit oder sogar die Gewissheit besteht, eigene Kinder zu haben und sie zu erziehen. Beides spielt eine große Rolle. Deswegen haben alle die Recht, die immer wieder darauf hinweisen, dass das neue familienrechtliche Institut der eingetragenen Partnerschaften natürlich Rechtsbeziehungen zwischen den Ehegatten nur insofern zum Vorbild nehmen kann, als sie nicht in der Möglichkeit begründet sind, gemeinsame Kinder zu haben. Das muss die Grenze sein. Nicht passend sind also - das ist hier schon genannt worden - Adoption, Versorgungsausgleich, Güterstand und Ehegattensplitting. Aber diese Diskussionen können wir sicher noch mit Ihrer kritischen Begleitung führen, weil es uns darum gehen muss, eine Regelung zu finden, die Diskriminierung abbaut, die solche Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität anerkennt, die sie nicht gleichstellt mit der Ehe und die auf jeden Fall vor dem Verfassungsgericht Bestand hat. Ich glaube nicht, dass Sie, Herr Westerwelle, mit Ihrem Argument vom Standesamt Recht haben. Ich darf zunächst einen praktischen Aspekt anführen. Sie wissen ganz genau, dass es in Hamburg die Anerkennung vor dem Standesamt - allerdings ohne Rechtsfolgen - schon seit langem gibt. Ist das denn verfassungswidrig? Sind Sie wirklich der Meinung, dass das gegen Art. 6 des Grundgesetzes, also gegen den Schutz der Ehe, verstößt? Ich habe dieses Argument noch nicht gehört. Das Standesamt ist Personenstandsbehörde, keineswegs ein Amt, das ausschließlich mit Eheangelegenheiten zu tun hat. Es hat sehr viel mit Familienangelegenheiten zu tun. Man kann also auf keinen Fall zu dem Schluss kommen, dass das Standesamt nur die Funktion der zivilrechtlichen Trauung erfüllt. Hierin liegt also nicht das Problem. ({4}) Lassen Sie mich noch einen weiteren pragmatischen Aspekt anführen. Wir alle wollen, dass es Partnerschaften und Ehen nicht gleichzeitig geben kann. Das schließt sich vom Wesen her aus. Praktisch gesehen ist es deshalb sinnvoll, eine Regelung zu haben, aufgrund deren Eintragungen auf dem Standesamt gemacht werden können. All diese Punkte muss man bedenken, wenn man die Lösung beurteilen will. Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf natürlich sehr sorgfältig angeschaut. Ich glaube aber nicht, dass Ihre Überlegung richtig ist, dass wir ohne familienrechtliches Institut zum Beispiel bei der Zeugnisverweigerung - weiterkämen. Ich kehre zu dem Ausgangspunkt zurück - Abbau von Diskriminierung und Anerkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität - und sage: Es gibt keine Gleichstellung mit der Ehe. Die Diskussion nicht nur hier im Bundestag, sondern auch draußen sollte mit Respekt geführt werden. Das sind die Schlagworte, die dieses Vorhaben begleiten sollten. Wenn uns dies gelingt, dann kommen wir gemeinsam ein gutes Stück weiter. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, es ist nur eine kurze Intervention zur Klarstellung. Nicht allein die Tatsache bezüglich des Standesamtes macht mir verfassungsrechtliche Sorgen, sondern die Kombination aus Standesamt als eben nicht nur einer bürokratischen, sondern auch Kulturbehörde und einer weitgehenden rechtlichen Annäherung von Ehe und eingetragener Partnerschaft. Das ist der große Unterschied zur Situation in Hamburg. In Hamburg gibt es zwar eine standesamtliche Registratur, aber ohne jede rechtliche Konsequenz. Was Sie vorlegen - das ist einer der Punkte, wo man sehr genau hinschauen muss; das können Sie bei Herrn Schily nachlesen -, enthält eine Kombination, über die wir noch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten reden müssen und die mir große Sorgen bereitet. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung die Bundesministerin der Justiz.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Vielen Dank, Herr Westerwelle, für die Klarstellung. Wenn Sie ein bisschen konkreter geworden wären, wäre ich jetzt selbstverständlich in der Lage, Ihre Sorge bezüglich des einen oder anderen Punktes auszuräumen. Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen, wo die Grenzlinie verläuft. Das ist für die Beurteilung des vorliegenden Gesetzentwurf ganz wichtig. Die Grenze verläuft so - um nochmals die Worte von Margot von Renesse aufzugreifen -, dass Regelungen für Ehepartner ohne eigene Kinder zum Vorbild genommen werden können, andere Regelungen aber nicht. Darunter fallen Adoption, Ehegattensplitting, Zugewinnausgleich und Versorgungsausgleich. Dazu gehören auch noch andere Überlegungen - ich weiß, die Zeit war ein bisschen kurz, unseren Entwurf sorgfältig durchzulesen -, die Sie alle in dem Gesetzentwurf finden werden. Ich sage Ihnen eindeutig zu: Wenn Sie konkrete Fragen haben, die hier diskutiert werden sollen, dann tun wir das sehr gerne. Danke schön.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, heute mit meiner Rede einen eher unüblichen Weg zu gehen. Obwohl ich den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ablehne, will ich mich heute nicht zu sehr mit den Einzelheiten befassen, sondern vielmehr versuchen, den Weg für eine gute und faire Diskussion zu bereiten. Dabei wende ich mich an diejenigen gerade auch in meiner eigenen Fraktion und Partei, die sich schwer tun mit diesem Thema an sich und mit der Festschreibung von Rechten im Besonderen. Ich bin mir sicher, dass es gerade auch bei den Sozialdemokraten Kollegen und Kolleginnen gibt, die große Schwierigkeiten haben werden, einer fast vollständigen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe zuzustimmen. Sie, Frau von Renesse, haben ja auch angedeutet, dass es nicht überall ganz leicht ist. Viele von uns fangen, wenn überhaupt, erst langsam an, sich für ein Thema zu öffnen, das einerseits nach wie vor ein Tabuthema und andererseits mit vielen Vorurteilen behaftet ist, Vorurteilen, die leider auch immer wieder befördert werden, wenn zum Beispiel beim Christopher Street Day nur die schrillen und bizarren Typen gezeigt werden und nicht die große Mehrheit derjenigen, die sich an diesem Tag einfach nur freuen, dass sie sich als lesbisches oder schwules Paar ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit zeigen können und, statt neugierig angestarrt zu werden, einfach akzeptiert werden. Meine Damen und Herren, ich kann das deshalb sagen, weil ich selber, seit ich mich auf dieses Thema eingelassen habe, einen schwierigen Lernprozess durchlaufen habe: vom Vorurteil zum hoffentlich begründbaren Urteil. Da war bei mir zunächst auch das „Tuntenbild“ im Kopf und die Vorstellung von etwas, „was man nicht tut“ und was man schon gar nicht „ist“. Als ich aber angefangen habe, mich näher mit dieser Thematik zu befassen, und dabei die Chance wahrgenommen habe, viele Gespräche zu führen und die Menschen kennen zu lernen, habe ich auch die „Normalität“ von Schwulen und Lesben erfahren und viele besonders liebenswerte Menschen getroffen. Erschreckt hat mich aber auch, von Ausgrenzung, von verletzender Ablehnung und von massivem Mobbing zu hören. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass es keine Diskriminierungen gebe. ({0}) Aber nicht nur in der Öffentlichkeit kommt es zu erheblichen Schwierigkeiten, sondern auch die Not von Eltern kann groß sein, die angesichts der eigenen Befangenheit und der Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung ihre eigenen Kinder nicht mehr annehmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit ich diese Erfahrungen gemacht habe, habe ich nicht nur angefangen, nach sachgerechten Antworten zu suchen, sondern auch nach angemessenen. Und wenn mir von zwei Männern oder zwei Frauen, die sich ebenso lieben wie ein Mann und eine Frau, die heiraten wollen, die gleichen Gründe für den Wunsch nach einer auf Dauer angelegten und rechtlich gesicherten Partnerschaft vorgetragen werden, kann das nicht das eine Mal richtig und das andere Mal völlig abwegig sein. ({1}) Gerade die Konservativen unter uns sollten sehr genau hinsehen, ob nicht gerade die von uns mit Recht als wichtig erachteten Werte hier einmal mehr eingefordert werden. Ich denke da an Verlässlichkeit, an Verantwortung, an Vertrauen - im Gegensatz zu Unverbindlichkeit und wechselnden Beziehungen. Mit diesen Überlegungen kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass beide Formen dieser Beziehungen absolut gleich wertvoll sind, gleichwertig, aber völlig unterschiedlich in den Konsequenzen für die angemessene Rechtsetzung. Da unterscheiden wir uns denn doch sehr. Was ist also zu tun? Ich muss zugeben, dass mir der vorgelegte Gesetzentwurf sehr hilfreich war, Klarheit zu schaffen, Klarheit darüber, was ich will und was ich nicht will. Die völlige oder fast völlige Gleichstellung mit der Ehe, wie vorgesehen, will ich jedenfalls nicht. Ich halte sie weder für logisch noch für angemessen. Unser Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat gibt damit der Familie besondere Rechte zum Schutz der Kinder, um ihnen Fürsorge, Vertrauen und Verlässlichkeit zu gewähren. Der Staat verspricht auch der Ehe seinen besonderen Schutz, weil er idealtypisch davon ausgeht, dass - trotz mancher gegenläufiger Tendenzen auch heute noch - die natürliche Erfüllung der Ehe die Familie mit Kindern ist. ({2}) Die Privilegierung der Ehe ist also kein Grund für eine Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit ihr. Der Gleichberechtigungsgrundsatz gebietet, dasjenige und nur dasjenige gleich zu behandeln, was wesentlich gleich ist. Er gebietet keine schematische Gleichmacherei von allem und jedem ohne Rücksicht auf wesentliche Unterschiede. Ungleiches ist gerade nicht gleich, sondern gerechterweise ungleich zu behandeln. Gleichbehandlung bedeutet also, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Ich kann da nur auf die sehr eindrucksvollen Worte des Kollegen Dreßler in seiner letzten Rede am gestrigen Tag hinweisen. Die heute schnell gebrauchte Rede von der Diskriminierung, wann immer eine ungleiche Behandlung festzuBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin stellen ist, bedarf darum jeweils der genauen Überprüfung. In vielen Fällen ist sie ihrerseits Kampfbegriff zur Erlangung von Positionsgewinnen im Interessenabgleich der pluralistischen Gesellschaft. ({3}) Aus der klassischen Tradition von Ehe und Familie wurden rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die dem besonderen Schutzbedürfnis des wegen der Erziehungsaufgaben ganz oder teilweise auf eigene Erwerbstätigkeit verzichtenden Elternteils Rechnung tragen. Dazu gehören zum Beispiel Unterhaltsrechte und -verpflichtungen mit ihren steuerlichen Konsequenzen sowie abgeleitete Sozialversicherungsansprüche. Aber was ist nun notwendig, um homosexuellen Paaren, die ihre Partnerschaft auf Dauer anlegen möchten, die erforderlichen Rahmenbedingungen zu geben? Im Regelfall - nur dafür sollten wir Vorsorge treffen - werden beide Partner oder Partnerinnen selber für ihren Unterhalt sowie ihre soziale Absicherung sorgen können. Es ist kein Grund zu erkennen, warum die Solidargemeinschaft hier eintreten sollte. Statt materieller Rechte sind bei gleichgeschlechtlichen Paaren aus meiner Sicht viel notwendiger moralische Rechte abzusichern. Damit meine ich, gesetzliche Sicherheit für den Fall zu geben, dass einer der Partner der besonderen Fürsorge bedarf. Hierzu zählen aus meiner Sicht: das Zeugnisverweigerungsrecht, damit auch homosexuelle Partner nicht in die Zwangslage gebracht werden, zulasten ihres Partners oder ihrer Partnerin aussagen zu müssen; Auskunfts- und Besuchsrechte; die Änderung des Mietrechts, um nach dem Tod des Partners in das bestehende Mietverhältnis eintreten zu können. Die Vorschriften des Bestattungsrechts sollten dahin gehend modifiziert werden, dass dem homosexuellen Partner des Toten ein gegenüber den sonstigen Berechtigten nicht nachrangiges Recht zur Totensorge eingeräumt wird, das seinen Ausschluss von der Beerdigung durch die Angehörigen verhindert. Die großzügigeren Bedingungen für den Besuch von Angehörigen im Strafvollzug könnten auf homosexuelle Partner ausgedehnt werden. Fragen des Erbrechts sollten ebenfalls bedacht werden. Wenn ein Lebenspartner den anderen im Falle einer schweren Krankheit oder Berufsunfähigkeit finanziell unterstützt, sollten diese Kosten steuerlich geltend gemacht werden können. Wenn auch die Mehrheit meiner Fraktion der Auffassung ist, dass vieles, was homosexuelle Paare einfordern, durch privatrechtliche Verträge geregelt werden könnte, so können doch solche Regelungen im Innenverhältnis keine Rechtsverhältnisse gegenüber Dritten oder dem Staat beeinflussen oder gestalten. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir diese Rechte festschreiben und ihnen zugleich eine solide und eindeutige Grundlage geben. Für mich ist die Eintragung der Lebenspartnerschaft die logische und eindeutige Grundlage für Rechte und Pflichten. Sie gäbe einen sicheren Beweis und unterstriche die Unterscheidbarkeit von allen unverbindlichen Lebensformen. Welcher hierfür der richtige Ort ist, wird zu klären sein. Allerdings hat es sich schon jetzt gezeigt, dass der Vorschlag der Koalition, dieses standesamtlich zu regeln, in der Öffentlichkeit wegen seiner Verwechselbarkeit mit der Ehe auf heftigen Widerstand stößt. ({4}) Lassen Sie uns in gegenseitigem Respekt vor der jeweils anderen Meinung - das ist hier verschiedentlich eingefordert worden - in die Beratungen gehen und tragen wir alle dazu bei, dass die notwendige gesellschaftliche Diskussion der Aufklärung und dem besseren Verständnis füreinander dient. Gestehen wir denen, die anders als wir empfinden, zu, dass sie ihre Liebe zueinander, sofern sie das wollen, auch in einer verbindlichen Lebensform leben können. Es wird deshalb garantiert keine einzige Ehe weniger geschlossen werden. Und denken wir immer daran: Keiner und keine von uns weiß, warum er oder sie homosexuell oder es eben nicht ist. Eines aber wissen wir ganz genau, nämlich dass Gott uns gerade so, wie wir in unserer Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit sind, gewollt hat. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile für die SPD-Fraktion dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin Falk, ich möchte Ihnen sehr ausdrücklich für Ihren Redebeitrag danken, mit dem Sie für die künftigen Diskussionen einen guten Boden bereitet haben. Denn ich glaube, wir brauchen dies und sollten eine aufgeheizte Stimmung und parteipolitisches Gezänk vermeiden. Ich gestehe, dass mir die Ehe natürlich näher liegt als die Partnerschaft. Dabei ist für mich die Ehe ein äußerer Rahmen. Entscheidend ist dabei der Inhalt, der in dieser Ehe gelebt wird. Das sind zum Beispiel Verlässlichkeit, Verantwortung, Treue - um nur drei Stichworte zu nennen. Warum sollen wir den Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Neigungen einen anderen, einen homosexuellen Partner lieben, einen solchen Rahmen verweigern, um das, was sie ausdrücken wollen, zu leben? Warum können wir in diesem neuen Jahrtausend nach der Verfolgung in der Vergangenheit - die Ministerin hat von jahrhundertelanger Verfolgung gesprochen; wenn man weiter zurückschaut, erkennt man, dass Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung jahrtausendelang verfolgt worden sind - nicht endlich damit Schluss machen? ({0}) Wir haben den in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf eingeschlagenen Weg sehr bewusst gewählt, um die bestehende Diskriminierung zu beenden und um hier eine Regelung zu finden, damit Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung endlich - ich gebrauche die Worte des Kollegen Beck - in der Mitte der Gesellschaft leben können und nicht mehr am Rand leben müssen. ({1}) Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der hier bisher noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, den zu erwähnen ich aber für durchaus wichtig und notwendig halte. Denken wir doch bitte einmal an all die Eltern, die Kinder mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung großziehen und erleben müssen, wie ihre Kinder diskriminiert, wie sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Müssen wir nicht auch für diese Eltern etwas tun? Ich denke, auch das ist langsam an der Zeit. ({2}) Nun haben wir einen Weg gewählt, der eine möglichst weit gehende Annäherung an das Institut der Ehe - ich wiederhole: Ehe heißt Jawort vor dem Standesamt sicherstellt. Herr Kollege Westerwelle, wir haben ganz bewusst das Standesamt als die Stelle gewählt, bei der die Erklärung „Ja, wir wollen eine Partnerschaft schließen“ abgegeben werden soll. Dies hat gute Gründe.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Hartenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hildebrecht Braun?

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. - Bitte, Herr Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Hartenbach, verzeihen Sie, Sie sind gerade bei einer Spezialthematik. Aber es ist oft so, dass man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Wort meldet und der Redner zwischenzeitlich schon beim nächsten Thema ist. Wir sprechen hier viel über einzelne Formen der Diskriminierung bei einer bestehenden homosexuellen Partnerschaft. Primär geht es natürlich darum, dass eine solche Partnerschaft überhaupt gelebt werden kann. Deswegen ist das Problem der binationalen Verbindungen, der ausländerrechtlichen Absicherung, dass also eine Verbindung überhaupt gelebt werden kann, von überragender Bedeutung. Sie sind der dritte Sprecher der SPD zu diesem Thema. Ich habe bisher nichts dazu erfahren, inwieweit der Innenminister und auch der Bundeskanzler, der nach unserer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmt, bereit sind bzw. sein werden, dem in Ihrem und auch in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Konzept zuzustimmen, wonach in Deutschland in Zukunft nachgewiesene, lange bestehende Partnerschaften auch von Deutschen und Nichtdeutschen gelebt werden können. Können Sie dazu etwas sagen?

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte mich zunächst einmal an Sie wenden, Herr Präsident. Der Kollege Braun hat anscheinend auf die Uhr gesehen und festgestellt, dass ich nur noch etwas mehr als zwei Minuten Redezeit habe. Eine Beantwortung seiner Frage passt im Moment nicht in mein Konzept. Darf ich für mich 30 Sekunden länger reklamieren, damit ich diese Frage beantworten kann? ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Sie haben genügend Zeit, die Frage zu beantworten und Ihren Redebeitrag zu vollenden.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte an anderer Stelle auf Ihre Frage eingehen, Herr Braun. Ich werde es nicht vergessen. ({0}) - Deswegen habe ich ja um eine Verlängerung meiner Redezeit um 30 Sekunden gebeten. Ich fahre fort: Wir haben für eingetragene Lebenspartnerschaften ganz bewusst diese verbindliche Form gewählt. Wir wollen nicht nur einen Vertrag; vielmehr soll nach außen sehr deutlich dokumentiert werden: Wir wollen eine Partnerschaft eingehen. Ich habe nicht die Bedenken, die Sie geäußert haben, dass diese Form möglicherweise verfassungswidrig ist. Wir haben sehr genau darüber nachgedacht und sind überzeugt, dass das Standesamt auch in diesem Fall genau die richtige Stelle ist. Der Standesbeamte muss nämlich prüfen, ob eine andere Partnerschaft oder möglicherweise eine Ehe besteht. Zudem wird dadurch letztendlich der Wille zur Partnerschaft bekundet. Ich möchte nun auf den Kollegen Braun eingehen. Für uns ist selbstverständlich, dass in diesem Fall ähnliche Regelungen gelten müssen wie beim Nachzug von Ehepartnern. Damit habe ich Ihre Frage auch schon beantwortet. Die von Ihnen geäußerten Bedenken kann ich ausräumen; denn es gibt andere zivilisierte Länder - ich nenne nur Dänemark und Frankreich -, in denen bereits solche Lebenspartnerschaften bestehen. Auch dort wird über den Nachzug von ausländischen Lebenspartnern diskutiert. Im Übrigen geht es nicht um die von der Union - insbesondere von Herrn Geis in einem Zeitungsartikel - propagierte Masse. Außerdem wissen wir alle, dass gerade in den Ländern, von denen Fluchtbewegungen zu uns ausgehen, die Homosexualität verfolgt wird, dass dort also solche Partnerschaften überhaupt nicht möglich sind. Daher müssen wir über diese Frage gar nicht weiter nachdenken. Dies wird sich in dem normalen Rahmen regeln lassen. Ich komme auf Herrn Westerwelle zurück - jetzt können Sie die Uhr wieder laufen lassen, Herr Präsident -: Natürlich brauchen wir hier eine verbindliche Regelung; denn wir wollen und müssen auch in anderen Gesetzen verbindliche Regelungen treffen. Ich glaube nicht, dass man eine vertragliche Regelung treffen kann, ohne in anderen Gesetzen, zum Beispiel hinsichtlich der ganz wichtigen Frage des Zeugnisverweigerungsrechts - und ich halte das nicht für einen Ausnahmefall -, Anpassungen vorzunehmen. Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte des Dankes sagen, und zwar an diejenigen, die in den Koalitionsfraktionen an diesem Entwurf mitgearbeitet und zu erkennen gegeben haben, dass wir hiermit ein gesellschaftspolitisches Werk schaffen, das dem Stand unserer Republik, dem Stand unseres Denkens, nämlich eines aufgeklärten Denkens, gerecht wird und dessen würdig ist. Ich darf mich bei all jenen bedanken - vor allen Dingen bei Ihnen, Frau Ministerin -, die uns unterstützt haben, ({1}) auch denen, die uns bei den teilweise schwierigen Fragen zu anderen Rechtsgebieten geholfen haben. Ich denke, dass wir in den Beratungen - Frau Falk, ich schaue Sie ganz offen an - einen guten Gesetzentwurf zustande bringen werden. Sie, Herr Westerwelle, und die gesamte F.D.P. wollen dies. Ich stelle fest: Auch der Widerstand in der Union bröckelt. Es ist ein vernünftiger Umgang miteinander möglich. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, haben einen mutigen und guten Schritt getan; wir wollen dieses Werk beenden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3751 und 14/3792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3751 soll zusätzlich an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, die Vorlage auf Drucksache 14/3792 zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses ({3}) - Drucksache 14/3750 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die SPD-Fraktion dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen und Monaten ist in unserem Land Erstaunliches passiert. Über die so genannte Fachöffentlichkeit hinaus hat in einer breiteren Öffentlichkeit die intensive Diskussion rechtspolitischer Themen begonnen. Überregionale und auch regionale Zeitungen haben sich zunehmend mit der für den Laien doch eher spröden Materie der Rechtspolitik beschäftigt. Was ist geschehen? Es wird auf der Grundlage der Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsmittel im zivilgerichtlichen Verfahren“ bereits seit dem Sommer letzten Jahres und dann letztendlich bis in diese Tage hinein - ich hoffe, auch darüber hinaus - und auf der Grundlage eines Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Justiz vom Jahresende 1999 die Reform unseres Zivilprozessrechts diskutiert. Ich begrüße diesen breit angelegten Diskussionsprozess ausdrücklich und fordere alle Interessierten auf, dieses Gespräch nunmehr nach Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses durch die Koalitionsfraktionen intensiv weiter zu führen. Ich begrüße dies insbesondere deshalb mit Nachdruck, weil das Verfahren in der Vergangenheit, nämlich in den 16 Jahren der Vorgängerregierung, genau andersherum gelaufen ist. Insbesondere in den 90er-Jahren gab es eine Reihe von Entlastungs-, Beschleunigungs- oder so genannten Vereinfachungsnovellen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die jeweils von der breiten Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt und überwiegend auch für die Praxis überraschend daherkamen. Wir haben uns oft gewundert, was da wieder im Bundesgesetzblatt stand, meine Damen und Herren. Von daher möchte ich an dieser Stelle Ihnen, Frau Ministerin, den ausdrücklichen Dank der Koalitionsfraktionen dafür sagen, dass Sie diesen breiten Diskussionsprozess im vorigen Sommer mit der Vorlage der Auswertung des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe in Gang gesetzt haben. Sie haben sich dabei sehr viel Kritik ausgesetzt. Aber Sie haben sich der sachlichen und fachlichen Diskussion gestellt. Das ist der richtige Weg, der uns zum Erfolg führen wird. Noch einmal schönen Dank. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die von mir erwähnten so genannten Entlastungsgesetze der Vergangenheit sind allerdings alle gescheitert. Um mit den Worten des Kollegen Scholz zu sprechen: gnadenlos gescheitert. Sie haben für die Rechtsuchenden keine Verbesserungen und für die Gerichte keine Entlastungen, sondern - im Gegenteil - weitere Belastungen gebracht. So ist durch das ständige Hochschrauben der Wertgrenzen im Zivilprozess letztendlich die Masse des Arbeitsanfalles lediglich nach unten durchgedrückt und im Ergebnis die Amtsgerichte immer wieder mit Mehrarbeit belastet worden. Man hat die Quantitäten geregelt und die Qualitäten aus dem Auge verloren. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich im Jahre 1973 in der ordentlichen Justiz anfing, hatte ein amtsrichterliches Dezernat 350 bis 400 Eingänge im Jahr; heute sind wir bei 700 und mehr. Weil die Entlastungsgesetze der Vergangenheit, wie ich meine, gescheitert sind, geht der jetzt vorgelegte Entwurf zur Reform des Zivilprozesses ganz konsequent einen anderen Weg: den Weg einer wirklichen Strukturreform; denn über die Istbeschreibung der jetzigen Situation hinaus müssen wir uns vergegenwärtigen, dass insbesondere auf die Ziviljustiz durch die weitere zunehmende Verrechtlichung des Alltagslebens, den rasanten Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien und nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraumes neue, zusätzliche Aufgaben zukommen werden. Der Zivilprozess des Jahres 2010 wird daher in seiner Komplexität mit dem Zivilprozess des Jahres 2000 nicht mehr vergleichbar sein, wie bereits der heutige Zivilprozess nicht mehr mit dem des Jahres 1973 vergleichbar ist. Die Rechtspolitik muss daher vorausschauen, sich auf gesellschaftliche Veränderungen, den technischen Fortschritt und die globalen Veränderungen einlassen. Sie kann sich nicht damit begnügen, solche Entwicklungen nur nachzuvollziehen. Die Rechtspolitik muss vielmehr die Initiative ergreifen und jedes Optimierungspotenzial nutzen, um das hohe Qualitätsniveau der Justiz langfristig zu sichern und noch weiter zu steigern. Die Rechtspolitik muss sich aus den Zwängen und der Umklammerung der Fiskalpolitik befreien. Das heißt aber nicht, dass sich die Justiz bei der Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben in der Vergangenheit und in der Gegenwart nicht bewährt hätte, Herr Geis. Die Diskussion der letzten Monate hat vielmehr gezeigt, wie effektiv und auf welch hohem Niveau insbesondere die Ziviljustiz arbeitet. Das Entscheidende ist vielmehr, jetzt die Weichen dafür zu stellen, dass die Gerichte auch zukünftig den hohen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft und letztlich der ganzen Gesellschaft gerecht werden können. Um die anerkannt hohe Qualität der Dienstleistungen der Justiz und damit ihre Akzeptanz in der Bevölkerung langfristig zu sichern, bedarf es einer umfassenden Reform der Rechtspflege in allen Bereichen. Für die Ausgangssituation, von der aus wir diskutieren, gibt es die, wie ich meine, unstrittige Feststellung, dass wir uns ganz realistisch darüber im Klaren sein müssen, dass die Justiz den sich abzeichnenden Aufgabenzuwachs angesichts der Haushaltslage der Länder ohne zusätzliches Personal bewältigen muss. Die hierfür erforderlichen Kapazitätsreserven müssen die Organe der Rechtspflege bei sich selbst mobilisieren. Wenn das so richtig ist - ich meine, es ist richtig -, ergeben sich daraus Folgerungen, die der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Wolfgang Zeidler, in seinem, wie ich meine, heute schon historisch zu nennenden Festvortrag anlässlich des Deutschen Richtertags 1983 in München vorgezeichnet hat. Er hat drei Punkte aufgezeigt: Erstens. Die Revisionsgerichte sind in ihrer Aufgabe ganz auf die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung zu konzentrieren. Genau das steht in unserem Entwurf. Zweitens. Die Entwicklung kann vor der Position der Mittelinstanz nicht Halt machen. Das Prinzip des Zugangs zur zweiten Instanz als Verfahrensrecht einer Partei, von dem sie nach Belieben Gebrauch machen kann, wird sich nicht aufrechterhalten lassen, da hierdurch zu viel richterliche Arbeitskapazitäten für letztlich Überflüssiges absorbiert werden. Auch dem folgen wir in unserem Entwurf. Drittens. Daraus folgt der Schluss, dass die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaats eine erhebliche Aufwertung der ersten Instanz voraussetzt. ({1}) Sie ist nicht nur Durchgangsstation auf dem Weg zu den heiligen Hallen der Obergerichte, sondern sie sollte in aller Regel Endstation sein. Genau das setzen wir mit unserem Entwurf konsequent um. ({2}) Wir fordern Sie, die breite Fachöffentlichkeit, die Opposition in diesem Haus und die Bundesländer, auf, mit uns gemeinsam auf der Grundlage dieses Entwurfs in die weitere Diskussion zu gehen. Nach meinen Informationen wird es im Sommer dieses Jahres, im August, einen Entwurf der Bundesregierung geben. Wir können dann über das Thema von zwei Seiten her strukturell diskutieren. Wir werden mit den Diskussionsvorschlägen den Deutschen Juristentag im September erreichen und können dann auch dort in die Diskussion einsteigen. Im weiteren Verfahren können wir vor dem Hintergrund sachlicher Arbeit etwas Gutes tun, um, wie ich bereits eingangs sagte, die ordentliche Gerichtsbarkeit für die Zukunft fit zu machen. Ich denke, auch die Opposition hier im Hause müsste eigentlich mit uns gemeinsam diesen Weg gehen können. Ich darf aus dem Protokoll vom 13. Juni 1997, als über das gleiche Thema beraten wurde, zitieren. Der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Eylmann von der CDU, hat Folgendes gesagt: ({3}) Wir brauchen eine Stärkung der ersten Instanz. Wir brauchen mehr Mündlichkeit in der ersten Instanz; denn in der ersten Instanz entscheidet sich das Ansehen der Justiz; mit den Amtsrichtern kommen die Leute zusammen. Wir brauchen weiterhin eine Straffung des Rechtsmittelsystems - ich habe das schon häufig vorgetragen -: eine Tatsacheninstanz, eine Rechtsüberprüfungsinstanz. Das war ein Aufruf an Sie, sich diesem vernünftigen Weg anzuschließen. Ich hoffe, Sie werden diesen Schritt jetzt gehen können, Herr von Stetten. ({4}) Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes ausführen: Wir haben im vorigen Jahr die Möglichkeit der außergerichtlichen Streitschlichtung neu in das Gesetz aufgenommen. Sie waren daran beteiligt. Wir haben die Präsidialverfassung der Gerichte reformiert. Dies waren die ersten beiden Schritte. Die heute vorgestellte Reform des Zivilprozesses ist der nächste Schritt auf dem von uns eingeschlagenen Weg, dem Weg, der uns zu dem Ziel führen soll, der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Rüstzeug zu geben, um den Anforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Die Reform der Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Strafprozesses werden die nächsten Schritte sein. Parallel dazu müssen wir im Einvernehmen mit den Bundesländern die notwendige Binnenreform der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorantreiben, also die Übertragung gegenwärtig noch richterlicher Aufgaben auf den rechtspflegerischen Dienst und die weitere Übertragung von Aufgaben, die jetzt noch von Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern zu erfüllen sind, auf den mittleren Dienst. Diesen Weg der notwendigen Reformen zu gehen wird nicht leicht sein. Er wird steinig sein und die Widerstände heftig. Denn hiermit greifen wir in Strukturen ein, in denen wir seit 120 Jahren in der Justiz arbeiten. Aber ich darf Ihnen versichern: Wir haben das im Kreuz, wir werden diesen dornigen Weg bis zum Ende gehen; denn wir sind davon überzeugt - ich bin davon überzeugt -, dass es zu diesem Weg der Reformen keine Alternative gibt. Schönen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Jetzt spricht der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Stünker, die Praxis, etwa die Anwälte und Richter, sieht das ganz anders als Sie. Das wissen Sie auch. Es wird sehr schwierig werden, all dies gegen die Praxis, also gegen Anwälte und Richterschaft, durchzusetzen. Soweit meine erste Vorbemerkung. Zweitens möchte ich sagen: Ich meine, dass dies ein sehr wichtiges Thema ist, nach unserer Einschätzung vielleicht das wichtigste in der Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode. Dieses Thema hätte es verdient, zu einem besseren Zeitpunkt behandelt zu werden. Bei der Einbringung von Gesetzen muss man auch ein wenig darauf achten, dass man Gedanken nicht in einer geschlossenen Gesellschaft austauscht, sondern dass sie einen vernünftigen Widerhall bei den Kollegen finden können. Insofern bedaure ich es außerordentlich, dass wir dieses Thema heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, auf der Tagesordnung haben. Ich bedaure auch, dass dieser Gesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist, die Bundesregierung also nicht den normalen Weg gegangen ist, nämlich diesen Gesetzentwurf erst dem Bundesrat zuzuleiten, damit dieser Stellung nehmen kann. Ich glaube, dies wäre der bessere Weg gewesen und hätte der Diskussion besser gedient.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alfred Hartenbach?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, waren Sie immer so selbstzweiflerisch, was die Rechte eines Parlaments anbetrifft, oder sind Sie das erst, seit Sie in der Opposition sind?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich achte die parlamentarischen Rechte sehr hoch, dass wissen Sie genau. Ich meine nur, es hätte der Sache mehr gedient, wenn die Bundesregierung einen Kabinettsentwurf vorgelegt, diesen dann dem Bundesrat zugeleitet hätte und der Bundesrat dann dazu hätte sachkundig Stellung nehmen können. ({0}) Dies hätte unserer Diskussion mehr gedient. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Hartenbach möchte eine zweite Zwischenfrage stellen.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, finden Sie es nicht gut, dass dieser Entwurf so lange als Referentenentwurf vorlag, dass Ihr eigener Sachverstand ausreicht, um ihn zu beurteilen? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass es ein sehr kollegialer Akt der Koalitionsfraktionen ist, Ihnen über die Sommerpause hinweg die Gelegenheit zu geben, sich mit diesem Referentenentwurf zu befassen, statt dauernd rätseln zu müssen: Was hat die Koalition im Panzerschrank liegen? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Hartenbach, es handelt sich hier doch nicht mehr um einen Referentenentwurf, sondern um einen Gesetzentwurf. Diesen Gesetzentwurf diskutieren wir heute. Was spricht eigentlich dagegen, uns über die Sommerpause den vom Kabinett beschlossenen und dem Bundesrat zugeleiteten Entwurf zu geben, um ihn zu durchdenken und zu diskutieren? Es wäre für diese Beratung besser gewesen, wenn wir vorher die Stellungnahme des Bundesrates gehabt hätten. Sie mögen zwar anderer Meinung sein - ich kenne Ihre Zwänge in dieser Frage -, aber ich glaube - lassen Sie mich das in Ruhe sagen -, ein normales Gesetzgebungsverfahren in dieser Sache wäre der bessere Weg gewesen. Da stimme ich mit meinen Kollegen überein. ({0}) Herr Kollege Hartenbach, das ist eine sehr tief greifende Reform, die Sie da vorhaben; das sagen Sie auch selbst. Die Rechte des Bürgers werden nicht ausgeweitet, jedenfalls nicht hinsichtlich der Berufungsinstanz. Die Rechte in der Berufungsinstanz - jedenfalls ist es in dem Entwurf so niedergelegt - werden sogar eingehend beschränkt. Die Dreistufigkeit wird kommen. Das werden viele Amtsgerichte, sollte das Gesetz so in Kraft treten, in der Praxis nicht überleben. ({1}) Viele Amtsgerichte werden aufgelöst werden müssen. Es ist auch nicht wahr, dass die Bürgernähe größer wird; denn durch die Dreistufigkeit werden wir gerade einen Verlust an Bürgernähe und damit auch an Rechtskultur haben. Dabei haben wir eine gut funktionierende Justiz. Die Frage ist doch, ob man jetzt so umwälzend reformieren muss. Herr Stünker, ich bin ja dafür, dass wir das System immer wieder verbessern; denn gerade der Zivilprozess muss flexibel sein, muss auf neue Entwicklungen Antwort geben können und muss für neue Sachverhalte vernünftige Regelungen finden, damit Konflikte gelöst werden können. Aber dafür ist doch keine so große, umfassende, geradezu revolutionierende Reform notwendig. ({2}) Gegenwärtig kann der deutsche Bürger in einem fairen, effektiven und verlässlichen Verfahren vor dem Gericht sein Recht suchen. Die Behauptung, die Justiz sei nicht bürgernah - in Ihrem Entwurf steht, sie sei nicht transparent, nicht bürgernah und nicht effizient -, ist nach Ihren eigenen Worten, Herr Stünker, gar nicht richtig. Wir haben eine effiziente Justiz. Die Justiz wird in dem Entwurf - Sie, Herr Stünker, haben das nicht getan - krank geredet. Das ist völlig falsch. Sie ist nicht krank. Sie funktioniert, und zwar recht gut. Wäre es nicht so, dann würden nicht so viele Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen auf die Justiz setzen und versuchen, dort ihr Recht zu finden und durchzusetzen. Die Justiz ist nicht krank. Das Gegenteil ist richtig. Ich meine, man sollte jetzt nicht krampfhaft versuchen, unsere Justiz krank zu reden. ({3}) Sie behaupten immer, die vielen Entlastungsgesetze mir sind insgesamt drei auf den Tisch gelegt worden; damals, in unserer Koalition, haben wir vieles so durchgesetzt, wie wir es für richtig gehalten haben -, Herr Hartenbach, hätten nichts bewirkt. Dass wir eine so gut funktionierende Justiz haben, liegt nach meiner Auffassung auch an den Entlastungsgesetzen. Wir lassen sie auch nicht schlecht reden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie behaupten immer, unsere Justiz sei zu stark belastet. Die Belastung ist aber seit sieben Jahren die gleiche - und die Justiz bricht nicht zusammen. Wir haben seit 1993 in etwa die gleichen Eingangszahlen. Im letzten und vorletzten Jahr gingen diese Eingangszahlen sogar zurück. ({4}) Im Übrigen bin ich nicht der Auffassung, dass wir, wenn die Belastung wirklich zu hoch wäre, die Zivilprozessordnung in einer so radikalen Form ändern sollten, wie Sie das vorhaben. Warum sollten wir nicht einmal versuchen, den Ländern klarzumachen, dass die Justiz eine Kernaufgabe ist? Warum sollten wir nicht einmal an die Finanzminister der Länder appellieren, für die Justiz, weil sie eine Kernaufgabe ist, mehr Geld zur Verfügung zu stellen? Wie viel verbraucht die Justiz? Sie verbraucht gerade mal zwei Prozent der Länderhaushalte. Das ist für eine Kernaufgabe des Staates nicht zu viel. Und wenn die Belastung wirklich größer wird, dann müssen wir auch einmal ganz klar und deutlich sagen, dass solche Belastungen auch durch Mehrung von Richterstellen abgebaut werden können. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Jetzt bekommt das Wort zu einer Zwischenfrage der schon lange wartende Kollege Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. - Herr Geis, ich habe ja Geduld.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich auch.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Geis, wenn das alles so ist, wie Sie es hier beschreiben, wenn das alles Gold ist, was den Zustand in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in der Ziviljustiz angeht: Wieso haben Sie dann in der letzten Legislaturperiode einem von den Bundesländern eingebrachten Entwurf - er trägt die Drucksachennummer 13/11042 - noch 1998 zugestimmt, in dem zum Beispiel die Regelung enthalten war, dass künftig von der Berufungsinstanz bis zum Streitwert von 60 000 DM eine Berufung ohne Begründung als „offensichtlich unbegründet“ verworfen werden kann? Warum haben Sie damals der in diesem Entwurf vorgesehenen Regelung eines vermehrten Einsatzes von Einzelrichtern in der ersten Instanz zugestimmt? Ich könnte Ihnen hier noch weitere ähnliche Beispiele nennen. Warum also haben Sie, wie ich meine, immer nur Flickwerkoperationen gemacht, mit denen immer nur in Teilbereichen etwas geregelt wurde? Worin liegt der tiefere Grund dafür, dass die Berufung mit einem Streitwert bis zu 60 000 DM gegenüber der mit einem Streitwert über 60 000 DM schlechter gestellt wird? Wenn das, wie Sie sagen, alles in Ordnung war, warum haben Sie dann diesen Entwurf noch 1998 beschlossen? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Stünker, ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir dann, wenn sich herausstellt, dass unser Zivilprozess nicht flexibel genug ist, im Einzelfall reagieren müssen. Das sieht dieser Gesetzentwurf vor. Wie Sie wissen, haben Sie diesem Entwurf - Sie persönlich waren noch nicht dabei, aber Ihre Kolleginnen und Kollegen - im Rechtsausschuss bis auf eine Passage - sie betrifft die Klausel bezüglich der Kammern für Handelssachen und des Registerwesens - damals zugestimmt. Wir waren alle zusammen der Meinung, dass dieser Gesetzentwurf, vom Bundesrat erarbeitet, aus der Praxis kommend, vernünftig ist. Er beinhaltete aber nicht so umwälzende Neuerungen wie Ihr jetzt vorliegender Entwurf und wollte auch nicht die ganze Justiz umkrempeln. Darin stimmen wir doch hoffentlich überein. Herr Kollege Stünker, ich bin immer für Verbesserungen, wenn es wirklich notwendig ist. Aber ich bin gegen eine totale Umwälzung, wie Sie sie mit Ihrem Entwurf vorhaben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Stünker?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Worin bestand damals für Sie die Notwendigkeit? Sie sagen: Wenn Notwendigkeit besteht, dann machen wir was. Aber Sie haben nicht die Frage beantwortet, worin für Sie die Notwendigkeit bestand.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Notwendigkeit wurde in den einzelnen Fällen aus der Praxis heraus erkannt. ({0}) Die Praxis und die Beratung mit den Kolleginnen und Kollegen des Bundesrates haben uns nahe gelegt, Regelungen zu treffen. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf getan. Sie werden mit mir darin übereinstimmen - Sie sagen ja, das sei Flickwerk gewesen; ich bin nicht Ihrer Auffassung -, dass dieser unser Entwurf nicht der so genannte große Wurf war. Das war nicht ein so revolutionäres Gesetzgebungskonvolut, wie Sie es jetzt vorhaben. Aber: Ich wende mich doch nicht gegen Verbesserungen. Ich bin für Verbesserungen! Kein System ist vollkommen. Wir müssen jedes System verbessern, wenn es notwendig ist. Dafür trete ich ein. Doch ich wende mich ganz massiv gegen Ihren Gesetzentwurf, weil er mir zu revolutionär ist. Lassen Sie mich fortfahren. Ich habe vorhin noch einmal darauf hingewiesen, dass man bei zu großer Belastung natürlich auch einmal daran denken muss, ob nicht Richterstellen gemehrt werden müssen. Aber gegenwärtig ist das nicht nötig. Die Belastung ist nicht so groß, wie Sie behaupten. Wir haben seit 1993 eine gleich bleibende Belastung. Ich glaube, unsere Richter kommen damit gut zurecht. Es hat sich jedenfalls kein Mangel gezeigt. Es ist auch nicht so, dass die erste Instanz, wie Sie immer sagen, eine Durchgangsinstanz ist. Die Prozesse werden in erster Instanz zu 94 Prozent beim Amtsgericht erledigt. Beim Landgericht haben wir Erledigungszahlen von über 80 Prozent. Dies ist auch ein Beweis dafür, dass unsere Justiz gut funktioniert. Ich glaube, wenn Ihr Reformwerk umgesetzt würde, wäre diese gute Funktion unserer Justiz nicht mehr im gleichen Maße gewährleistet. Sie werden den dreigliedrigen Gerichtsaufbau ansteuern und damit eine Zerschlagung des Amtgerichtes und des Landgerichtes - es soll ja zu einer Zusammenführung beider zu einem großen Eingangsgericht kommen - in Kauf nehmen. Wir hatten diese Diskussion schon einmal in den 70er-Jahren, als ähnliche Pläne verfolgt wurden. Damals war man aber klugerweise der Auffassung, sie wieder in die Schublade zurückzulegen. Das war eine richtige Entscheidung. In der damaligen sozialliberalen Koalition saßen kluge Leute. Ich hoffe, im Laufe der Zeit stellt sich auch in diesem Verfahren wieder die Klugheit ein, sodass der Entwurf wieder in der Schublade verschwinden wird. Bis jetzt kann man diesen Eindruck noch nicht haben. Durch die geplante Zerschlagung von Amtsgerichten und Landgerichten kommt es - ich habe es vorhin schon gesagt - zu einem Verlust an Bürgernähe und zu einer Zerstörung alter Bindungen. Man muss einmal überlegen, dass in manchen Städten ein Amtsgericht bzw. eine Gerichtsstelle schon seit Jahrhunderten vorhanden ist. Das soll nun aufgehoben werden und ich weiß nicht, ob das der Bindung der Bevölkerung an die Justiz zugute kommt. ({1}) Ich bin da ganz anderer Meinung. Sie wollen die Konzentration der Berufungssachen beim Oberlandesgericht und dabei die Berufungssumme auf 1 200 DM heruntersetzen. Haben Sie sich einmal überlegt, wenn jemand mit einem Streitwert von 1 300 DM in die Berufung geht, - ({2}) - Ja, genau, aber heute kann er vom unteren Stock des Amtsgerichts in das nächste Stockwerk des Landgerichts gehen; er hat das Landgericht in der Nähe. Wenn er sich aber erst mit seinem Anwalt in das Auto setzen muss, um in einer Tagesreise das Landgericht zu erreichen - das gilt zum Beispiel für mich in Aschaffenburg, wo das zuständige Oberlandesgericht seinen Sitz in Bamberg hat -, entstehen gewaltige Kosten, sodass am Ende die Kosten höher liegen als der Streitwert. Das heißt doch, dass die Zusammenfassung beim Oberlandesgericht im Grunde genommen ein Berufungsverhinderungsinstitut ist. Sie haben ja selber gesagt, es würde dann keiner mehr machen. ({3}) Das bedeutet doch einen Verlust der Rechte der Bürger. Warum wollen wir denn den Bürgern das Recht nehmen, in der Berufungsinstanz ihre Sache noch einmal überprüfen zu lassen? Ich bedauere diese Entwicklung außerordentlich und schon aus diesem Grunde wenden wir uns ganz entschieden gegen Ihr Vorhaben; denn dies bedeutet in der Tat einen Verlust der Rechte des Bürgers. Das ist keine Politik für den Bürger, sondern es ist eine Politik gegen den kleinen Mann. ({4}) Nur noch die Besserverdienenden werden sich dann eine Berufung leisten können. ({5}) Damit handeln Sie wie in der Steuerpolitik: Sie helfen den Großen und treten die Kleinen. Genauso ist es hier. ({6}) - Sie lachen darüber, aber es wird so sein. Das haben Sie nur noch nicht gemerkt. Sie wollen die erste Instanz stärken. Das ist für sich genommen ein ganz vernünftiger Gedanke, den wir gut nachvollziehen können. Sie wollen deshalb die Güteverhandlung einführen. Das alles haben wir doch schon. In Ihren Reihen befinden sich doch viele gelernte Juristen und mehrere von Ihnen waren ja in der Justiz tätig. In der heutigen Praxis wird doch kein Prozess begonnen, ohne dass der Richter versuchen würde, vergleichsweise eine Regelung zu finden. Er muss in jedem Stand des Verfahrens nach unserer Zivilprozessordnung eine Regelung im Wege des Vergleichs anstreben. All diese Dinge sind also gar nicht notwendig. Ich möchte noch ein Wort zum obligatorischen Einzelrichter sagen, Herr Stünker. Sie haben mit Recht gesagt, wir hätten die dem Einzelrichter zuzuweisenden Fallgruppen ausgedehnt. Es steht fest, dass die Einzelrichterentscheidungen genauso gut angenommen werden wie die kammergerichtlichen Entscheidungen. Man muss dabei aber eine Einschränkung machen: Bei unserer jetzigen Organisation haben die kammergerichtlichen Entscheidungen meistens schwierigere Sachverhalte und schwierigere Rechtsfragen zum Gegenstand, weil alle anderen Fälle dem Einzelrichter übertragen werden. Bei solchen Prozessen mit schwierigeren Sachverhalten und schwierigeren Rechtsfragen kommt es naturgemäß leichter zu Fehlentscheidungen. Deswegen kann man beides nicht vergleichen. Ich glaube aber, wir sollten dabei einen Gedanken nicht vernachlässigen: Das Kammerprinzip hat eine wichtige Funktion, da sechs Augen auf einen Sachverhalt schauen. Es gibt die Binnenkontrolle des ansonsten in seiner Entscheidung freien Richters. Das ist ein Wert, den man nicht unterschätzen sollte. Dass Sie den obligatorischen Einzelrichter auch ohne Bindung an irgendeinen Streitwert einführen, halten wir für sehr bedenklich. Wir halten es insbesondere auch für bedenklich, weil Sie in der Berufungsinstanz eine eingeschränkte Sachverhaltsprüfung haben. Nach dem Referentenentwurf haben Sie dies zwar zurückgenommen und wollen nun die Prüfung des Sachverhaltes und des Tatsachenvortrages in zweiter Instanz stärker vornehmen lassen. Dies geht auf die Intervention Ihrer Fraktion zurück. Das begrüßen wir. Aber reicht das? Denn das Gericht muss nach wie vor entscheiden: Gibt es hier wirklich eine Aussicht auf Erfolg, geht es um eine wichtige Rechtsfrage? All diese Fragen sind entscheidend dafür, ob die Sache überhaupt von der Berufungsinstanz angenommen wird. Nach dem Referentenentwurf haben Sie zwar die Annahmeberufung abgeschafft, Sie haben aber im Grunde genommen nur eine neue Formulierung dafür gefunden. Sie nennen es jetzt Zulassungsbeschluss. Das kommt aufs Gleiche heraus. Es ist aber ein viel umständlicheres Verfahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich insbesondere gegen die Einschränkung des Tatsachenvortrages in zweiter Instanz - ich wiederhole mich - wenden. Er ist auch nach dieser Korrektur, die wir begrüßen, noch eingeschränkt. Ist dies wirklich richtig? Im Zivilprozess - das wissen Sie genauso gut wie ich - geht es um Sachverhalte. In 90 Prozent der Fälle sind Sachverhalte Gegenstand der Entscheidung in einem Zivilprozess. Rechtsfragen spielen vom Aufwand her nur eine geringe Rolle. Bei der Feststellung des Sachverhaltes gibt es die Fehler. Deswegen ist es richtig, dem Betroffenen, der mit der Feststellung des Sachverhaltes und der Wertung des Richters in erster Instanz, die vollkommen rechtsfehlerfrei gewesen sein mag, nicht einverstanden ist, die Chance zu geben, dies in zweiter Instanz kontrollieren zu lassen. ({7}) Warum nehmen wir dem Bürger die Möglichkeit? Ich bedaure dies außerordentlich. Genau das Gleiche gilt für die Revisionsinstanz. Natürlich gibt es die Revisionsinstanz schon immer, damit die Einheitlichkeit des Rechtes gewahrt wird. Aber die Einheitlichkeit und die Fortbildung des Rechtes - abgesehen von den Nöten im Einzelfall -, zur Bedingung dafür zu machen, ob die Revision angenommen wird und Erfolg hat, halte ich für sehr bedenklich und für eine Verkürzung des Rechtes der Bürger. Es kommt dem Bürger nämlich nicht darauf an, ob seine Sache der Fortbildung des Rechtes dient, sondern es kommt ihm einzig und allein darauf an, dass er seine Gerechtigkeit findet. Wir müssen diese Einzelfallregelung mehr beachten. ({8}) Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie nach einer entsprechenden Anhörung doch zu dem Ergebnis kommen, den Gesetzentwurf wieder zurückzuziehen. Es wäre das Beste für Sie, für die Justiz, für die Gerechtigkeit und für unsere Rechtskultur. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben gerade erfahren: Die Union ist der Meinung, es herrschen paradiesische Zustände bei der Justiz, denn sie bricht noch nicht zusammen. Das ist ein sehr schöner Befund. Ich wundere mich darüber sehr. Es passt überhaupt nicht zu Ihrer Analyse in der letzten Wahlperiode. Die damaligen Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege, so auch das letzte gescheiterte Gesetz, enthielten durchaus vernünftige Elemente, die wir in dieser Reform auch aufgenommen haben. Entweder war es damals richtig, etwas zu tun - dann ist es auch heute gut, etwas zu tun und darüber zu reden - oder es war damals falsch. Und dann muss man sich fragen, was Sie in der letzten Wahlperiode, als Sie die Verantwortung hatten, überhaupt gemacht haben. Meine Damen und Herren, diese Justizreform ist eine runde Sache. Sie verbessert den Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger und erhöht zugleich Transparenz und Effizienz der Justiz. Dennoch konnten die Reaktionen auf diesen Gesetzentwurf nicht unterschiedlicher ausfallen. ({0}) Positiv, wenn auch bei der Anwaltschaft verhalten, ist das Echo bei den Berufsverbänden. Sowohl Richterschaft als auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind zufrieden, ({1}) weil wesentliche Kritikpunkte aus ihren Stellungnahmen berücksichtigt worden sind. Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ - im Übrigen einer der größten Befürworter dieser Reform - gibt eine zu vorsichtige Renovierung der alten Verwirrordnung ZPO zu bedenken. Die Berliner „tageszeitung“ applaudiert fast überschwänglich. Aber Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, geht wieder einmal alles zu schnell und nicht in Ihre Richtung. Aber wieso eigentlich? Noch kürzlich haben Sie der Koalition in der Rechtspolitik Untätigkeit vorgeworfen und gemahnt, wir würden Ihnen zu wenige Gesetze vorlegen. Jetzt sind Sie anscheinend überlastet und beschweren sich über das Verfahren, obwohl es das gleiche Verfahren ist, das auch Sie 16 Jahre hier praktiziert haben: Die Koalition legt Gesetzentwürfe vor, um in der parlamentarischen Diskussion voranzukommen, während gleichzeitig die Abstimmung mit dem Bundesrat läuft. Das sieht die Geschäftsordnung vor. ({2}) Das ist ein ganz normales Verfahren, um voranzukommen und Ergebnisse für unser Land zu erzielen. Seit Weihnachten befindet sich auf der Homepage des Bundesjustizministeriums der Referentenentwurf zur Justizreform. Jeder konnte also mitdiskutieren, Stellung nehmen und die Punkte sehen, die wir für reformbedürftig halten. Verbände und Länder haben teilweise sehr umfangreiche Stellungnahmen zu dieser Reform abgegeben. Die Koalition hat zusammen mit der Ministerin die Bedenken und Anregungen ausgewertet und in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Was bitte ist daran überhastet? Das ist der ganz normale Lauf der Dinge, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und F.D.P.. So macht man vernünftige Gesetze. Aber mittlerweile wird mir auch klar, warum Sie 16 Jahre lang in der Rechtspolitik außer Flickschusterei so wenig zustande gebracht haben. ({3}) Wir vom Bündnis 90/Die Grünen können mit den jetzt getroffenen Regelungen sehr zufrieden sein. Seit Beginn der Diskussion um die Justizreform haben wir uns für eine insgesamt ausgewogene Lösung stark gemacht. Wir haben uns gegen unverhältnismäßige Eingriffe in die Rechtsmittel gewandt. Wir halten es für gefährlich, wenn die Berufungsinstanz ausschließlich der Rechtsfehlerkontrolle diente und eine Neuverhandlung von Tatsachen kategorisch ausgeschlossen wäre. Man hat es Ihrer Kritik, Herr Geis, angemerkt, dass Sie eigentlich unzufrieden über die Berücksichtigung der Kritikpunkte im Gesetzentwurf waren, weil Ihre Rede nicht mehr richtig zu dem Entwurf passte. Die jetzt gefundene Öffnungsklausel hinsichtlich des Prüfungsumfangs des Berufungsgerichtes ist für die Bürgerinnen und Bürger eine Verbesserung; denn mit ihr wird sowohl ein wichtiges Ziel der Reform - berechtigte Forderungen schneller und auch kostengünstiger durchzusetzen - als auch das mögliche Risiko berücksichtigt, dass die in der ersten Instanz festgestellten Tatsachen vielleicht doch nicht so rechtsfehlerfrei ermittelt wurden. Meine Damen und Herren von der Union - ich spreche zu Ihnen, auch wenn Sie nicht zuhören -, Ihr Generalsekretär, Herr Polenz, hat uns vorgeworfen, der Rechtsschutz werde mit der Reform massiv beschnitten. Ich würde ihm empfehlen - da er nicht anwesend ist, möchte ich Sie bitten, ihm das auszurichten -, den zugegebenermaßen sehr umfangreichen Gesetzentwurf einmal in Ruhe von vorne bis hinten durchzulesen. So trocken die Materie auch sein mag: Die Mühe sollte sich lohnen. Ich empfehle ihm das auch auf die Gefahr hin, dass er der Koalition dann das Gegenteil vorhalten wird. Die Annahmeberufung in ihrer alten Form ist auch aufgrund unserer Bedenken vom Tisch. Hier hat uns übrigens auch der Vorschlag des Landes Niedersachsen sehr geholfen. Eine Art Schnellverfahren, mit dem sich der Berufungsrichter vielleicht manchmal eine Menge Arbeit ersparen möchte, wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht zuzumuten gewesen. Wir haben an dieser Stelle auch die Bedenken der Anwaltschaft sehr ernst genommen. Die nun gefundene Ausgestaltung des Verfahrens ist eine gute Lösung. Offensichtlich aussichtslose Berufungen können abgelehnt werden. Ein Kollegium, also sechs Augen, muss das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet erachten. Und es kann erst dann die Annahme des Rechtsmittels ablehnen, wenn den Parteien die Gründe erläutert worden sind und ihnen noch einmal rechtliches Gehör geschenkt wurde. In diesem Verfahren wird der Grundsatz gelten: Im Zweifel für das Rechtsmittel. Ist das ein massiver Einschnitt in den Rechtsschutz? Wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, auch bei aussichtslosen Rechtsmitteln unbedingt eine für die Parteien kostenintensive mündliche Verhandlung beibehalten? ({4}) Der Entwurf verfährt nach dem Motto: Rechtsschutz dort, wo er geboten ist. Aus diesem Grunde haben wir die Berufungssumme auch nicht, wie wir es aus früheren Zeiten gewohnt sind, erhöht, sondern um 300 DM auf 1 200 DM bzw. 600 Euro gesenkt. ({5}) Auch unterhalb dieser Summe haben wir mit einer Zulassungsberufung und einer neuen Abhilfemöglichkeit den Rechtsschutz erweitert. Herr Geis, das ist das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben. Hiermit wird der Rechtsschutz gerade für die kleinen Leute und bei geringen Streitwerten in einer angemessenen Art und Weise mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Fehlerkontrolle - verbessert. Das ist wirklich das glatte Gegenteil Ihrer Aussage von vorhin, dass man etwas gegen die kleinen Leute mache. Ihre Ausführungen waren an den Haaren herbeigezogen. Die Tendenz, dass die Zeit willkürlicher Streitwertgrenzen allmählich vorbeigeht, weil dies mit effektivem Rechtsschutz wenig zu tun hat, zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Entwurf. Bei der Revision ist die 60 000-DM-Grenze weggefallen. Eine Überprüfung durch den BGH soll bei grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache möglich sein. Damit sind aber nicht nur über den Einzelfall hinausreichende Streitfälle von allgemeiner Bedeutung gemeint. Machen Sie sich bitte die Mühe und schauen Sie in die Begründung des Entwurfs Seite 114 -: Auch bei eklatanten Rechtsfehlern kann das Ergebnis zur Wahrung von Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden. Ist das etwa massive Beschneidung von Rechtsschutz? Nein, das ist eine Änderung in der Philosophie: weg von quantitativ orientierten Rechtsmitteln hin zu qualitativ orientierter Rechtsfehlerkontrolle. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Philosophie des Entwurfes besteht nicht darin, ein möglichst optimales Rechtsmittelsystem zu erfinden, in dem jegliche Fehlentscheidung ausgeschlossen ist. Gerichtsurteile werden immer noch von Menschen gefällt, die sich irren können. Hauptziel des Entwurfes ist, dass die Menschen möglichst keinen Grund mehr haben sollen, sich über die Urteile zu beschweren. Wir wollen, dass sie gegebenenfalls ein Urteil akzeptieren, zum Beispiel weil das Gericht ihnen seine Entscheidung hinreichend verständlich gemacht hat. Die Bürgernähe dieser Reform drückt sich auch in der personellen und qualitativ gestärkten Eingangsinstanz aus. In diesem Punkt - das wird Ihnen wenig gefallen war es bei der Auswertung der verschiedenen Stellungnahmen besonders erfreulich, dass es von allen Seiten der Rechtspflege große Zustimmung gegeben hat. Wir haben die Hinweis- und Aufklärungspflichten in einer zentralen Vorschrift gebündelt und verschärft. Wir wollen damit erreichen, dass der Weg zur Entscheidungsfindung für die Rechtsuchenden überschaubar ist. Wer nicht vom Urteil überrascht wird, der kann es vielleicht auch eher akzeptieren. Als Bündnisgrüne freuen wir uns ganz besonders über ein weiteres wichtiges Element, das die Eingangsinstanz ebenfalls stärkt: die obligatorische Güteverhandlung. Nach dem Gesetz zur außergerichtlichen Streitschlichtung, das im letzten Jahr in Kraft getreten ist, betont die Koalition auch hiermit konsequent den Gedanken der Streitschlichtung. Natürlich kann man das System der Arbeitsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang nicht blindlings auf den Zivilprozess übertragen. Die zunächst im Referentenentwurf vorgeschlagene Regelung ist praxisgerecht zurechtgeschneidert worden. Ist eine gütliche Einigung erkennbar überflüssig, muss sie nicht stattfinden. Auch in diesem Punkt sind wir übrigens für die zahlreichen konstruktiven Vorschläge der Verbände dankbar. Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine bessere, praxisgerechtere und effektive Ziviljustiz ist mit dem heutigen Tag nicht zu Ende. Im Gegenteil! Schon jetzt bin ich auf die Anhörung gespannt, bei der die gesamte Rechtspflege erneut die Gelegenheit erhält, Vorschläge zu unterbreiten. Über vernünftige Vorschläge kann man mit dieser Koalition immer reden. ({6}) Das Ziel sollte aber allen klar sein: Die Renovierung der Verwirrordnung ZPO steht an. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat zu Recht festgestellt - mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich als Letztes diesen Satz -: Jahrzehntelang hat sich der Gesetzgeber an Grundprobleme der Justiz kaum herangetraut; und wenn er es getan hat, kam erbärmliches Flickwerk heraus ... Die Prozessordnungen aus dem vorigen Jahrhundert wurden vom Gesetzgeber nicht verbessert, sondern verschlimmbessert. Mit dieser Politik machen wir jetzt Schluss. Wir verbessern die ZPO. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz vor der Sommerpause wird das Parlament noch einmal mit justizpolitischen Initiativen überhäuft. Der Freitag ist offensichtlich der Justizpolitik gewidmet. Es handelt sich um Vorhaben, die schon vor anderthalb Jahren von der Bundesjustizministerin angekündigt worden sind und jetzt im Rahmen einer Fraktionsinitiative eingebracht werden. Die Ministerin hat ihren eigenen Entwurf noch nicht fertig stellen können, demgemäß gab es noch keine Kabinettsbefassung, demgemäß noch keine Beratung im Bundesrat, was aber zweckmäßig gewesen wäre; denn insbesondere die Länder sind von Volker Beck ({0}) Fragen der Justiz stark betroffen und müssen sich damit auseinander setzen. ({1}) Zu Recht sagen die Verfasser des Gesetzentwurfs zur Reform des Zivilprozesses, dass sich eine Strukturreform daran messen lassen muss, ob die vorgesehenen Änderungen dazu führen, dass die Justiz bürgernäher, effizienter und transparenter wird. In der Tat ist eine Reform des Zivilprozesses nur dann sinnvoll, wenn sie den Rechtsschutz des Bürgers nicht beschneidet, sondern effektiver macht. ({2}) Diesen Anforderungen wird dieser Gesetzentwurf nicht gerecht. ({3}) Der Zivilprozess wird durch die vorgesehene Neuordnung schlechter und leider auch noch teurer. Der Rechtsschutz des Bürgers wird beschnitten. ({4}) Die Bundesjustizministerin hatte nach der Vorlage des ersten Referentenentwurfs und der sich anschließenden beißenden Kritik der betroffenen Berufsverbände, also der Richter, des Anwaltvereins und der Anwaltskammer, zugesagt, Nachbesserungen vorzunehmen. Ich will nicht verkennen, dass zumindest in einzelnen Punkten vorhandene Giftzähne abgeschliffen worden sind. Dennoch verbleiben die bürgerunfreundlichen und den Rechtsschutz einschränkende Maßnahmen. Der Gesetzentwurf sieht bei Berufungen weiter die alleinige Zuständigkeit der Oberlandesgerichte vor, was in den Flächenstaaten zu erheblichen zeitlichen und finanziellen Belastungen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen führen wird. Die ausschließliche Zuleitung von Berufungen an die Oberlandesgerichte wird gerade in den Flächenstaaten zu einer Ausdünnung der Landgerichte führen, die mehr und mehr unter Schließungszwang geraten. Ich fürchte, dass Sie das auch so wollen. Sie wollen nämlich die Dreistufigkeit der Instanzen haben. Das hat die Ministerin ja schon mehrfach angekündigt. Die F.D.P.Fraktion lehnt dies eindeutig ab. ({5}) Nach wie vor beabsichtigt die Bundesjustizministerin in der Berufungsinstanz die Abschaffung der Kollegialgerichte, auch wenn jetzt für einzelne Verfahren - damit schränke ich meine Aussage ein - die Beibehaltung der Kollegialgerichte vorgesehen wird. ({6}) - Vielen Dank für Ihre belehrenden Ausführungen, Frau Ministerin. - Die Kollegialgerichte bei den Berufungsgerichten haben sich durchaus bewährt und die Übertragung des Rechtsstreits auf Einzelrichter hat sich, wo es sinnvoll ist, ebenfalls bewährt, sodass kein Grund für Änderungsbedarf ersichtlich ist. Die deutsche Justiz arbeitet - das haben die Kollegen Geis und auch andere gesagt - durchaus effektiv und effizient. Die Dauer der Verfahren beträgt durchschnittlich 4,6 Monate vor den Amtsgerichten. 94 Prozent aller Verfahren werden vor dem Amtsgericht abgeschlossen. Der Ruf nach Justizreformen mag gut klingen; er entspricht einem dumpfen Gefühl in der Bevölkerung. Man sollte jedoch erst einmal Tatsachenaufklärung vornehmen, ehe man an wohlklingende Reformvorhaben geht. ({7}) Fiskalgesichtspunkte - das war immer das Hauptanliegen der Länder - dürfen nicht im Vordergrund stehen, sondern ausschließlich der Rechtsschutz des Bürgers. Die innere Sicherheit und die Justiz sind nämlich Kernbereiche des Staates. Eine gute Justiz darf dann auch etwas kosten. ({8}) Den Gesetzentwurf, der jetzt vorgelegt worden ist, lehnt die Bundestagsfraktion der F.D.P. ab. An Verbesserungen unserer Zivilprozessordnung werden wir mitwirken, nicht jedoch am Abbau des Rechtsschutzes des Bürgers. Diese Justizreform ist jedenfalls so überflüssig wie ein Kropf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Frau Dr. Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche Überraschung! Nun kam der dicke Gesetzentwurf zur großen Reform des Zivilprozesses doch schneller als gedacht. Von einem Durchbruch bei der Justizreform ist gar die Rede. Ich erspare mir an dieser Stelle jede weitere Polemik hinsichtlich des Zustandekommens dieses Entwurfs. Auch möchte ich meiner Verwunderung nicht deutlicher Ausdruck verleihen, wie mancher Gegner der Reformvorstellungen der Bundesjustizministerin innerhalb kürzester Zeit einen Einschätzungswandel von „stark reformbedürftig“ zu „Bestzustand der Justiz im europäischen Maßstab“ vollzogen hat, ohne dass sich das adäquat in tatsächlichen Änderungen niedergeschlagen hat. Doch eines ist ganz deutlich geworden: Die Justiz hat etwas mit Interessen zu tun, aber offenbar nur wenig mit den Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die in der bisherigen Diskussion als beinah beliebig einsetzbares Argument für ein Pro oder Kontra zu den einzelnen Regelungen der Justizreform vorkommen. ({0}) Wenn der Berliner Rechtssoziologie Rottleuthner auf einem Forum die Ansicht äußerte, dass es in der Justizgeschichte wirklich noch in keinem Land eine Justizreform gab, die auf irgendwelche Bedürfnisse und Artikulationen der Bürger hin unternommen wurde, dann muss man - der Wissenschaft Anerkennung zollend - auch einen vielleicht erstmalig andersartigen Gesetzentwurf einer kritischen Betrachtung unterziehen. Zunächst möchte ich aber ausdrücklich die längst überfällige Justizreform unterstützen. Ich darf daran erinnern, dass die deutsche Justiz in ihrer fast 130-jährigen Geschichte in den Grundstrukturen unverändert geblieben ist. Wer da pauschal äußert, Bewährtes gelte es zu bewahren, der meint wohl ehrlicherweise, Besitzstände gelte es zu verteidigen. Wer der Ministerin vorwirft, sie wolle sich mit dieser Reform ein Denkmal setzen, dem kann ich nur sagen: Soll man ihr doch ein Denkmal setzen, ({1}) wenn ihr eine wirklich große Reform gelingt und der Zivilprozess tatsächlich bürgernäher, effizienter und durchschaubarer wird wie versprochen. Doch keine Angst: Zu einem Denkmal wird es nicht kommen. ({2}) Dafür sorgt nicht nur die Opposition in diesem Hause, sondern auch die vielen Juristen und ihre Verbände in unserem Lande, die schon lange nicht mehr so viel einigenden Widerstand gegen einen Justizminister - hier eine Justizministerin - gezeigt haben. ({3}) Unter dem Strich der heftig geführten Auseinandersetzung steht jetzt ein Gesetzentwurf, der auf Kritiken eingeht und der auch Nachbesserungen enthält. Unterstützenswert ist das grundsätzliche Vorhaben, die erste Instanz so zu stärken, dass dort die Rechtsstreitigkeiten in der Regel erledigt werden. Für folgerichtig halte ich in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag, die erste Instanz mit sozial kompetenten Richtern zu besetzen, die ausreichend Zeit haben, um gründlich zu arbeiten, das Gespräch mit den Parteien zu führen, Vergleichsvorschläge zu machen und verständliche Urteile zu fällen. Meine Zustimmung haben auch die geplanten Güteverhandlungen und die Möglichkeit der gütlichen Beilegung des Rechtsstreits in jeder Lage des Verfahrens durch einen gerichtlichen Vergleich; denn eine einvernehmliche Konfliktregulierung bietet erfahrungsgemäß die beste Möglichkeit, dauerhaft und kostengünstig Rechtsfrieden herzustellen. Für richtig erachte ich die Nachbesserung, dass Berufungen nicht zwingend an Einzelrichter übertragen werden und auch in der ersten Instanz auf bestimmten komplizierten Rechtsgebieten weiterhin die Kammern tätig werden. Wenn künftig das Gericht per Geschäftsverteilungsplan selbst bestimmt, wo statt eines Einzelrichters eine Kammer entscheiden soll, dann wäre dies nicht zuletzt eine Stärkung der Selbstverwaltung der Gerichte. ({4}) - Danke schön, Herr Stünker. - Der Verzicht auf die umstrittene Annahmeberufung ist sicher ebenfalls nicht zum Schaden des Rechtsstaates. Der sensibelste Punkt der Reform ist bekanntlich das Rechtsmittelsystem. Hier sollten wir uns parteiübergreifend einig sein, dass der Rechtsschutz der Bürger nicht dadurch beschnitten werden darf, dass ihnen Überprüfungsmöglichkeiten in der zweiten Instanz genommen werden. ({5}) Insofern ist es richtig, dass der Entwurf davon abrückt, die zweite Instanz auf eine reine Überprüfung von Rechtsfehlern zu beschränken. Die jetzt vorgesehene leichte Öffnung, wonach nur in bestimmten Ausnahmefällen neue Tatsachen vorgetragen werden können, dürfte jedoch nicht ausreichend sein. Diese Regelung könnte sich in der Praxis als eine erhebliche Beschränkung der Rechtsmittel erweisen, von der die Gerichte extensiv Gebrauch machen könnten. Die Verwerfungsmöglichkeit vermeintlich aussichtsloser Klagen in der zweiten Instanz - ohne mündliche Verhandlung - hat mit Bürgerfreundlichkeit allerdings nach meiner Auffassung eindeutig nichts zu tun. ({6}) Dagegen sehe ich in der Erhöhung der Chancen des Zugangs zum Berufungsverfahren durch die Senkung des Wertes des Beschwerdegegenstandes auf 1 200 DM schon jetzt eine Verbesserung des Rechtsmittelsystems. Auch dass die Zulässigkeit von Revisionen nicht mehr vom Streitwert, sondern von der Bedeutung eines Falles abhängen soll, ist ein Fortschritt. Ob diese Reform allerdings zum Nulltarif zu haben ist, wie es im Gesetzentwurf angenommen wird, ist mehr als fraglich. Die Justizreform wird weiterer Stellen und vor allem neu ausgebildeter Juristen bedürfen. Eine Reform der Juristenausbildung, die die Intentionen dieser Justizreform berücksichtigt, sollte deshalb nicht lange auf sich warten lassen. ({7}) Anderernfalls steht der Erfolg dieser Reform infrage, die nicht ohne und schon gar nicht gegen die Akteure und insbesondere die künftige Juristengeneration realisiert werden kann. Die rechtsuchenden Bürger haben einen Anspruch auf eine in jeder Beziehung bürgerfreundliche Justiz. Doch die Bürger sollten sich der Justiz, soweit möglich, wirklich nur als letzter Instanz bedienen. Bekanntlich verhält sich die Wirtschaft, weil sie es sich leisten kann und muss, schon seit geraumer Zeit so. Was ich sagen will: Im Interesse der Bürger und auch zur Entlastung der Justiz muss mehr zur präventiven Konfliktvermeidung getan werden. Qualifizierte und spezialisierte Rechtsaufklärung, die für die Bürgerinnen und Bürger unkompliziert und kostengünstig zu erlangen ist, und außergerichtliche Schlichtung müssen unbedingt auch weiterhin gefördert werden. Ich halte es auch nicht für sinnvoll - und da stimme ich ausnahmsweise mit meinem Kollegen Herrn Geis ({8}) und auch mit Herrn Funke, wobei es da nicht ganz so ausnahmsweise ist, überein -, dass nach dem jetzt vorliegenden Koalitionsentwurf weiterhin an einem Regierungsentwurf zur Justizreform gebastelt wird, der dann mit weiteren Verbesserungen nachgeschoben wird. Entweder ist man mit einem Gesetzentwurf fertig oder man muss seine Arbeit erst beenden. Für Testläufe im Parlament fehlt einfach die Zeit. Apropos Testlauf: Die Simulation des Verfahrens in Nordrhein-Westfalen war den offiziellen Mitteilungen zufolge nicht problemlos. Vielleicht kann die Frau Justizministerin dazu nachher auch noch etwas sagen. Warum also, liebe Kollegen von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen, haben Sie sich nicht die Zeit genommen, diese Erfahrungen ausreichend zu berücksichtigen? Nun steht zu befürchten, dass in der Praxis unnötigerweise unerwünschte Effekte auftreten, die dann wieder nachgebessert werden müssen - vielleicht kommen wir in der Anhörung darauf zu sprechen -, und das kann nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen. Danke. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei der Bundesjustizministerin dafür bedanken, dass sie ein so bedeutendes Gesetzgebungsverfahren wie die Zivilprozessreform entschlossen angepackt und in einem offenen und transparenten Verfahren auf den Weg gebracht hat. ({0}) Wann, meine Damen und Herren, wurde jemals über Probleme der Justiz, über Rechtsmittel und gerechte Verfahren in der Fachöffentlichkeit und weit darüber hinaus schon zu Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens so breit und bisweilen auch heftig diskutiert wie bei der anstehenden Zivilprozessreform, die der erste Schritt einer grundlegenden Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist? Dies ist gut so und kann der Qualität eines so bedeutenden Vorhabens nur dienlich sein. Justizreform ist kein Anliegen, das nur in eingeweihten Fachkreisen unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit debattiert werden kann. Nicht nur Richter, Anwälte und die engere Fachöffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Diese Diskussion, die seit der Vorstellung des Referentenentwurfs durch das Justizministerium geführt worden ist, hat zu vielen bedenkenswerten Verbesserungsvorschlägen geführt. Sie hat ihren Niederschlag in dem jetzt vorliegenden Koalitionsentwurf gefunden. Das ist hier schon erwähnt worden. Nicht diejenigen, die in oft überzogener Fundamentalkritik alle Reformvorschläge abgelehnt haben und geradezu paradiesische Zustände einer längst reformbedürftigen Ziviljustiz an die Wand gemalt haben, haben sich Gehör verschafft, sondern diejenigen, die mit fachlich fundierten und ausgefeilten Vorschlägen zur Fortschreibung des Referentenentwurfs beigetragen haben. ({1}) Wenn man wie ich über mehrere Legislaturperioden hinweg immer wieder erleben musste, dass durch regelmäßig wiederkehrende Rechtspflegevereinfachungsgesetze - der Kollege Stünker hat schon darauf hingewiesen - ohne viel Federlesen an der Streitwertschraube gedreht wurde, um die gewünschten Entlastungseffekte zu erzielen, ist man von manchen Tönen in der jetzt geführten Diskussion schon etwas überrascht. In der letzten Legislaturperiode - darauf ist hingewiesen worden - wären um Haaresbreite der originär zuständige Einzelrichter bis zu einem Streitwert von 30 000 DM, der allein entscheidende Einzelrichter in Berufungs- und Beschwerdeverfahren beim Landgericht, die Erhöhung der Berufungssumme auf 2 000 DM und die Möglichkeit, Berufungen bis zu einem Streitwert von 60 000 DM durch einstimmigen Beschluss abzulehnen, fester Bestandteil der Zivilprozessordnung geworden. ({2}) Wo waren da eigentlich diejenigen, die heute so lautstark Kritik an diesen Entwürfen üben? Durch die Strategie der früheren Rechtspflegevereinfachungsgesetze waren wir auf dem nicht ungefährlichen Weg, eine Art Zweiklassenjustiz zu schaffen, ({3}) bei der die oft so wichtigen Streitfälle des täglichen Lebens kaum noch die Chance gehabt hätten, durch eine weitere Instanz geprüft zu werden, während den Verfahren mit den höheren Streitwerten nach wie vor sämtliche Instanzen unseres durchgegliederten Justizsystems zur Verfügung gestanden hätten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bachmaier, wir sind ja fast im selben Justizsprengel. Sie haben sich bei diesem verhinderten Gesetz besonders dafür eingesetzt, dass die Amtsgerichte die Handelsregisterhoheit behalten. Sie haben die Amtsgerichte offenbar lieb gewonnen.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja!

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Würden Sie mir zustimmen, dass bei dem jetzigen Gesetzentwurf im Grunde genommen die Dreistufigkeit vorgeplant ist und dass man dann - auch das ist eine Frage der Bürgernähe - bei der Berufung statt, wie bisher, zum Beispiel von Ihrem Amtsgericht Crailsheim 20 Kilometer bis zum Landgericht Ellwangen in Zukunft 120 oder 130 Kilometer bis zum Oberlandesgericht Stuttgart fahren muss? Wie wollen Sie das Ihrer Klientel und der Bevölkerung Ihres Kreises klarmachen? ({0})

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. von Stetten, ich bin dankbar für diese Frage, zumal der uns beiden wohl bekannte Chef des Amtsgerichtes Crailsheim diesem Reformvorhaben heute in der Lokalpresse großes Lob gezollt hat. ({0}) Dieser Amtsgerichtsdirektor steht nicht in der Gefahr, als Sozialdemokrat verdächtigt zu werden. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt. Sie wissen genau wie ich, dass man in Familienstreitsachen, zum Beispiel im Unterhaltsstreit, auch zwischen Parteien, die nicht unbedingt zu den begütertsten gehören, seit über 20 Jahren ganz selbstverständlich zum Oberlandesgericht Stuttgart fährt. ({1}) Ich meine, das ist der Qualität der Rechtsprechung vor Ort nicht schlecht bekommen. ({2}) Für gute Zwischenfragen ist man immer dankbar. Der Streitwert alleine aber ist kein hinreichendes Kriterium, um die Bedeutung eines Zivilverfahrens zu bewerten und zu ermessen. Beträge, die die einen aus der Portokasse entrichten können, sind für andere von existenzieller Bedeutung und müssen auch von den Gerichten entsprechend behandelt werden. Der vorliegende Entwurf macht Schluss mit dem ständigen Drehen an der Streitwertschraube. Dieser Gesetzentwurf fördert durch neu gewichtete Instrumentarien des Zivilprozessrechtes das erstrebenswerte Ziel, möglichst in der ersten Instanz zu einem vernünftigen und gerechten Ergebnis zu kommen. Diesem Ziel dienen umfassende Aufklärungspflichten und ein sich daraus ergebendes höchst transparentes Verfahren, das den Prozessbeteiligten in weit größerem Umfange als heute die Möglichkeit bietet, Fehleinschätzungen schon innerhalb der ersten Instanz zu korrigieren und damit zu einer umfassenden Prüfung des Streitgegenstandes beizutragen. Das Ergebnis werden zahlreichere gütliche Streitbeilegungen sein, deren Gerechtigkeitsgehalt von beiden Seiten akzeptiert werden wird. Ich kann nicht verstehen, dass von richterlicher Seite mit dem Hinweis, dass dies in aller Regel schon heute geschehe und deshalb nicht noch gesetzlich festgeschrieben werden müsse, wieder Klage über die erweiterten Aufklärungspflichten gemäß § 139 des Entwurfes geführt wird. Wenn das so ist, dann können auf diejenigen Richterinnen und Richter, die sich schon heute so vorbildlich verhalten, keine zusätzlichen Belastungen, zukommen. Mit dem Entwurf in seiner jetzigen Fassung werden aber auch im Rahmen der zweiten Instanz, die meines Erachtens aus gutem Grunde beim Oberlandesgericht konzentriert wird, vernünftige Überprüfungs- und Korrekturmöglichkeiten geschaffen. Die nach Vorlage des Referentenentwurfes geführte Diskussion hat mit dazu beigetragen, neben einer umfassenden Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf Rechtsfehler umstrittene und zweifelhafte Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz auf den Prüfstand der Berufungsinstanz zu nehmen; Herr Geis hat dankenswerterweise darauf hingewiesen. Damit ist eine umfassende Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf jedwede Mängel hin gewährleistet. ({3}) Mit diesem Entwurf blieb man aber aus gutem Grunde dabei, den Weg in die zweite Instanz, Herr Geis, nur dann zu eröffnen, wenn tatsächlich Korrekturbedarf an der erstinstanzlichen Entscheidung besteht. ({4}) Diesem Ziel dient der vorgeschaltete Filter durch den Berufungssenat. Er erhält die Befugnis, nach vorherigem begründeten Hinweis und der Möglichkeit der Parteien, dazu Stellung zu nehmen, das Berufungsrechtsmittel einstimmig dann zu verwerfen, wenn es keinerlei Erfolgschancen gibt. ({5}) - Transparenz haben Sie noch nie gemocht; das zeigen auch Ihre Zurufe. ({6}) Auch die Abschaffung der Streitwertrevision ist überfällig. Denn wir wollen Ernst machen mit der Forderung, für alle Verfahren, die über einen Bagatellstreitwert hinausgehen, gleiche prozessuale Instrumentarien zur Verfügung zu stellen. Damit beseitigen wir die bisherige willkürliche Grenze des Revisionsstreitwertes von 60 000 DM. Ich halte es für eine sinnvolle und gute Aufgabenzuweisung, einerseits eine Kammerbefassung beim Landgericht dann vorzusehen, wenn einzelne Kammern mit Schwerpunktaufgaben betraut sind, und andererseits im Übrigen den originären Einzelrichter mit dem erstinstanzlichen Verfahren zu betrauen. Der neu zu fassende § 348 der ZPO legt es weitgehend in die Hand der einzelnen Landgerichte, in welchem Umfange Kammern und in welchem Umfange originäre Einzelrichter für das erstinstanzliche Verfahren bei den Landgerichten zuständig sind. Ich möchte die hohe Kompetenz der Zivilkammern nicht infrage stellen. Es sollte aber nicht verkannt werden, dass Einzelrichterinnen und Einzelrichter den Prozessstoff auch bei hohen Streitwerten häufig im Dialog mit den Prozessbeteiligten einer gerechten und von den Parteien akzeptierten Lösung zuführen. Die uns vorliegenden Zahlen und vielfältige eigene Erfahrungen als Anwalt bei der Betreuung von Zivilprozessen untermauern diese Feststellung. Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor praktizierender Anwalt und vertrete nicht selten Parteien, deren Geldbeutel nicht gerade prall gefüllt ist. Auch deshalb bin ich überzeugt davon, dass der jetzt vorliegende Entwurf mit den darin gefundenen Lösungen wieder zu mehr Verfahrensgerechtigkeit führt. ({7}) Denn wir werden damit zügiger zu gerechten Lösungen kommen und wir räumen den Rechtsuchenden wieder die gleichen prozessualen Möglichkeiten ein, die sie unabhängig von der Höhe des Streitwertes für ihre Verfahren beanspruchen können. Das ist eines der entscheidenden Ziele dieses Entwurfes. Damit wird endlich Ernst gemacht. Wie gesagt, wir wollen keine Zweiklassenjustiz, einerseits für die Verfahren de luxe und andererseits für die Verfahren des täglichen Lebens. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Zivilprozesses geht nicht nur Anwälte, Richterinnen und Richter an, sondern alle Bürger in unserem Lande. Ungefähr 4 Millionen Bürgerinnen und Bürger führen jedes Jahr einen Zivilprozess. So viele Menschen sind also von Ihrem Projekt betroffen. Es ist natürlich ein Vorteil für Sie, dass viele noch gar nicht daran denken, vielleicht in einigen Monaten einen solchen Prozess führen zu müssen. Trotzdem ist es eine wichtige Frage, ob Bürgerrechtlichkeit in unserem Land durch Ihr Projekt gefördert oder behindert wird. ({0}) Ein faires, effektives Verfahren, das die Akzeptanz der Bürger findet und für Rechtsfrieden sorgt, beruht immer auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müssen wir darüber reden, ob die Rechtsstaatlichkeit gefördert wird. ({1}) Nach Ihren Plänen, den Plänen der rot-grünen Bundesregierung, wird die rechtsstaatliche Qualität des Zivilprozesses ausgehöhlt; ({2}) denn Sie verringern den gerichtlichen Rechtsschutz des einzelnen Bürgers in massiver Weise und belasten den Zivilprozess mit praxisferner Formalisierung und Bürokratisierung. Das ist das einhellige Urteil der Bundesrechtsanwaltskammer, des Deutschen Anwaltvereins, des Richterbundes und der Wirtschaftsverbände: ({3}) Dies ist ein rechtsstaatsfeindliches Projekt. ({4}) Ihr Referentenentwurf wurde seitens der Gesellschaft einhellig kritisiert. Wir waren doch dabei. Und es ist nicht sinnvoll, etwas zu bestreiten, was jeder weiß. Mit dem Versuch, so zu tun, als hätten Sie diese Kritik in Ihren Gesetzentwurf einfließen lassen, betreiben Sie gezielt ein Täuschungsmanöver. Sie haben sich getreu Ihrem allgemeinen Regierungsmotto verhalten: Sie haben in diesem Gesetzentwurf einiges anders, aber nichts besser gemacht. Denn Sie sind nur scheinbar auf die Kritik eingegangen. Ich will meine gerade vorgetragene Einschätzung an einigen Punkten konkret festmachen. ({5}) Die Axt wird insbesondere beim Berufungsverfahren angelegt. Darum einige Bemerkungen zur Bedeutung dieses Verfahrens: Das Berufungsverfahren ist für die Qualitätssicherung schon in der ersten Instanz wichtig. Das Wissen des erstinstanzlichen Richters und des Gerichts, dass es eine effektive Berufung gibt, ist wichtig für die Qualität des erstinstanzlichen Urteils. Dies hat eine präventive Wirkung; das ist völlig unbestritten. ({6}) Das Wichtigste an der Berufung aber ist - ich bin als Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht zugelassen und höre, was diejenigen, die eine jahrzehntelange Berufungserfahrung haben, sagen -, dass die unterlegene Partei noch einmal vortragen kann und gehört werden kann. Natürlich will sie Recht bekommen. Das Wichtigste aber im Sinne des Rechtsfriedens - und nur einer kann Recht bekommen - ist, dass sie den Sachverhalt noch einmal vortragen kann, weil der erstinstanzliche Richter sie möglicherweise nicht verstanden hat. ({7}) Genau da aber setzen Sie an. Diese Möglichkeit beseitigen Sie, obwohl sie in der Praxis Erfolge aufweist. ({8}) Natürlich leben wir nicht im Paradies, es gibt Verbesserungsbedarf. Im europäischen Vergleich aber haben wir Spitzenwerte zu verzeichnen. Von 1,6 Millionen Amtsgerichtsprozessen pro Jahr werden 94 Prozent rechtskräftig abgeschlossen, und zwar in einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von viereinhalb Monaten. Dies werden Sie beeinträchtigen; Sie werden den Prozess verlangsamen. Das wird das Ergebnis sein. Warum wird es dazu kommen? Wir müssen uns fragen, was die Konzentration aller Berufungen beim Oberlandesgericht für die Bürger bedeutet; denn ich glaube, dass wir dieses Projekt aus der Perspektive des Bürgers beurteilen müssen. Ich sage Ihnen, was das heißt, was rotgrüne Bürgernähe bedeutet. Nehmen Sie den Fall eines Häuslebauers aus Buchen im Odenwald, der Ärger mit seinen Handwerkern hatte. Er musste nach gegenwärtiger Rechtslage für die Berufung zum nahe gelegenen Landgericht Mosbach; das ist nur einige Kilometer entfernt. Wenn es nach Rot-Grün geht, muss dieser Häuslebauer in Zukunft über 100 Kilometer zum Oberlandesgericht nach Karlsruhe fahren. Ist das Bürgernähe, meine Damen und Herren? ({9}) Sie entfernen die Justiz geradezu von dem Bürger. Das ist rot-grüne Bürgernähe - Bürgerferne, versteckt unter einem anderen Etikett. Sie betreiben ein Täuschungsmanöver. Natürlich ist das Ganze auch - das füge ich in Parenthese an - eine parteipolitische Auseinandersetzung, meine Damen und Herren. Aber ich sage jetzt einmal in ruhigem Ton - ich hoffe, Sie nehmen es mir ab; ein bisschen kennen wir uns ja -: Sie legen die Axt an die rechtsstaatliche Qualität des Zivilprozesses. ({10}) Ein zweites Beispiel: Sie haben zwar das Annahmeverfahren im Zusammenhang mit Berufungsverfahren beseitigt, aber die Möglichkeit geschaffen, dass über die Berufung nicht in der Sache, sondern folgendermaßen entschieden wird: Der erstinstanzlich Unterlegene legt Berufung ein und das Berufungsgericht kann, ohne dass eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben wäre, aufgrund einer Prognose unanfechtbar dem Bürger kurz schriftlich mitteilen, dass über seine Sache nicht mehr geredet werde. Das ist Schreibtischjustiz! ({11}) Das ist rot-grüne Transparenz, wenn der Bürger nicht einmal die Möglichkeit hat, sein Anliegen noch einmal vorzutragen! Vom Schreibtisch wird ihm kurz schriftlich beschieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. So sieht rot-grüne Bürgerfreundlichkeit aus.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Röttgen, so temperamentvoll und auch so polemisch wie heute habe ich Sie noch gar nicht erlebt.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr sachlich!

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ein völlig neuer Eindruck. Stimmen Sie mir zu, dass Sie genau das 1998 hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich komme gleich dazu.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Doch. Im damaligen Entwurf stand, dass bei Berufungen bis zum Streitwert bis zu 60 000 DM die Berufung im Beschlusswege als offensichtlich unbegründet verworfen werden kann. 1998 wurde dieses Gesetz hier beschlossen. Es erlangte nur deshalb keine Rechtskraft, weil die Geschichte mit den Handelsregistern hinzugekommen ist. Das war damals das einzige Hindernis. Jetzt brandmarken Sie das als rotgrüne Chaospolitik. Können Sie sich dazu einmal erklären?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Rot-grüne Chaospolitik“ ist ein interessanter Begriff. Ich habe ihn noch nicht verwendet. ({0}) Aber wenn Sie ihn selber verwenden, spricht aus dieser Assoziation einiges, was Ihre wirkliche Einschätzung anbelangt. Ich stelle in den Diskussionen immer wieder fest, dass Sie von Ihrem Gesetzentwurf ablenken. Sie verteidigen diesen Referentenentwurf nicht, sondern sagen, dass es noch einen anderen Vorschlag gebe, den Sie auch nicht wollten. Wenn Sie hinter diesem Gesetzentwurf, der ja nicht von Ihnen stammt, aber aus taktischen Gründen von Ihnen eingebracht wird, stehen und ihn für richtig halten ich verfolge Ihre Logik in der Argumentation weiter - und dann sagen, wir hätten in der letzten Legislaturperiode das Gleiche vorgeschlagen, was ich bestreite - wir hatten ein Gesamtkonzept vorgeschlagen -, ({1}) dann frage ich Sie: Warum haben Sie denn, wenn es das Gleiche war, nicht zugestimmt? Dann hätten Sie in der letzten Legislaturperiode doch zustimmen können. ({2}) - Das haben sie nicht getan. Wir haben ein Gesamtkonzept vorgelegt. Ich bestreite übrigens nicht den punktuellen Verbesserungsbedarf in der Justiz. Sie versuchen, Geld zu sparen. Aber Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Justizminister werden Ihnen vorrechnen, dass Sie die Justiz teurer machen und auch noch den Rechtsschutz der Bürger verkürzen. Ich nenne ein drittes konkretes Beispiel dafür, dass Sie den Rechtsschutz der Bürger beschneiden: Sie schaffen die Revision beim Bundesgerichtshof als Mittel des Individualrechtsschutzes ab; Kollege Geis hat es schon gesagt. In Zukunft wird die Revision nicht mehr dazu da sein, die individuellen Rechte der Bürger zu schützen. Es kann sein, dass ein Bürger nach der Berufung - da kann es um 100 000 DM, 1 Million DM oder 10 Millionen DM gehen - Revision einlegt. Der BGH könnte die Auffassung vertreten, das Urteil des Oberlandesgerichtes sei falsch, der Revisionsführer sei zu Unrecht zu einer Leistung von 10 Millionen DM verurteilt worden. Da dieser Fall nach dem neuen Gesetz aber keine grundsätzliche Bedeutung hat, hat der BGH keine Möglichkeit mehr, auf diesen Fall zuzugreifen. Das ist eine wirklich eklatante Verletzung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit. Sie schaffen die Revision als Mittel des Individualrechtsschutzes ab. Das ist rot-grüne Bürgerfreundlichkeit, meine Damen und Herren! ({3}) - Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist so. Die gesamte Fachwelt, die Richter, die Anwälte und die Wissenschaftler sagen Ihnen das. ({4}) Alle sagen es Ihnen, nur, Sie nehmen es nicht zur Kenntnis. Sie können sich natürlich als Betonfraktion aufführen, aber Sie werden damit keinen Erfolg haben. ({5}) - Ich war noch vor kurzem mit Ihrem niedersächsischen Justizminister, der das übrigens auch nicht verteidigt, da; das wollte ich nur nebenbei sagen. Die erste Instanz, die bislang erfolgreich ist, wird durch Formalisierungen, Hinweispflichten und Dokumentationspflichten aufgebläht. Das wird dazu führen, dass jetzt alles erstinstanzlich vorgetragen werden muss. Das führt zur Verlangsamung der Justiz, die bis jetzt gut funktioniert. Die Richter sagen uns: Erhaltet uns unsere Flexibilität. Es ist rot-grüne Effizienz, die Verfahren schwieriger, bürokratischer und langsamer werden zu lassen. ({6}) Von der Einschränkung der Prüfung des Tatsachenvortrags in der Berufungsinstanz ist schon gesprochen worden. Sie wird dazu führen, dass in der Berufung nicht mehr über die Sache, sondern über Formalien gestritten wird: Wurde erstinstanzlich richtig belehrt? Ist der Hinweis dokumentiert worden? Es wird nur noch über die Formalien und nicht mehr über die Sache gestritten, und das werden die Bürger nicht verstehen. In zweiter Instanz wird der Zeuge nicht mehr gehört, sondern es wird darüber gestritten werden, ob er in der ersten Instanz richtig angehört worden ist. Das verstehen die Bürger nicht. Sie fragen: Warum darf ich hier nicht reden? Sie verbieten dem Bürger den Mund vor Gericht. Das ist das Kernanliegen Ihres Vorhabens, das ist Ihr Kerninstrument. ({7}) Er soll nichts mehr sagen. Das ist Rechtspolitik à la RotGrün. Das ist eine Reform gegen die Anwältinnen und Anwälte in unserem Land. Hundertausend Anwälte in unserem Land haben das so artikuliert. Es ist eine Reform gegen die Richterinnen und Richter. Es ist eine Reform gegen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Es ist eine bürgerfeindliche Reform. Sie können sie verabschieden, sie wird aber keinen Bestand haben. Ein derartiges Projekt ist nicht bestandsfähig, und das wissen Sie auch. Sie reden anders, als Sie es wissen; dafür kenne ich Sie gut genug. Es ist doch interessant, dass sich jetzt diejenigen, die sich sonst immer als Rechtsstaatsparteien gerieren, ({8}) nämlich die Grünen und die SPD, hier als Betonfraktionen aufführen. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiel steht. Das ist der Preis, den Sie für ein Prestigeobjekt der Bundesjustizministerin zahlen müssen. ({9}) Wenn Sie als Betonfraktion sekundieren und sich Ihren eigenen Verstand und Ihre eigene Meinung verbieten lassen, werden Sie dafür als Grüne und SPD einen hohen politischen Preis zahlen müssen. ({10}) Sie brauchen sich als Parteien des rechtsstaatlichen Schutzes der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr blicken zu lassen. Das wird Ihnen keiner mehr abnehmen. Darüber werden wir die öffentliche Debatte führen. Die Vernunft sollte bei Ihnen wieder einkehren. Reden wir über vernünftigen punktuellen Reformbedarf! Dieses Vorhaben aber, das sich gegen die Bürger, gegen den Rechtsschutz der Bürger vor Gericht wendet, wird unsere scharfe Ablehnung erfahren. Es findet auch die scharfe Ablehnung innerhalb der gesamten Gesellschaft und der Gruppierungen, die sich mit dem Zivilprozess befassen. Ändern Sie Ihre Haltung! Kehren Sie zur Vernunft zurück, dann wird es auch eine vernünftige Reform geben. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der ersten Lesung des Gesetzentwurfs eine neue, moderne und ausgewogene Zivilprozessordnung auf den Weg bringen. ({0}) Ein Vorhaben, das die Vorgängerregierung nur sehr halbherzig in Angriff genommen hat, nimmt unter RotGrün nunmehr konkrete Gestalt an und wird zu einer Vielzahl von Verbesserungen führen. Viel mehr Verfahren als bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden, und zwar endgültig bereits in erster Instanz. Dies kommt vor allem den rechtsuchenden Bürger zugute. Wenn durch die Justiz bekanntermaßen leider nicht immer allseits befriedigende Gerechtigkeit geschaffen werden kann, so ist es doch schnelle Rechtsklarheit, die Kläger und Beklagte von der Justiz erwarten können, und zwar schon in erster Instanz. Es gibt kein meist unbegründetes und damit sinnloses Hoffen auf eine zweite Instanz, kein unnützes Verschleudern von Zeit, Geld und Nerven. Die finanzschwächere Prozesspartei muss keine Angst haben, wegen des vom finanzstarken Gegner angedrohten Marsches durch die Instanzen die Segel streichen und berechtigte Forderungen in den Wind schreiben zu müssen. Bewerkstelligt wird dies durch die schon mehrfach angesprochene Stärkung der ersten Instanz - die mir als ehemaligem Richter besonders am Herzen liegt - verbunden mit der Möglichkeit, aussichtslose Berufungen zukünftig wesentlich schneller als nach der bisherigen Gesetzeslage zu erledigen. Diese Errungenschaft wird nicht nur - wie schon von meinen Vorrednern mehrfach dargestellt wurde - ohne Rechtsbeschränkungen der Prozessparteien festgeschrieben. Gegenteilige Äußerungen sind schlichtweg falsch. Vielmehr wird damit zusätzlich ein transparenteres und gerechteres Rechtsmittelsystem geschaffen. Es kommt zu einer klaren Gliederung in Eingangsgerichte, nämlich Amts- und Landgerichte, in die Berufungsinstanz Oberlandesgericht und in die Revisionsinstanz BGH, so ähnlich, wie es heute schon in Familien- und Mietsachen der Fall ist. Kerngedanke der Reform ist - auch dies wurde schon mehrfach gesagt - die Stärkung der Eingangsgerichte mit dem Ziel, in erster Instanz den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt möglichst umfassend und sorgfältig zu ermitteln und darüber rechtlich zu entscheiden, sofern nicht bereits durch die vorgeschaltete Güteverhandlung einverständlich Rechtsfrieden geschaffen werden konnte. Das heißt aber auch, dass dort die Richterzahl erhöht werden muss, um das Reformziel erreichen zu können. 700 oder 800 Fälle pro Jahr - über so viele Fälle hat ein Amtsrichter heute im Durchschnitt zu entscheiden - lassen keine sorgfältige Arbeit mehr zu. Hier ist eine personelle Stärkung zwingend geboten. Angesichts dessen wundere ich mich schon etwas, wenn ich zumindest in Bayern ständig erlebe, dass CSU-Kollegen aus dem Bundestag inzwischen häufig mit ihren örtlichen Mandatsträgerkollegen durch das Land tingeln und dort das Gespenst der angeblich als Folge der rot-grünen Reform notwendigen Auflösung von 50 Prozent aller Amtsgerichte sowie sämtlicher amtsgerichtlicher Zweigstellen an die Wand malen. Meine Damen und Herren, da haben Sie aber die Intention dieser Reform gründlich missverstanden: ({1}) Stärkung ist angesagt, nicht Schwächung. Überhaupt ist die Gerichtsorganisation Ländersache und wird durch diese ZPO-Reform in keiner Weise berührt. Ich vertrete entschieden die Ansicht, dass die Eingangsgerichte wohnortnah sein müssen. Es ist richtig, dass die Zahl der Berufungsgerichte durch die Konzentration bei den Oberlandesgerichten reduziert wird. Bei Miet- und Familiensachen ist dies schon lange so und nichts hindert die für die Gerichtsorganisation zuständigen Länder, deren Zahl zu vergrößern oder aber auswärtige Senate einzurichten, wie dies vielfach schon der Fall ist. ({2}) Nachdem der Kern dieser Reform auf der Basis beruht, die die noch von der früheren Bundesregierung eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet hat, deren Vorsitz bekanntlich ein Vertreter des CSU-geführten Bayerischen Staatsministeriums der Justiz innehatte, hätte ich eigentlich mit etwas mehr Zustimmung seitens der CDU/CSU-Fraktion gerechnet. Aber Sie haben ja noch Zeit. Sie können es sich noch überlegen. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Justizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Ulrich Goll. Dr. Ulrich Goll, Minister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Eile, mit der der Entwurf über die Bühne gebracht werden soll, ist verdächtig. Dies muss natürlich insbesondere im Hinblick darauf Verdacht erregen, dass es darum gehen könnte, lästige Kritiker abzuschütteln, indem man jetzt Festlegungen trifft, und sozusagen die Pflöcke einschlägt. Ein solches Verfahren ist verhängnisvoll, da die Kritiker in der Sache Recht haben und da sie aus den Ländern kommen, und zwar ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung der Regierungen dort. Was Sie hier beschließen, müssen wir in den Ländern umsetzen. Ich nehme an, dass Sie genau wie wir eine Synopse der wesentlichen Punkte der zunächst vorgelegten Reform erstellt haben. Wir haben geprüft: Wer ist dafür - Pluszeichen -, wer ist dagegen - Minuszeichen -, wer enthält sich? Ich hoffe, Sie haben das genauso geprüft wie wir. Dann wissen Sie, dass es viele waagerechte Striche gab, also Minuszeichen, einige Enthaltungen und ganz wenige Pluszeichen. Sie haben darauf reagiert und einen neuen Entwurf vorgelegt, allerdings in einem Hauruckverfahren, wie ich es empfinde. Obwohl ich für ein Land spreche, das diese Reform umzusetzen hat, bin ich nicht in der Lage, Ihnen schon jetzt zu sagen, wie sie sich in der Praxis auswirkt. Wir haben bei dem Simulationstest in Nordrhein-Westfalen gemerkt, dass es auf die Details ankommt und dass man das erst einmal ausprobieren muss. Ich kenne diesen Entwurf erst seit einer Woche. ({1}) - Ich muss deswegen zu diesem Entwurf reden, weil Sie ihn in den Bundestag einbringen. Genau das kritisiere ich; (Hans-Christian Ströbele ({2}) denn Sie wollten mit diesem Verfahren erreichen, dass andere, deren Stimme Sie offensichtlich überhören möchten, nicht mitreden können. ({3}) Aber schon jetzt kann ich Ihnen ganz sicher sagen: Eines kann in diesem Entwurf so nicht stehen bleiben und das ist die Konzentration der Rechtsmittel beim Oberlandesgericht, die Verlagerung der Berufungsverfahren auf das Oberlandesgericht. Haben Sie eigentlich schon einmal ausgerechnet, was das kostet? Wir haben das getan. Nehmen Sie zum Beispiel die Stadt Ravensburg - kein flaches Land -, eine schöne, alte Stadt am Bodensee. ({4}) Sie hat viele Einwohner, ein Amtsgericht, ein Landgericht. Gehen wir von einem Fall mit einem Streitwert von 5 000 DM aus. Es gibt Parteien, Anwälte, Zeugen. Wenn Sie die Berufung nach Stuttgart verlagern, dann ergeben sich allein 2 000 DM Reisekosten. Das ist die heutige Rechnung. ({5}) - Sie können unsere Zahlen gerne überprüfen. Ich will Ihnen nur vor Augen führen, wie sich das, was Sie beschließen möchten, in den Ländern auswirkt. Sie können natürlich dazwischenrufen und sich die Ohren zuhalten, aber das sind die Zahlen. ({6}) Nehmen Sie einmal die Berufungsverfahren, die bei uns ans OLG verlagert werden müssten. Ich ziehe alle Verfahren ab, die ohnehin in Karlsruhe und Stuttgart laufen; weitere Wege gibt es nicht. Ich ziehe die Verfahren ab, in denen es keine mündliche Verhandlung gibt. Dann bleiben etwa 4 000 Fälle übrig. Ich setze etwa die Hälfte der Last des Ravensburger Falls an; das ist, glaube ich, eine zurückhaltende Rechnung. Heraus kommen an die 3 Millionen DM, die die Parteien für Ihr neues Berufungsverfahren zu tragen haben. Damit ist nun wirklich alles zum Thema Bürgernähe gesagt, das Sie vorhin uns näher zu bringen versucht haben. ({7}) Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Grund, den Sie nicht unterschätzen dürfen. Wenn Sie in der Berufungsinstanz weitere Beweisaufnahmen durchführen, was ein richtiger Schritt ist, wenn Sie in der Berufungsinstanz Tatsachenüberprüfungen zulassen, dann müssen Sie diese Instanz in der Nähe lassen. Sie sollte zum Beispiel die örtlichen Verhältnisse kennen. Wenn Sie in zweiter Instanz Beweisaufnahmen vorsehen, dann müssen Sie eigentlich schon aus einer inneren Logik heraus das Verfahren bei Helmut Wilhelm ({8}) den Landgerichten belassen, weil sich die Oberlandesgerichte da nicht genug auskennen und bei der Tatsachenüberprüfung einen erhöhten Aufwand betreiben müssen. Die Dreistufigkeit erscheint am Horizont. Es gibt keine einzige klare Äußerung, mit der Sie sich von der Dreistufigkeit distanziert haben. Diese Konzentration der Rechtsmittel beim OLG geht in Richtung Dreistufigkeit. Wenn Sie all Ihre Reformschritte verwirklicht haben, wäre es konsequent, ein einheitliches Eingangsgericht vorzusehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Ulrich Goll, Minister ({0}): Natürlich.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben eben die Probleme mit der Verlagerung der Berufungsverfahren zu den Oberlandesgerichten geschildert. Nun kennen Sie sich gerade in Freiburg sehr gut aus, wo Sie als Landtagskandidat antreten werden. Deshalb die Frage gezielt zu Freiburg: Sind Sie mit mir der Auffassung, dass die Außensenate des Oberlandesgerichts Karlsruhe in Freiburg sehr gut funktionieren? Sind Sie nicht auch der Meinung, dass dieses Modell die von Ihnen geäußerten Befürchtungen gegenstandslos machen kann und wird? ({0}) Dr. Ulrich Goll, Minister ({1}): Ich kenne dieses noble Angebot, Außenstellen zu bilden. Dieses Angebot haben Sie auch gemacht, als noch über die Amtsgerichte bzw. das Eingangsgericht diskutiert wurde. Sie haben gesagt: Wir können die Amtsgerichte zu Außenstellen machen. Diese Diskussion haben Sie meiner Meinung nach nur vorübergehend abgestellt. Das Ganze kommt mir so vor, als wenn irgendjemand ein Verbot mit der einzigen Begründung fordert, man könne ja Ausnahmeregelungen davon schaffen. Man muss doch erst einmal die Maßnahme selbst als sinnvoll begründen können, bevor man sagt: Ihr könnt ja von ihr abweichen und Ausnahmen machen. Glauben Sie, dass Außenstellen wirtschaftlicher sind als die bisherigen Landgerichte? ({2}) Das funktioniert doch in der Praxis nicht. Es macht die Sache eher komplizierter. Noch ein letztes Argument gegen diese Konzentration beim Oberlandesgericht. Wenn je daran gedacht wird, diese Reformen auch im Strafrecht umzusetzen, dann sage ich jetzt schon: Man wird sich der Lächerlichkeit preisgeben, wenn Berufungen in Strafsachen, etwa bei jedem Ladendiebstahl, beim OLG verhandelt werden. Bevor nicht klar ist, dass die Berufungsverfahren bei den Landgerichten bleiben, ist meines Erachtens ein vernünftiger Dialog über diese Reformen gar nicht möglich. Die übrigen Vorschläge werden wir sorgfältig prüfen. Wir haben gelernt, dass man genau hinschauen muss, wie sie sich in der Praxis auswirken. Ich sehe vieles, bei dem man „Prima-facie“ sagen könnte: Das kann man so oder anders regeln. Man hat es hier anders geregelt. Wieso soll es besser sein? Es riecht ein bisschen nach Aktionismus. Papier ist geduldig. Die Praxis wird es schon richten. Aber eine Frage lässt mich nicht los: Was will man mit der Reform eigentlich erreichen? Was ist das Ziel? Vorher habe ich von einem Ziel gehört, nämlich dass das Amtsgericht keine Durchgangsstation, sondern Endstation sein soll. ({3}) Sie wissen doch, dass es das in 95 Prozent der Fälle ist. Was wollen Sie erreichen? Wollen Sie, dass 100 Prozent dort bleiben? Das kommt gleich nach 95 Prozent. Jetzt schon werden 95 Prozent der Fälle beim Amtsgericht abschließend erledigt. Darum kann man doch einem Amtsrichter nicht weismachen, dass er seine Urteile nur für die nächste Instanz schreibt. 95 Prozent dieser Fälle werden endgültig beim Amtsgericht erledigt. ({4}) Diese Reform wird keinen Prozess beschleunigen. Das kann schon deswegen nicht eintreten, weil die erste Instanz quasi aufgeladen und dadurch komplizierter wird. Den Mehraufwand, den Sie in 95 Prozent der Fälle treiben müssen, werden Sie nirgendwo wieder hereinholen können. Der Prozess wird nicht bürgernäher, sondern für die Betroffenen schwerer verständlich sein. Sie werden dann ihren Anwalt fragen, warum sie diese Tatsache nicht mehr vorgetragen dürfen, wenn sie in der Berufungsinstanz von Bedeutung ist. Es wird dadurch nichts billiger. Auch das ist ein Argument. Denn noch immer wird die Hälfte der Prozesskosten von der Gemeinschaft getragen. Wir haben in BadenWürttemberg viel Geld für die Justiz übrig. Wir investieren in den kommenden Jahren um die 70 Millionen DM, um 7 500 Arbeitsplätze mit moderner Technik auszustatten. Das ist der richtige Weg, um den Prozessablauf zu verbessern und zu beschleunigen. Man kann sicher auch einzelne Vorschläge zum Prozess machen. Gestern haben wir den Vorschlag gemacht, den Strafprozess zu beschleunigen, mehr Verfahren im beschleunigten Verfahren im Strafprozess durchzuführen. Sie von Rot-Grün haben diesen Vorschlag abgelehnt. Wenn es um Effizienz und um Schnelligkeit im Einzelfall geht, sind Sie nicht dabei. Sie präsentieren uns eine Reform, bei der ich nur sagen kann: „Mehr Effizienz, mehr Transparenz, mehr Bürgernähe“ können Sie noch so groß auf die Packung schreiben, aber genau das wird diese Reform nicht bringen. Unsere Justiz braucht diese so genannte Jahrhundertreform nicht; sie kann sie nicht brauchen. Frau Bundesjustizministerin, Sie wollen sich mit dieser Reform ein Denkmal setzen, und zwar leider zulasten einer funktionierenden Justiz in den Ländern. Wenn etwas nichts bringt und Minister Dr. Ulrich Goll ({5}) wenn man das im Praxistest erkannt hat, sollte man die Größe und Souveränität haben, es beiseite zu legen. Genau darum bitte ich Sie. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon zweimal von einem Denkmal gesprochen worden. Wissen Sie, warum ich meine, bald ein Denkmal verdient zu haben? Nicht nur deswegen, weil ich zu denen gehöre, die die Einwürfe des geschätzten Kollegen Geis mit Heiterkeit entgegennehmen, sondern auch wegen solcher Reden. Lieber Herr Goll, gerade auch Ihre Ausführungen machen die mit der Modernisierung der Justiz verbundenen Probleme deutlich. Sie tun so, als sei hier ein Entwurf eingebracht worden, der Sie völlig überrascht habe und zu dem Sie nichts sagen könnten. Gleichzeitig bringen Sie einen Verriss, der mit dem Entwurf nichts zu tun hat, und tun so, als sei alles, was Rot-Grün bringt, irrelevant. ({0}) Was soll denn das? Sie wissen doch ganz genau, dass Sie eigentlich Rot-Grün bekämpfen. Lassen Sie dies doch einmal eine Weile und lassen Sie uns - wir sind Fachleute - über das reden, was die Justiz braucht. Die Justiz braucht nämlich eine Modernisierung. ({1}) Sehr geehrter Herr Kollege Röttgen, Sie haben vorhin eine rhetorisch eindrucksvolle Leistung geliefert, die aber mit der Sache nur teilweise etwas zu tun hatte. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Justiz nicht nur etwas für die Anwälte und Richter sei. Das ist völlig richtig und ich stimme Ihnen absolut zu. Nur, wenn Sie so tun, als wolle Rot-Grün Modernisierung verhindern, Bürgerrechte zurückzunehmen oder Berufungsmöglichkeiten zusammenstreichen, dann ist dies nicht nur ganz falsch, sondern wirklich unfair, weil Sie damit den Menschen einen völlig falschen Eindruck vermitteln. ({2}) Ich möchte mich damit befassen, was die Bürgerinnen und Bürger von der Justiz haben. Ich bin die Letzte, die es zulassen würde, dass man unsere Justiz krank redet, wie dies nach Urteilen, die dem einen oder anderen nicht passen, immer wieder geschieht. Unsere Justiz ist nicht krank. Es wird aber jedem, der ihre Arbeitsweise kennt und ihre Ausstattung beispielsweise hinsichtlich der Elektronik mit dem vergleicht, was heute in Kommunen oder bei der Polizei längst üblich ist, deutlich werden, dass eine Modernisierung überfällig ist. Das ist das eine. ({3}) Natürlich ist das Sache der Länder. Aber ich hätte es begrüßt, wenn der Justizminister des Landes BadenWürttemberg über die Arbeitsorganisation und die Computerausstattung geredet hätte. Aber auch der Bund muss für die Modernisierung seinen Beitrag leisten. Gerade darum geht es hier, um den Beitrag des Bundes zur Modernisierung der Justiz. Sie aber tun so, als lebten wir in der besten aller Justizwelten und als hätten Sie früher alles besser und anders gemacht. ({4}) All dies zeigt, dass wir sehr viel tiefer einsteigen müssen. Dafür haben wir viele Beispiele geliefert bekommen, gerade auch, wie sich anwesende Kollegen geäußert haben - unter anderem auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses in der letzten Legislaturperiode. Schauen Sie heute in die „Süddeutsche Zeitung“. Sie finden dort nicht nur das lesenswerte Interview mit dem Kollegen Geis zu den Lebenspartnerschaften, Sie finden auch den Hinweis des Journalisten Prantl darauf, dass es der frühere Justizminister der F.D.P., Schmidt-Jortzig, war, der auf dem letzten Juristentag gefordert hat, es müsse endlich Schluss gemacht werden mit dieser Flickschusterei und jetzt müsse endlich eine Linie für eine Reform des Zivilprozesses und der Modernisierung der Justiz gefunden werden. ({5}) Herr Kollege Eylmann hat dies im Frühjahr wiederholt. Dieser Kollege gehört der CDU an. Ich will das nur einmal sagen. Ich verweise weiter auf einen Artikel des von mir sehr geschätzten Kollegen Scholz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 23. November 1998, in dem er eine umfassende Justizreform verlangt, dabei einen dreistufigen Gerichtsaufbau vorschlägt und erklärt, die Zeit dafür sei überreif. ({6}) Herr Scholz, Ihren Presseartikeln der letzten Tage habe ich das nicht entnehmen können. Ich weiß nicht, ob der Kollege Sie falsch zitiert hat. Ich weiß aber, dass Sie Vorsitzender der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ waren. Dieser hat darauf hingewiesen, dass mit der Flickschusterei Schluss sein müsse und jetzt ein klarer Entwurf und eine klare Bestimmung darüber, was die einzelnen Instanzen - also erste Instanz, zweite Instanz und Bundesgerichtshof - machen sollen, auf den Tisch müssten. Meine Bitte ist: Sie können ja auf Kreisparteitagen der CDU so reden. Lassen Sie uns aber in dieser Auseinandersetzung, bei der es um die Modernisierung der Justiz geht, wirklich über die Probleme reden. Ich zitiere später noch ein paar Herren aus Bayern, weil die Bund-Länder-Arbeitsgruppe von einem Vertreter Bayerns geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe wird - das wissen Sie, Herr Minister Goll - das nächste Mal am Minister Dr. Ulrich Goll ({7}) 14. Juli zusammentreten. Das bedeutet, dass von einer Überforderung keine Rede sein kann. Wenn Sie das den Leuten weismachen wollen, kann ich nur sagen: Das ist ein Gerücht. Wie fühlt sich eigentlich jemand, der heute vor Gericht muss? Die Aufwertung der außergerichtlichen Streitschlichtung haben wir beschlossen. Dies steht jetzt im Bundesgesetzblatt. Wenn ein Bürger dennoch zum Amtsgericht muss, dann findet er dort eine Richterin oder einen Richter vor, die etwa 750 Fälle im Jahr bearbeiten. Jetzt sagen Sie: Das ist die beste aller Welten. Ich sage Ihnen: Das ist es nicht, und zwar deswegen, weil nicht berücksichtigt werden kann, dass man für die Entscheidung des einen Falles mehr Zeit benötigt als für die eines anderen. Sie haben insgesamt zu wenig Richter. ({8}) Sie wissen auch: Wenn ein Fall vor dem Oberlandesgericht verhandelt wird, dann trifft man dort einen Richter, der 70 Verfahren im Jahr bewältigen muss und 34 Urteile fällt. Natürlich sind seine Fälle in der Regel schwieriger, aber dieses Missverhältnis sollte Sie eigentlich zum Nachdenken bringen. ({9}) Übrigens, Herr Kollege Röttgen, wenn Sie schon Oberlandesgerichte zitieren, dann schauen Sie das nächste Mal auf die Gerichtsverteilung in Baden-Württemberg. Oder nehmen Sie Niedersachsen. Sie aber sollten wissen, dass Mosbach in Baden und nicht in Württemberg liegt. Das macht aber nichts. ({10}) - Ja, das ist gut. Ich wollte damit nur andeuten, dass man in einer so schneidigen Rede darauf achten sollte, dass die Fakten richtig sind. Das ist nur ein kleiner Hinweis. ({11}) - Das zuständige Oberlandesgericht. Ganz einfach. Ich komme zu der von Ihnen mehrfach angezweifelten Neuregelung der Berufung, gegen die Sie erhebliche Einwendungen haben. Ich lese Ihnen einmal vor, was das Land Bayern, vertreten durch den Ministerialdirigenten Werner Weiß, der die Bund-Länder-Arbeitsgruppe geleitet hat, in der Broschüre „Die Justizpolitik - CDU“ mitgeteilt hat. Er hat gesagt: Es besteht die Meinung, man müsse nicht nochmals den ganzen Prozess wiederholen. Nur wenn das Urteil der ersten Instanz in irgendeiner Weise fehlerhaft ist, ist das Verfahren offen für neue Tatsachen und Beweise. Darum geht es. Wir gehen nicht so weit wie das in der letzten Legislaturperiode von Ihnen eingebrachte und beschlossene so genannte zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz. Deswegen hören Sie auf, die Gäule scheu zu machen. Hier geht es darum, dass die erste Instanz gestärkt werden kann, dass die normalen Menschen, die mit 1,5 Millionen Klagen zum Amtsgericht gehen, den gleichen Rechtsschutz vorfinden wie die Parteien vor dem Oberlandesgericht. ({12}) Sie haben gesagt, 94 Prozent der Fälle würden beim Amtsgericht erledigt. Haben Sie immer noch nicht gemerkt, warum das so ist? Dies ist deswegen so, weil heute erheblich mehr als die Hälfte der amtsgerichtlichen Urteile überhaupt nicht überprüft werden kann. Das ist eine Konsequenz der Streitwertabhängigkeit. Das ist doch ein Fehler. Dann müssen Sie doch sagen, dass wir das ändern müssen. Sie werden sehen, dass wir es ändern, und zwar deswegen, weil wir mit den Streitwerten heruntergehen und weil wir eine Grundsatzzulassungsberufung neu einführen. Wir führen sogar noch eine Rechtsgehörsrüge ein, die das Bundesverfassungsgericht entlastet. ({13}) Diese drei Dinge sind vernünftiger für den Bürger. Es bringt mehr Rechtsschutz. Es hilft auch dem Bundesverfassungsgericht, seine eigentliche Aufgabe zu erledigen. Ich möchte jetzt die Kritik aufgreifen, den Bürgerinnen und Bürgern würden weniger Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Das stimmt nicht. Wir gehen nicht so weit, wie es die Bayern gefordert haben. Wir gehen nicht so weit wie das zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz der letzten Legislaturperiode. Wir sagen Folgendes - ich bitte Sie, darüber nachzudenken, denn es ist etwas Vernünftiges -: Bei Verfahren, bei denen drei Richter in der Berufung nach einem Hinweis an den Berufungskläger sagen, es sei aussichtslos, soll die Zurückweisung schnell erfolgen. Das ist deswegen vernünftig, weil bei einem Zivilprozess immer einer klagt und ein anderer verklagt wird. In der ersten Instanz gewinnt einer. Aber wenn wie bisher die Verfahren - abhängig vom Streitwert - durch alle Instanzen geführt werden, obwohl sie erkennbar aussichtslos sind, dann schadet das immer dem kleinen Handwerker, der in der ersten Instanz gewonnen hat und der sein Geld trotzdem nicht bekommt. ({14}) Deswegen ist es sehr vernünftig, anders zu verfahren: In die Berufung darf nur dann gegangen werden, wenn dies unbedingt notwendig ist. Aussichtslose Berufungen sind zwar auch weiterhin möglich, aber sie sollten dann schnell zurückgewiesen werden, wenn drei Richter sagen: Da ist nun wirklich nichts dran. Nun komme ich auf den Bundesgerichtshof zu sprechen. Nicht nur die rechte Seite des Hauses hat die Kritik des letzten Präsidenten des Bundesgerichtshofs zur Kenntnis genommen - ich bin ganz sicher, dass der neue Präsident es ähnlich sehen wird -, der sich darüber beschwert hat - Herr Röttgen, das sage ich speziell zu Ihnen -, dass der Bundesgerichtshof nur noch in etwa 6 Prozent der Fälle seine eigentliche Aufgabe erfüllen kann, nämlich Grundsatzentscheidungen im Rahmen der Rechtsfortbildung treffen und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung wahren. Er hat des Weiteren darauf hingewiesen, dass mehr als 96 Prozent der Fälle reine Streitwertrevisionen seien. ({15}) - Entschuldigung, wir sind der Meinung, dass der Streitwert überhaupt kein Kriterium dafür ist, ob Revision eingelegt werden kann oder nicht. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob das Urteil falsch oder richtig ist. Wir tun etwas dafür, damit dieses Kriterium herangezogen wird. ({16}) - Doch, das tun wir. Sie sollten noch einmal nachdenken; denn ich meine, aus Ihren Überlegungen inzwischen eher Zustimmung herauslesen zu können. Ich habe den Eindruck, dass das neue Revisionsrecht, das den Formulierungen des § 73 und des § 74 GWB nachgebildet ist und künftig auch für den Bundesfinanzhof gelten und ohne Zweifel auch in den Regierungsentwurf aufgenommen werden soll, ein sehr vernünftiger Kompromiss zwischen den eigentlichen Aufgaben des Bundesgerichtshofs und der Einzelfallgerechtigkeit ist, deren Gewährleistung Sie anmahnen. Aber die Einzelfallgerechtigkeit, Herr Röttgen, bestimmt sich nicht nach dem Streitwert. Diese Grenze ist nun wirklich die willkürlichste von allen. Die Einzelfallgerechtigkeit bemisst sich bei der Revision vielmehr danach, ob ein schwerer Rechtsfehler in irgendeiner Form aufgetreten ist. Das ist der Punkt. ({17}) Die Modernisierung der Justiz ist schwer, aber notwendig. An ihr sind die Länder und auch der Bund beteiligt. Die Länder müssen genauso einen Beitrag leisten wie der Bund. Der Bund hat mit der Änderung der Präsidialverfassung und der außergerichtlichen Streitschlichtung angefangen. Wir machen jetzt weiter. Wir stärken die erste Instanz. Wir sind - lassen Sie mich das sagen - so radikal, dass wir sagen: Wir wollen auch hier die Möglichkeit zur Güteverhandlung und Streitschlichtung stärken. Wir sind so radikal, dass wir sagen: Die Überprüfung eines Urteils soll nicht vom Streitwert abhängig sein; vielmehr soll sie davon abhängen, ob tatsächliche oder rechtliche Fehler gemacht wurden. Dies alles ist bürgerfreundlich. Dies alles wollen wir durchsetzen. Dass der Vorschlag, die Berufung bei den Oberlandesgerichten zusammenzuführen, sehr unterschiedlich gesehen wird, wissen wir. Dass es in Flächenländern anders aussieht als zum Beispiel in Stadtstaaten, Herr Goll, wissen wir auch. Es wäre nur klug, wenn man jetzt über die Fragen von Nutzen und Kosten sowie der Vereinfachung nachdenkt. Wir wollen Vereinfachung. Wenn man draußen darüber redet, dann muss man sehr deutlich machen, dass es die Zusammenführung der Berufung bei Arbeitsgerichtsverfahren, Sozialgerichtsverfahren, Verwaltungsgerichtsverfahren und bei den familiengerichtlichen Verfahren gibt, in denen sehr häufig ein persönliches Erscheinen erforderlich ist. In all diesen Bereichen funktioniert das gut. Hermann Bachmaier hat darauf hingewiesen, dass Karlsruhe sieben Außensenate hat, und zwar aus traditionellen Gründen, wie wir beide sehr wohl wissen. Ich traue Ihnen zu, dass Sie dort, wo Sie eine Außenstelle wünschen, auch eine einrichten können, wenn Sie es nur wollen. Aber ob Sie es wollen, weiß ich nicht. Ich wehre mich nur dagegen, dass Sie landauf, landab behaupten, Rot-Grün wolle die Amtsgerichte schließen. Vielleicht wollen Sie das und haben nicht den Mut, den Bürgerinnen und Bürgern das mitzuteilen. Wir wollen es jedenfalls nicht. Wir sind entschlossen, die Amtsgerichte zu stärken. Ich möchte noch einmal auf die Vorgeschichte des Entwurfs zu sprechen kommen. Das jetzige Verfahren ist nun wirklich das merkwürdigste. Vor zwei Jahren hat mein Amtsvorgänger, Herr Schmidt-Jortzig - ich rede immer davon, dass man in der Kontinuität steht -, auf dem letzten Juristentag einen Anstoß gegeben. Damals hat er das erste Gutachten in Auftrag gegeben. Seitdem diskutiert eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe das alles. Dann gibt es einen Beschluss der Justizministerkonferenz, die mich auffordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, was ich auch tue. Daraufhin gibt es viel Kritik, aber auch viel Zustimmung. Dann werten wir das aus und arbeiten das in diesen Gesetzentwurf ein. Wenn von anderen Ländern noch etwas kommt, wird das im Übrigen auch noch in den Regierungsentwurf eingearbeitet. Und trotzdem wird daran wieder Kritik geübt. Ich sage Ihnen: Wichtige Reformen kann man nur öffentlich diskutieren. Das haben wir mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs im vergangenen Dezember getan. Wir werden die Diskussion weiterhin suchen, und zwar keineswegs allein mit den Ländern, wofür die Termine, wie ich gesagt habe, schon feststehen. Wie bereits in den vergangenen Tagen werden wir mit dem Richterbund, mit der Bundesrechtsanwaltskammer und mit dem Anwaltverein sprechen. Sicher ist aber auch, dass wir mit der Opposition reden. Es geht darum, dass unsere Justiz modernisiert wird, dass die normalen Bürger auch in Zukunft vor Gericht gute Bedingungen vorfinden, dass die Justiz für neue Aufgaben fit gemacht wird - wir wissen ganz genau, dass es nicht mehr Richterstellen geben wird - und dass unsere Justiz europafreundlicher werden muss. Diese vier Ziele sind in den Gesetzentwurf aufgenommen. Ich hoffe, wir können unter Fachleuten - meinetwegen temperamentvoll; das bin auch ich - darüber reden. Das sollte aber, wenn es irgendwie geht, ohne den ständigen Austausch von Argumenten geschehen, die mehr mit Parteipolitik als mit irgendwelchen fachlichen Aspekten zu tun haben. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt Schelter. ({0}) - Entschuldigung, Herr Minister, es gibt eine Anmeldung zu einer Kurzintervention. Ich erteile dem Kollegen Rupert Scholz das Wort.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben mich sehr liebenswürdig angesprochen. Sie haben versucht, mich zum Kronzeugen der Dreistufigkeit zu machen. Dazu möchte ich schon einen Satz sagen. Ich bin in der Tat der Meinung, dass das Thema der Dreistufigkeit kein Dogma ist. Es kommt auf die Effizienz im Rechtsschutz für den Bürger und damit auf die Effizienz der Justiz an. Sie wissen von mir direkt, dass ich der Meinung bin, man könnte - vielleicht sollte man sogar - die Dreistufigkeit in Stadtstaaten einmal erproben. Das ist möglich. Sie können in Ihren Gesetzentwurf zum Beispiel eine entsprechende Experimentierklausel hineinnehmen, die den Stadtstaaten die Möglichkeit der Erprobung gibt. Das halte ich für einen sinnvollen Schritt. Im Übrigen ist das die Philosophie des von Ihnen angesprochenen Berichts des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“, den ich in der letzten Legislaturperiode zu leiten hatte. Sie hätten die Forderungen dieses Sachverständigenrats - gerade was eine Justizreform angeht - vielleicht doch ein bisschen mehr beherzigen sollen, wie das zum Beispiel Ihr Kollege Schily jetzt tut. Bei ihm habe ich zu meiner Freude manchmal das Gefühl, dass er unsere Empfehlungen von damals regelrecht abkupfert. Das ist sinnvoll. Denn wenn etwas Vernünftiges gesagt wird, dann ist es egal, wer es umsetzt; Hauptsache es wird umgesetzt. Die wirklich entscheidenden Fragen der Justizreform, die dort angesprochen sind, sind ganz andere. Da geht es um die Vereinheitlichung von Verfahrensordnungen insgesamt. Außerdem - ich sehe in dieser Frage dringenden Reformbedarf - ist dort thematisiert, dass wir endlich von der Überspezialisierung unserer Gerichtsbarkeiten wegkommen. Es macht keinen Sinn, wenn die Reform eines Bereichs wie der Zivilgerichtsbarkeit - sie funktioniert insgesamt ja gut - Stückwerk bleibt. Wenn man den Einstieg in die Dreistufigkeit will, dann muss man es offen sagen. Aber mit Sicherheit ist es nicht gut, diesen Weg mit der Reduzierung der Rechtsmittel im Rechtsschutzbereich einzuleiten. Dies hielte ich für sehr problematisch. Gehen wir lieber einen offenen Weg, fangen wir vielleicht wirklich einmal mit einer Stadtstaatenklausel an, Frau DäublerGmelin, und schauen wir uns die Entwicklung an! Dann wird man weitersehen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Justizministerin, zur Erwiderung, bitte.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Kollege Scholz, vielen Dank für diese kollegiale Haltung. Ich weiß, Sie haben mich sogar ermutigt, den Gesetzentwurf einzubringen. Ich gehöre zu denjenigen, die den Abschlussbericht der Sachverständigenkommisson „Schlanker Staat“ wirklich gelesen haben. Abgesehen von dem, was Sie erwähnt haben, enthält der Bericht zusätzliche Forderungen. In der Tat - dies will ich Ihnen gerne bestätigen - soll nach Auffassung der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ nicht nur die Zahl der Gerichtszweige verringert werden, sondern wird auch gefordert, die Fachgerichte baulich zusammenzulegen. Das ist ein Punkt, den man erst mit den Ländern besprechen muss, weil das wirklich erhebliche Kosten verursachen würde. ({0}) Die Kosten hierfür wären außerordentlich hoch. Die Länder sind in diesem Punkt viel stärker gefordert als der Bund. Der Bund ist dagegen bei dem Teil gefordert, über den wir jetzt reden, nämlich bei der Frage der Rechtsmittel. Lassen Sie es mich nochmals sagen: Wir reduzieren die Berufungsmöglichkeiten nicht, sondern bauen die Rechtsmittel insgesamt aus und geben den Grundsatz der Streitwertabhängigkeit aufgrund der sich daraus ergebenden Ungerechtigkeiten auf. Ich wollte aber noch aus dem Bericht der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ zitieren. Dort steht drin: Das heute sehr differenzierte Rechtsmittelsystem sollte in seiner Gesamtheit überdacht werden. Dabei könnte der Instanzenzug grundsätzlich einheitlich ausgestaltet werden, und zwar mit einer Tatsachenund mit einer Rechtsmittelinstanz. Notwendig wäre zunächst die Absicherung durch eine rechtsstaatliche Untersuchung. ({1}) Diese haben wir vorgenommen. Auch die weiteren Punkte, die erwähnt werden, haben wir aufgenommen. Wir sind nur nicht ganz so weit gegangen wie die Kommission, der Sie damals vorgesessen haben. Ich denke, dass wir gerade dann, wenn wir Bürgernähe, Transparenz und Effizienz im Blick haben, auf dem richtigen Weg sind. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nun erteile ich das Wort dem Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt Schelter. Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne - mit der Erlaubnis der Präsidentin mit einem kurzen Zitat aus einem Brief, den mir die Bundesjustizministerin am 5. Juli geschrieben und der mich heute erreicht hat, beginnen: Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zum Referentenentwurf eines ZPO-Reformgesetzes vom 23. Dezember 1999. Ihre Überlegungen zu den EntwurfsVizepräsidentin Petra Bläss vorschriften werden im Zuge der zweiten Beratungsrunde über den Referentenentwurf, in die wir jetzt eingetreten sind, sehr sorgfältig gewürdigt. Ich muss gestehen, diese Einleitung Ihres Briefes, Frau Bundesministerin, hat mich einigermaßen sprachlos gemacht, denn vom heutigen Entwurf ist keine Rede. Mit keinem Wort gehen Sie auf den Entwurf ein, über den heute hier beraten wird. Das bedeutet für mich: Seit heute ist die Justizreform zu einem spannenden Ratespiel geworden. „Was soll gelten?“, lautet die Frage. Ich habe deshalb keine große Neigung, mich heute detailliert zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes zu äußern. Seine Initiatoren werden darüber nicht enttäuscht sein, denn das jetzt gewählte Verfahren ist ja ganz offensichtlich geradezu darauf angelegt, dass die Länder und der Bundesrat, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, keine Chance bekommen sollen, ihre Meinung zu sagen. Das wäre wohl auch Zeitverschwendung, denn die neue Dramaturgie sieht ja vor - so steht es jedenfalls in den Zeitungen -, diesen Entwurf im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens noch wesentlich zu verändern. Als Justizminister meines Landes wird mir jeden Tag vermittelt, was die Organe der Rechtspflege davon halten, immer wieder neue Vorschläge, neue Erwägungen zu hören und mit diesen konfrontiert zu werden. Ich bin mir nun, Frau Bundesministerin, nicht ganz sicher, ob es Sie überhaupt interessiert, wie dieses Verfahren - jedenfalls von der Mehrheit der Justizminister der Länder - gesehen wird. Die Besetzung und Zusammensetzung der Bundesratsbank gibt davon beredtes Zeugnis. Sie wissen aber, dass die Art des Umgangs mit den Ländern bis in die letzten Monate hinein zu starken Irritationen geführt hat. Die Informationen über wichtige Gesetzgebungsvorhaben des Bundes erreichen uns zu spät oder überhaupt nicht - und wenn, dann sind sie zu vage. Die besten Informationsquellen für die Justizminister der Länder über die Rechtspolitik des Bundes und ihre Veränderungen sind seit Monaten die Medien. Es kann doch nicht richtig sein, dass die in den Ländern verantwortlichen Ressortchefs den Inhalt dieses Gesetzentwurfs zunächst nur aus einer sehr detaillierten Abhandlung von dem von mir sehr geschätzten Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ und weiteren Medienberichten zum Beispiel in der „taz“ erfahren konnten. Dabei lassen Sie verbreiten, dass dieser Entwurf einen Durchbruch in Sachen Justizreform darstelle. Ich sehe das nicht und würde Sie fragen, wenn ich könnte: Durchbruch wohin? Es mag ja sein, dass dieser Entwurf der gemeinsame Nenner ist, auf den sich die Koalition einigen kann. Aber es kann doch keine Rede davon sein, dass Sie damit die massive Kritik aus allen Richtungen an Ihrem Konzept überwunden hätten. Frau Bundesministerin, ich bitte Sie sehr herzlich darum, in unserer weiteren Zusammenarbeit wieder an den Konsens anzuknüpfen, den wir bei der letzten Konferenz der Justizminister in Potsdam gefunden hatten. Wir hatten uns darauf verständigt, dass die Unterrichtung rascher, konkreter, stetiger und auch offener erfolgen soll. Sie hatten zugesagt, dass die Länder in Zukunft rechtzeitig zur Abschätzung der Folgen Ihrer Reformvorhaben gehört werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}): Sehr gerne.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Schelter, erlauben Sie mir eine Zwischenfrage mit ein paar „Unterabteilungen“. Sie sind ja zurzeit der Vorsitzende der Justizministerkonferenz. Es würde mich interessieren, ob Sie hier als Justizminister des Landes Brandenburg oder als Vorsitzender der Justizministerkonferenz sprechen. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass es sich hier nicht um einen Regierungsentwurf, sondern um einen Entwurf der Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen handelt? Würden Sie bitte noch freundlicherweise eine kleine Episode zur Kenntnis nehmen, die sich gestern zugetragen hat: Ich war in Perleberg auf einer Veranstaltung des brandenburgischen Rundfunks und habe dort mit Handwerksmeistern diskutiert. Diese Handwerksmeister sind der Meinung, in der Brandenburger Justiz dauere alles zu lange. Einer wartet seit sechs Monaten auf einen Termin, ein anderer seit zwei Jahren auf ein Urteil. Was gedenken Sie diesbezüglich zu tun? Meinen Sie nicht auch, dass unser Entwurf geeignet ist, für mehr Tempo auch in der ersten Instanz zu sorgen? Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}): Ich fange mit der Beantwortung der letzten „Unterabteilung“ Ihrer Zwischenfrage an. Ich bin seit dem 13. Oktober des vergangenen Jahres im Amt. Dieses Amt wurde neun Jahre lang von einem anderen Kollegen, den ich sehr schätze, bekleidet. Er hat eine hervorragende Aufbauleistung in der Brandenburger Justiz erbracht. Die lange Dauer der Verfahren in Brandenburg, die zum großen Teil auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber nicht auf die ordentliche Gerichtsbarkeit zutrifft, hat im Wesentlichen mit dem Haushalt zu tun. Ich habe erst seit dem 13. Oktober des vergangenen Jahres die Haushaltspolitik in Brandenburg mit zu verantworten. ({1}) Zu Ihrer zweiten Frage. Sicher, es handelt sich um einen Gesetzentwurf der Koalition - in einem Bereich, über den sich zu äußern die Justizminister der Länder allen Anlass haben; denn sie sind es, die diesen Gesetzentwurf, wenn er eines Tages im Bundesgesetzblatt stehen sollte, umsetzen müssen. Es ist richtig - damit komme ich zur Beantwortung Ihrer ersten Frage -, dass ich hier in der Eigenschaft spreche, in der mich die Präsidentin des Hohen Hauses angekündigt hat, nämlich in der Eigenschaft als Justizminister des Landes Brandenburg und als Mitglied des Bundesrates. ({2}) Ich darf mit meinen Ausführungen fortfahren. - Frau Bundesministerin, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär, den ich sehr schätze und der heute ebenfalls anwesend ist, Minister Prof. Dr. Kurt Schelter ({3}) hatte in Potsdam versprochen, dass Sie sich mit den Ergebnissen der Fallstudien befassen, die in NordrheinWestfalen mit Ihrer Unterstützung durchgeführt worden sind, und zwar ganz rasch und unter Beteiligung der Länder. Sie wissen, dass ich in Potsdam sehr viel Aufmerksamkeit darauf verwendet habe, die vielfältigen Verkantungen und Verkrampfungen zwischen der politischen Leitung Ihres Hauses und den Ländern aufzulösen. Sie haben das leider in keiner Weise honoriert. Im Gegenteil: Das Verfahren, das Sie jetzt eingeschlagen haben, ist ein großer Rückschritt und macht die Zusammenarbeit mit Ihrem Haus nicht leichter. Nun zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Ich wiederhole: Eine fachliche Äußerung ist noch nicht möglich; sie wäre verfrüht. Aber ich räume ein, dass dieser Entwurf in einigen Bereichen bessere Lösungsansätze enthält und einige wenige gravierende Bedenken der Länder berücksichtigt. Das gilt zum Beispiel für das Einzelrichterelement; andere Kollegen mögen das anders sehen. Außerdem gibt es in diesem Gesetzentwurf, der heute beraten wird, die Abteilung „Überraschungen“: Das Abhilfeverfahren für Aufklärungsrügen hat seinen Weg aus der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts in den Bundestag gefunden. Ich meine, das ist gut so, aber nur für das Bundesverfassungsgericht. Es löst die Probleme der Justiz - der Amtsgerichte, der Landgerichte, der Oberlandesgerichte - nicht. Die wichtigste Frage heute lautet: Frau Bundesministerin, ist das Ihr Entwurf oder ist es auch Ihr Entwurf? Was gilt? Steht das Berufungsannahmeverfahren noch zur Debatte oder nicht? Soll die Berufungsinstanz nicht mehr strikt auf Fehlerkontrolle beschränkt sein oder überlegen Sie sich das noch? Werden die Hinweispflichten des Gerichts erheblich oder nur reduziert erweitert? Worüber wollen Sie mit uns reden? Wozu sollen wir Stellung nehmen? Sind Sie an der Meinung der Länder, am fachlichen Rat derer, die diese Reform in die tägliche gerichtliche Praxis umsetzen sollen, überhaupt interessiert? Frau Bundesministerin, eine Justizreform gegen die Länder und fast alle Verbände kann und wird nicht gelingen. Das Ergebnis wird jedenfalls keine große Reform, allenfalls ein großes Desaster mit viel Verärgerung, Verunsicherung und Verlust von Vertrauen unserer Bürger in den Rechtsstaat sein. Eine Justizreform, die zu mehr Aufwand führt, ohne die Aussicht auf raschere, bessere Entscheidungen mit noch mehr Akzeptanz, dient nicht dem Rechtsfrieden; sie schadet ihm. Unsere Justiz in Deutschland, auch in den neuen Ländern, arbeitet effektiver und besser, als ihre Kritiker zugeben wollen und die Reformvorhaben der Bundesregierung dies vermuten lassen. Wir sollten endlich gemeinsam in den Blick nehmen, wo wirklich Veränderungsbedarf besteht, und dann zu gemeinsamen Lösungen kommen der Bund, die Länder, die beteiligten Verbände und berufsständischen Organisationen. Lassen Sie uns also ab heute bei der Justizreform endlich miteinander und nicht übereinander reden. Dann hätte dieser gesetzgeberische Überfall wenigstens einen positiven Aspekt. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3750 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugenvernehmungen im 1. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern und dem Zeugen Dr. Kohl Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Hans-Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde nicht nur deshalb beantragt, weil wir der Meinung sind, dass sich der Deutsche Bundestag mit den Vorgängen im und um den Untersuchungsausschuss und im Zusammenhang mit dessen Arbeit beschäftigen sollte, sondern auch deshalb, weil wir die Auffassung der Fraktionsführung der CDU/CSU und der Parteiführung der CDU zu dem Verhalten ihrer Mitglieder im Untersuchungsausschuss und zur Vorbereitung von Sitzungen des Untersuchungsausschusses in der Öffentlichkeit diskutieren wollen. Wir wollen mit Ihnen nicht darüber diskutieren, was ein Abgeordneter normalerweise tun darf, ob er mit anderen Abgeordneten reden darf, ob er mit der Bevölkerung reden darf. ({0}) Das wissen wir alles, das ist selbstverständlich, darüber braucht man nicht zu reden. Aber, Herr Kollege Schmidt, wir wollen darüber reden, ob es richtig ist, ob es zulässig ist und was für ein böser Anschein damit verbunden ist, wenn sich die halbe Mannschaft der CDU/CSU im Untersuchungsausschuss in diesem Jahr jeweils einen Tag, einen Abend vor der Vernehmung wichtiger Zeugen mit dem Mittelpunkt der Arbeit dieses Ausschusses, mit dem Zeugen Helmut Kohl, trifft und ein- bis anderthalbstündige Gespräche führt. Sie haben sich an den Tagen vor der Vernehmung von Herrn Weyrauch, vor der Vernehmung von Herrn Terlinden, vor der Vernehmung von Frau Weber jeweils mit ihm getroffen. Was haben Sie dort besprochen? Minister Prof. Dr. Kurt Schelter ({1}) Wenn Sie uns sagen, Sie hätten allgemein darüber geredet, wie man terminieren könne oder ob man einer Übertragung der Vernehmung bei Phoenix zustimmen könne, Herr Schmidt, dann mag das stimmen. Aber es kann nicht sein, dass Sie sich allein deswegen dort getroffen haben; denn so viel Arbeitszeit haben auch Sie nicht zur Verfügung. Die zeitliche Nähe Ihrer Treffen mit Helmut Kohl zu der Vernehmung aller wichtigen Zeugen im Ausschuss und das Verhalten dieser Zeugen im Untersuchungsausschuss, wo sie plötzlich eine Mauer des Schweigens aufgebaut und sich ganz anders verhalten haben als in zahlreichen Interviews mit der Presse, erwecken den bösen Anschein, Herr Kollege Schmidt, dass bei diesen Treffen mehr geschehen ist, als dass Sie sich über Termine und eine Fernsehübertragung durch Phoenix unterhalten haben. Es legt den Verdacht nahe, dass dort Absprachen mit Helmut Kohl über ein allgemeines Zeugenverhalten getroffen worden sind und dass Ihre Arbeit im Untersuchungsausschuss und das Verhalten der Zeugen dort letztlich durch den Zeugen Helmut Kohl gesteuert worden sind. In alter Manier hat er dort die Regie geführt. ({2}) Sie hätten schon im Untersuchungsausschuss Gelegenheit gehabt, sich dazu zu äußern. Heute sollten Sie sich dazu äußern. Sie sollten sagen, ob Sie, Ihre Partei und Ihre Fraktion das als zulässig ansehen und Sie die wichtige Arbeit solcher Institutionen des deutschen Parlaments unterlaufen wollen, indem Sie die richtige und an der Wahrheit orientierte Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses geradezu konterkarieren und kaputtmachen. Das haben wir durch das Verhalten der Zeugen leider erleben müssen. Die heutige Aktuelle Stunde dient auch dazu, dass wir noch einmal Stellung zu dem abenteuerlichen - gestern habe ich gesagt: abwegigen; das entspricht ja dem Sprachgebrauch des ehemaligen Bundeskanzlers im Untersuchungsausschuss - Vorwurf an die neue Bundesregierung nehmen können, dass von ihr Akten vernichtet worden seien, ({3}) um dann später die Behauptung aufstellen zu können, die alte Bundesregierung habe das getan. Das kann schon deshalb nicht richtig sein, weil erstens die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Untersuchungsausschuss schon lange vor dem Oktober 1999 in die Diskussion gebracht und gefordert hat und weil zweitens - das ist doch das Entscheidende - die Datenvernichtungen zeitlich zuordbar sind, da unbestechliche Maschinen den Zeitpunkt aufgezeichnet haben. ({4}) Alle Datenvernichtungen haben nach der Bundestagswahl 1998 und vor dem Auszug der alten Regierung aus dem Kanzleramt stattgefunden. Damals sind in drei Nächten zwei Drittel des gesamten Datenmaterials vernichtet worden. Da kann man doch schlechterdings nicht behaupten, das habe nicht die frühere Bundesregierung zu vertreten, sondern das habe die Bundesregierung, die erst danach ins Kanzleramt eingezogen ist, veranlasst oder durchgeführt. Das ist völlig abenteuerlich, zeigt aber, dass der Zeuge Dr. Kohl nicht nur Zeuge sein will, sondern das Geschehen im und um den Untersuchungsausschuss und auch das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion und der CDU in diesem Lande aus seinem Abgeordnetenzimmer heraus maßgeblich steuert. Alle Beteuerungen von Frau Merkel und Herrn Merz, dass da inzwischen eine gewisse Distanz eingetreten sei, dass es sich um eine neue Partei, um eine neu formierte Fraktion handele, ({5}) werden Lügen gestraft durch das Verhalten der Untersuchungsausschussmitglieder der eigenen Fraktion.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unterstrichen wird dies durch die letzte Feststellung, die wir heute Nacht gegen 23 Uhr im Untersuchungsausschuss treffen konnten, nämlich dass bereits seit langem verabredet ist, dass Frau Merkel und Dr. Kohl am Vorabend des 3. Oktober zum zehnjährigen Bestehen des vereinten Deutschlands gemeinsam Reden halten werden - so der Terminkalender von Frau Weber. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Eckart von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Mich wundert es nicht, dass es dem Kollegen Ströbele nicht auf die Rechtslage ankommt. Es wundert mich auch nicht, dass er zum Ende seines Beitrags auf das gekommen ist, was ihn wirklich interessiert, nämlich nicht die Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss, sondern die Diffamierung der CDU. ({0}) Ich will ein paar Worte zur Rechtslage sagen, auch wenn, wie sich häufig gezeigt hat, Sie, Herr Ströbele, mit diesem Rechtsstaat auf Kriegsfuß stehen und Sie sich nicht zuletzt auf dem Anwaltstag dafür eingesetzt haben, die verfassungsmäßigen Auskunftsverweigerungsrechte einzuschränken. Ein Ausschluss des Kollegen Schmidt aus dem Untersuchungsausschuss wäre ein Verstoß gegen Art. 38 des Grundgesetzes. Untersuchungsausschüsse arbeiten nicht wie Gerichte auf der Grundlage richterlicher Unabhängigkeit. Sie ermöglichen vielmehr eine parlamentarische Kontrolle und sind damit ein politisches Instrument, bei dem die Mitglieder als Politiker und nicht als Richter auftreten. Das haben Sie in Ihrem Antrag, mit dem Sie den Untersuchungsausschuss eingesetzt haben, selber beschlossen. Denn Sie haben in Ihrem Antrag die IPA-Regeln als Grundlage der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses akzeptiert. Dort steht in § 5 Abs. 3 ausdrücklich, dass die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Ablehnung und Ausschließung von Richtern auf Ausschussmitglieder keine Anwendung finden. ({1}) Ihre Kritik ist nicht nur nicht konform mit der Rechtslage, sondern auch unlogisch und scheinheilig. ({2}) Unlogisch ist sie deshalb, weil, gesetzt den Fall, es gäbe die Möglichkeit einer Drehbuchaffäre, ({3}) also einer Absprache zwischen Ausschussmitgliedern und Zeugen, was es unter der SPD-Mehrheit in SchleswigHolstein gegeben hat, wir dann, wie das in SchleswigHolstein der Fall war, die Verfahrensherrschaft bräuchten. Die Verfahrensherrschaft hat man dann, wenn man im Ausschuss die Mehrheit hat. Wie Sie aber wissen, ist die CDU seit 1998 in der Opposition. ({4}) Das heißt, das, was Sie uns vorwerfen, kann es logischerweise gar nicht geben, weil wir gar nicht die Verfahrensherrschaft haben. ({5}) Ihre Kritik ist darüber hinaus scheinheilig, weil das, was Sie unserem Obmann vorwerfen, von Ihnen selber getan wird. Ihr Vorsitzender Neumann hat mehrfach mit dem mit Haftbefehl gesuchten Zeugen Schreiber Kontakt aufgenommen und mit ihm nicht nur Verfahrensfragen, sondern auch inhaltliche Fragen besprochen. ({6}) Ich will offen sagen: Ich habe nichts dagegen, wenn wir uns bei der Einsetzung des nächsten Untersuchungsausschusses darauf einigen, dass die Ausschussmitglieder richterähnliche Verpflichtungen erhalten. Aber dann gilt gleiches Recht für alle und nicht das, was Sie hier tun, nämlich dass Sie auf der einen Seite die derzeit bestehenden Rechte selbstverständlich selber in Anspruch nehmen und auf der anderen Seite unsere Kollegen diffamieren. ({7}) Es geht Ihnen überhaupt nicht um Aufklärung. Es geht Ihnen auch nicht um ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass Ihr Ausschussvorsitzender im Dezember vergangenen Jahres über die „Bild am Sonntag“ Ordnungsgeld und Beugehaft für Helmut Kohl androht, ohne sein verfassungsmäßig verbürgtes Auskunftsverweigerungsrecht anzuerkennen und ohne ihm die Möglichkeit zu geben, in den nächsten Wochen und Monaten überhaupt vor diesem Ausschuss aufzutreten? ({8}) Wie wollen Sie überhaupt einen logischen Zusammenhang zwischen der illegalen Parteienfinanzierung ({9}) und angeblicher Käuflichkeit von Regierungsentscheidungen herstellen, wenn Sie im Ausschuss überhaupt kein Interesse daran zeigen, der Frage der angeblichen Käuflichkeit nachzugehen? ({10}) Warum lehnen Sie jeden Antrag der CDU/CSU dahin gehend, diejenigen, die in der Regierung an verantwortlicher Stelle tätig waren, zu vernehmen, ab? Warum verweigern Sie die Vernehmung von Helmut Kohl zu diesen Fragen und geben ihm erst im Dezember dieses Jahres die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen? Warum werfen Sie ihm die angeblich von ihm und dem ehemaligen Minister Bohl zu verantwortende Löschung von Dateien vor, (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Nicht angeblich! Tatsächlich! während Sie ihm gleichzeitig den Bericht des Sonderermittlers vorenthalten? ({11}) Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, was in diesem Bericht auch steht - dies hat Herr Hirsch gegenüber Herrn Bohl zum Ausdruck gebracht hat -, nämlich dass Herr Hirsch nicht erkennen kann, dass sich im Laufe der Untersuchung eine Verantwortung seitens Herrn Bohl und des Altbundeskanzlers Helmut Kohl für diese Datenlöschung nachweisen ließ? ({12}) Ich will Ihnen sagen, warum Sie das alles nicht tun: Ihnen ist in Wirklichkeit an Aufklärung nicht gelegen. ({13}) Aus parteipolitischer Sicht habe ich für Ihr Verhalten durchaus Verständnis. Wären Sie aufgrund einer Parteispendenaffäre in einer ähnlich schwierigen Lage, würden wir es genauso machen. Darauf können Sie sich verlassen. ({14}) Sie müssen aber doch wenigstens die Gesetze der Logik einhalten. Wenn Sie also zwischen illegalen Spenden und einer angeblichen Käuflichkeit einen Zusammenhang herstellen wollen, dann müssen Sie doch zunächst einmal die Käuflichkeit beweisen oder zumindest bei Ihrer Tätigkeit im Untersuchungsausschuss den Willen an den Tag legen, diesen Vorwürfen überhaupt nachzugehen. ({15}) Nein, für Sie stand das Urteil bereits vor der Untersuchung fest. ({16}) Für Sie stehen die Beweisergebnisse fest, ohne zuvor eine Beweisaufnahme durchgeführt zu haben. ({17}) Das ist kein rechtsstaatliches Verfahren. ({18}) Damit schaden Sie nicht nur dem Ansehen des Untersuchungsausschusses, sondern dem des ganzen Parlaments. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Frank Hofmann.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr von Klaeden, es geht nicht darum, hier Gesetze der Logik einzuhalten, sondern darum, dass Sie Gesetze einhalten müssen. ({0}) Unter dem Eindruck der Ausschusssitzung des gestrigen Abends muss ich hier noch einmal sagen: Herr Dr. Kohl, nennen Sie die Namen der Spender! ({1}) Können Sie mir darin nicht zustimmen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU? ({2}) Ist das Ihre Art der Aufklärung? Herr Dr. Kohl, was Sie sich selbst zugestehen wollen, nämlich das Ehrenwort über das Gesetz zu stellen, müssten Sie doch auch jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland zugestehen, und das wäre für unsere Rechtsordnung untragbar. Dies ist ein Skandal! ({3}) Die Zusammenarbeit zwischen den CDU/CSU-Mitgliedern im Untersuchungsausschuss und dem Zeugen Helmut Kohl ist ein weiterer Skandal. Am Donnerstag vergangener Woche wollte man die Treffen zwischen Schmidt und Kohl noch vertuschen. Dann wurden sie heruntergespielt. Auf Druck musste man schließlich zugeben: Die Treffen fanden systematisch statt, nämlich immer vor wichtigen Zeugenaussagen, und dabei wurde - im Beisein von Mitarbeitern - über Inhalte des Untersuchungsausschusses gesprochen. ({4}) Trägt das zur Aufklärung durch den Untersuchungsausschuss bei oder ist das nicht vielleicht doch Vertuschung? Ob man die Pflichten eines Abgeordneten im Untersuchungsausschuss sinngemäß aus der Strafprozessordnung ableitet oder aus den gewachsenen Verhaltensregeln für jene Mitglieder, ist unwichtig. Fest steht: Wenn Herr Schmidt jederzeit mit Herrn Kohl über Inhalte des Untersuchungsausschusses reden möchte, dann darf er nicht Mitglied des Untersuchungsausschusses bleiben. ({5}) Dass die CDU/CSU ihre Pflichten im Untersuchungsausschuss durchaus kennt, zeigt sich daran, dass der stellvertretende Ausschussvorsitzende, Herr Friedrich, es abgelehnt hat, mit dem Zeugen Erich Riedl zu reden. ({6}) Umso mehr verwundert es mich, dass er bei Helmut Kohl antanzt. ({7}) Lässt man den gestrigen Beitrag seitens der Union Revue passieren, hat man wieder Steilvorlagen für das historische Geschwätz des Zeugen Kohl. ({8}) Zeigt sich bei Herrn Schmidt eigentlich Unrechtsbewusstsein? Ja, vergangenen Donnerstag mussten Kohl und Schmidt zugeben, dass es nicht nur Gespräche am Rande des Plenums, sondern auch systematische Treffen gab. ({9}) Auf Nachfrage im Untersuchungsausschuss erklärte Kohl, diese Treffen seien auf seinen Wunsch zustande gekommen. Aus dem Kalender von Frau Weber ergibt sich jedoch, dass es sich um eine Art Jour fixe handelte, immer terminiert vor wichtigen Zeugenaussagen. Herr Schmidt musste eingestehen, dass die Treffen mit Helmut Kohl auch auf seine Initiative hin zustande gekommen sind. ({10}) Hätte Herr Schmidt kein schlechtes Gewissen gehabt, hätte er die Karten an diesem Donnerstag vollständig auf den Tisch gelegt und hätte nicht rumgeeiert. ({11}) Herr Schmidt denkt und handelt wie ein „Kohlianer“. Treffend wird er in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ als Kleinausgabe von Helmut Kohl bezeichnet. Er gehört zu den Marionetten an den Fäden Kohls und hält das System Kohl mit am Leben. Er beschädigt das Ansehen des Parlaments und des Untersuchungsausschusses und ist deshalb nicht weiter tragbar. Eine Zusammenarbeit ist unzumutbar. ({12}) Die parlamentarische Kultur und die politische Hygiene erfordern, ({13}) dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, sondern Konsequenzen zieht. Herr Merz und Frau Merkel, ziehen Sie Konsequenzen! Herr Merz und Frau Merkel, ziehen Sie Herrn Schmidt aus dem Untersuchungsausschuss zurück! ({14}) Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Fraktionsspitze dies überhaupt nicht will. Sie wurde nach Aussage von Herrn Schmidt über die Treffen informiert; er hat Herrn Repnik informiert. Ist der Fraktionsvorsitzende Merz auch informiert worden? Ist er vielleicht in diesen Fällen nur ein vorgeschobener Posten im weiter funktionierenden System Kohl? ({15}) Herr Merz und Frau Merkel, wenn Sie sich vom System Kohl lösen wollen, dann können Sie jetzt die richtigen Zeichen setzen. Entsenden Sie ein neues Mitglied in den Untersuchungsausschuss, das keine krummen Touren macht, sondern tatsächlich aufklären will! Entsenden Sie jemanden, der weder der Kumpanei noch der Komplizenschaft verdächtig ist! Entsenden Sie jemanden, der nicht in die Fußstapfen Schmidts tritt, sondern auf eigenen Füßen steht! Erweisen Sie dem Parlamentarismus, dem im Grundgesetz verankerten Untersuchungsausschuss Ihren Dienst! Danke. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Aufgeregtheit der letzten Tage hat es einige retardierende Momente gegeben, bei denen man den Eindruck gehabt hat - das war zum Beispiel am Ende der Ausschusssitzung am letzten Donnerstag oder auch heute Vormittag bei einer Diskussion zwischen Herrn Schmidt, Herrn Wend und mir der Fall -, es gebe in diesem Parlament noch ein Bewusstsein dafür, dass dieser Untersuchungsausschuss auf eine ganz kritische Situation hinsteuert, nämlich eine Situation, die das Institut Untersuchungsausschuss schlechthin infrage stellt. ({0}) So wie jetzt in dieser Aktuellen Stunde agiert wird, habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass dies allen klar ist. ({1}) Meine Damen und Herren, hören Sie sich draußen einmal um, wie dieser Untersuchungsausschuss wahrgenommen wird. Er ist lange Zeit als inkompetent und erfolglos wahrgenommen worden. Jetzt werden seine Mitglieder als befangen wahrgenommen. Man merkt, dass die Erkenntnis noch nicht überall vorgedrungen ist, dass jetzt eine Diskussion um das Selbstverständnis solcher Untersuchungsausschüsse einsetzen muss. ({2}) Die Bevölkerung erwartet von uns - dazu gibt das gesamte Parlament den Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse den Auftrag -, dass wir schwierige Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, untersuchen, und zwar durchaus - das ist ja nicht verboten - von einer eigenen Position herkommend, aber mit der Bereitschaft, am Ende zu akzeptieren, was die Untersuchung erbracht hat. Dazu gehört, dass man es nicht bei Lippenbekenntnissen belässt, wenn man von der Bereitschaft zu umfassender Aufklärung spricht. ({3}) - Vorsicht, Herr Schmidt, Sie klatschen zu früh. - Denn in einer Befragung nur Stichworte für Monologe zu geben, die am zweiten Donnerstag wortgleich wie am ersten Donnerstag wiederholt werden, und dann immer noch zu sagen, der Zeuge komme hier nicht zu Wort, das ist es nicht. ({4}) - So war es gestern. Frank Hofmann ({5}) Wir brauchen, wie gesagt, nicht Lippenbekenntnisse, sondern die echte Bereitschaft zu umfassender Aufklärung. Aber wir brauchen auch die Bereitschaft und die Souveränität, an einem Ausschusstag nach der Beweisaufnahme vor die Fernsehkameras zu treten und zu erklären, heute habe sich ein bestimmter Verdacht, der zum Beispiel gegen die frühere Bundesregierung erhoben worden sei, nicht oder noch nicht erwiesen. ({6}) Auch diese Souveränität wird von Ausschussmitgliedern verlangt; ich vermisse sie bei anderen. Meine Damen und Herren, wir sind nicht blauäugig. Wir wissen genau, dass das, was unsere Fraktionen erwarten, in einem ziemlichen Gegensatz zur Erwartung der Öffentlichkeit steht. Unsere Fraktionen - reden wir nicht darum herum - wollen, dass das Ausschussergebnis so ist, dass jeweils die eigene Fraktion möglichst ungeschoren davonkommt und bei den anderen möglichst viel hängen bleibt. Dazu sollen wir durch unsere Tätigkeit beitragen, das ist die Erwartung, die an uns gestellt wird. ({7}) In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Ich sage Ihnen dazu eines: Wer hier meint, dass ein Untersuchungsausschuss ausschließlich ein politisches Kampfinstrument ist, der legt die Hand an die Wurzel dieses Instituts. ({8}) Denn dann können Sie die Diskussion überhaupt nicht mehr vermeiden, und diese Diskussion hat durch die eindrucksvolle Darlegung von Burkhard Hirsch in der letzten Woche noch gewonnen. ({9}) Ich konnte dabei nicht verstehen, dass man, bevor man den Bericht kannte, gesagt hat, Burkhard Hirsch sei nicht unparteilich. Diese Diskussion wird auf Folgendes hinauslaufen: Es ist womöglich besser, solche schwierigen Sachverhalte durch unabhängige Dritte, externe Untersuchungsführer überprüfen zu lassen, als sie den Parlamentariern in die Hand zu geben, wenn Sie sich dieses Instruments weiterhin so bedienen, wie das in den letzten Wochen auf allen Seiten geschehen ist. Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, dass hier Besonnenheit einkehrt und wir uns an einen Tisch setzen. Es gibt dazu Gelegenheit, weil auf Antrag der F.D.P.-Fraktion und auf Antrag der Koalitionsfraktionen Gesetzentwürfe über das Recht des Untersuchungsausschusses vorliegen. Im Zuge der Beratungen muss klargestellt werden, dass die Ausschussmitglieder unabhängig und nicht weisungsgebunden sind. Die Mitglieder müssen sich aber auch so verhalten, Herr Kollege Schmidt, dass schon der äußere Anschein vermieden wird, sie seien nicht mehr unabhängig. ({10}) Es kommt nicht darauf an, was bei solchen Begegnungen im Einzelnen genau besprochen wird. Die Grenzlinie ist schon vorher überschritten. Wer das von außen beobachtet, kann nicht mehr glauben, dass ein solches Ausschussmitglied unbefangen ist. ({11}) Wenn wir aus dieser Krise der Untersuchungsausschüsse etwas lernen wollen, dann ist es höchste Zeit, an die Gesetzgebung zu gehen und noch in diesem Jahr das Untersuchungsausschussgesetz zu verabschieden, und zwar mit den von uns vorgeschlagenen Ergänzungen, die bisher in beiden Entwürfen nicht enthalten sind. Es wäre etwas gewonnen, wenn wir uns für die Zukunft darauf einigen könnten, das Institut Untersuchungsausschuss so zu gebrauchen, dass es in der Öffentlichkeit dem Parlament an Ansehen zuträgt und nicht nimmt. Das ist nicht blauäugig oder idealtypisch gedacht, das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten beiden Wochen waren für unseren Untersuchungsausschuss wirklich ereignisreich, allerdings im negativen Sinne. Der von der Bundesregierung eingesetzte Sonderermittler, Herr Burkhard Hirsch, wies in seinem Bericht nach, dass Datenlöschungen und Aktenvernichtungen in unglaublichem Umfang im Bundeskanzleramt im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel vorgenommen wurden, dass es zwischen der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen in der 12. und 13. Wahlperiode und der Vernichtung sowie Manipulation von Akten einen unmittelbaren zeitlichen sowie inhaltlichen Zusammenhang gibt und dass Akten für die entscheidungsrelevanten Zeiträume nicht mehr aufzufinden sind. Das bestärkt mich in meiner Auffassung, dass es sich hierbei nicht um einen losgelösten Vorgang der Aktenvernichtung zum Ende der Regierungszeit Kohl handelt, sondern dass die Klärung der immer noch offenen Fragen, wer aus welchem Grund welche Akten vernichtet bzw. welche Aktenbestände „geflöht“ - so die Ausdrucksweise eines früheren Mitarbeiters im Kanzleramt - hat, eine Schlüsselaufgabe zur Erfüllung unseres Untersuchungsauftrags ist. ({0}) Eigentlich reicht schon dieser Aktenvernichtungsskandal. Aber die CDU sattelt noch eines drauf. Ich frage mich wirklich ernsthaft: Was hat Sie geritten, quasi regelmäßige erweiterte Arbeitsgruppensitzungen Ihrer Ausschussmitglieder zusammen mit Helmut Kohl, einem der wohl wichtigsten Zeugen, durchzuführen, und das auch noch mit Zustimmung Ihrer Fraktionsführung? ({1}) Zu der weitgehend geschlossenen Front von schweigenden und höchst vergesslichen Zeugen und zu dem Dilemma, dass wir uns mit zum Teil dürren Aktenfragmenten herumschlagen müssen, kommt nun auch noch der Verdacht der zielgerichteten Absprache von Zeugenverhalten unter Beihilfe von CDU-Ausschussmitgliedern. Herr Kollege Schmidt hat zwar in seiner gestrigen Vernehmung als Zeuge vor dem Ausschuss erklärt, dass er seine Rechte und Pflichten kenne und er keinerlei Absprachen mit Helmut Kohl im Hinblick auf dessen oder das Verhalten anderer Zeugen getroffen habe. Er lieferte aber keine plausible Erklärung dafür, dass er und weitere seiner Ausschusskollegen sich jeweils zeitnah, das heißt in der Regel einen Tag vor wichtigen Zeugenvernehmungen, mit Helmut Kohl getroffen haben. Wenn es jeweils nur um informatorische bzw. orientierende Gespräche zu den Komplexen Leuna/Minol und Saudi-Arabien ging, fragt man sich nach wie vor, warum man sich hierzu jeweils einen Tag vor der Vernehmung von Zeugen zu ganz anderen Themenkomplexen zusammengesetzt hat, und dies in der für den Ausschuss kostbaren Vorbereitungszeit. ({2}) Ich wundere mich, dass niemand auf die Idee gekommen ist, die jeweiligen Themenkomplexe in Klausurtagungen abzuhandeln und hierzu auch noch einen größeren Kreis von Mitgliedern der Fraktion einzuladen. ({3}) Aber vielleicht bekommen wir Obleute aus den anderen Fraktionen für Ihre nächsten informellen Treffen sogar eine Einladung. Der politische Anstand, lieber Kollege Schmidt, hätte es aufgrund des dringenden Verdachts zielgerichteter Zeugenabsprachen geboten, dass Sie als Obmann Ihrer Fraktion im Ausschuss die entsprechenden Konsequenzen ziehen; so sehr ich bedaure, Ihnen dies sagen zu müssen. ({4}) Nach dem Verlauf des gestrigen Tages und insbesondere auch dem Eingeständnis, dass diese intensiven Konsultationen mit Billigung der Fraktionsspitze stattgefunden haben, ist dies jedoch kaum noch zu erwarten. Der ganze Vorgang ist Ausdruck des Dilemmas, in dem sich die CDU-Führung befindet. Einerseits will sie ihren großen Altvorsitzenden retten, kann sich andererseits aber nicht von ihm lösen. Ihr ist das Unbehagen über Helmut Kohls uneinsichtige Haltung sehr anzumerken. Es wird deshalb höchste Zeit, Verhaltensregeln bzw. einen Ehrenkodex für das Verhalten von Ausschussmitgliedern gegenüber Zeugen interfraktionell zu verabreden. Ich halte die hierzu von der F.D.P.-Fraktion gemachten Vorschläge für eine sinnvolle Diskussionsgrundlage, um möglichst zügig zu einer Einigung zu kommen. In jedem Fall ist eine Verständigung noch vor Verabschiedung des Untersuchungsausschussgesetzes erforderlich. Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung erlaubt: Wenn wir jetzt nicht trotz aller Zuspitzung und parteipolitischem Geklapper der letzten beiden Wochen schleunigst auf die Sach- und Arbeitsebene zurückkehren, laufen wir Gefahr, uns immer weiter vom Untersuchungsgegenstand zu entfernen und den letzten Kredit, den der Ausschuss noch in der Öffentlichkeit besitzt, zu verspielen. ({5}) Wir sollten deshalb trotz aller berechtigten Kritik die heutige Debatte dazu nutzen, zu einem vernünftigen Arbeitsklima zurückzufinden, denn dieser Ausschuss hat einen wichtigen Auftrag zu erfüllen und darf nicht in erster Linie dem politischen Selbstzweck dienen. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um die politische Kultur in diesem Land. Es geht um Lauterkeit und Integrität von Politik und um Ehrenhaftigkeit von Politikern und Politikerinnen. ({0}) Es geht um Moral und Politik. Es geht um den Umgang mit der Verfassung und um die Achtung von Gesetzen, also um den demokratischen Konsens. Es geht um die Zukunft der Demokratie, denn sie basiert auf Glaubwürdigkeit und Transparenz. Es geht aber auch um den Verweis auf Ehrenworte, die höchst unehrenhaft sind, und das Bestehen darauf. Wenn Politik in den Geruch kommt, korrupt zu sein, wenn sie mit bemakeltem Geld beeinflusst wird, kommt bemakelte, dubiose Politik heraus. Dies muss notwendigerweise zu einem dramatischen Ansehensverlust führen, der eine Bedrohung für die Demokratie ist und ihr sehr großen Schaden zufügt. Dies war die Ausgangsposition des Untersuchungsausschusses. Dies ist der Anfangsverdacht. Ich erinnere an die Phase der öffentlichen Beteuerungen der CDU/CSU, „rückhaltlos“ - ich kann das Wort eigentlich nicht mehr hören - aufklären zu wollen. Man wolle dazu beitragen, dass offene Fragen beantwortet und objektive Verdachtsmomente entkräftet werden. Man erinnere sich an die großen, hehren Worte und den Gestus vom Neuanfang und von nachhaltiger Aufklärungsbereitschaft. Was ich in den letzten Tagen und Wochen im Untersuchungsausschuss erleben musste, verkehrt diese Ankündigungen in hohle Phrasen und ins pure Gegenteil. ({1}) Wo, bitte schön, sind der Neuanfang und die Aufklärungsbereitschaft, wenn Dr. Kohl in einer Art von selbstgerechtem Autismus in der Pose des Staatsmannes erstarrt, wenn er sich selbst auf das historische Podest erhebt, um sich dann mit all seiner Halsstarrigkeit ({2}) selber zu stürzen, wenn er verkündet: Ich denke gar nicht daran, Namen zu nennen? - Das unehrenhafte Ehrenwort, es bleibt die Richtschnur des Handelns und nicht Recht und Gesetz. ({3}) Es gibt keine Spur von Unrechtsbewusstsein, sondern nur Attacken auf den politischen Feind. In solchen Kategorien denkt Dr. Kohl: Tiraden gegen die Presse, historische Vergleiche, die wirklich jeder Beschreibung spotten. ({4}) Das System Kohl, es schlägt um sich: Vertuschen, Verdrängen, Verdecken, Vergessen. Aber es ist eben nicht nur Helmut Kohl, sondern auch - ich bedauere das sehr - Andreas Schmidt, der Obmann der CDU/CSU-Fraktion, der dieses System, diese Logik stützt und allerspätestens gestern gezeigt hat, was er vom großen Meister alles gelernt hat. ({5}) Er war es, der Ausschusssitzungen mit Dr. Kohl kontinuierlich, systematisch und akribisch vorbereitet hat. Er hat also gelernt, dass Verhaltensnormen in einem Untersuchungsausschuss für ihn scheinbar nicht gelten, dass die Pflicht der Abgeordneten, sich lauter und ehrenhaft zu verhalten, für ihn scheinbar nicht gilt; denn das würde und müsste bedeuten, Herr Schmidt, das Verbot der Kollaboration ({6}) mit den Personen zu beachten, deren Verhalten Gegenstand der Untersuchungen ist. Herr Schmidt, Sie haben gelernt, sich mit beachtlicher Chuzpe uneinsichtig und unbelehrbar zu zeigen. Anstatt gestern Einsicht walten zu lassen, haben Sie angekündigt, dass Sie genauso weitermachen wie bisher. Ich muss Ihnen sagen, Herr Schmidt: Eine solche Frechheit macht mich wirklich fast sprachlos. ({7}) Aber es ist mehr als freche Provokation, denn es bringt den ganzen Ausschuss in Misskredit. Es ist eine beispiellose Erosion, ein beispielloser Verfall der politischen Sitten. Deswegen hat der Ausschuss beschlossen, die CDU/CSU-Fraktion aufzufordern, Sie zurückzuziehen. ({8}) Es wird sehr deutlich, dass Neuanfang nicht nur heißt, Führungskräfte auszuwechseln und ansonsten Gras über den Skandal wachsen zu lassen nach dem Motto: Die Zeit läuft eh für uns. Wissen Sie was: Die Zeit läuft gegen die Demokratie in Deutschland; das ist das Schlimme. ({9}) Dazu trägt die CDU/CSU aktiv bei. Sie trägt dazu - das bedauere ich am allermeisten - mit immer unappetitlicheren und unanständigeren Mitteln bei. Ich finde es unanständig und unappetitlich und erbärmlich, wie Sie versucht haben, Burkhard Hirsch zu diskreditieren. ({10}) Burkhard Hirsch ist ohne jeden Zweifel - das sage ich nicht, weil ich einmal Jungdemokratin war - eine der integersten Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Was Sie mit dem Mittel der politischen Diskreditierung versucht haben, soll vom eigenen Skandal ablenken, der Vorstellungskräfte sprengt. Systematisch wurden Daten, Akten vernichtet, manipuliert, wurde ein Anschlag auf das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland verübt. Es ist nicht nur Ihr Gedächtnis. ({11}) Es ist auch das Gedächtnis meiner - Kinder habe ich nicht - Neffen und Nichten und deren Kindern. Es handelt sich um Akten, die Regierungshandeln nachvollziehbar machen. Diese Vernichtung war keine Panne, sie war kein Zufall und sie war kein Umzugsschwund, sondern sie war System. Jetzt müssen Sie beantworten, warum genau die Akten verschwunden sind, die exakt etwas mit dem Untersuchungsgegenstand zu tun haben. Was dem Fass - ich sage es jetzt als Schwäbin - de Bode endgültig naushaut, ist, zu sagen, die neue Regierung sei für diese Vernichtung verantwortlich, wie er es gestern getan hat. Aber es gibt ja noch den gesunden Menschenverstand und da wird klar, wie abenteuerlich eine solche Behauptung ist. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Roth, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz: Ich fordere im Sinne der Demokratie in diesem Land die neue CDU/CSU-Führung wirklich und aufrichtig auf, sich nicht zurückzuhalten, nichts stillschweigend zu billigen. Ich fordere Herrn Merz auf, von dem „Ich muss mich schützend vor Kohl stellen“ abzukehren. Beweisen Sie endlich, dass Moral und Politik kein Claudia Roth ({0}) Widerspruch sind, sondern dass Moral in die Politik gehört. Wenn sie sich widersprechen, dann kommt unmoralische Politik heraus. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner in der Debatte ist Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Tonart, Vokabular und Lautstärke meiner Vorrednerin zwingen mich jetzt, Folgendes auszuführen: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Untersuchungsausschusses oder eines Ehrenkodexes muss ich sagen, dass ich den größten Ehrabschneider dieses Hauses, den früheren Terroristenanwalt - und nicht nur Terroristenanwalt (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den denkbar schlechtesten Fürsprecher für die Forderung eines irgendwie gearteten Ehrenkodexes halte, meine Damen und Herren. ({0}) Das war die Provokation und die Antwort. Ich kann mich nämlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Ströbele seinen Kriegspfad noch nicht verlassen hat. ({1}) In meinem bisherigen politischen Leben bin ich davon ausgegangen, dass die politisch Andersdenkenden Konkurrenten, allenfalls Gegner, aber jedenfalls keine Feinde sind. ({2}) Diese an einen Vernichtungsfeldzug grenzende Kampagne, Herr Ströbele, ({3}) hat mich eines anderen, aber leider nicht eines Besseren belehrt. ({4}) Damit auf den groben Klotz der Frau Roth ein grober Keil kommt, will ich zu dem Teil der Rede kommen, die ich gehalten hätte, wenn Frau Roth nicht diese Töne angeschlagen hätte. ({5}) Als ehemaliger Richter eines Obergerichts in Hessen muss ich sagen: Ich kann nur den Kopf darüber schütteln, wie einige - je nachdem, wie es ihnen passt - den Untersuchungsausschuss in die Nähe eines Gerichtsverfahrens rücken. Weder die objektiven Kriterien - faires Verfahren, Beweislast, rechtsstaatliche Grundsätze - noch die subjektiven Voraussetzungen, die an ein Mitglied zu stellen sind - Herr Ströbele, dazu gehört unter anderem auch der Mangel an rechtskräftiger Verurteilung - dienen dazu, dieses Verfahren wie ein Gerichtsverfahren zu führen. ({6}) Herr Stadler, ich gebe Ihnen Recht: Es handelt sich um eine gewisse Zwitterstellung. Nur, der Herr Neumann ist mitnichten Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer, die Mitglieder des Ausschusses sind mitnichten Geschworene und Herr Kohl ist in diesem Verfahren auch nicht der Angeklagte. ({7}) Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie schon diese hohen Kautelen fordern, muss natürlich auch das Maß gleich sein. Nachdem mich die Vorrednerin provoziert hat, Herrn Ströbele aufs Korn zu nehmen, will ich einmal auf Herrn Neumann zu sprechen kommen: ({8}) Wie ist eigentlich das Telefongespräch zwischen ihm und einem der schillerndsten Figuren in diesem Komplex, nämlich Herrn Schreiber, zu bewerten? ({9}) Wenn der Herr Neumann einen entscheidungserheblichen Unterschied darin sieht, dass nicht er den Herrn Schreiber angerufen habe, sondern mit der Bitte zurückzurufen Herr Schreiber ihn, ist das eine groteske Einlassung. ({10}) Wenn die Konsequenz eines Gesprächs wie des Gesprächs von Herrn Schmidt mit Herrn Kohl ist, dass man Herrn Schmidt als Zeuge benennt, dann muss sich der Herr Neumann auch als Zeuge benennen lassen. Das geht nicht anders, sonst wird hier mit zweierlei Maß gemessen. ({11}) Allein die Einlassung, er habe offenkundige Tatsachen genannt, ist eine vorweggenommene Beweiswürdigung, Claudia Roth ({12}) die hier nicht zulässig ist. Herr Ströbele, Sie stigmatisieren jeden Ihrer politischen Gegner und verdächtigen ihn, er habe als mittelbarer Zeuge von den Spendernamen Kenntnis erhalten. Wer kennt denn eigentlich den Inhalt des Gespräches zwischen Herrn Neumann und Herrn Schreiber? ({13}) Ich will mir nicht die Diktion von Herrn Ströbele zu Eigen machen und mich nicht mit Ihnen gemein machen, indem ich den Vorwurf erhebe, hier würde eine Drehbuchlegende geschrieben. Wenn ich Ihre sophistische Art an den Tag legen würde, müsste ich sagen, Sie hätten genug Anlass gegeben. Wie ist zum Beispiel das Schreiben von Holzer an den früheren Bundeskanzler bereits am 27. September 1999 zum „Spiegel“ gelangt, obwohl erst am 13. Oktober der Kollege Beucher in seiner Anfrage vermeintlich den Anlass zur Suche gegeben hat? Ich werde nicht behaupten, dass dort Regie geführt wurde und der Regisseur im Kanzleramt saß. ({14}) Ich werde mich nicht mit ähnlich verleumderischen Argumenten oder in der gleichen Tonlage wie Sie hier präsentieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gehb, Sie haben das Stichwort „Tonlage“ gegeben. Bei allem Verständnis, dass der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde manchmal das Temperament durchgehen lässt, muss ich darauf hinweisen, dass dies dort seine Grenze findet, wo Kolleginnen und Kollegen beleidigt werden. ({0}) Ich möchte zumindest den Ausdruck „Ehrabschneider“ zurückweisen. Dies ist kein Ordnungsruf, aber ich möchte Sie darauf verweisen, dass ein solcher Umgang mit Kolleginnen und Kollegen nicht dem Stile des Hauses angemessen ist. ({1}) Ich erteile jetzt dem Kollegen Rainer Wend für die SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr von Klaeden, ich muss Ihnen vorab eines ganz deutlich sagen: ({0}) Was Sie hier vorgeführt haben, war nicht die von Ihnen immer wieder beschworene brutalstmögliche Aufklärung, sondern vielmehr die brutalstmögliche Verteidigung des Systems Kohl, was ich in dieser Situation für unangebracht halte. ({1}) Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen etwas Weiteres sagen: Wenn Sie als jüngere Führungskraft in der CDU nicht kapieren, dass Sie auf diesem Weg einhalten und umkehren müssen, dann werden Sie Ihre Partei ins Verderben führen, und daran kann niemand in unserem Land ein Interesse haben. ({2}) Ich muss Ihnen deutlich sagen - Herr Repnik ist leider gerade herausgegangen -: Nach dem, was Herr Gehb hier geboten hat, hätte sich die CDU einen Gefallen getan, wenn sie ihn nicht als Redner nominiert hätte. ({3}) Er hat nicht nur andere Parlamentarier beleidigt. Wer in unserem Lande angesichts der Tatsache, dass die CDU Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank geführt hat, Unterlagen in einem Safe in der Schweiz gelagert und die Stiftung Norfolk in Liechtenstein gegründet hat, uns einen Vernichtungsfeldzug vorwirft, hat jedes Maß an Realitätssinn verloren. ({4}) Weder Herr von Klaeden noch Herr Gehb haben verstanden, dass ich Herrn Schmidt nicht vorwerfe, er habe mit Kohl kollaborierend den Untersuchungsausschuss in die Irre führen wollen. ({5}) Ich werfe ihm Folgendes vor: Wer sich am Vorabend der Zeugenvernehmung von Herrn Weyrauch, der für die CDU Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank angelegt hat, mit Herrn Kohl trifft, wer sich am Vorabend der Vernehmung von Herrn Terlinden, der das Geld von Herrn Kohl physisch entgegengenommen und an Herrn Weyrauch weitergeleitet hat, aber vor dem Ausschuss schweigt, mit Herrn Kohl trifft und wer dann zwei Tage vor der Vernehmung Kohls mit diesem Termine in seinem Büro vereinbart und sich von der Zeugin Weber den Kaffee servieren lässt - wie Sie es uns noch nett geschildert haben -, der erweckt den Eindruck, er sei als Mitglied des Untersuchungsausschusses nicht mehr unabhängig. Sie tun etwas, was ich schlimmer finde: Sie laufen Gefahr, im System Kohl wiederum von Ihrem früheren Matador missbraucht zu werden. Kohl baut doch wieder ein Netz von Abhängigkeiten auf. Das ist ein Netz von Kumpaneien. Das ist ein Versuch, um am Ende Frau Merkel und Herrn Merz wieder in eine Loyalität mit ihm zu zwingen, um zu verhindern, dass die CDU den endgültigen Bruch mit ihm vollzieht, Herr Schmidt. Vollziehen Sie den Bruch und machen Sie keine Kumpanei mit Kohl! ({6}) Ich habe vor einer halben Stunde eine Tickermeldung bekommen, in der es heißt: Mehr als die Hälfte ({7}) der Deutschen ist der Meinung, dass die Politik der Regierung von AltBundeskanzler Helmut Kohl ... käuflich war. ({8}) Nur 38 Prozent aller Befragten glauben, dass die einstige Regierung bei ihren Entscheidungen nicht bestechlich war, ... Ich sage Ihnen heute eines: So lange Sie nicht auch über gerichtliche Schritte Helmut Kohl zwingen, die Namen der Spender bekannt zu geben, solange Sie die Geheimnisse um die Safes in der Schweiz, um die Stiftungen in Liechtenstein und die Schwarzkonten einer Frankfurter Privatbank nicht aufklären können, so lange werden Sie den Ruf nicht los, dass Ihre Regierung bestechlich war, meine Damen und Herren. Das ist Ihre Aufgabe. ({9}) Deshalb habe ich die dringende Bitte an Ihre Parteivorsitzende, Frau Merkel, und an Ihren Fraktionsvorsitzenden, Herrn Merz, dafür zu sorgen, dass Sie in Zukunft in diesem Untersuchungsausschuss einen anderen Weg gehen, Herr Schmidt. Verstehen Sie Ihre Hauptaufgabe im Untersuchungsausschuss nicht darin, politisch gegen die Sozialdemokratie zu kämpfen. Kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass der dunkle Schleier über dem System Kohl gelüftet wird. Dann hätten wir alle gemeinsam etwas für unser Parlament und für die Arbeit im Untersuchungsausschuss geleistet. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Bötsch hat seine Rede, die er jetzt halten wollte, zu Protokoll ge- geben.1) Ob dies in der Aktuellen Stunde möglich ist, lasse ich heute dahingestellt sein, weil wir alle in die Sommerpause gehen wollen. Deswegen erteile ich jetzt dem Kollegen Cem Özdemir vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den Gegenstand der heutigen Diskussion stand in der „Süddeutschen Zeitung“ vom gestrigen Tage von Herbert Riehl-Heyse im Feuilleton: Das Parlament gibt sich in solchen Momenten auf und es ist von großer innerer Logik, dass das im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Ära Kohl so deutlich geworden ist. Helmut Kohl hat - als er sein System erst einmal etabliert hatte - nur noch wenig Verständnis für die Notwendigkeit und die Schönheit der Gewaltenteilung gehabt. In seinen Kabinettssitzungen saßen kunterbunt unter die Minister gemischt die Anführer und Einpeitscher der Parlamentsfraktionen; von seinem Kanzleramt aus wurde derart ungeniert die Partei regiert, dass sich die Beamten, nachdem vor der Machtübergabe nächtens noch schnell die Festplatten gesäubert worden waren, sogar noch darauf berufen haben, es habe sich vor allem um CDU-Interna gehandelt. Als hätten die etwas in der Regierungszentrale verloren. Meine Damen und Herren, hier ist in vortrefflicher Weise beschrieben worden, was wir heute als System Kohl bezeichnen und was Gott sei Dank der Vergangenheit angehören wird. Meine Damen und Herren, von diesem System Kohl - ich will das ohne Polemik sagen - haben Sie in zum Teil sehr schwieriger Weise sich zu lösen versucht. Sie haben Ihre gesamte Parteispitze, Ihre gesamte Fraktionsspitze ausgewechselt, nachdem in Bruchteilen deutlich geworden ist, was als System Kohl bezeichnet wird. Dafür haben Ihnen viele Kollegen aus dem Hause Respekt gezollt, insbesondere der neuen Parteivorsitzenden. Ich erinnere an den Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - er war in Ihren Reihen nicht unumstritten über die Abrechnung mit dem Ehrenvorsitzenden, den Sie mittlerweile verloren haben. Meine Damen und Herren, die Berichte, die wir jetzt aus dem Untersuchungsausschuss bekommen und was wir in diesen Tagen hören, ist nichts anderes als die Exhumierung des Altkanzlers, die gegenwärtig in Vorbereitung ist. Der Altkanzler soll als Denkmal und Symbol wieder auferstehen. Die neue Unionsführung schafft es gerade nicht, die Nabelschnur zu kappen. Sie laufen herum wie geprügelte Kinder, die zwar über ihren Alten schimpfen und jammern, sich aber trotzdem nicht von ihm lösen können. ({0}) Frau Merkel und Herr Merz agieren ein bisschen so wie Flugschüler, die zwar eifrig am Steuer drehen, sich dann aber bei Turbulenzen darauf verlassen, dass der alte Leh- rer noch immer den Kurs vorgibt und weiß, was richtig ist. Herr Kollege Schmidt, Sie setzen Ihr eigenes Fehlver- halten bewusst ein, den Ausschuss zu beschädigen und da- mit das ganze Parlament und sein Ansehen zu demontie- ren. Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen ist eines der zentralen Rechte des Parlaments. Sie sind ein Teil des wiedererstarkten Systems Kohl. Herr Schmidt, Sie kön- nen es drehen und wenden, wie Sie wollen: Nach Ihrem Treffen mit dem Altkanzler haben Sie Ihre Glaubwürdig- keit irreparabel beschädigt. Das allein wäre vielleicht noch verkraftbar. Aber für die CDU, glaube ich, kommt das einer Katastrophe gleich. Schaden haben nicht nur die Union und Herr Schmidt genommen. Schaden nehmen wir alle: Schaden nimmt das Ansehen des Parlaments; Schaden nimmt das Ansehen der Politik; Schaden nimmt das Ansehen jedes Politikers, der sich für Ziele und In- 1) Anlage 5 halte engagiert; denn wir alle setzen uns dem Verdacht aus, dass das, was das System Kohl war, für uns alle gilt. Deshalb appelliere ich: Gehen Sie weiter auf dem Weg, den Sie schon einmal eingeschlagen hatten! Die Union war schon einmal weiter. ({1}) Gegenwärtig laufen Sie mit Siebenmeilenstiefeln dorthin zurück, wo Sie angefangen haben, die Ära Kohl aufzuarbeiten. Machen wir uns für den Bruchteil einer Sekunde - länger hält man es nämlich nicht aus - einmal den Spaß, uns vorzustellen, was eigentlich passiert wäre, wenn es keinen Regierungswechsel gegeben hätte und wenn das, was wir heute wissen, aufgedeckt worden wäre. Ich glaube, wir hätten es mit einer Staatskrise zu tun. Ich weiß, wovon ich rede. Stellen Sie sich vor: Helmut Kohl wäre noch immer Kanzler und die Union wäre, so wie sie sich gegenwärtig präsentiert, die größte Regierungsfraktion und müsste das alles aufarbeiten. ({2}) Wir haben inzwischen gesehen, dass die Union es noch nicht einmal schafft, sich vom Altkanzler loszulösen. Um wie viel schwerer wäre es Ihnen gefallen, sich von einem Kanzler zu lösen, der noch regiert hätte? Deshalb kann man froh sein, dass es einen Regierungswechsel gegeben hat, der uns die Chance bietet, alles aufzuarbeiten. Vernunft wird bei Ihnen zunehmend durch die Definition von Gefolgschaft ersetzt. Es wird nur noch gefragt: Bist du für oder bist du gegen Dr. Kohl? Es steht nicht mehr die Frage im Mittelpunkt: Was ist eigentlich die Wahrheit? Aber mit der Beantwortung dieser Frage sollten wir uns eigentlich beschäftigen. ({3}) Die Union ist - ich glaube, ich spreche für die Mehrheit in diesem Hause - bedauerlicherweise nicht bereit bzw. noch nicht bereit - ich hoffe, dass sich die Bereitschaft noch einstellen wird -, aus der Sackgasse des Schweigens auszubrechen, in die sie sich hat führen lassen. Sie zahlen dafür einen sehr hohen Preis oder - wie es von Brauchitsch im Titel seiner Memoiren genannt - den Preis des Schweigens. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den bisherigen Verlauf der Aktuellen Stunde Revue passieren lässt, dann wird das evident, was mein Eindruck - ich gehöre dem Untersuchungsausschuss nicht an - vom Untersuchungsausschuss ist: Er ist längst und ausschließlich ein politisches Kampfinstrument geworden. ({0}) Er ist längst nicht mehr das Institut - ich nehme das auf, was Herr Stadler gesagt hat - einer parlamentarischrechtsstaatlichen demokratischen Kontrolle zur Aufklärung von bestimmten Missständen oder Zuständen. ({1}) Hier werden im Grunde systematisch Kampfstrategien gefahren. Dies setzt sich heute hier eindeutig fort. ({2}) Der Großteil der Reden, die heute hier gehalten worden sind, besteht aus nichts anderem als aus der Wiederholung bestimmter Urteile oder Vorverurteilungen, nur mit dem Unterschied - das ist offenkundig der formale Ansatzpunkt für diese Debatte -, dass man jetzt ein neues Opfer braucht. Das ist der Kollege Schmidt, ({3}) den man jetzt auch wegen irgendwelcher aus der Luft gegriffenen Dinge möglichst schnell verurteilen möchte. ({4}) Herr Hofmann hat Herrn Schmidt - Verzeihung, Frau Präsidentin, ich wünschte mir, dass Ihre Vorgängerin das aufgegriffen hätte - wörtlich als „Komplizen“ bezeichnet. Komplize wovon? ({5}) Es gibt bisher keine Erkenntnisse, die in irgendeiner Weise eine Verurteilung zulassen. Das Wort „Kollaborateur“ - was ist denn das für ein Begriff? - haben Sie ebenfalls gegenüber Herrn Schmidt benutzt. Ist das Ihr Stil, ({6}) mit dem Sie das in der Tat schwierige, diffizile Feld eines Untersuchungsausschusses bearbeiten? ({7}) Sie setzen hier nichts anderes fort als das, was Sie im Untersuchungsausschuss bisher getan haben. Ich unterstreiche erneut das, was Herr Stadler gesagt hat: Der Untersuchungsausschuss ist ein wichtiges Institut. Ein Untersuchungsausschuss hat sich aber an rechtsstaatliche Verfahren zu halten. Es ist nicht gut, dass ein Untersuchungsausschuss nach dem sich inzwischen ständig wiederholenden Szenario abläuft: Eine Behauptung wird in den Raum gestellt, anschließend kommt der große öffentliche Auftritt im Fernsehen - die Verdächtigung und dann muss sich irgendjemand exkulpieren. Das hat nichts mehr mit dem Prinzip eines objektiven Verfahrens, bei dem es um Zeugenvernehmung geht, zu tun. ({8}) Die Strategie hinter der Diffamierung besteht darin, bestimmte Personen in einen Rechtfertigungs-, einen Exkulpationszwang zu versetzen. ({9}) Genau das gleiche Spiel veranstalten Sie jetzt mit dem Kollegen Schmidt und anderen Kollegen meiner Fraktion. ({10}) Es ist absolut legal und legitim - ich benutze sehr bewusst beide Worte -, dass in einer Situation wie der von Helmut Kohl - er wollte vor Weihnachten aussagen; das wollen Sie nicht; lieber fahren Sie die Szenarien mit immer neuen Verdächtigungen - selbstverständlich auch ein Stück Fürsorge und Gewährleistung von rechtlichem Gehör stattgefunden hat. ({11}) Wenn ich etwas aus diesem Untersuchungsausschuss höre, dann frage ich mich manchmal: Hat man eigentlich den Begriff des rechtlichen Gehörs noch im Sinn? Hat man das verstanden? Zu einem Untersuchungsverfahren gehört auch rechtliches Gehör! ({12}) Das wird systematisch missachtet. Daher bleibt einer Fraktion wie der Union, die insgesamt vielfältig diskriminiert und diffamiert wird, gar nichts anderes übrig, als dass sie ihre Chancengleichheit zu wahren sucht. ({13}) Es gehört sich so, dass sie sich informiert und verständigt. Das ist selbstverständlich. Wenn Sie Mitglieder des Untersuchungsausschusses in den Zeugenstatus erheben und sie damit, genau genommen, neutralisieren wollen - nichts anderes ist das -, dann bedenken Sie bitte - das ist hier zu Recht angesprochen worden -, dass das Recht und die Pflicht für alle gelten. ({14}) Sie alle, die Sie entsprechende Gespräche geführt haben, werden dann im Zeugenstand sein. Ich erinnere an das Gespräch mit dem unsäglichen Herrn Schreiber. ({15}) Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle auf, endlich dafür zu sorgen, dass dieser Herr Schreiber ausgeliefert wird, damit er endlich nach Deutschland kommt. ({16}) Wenn das geschieht, können Sie ihn im Untersuchungsausschuss vernehmen und dann müssen Sie nicht telefonieren. Das ist viel wichtiger. Aus meiner Sicht ist das das Entscheidende. Ein Schlusswort. Wenn Sie das Untersuchungsverfahren in dieser Art, wie es heute im Plenum geschieht, fortsetzen - weitere Diffamierungen, Verdächtigungen und Ähnliches -, dann droht in der Tat das, was der Kollege Stadler mit sehr berechtigter Ernsthaftigkeit zum Ausdruck gebracht hat.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, wir sind in der Aktuellen Stunde. Kommen Sie bitte um Schluss!

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wichtige parlamentarische - natürlich immer umkämpfte - Institut Untersuchungsausschuss droht in Gefahr zu geraten. Das sollten Sie sich immer vor Augen halten. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun dem Kollegen Peter Danckert, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scholz, Sie haben eben davon gesprochen, dass es um Diffamierungen und Verdächtigungen geht. Ich frage Sie: Was ist denn mit den Millionen, mit den Schwarzgeldern? Handelt es sich dabei um Verdächtigungen oder um Fakten? Wir wissen ja inzwischen, dass es sich um Tatsachen handelt. ({0}) Herr Scholz, was ist mit der Millionenspende, die Herr Schreiber Herrn Kiep und damit der CDU gegeben hat? Sind das Verdächtigungen? Was ist mit den 100 000 DM, die Herr Schäuble bekommen hat? Handelt es sich um Verdächtigungen oder um Tatsachen? ({1}) Wir versuchen im Untersuchungsausschuss, die Tatsachen, die uns bekannt sind, mit dem Untersuchungsauftrag in Einklang zu bringen. Wir werden sehen, was am Schluss herauskommt. Diese Punkte sind knallharte Fakten und keine Verdächtigungen. Nun zu dem, was uns eigentlich veranlasst hat, heute diese Aktuelle Stunde durchzuführen. Herr Kollege Schmidt, ich sage es ganz freimütig, auch wenn ich damit teilweise etwas anderes sage als die Kollegen. Wenn es nur um Ihre fünf bis acht Besuche bei Herrn Kohl gegangen wäre, dann hätte ich gesagt, das war ein grober Fehler - das habe ich Ihnen gesagt -, aber das hätte diese Aktuelle Stunde nicht erfordert. Wir müssen das aber im Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen sehen. Uns liegen, wie Sie wissen, die Unterlagen der Staatsanwaltschaft Bonn vor. Darunter befindet sich ein Papier - Sie wissen, Kommissar Zufall hilft uns da weiter - von Herrn Lüthje, nicht von uns. In diesem eindrucksvollen Papier berichtet er von einem Drehbuch, das 1984 und 1986 zur Rettung von Herrn Kohl erstellt worden ist. Mit Falschaussagen hat man ihn damals vor dem Verlust der Kanzlerschaft gerettet. Das sind die Fakten, die sich aus diesem Papier ergeben. Aufgrund der vielen Andeutungen, die Zeugen gemacht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es immer wieder Absprachen gegeben hat. ({2}) Damit haben Sie allerdings ein Problem bekommen, da auch Sie jetzt den Verdacht hervorgerufen haben, an einem weiteren Drehbuch mitzuwirken. Das ist der Punkt. ({3}) - Regen Sie sich einmal ab, Herr Schmidt! Sie sind doch derjenige, der das hier ausgelöst hat. Auch wenn Sie nicht in richterlicher Funktion tätig gewesen sind, müssten Sie meines Erachtens als Anwalt - nicht als Abgeordneter - so viel Sachverstand haben, um zu begreifen, dass Sie den bösen Schein vermeiden müssen. ({4}) Den haben Sie doch zumindest durch Ihre Aktivitäten im Umfeld von Herrn Kohl hervorgerufen. Jemand sagte sogar: als Marionette von Herrn Kohl. Diesen Ausdruck möchte ich gar nicht übernehmen, er ist aus der Zeitung. Aber durch Ihre ständigen Besuche bei Herrn Kohl - man hat fast den Eindruck, dass Sie pflichtbewusst dort hingegangen sind - haben Sie einen bösen Schein hervorgerufen. Wenn Sie das wenigstens noch eingeräumt hätten, dann hätten wir ja einen Weg gefunden, um gemeinsam miteinander neue Verfahrensregeln zu vereinbaren. Mich hat aber, ehrlich gesagt, betroffen gemacht, dass Sie darin noch nicht einmal einen Fehler gesehen haben und kein Wort dazu gesagt haben. Das hätte Ihnen dann auch keiner übel genommen. ({5}) In dem Moment, in dem Sie gesagt hätten: „Ich bekenne, das war eine unbedachte Sache; ich glaubte, ich hätte etwas Richtiges gemacht, aber ich sehe die fatale öffentliche Wirkung“, wären wir wieder gemeinsam im Boot gewesen. Das ist jedenfalls meine Meinung. ({6}) Ich glaube, auch den Kollegen Stadler hat es unangenehm berührt, dass Sie bis zum heutigen Tage sagen: Das war richtig und - jetzt kommt’s - das mache ich weiter so. Wir sind alle aufgerufen, darüber nachzudenken, ob wir die Verfahrensregeln nicht so eindeutig gestalten, dass Sie gar nicht mehr in die Versuchung kommen, so zu handeln, wie Sie gehandelt haben. Das bedeutet, dass wir unsere Regeln verändern müssen und wirklich ein vernünftiges Untersuchungsausschussgesetz zustande bringen müssen, bei dem solche Dinge nicht mehr möglich sind. Ich finde, das ist unabweisbar. Auch wenn Sie, Herr Schmidt, an dieser Stelle nicht das Amt eines Richters bekleidet haben, so sind Sie doch auch nicht der Rechtsberater von Herrn Kohl. Es muss Ihnen doch einleuchten, dass Sie hier eine neutrale, zurückhaltende Position einnehmen müssen und dass Sie die in dem Moment verlassen, sobald Sie den Zeugen permanent besuchen. Es gibt hier für uns ja auch Regeln - Herr Scholz wird mir das bestätigen -, die sich nicht nur aus der unmittelbaren Anwendung der StPO ergeben, sondern auch aus den IPA-Regeln, die besagen, dass die Zeugen unabhängig voneinander nacheinander zu hören sind. Was macht es für einen Sinn, wenn Sie regelmäßig den Hauptzeugen über das, was abgelaufen ist, informieren? Es geht dabei doch gar nicht um Zeugenbeeinflussung, sondern um Informationen. ({7}) - Eine öffentliche Sitzung? Dann können wir es gleich so machen, Herr Schmidt, dass wir alle Zeugen in den Zuschauerraum bitten, damit sie dort Platz nehmen und alles hören können. ({8}) Gerade das soll durch die Übernahme der IPA-Regeln und die unmittelbare Anwendung der Strafprozessordnung unterbunden werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit. Ihre fünf Minuten sind vorbei.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Ich meine, dass wir aufgrund des von Ihnen zu verantwortenden Vorfalls aufgerufen sind - und zwar schnell; ich sage: noch in diesem Jahr, möglicherweise noch für das laufende Verfahren -, gemeinsam ein straffes, korrektes und vor allen Dingen auch scharfes Untersuchungsausschussgesetz zu schaffen; denn die bisherigen Regelungen dienen nur der Verunklarung und der Verhinderung der Aufklärung. Ich glaube, wir alle haben ein Interesse daran - auch Sie müssten letztlich ein Interesse daran haben -, dass dieser ungeheuerliche Verdacht mehr als ein Verdacht ist es im Moment ja noch nicht ({0}) aufgeklärt wird, ({1}) aber so, dass alle mitwirken und dass die Zeugen zur Wahrheitsfindung beitragen. ({2}) Sie sollten sich nicht wie Herr Kohl verhalten, der jedes Mal gebetsmühlenartig das wiederholt, was wir schon lange zuvor von ihm gehört haben. Herr Schmidt, insofern bedaure ich Sie wegen Ihrer sechs Besuche bei Herrn Kohl. Sie haben wahrscheinlich immer dasselbe gehört, nämlich das, was wir gestern und auch vor acht Tagen gehört haben. Vielen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letztem Redner erteile ich dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher von der SPD-Fraktion das Wort.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Tatort Kanzleramt“, ich greife dieses Wort von Herrn Kohl auf, das er gestern als ziemlich wirren Vorwurf gegen die Bundesregierung erhoben hat. Während bei mir die Entscheidung der FIFA am gestrigen Tag, die Weltmeisterschaft nach Deutschland zu vergeben, Freude ausgelöst hat, hat der Freudentaumel bei Herrn Kohl in der anschließenden Vernehmung offensichtlich einiges durcheinander gebracht. Da setzt er doch mit unglaublicher Unverfrorenheit die Behauptung in die Welt, das Kanzleramt unter Gerhard Schröder habe mit der Aktensuche im Oktober 1999 gezielt diesen Untersuchungsausschuss vorbereitet. Er bezieht sich dabei auf ein Papier, das genau das Gegenteil aussagt: Die Aktivitäten des Kanzleramtes im Oktober bezogen sich nämlich auf eine Anfrage von mir. Ich habe mich dabei tatsächlich auf einen Untersuchungsausschuss bezogen. An Herrn Kohl und seine Helfershelfer gerichtet, sage ich: Dieser Untersuchungsausschuss hieß „Veruntreutes DDR-Vermögen“ und existierte in der vorigen Legislaturperiode. Herr Gehb, man gebe Ihnen Verstand und vielleicht auch eine Brille! ({0}) Meine Fragen an die Bundesregierung nach den verschwundenen Leuna-Akten waren nämlich von Ende September 1999. Erst danach erschien der „Spiegel“-Bericht. Erst nachdem ich die Fragen an die Bundesregierung gestellt hatte, konnte sie mit der Suche beginnen, die ja bekanntermaßen in einem Desaster endete. ({1}) - Das einzige, was wir von Ihrem Schreien verstanden haben, war die Angabe 13. Oktober. - Im Untersuchungsausschuss haben wir das gestern klarstellen können. Helmut Kohl hat dann seine noch eine Stunde zuvor zusammenfantasierten Vorwürfe gegen die heutige Bundesregierung kleinlaut relativiert. „Tatort Kanzleramt“, dieser Begriff passt aber tatsächlich wie die Faust aufs Auge. Nur: Die Tatzeit liegt in den Jahren 1998, 1997 und auch in den Jahren zuvor, also in den Jahren vor dem Regierungswechsel. ({2}) Der Hirsch-Bericht beweist, wie es im Kanzleramt unter Kohl zugegangen ist. So schlimm ist es da zugegangen, dass der Staatsanwalt jetzt tätig werden muss. Mit krimineller Energie wurden unter Kohls und Bohls Verantwortung Computerdaten gelöscht, Akten manipuliert und meterweise Unterlagen beseitigt. ({3}) - Herr Scholz, diesen Vorwurf können Sie an dieser Stelle nicht schönreden. Das ist Fakt. ({4}) Herrn Schmidt muss ich an dieser Stelle sagen: Ihre Treffen mit Herrn Kohl haben zumindest bewirkt, dass sich das gestörte Verhältnis des Herrn Kohl zur Realität auf Sie übertragen hat. Da laufen Sie seit Monaten immer mit der gleichen Behauptung durch das Land, von den verschwundenen Akten im Kanzleramt seien im Bundestag Kopien vorhanden. ({5}) Herr Schmidt, ich befürchte, Sie kriegen es einfach nicht in den Kopf, weil Sie es nicht wahrhaben wollen. Wir reden hier nicht von der Vernichtung von sechs Ordnern mit Originalen, ({6}) die zum Teil in Kopie vorliegen. Es geht hier um Akten in einer Größenordnung zwischen 50 und 100 Ordnern, die allein im Bereich Leuna vollständig beseitigt worden sind. ({7}) Herr Schmidt, dem Deutschlandfunk haben Sie am 30. Juni gesagt, Sie hätten mit Herrn Kohl strategische Fragen abgestimmt. Übrigens seltsam, dass Sie das gestern im Untersuchungsausschuss nicht wiederholt haben. Aber unabhängig davon: Ich glaube Ihnen das insoweit, als Herr Kohl Ihnen die Strategie vorgibt. Die unverschämte Art und Weise, wie Sie Burkhard Hirsch denunzieren, ({8}) egal ob Sie selbst oder Herr Repnik oder sonst einer aus Kohls Komplizenschaft, ist auf Kohls Mist gewachsen. Kein anderer als Herr Kohl hat diese ekelhafte Diffamierungskampagne bei dem Treffen der CDU-Ausschussmitglieder am 26. Juni vorgegeben. Am 27. Juni schicken Sie Herrn Repnik in die Bütt, am 28. Juni steht es in der Zeitung und am 29. Juni wiederholt Herr Kohl diesen Mist im Ausschuss noch einmal. Mir zeigt das deutlich, dass Ihre so genannte neue CDU nach wie vor vom Alten regiert wird. ({9}) Aber abgesehen von der richtigen Kritik meiner Vorredner an Ihrer Verhaltensweise als Obmann, abgesehen von Ihren unglaubwürdigen Aussagen gestern im Untersuchungsausschuss, abgesehen von der dreisten Absicht, diese Stillosigkeit fortzusetzen, frage ich Sie, Herr Schmidt, und die Kolleginnen und Kollegen der CDUFraktion: Wie lange dauert es eigentlich noch, bis die Ära Kohl bei Ihnen beendet ist? Ich sage Ihnen: Ganz Deutschland wartet darauf. Die Bevölkerung hat sich nämlich in Sachen Kohl längst entschieden. Ich lese Ihnen einmal die Ergebnisse der Umfrage eines Fernsehsenders vom heutigen Tage vor.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Aber das muss kurz sein, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. ({0})

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann, Frau Präsidentin, erwähne ich nur die zwei wichtigsten Aussagen. Fast drei Viertel der Deutschen, nämlich 74 Prozent, kritisieren das Verhalten von Herrn Kohl vor dem Untersuchungsausschuss. ({0}) 74 Prozent der Deutschen vertreten zudem die Auffassung, Herr Kohl habe durch sein Verhalten als Bundeskanzler den Amtseid verletzt. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: 23 a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern ({3}) - Drucksache 14/3508 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 14/3824 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Hacker Andrea Voßhoff Rainer Funke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Andrea Voßhoff und der Fraktion der CDU/CSU Entschädigungspflicht nach dem Vermö- gensgesetz bei Einziehung von beweglichen Sachen regeln - Drucksache 14/1003, 14/3824 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Hacker Andrea Voßhoff Rainer Funke Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto- koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungsgesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungenen? - Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Regelung der Entschädigungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei Einziehung von beweglichen Sachen, Drucksache 14/3824. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1003 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Einstimmige Erledigungserklärung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermögensechtlicher und anderer Vorschriften ({7}) - Drucksache 14/1932 ({8}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9}) - Drucksache 14/3802 Berichterstattung: Abgeordete Dr. Michael Luther Reinhard Schultz ({10}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({11}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/3803 - Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Günter Rexrodt Dr. Uwe-Jens Rössel Es liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS sowie ein Ent- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto- koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Vermögens- rechtsergänzungsgesetzes in der Ausschussfassug, Druck- sachen 14/1932 und 14/3802. Dazu liegen zwei Ände- rungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wir kommen zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/3826. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU ist dieser Antrag abgelehnt. Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3827. Wer stimmt für diesen An- trag? - Gegenprobe! - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/3836. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf: 24 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter - Drucksache 14/3372 ({12}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter ({13}) - Drucksache 14/3645 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({15}) - Drucksache 14/3799 - Berichterstattung: Abgeordnete Claudia Nolte b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({16}) zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Anlage 6 1) Anlage 7 Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst - Drucksachen 14/2415, 14/3799 Berichterstattung: Abgeordnete Claudia Nolte Zu diesem Gesetzentwurf liegen vier Änderungsanträge der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Schwerbehindertengesetz wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten. Darauf sind wir stolz. Wir sind in dieser wichtigen Frage miteinander zu einem Konsens gekommen, der in seiner Breite alle gesellschaftlichen Gruppen und Verbände einschließt, die den Willen bekunden, 50 000 arbeitslose schwerbehinderte Mitbürger in Arbeit zu bringen - ein hoher Anspruch, für den wir Lösungen gefunden haben. Wir alle wissen: Menschen mit Behinderungen haben es nicht nur schwerer; sie sind im Alltag auch massiv benachteiligt und noch immer Diskriminierungen ausgesetzt. Für Menschen mit Behinderungen ist es kaum möglich, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Von Chancengleichheit kann hier nicht gesprochen werden. Behinderte Mitbürger und Mitbürgerinnen sprechen von sozialer Ungerechtigkeit und sie haben Recht. Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache. Sie wollen keine Almosen, sondern Chancengleichheit. ({0}) Die Tatsache, dass wir, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbände und Regierungsparteien, uns zusammengesetzt haben, zeigt, dass wir alle erkannt haben, dass es unsere Pflicht ist, zu handeln, und das Ergebnis ist gut. Die öffentliche Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf am 7. Juni war von der Zustimmung aller Seiten geprägt. Den Kollegen und Kolleginnen von der Opposition war die Einmütigkeit aller Beteiligten während der Anhörung schon richtig unheimlich. Ja, man hat Hoffnung und diese Hoffnung darf nicht enttäuscht werden. Wir werden das auch nicht tun. Die Änderungswünsche und Hinweise der Beteiligten in der Anhörung wurden ernst genommen. Wir haben sofort reagiert: Erstens. Auch in Betrieben, die keine Schwerbehindertenvertretung haben, sind jetzt Integrationsvereinbarungen möglich. Zweitens. Wir haben deutlich gemacht, dass sich die Integrationsfachdienste für die betriebliche Ausbildung einsetzen können. Drittens. Durch eine Ergänzung des § 37 b des Schwerbehindertengesetzes haben wir klargestellt, dass die Schwerbehinderten, also die Betroffenen, in die Aufgaben der Integrationsfachdienste explizit mit einbezogen werden. Viertens. Wir haben auf die Bedenken des Vertreters der Integrationsprojekte, Herrn Stadler, bei den Vermittlungsversuchen Schwerbehinderter - laut Gesetz - an letzter Stelle zu stehen, reagiert, indem wir in § 53 a des Schwerbehindertengesetzes eine Ergänzung vorgenommen haben. Fünftens. Wir haben - da richte ich mich ausdrücklich an die Opposition, um Wiederholungen, Vorwürfe und die damit verbundenen Unsicherheiten zu vermeiden - auch die letzten Zweifler überzeugt, dass die Förderung der Werkstätten für Behinderte mit In-Kraft-Treten des Gesetzes ohne jede Einschränkung fortgesetzt wird. ({1}) Ein ganz besonders wichtiger Punkt ist: Schwerbehinderte, die an einer AB-Maßnahme teilnehmen, haben Anspruch auf Arbeitsassistenz. Ein kleines Beispiel dazu: Ich habe vorhin mit meiner Freundin Gudrun Hesse telefoniert. Sie ist - leider - schwerbehindert und hat zurzeit die Möglichkeit, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen. Dieser Frau täte es gut, wenn sie jetzt in Form von Arbeitsassistenz eine Unterstützung hätte. So könnte sie ihre Arbeit mit Sicherheit noch leichter meistern. Ihr schwerbehinderter Mann Martin, Rollstuhlfahrer, hochgradig engagiert und ehrenamtlich tätig, hat jetzt wieder Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Erst das Recht auf Teilzeitarbeit und Arbeitsassistenz macht dies möglich. Aber er sagt ganz deutlich: Dies hätte schon viel früher kommen müssen. ({2}) Meine Damen und Herren, ein weiteres, mir persönlich besonders wichtiges Anliegen konnten wir in der Ausschusssitzung am 28. Juni dieses Jahres klären. Laut § 14 Abs. 4 des Schwerbehindertengesetzes werden auch Behinderte, die ihren Erziehungspflichten nachkommen müssen, einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung haben. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt hin zur Integration schwerbehinderter Frauen. Ich denke, das sehen alle hier im Raum genauso. Der Anspruch auf Teilzeitarbeit wird zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen. Dies gilt auch für die Arbeitsassistenz. Das kam in der entsprechenden Anhörung zu diesem Thema besonders zum Ausdruck. Zusammen mit den Integrationsfachdiensten und speziellen Stellen der Arbeitsämter wird es jetzt möglich sein, auch Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte und Behinderte, die aufgrund besonders schwerer Benachteiligung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind, vermehrt in die reale Arbeitswelt zu integrieren. Arbeit gibt nicht nur materielle Sicherheit. Arbeit gibt Lebensgefühl, Miteinander, Anerkennung und vor allem Selbstbestimmung. ({3}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Wir werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes vor allem die Integrationsprojekte intensiv unterstützen. Das heißt: Sobald wir erste Erfahrungen im Hinblick auf die konkrete Förderung gesammelt haben, werden wir die entsprechenden Bestimmungen konkretisieren, um direkt auf die Ansprüche dieser Projekte zu reagieren, damit die Förderung nicht irgendwo versandet. Sie muss vielmehr greifen. Unser Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir gemeinsam offensiv an die Öffentlichkeit treten. Dazu fordere ich alle auf: die Verbände, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Politik - hiermit schließe ich die Opposition ein - und besonders die Medien. Denn auch behinderte Menschen lesen Zeitung, sehen fern, haben Computer und surfen im Internet. Auch sie sind Kunden. Man sollte einmal für diese Kunden eine kostenlose Werbung schalten. Der Impuls für diese Kampagne könnte schon von dieser Bundestagsdebatte ausgehen. Ich wiederhole: Es ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft, soziale Gerechtigkeit für behinderte Mitbürger herzustellen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon nach recht kurzer Beratungszeit können wir heute die zweite und dritte Lesung des Entwurfes eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vornehmen. Da dieses Gesetz schon zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten soll, ist eine zügige Beratung verordnet worden. Jedoch müsste sich inzwischen herumgesprochen haben, dass die Qualität eines Gesetzes nicht unbedingt von der Geschwindigkeit des Gesetzgebungsverfahrens abhängt. Im Gegenteil! Das zeigt sich auch in diesem Fall. Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion verliefen die Beratungen sehr enttäuschend. Das halte ich für umso verwunderlicher, als wir von Anbeginn an deutlich gemacht haben, dass wir hier ein gemeinsames Anliegen haben und zu Gemeinsamkeiten gelangen wollen, und Gesprächsbereitschaft signalisiert hatten. In dem Ziel, das wir erreichen wollen - auch in den konkreten Punkten, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf aufgegriffen haben -, besteht eine große Übereinstimmung. An erster Stelle zu nennen ist, dass für uns alle eine bei den Schwerbehinderten bestehende Arbeitslosenquote von 18 Prozent unakzeptabel und viel zu hoch ist und dass wir deshalb Wege finden müssen, diese hohe Zahl abzubauen. Wie dringend das ist, zeigt im Übrigen der Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst für das Jahr 1998, der heute auch zur Beratung ansteht. Denn prozentual gesehen ist ihre Einstellungsquote durch die Reduzierung der Stellen im öffentlichen Dienst und die erhöhten Abgänge wieder gesunken; sie beträgt jetzt 2,9 Prozent. Wir haben es also mit einer Verschlechterung der Situation zu tun. Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht selbst, dass sich mit der bestehenden Einstellungspraxis die Schwerbehindertenquote im öffentlichen Dienst auf Bundesebene auf mittlere Sicht nicht halten lassen wird. ({0}) Dabei haben eigentlich alle Fraktionen in den letzten Debatten zu diesem Thema deutlich gemacht, dass der öffentliche Dienst eine Vorreiterfunktion hat. Wenn wir von anderen etwas verlangen, müssen wir Vorbild sein. Deshalb haben wir hier eine gewisse Bringschuld. Neben der grundsätzlichen Übereinstimmung in dem Ziel, die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten zu senken, sind wir uns auch über den Handlungsbedarf in den Bereichen einig, die Sie in diesem Gesetzentwurf angesprochen haben. Unsere Ablehnung dieses Entwurfs ist vor allem in der Art und Weise begründet, wie Sie diese Regelungsbereiche ausgestaltet haben. Ich möchte dies im Einzelnen benennen. Ich beginne mit der Ausgleichsabgabe: Schon in der ersten Lesung habe ich deutlich gemacht, dass ich der Meinung bin, durch eine differenzierte Gestaltung der Ausgleichsabgabe eine Lenkungswirkung - soweit dies dadurch überhaupt möglich ist - erreichen zu können. Dabei ist aber wichtig, zu beachten, wer wie belastet wird. Nun hat das Bundesarbeitsministerium mir freundlicherweise eine Schätzung darüber zur Verfügung gestellt, wie sich die Veränderungen auswirken werden. Danach werden Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten - das sind also die kleineren Betriebe - ein wenig entlastet; sie werden künftig nicht mehr 35,7 Prozent, sondern nur noch 34,5 Prozent der Ausgleichsabgabe tragen. Aber bei Betrieben, die zwischen 100 und 300 Beschäftigte haben, also bei dem klassischen Mittelstand, sieht das ganz anders aus: Statt 18,2 Prozent werden sie künftig 23,1 Prozent der Ausgleichsabgabe erbringen müssen. Demgegenüber werden die großen Unternehmen großzügig entlastet: Unternehmen mit mehr als 100 000 Beschäftigten beispielsweise tragen statt 3,1 Prozent nur noch 1,2 Prozent zur Ausgleichsabgabe bei. Natürlich kann man argumentieren, die Betriebe mit einer Beschäftigtenzahl zwischen 100 und 300 hätten ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllt. Allerdings stellt sich meines Erachtens eher die Frage, ob, wenn dies bei den mittelständischen Unternehmen besonders auffällig ist, eine stärkere Belastung ausgerechnet dieser Betriebe zum gewünschten Ziel führt oder ob nicht ganz andere Gründe vorliegen, warum die Beschäftigungsquote nicht erfüllt wird. Man muss sich fragen, ob man nicht durch gezielte Maßnahmen eine größere Effizienz der Einstellungen hätte erreichen können. Die Bundesregierung erwartet durch diese Neuregelung Mehreinnahmen in Höhe von 380 Millionen DM. Da aber die kleinen und die großen Unternehmen entlastet werden, beträgt die Belastung des klassischen Mittelstandes deutlich mehr als 380 Millionen DM. Das finde ich schon ziemlich happig. ({1}) Silvia Schmidt ({2}) Die Bundesregierung hat sich in diesem Punkt lange gewunden. Noch bei der ersten öffentlichen Aussprache zu diesem Thema, in der Fragestunde, war von der Bundesregierung zu hören, dass eigentlich keine Mehreinnahmen erwartet werden. Das ist auch nicht unser Ziel; denn wir wollen eine Veränderung der Einstellungspraxis erreichen. Es gab aber generell lange Zeit Stillschweigen dazu - sicherlich, um die Wirtschaft nicht zu verschrecken, um sie im Boot zu haben; das kann ich auch nachvollziehen. Nur musste man irgendwann erklären, wie man den größeren Leistungskatalog, den dieser Gesetzentwurf beinhaltet, finanzieren will. Daher rühren auch die berechtigten Ängste der Werkstätten und der Betreiber von Wohnheimen für Behinderte, hinten herunterzufallen und geringer gefördert zu werden. Frau Schmidt, Sie haben deshalb versucht, diese Ängste auszuräumen. Ich konnte diese Ängste sehr gut nachvollziehen und für mich sind sie auch noch nicht vollständig ausgeräumt. Wir werden sehen, wie sich die Einnahmen gestalten. Ich kann nur hoffen, dass an den Bekräftigungen, es werde sich an der Förderpraxis für Werkstätten und Wohnheime nichts ändern, festgehalten wird. Es ist generell nicht einzusehen, dass diese erwarteten Mehreinnahmen aus der Augleichsabgabe über die Bundesanstalt für Arbeit fast ausschließlich an den Bund fließen sollen. Ich habe das Gefühl, dass noch immer der Irrglaube vorhanden ist, die zentrale starke Hand werde es schon richten; denn sie kann es besser. Sie sollten stattdessen auf Dezentralisierung setzen, weil vor Ort, wie sich immer wieder zeigt, besser entschieden werden kann. Ich verstehe gar nicht, warum hier die Länder so aus der Pflicht genommen werden und warum sie nicht mehr Mittel aus der Ausgleichsabgabe erhalten, um viel gezielter entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. ({3}) Nein, sie werden vom Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen und damit werden ihnen auch die finanziellen Mittel vorenthalten. Das kann aber auch damit zu tun haben - damit komme ich zu einem zweiten großen Bereich, der in unseren Augen in diesem Gesetz vollkommen fehlgeleitet ist -, dass mit aller Macht versucht wurde, dieses Gesetz zustimmungsfrei auszugestalten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich kenne bis heute noch nicht den Grund, warum die Länder letztendlich ausgestiegen sind. Es muss ja einen Grund dafür geben, warum es nicht möglich war, sich zu einigen. Ganz sicher lag es nicht daran, dass nicht auch die Länder ein Interesse daran hätten, die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten zu senken. Die fatale Folge ist, dass dieses Gesetz dadurch ein Torso bleibt. Um sich die Zustimmungsfreiheit zu erkaufen, mussten Sie alle Regelungsbereiche, die die Hauptfürsorgestellen betreffen, außen vor lassen, obwohl diese vor Ort für die berufliche Eingliederung der Schwerbehinderten zuständig sind. Das führt nun zu dem Versäumnis, dass die Strukturen - im Blick darauf, dass ein SGB IX eine bessere Verzahnung zur beruflichen Rehabilitation schaffen soll - nicht vorausschauend anders gestaltet werden. Eine solche Verzahnung wird jetzt blockiert. Ohne eine gesetzliche Grundlage wird jetzt mühsam versucht werden müssen, die Zusammenarbeit zwischen Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämtern mit Vereinbarungen zu regeln. Das ist unbefriedigend, weil es zu Unklarheit und Unverbindlichkeit führt. ({4}) Ebenso führt zu Unklarheit und Unverbindlichkeit, dass vieles von dem, was in diesem Gesetz hätte geregelt werden müssen, auf Rechtsverordnungen verschoben wurde. Wir sind sehr für einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Wir sind sehr dafür, dass Integrationsfachdienste eingerichtet werden und über eine institutionelle Förderung abgesichert werden. Das gilt auch für Integrationsbetriebe, -unternehmen und -projekte. Aber entscheidend sind doch die Rahmenbedingungen: Welche Fördervoraussetzungen müssen geschaffen werden, wie lange erhält man die Förderung, wer wird gefördert? Hier auf Rechtsverordnungen zu verweisen entzieht uns jegliche parlamentarische Mitberatung. Das widerspricht meinem parlamentarischen Selbstverständnis. Dies kann ich nicht nachvollziehen, zumal es auch Unsicherheit für die Stellen schafft, die künftig Bewilligungen aussprechen sollen. Da die Verordnungen noch nicht vorliegen, verfügen sie über keinerlei Rahmenregelungen. In diesem Punkt verblüffte mich die Anhörung sehr. Ich hatte den Eindruck, bei den bei der Anhörung vertretenen Verbänden herrsche das Prinzip Hoffnung vor. ({5}) Sie sagten, sie hätten es sich zwar anders gewünscht, aber es kämen ja noch Rechtsverordnungen, die es dann schon richteten. Hier kann ich nur die Frage stellen, wann Rechtsverordnungen jemals mehr Spielräume ermöglicht hätten. Verordnungen dienen dazu, Grenzen zu setzen und zu bestimmen, wie es gemacht werden muss. ({6}) Ich weiß nicht, was bei den Vorgesprächen im Einzelnen passiert ist. Ich befürchte jedenfalls, dass hier eher Restriktionen eingeführt werden, denen wir dann ausgeliefert sein werden. Am Ende werden wir nur die Beschwerdebriefe freundlich beantworten dürfen. Die Tatsache, dass grundsätzlich nur ein Integrationsfachdienst pro Arbeitsamtsbezirk bestehen bleiben soll, hatte ich schon in der ersten Lesung kritisiert. Die Stellungnahmen der Fachverbände bestärken mich in dieser Kritik. Auch da sehe ich im Moment noch keine befriedigende Regelung, wie man schon bestehende Fachdienste zusammenschließen kann, ohne dass dabei der eine oder andere unter die Räder kommt. Zusammenfassend halte ich fest, dass wir trotz der Übereinstimmungen in der Zielsetzung aus den genannten Gründen dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich hoffe sehr, dass wir bei der Beratung des SGB IX eine andere Form wählen. Dort sollte es möglich sein, gemeinsam für schwerbehinderte Menschen etwas Gutes zu erreichen. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Nolte, nein, das Gesetz ist kein Torso, sondern es ist etwas, was wir, glaube ich, dringend brauchen. Wir brauchen dieses Gesetz, weil es vor allem um eines geht: um Integration. Dieses Gesetz ist so etwas wie ein Vorschaltgesetz zum SGB IX, in dem wir klar darüber sprechen wollen, was Integration insgesamt bedeutet: Sie bedeutet Beteiligung, sie bedeutet Teilhabe und vor allem Chancengleichheit. Gleich sein bedeutet nach unserer Auffassung - das ist so etwas wie eine Philosophie -, verschieden sein zu dürfen und trotzdem die gleichen Möglichkeiten zu haben. ({0}) Was wir in diesem Gesetz vorab regeln, betrifft den Arbeitsmarkt. Es geht um die Teilhabe am Arbeitsmarkt und natürlich auch um ein Stück Teilhabe am normalen Leben. 8 Prozent der Wohnbevölkerung sind schwerbehindert, das sind 6,6 Millionen Menschen. Davon stehen 1,1 Millionen Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Mit dem vorliegenden Gesetz sagen wir: Wir wollen zusätzlich 50 000 Menschen in Arbeit bringen. Wir wollen sie nicht in Beschäftigung, sondern in Arbeit bringen, und das ist ein qualitativer Unterschied - auch zur Politik der alten Regierung. Es ist ein Unterschied, weil es um selbstbestimmte Arbeit geht, weil es um das Recht auf Arbeitsassistenz geht, weil es darum geht, das Recht zu haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, und weil es darum geht, eine neue Arbeitsplatzqualität über die Werkstätten hinaus, deren Existenzberechtigung ich nicht in Frage stellen möchte - wir brauchen aber etwas Zusätzliches, wir brauchen etwas qualitativ anderes -, zu verwirklichen. Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen Integrationsfirmen, die eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt darstellen und die tatsächlich Integration in diesem Zusammenhang herstellen. Aus diesem Grund legen wir den Gesetzentwurf vor. Wir wollen das Gesetz gemeinsam mit denjenigen Kräften, die darauf Einfluss haben, nämlich mit den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Interessenverbänden, machen. Ich finde es, ehrlich gesagt, schade, dass sich die Union nicht entscheiden kann, hier zuzustimmen, obwohl wir doch in so vielen Zielen angeblich übereinstimmen. Das Problem, wie wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, sind wir mit differenzierten Möglichkeiten angegangen. Ich glaube, es ist diese Differenzierung, die am Ende zum Erfolg führen wird. Denn es geht nicht mehr darum, nur ein Instrument zu haben, wie das bisher der Fall gewesen ist. Stattdessen spielen jetzt viele Instrumente eine Rolle: Integrationsfirmen, Integrationsfachdienste, die Werkstätten für Behinderte und andere, vor allem das Recht auf Arbeitsassistenz. Ich glaube, hier haben wir einen riesigen gesellschaftlichen Fortschritt erreicht. Hier haben wir eine Vorwegnahme dessen, was im SGB IX die Grundansage ist. Die Grundansage heißt nämlich: Es geht nicht darum, etwas für jemanden zu regeln, sondern es geht darum, Menschen zu befähigen, für sich selbst regeln zu können, was ihr Leben und ihre Arbeitswelt betrifft. ({1}) Die Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten beträgt immer noch 17,4 Prozent. Das ist eine Herausforderung für uns. Wir haben gesagt: Wenn das, was wir hier machen, nicht funktioniert, dann müssen wieder andere Wege beschritten werden. Wir wollen aber die Gemeinsamkeit mit den Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Tat herstellen und das tun wir hiermit auch. Ich möchte noch zwei Sätze zu den Änderungsanträgen der PDS sagen. Bei dem Punkt, der die Arbeitsassistenz betrifft, befinden wir uns in Übereinstimmung. Ich glaube, wir haben im Bereich der Ausgestaltung das gemacht, was möglich war. Ich setze sehr auf dieses Instrument. Ich rechne damit, dass wir dieses Instrument bekommen, dass wir es stark machen und dass es vielen Menschen mit Handicap tatsächlich zur selbstbestimmten Arbeit verhelfen wird. In der Frage der Erhöhung der Ausgleichsabgabe haben wir uns etwas anders entschieden. Wir haben uns dafür entschieden zu differenzieren. Wir halten das für sinnvoll und meinen, dass man Unternehmen, die Schwerbehinderte beschäftigen, nicht genauso behandeln kann wie Unternehmen, die sich dem völlig verweigern. Deswegen haben wir uns für die Differenzierung entschieden. Die einfache Erhöhung der Abgabe halten wir nicht für sinnvoll, weil wir die Arbeitgeber mit im Boot haben wollen. Auch das ist für die gesellschaftliche Frage ganz entscheidend, weil Integration nur dann funktioniert, wenn alle mitmachen. Wenn Integration funktionieren soll, kann man nicht sagen: Wir tun etwas für euch im Sinne einer Minderheit; denn das bringt uns sehr viel weniger, als wenn klar ist: Alle machen mit. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf versucht. Dies werden wir auch weiterhin versuchen, wenn wir die Reise antreten, um mit dem SGB IX ein großes Gesetz zu machen, das Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat. Ich glaube, es ist gut, dass wir hier einen ersten Schritt gemacht haben. Die Anhörung hat nicht gezeigt, dass es um das Prinzip Hoffnung geht, sondern die Anhörung hat gezeigt, dass Menschen mit Handicap zum ersten Mal auf tatsächliche Integration hoffen können. Das ist der Unterschied. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Koalition, die den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt hat, teilen wir sicherlich die Zielsetzung. Wir wollen selbstverständlich die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter den Schwerbehinderten spürbar abbauen. Der Gesetzentwurf nennt als Zielvorgabe eine Verringerung um 25 Prozent bis Oktober 2002. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber es ist immer gut, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob mit diesem Gesetzentwurf der richtige Weg eingeschlagen wird. Hier müssen wir leider feststellen, dass Sie bedauerlicherweise nicht alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen haben, die in diesem Zusammenhang geprüft werden müssen. So waren Sie zum Beispiel nicht bereit, über Veränderungen im Bereich des besonderen Kündigungsschutzes oder des Sonderurlaubs zu sprechen oder über diese Fragen überhaupt nur nachzudenken, obwohl vonseiten der BDA und auch des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks auf die einstellungshemmende Wirkung dieser Regelungen hingewiesen worden ist. Den Ansatz, Schwerbehinderten verstärkt die Möglichkeit einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen, teilen wir selbstverständlich. Es ist durchaus nicht so, Frau Göring-Eckardt, als seien Sie die Ersten, die sich dies zum Ziel gesetzt hätten. Wenn Sie sich die vorhandenen Instrumente ansehen, sehen Sie schon, dass es seit langer Zeit besondere Integrationshilfen für Schwerbehinderte auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt. Richtig ist, dass mit den Arbeitsassistenzen sicherlich noch ein weiterer zusätzlicher Schritt gemacht wird. Wir halten es für durchaus positiv, einen solchen Schritt zu machen, allerdings nur dann, wenn eine vernünftige Umsetzung per Verordnung folgt. Es ist bedauerlich, dass über die Ausgestaltung dieser Verordnung bisher so wenig bekannt ist. Es ist alles offen. Ebenso wie die Betroffenen warten wir gespannt auf die Vorstellungen der Bundesregierung zu diesem Punkt. In der Hoffnung, den Prozess etwas zu beschleunigen, haben wir dazu eine Kleine Anfrage eingebracht; denn ein Gesetz ohne Ausführungsbestimmungen ist zunächst ein zahnloser Tiger. Die Klärung dieser Frage ist auch entscheidend, um den Finanzbedarf beziffern zu können. In dieses Gesetz ist eine Reihe von sinnvollen Dingen geschrieben worden, aber alles das kostet Geld. Gleichzeitig - das hat die Bundesregierung wiederholt erklärt - gehen Sie davon aus, dass das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe konstant bleibt. Das heißt, Sie wollen auf der einen Seite zusätzliche Dinge finanzieren, geben aber auf der anderen Seite in Gesprächen mit den Werkstätten für Behinderte, die bisher den größten Finanzbedarf aus der Ausgleichsabgabe hatten, Finanzierungszusagen, die Sie nicht einhalten können, wenn Sie das Geld für andere Dinge ausgeben wollen. Dies ist nach Adam Riese so; das können wir auch nicht durch Beschluss im Bundestag außer Kraft setzen Deswegen werden Sie uns auch nicht daran hindern können, weiterhin misstrauisch zu bleiben. Es ist auf der einen Seite zweifellos sinnvoll, die Integration von so vielen Schwerbehinderten wie irgend möglich in den ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass in den Werkstätten für Behinderte viele arbeiten, für die in diesen Werkstätten eine sehr viel bessere Förderung erfolgt, als es auf dem ersten Arbeitsmarkt je möglich wäre. ({0}) Deswegen ist Ihr Misstrauen gegenüber den Werkstätten für Behinderte in meinen Augen völlig verfehlt. ({1}) Zusammen mit der offenen Finanzierungsfrage führt uns dies bedauerlicherweise dazu, dass wir dieses Gesetz ablehnen werden. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Dr. Ilja Seifert, PDS, das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ich finde es schon ziemlich lustig, was hier heute passiert. Da will die Regierungskoalition ein Gesetz verabschieden, über das sie sich eigentlich freuen sollte - jedenfalls habe ich Frau Schmidt so verstanden; auch Frau Göring-Eckardt sagte, wir bräuchten ein solches Gesetz -, Sie reden hier aber alle so getragen, als wäre es eine Beerdigung. ({0}) Vielleicht ist es auch eine - und das ist meine Befürchtung. Wir brauchen ein Gesetz, das 50 000 schwerbehinderte Menschen in Arbeit bringt. Aber, Frau Göring-Eckardt, warum genügt es Ihnen dann - so haben Sie es in das Gesetz geschrieben -, dass nach zwei Jahren 25 Prozent weniger schwerbehinderte Arbeitslose in der Statistik verzeichnet sein müssen? Sie wissen so gut wie ich, dass in dieser Zeit etliche Tausende über die Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Statistik herausfallen. ({1}) Sie wissen so gut wie ich, dass in dieser Zeit etliche Tausende in Ruhestand gehen und in der Statistik nicht mehr auftauchen. Sie erfüllen Ihre Quote, ohne dass ein einziger Schwerbehinderter Arbeit bekommt. Das kann nicht sein. ({2}) Ich bin ja froh, dass eine Koalition regiert, die sich diesem Thema widmet. Das ist ein Wert an sich. Herr Haack, in diesem Punkt alle Achtung auch von mir für Ihre Bemühungen. Aber was hier vorliegt, ist wirklich alles andere als ein Grund, sich zu freuen. Ich will das ausdrücklich sagen. Ich bin auch ein bisschen traurig, Frau Nolte, dass Sie hier zwar sagen, wie wichtig das alles ist, dass von Ihrer Riesenfraktion insgesamt aber nur vier Mitglieder anwesend sind. Wie Sie sehen können, ist die kleine PDS-Fraktion stärker vertreten. Wir könnten Sie glatt überstimmen. Man muss der Öffentlichkeit zumindest einmal mitteilen, dass die Meinung, die Sie, Frau Nolte, hier vorgetragen haben, offensichtlich nicht die Meinung Ihrer Fraktion ist. Aber vielleicht ändert sich das noch; das kann auch nicht schaden. ({3}) - Ja, allerdings muss man die Argumente auch ein bisschen durch Anwesenheit im Plenum untermauern. Lassen Sie uns zur Sache kommen. Besonders positiv wäre es, wenn es endlich einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz gäbe; das könnte wirklich etwas Gutes sein. Aber Sie lehnen es ab - jedenfalls haben Sie das angekündigt -, unsere Kriterien für die Arbeitsassistenz in das Gesetz hineinzuschreiben. Frau Nolte hat völlig Recht: Die Verordnungsermächtigung kann nur dazu führen, dass aus der notwendigen Arbeitsassistenz, die Sie apostrophieren, eine Miniarbeitsassistenz wird. Wir schlagen vor: Macht aus der notwendigen eine bedarfsdeckende Arbeitsassistenz laut Gesetz. Dann könnten wir uns nach unseren Kriterien richten. Dann hätten die Menschen mit Behinderungen vom ersten Tage an eine Handhabe, wann sie diesen Rechtsanspruch überhaupt geltend machen können. Wenn wir den Klageweg beschreiten wollten, würde das drei oder fünf Jahre dauern. Frau Schmidt, Sie haben eben Bekannte angeführt, die auf Arbeitsassistenz warten. Das Gesetz nützt ihnen nichts, wenn es keine Kriterien für den Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz gibt. ({4}) Deshalb ist es notwendig, das per Gesetz festzulegen. Noch ein Wort. Sie haben eigentlich nur schwerbehinderte Frauen berücksichtigen wollen. Wir haben vorgeschlagen: Berücksichtigt sie bevorzugt. Danach haben Sie „besonders berücksichtigen“ daraus gemacht. Ich muss anerkennen - und dafür bin ich dankbar -, dass Sie auch unsere Vorschläge zumindest teilweise aufgreifen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich muss Sie leider auf die Redezeit aufmerksam machen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung, dass ich nicht auf die Uhr geschaut habe. Ich will nur sagen: Ich wäre froh, wenn wir gemeinsam - Sie wissen, dass ich da auf Ihrer Seite stehe - einen Schritt in eine vernünftige Richtung gehen könnten. Diesmal ist die Sache so ambivalent, dass sich die PDS enthalten wird. Ich hoffe, dass wir in Zukunft gemeinsam voranschreiten können. Danke schön für die Aufmerksamkeit. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl-Hermann Haack, das Wort.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurde von Frau Nolte gesagt, dieses Gesetz sei schnell gemacht worden, es hätte langsamer und gründlicher beraten werden müssen. Frau Nolte, wir haben aus 16 Jahren Helmut Kohl 180 000 Arbeitslose im Schwerbehindertenbereich geerbt. ({0}) Wir haben uns im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vorgenommen, auch in diesem Bereich einen Beitrag zu leisten. Dieses Gesetz, welches aus Ihrer Sicht zu schnell gemacht worden ist, ist ein erster Erfolg des Bündnisses für Arbeit. Denn es ist zwischen Regierung, Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Behindertenverbänden verhandelt worden. Wir haben uns dort verständigt. Die Eckdaten, die diesem Gesetz zugrunde gelegt sind, stellen einen Konsens gesellschaftlicher Gruppen dar. Deswegen meinen wir, dass wir recht gehandelt haben. Wir unternehmen mit diesem Gesetz einen Versuch, zukünftig 50 000 Menschen - das sind 25 Prozent derer, die arbeitslos sind - in Arbeit zu bringen. ({1}) Zu mäkeln, dass man aus der Statistik aus diesem oder jenem Grund schwerbehinderte Arbeitslose herausstreicht, halte ich für müßig. Ich will Ihnen darlegen, warum ich glaube, dass dieses Gesetz erfolgreich sein wird. Wir haben in den letzten Jahren mit einer gemeinsamen Initiative von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und anderen gesellschaftlichen Gruppen erreicht, dass junge Menschen in Ausbildungsverbünde gekommen sind bzw. Ausbildungsplätze bekommen haben, mit dem Erfolg, dass wir alljährlich sagen können: Die Bilanz ist relativ positiv. Wir haben in dem Programm JUMP - Junge Menschen in Arbeit, Ausbildung und Beruf des Bundesarbeitsministers erreicht, dass 200 000 junge Leute heute in Ausbildungsverbünden sind, ihre Schulabschlüsse nachmachen können bzw. Traineemaßnahmen absolvieren. Diese Maßnahmen sind Ausdruck von Konsenspolitik dieser neuen rot-grünen Regierung. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir zum Frühherbst dieses Jahres eine Kampagne starten. Wir glauben, wir werden erreichen, dass Menschen mit Behinderungen in Arbeit kommen. ({2}) Einen weiteren wichtigen Punkt der öffentlichen Debatte möchte ich hier aufgreifen. Frau Schwaetzer, Sie haben gesagt, wir hätten gegenüber den Werkstätten ein Misstrauen. Das ist eine Kampagne, die läuft. Sie hängt damit zusammen, dass die Länder Baden-Württemberg und Bayern im Bundesrat einen Antrag eingebracht haben mit der Zielsetzung, zu einer Neuverteilung der Ausgleichsabgabe zugunsten der Werkstätten zu kommen. Wir ziehen mit der Etablierung der Integrationsfachdienste und Integrationsfirmen die Konsequenzen daraus, dass in 16 Bundesländern erfolgreich Versuche gelaufen sind. Wir sagen: Bevor wir die Berichte über diese Integrationsfachdienste, über diese Integrationsfachfirmen endgültig abwarten, werden wir sie jetzt schon in dieses Vorschaltgesetz „Neue Arbeit für Menschen mit Behinderungen“ aufnehmen. Sie wissen genauso gut wie ich - es ist im Ausschuss hinreichend gesagt worden -, dass es Spitzengespräche gegeben hat. Dafür bin ich dem Minister mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar. Es waren Spitzengespräche mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten auf der einen Seite und auf der anderen Seite mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsfachdienste. Wir haben uns auf meinen Vorschlag hin darüber verständigt, dass wir den gesamten Bereich einer kritischen Überprüfung unterziehen unter der Fragestellung: Was sind zukünftig die Aufgaben der Werkstätten? Was sind zukünftig die Aufgaben der Integrationsfachdienste? Welche Brückenfunktionen müssen Integrationsfachdienste haben, um Menschen von dem zweiten in den ersten Arbeitsmarkt überzuleiten? Das Ziel dieser Untersuchung ist, das Kästchendenken zur Seite zu schieben und ein flexibles, durchgängiges System zu organisieren. ({3}) Ein weiterer Punkt, der von Herrn Seifert und auch von anderen Kollegen angesprochen wurde, ist das Recht auf Arbeitsassistenz. Ich möchte Ihnen unseren qualitativen Sprung an diesem Punkt deutlich machen: Wir haben Art. 3 des Grundgesetzes 1994 um die Bestimmung ergänzt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden dürfen. Wir haben daraus die Konsequenz gezogen, die Integration zu ermöglichen. Somit darf das Recht auf Arbeitsassistenz nicht mehr in die Beliebigkeit der Entscheidung der Hauptfürsorgestelle gestellt werden. Es darf nicht sein, dass sich ein Mensch mit Behinderung vor dem Mitarbeiter der Hauptfürsorgestelle in der Hoffnung „inszenieren“ muss, je besser er seine Behinderung vorführe, desto eher werde er Arbeitsassistenz finanziert bekommen. Menschen mit Behinderung nicht zu benachteiligen bedeutet, sie zu integrieren. Es bedeutet, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance haben müssen. Deshalb schaffen wir jetzt einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Die Begründung dafür, dass wir das Gesetz „zustimmungsfrei“ formuliert haben, ist ganz einfach: Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben versucht, diese neue Konzeption zur Reform des Schwerbehindertenrechtes zu einer Verhandlungsmasse der Neuaufteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und Ländern zu machen. Die Länder wollen ihren Anteil deutlich erhöhen und damit die Gestaltungsaufgabe des Bundes entsprechend beschneiden. Insofern habe ich volles Verständnis, dass diese Bundesregierung vor dem Hintergrund der Tatsache, dass 182 314 schwerbehinderte Menschen arbeitslos sind, versuchen will, diesen Missstand möglichst schnell zu ändern. Ich trage es auch politisch mit, dass die Bundesregierung dies mit einem neuen Instrumentarium versucht und darauf verzichtet, lange strategische Verhandlungen mit den Ländern zu führen. ({4}) Ich halte die Notwendigkeit der Hilfe für arbeitslose Schwerbehinderte für wichtiger als das Feilschen mit Frau Stamm oder anderen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meinen Dank an die Träger der Werkstätten ausdrücken, die nach diesen Gesprächen in einer hervorragenden Arbeit mit uns kommuniziert haben. Ich darf Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, sagen: Im Rahmen der Beratungen über das SGB IX werden wir auch mit Ihnen das Gespräch suchen. Herr Seehofer als Ihr sozialpolitischer Sprecher hat einen entsprechenden Brief verfasst. Wir werden nach der Verabschiedung dieses Gesetzes, nachdem wir uns auch mit den Ländern über die Grundzüge des SGB IX verständigt haben, auf Sie zukommen und versuchen, mit Ihnen gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Insofern bitte ich noch um etwas Geduld. Herzlichen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung hat der Kollege Dr. Seifert eine Erklärung nach § 31 der Ge- schäftsordnung zu Protokoll gegeben1). Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in der Ausschussfassung, Drucksachen 14/3372, 14/3645 und 14/3799. Dazu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/3837? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist dieser Antrag abgelehnt. Karl Hermann Haack ({0}) 1) Anlage 4 Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/3839? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/3840? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3841? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Antrag abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Stimmenthaltung der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen. ({1}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst, Drucksache 14/3799. Der Ausschuss empfiehlt etwas Sensationelles, meine Damen und Herren, nämlich unter Buchstabe b seiner Beschlussfassung, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 14/2415 zur Kenntnis zu nehmen. Wer möchte dieser Beschlussempfehlung folgen? - Damit haben wir den Bericht mit einem einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundestages zur Kenntnis genommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Anlgelegenheiten der Europäischen Union ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Prof. Dr. Jürgen Meyer ({3}); Joachim Poß, Günter Gloser, weiterer Abgordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Volker Beck ({4}), Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Charta der Grundrechte der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Die Rechte der Bürger stärken - Für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Verbindlichkeit der europäischen Grundrechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS Für eine rechtsverbindliche europäische Grundrechtecharta - Drucksachen 14/3387, 14/3368, 14/3322, 14/3513, 14/3800 Berichterstattung: Abgeordnete Prof. Dr. Jürgen Meyer ({5}) Claudia Roth ({6}) Sabine Leutheuser-Schnarrenberger Klaus Grehn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die Debatte über die europäische Grundrechtecharta mit zwei Vorbemerkungen beginnen. In der letzten Sitzung des Konvents in Brüssel hat das Präsidium mitgeteilt, dass Roman Herzog den Vorsitz des Konvents demnächst wieder übernehmen wird. ({0}) Wir alle wissen, dass er wegen der schweren Erkrankung seiner Frau den Vorsitz im Konvent niedergelegt hatte. Die Rückkehr von Roman Herzog ist vom Konvent und, wie ich sehe, auch von Ihnen sehr positiv aufgenommen worden. Roman Herzog gelingt es, mit seiner Kompetenz und seinem Ansehen, auch widerstreitende Gruppen im Konvent zusammenzuführen und das Projekt der Grundrechtecharta zum Erfolg zu führen. Meine zweite Vorbemerkung gilt der Rede von Präsident Chirac, die er im Deutschen Bundestag gehalten hat. Ich fand es sehr erfreulich, dass Präsident Chirac deutlich gemacht hat, dass es auch bei der Grundrechtecharta darum geht, mehr Demokratie in Europa zu wagen. Dies spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Konvents wider, denn drei Viertel der Mitglieder dieses Gremiums sind Parlamentarier. Es ist ein Signal für mehr Demokratie, wenn eine Weichenstellung in Richtung einer Konkretisierung der Werteordnung in Europa durch ein solches Gremium vorgenommen wird. Deshalb sollten wir alle dazu beitragen, das Projekt zum Erfolg zu führen. Weil wir in früheren Debatten und auch in der Debatte im Mai in diesem Hause ein hohes Maß an Konsens festgestellt hatten, habe ich seinerzeit vorgeschlagen, nachdem die Anträge der Koalitionsfraktionen einerseits und Vizepräsidentin Anke Fuchs der Oppositionsfraktionen andererseits vorgelegt worden waren, diese zu einer gemeinsamen Entschließung zusammenzufassen. Die fast zweimonatigen Bemühungen nach der letzten Debatte schienen erfolgreich zu sein. Leider ist es heute doch nicht möglich, eine gemeinsame Entschließung zu verabschieden. Bevor ich dazu eine Bemerkung mache, möchte ich aber feststellen, dass alle Fraktionen in diesem Parlament in zahlreichen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Wir sind uns darin einig, dass die Arbeiten des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta weiter unterstützt werden. Wir sind uns einig darin, dass die Bedeutung der Grundrechtecharta auch in der deutschen Öffentlichkeit erkannt und gewürdigt und darüber eine breite gesellschaftliche Debatte geführt werden sollte. Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, für den Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention einzutreten. Wir sind uns einig darin, dass der Konvent fortschrittliche und für die europäische Integration zentrale Grundrechte formulieren sollte, wozu insbesondere ein Diskriminierungsverbot, ein aktives Gleichstellungsgebot sowie kulturelle Grundrechte gehören. Wir sind uns auch einig darin, dass die Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unter Berücksichtigung der europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer in die Charta unterstützt werden sollte. Und ich denke, wir sind uns einig darüber, dass sich die Bundesregierung im Europäischen Rat für die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta mit individueller Klagemöglichkeit einsetzen sollte. Nun werden manche mit Recht fragen: Warum legen die Fraktionen des Deutschen Bundestages angesichts von so viel Einigkeit nicht eine gemeinsame Entschließung vor? Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, so etwas wie einen Einheitsbrei herzustellen oder abstrakte Formulierungen, die letztlich wenig aussagen, zu Papier zu bringen. Aber die Substanz dessen, was uns verbindet, ist so groß, dass die Frage, warum es nicht zu einer gemeinsamen Entschließung gekommen ist, tatsächlich schwer zu beantworten ist. Die Ablehnung kam Anfang dieser Woche - für viele von uns überraschend - aus der CDU/CSU-Fraktion. Ich habe natürlich versucht, rational nachzuvollziehen, worauf sich diese Ablehnung gründet, und festzustellen, ob diese Ablehnung vielleicht nur ein Mittel ist, Profil auf einem ungeeigneten Feld der Auseinandersetzung zu zeigen. Es wurde auf nicht zuzudeckende Meinungsunterschiede - es hat ja keinen Sinn, darum herumzureden bezüglich des Grundrechts auf Asyl hingewiesen. Wir hatten uns aber ursprünglich darauf verständigt, dass wir uns dem Bekenntnis des Europäischen Rates von Tampere, dem künftigen europäischen Asylrecht die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfassend zugrunde zu legen, anschließen wollten. Nun bin ich der Auffassung, dass die auf nationaler Ebene sicherlich notwendige Auseinandersetzung um das von der CDU/CSU-Fraktion gewünschte lediglich institutionelle Asylrecht und das von uns weiterhin für richtig gehaltene einklagbare individuelle Grundrecht auf Asyl auch geführt werden muss. Aber jetzt geht es um den Konvent in Brüssel. Ich finde, man sollte die Auseinandersetzung, die auf nationaler Ebene zu führen ist, vor allem dann nicht nach Brüssel verlagern, wenn man sie nicht gewinnen kann; denn für eine Grundgesetzänderung gibt es keine Mehrheit. Außerdem werden wir in die Grundrechtecharta hineinschreiben, dass durch sie in keinem Fall das Niveau weiter gehender nationaler Grundrechte gesenkt werden darf. Darauf haben wir uns verständigt. Das betrifft übrigens nicht nur ein einzelnes Grundrecht. Diese Forderung wurde von Delegierten verschiedener Länder erhoben. Die Finnen sind zum Beispiel in Sorge, dass das Niveau ihrer hochmodernen Verfassung durch die Grundrechtecharta gesenkt werden könnte. Dies darf nicht geschehen. Deshalb sind wir der Auffassung - mit den eben skizzierten Folgen für das deutsche Asylrecht -, dass durch die Grundrechtecharta der hohe Grundrechtsstandard der nationalen Verfassungen in keinem Fall gesenkt werden darf. Warum also streiten wir im Zusammenhang mit der Charta dann über diesen Punkt? Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in den nächsten zwei Wochen im Konvent sehr intensiv beschäftigen werden, sind die sozialen Grundrechte. Wir hatten uns eigentlich darauf verständigt, klarzustellen: Es ist an der Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte auch dadurch zu dokumentieren, dass - dem Auftrag von Köln entsprechend die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in die Charta finden. Warum streiten wir also darüber? Im Konvent besteht Einigkeit darüber, dass durch die Grundrechtecharta die Kompetenzen der EU-Organe nicht erweitert werden können. Ich bin der Auffassung, wir sollten gemeinsam überlegen, ob die bevorstehende Debatte im Konvent in Brüssel nicht auch von uns unterstützt werden sollte. Es ist offensichtlich, dass es Streit über die sozialen Grundrechte gibt. Wer wollte das in Abrede stellen? Es ist auch offensichtlich, dass einige Länder großen Wert darauf legen, eine riesengroße Zahl an sozialen Grundrechten zu formulieren. Wir sind dagegen der Auffassung - ich habe das eben als gemeinsame Auffassung dargestellt -, dass man nur Grundrechte formulieren sollte, die auch einklagbar sind. Deshalb werbe ich um die Unterstützung für den Versuch - den ich gemeinsam mit dem Delegierten der französischen Regierung, Herrn Braibant, unternommen habe - hier einen Mittelweg zu finden. Roman Herzog hat, als die Debatten im Konvent sehr streitig ausgetragen wurden, ausdrücklich aufgefordert, einen solchen Mittelweg zu finden. Der Mittelweg besteht darin, dass wir - das ist die erste Säule - in die Präambel der Charta und in die Überschrift des Kapitels über die sozialen Grundrechte den Grundsatz der Solidarität hineinschreiben, dass wir - das ist die zweite Säule - in acht Artikeln, gruppiert um die Elemente Arbeit, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die Respektierung und den Schutz sozialer Grundrechte hineinschreiben und dass wir - das ist die dritte Säule deutlich machen: Es wird auch künftig Konventionen mit neuen - auch sozialen - Grundrechten geben. Diese sind, wenn alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, Grundlage der Auslegung und Anwendung der Charta. Prof. Dr. Jürgen Meyer ({1}) Um deutlich zu machen, dass wir uns eigentlich verständigen könnten, will ich einmal die drei Sätze vorlesen, die Herr Braibant und ich in Bezug auf das Recht der Arbeit vorgeschlagen haben. Ich wüsste gerne, ob irgend-jemand in diesem Raum ist, der dem nicht zustimmt. Wir formulieren da: Jeder hat das Recht, zu arbeiten, und das Recht auf Schutz seines Arbeitsplatzes. Insbesondere hat jeder das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszuüben, sowie das Recht auf freien Zugang zu unentgeltlicher Arbeitsvermittlung. Jeder hat Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter oder missbräuchlicher Entlassung. Wer kann denn gegen ein so formuliertes soziales Grundrecht der Arbeit sein? ({2}) Ich habe gehört, dass die Debatte in der CDU/CSUFraktion letztlich deshalb zum Nein zu einer gemeinsamen Entschließung führte, weil man sich über die Aufnahme eines kleinen Satzes nicht einig geworden sei. Wir hatten im Entwurf der gemeinsamen Entschließung folgenden Satz vorgesehen: Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht benachteiligt werden dürfen. ({3}) Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion - mir ist schon klar, dass ich eigentlich diejenigen ansprechen müsste, die nicht da sind -, gegen diesen Satz? ({4}) Ich will Ihnen einmal in Gegenüberstellung zu diesem ganz bescheidenen kurzen Satz in Erinnerung rufen, was Sie vor kurzem auf Ihrem Parteitag zu diesem Thema beschlossen haben, Frau Merkel hat es sehr unterstützt, - ich zitiere aus Ihrem Parteitagsbeschluss -: Wir respektieren die Entscheidung von Menschen, die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Lebensentwurf zu verwirklichen suchen. ({5}) Wir anerkennen, dass auch in solchen Beziehungen Werte gelebt werden können, die für unsere Gesellschaft grundlegend sind. Dies gilt für nicht eheliche Partnerschaften zwischen Frauen und Männern; dies gilt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen jede Form von Diskriminierung. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genau dies hatten wir für unsere gemeinsame Entschließung vorgesehen. ({7}) Mir ist klar, dass Sie in Ihrer Fraktion dafür gekämpft haben und sich letztlich gegenüber Ihren CSU-Kollegen nicht durchgesetzt haben. Ich bitte Sie dringend, dieses Problem zu lösen und nicht zuzulassen, dass das, was Frau Merkel zu diesem Thema gesagt und durchgesetzt hat, von Herrn Stoiber wieder aus dem Gefecht gezogen wird. ({8}) Ich habe sehr genau beobachtet, dass Sie in unserer letzten Debatte am 18. Mai irritiert reagierten, als der CSU-Kollege Dr. Müller zu der Bedingung für die Ratifizierung der Charta sagte: Wir wollen keine Kompetenzausweitung, sondern erwarten Kompetenzbeschränkungen. Wie kann man so etwas von der Grundrechtecharta, die sich mit der Kompetenzfrage bekanntlich nicht zu befassen hat, überhaupt erwarten? Kommen Sie zu einer vernünftigen Einigung mit den CSU-Kollegen in Ihrer Fraktion! Wenn das geschehen ist, dann legen wir - das ist meine Überzeugung - wieder gemeinsame Entschließungen vor. Die Grundlage dafür ist breit genug. Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Es geht bei der Grundrechtecharta um die Identität der Europäer, die ihre Werteordnung, an die sie gebunden sind, deutlich machen sollten. Genauso wichtig ist: Es geht um die Kontrolle von Machtausübung durch die EU-Organe in Brüssel. ({9}) Dass wir dafür gemeinsam eintreten, das sollte künftig wieder deutlicher werden, als es heute durch Mehrheitsentscheidungen über einen Antrag der Koalition deutlich werden kann. Überlegen Sie bitte, ob Taktik nicht manchmal Übertaktieren - Taktik wird über die Sache gestellt bedeutet. Ich werde mich jedenfalls durch die Abstimmungen, die heute leider nicht im Konsens erfolgen werden, nicht davon abhalten lassen, auch mit den Europapolitikern der Oppositionsfraktionen, die für eine gemeinsame Entschließung gekämpft haben und denen es in erster Linie um die Sache und nicht um parteitaktischen Vorteil geht, weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten. Ich danke Ihnen. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Eine Kurzintervention? - Bitte, Herr Kollege Hintze, wenn es denn sein muss. ({0}) Prof. Dr. Jürgen Meyer ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie um diese Stunde noch im Deutschen Bundestag sind! Der Beitrag des Kollegen Professor Meyer erfordert doch eine kurze, friedliche Klarstellung. Sie haben unseren Parteitagsbeschluss ausgesprochen zutreffend zitiert und auch ausgesprochen zutreffend festgestellt, dass für CDU und CSU die Wahl der persönlichen Lebensform zur Bestimmungsfreiheit jedes einzelnen Menschen gehört. Sie haben dann fälschlicherweise mit Blick auf die Grundrechtecharta den Eindruck erweckt, dies sei nicht mehr unsere Auffassung. Richtig ist, dass wir bei der Gesamtwürdigung des Antrages, der hier gemeinsam eingebracht werden sollte, zu der Auffassung kamen, dass die Gewichte insbesondere durch die gewählten Formulierungen zwischen dem von uns allen hoffentlich für richtig gehaltenen Schutz von Ehe und Familie auf der einen Seite und der Wahlfreiheit der persönlichen Lebensform auf der anderen Seite ein bisschen ungleich verteilt waren. Deswegen erschien es uns richtiger, die Vorstellungen unserer Fraktion in der Form eines eigenen Antrages einzubringen. ({0}) Im Übrigen sollten wir uns auch in Zukunft nicht den Weg zu gemeinsamen Vorhaben dadurch verstellen, dass in Plenardebatten eklektisch aus der Entstehungsgeschichte eines gemeinsamen Antragsversuches berichtet wird. Sie wissen ja, dass dieser gemeinsame Antrag verschiedene Ecken und Kanten hatte und noch andere Aspekte berührte. Wenn Sie ein Interesse daran haben, dass wir in Zukunft europapolitische Projekte gemeinsam betreiben, dann bitte ich Sie doch, hier nicht einseitig im Plenum Dinge zu zitieren, ({1}) die viele Kolleginnen und Kollegen nicht mitverfolgen konnten, und nicht unruhig zu werden, wenn man einmal versucht, das kurz klarzustellen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun sind wir gespannt auf die Rede des Kollegen Peter Altmaier, dem ich nun das Wort erteile.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta beschäftigt sich seit ungefähr einem halben Jahr mit diesem Thema. Dabei zeigt sich immer mehr, dass dieses Projekt zu Anfang unterschätzt wurde. Es ist ein großes, ein richtiges und möglicherweise auch ein historisches Projekt der europäischen Integration. Wir sind aber noch weit davon entfernt, es als gelungenes Projekt bezeichnen zu können. Dieses Projekt kann scheitern: Es kann auf den letzten Metern im Konvent selber scheitern, es kann scheitern, wenn es in Nizza nicht feierlich proklamiert wird, weil es keinen Konsens zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament gibt, und es wäre de facto auch gescheitert, wenn es nicht irgendwann einmal als verbindlich in die europäischen Verträge übernommen würde. Aus unserer Sicht wäre das schade. Die Charta wäre dann nämlich das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Deshalb meine ich, dass wir bei dieser Debatte, die wir heute und in den nächsten Wochen führen, bei allen Unterschieden in der Sache deutlich machen müssen, dass uns daran gelegen ist, einen Konsens über die grundlegenden Fragen im Zusammenhang mit der Charta zustande zu bringen. ({0}) Lieber Kollege Meyer, ich glaube nicht, dass es uns weiterführt, wenn wir uns gegenseitig taktische Motive unterstellen oder unterstellen, dass wir vorsätzlich gemeinsame Anträge nicht hätten zustande kommen lassen. Sie wissen doch ganz genau, dass jeder hier in diesem Haus, dass CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die Grünen von Anfang an dieses Projekt einer europäischen Grundrechtecharta gemeinsam mitgetragen und unterstützt haben. Gerade auch Kollegen aus der CDU/CSU, in erster Linie Professor Roman Herzog, der ehemalige Bundespräsident, aber auch der Kollege Gnauck, der den Bundesrat im Konvent vertritt, und meine Wenigkeit als Stellvertreter, haben ihren Beitrag dazu erbracht, dass die Arbeiten so weit gediehen sind. Wir arbeiten doch konstruktiv und sachlich zusammen. Und deshalb bin ich der Auffassung, dass wir die heutige Debatte über unterschiedliche Anträge in der gebotenen Sachlichkeit führen sollten. ({1}) Ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass wir einen gemeinsamen Antrag zustande bringen. Wir waren auch sehr weit gediehen; es hat uns zum Schluss nicht mehr sehr viel getrennt. Eine Situation war erreicht, in der man sich die Frage stellen konnte, ob dieser Antrag gerade noch annehmbar ist oder ob er gerade nicht mehr konsensfähig ist. Wir haben uns letzen Endes nach langen Diskussionen, in denen wir es uns nicht einfach gemacht haben, dafür entschieden, streitig über die einzelnen Anträge abzustimmen, weil wir glauben, dass es unter Umständen sogar besser sein kann - wenn also klar ist, dass es nicht um eine grundsätzliche Haltung zur Charta geht, aber um einzelne Rechte, die aufgenommen werden sollen und über die diskutiert werden muss -, wenn die unterschiedlichen Auffassungen, die es in inhaltlichen Fragen gibt, in diesem Hohen Haus auch zum Ausdruck kommen. Wir schulden der Öffentlichkeit auch ein gewisses Maß an Ehrlichkeit. Wir dürfen nicht jeden Unterschied mit Worten von großer Einigkeit zudecken. ({2}) Und deshalb frage ich mich, ob wir mit dem, was wir gemeinsam formuliert hatten, nicht einfach auch der Versuchung erlegen sind, mit schönen Worten eine Einigkeit vorzutäuschen, die in der Sache in dieser Form gar nicht besteht. Ich will dazu drei Beispiele nennen. Das erste Beispiel betrifft die so genannten wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Wir unterscheiden uns doch überhaupt nicht darin, dass wir das, was wir als europäisches Sozialmodell bezeichnen, dass wir die Sozialstaatsverpflichtung, wie wir sie aus dem Grundgesetz kennen, auch in dieser Grundrechtecharta deutlich zum Ausdruck bringen wollen. Aber ich meine, man muss den Menschen schon klar sagen, was man mit den einzelnen Vorschriften konkret erreichen will. Wenn wir in die Charta Vorschriften über ein faires Verfahren, über eine ordnungsgemäße Verwaltung und über einen Zugang zu Informationen aufnehmen, dann handelt es sich um ganz konkrete Rechte, die der Bürger gegenüber den europäischen Institutionen einklagen kann. Das heißt, wir verbessern seine Rechtsposition. Wir geben dem Bürger etwas an die Hand, sodass er zum Beispiel künftig in Brüssel bei der Europäischen Kommission Akten für bestimmte Bereiche einsehen kann. Ähnliche Fragen müssen wir auch in Bezug auf die sozialen Grundrechte beantworten. Was soll sich nach Ihrer Auffassung für die Bürger in Europa mit der Aufnahme dieser sozialen Grundrechte ändern? Sind es nur unverbindliche Zielbestimmungen, die nichts ändern? Wollen Sie, dass diese Rechte einklagbar sind? Was bedeutet das? Sie haben gesagt, es solle keine neuen Kompetenzen geben. Sie haben in Ihrem Antrag ein Recht auf Zugang zu Leistungen der Gesundheitsfürsorge - damit ist die Krankenversicherung gemeint - gefordert. In jedem Mitgliedsland gibt es dieses Recht. Bedeutet das aber in Zukunft auch, dass jemand den Europäischen Gerichtshof anrufen kann, weil er der Auffassung ist, dass die Wartelisten in Großbritannien oder die rot-grüne Reform im Gesundheitswesen die Einlösung genau dieses Anspruchs unmöglich machen? Das würde nämlich bedeuten, dass wir im nationalen Bereich zwar weiterhin für die Sozialpolitik zuständig sind, dass aber der Europäische Gerichtshof in Luxemburg darüber entscheidet, wie diese Zuständigkeit ausgeübt wird. Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte weder die Wartelisten in Großbritannien noch die rot-grüne Budgetierung im Gesundheitswesen für wegweisende Erfindungen des 21. Jahrhunderts. Aber ich möchte, dass wir die politische Debatte über diese Themen im Deutschen Bundestag führen und dass entsprechende Fragen nicht durch Richterrecht in Luxemburg entschieden werden. Wir müssen uns die entsprechenden Fragen auch beim Thema Asyl stellen. Was wollen wir zu diesem Thema in die Charta aufnehmen? Wir haben mit unserem Antrag deutlich gemacht - das wird die Kollegin Roth wahrscheinlich als nicht akzeptabel empfinden -, dass wir die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt, aber als Institutsgarantie und eben nicht als Individualanspruch wollen. ({3}) Wir wollen dies aus folgendem Grund, Frau Kollegin Roth: Wenn wir jetzt in diese Charta hineinschreiben würden, es gibt einen Individualanspruch auf Asyl, würde das bedeuten, dass die Debatte über eine künftige europäische Harmonisierung des Asylrechts beendet ist, weil es sich nämlich um einen Mindeststandard handelt, der niemals mehr unterschritten werden kann. Ich sage Ihnen deshalb: Es wird im Konvent keinen Konsens über diese Frage geben. Es wird auch keine Chance geben, dass eine solche Charta jemals rechtsverbindlich wird, wenn Sie darauf bestehen, die hohen Standards des deutschen Grundgesetzes dort festzuschreiben. Bei der Charta geht es um Mindeststandards. Deshalb kann es nur darum geben, dass wir in dieser Charta eine Institutsgarantie auf Asyl festschreiben und unser Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention deutlich machen. Es muss dann im Rahmen des Tampere-Prozesses darüber diskutiert werden, wie ein harmonisiertes europäisches Asylrecht auszusehen hat. Nun frage ich Sie, Herr Kollege Meyer: Was bezweckt denn Ihr Antrag? Wollen Sie mit Ihrem Antrag die Institutsgarantie, wie das Ihr Innenminister bei jeder Gelegenheit propagiert? Wollen Sie das Individualgrundrecht festschreiben mit dem Ergebnis, dass Herr Schily gar nicht mehr nach Brüssel fahren muss, weil die von ihm eingeforderte Harmonisierung gar nicht mehr möglich ist? Das wird aus Ihrem Antrag nicht klar. Deshalb meine ich: Sie schulden Ihren eigenen Wählerinnen und Wählern, der Öffentlichkeit sowie den NGOs Auskunft darüber, was Sie mit dieser Charta im Einzelnen erreichen wollen. Das wird in diesem Antrag nicht klar. Ein drittes Beispiel, meine Damen und Herren. Wir haben uns in der Tat bis zum Schluss darüber gestritten, ob in diese Charta ein Verbot der Benachteiligung von gleichgeschlechtlichen Paaren aufgenommen werden soll. Heute Morgen haben wir im Bundestag über eine entsprechende gesetzliche Regelung in Deutschland debattiert. Ich denke, dass meine Fraktion deutlich gemacht hat, dass sie in diesem Bereich Diskussionsbedarf sieht und dass man wirklich darüber nachdenken muss, was man an der gegenwärtigen Rechtslage ändern muss. Die Frage ist nur, wo wir diese Diskussion führen. Wollen Sie wirklich, dass wir entscheidende Teile des deutschen Familienrechts auf europäischer Ebene harmonisieren? Sie haben in Ihrem Antrag die Freiheit der Wahl des Statuts für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Das heißt, dass es in Zukunft in jedem Mitgliedsland möglich sein muss, dass man eine eingetragene Partnerschaft in Anspruch nehmen kann. So habe ich Ihren Antrag verstanden, so verstehen es viele draußen. Wenn das nicht so gemeint ist, müssen Sie das sagen. Ich finde, es ist nicht richtig, Erwartungen zu wecken, die man nachher nicht einlösen kann. Meine Damen und Herren, wenn wir über das Zustandekommen einer solchen Charta sprechen, gehört auch dazu, dass wir uns darüber klar werden, dass in Europa solche Entscheidungen nur funktionieren, wenn man zum Kompromiss bereit ist. Wir haben eine unglaublich vielfältige politische Landschaft in Europa, unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedliche GrundrechtstradiPeter Altmaier tionen. Wenn Sie jede Debatte mit der Erklärung beginnen, Sie seien für eine Charta, Sie seien dafür, dass dieses und jenes geregelt werde, dies dürfe aber nicht dazu führen, dass die deutschen Rechtsstandards unterschritten würden, werden wir, wenn jeder dies für sich in Anspruch nimmt, niemals zu einem Ergebnis kommen. Diese Charta wird im September nur dann zum Erfolg kommen, wenn es bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft gibt. Wir müssen zum Beispiel auch über neue Rechte diskutieren, die wir in diese Charta hineinschreiben. Wir hatten uns in dem gemeinsamen Antrag zu dem Informationszugangsanspruch bekannt. Ich halte das für ganz wichtig. Das tragen wir mit. Wir haben uns auch dazu bekannt, dass wir im Bereich des Datenschutzes, im Bereich der Gen- und Biotechnologie Regelungen aufnehmen. Aber nun frage ich Sie: Warum war es denn so schwierig, mit Ihnen über ein Verbot der Vertreibung, über ein Grundrecht auf Heimat zu reden? Das war mit der Koalition nicht zu machen. Ich verstehe ja, dass viele sagen, die Debatte sei historisch belastet, aber angesichts der Vertreibungen, die im ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien, im Kosovo bis in die allerjüngste Zeit stattgefunden haben und möglicherweise in anderen Teilen Europas noch stattfinden werden, was niemand von uns hofft, müssen wir uns doch der Frage stellen, wie wir damit umgehen. Dann kann es doch nicht verboten sein, darüber nachzudenken, ob in dieser Charta erstens ein Recht auf Minderheitenschutz und zweitens ein Vertreibungsverbot deutlich sichtbar verankert werden sollen. Meine Damen und Herren, ich bin optimistisch, dass wir es schaffen werden, in der verbleibenden Zeit und mit einer lebhafter werdenden innerstaatlichen Debatte - das ist ganz normal - dazu zu kommen, dass die europäische Charta, die wir hoffentlich im September im Konvent verabschieden werden, einen Schritt nach vorn bedeutet, auch wenn sie nicht alle Erwartungen und sicherlich nicht jede einzelne Wunschvorstellung in Bezug auf konkrete Rechte erfüllt. Wichtig ist aber, dass wir uns diesen Bemühungen unterziehen. Die Diskussion, die nun in Gang gekommen ist, die auch von Joschka Fischer und von dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac aufgegriffen worden ist, zeigt, dass diese Grundrechtechartadiskussion im Umfeld einer generellen Debatte über die Zukunft der Europäischen Union bis hin zur Frage einer europäischen Verfassung und der Finalität der europäischen Integration stattfindet. Ich meine, das lohnt die Mühe, auch in Zukunft an einer gemeinsamen Position nicht in jeder einzelnen Frage, aber im Hinblick auf das große Ziel der Charta festzuhalten. Vielen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Grundrechtecharta im Rahmen der Diskussion über eine europäische Verfassung sicher ein ganz wichtiger Aspekt des verfassunggebenden Prozesses. Ich habe immer Angst, von „Verfassung“ zu sprechen, ({0}) weil ich weiß, wie unterschiedlich der Begriff „Verfassung“ in Europa verstanden wird. Deshalb halte ich es für besser, vom „verfassunggebenden Prozess“ zu sprechen, da sich in diesem Begriff unterschiedliche Traditionen vereinen können. Über die Notwendigkeit einer Grundrechtecharta besteht in diesem Hause sicher ein großer Konsens. Ich denke, es ist unstrittig, dass die Entwicklung der Wirtschaftsgemeinschaft hin zur politischen Union einer Flankierung durch einen effektiven Grundrechtsschutz bedarf, dass die Europäische Union endlich ein bürgerrechtliches Fundament braucht und dass dieser Grundrechtsschutz nicht nur im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik sowie im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit notwendig ist, in dem es große schwarze Demokratielöcher gibt, sondern auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso gibt es im Bereich der Sozialunion einen Nachholbedarf an Grundrechten. Die Grundrechtecharta stärkt zudem die Idee einer Unionsbürgerschaft; denn die Handlungsmöglichkeiten der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger werden sich erweitern. Wir haben in diesem Zusammenhang immer darauf bestanden, dass es nicht zu unterschiedlichen Grundrechtsstandards kommen darf, dass es nicht innerhalb der Europäischen Union Menschen mit unterschiedlichen Rechten geben darf. Deswegen plädiere ich eindringlich dafür, die Unterscheidung zwischen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und anderen Bürgern nicht in der Charta der Grundrechte, die für alle Menschen gelten soll, zu vertiefen. Man kann sagen, dass die bisherigen Arbeiten des Konvents sehr ermutigend waren, wenn es auch noch viele Dinge zu kritisieren gibt und noch ein großer Verbesserungsbedarf besteht. Ich glaube, das Forum des Konvents ist ein gutes neues Mittel zur Förderung der europäischen Integration. Ich denke auch, dass durch eine erfolgreiche Arbeit des Konvents die bisherige alleinige Herrschaft der Regierungskonferenzen um etwas sehr Positives ergänzt wird. Warum kein gemeinsamer Konsens auf dem Tisch liegt, haben schon meine Vorredner ausführlich geschildert. Auch ich bin der Meinung, dass es, wenn es keinen Konsens geben konnte, besser ist, dass die unterschiedlichen Positionen dargestellt werden. Ich denke, das ist sinnvoller als ein entleerter Kompromiss. So war zumindest unsere Meinung im Menschenrechtsausschuss, der beratend an der Grundrechtecharta mitwirkt. Ich möchte ein paar Sätze zu meiner Kritik an den Anträgen der anderen Fraktionen sagen. Ich finde viele Punkte im Antrag der F.D.P.-Fraktion sehr gut. Aus meiner Sicht ist jedoch der Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte bei Ihnen zu stark eingeschränkt. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise fallen Sie, glaube ich, sogar hinter die großen UNO-Pakte und die Forderungen der Wiener Menschenrechtskonferenz und des Kopenhagen-5-Prozesses zurück. Zu dem Antrag der Union: Ich bin froh, Herr Altmaier und Herr Hintze, dass Sie sich eindeutig zu der Notwendigkeit einer Grundrechtecharta bekannt haben. In der Union gibt es sicher auch andere Positionen; von daher ist das zu begrüßen. In Ihrem Antrag gibt es im Wesentlichen drei Punkte, mit denen ich große Probleme habe. Zunächst habe ich große Schwierigkeiten damit, dass Sie in der Charta die christlich-abendländische Tradition Europas festschreiben wollen. ({1}) Für mich ist das ein Anachronismus. Wie um alles in der Welt wollen Sie zum Beispiel dem Beitrittskandidaten Türkei die Möglichkeit geben, sich in einem solchen gemeinsamen europäischen Raum wiederzufinden? ({2}) - Ich weiß. - Ich gehe davon aus, dass damit klar ist, dass Sie die Türkei nicht als Teil dieser Europäischen Union wahrnehmen wollen; denn sonst würden Sie sich nicht auf die christlich-abendländische Tradition beschränken. ({3}) Darüber würde ich gerne eine ausführliche Debatte mit Ihnen führen. Ferner glaube ich, dass auch bei Ihnen der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte eingeschränkt wird. Unteilbarkeit heißt ja, dass politisch-bürgerliche Freiheitsrechte in Verbindung mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten zwei Seiten einer Medaille sind. Wenn Sie nun aber in Ihrem Antrag schreiben, dass es in erster Linie um die klassischen Freiheitsund Verfahrensrechte geht, dann etablieren Sie eine Hierarchie, wodurch die Unteilbarkeit in ein Ungleichgewicht gerät. Das ist mein Kritikpunkt. Herr Altmaier, Sie haben es natürlich angesprochen: Ich bin tatsächlich ganz anderer Auffassung als Sie, was das Asylrecht angeht. Angesichts dessen, dass Sie von der Notwendigkeit der Kompromissfindung sprechen, muss ich unterstellen, dass die Europäische Union ein Stück weit dazu dienen soll, das Asylrecht auf niedrigem Niveau zu harmonisieren. Seit vielen Jahren wird immer wieder versucht, Europa dazu zu benutzen, Unliebsames aus dem eigenen Land wegzuharmonisieren. Sie haben sich ja nicht einmal bereit erklärt, den Beschluss von Tampere zu übernehmen, in dem von einem uneingeschränkten und allumfassenden Bezug auf die Genfer Flüchtlingskonvention gesprochen wird, wobei ich die Genfer Flüchtlingskonvention in der Tat ganz anders interpretiere.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entschuldigen Sie, ich bin etwas langsam, weil ich allmählich wirklich müde werde.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das verstehe ich angesichts dessen, dass wir beide hier wirklich lange gesessen haben.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen möchte ich das Ganze auch nicht weiter in die Länge ziehen.- Ich wünsche unseren Männern, die im Konvent arbeiten, viel Kraft. Sie werden von uns noch viele gute Vorschläge bekommen. Herr Altmaier, da hoffe ich auch auf Sie. Bei Herrn Meyer bin ich mir sehr sicher. Uns wünsche ich ein paar schöne Sommertage. Vielen Dank, Frau Präsidentin. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P.-Fraktion spricht nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt europäische Grundrechtecharta wirkt auf mich elektrisierend. Das macht mich munter und überhaupt nicht müde. ({0}) Deshalb bin ich froh, dass wir heute die Gelegenheit haben, nicht zum letzten, sondern erst zum zweiten Mal über dieses meiner Meinung nach wichtigste Projekt im Rahmen des derzeitigen europäischen Integrationsprozesses zu diskutieren. ({1}) Die F.D.P. bekennt sich uneingeschränkt zur europäischen Grundrechtecharta, ({2}) die im Rahmen der Integration und des Verfassunggebungsprozesses in der Europäischen Union ein wesentliches Projekt ist. ({3}) Selbstverständlich muss die Wirtschafts- und Währungsunion ergänzt und zu einer europäischen Wertegemeinschaft weiterentwickelt werden. Kann man das besser machen als mit einer klar, verständlich und präzise formulierten europäischen Grundrechtecharta? Deshalb ist für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ganz eindeutig, Herr Meyer: Der Deutsche Bundestag ist für dieses Projekt. Aber es gibt unterschiedliche Claudia Roth ({4}) Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen. Ich finde es richtig und gut, wenn diese hier herausgearbeitet werden, wenn aber auch deutlich wird: Wir verfolgen letztendlich - ich hoffe, darin sind wir uns einig - dieselbe Zielrichtung. Diese ist gerade durch die hier im Hohen Hause von Staatspräsident Chirac gehaltene Rede - Herr Meyer, Sie haben es erwähnt - klarer geworden. Er hat das enttabuisiert, was ein bisschen wie Mehltau auf vielen, auch auf den Mitgliedern im Konvent, lag. Es musste nämlich einmal deutlich ausgesprochen werden, dass wir dieses Grundrechteprojekt in den langfristig angelegten Verfassunggebungsprozess der Europäischen Union einordnen müssen, wobei wir als Liberale am Ende eine Föderation anstreben und die Grundrechtecharta in diesen Prozess eine ganz wichtige Dynamik hineinbringen muss. ({5}) Denn diese Charta muss ein großes Defizit beseitigen. Sie muss das Defizit beseitigen, dass wir heute einen nicht unwesentlich großen Raum europäischen Handelns haben, in dem sich eben nicht an Grundrechten orientiert werden muss. Wir bekommen immer mehr europäische Organe: Wir haben Europol, die Betrugsbekämpfungseinheit, eine handlungsfähige Kommission - dies wurde von uns allen gefordert -, die wir noch handlungsfähiger machen wollen. Wir wollen auch das Parlament stärken und entscheidungskräftiger machen und dem Rat mehr Mehrheitsentscheidungen zugestehen, damit der Prozess vorangeht. Es kann aber doch nicht sein, dass die Ausübung gemeinschaftlicher Gewalt weiterentwickelt wird, ohne dies mit der Ausgestaltung einer Grundrechtecharta zu verbinden, ({6}) auf die sich nicht nur die Bürger der Europäischen Union, sondern auch die Bürger, die sich in der Europäischen Union aufhalten, berufen können. Wir sind mit Sicherheit alle der Meinung, dass wir hier differenzieren müssen: Wenn es um die politische Partizipation geht, gilt dies natürlich nur für die Bürger der Europäischen Union. Geht es aber zum Beispiel um selbstverständliche Menschenrechte, gilt dies für jeden Bürger, der sich in der Europäischen Union aufhält. Wir als Liberale wollen eine Grundrechtecharta, die diesen Namen auch verdient. Grundlage muss die europäische Menschenrechtskonvention mit den klassischen Freiheitsrechten sein; darüber brauchen wir hier kein Wort zu verlieren. Aber was will man darüber hinaus in der Grundrechtecharta verankert wissen? Hier gibt es natürlich Unterschiede - im Verständnis, vielleicht auch nur in der Formulierung, was natürlich juristisch eine andere Bewertung zur Folge haben kann. Neben den klassischen Freiheitsrechten auf der Grundlage der europäischen Menschenrechtskonvention ist für uns Liberale das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinsichtlich der Verwendung personenbezogener Daten auf europäischer Ebene unverzichtbar. Es geht darum, wie man besser Kontrolle über das ausüben kann, was häufig noch immer in nicht nachvollziehbarer Weise in den europäischen Gremien passiert. Wir wollen auf europäischer Ebene ein Recht auf Asyl und den Schutz vor Abschiebung bei Gefahr der politischen Verfolgung im Heimatland, der Gefahr für Leib und Leben. Wie aber kann das Endprodukt aussehen, wenn man nicht ehrgeizig an ein Projekt herangeht, sondern die Gesetze immer nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners formuliert? ({7}) Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, uns ambitioniert den Zielen zu stellen und ehrgeizig zu formulieren, und zwar in einer Auseinandersetzung, durch die den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland deutlich wird, was wir im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union für sie erreichen wollen. Durch das Projekt der europäischen Grundrechtecharta wollen wir mehr europäisches Bewusstsein und mehr Identität mit Europa schaffen. Das gelingt uns aber nicht, wenn wir nur miteinander diskutieren. Es muss vielmehr eine öffentliche Diskussion stattfinden. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass sie sich auf diese Grundrechte berufen und sie letztendlich auch einklagen können. ({8}) Deshalb ist ganz entscheidend, dass diese Charta, wenn sie denn diesen Anforderungen grundsätzlich genügt, verbindlich ist. Sollte es aufgrund der verschiedenen Interessen im Konvent - dort schlagen sich die unterschiedlichen Meinungen der Mitgliedstaaten nieder - nicht zu einer Verbindlichkeitserklärung, sondern, was im Moment wahrscheinlicher ist, nur zu einer Deklaration, also einer unverbindlichen Erklärung, kommen, muss - das ist die Meinung der F.D.P.-Bundestagsfraktion - der Meinungsbildungsprozess sehr engagiert weitergeführt werden. Wir können den Bürgern nicht sagen: Es ist etwas deklariert worden; das müsst ihr hinnehmen. Wir wissen aber nicht, wann dies einen verbindlichen Charakter bekommt. - Wir müssen sie vielmehr zur Teilhabe an diesem Prozess auffordern. Und wenn es dann zur Ratifikation der Charta kommt, dann - das kann ich für die Liberalen sagen - unter Partizipation der Bürger. Wir wollen, dass dies in Deutschland im Rahmen eines Referendums geschieht. ({9}) Dies wurde in der Vergangenheit vielleicht versäumt. Wir sollten dieses Instrument aber nutzen, auch wenn es damit zum ersten Mal auf europäischer Ebene Anwendung findet. Vielen Dank. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich gebe bekannt, dass der Kollege Dr. Klaus Grehn seine Rede für die PDS- Fraktion zu Protokoll gegeben hat.1) Nun hat Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Amt, das Wort.

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon jetzt lässt sich die Feststellung treffen, dass der Weg richtig ist, den der Europäische Rat für die Erarbeitung einer Grundrechtecharta gewählt hat. Er hat damit nämlich überwiegend Vertreter von Parlamenten beauftragt. Hier wird mit einer für mich erstaunlichen Effizienz gearbeitet. ({0}) - Jetzt mache ich noch eine unvorsichtige Bemerkung: Mein Maßstab war eben der Ministerrat. ({1}) Mit einer erstaunlichen Effizienz hat dieses Gremium die vorgegebenen ebenso wie die selbst gesteckten Ziele erreicht. Dies ist sicherlich allen Mitgliedern zu verdanken, die von den 15 Mitgliedsländern entsandt sind. Aber ich möchte auf deutscher Seite Herrn Bundespräsidenten Professor Herzog in besonderer Weise danken, ebenso Ihnen, Herr Kollege Meyer, Herr Kollege Altmaier und Herr Kollege Gnauck. ({2}) Für die Bundesregierung gibt es die klare Hoffnung, dass es einen rechtsverbindlichen Wortlaut geben wird, der zum geeigneten Zeitpunkt und im geeigneten Verfahren in die Verträge übernommen werden kann. Sollte es im Gegensatz zur derzeitigen Vorstellung nicht bereits in Nizza dazu kommen, muss sehr schnell die Frage beantwortet werden, ob auf dem Weg der Vertragsratifizierung oder eines Referendums das Ziel erreicht wird. Die französische Regierung unterstützt uns Deutsche in unserer Hoffnung. Wir haben mit ihr Einigkeit darüber erzielt, wie diese deutsche Hoffnung, die an einklagbare Grundrechte gekoppelt ist, mit der Formulierung von sozialen Grundrechten zu verbinden ist, die einen anderen Verbindlichkeitsgrad hätten. Herr Kollege Meyer, im Namen der Regierung danke ich Ihnen für die Beiträge, die Sie in der Konventsarbeit leisten, und vor allem für Ihre Zusammenarbeit mit dem Vertreter der französischen Regierung. ({3}) - Ihm habe ich auch schon gedankt. Aber mit dem französischen Regierungsvertreter spricht nun wirklich Herr Meyer. Im Übrigen, Herr Hintze, darf man Dank nicht beliebig machen, weil dann niemand mehr glaubt, dass ihm wirklich gedankt wird. ({4}) - Das verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht. Was erwarten wir im Endergebnis von der Charta? Erstens Rechte der Bürger der Europäischen Union im Zusammenhang mit Rechtshandeln der Union selbst und mit auf EU-Recht gestütztem Rechtshandeln der Staaten sowie die Möglichkeit, dass sie ihr Recht auch einklagen können, und zweitens tatsächlich eine Wertegemeinschaft. Die großen Verfassungen in Europa seit der Französischen Revolution einschließlich des deutschen Grundgesetzes haben nach und nach eine Wertegemeinschaft, zuerst in den Nationalstaaten - diese immer mehr zusammenführend -, geschaffen. Wenn wir uns einig sind, dass all diesen Verfassungen Ideen der Aufklärung zugrunde liegen, und wenn am Ende der Entwicklung eine Verfassung steht, die für ganz Europa die Prinzipien der Aufklärung auch rechtlich stärker durchsetzbar machen, soweit sie die Rechte des einzelnen Bürgers betreffen, werden wir einen Meilenstein europäischer Geschichte erreicht haben. Alle, die daran mitgewirkt haben, dürfen dann darauf stolz sein. Herzlichen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für den Bundesrat spricht Minister Gnauck aus dem Lande Thüringen. Jürgen Gnauck, Minister ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie, Frau Präsidentin, das Thema als spannend bezeichnet ha- ben und dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger von „elektrisierend“ gesprochen hat. Daher möchte ich mich zu dieser späten Stunde bemühen, einige neue Gedanken beizutragen. Ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass der Deutsche Bundestag noch vor der Sommerpause Gelegenheit nimmt, dieses wichtige Thema zu diskutieren. Auch der Bundesrat wird sich in seiner letzten Sitzung vor der Som- merpause in Bonn nächste Woche Freitag mit einem Ent- schließungsantrag befassen. Ich denke, dass die Diskus- sion am heutigen Nachmittag anschaulich gemacht hat, dass man sich im Grundsatz zwar einig ist, dass aber der Teufel ganz offensichtlich im Detail steckt. Denn wenn es an das Eingemachte geht, liegen die Auffassungen ganz offensichtlich ein Stück weit auseinander. Im Konvent - das ist bereits angesprochen worden; ich danke insbesondere dem Kollegen Meyer und dem Kolle- 1) Anlage 8 gen Altmaier, dass sie durch ihre sachkundigen Beiträge daran mitarbeiten, das Projekt zum Erfolg zu machen -, zeichnet sich ein Konsens ab. Nachdem wir leider heute auch sehr viel Trennendes gehört haben, will ich Ihnen sagen, was die deutschen Länder im Konvent verbindet. Wir sind der festen Überzeugung, dass keinerlei neue Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen werden dürfen. Das ist - ich werde gleich noch darauf eingehen - die Conditio sine qua non. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, die heute schon in einigen Beiträgen anklangen und die ich noch einmal kurz anreißen möchte: Der langjährige deutsche Richter am Europäischen Gerichtshof Hirsch wies darauf hin, dass wir darauf achten müssen, dass nicht eine so genannte kompetenzansaugende Wirkung dann zum Tragen kommt, wenn wir die Charta ratifizieren und in die Verträge überführen. Das ist ein juristischer Begriff, ich bitte um Nachsicht, ich habe nicht das Copyright auf ihn. Wir müssen aufpassen, dass dieses Risiko nicht durch das europäische System eintritt. Mein zweiter Gedanke wurde auch von einem anerkannten Europarechtler, Professor Huber aus Jena, betont. Wir müssen darauf achten, dass die verbindliche Charta nicht zu dem Problem führt, das wir im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht zu Landesverfassungsgerichten schon einmal festgestellt haben, dass nämlich die so genannte unitarisierende Wirkung dann eintritt, wenn wir einen verbindlichen Grundrechtekatalog bekommen. Ich denke daran, dass die nationalen Gerichte, insbesondere durch verschiedene Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, bereits heute ein Stück ihrer Bedeutung verloren haben. Ich habe mir einmal vorgestellt, was passiert wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht das Bundeswehrurteil gefällt hätte. Allein deswegen, weil das Urteil vom Europäischen Gerichtshof gefällt worden ist, ist das ganz offensichtlich - zu meiner Überraschung - in der Bundesrepublik Deutschland als völlig natürlich hingenommen worden. Es ist Aufgabe - auch das klang in verschiedenen Beiträgen bereits an -, das zusammenzutragen, was gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandard ist. Das soll kodifiziert, konkretisiert und vielleicht auch - das ist noch ein Streitpunkt - aktualisiert werden. Dabei muss man sich auf der Grundlage der europäischen Menschenrechtskonvention auseinander setzen und das, was nach meiner Meinung vom Status quo her gemeinsame Verfassungsüberlieferung ist, zusammentragen. Die meisten Mitglieder im Konvent, vielleicht nicht alle, sind dabei durchaus aufgeschlossen gegenüber den so genannten modernen Grundrechten. Das klang auch hier heute Nachmittag bereits an. Dinge, die für uns völlig selbstverständlich sind, weil sie in anderen Gesetzen geregelt sind, stoßen insbesondere in nordeuropäischen Staaten auf helle Begeisterung. So wird vom Recht auf eine ordnungsgemäße Verwaltung gesprochen -, was für uns völlig selbstverständlich ist. Auch weitere Punkte, die in der Diskussion streitig sind, könnten in der Charta durchaus auftauchen. Ich denke an die Bereiche Gentechnologie und Informationstechnik. Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der bisher noch nicht von den Rednern vorgetragen worden ist. Das ist die Frage der Grundrechtseinschränkungen. Da geht man im Konvent einen anderen Weg, als wir ihn aufgrund unserer Verfassungstradition her kennen. Man versucht, über allgemeine beschränkende Regelungen quasi etwas vor die Klammer zu ziehen, was sonst in unserem Grundgesetz in einzelnen Grundrechten selbst geregelt worden ist. Bis jetzt scheint es - Kollege Meyer und Kollege Altmaier betrachten es auch mit großer Spannung - zu gelingen und wir hoffen, dass über eine so genannte Querschnittsbestimmung keine Kompetenzerweiterung droht. Einen weiteren Punkt will ich betonen: Der Europäische Gerichtshof betreibt bereits seit einigen Jahren eine durchaus europarechts- und grundrechtsfreundliche Rechtsprechung. Wenn man aber in die Entscheidungen hineinschaut, muss man feststellen, dass immer dann, wenn es um die europäischen Organe gegangen ist, Eingriffe als gerechtfertigt bezeichnet worden sind. Ich wünsche mir von der Charta, dass sie, wenn sie denn verbindlich wird, dazu beitragen kann, die Schranken transparenter zu machen, und dass sie zulässt, dass nicht alle Eingriffe auch tatsächlich gerechtfertigt sein werden, wie es momentan nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes der Fall ist. Wenn es nicht so spät und meine Redezeit nicht begrenzt wäre, würde ich mich noch breit über die sozialen Rechte auslassen. Es ist meine Überzeugung - das gehört zu dem Mandat von Köln -, dass die Charta auch insoweit keine großen Programmsätze enthalten sollte. Wer die Diskussion verfolgt hat, weiß, dass es im Präsidium am Anfang durchaus andere Vorstellungen gab. Anhand der Ausführungen des Kollegen Meyer will ich aber noch einmal eines betonen: Die deutschen Länder werden die von Ihnen so bezeichnete erste Säule sicherlich mittragen. Das ergeben die bisherigen Abstimmungen. Das heißt, wir werden nicht über den Grundsatz der Solidarität streiten. Ob es so weitergeht, werden die Koordinierungen und auch Ihre Vorstellungen der nächsten Wochen zeigen. Die wesentliche Frage darf der Konvent - da wird Roman Herzog hoffentlich eine wesentliche Rolle spielen; ich freue mich, wenn er an die Spitze des Konvents zurückkehrt - nicht entscheiden, nämlich: Wird die Charta eines Tages rechtsverbindlich werden? Zur Klarstellung möchte ich noch eines sagen: Zu einer Proklamation der Charta wird es aller Voraussicht nach dann kommen, wenn man einen für alle Seiten zustimmungsfähigen Entwurf hat. Das heißt, wir werden nicht über eine Proklamation oder über eine Deklaration streiten. Wir werden aber sehr wohl darüber streiten - je nach Inhalt -, ob es zu einer Überführung in die europäischen Verträge kommt oder nicht. Da haben sich die deutschen Länder heute bewusst noch nicht festgelegt. Bevor sie sich entscheiden, wollen sie wissen, was in dieser Wundertüte - wenn ich den Vergleich wagen darf - enthalten sein wird. Minister Jürgen Gnauck ({2}) In der „Zeit“ wurde gefragt: Was wird aus der „Wertegemeinschaft Europa im Labor“? Wird tatsächlich eine Volksausgabe der Grundrechte daraus, wie man es sich im Zuge der Mandate von Köln und Tampere vorgestellt hat? Ich bin hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass die deutschen Länder ihren Beitrag dazu leisten werden. Ich hoffe, ich habe die mir zugedachte Redezeit nicht überschritten, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen schöne Sommerferien. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie haben Ihre Redezeit nicht überschritten, Herr Gnauck; das zu Ihrer Beruhigung. Als letzter Redner in dieser Debatte hat Christian Sterzing das Wort.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss dieser Debatte möchte ich nur noch einige Randbemerkungen machen. Ein Ziel dieses Grundrechtechartaprozesses war, von Anfang an Transparenz zu schaffen und Partizipation herbeizuführen. Ich ziehe eine kurze Zwischenbilanz und sage im Hinblick auf die Transparenz: Hier ist ein hoher Grad an Durchsichtigkeit, an Offenheit erreicht worden, der wirklich Schule machen sollte. Zum Thema Partizipation: Auch hier sind vom Konvent neue Wege beschritten worden; es wurde vorhin schon einmal darauf hingewiesen: In vielen gesellschaftlichen Bereichen sind Gruppen, Institutionen, Nichtregierungsorganisationen aktiv geworden und haben sich an diesem Prozess beteiligt. Ich glaube, diese Partizipation zivilgesellschaftlicher Kräfte hat Vorbildcharakter. Ein kleines Beispiel haben wir hier im Bundestag erlebt - ich weise in diesem Zusammenhang auf den veränderten Antrag der Koalitionsfraktionen hin -, nämlich dass die Enquete-Kommission einen spezifischen Beitrag zum Thema „Herausforderungen der Biotechnologie“ geleistet hat. Hier hat vielleicht so etwas wie Elektrisierung durch den Grundrechtechartaprozess stattgefunden; denn die Enquete-Kommission hat sich gleich zu Beginn ihrer Arbeit darauf gestürzt. Sicher, es gibt noch keine breite gesellschaftliche Debatte. Die 350 Millionen EU-Bürger diskutieren nicht von morgens bis abends über die Grundrechte. Wir müssen sehen, dass wir hier noch ein gutes Stück Arbeit zu leisten haben. Die zweite Randbemerkung betrifft den Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte. Ich glaube, wir sind da ein Stück weitergekommen. Die Grundrechtecharta wird im Augenblick in einem anderen europapolitischen Zusammenhang diskutiert als noch vor einigen Monaten. Das hat mit der Rede des Außenministers zu tun; das hat auch mit der Rede von Präsident Chirac hier im Bundestag zu tun. Im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta wird mittlerweile auch über eine Verfassung geredet. Ich glaube, es ist wichtig, festzuhalten, dass die Debatte über die Grundrechtecharta vor einem veränderten europapolitischen Horizont stattfindet. Aber die Situation hat sich auch tendenziell verschlechtert. Es haben sicherlich alle das Signal von Feira aufgenommen, dass es wohl schwierig sein wird, zu einer Grundrechtecharta zu kommen, die dann auch Teil der Verträge wird. Insofern müssen wir uns von einer etwas kurzfristigen Perspektive verabschieden und uns vielleicht auf eine mittelfristigere einrichten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auf dieses Signal von Feira auf keinen Fall mit Resignation reagieren, sondern im Grunde wieder deutlich machen, wie lang der Atem sein muss, der nötig ist, um diesen Prozess voranzutreiben. Dies beweisen wir hier im Bundestag unter anderem natürlich dadurch, dass wir am Freitag Nachmittag noch darüber debattieren. Aber dies macht auch deutlich, dass ein Randproblem des Grundrechtechartaprozesses weiter an Bedeutung gewinnt, nämlich der geforderte Beitritt der EU zur EMRK, zur europäischen Menschenrechtskonvention. Ich glaube, wir müssen dies als einen zentralen Punkt im Blick behalten. Zum Schluss will ich mein Bedauern zum Ausdruck bringen, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist. Ein Signal aus dem Bundestag wäre sicherlich wünschenswert gewesen. Der Geist war willig, die Fraktion war schwach. Das müssen wir hinnehmen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir nicht das letzte Mal über die Grundrechtecharta debattieren. ({0}) Bei der nächsten Debatte im Herbst werden die Differenzen angesichts einer konkreten Vorlage wahrscheinlich steigen. ({1}) - Das hängt von der Vorlage ab. Insofern werden sich die Meinungen ausdifferenzieren. Wir werden darüber weiter angeregt diskutieren. Ein spezifisches Grundrecht verdient zum Schluss Erwähnung, das Grundrecht auf Erholung. Ich wünsche Ihnen bei der Wahrnehmung dieses Grundrechts viel Erfolg. Vielen Dank für Ihre besondere Geduld zu dieser Stunde. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Dieses Grundrecht sollte einvernehmlich in die europäische Grundrechtecharta aufgenommen werden. Da ich das Glück hatte, auch die Debatte im März als Präsidentin verfolgen zu dürfen, war ich ein bisschen betrübt, dass die sich damals abzeichnende große Einigkeit offensichtlich wieder ein wenig aufgelöst hat. Aber ich tröste Sie alle, die Europäer und auch den Herrn Minister aus Thüringen: Dies ist ein Prozess, in dem man sich nicht durch Tagesschwierigkeiten vom Wege abbringen lassen Minister Jürgen Gnauck ({0}) soll. Insofern danke ich Ihnen allen für die Diskussion. Hier kommen wir sicherlich weiter. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 14/3800. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Drucksache 14/3387 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Die Rechte der Bürger stärken - Für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ auf Drucksache 14/3368 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Verbindlichkeit der Europäischen Grundrechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention“ auf Drucksache 14/3322 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechtecharta“ auf Drucksache 14/3513 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Erika Simm, Joachim Stünker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), HansChristian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugs- gesetzes - Drucksache 14/3763 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Alle Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3763 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. - Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Um die Bemerkung des Staatsministers Zöpel aufzunehmen: Ich danke Ihnen aufrichtig dafür, dass Sie so lange ausgeharrt haben. Ich wünsche Ihnen erholsame, interessante, ruhige Ferienund Erholungstage - ohne Sondersitzung des Deutschen Bundestages. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 12. September 2000, 11 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.