Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/13/1992

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße zunächst ganz herzlich auf der Tribüne den Vorsitzenden des Obersten Rates der Republik Litauen, Herrn Vytautas Landsbergis, mit seiner Delegation. ({0}) Herr Vorsitzender, Sie weilen seit Montag in Bonn. Sie haben zahlreiche Gespräche geführt. Ich denke, Ihr Aufenthalt heute morgen im Parlament ist zugleich ein Zeichen der Verbundenheit mit unserem Parlament, aber insbesondere mit denjenigen, die seit Anbeginn Ihre Unabhängigkeitsbestrebungen durchgängig begleitet haben, Sie in den schweren Tagen unterstützt haben. Wir hoffen, daß Ihr Land eine gute, demokratische, eigenständige Entwicklung nimmt und daß die deutsch-baltischen und die deutschlitauischen Beziehungen besonders gut gedeihen. Viel Erfolg bei Ihrem Besuch in der Bundesrepublik. ({1}) Meine Damen und Herren, zunächst möchte ich Frau Kollegin Erika Reinhardt, die am 30. Januar 1992 ihren 60. Geburtstag feierte, und Herrn Kollegen Dr. Horst Ehmke, der am 4. Februar 1992 seinen 65. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses aussprechen. ({2}) Sodann gebe ich bekannt, daß der Ausschuß für Fremdenverkehr einmütig beschlossen hat, sich künftig „Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus" zu nennen. ({3}) - Übrigens haben dem alle Fraktionen zugestimmt. Ich gehen davon aus, daß sich kein Widerspruch im Hause erhebt. - Dann ist es so beschlossen. Der Dreizehnte Subventionsbericht der Bundesregierung auf Drucksache 12/1525, der bereits in der 70. Sitzung des Bundestages überwiesen wurde, soll nachträglich auch dem Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden. Interfraktionell ist ferner vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde: Dramatische Abnahme der Ozonschicht und politische Konsequenzen 2. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Entsendung eines Ersatzbewerbers als Beobachter in das Europäische Parlament - Drucksache 12/2056 -3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Marktstrukturgesetzes - Drucksache 12/2060 -4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vorzeitigen Inkraftsetzung des Marktstrukturgesetzes und darauf beruhende Rechtsverordnungen im Beitrittsgebiet ({4}) - Drucksache 12/1946 -5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz-Günter Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rüstungskontrolle und Abrüstung nach Ende des Ost-West-Konflikts - Drucksache 12/2076 -6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Fortsetzung der Abrüstungspolitik nach der Auflösung der UdSSR - Drucksache 12/2067 -7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Fuchs ({5}), Edelgard Bulmahn, Karsten D. Voigt ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Hilfen für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bei der Rüstungskonversion und der Stärkung des Non-Proliferationsregimes - Drucksache 12/2068 Bei Zusatzpunkt 3 soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, Tagesordnungspunkt 12 - Einsetzung einer Enquete-Kommission - erst am Freitag nach der Beratung der Anträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist dies beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Nachwahl eines Mitglieds der Parlamentarischen Kontrollkommission Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU - Drucksache 12/2034 6274 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 12/2034 vor, den Abgeordneten Johannes Gerster ({7}) als Nachfolger für den ausgeschiedenen Kollegen Dr. Paul Laufs zu wählen. Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren. Die erforderlichen Stimmkarten wurden am Eingang und im Saal verteilt. Für die Wahl benötigen Sie außerdem Ihren Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, jetzt noch Ihrem Schließfach in der Eingangshalle entnehmen können. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, d. h. mindestens 332 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind ungültig. Die Wahl ist nicht geheim; Sie können die Stimmkarten deshalb auch an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen werfen, geben Sie bitte Ihren Wahlausweis dem Schriftführer. Die Abgabe des Wahlausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl. Ich bitte jetzt die Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Wahl. Ich frage, ob alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführer, ihre Stimmkarten abgegeben haben. ({8}) Ich frage ein letztes Mal: Sind jetzt alle Stimmkarten abgegeben? - Ich höre, es haben alle ihre Stimmkarten abgegeben. Damit schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Das Wahlergebnis gebe ich später bekannt.*) Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU Entsendung eines Ersatzbewerbers als Beobachter in das Europäische Parlament - Drucksache 12/2056 - Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, Herrn Dr. Albert Kosler für den ausgeschiedenen Herrn Wolfgang Fiedler als Beobachter in das Europäische Parlament zu entsenden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Somit ist Herr Dr. Albert Kosler als Beobachter in das Europäische Parlament entsandt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Gesetz zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze ({10}) - Drucksachen 12/1108, 12/1368, 12/1466, 12/1506, 12/1691, 12/2044 -Berichterstattung: Abgeordneter Hans H. Gattermann *) S. 6287D b) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({11}) zu dem Gesetz zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" - Drucksachen 12/1227, 12/1374, 12/1494, 12/1692, 12/2045 Berichterstattung: Abgeordneter Hans H. Gattermann Ich weise darauf hin, daß über die Beschlußempfehlung nachher namentlich abgestimmt werden soll. Zunächst hat zur Berichterstattung der Kollege Hans Gattermann das Wort.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Die Ihnen heute zur Abstimmung vorliegende Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes basiert auf einer Mehrheitsentscheidung von 16 zu 14 Stimmen. ({0}) Es ist bekannt und offensichtlich, daß sich Mehrheit und Minderheit nicht jeweils aus den Mitgliedern der Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat darstellen, sondern parteipolitisch geprägt sind. Die zur Entscheidung anstehende Beschlußempfehlung führt die beiden Gesetze, um die es geht, wegen des untrennbaren finanziellen Zusammenhanges zu einer einheitlichen Abstimmung zusammen, so daß Bundesrat und Bundestag zu beiden Gesetzen nur einheitlich ja oder nein sagen können. Es gab zu den in diesem Hohen Hause verabschiedeten Gesetzen keine konkreten Anrufungsbegehren des Bundesrates. Zu beiden Gesetzen war der Vermittlungsausschuß global angerufen. Ich berichte Ihnen deshalb nur über die Punkte, in denen die Beschlußempfehlung von den im Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetzen abweicht, über unveränderte Punkte nur insoweit, als die öffentliche Diskussion über Änderungs- und Ablehnungswünsche der Erläuterung bedarf. Erstens. Die Aufhebung des Strukturhilfegesetzes zum 31. Dezember 1991 bleibt unverändert. Die vorgesehene Abschlußzahlung an die Länder wird von 600 Millionen DM auf 800 Millionen DM erhöht. Zweitens. Statt der vorgesehenen Aufstockung der Mittel des Fonds Deutsche Einheit - Stichwort: Verstetigung -, die für die Jahre 1993 und 1994 nur um jeweils 5,9 Milliarden DM vorgesehen war, sind dies nunmehr 11,5 Milliarden DM im Jahre 1993 und 13,9 Milliarden DM im Jahre 1994. Außerdem soll jeweils im ersten Halbjahr des Vorjahres überprüft werden, ob weitere Aufstockungen der Fondsmittel für die Erreichung des Ziels einer weiteren Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern notwendig sind. Drittens. Die Finanzierung dieser Fondsaufstokkung erfolgt in den Jahren 1993 und 1994 durch die Mehreinnahmen aus der Anhebung der Umsatzsteuer von 14 % auf 15 %. Darüber hinaus zahlt der Bund jeweils eine weitere Milliarde DM in diesen Fonds. Dieser Punkt ist das politische und finanzielle Kernstück des Vermittlungsergebnisses. Es unterstreicht die Priorität der Aufgabe, die glücklich errungene staatliche Einheit auch gesellschaftlich, ökonomisch und sozial zu verwirklichen. Zugleich wird die gesamtstaatliche Verantwortlichkeit von Bund und Ländern für die Erfüllung dieser Aufgabe unterstrichen. Schließlich beinhaltet das finanzpolitische Signal, daß diese Aufgabe nicht durch weitere Kapitalmarktfinanzierung oder durch die schlicht spekulative Hoffnung auf weitere Bundesbankgewinne finanziert werden kann und soll. Viertens. Die Beschlußempfehlung enthält im Rahmen einer Änderung des Finanzausgleichgesetzes die sich aus der dargestellten Fondsfinanzierung ergebenden Konsequenzen. Darüber hinaus sieht die Änderung des Finanzausgleichgesetzes eine deutliche Verbesserung der Finanzausstattung der Länder - hier insbesondere der Westländer - dadurch vor, daß sich der Länderanteil am Mehrwertsteueraufkommen in den Jahren 1993 und 1994 gegenüber der geltenden Rechtslage um 2 % von 35 % auf 37 % erhöht. Das entspricht einem Betrag von ca. 4,4 Milliarden DM. Fünftens. Bei der sogenannten ersten Stufe der Unternehmensteuerreform werden eine deutliche Volumenreduzierung und eine Akzentverschiebung vorgeschlagen. Auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer wird zur Zeit verzichtet. Allerdings soll diese Steuer in den neuen Bundesländern bis 1994 nicht erhoben werden. Auch bei der Reform der betrieblichen Vermögensteuer sind nur noch die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung und die Anhebung des Freibetrages auf 500 000 DM vorgesehen. Dagegen soll insbesondere im Interesse des Mittelstandes die Gewerbeertragsteuersenkung großzügiger als bisher vorgesehen ausfallen. Das gesamte Entlastungsvolumen reduziert sich dadurch auf rund 3,8 Milliarden DM. Da dieses finanziert war durch den Abbau von steuerlichen Vergünstigungen und Gestaltungsmöglichkeiten, wäre unter dem Strich bei dieser Volumenreduzierung eine Mehrbelastung der Wirtschaft herausgekommen. Deshalb enthält der Vorschlag den Verzicht auf drei solcher Maßnahmen: die Verschlechterung der degressiven Abschreibung bei Wirtschaftsgebäuden, die Anhebung des Pauschsteuersatzes bei Teilzeitbeschäftigten und bei Leistungen des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung. Sechstens. Die Gewerbesteuerumlage zum Ausgleich der Steuerausfälle der Gemeinden soll nunmehr um 24 Punkte auf 28 % erfolgen. Außerdem sollen die 3 Milliarden DM für die Gemeinden im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes - abweichend von den Beschlüssen dieses Hohen Hauses - auch in den Jahren 1994 und 1995 gezahlt werden. Siebtens. Beim Familienlastenausgleich ergeben sich keine Änderungen gegenüber dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß dieses nur in begrenztem Umfang etwas mit Verteilungsgerechtigkeit, aber alles mit der Finanzbelastung des Bundes und der Länder zu tun hat. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, bei dieser wichtigen Sache doch zuzuhören; denn sonst vermittelt sich wirklich ein falscher Eindruck.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Ich würde dem Bundesminister der Finanzen empfehlen, hierzu einmal Modellrechnungen erstellen zu lassen, um einer Legendenbildung vorzubeugen. ({0}) Achtens. Ich habe noch nachzutragen, daß mit der Neuregelung der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern die Zusage des Bundes aus dem Vermittlungsverfahren zum Steueränderungsgesetz 1991 zu Barleistungen im Rahmen eines Konversionsgemeinschaftsprogrammes von Bund und Ländern erledigt sein soll. Es bleibt allerdings bei der Zusage verbilligter Grundstücksabgaben. Ein wesentliches Motiv für diesen Vorschlag war und ist, daß in den Fachressorts des Bundes und der Länder inzwischen die Erkenntnis gewachsen ist, daß solche Gemeinchaftsfinanzierungsprogramme im wesentlichen Zeitverzögerungen und Bürokratieaufwand produzieren. ({1}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine ganz persönliche Anmerkung außerhalb meiner Berichterstatterrolle. Ich möchte an die Mehrheit dieses Hauses und an die Mehrheit des Bundesrates appellieren, dieses Gesetzespaket nicht scheitern zu lassen. ({2}) Ich verzichte darauf, die schlimmen Wirkungen für die Familien, für die Unternehmen, für die Bauwilligen, für die steuerberatenden Berufe, für die Lohnbuchhaltungen der Unternehmen, für die Finanzierung der Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern und, last but not least, für die Steuerverwaltungen auszumalen. Ich will nur sagen, daß das aus meiner Sicht nicht zu verantworten ist. ({3}) Ein Zweites: Art. 77 des Grundgesetzes ist das Angebot unserer Verfassung, Konflikte zwischen Bundesrat und Bundestag aufzulösen. ({4}) - Dies ist der Inhalt des Art. 77 des Grundgesetzes. - Wenn aber Parteipräsidien - vor denen ich die allergrößte Hochachtung habe, wie mir jedermann abnehmen mag - dazu übergehen, die Entscheidungskompetenz in allen Fragen dieses Landes, bis hin in die letzten Auflösungsmechanismen der Verfassung für Konfliktfälle, durch welche Druckkulissen auch immer ausüben wollen, dann halte ich das - ({5}) - Verehrter Herr Klose, wenn Sie mir zugehört hätten - was Sie bei einem simplen Bericht offenbar nicht tun -, hätten Sie die Überleitungsfloskel bemerkt, daß ich mir erlaube, eine einzige persönliche Berner-kung zu machen. ({6}) Diese Bemerkung beinhaltet, daß sich dann, wenn sich dies so fortsetzt - ich sage das nicht nur an die Adresse der Sozialdemokratischen Partei, verehrter Herr Klose, ich sage das gegenüber dem ganzen Hohen Hause -, wenn dies so Schule macht und wenn das auf dem Rücken des Volkes passiert, niemand darüber wundern sollte, daß die Parteiverdrossenheit in diesem Lande zunimmt. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Steueränderungsgesetz 1992 zu. Ich möchte hierzu folgendes erklären. Es ist in der Europäischen Gemeinschaft beschlossene Sache, einen Mehrwertsteuersatz von mindestens 15 % in allen Ländern der Gemeinschaft verbindlich einzuführen. ({0}) Die entsprechende Richtlinie wird noch im April formelle Rechtskraft erlangen. Die Bundesrepublik Deutschland ist wie alle anderen Mitgliedstaaten gezwungen, diese Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. ({1}) Darauf hat jüngst die zuständige Kommissarin Christiane Scrivener unmißverständlich hingewiesen. ({2}) Zu diesem Ergebnis ist zu seiner eigenen Überraschung auch der saarländische Ministerpräsident gekommen, nachdem er den Entwurf, der bekanntlich auf einen Beschluß vom letzten Herbst zurückgeht, jüngst gelesen hat. ({3}) Auch der Parteivorsitzende der SPD und der Finanzminister von Brandenburg haben dies bestätigt. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags, der Kollege Rudi Walther, hat dieser Tage erklärt, daß das Vorhaben auch in der Sache richtig sei, da der gemeinsame europäische Binnenmarkt ohne eine europaweit harmonisierte Mehrwertsteuer nicht funktionieren könne. Das alles ist wahr, und es ist so. ({4}) Wenn wir also die Mehrwertsteuer um diesen einen Prozentpunkt zwingend erhöhen müssen, dann sollen nach der Beschlußempfehlung die entsprechenden Mittel ausschließlich dazu verwendet werden, den Fonds Deutsche Einheit aufzustocken. ({5}) Das Aufkommen aus dieser Steuererhöhung wird also in voller Höhe der ostdeutschen Bevölkerung zugute kommen. ({6}) Niemand wird dagegen sein können, wenn auf diese Weise den ostdeutschen Ländern dringend benötigte Mittel an die Hand gegeben werden, um die Lebensverhältnisse der Bürger im Osten möglichst rasch an die im Westen angleichen zu können, um die Wirtschaft weiter anzukurbeln und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Der Bund ist mit dem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses allen Beteiligten weit entgegengekommen. ({7}) Die Länder werden in den Jahren 1993 und 1994 statt mit 35 % mit 37 % am Mehrwertsteueraufkommen beteiligt. Damit erhalten die Bundesländer praktisch den auf sie entfallenden Anteil an der Mehrwertsteuererhöhung - und das zu Lasten des Bundes. Für den Bund bedeutet das Ergebnis in den Jahren bis 1994 insgesamt eine Mehrbelastung von fast 19 Milliarden DM. Mit dem Beschluß des Vermittlungsausschusses gelingt uns der Einstieg in die dringend notwendige Reform der Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland. Durch die vorgeschlagenen Steueränderungen werden die Betriebe um jährlich mehr als 4 Milliarden DM entlastet. Wir sichern auf diese Weise den Investitionsstandort Deutschland in einer Zeit scharfer internationaler Konkurrenz. ({8}) Dies ist Voraussetzung, um die großen Chancen nutzen zu können, die sich unserer Wirtschaft im Europäischen Binnenmarkt bieten. Die vorgesehene Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrags ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem von dieser Koalition seit 1986 eingeschlagenen Weg der Familienförderung. ({9}) Sie entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. ({10}) Alternativvorschläge aus der SPD, das Kindergeld etwas mehr und die Kinderfreibeträge deutlich weniger zu erhöhen, sind sozial unausgewogen, ({11}) - ich werde Ihnen das gleich erklären -, weil das Kindergeld nur für die ersten Kinder, die Kinderfreibeträge aber für alle erhöht werden sollen. ({12}) Deswegen würden, wenn man Ihren Vorschlägen folgen sollte, wegen der mit den Kinderfreibeträgen verbundenen Kindergeldzuschläge für die einkommensschwächeren Familien gerade die sozial schwächeren Mehrkinderfamilien schlechtergestellt. ({13}) Deshalb ist Ihr Vorschlag sozial unausgewogen. In Wahrheit geht es auch nicht um mehr Geld für die Familien, sondern um mehr Geld für die Kassen der Bundesländer. ({14}) Ich appelliere mit aller Eindringlichkeit an die Sozialdemokraten, dem sachlich richtigen und guten Ergebnis des Vermittlungsausschusses die Zustimmung nicht zu verweigern. Die Anpassung der Mehrwertsteuer in der Europäischen Gemeinschaft kommt. Auch in Ihrer Partei weiß jeder, daß die Erhöhung der Steuersätze unausweichlich und zwingend ist. ({15}) Wenn dies so ist, dann macht es keinen Sinn, dieses Verfahren lediglich aus wahltaktischen und parteipolitischen Gründen bis zu den Wahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg am 5. April aufhalten zu wollen. ({16}) Sie haben nicht einen einzigen in der Sache triftigen Grund. Dies ist kein Beitrag zur politischen Glaubwürdigkeit. ({17}) Wie soll dieses Theater eigentlich auf unsere Bürger wirken? ({18}) Im übrigen dauert die Diskussion um das Steueränderungsgesetz schon viel zu lange. ({19}) Gerade die Betroffenen, die Familien mit Kindern, unsere Mitbürger in den ostdeutschen Ländern, dürfen wir nicht länger warten lassen. ({20}) Auch die Wirtschaft muß endlich wissen, wie die steuerlichen Rahmenbedingungen aussehen werden. ({21}) Sonst leidet das konjunkturelle Klima. Deshalb müssen wir jetzt Klarheit schaffen. ({22}) Der Vorschlag, der uns jetzt von den Sozialdemokraten angesonnen wird, der EG-Richtlinie zur Harmonisierung der Mehrwertsteuer die Umsetzung in unser nationales Recht zu verweigern, ist für uns indiskutabel. Wir würden uns damit in Europa isolieren, unsere Handlungsfähigkeit aufs Spiel setzen. ({23}) Wenn die Sozialdemokraten in diesen Tagen sogar darangehen, auch ihre Zustimmung zu den Maastrichter Verträgen wieder in Frage zu stellen, ({24}) so manövrieren sie sich selbst ins Abseits. ({25}) - Frau Matthäus-Maier, Sie sollten mich einmal einen Satz ohne einen Zwischenruf reden lassen. ({26}) Wenn wir auch in Zukunft in Frieden und Freiheit und sicherem Wohlstand leben wollen - ({27}) - Ich weiß nicht, was es da zu Lachen gibt. Wenn wir auch in Zukunft in Frieden, Freiheit und sicherem Wohlstand leben wollen, dann gibt es für uns gerade in der Mitte Europas keine verantwortbare Alternative zur Politik der europäischen Einigung. ({28}) Die Finanzausstattung der neuen Bundesländer wird mit der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses in den nächsten Jahren um gut 33 Milliarden DM - 33 000 Millionen DM! - verbessert. Dies ist ein entscheidender Beitrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse, zur Herstellung von Chancengerechtigkeit für die Menschen in den östlichen Bundesländern. Wer sich dieser erstrangigen sozialen wie nationalen Aufgabe verweigert, braucht fortan das Wort „Solidarität" nicht mehr in den Mund zu nehmen. ({29}) Ich stimme dem Bundesratspräsidenten Alfred Gomolka ausdrücklich zu, der die morgige Entscheidung im Bundesrat als „Stunde der Wahrheit und Bewährung für die Solidarität aller Bundesländer" bezeichnet hat. ({30}) Der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe hat Anfang der Woche erklärt, er werde keine Entscheidung unterstützen, die parteipolitische Interessen über die Interessen der Menschen in seinem Land stelle. ({31}) Ich finde, Parteisolidarität ist eine wichtige Sache. ({32}) Schließlich bin ich Vorsitzender der größten Fraktion in diesem Hohen Hause. ({33}) Aber ich muß Herrn Stolpe recht geben: In einer Frage von dieser Bedeutung darf es keine falsch verstandene Solidarität geben. Vor eine solche Alternative sollten die Sozialdemokraten Herrn Stolpe nicht stellen. ({34}) Auch die sozialdemokratischen Kollegen aus den neuen Bundesländern können die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses nicht ernsthaft ablehnen wollen. ({35}) Wie wollen Sie das Ihren Bürgerinnen und Bürgern zu Hause, in Mecklenburg-Vorpommern, in Thüringen, in Brandenburg, in Sachsen und Sachsen-Anhalt erklären? Ich frage die Führung der SPD: Wollen Sie das Ihren Kollegen aus den ostdeutschen Ländern wirklich zumuten? ({36}) Meine Fraktion beantragt namentliche Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses. Jedes Mitglied dieses Hohen Hauses soll Gelegenheit haben, seine persönliche Entscheidung sichtbar zu machen. ({37}) Ich appelliere an Sie alle, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Entscheiden Sie sich mit uns im Sinne der Solidarität mit unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern. ({38})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Abgeordnete Peter Struck. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Vorschlag des Vermittlungsausschusses ablehnen, ({0}) weil wir nicht unsere Hand dazu herreichen werden, uns an der zweiten Steuerlüge der Bundesregierung zu beteiligen. ({1}) Das Vermittlungsverfahren und das Ergebnis haben gezeigt, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition noch einige Lernprozesse vor sich haben. Sie werden es erst noch lernen müssen, meine Damen und Herren, und auch akzeptieren müssen, daß Sie im Bundesrat nach dem Regierungswechsel in Rheinland-Pfalz nicht mehr die Mehrheit haben. Begreifen Sie das endlich! ({2}) Sie haben sich in all den Jahren mit Ihrer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat daran gewöhnt, daß die Ergebnisse, die in Partei- und Koalitionszirkeln ausgekungelt wurden, dann ohne Rücksicht auf die SPD in Bundestag und Bundesrat durchgedrückt werden konnten. Das ist vorbei. Nehmen Sie das zur Kenntnis, und berücksichtigen Sie das; sonst werden Sie immer wieder scheitern. ({3}) Fest steht: Die Bundesregierung ist mit Ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrer Konfrontationspolitik beim Steueränderungsgestz 1992 gescheitert. ({4}) Sie ist mit ihrer Strategie gescheitert, keine Kompromisse einzugehen. Sie ist gescheitert mit dem Versuch, einzelne Länder einzukaufen. Herr Kollege Schäuble, Ihre Rede grenzte - jedenfalls in diesem Punkt - schon an Scharlatanerie. ({5}) Wir Sozialdemokraten haben oft genug unsere Kompromißbereitschaft angeboten. ({6}) Ich sage Ihnen hier: Auch Sie werden in Zukunft Kompromißbereitschaft zeigen müssen; sonst läuft überhaupt nichts mehr. Statt gemeinsam mit uns Kompromisse zu suchen, ({7}) haben Sie zum Mittel der Drohung und zum Mittel der Erpressung gegriffen; ich gebe Ihnen dafür zwei Beispiele. ({8}) Herr Kollege Waigel, hören Sie genau zu: Sie haben den neuen Ländern damit gedroht - der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen wird das im Anschluß sicherlich noch darstellen -, daß sie kein Geld für die Haushaltsfinanzierung bekommen würden, wenn das Steueränderungsgesetz 1992 nicht in der von Ihnen gewünschten Form angenommen wird. Das ist ein miserables politisches Spiel mit der Angst und der Sorge der Menschen in den neuen Ländern, für das Sie sich schämen sollten. ({9}) Die Wahrheit sieht doch ganz anders aus. Herr Kollege Schäuble, mich wundert, daß Sie das nicht angesprochen haben; offensichtlich wissen Sie es nicht. Es ist im Vermittlungsausschuß völlig unstreitig gewesen, daß die Mittel für den Fonds Deutsche Einheit aufgestockt und verstetigt werden sollen. ({10}) Sie wissen doch, Herr Bundesfinanzminister, daß in Ihrem Bundeshaushalt 1992 bereits zusätzliche Mittel für den Fonds Deutsche Einheit in Höhe von 5,9 Milliarden DM stehen, die längst von uns allen im Rahmen des Haushaltsplans 1992 beschlossen worden sind. Wir fordern den Bundesfinanzminister auf, diese Mittel den neuen Ländern nun endlich unverzüglich und bestimmungsgemäß zur Verfügung zu stellen, ({11}) ihre Auszahlung nicht länger zu blockieren und sich an Recht und Gesetz zu halten; das ist nämlich Ihre Verpflichtung, Herr Bundesfinanzminister. ({12}) Allein die Blockadepolitik der Bundesregierung ist schuld daran, daß die Erhöhung der Mittel für den Fonds Deutsche Einheit für die Jahre 1993 und 1994 immer noch nicht beschlossen ist. Um dies allen zu dokumentieren, hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag eingebracht, in dem die Aufstockung und Verstetigung gerade dieser Mittel gefordert wird. Wenn Sie das wollen, was Herr Kollege Schäuble hier mit Tremolo vorgetragen hat, dann stimmen Sie diesem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu. ({13}) Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht zustimmen, wird auch dem letzten klar, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition den neuen Ländern die Mittel verweigern. ({14}) Genauso schäbig wie mit den neuen Ländern gehen Sie auch mit den Familien mit Kindern um. Sie verweigern den Familien mit Kindern ihr Recht auf ein höheres Kindergeld deshalb, weil wir der Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht zustimmen. Dabei hatte die Bundesregierung inzwischen selber zugeben müssen, daß die von ihr gewollte Mehrwertsteuererhöhung ab 1993 mit der Finanzierung der Kindergelderhöhung ab 1. Januar 1992 nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, nachdem sie monatelang immer wieder das Gegenteil behauptet hatte. Jetzt heißt es plötzlich, die Mehrwertsteuererhöhung werde nicht zur Finanzierung der Erhöhung des Kindergeldes, sondern für die neuen Länder gebraucht. Das kann und das wird Ihnen doch niemand glauben. Klar ist nur, daß Sie hier ein mieses politisches Spiel treiben. ({15}) Zuerst wurden die Familien mit Kindern in Geiselhaft genommen; jetzt sind es die neuen Länder, ({16}) und dies alles nur zu dem einen Zweck, die von Ihnen gewollte Mehrwertsteuererhöhung durchzudrücken. Die Mehrwertsteuerhöhung ist, so wie sie von Ihnen gewollt ist, unsozial, weil sie die kleinen Leute relativ stärker belastet als die Bezieher höherer Einkommen. Deshalb sind wir dagegen. ({17}) Die Mehrwertsteuererhöhung ist konjunkturell nicht zu vertreten. Sie belastet die laufenden Tarifverhandlungen, heizt die Inflation weiter an und provoziert geradezu Gegenreaktionen der Bundesbank mit der Folge steigender Zinsen und einer Gefährdung der Konjunktur. Das kann nicht im Interesse des Industriestandortes Deutschland sein. ({18}) Ein wichtiger Politiker dieses Hauses hat gesagt: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bewirkt das genaue Gegenteil einer Belebung der Wirtschaft. Wir halten ... die Mehrwertsteuererhöhung in dieser konkreten Situation für ein tödliches Gift. Das sagte Helmut Kohl im Deutschen Bundestag am 26. März 1982. Dem ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren. ({19}) Ein noch wichtigerer Politiker dieses Hauses sagte: Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer würde nur eine neue Preiswelle auslösen und die Gewerkschaften veranlassen, diese Entwicklungen bei ihren Lohnforderungen einzubeziehen. Einem solchen Unsinn können wir nicht zustimmen. Das sagte Franz Josef Strauß im März 1982. Welch weise Einsicht der damaligen Opposition! ({20}) Unwahr ist auch, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 1993 wegen einer erforderlichen Harmonisierung in Europa notwendig sei. Richtig ist, daß Sie, Herr Bundesfinanzminister, sich mit Ihrer Mehrwertsteuererhöhung hinter Europa verstecken wollen ({21}) und die EG-Kommission deshalb dazu gebracht haben, einen Richtlinienentwurf für einen Mindeststeuersatz von 15 % vorzulegen. Bisher existiert nur ein unverbindlicher Entwurf. Rechtliche Konsequenzen ergeben sich erst dann, wenn alle Mitgliedstaaten der EG - ich betone: alle; denn da herrscht das Einstimmigkeitsprinzip - diesem Entwurf zugestimmt haben. Was bisher dazu in Brüssel beschlossen worden ist, ist nicht mehr als eine Absichtserklärung der Finanzminister. ({22}) Ich gebe zu, Herr Kollege Waigel, daß diese Absichtserklärung für Sie jetzt ein Problem ist, weil Sie im letzten Jahr zugestimmt haben. Aber wenn Sie in Brüssel etwas versprechen, ohne zu Hause die dafür nötigen Mehrheiten zu haben, dann haben Sie ganz einfach den Mund zu voll genommen, und das ist dann Ihr Problem. ({23}) Im übrigen sage ich: Was ist denn das für ein Verfassungsverständnis, wenn man versucht, die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat über die EG auszuhebeln? ({24}) Wer so handelt, unterläuft nicht nur unsere parlamentarische und föderative Verfassung; er diskreditiert auch Europa bei unseren Bürgern. ({25}) Die Bundesregierung versucht, mit dem Steueränderungsgesetz 1992 die Länder nicht nur politisch, sondern auch finanziell an die Wand zu stellen. ({26}) Sie wollen den ärmeren Bundesländern mit einer kurzen Übergangsregelung die Strukturhilfe streichen. Auf das Kompromißangebot der Länder, die Strukturhilfe schrittweise abzubauen, so daß wenigstens keine Investitionsruinen entstehen, sind Sie gar nicht eingegangen. Sie lehnen einen weiteren Ausgleich für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die in strukturschwachen Regionen durch den Abbau der Bundeswehr entstehen, ab, obwohl Sie, Herr Kollege Waigel, uns das im vorigen Sommer im Vermittlungsausschuß zugesagt haben. Schon das zeigt, wie Sie sich an Ihr Wort halten. Das kann man nur Wortbruch nennen. Sie haben massive Steuer- und Abgabenerhöhungen von mehr als 40 Milliarden DM im vergangenen Jahr gehabt, und zwar ausschließlich zugunsten des Bundes und nicht zugunsten der Länder. Daß das unsere Länder nicht akzeptieren können, müßte auch jeder von Ihnen endlich begreifen. ({27}) Die Länder sind leer ausgegangen. Wer glaubt, so mit den Ländern umspringen zu können, verhärtet das Verhandlungsklima und entzieht möglichen Kompromissen von vornherein den Boden. Ich will dem Abstimmungsergebnis morgen im Bundesrat nicht vorgreifen. ({28}) Nur vertraue ich darauf, daß es Ihnen nicht gelingen wird, durch unsittliche und unfaire Angebote an einzelne Länder ({29}) in den neuen Ländern die Solidarität zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu brechen. Sie erweisen damit dem Föderalismus einen Bärendienst. Deshalb lehnen wir dieses Angebot ab. ({30})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Dr. Hermann Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu. Es erscheint mir bemerkenswert, daß der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Klose, nun Herrn Struck quasi als Kettenhund vorschickt, ({0}) um eine Position zu vertreten, und dies obendrein in einer Wortwahl, die der Sache in keiner Weise angemessen ist, ({1}) während er sich selber bedeckt hält, weil es ihm anscheinend peinlich ist, diese Position vertreten zu müssen. ({2}) Wenn Sie, Herr Struck, für den Fall, daß es zu einer Zustimmung des Bundesrates doch noch kommt, diejenigen, die dann verantwortlich für ihr Land handeln würden, von vornherein als Brutus diffamieren, zeigen Sie, mit welchen Methoden Sie hier parteilichen Druck ausüben. ({3}) Diese Rede hat besser, als wir es je darstellen könnten, gezeigt, mit welchen Methoden hier gearbeitet wird. ({4}) Zurück zur Sache. ({5}) - Zum sachlichen Inhalt der Gesetzgebung. Die zum Steueränderungsgesetz 1992 und zur Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit vorgeschlagenen Änderungen zeigen die Kompromißbereitschaft des Bundes. Sie stellen ein ausgewogenes, faires, großzügiges Maßnahmenpaket dar, bei dem der Bund an die Grenzen, ich möchte sagen: an die äußersten Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit und Verantwortlichkeit gegangen ist. Dazu möchte ich einige nüchterne politische Bemerkungen machen. Erstens. Die FDP begrüßt, daß der Fonds Deutsche Einheit in den Jahren bis 1994 mit einem Finanzvolumen in Höhe von über 30 Milliarden DM aufgestockt werden soll. Erst das bietet die gesetzliche Grundlage, die notwendigen Zahlungen für die neuen Bundesländer auch leisten zu können, Herr Kollege Struck. Ohne eine gesetzliche Grundlage - das sollten Sie wissen - ist das nicht möglich. ({6}) Diese Mittel sind zur Herstellung einheitlicher Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse in ganz Deutschland unverzichtbar. Jede Mark, die in den neuen Ländern in Infrastruktur, in Investitionen, in den Wohnungsbau, in den öffentlichen Nahverkehr und in die Altlastensanierung fließt, ist gut angelegt, ist sicherlich sogar effizienter angelegt als gegenwärtig in den westlichen Bundesländern. Eine Verstetigung dieses Mittelzuflusses für die neuen Bundesländer ist unser zentrales Anliegen bei dieser Beschlußvorlage. Zweitens. Die vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagene Lastenverteilung ist auch ein faires, ja großzügiges Angebot an die alten Länder und Gemeinden. Auch sie haben eine finanzielle Verantwortung für die deutsche Einheit. Verfassungsrechtlich, strukturpolitisch, wirtschafts- und finanzpolitisch sind die Strukturhilfen nicht mehr gerechtfertigt. Der Bund ist bereit, den Wegfall der Strukturhilfen durch eine Übergangszahlung von 800 Millionen DM abzufedern und zugunsten der Länder auf einen Anteil von 2 % an der Umsatzsteuer zu verzichten. Das ist mehr, als die alten Bundesländer erwartet hatten. Auch bei ihnen muß das Schlagwort von der Solidarität mit Leben erfüllt werden. Drittens. Die in Europa eingegangene Verpflichtung, den Normalsatz bei der Mehrwertsteuer ab 1993 auf 15 % anzuheben, ist politisch bindend. Das wird auch von der EG-Kommission so gesehen. Die Richtlinientexte zur EG-Steuerharmonisierung liegen vor und werden am 13. April in Brüssel ohne nähere Debatte verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland muß und wird ein verläßlicher Partner in Europa sein und bleiben. ({7}) Der Kollege Struck zitierte die Äußerungen des Bundeskanzlers aus dem Jahre 1982. Das Zitat stimmt. Das war in der damaligen wirtschaftlichen Situation eine richtige Aussage. Das zeigt, daß Sie immer noch nicht verstanden haben, daß wir in Gesamtdeutschland in einer völlig neuen Situation sind. ({8}) Dieser Situation müssen wir schließlich gerecht werden. Viertens. Die FDP-Bundestagsfraktion steht zu den Verbesserungen beim Familienlastenausgleich, wie sie der Deutsche Bundestag am 8. November 1991 beschlossen hat. Es wird das getan, was verfassungsrechtlich geboten und finanzpolitisch verantwortlich ist. Dem werden in der Zukunft selbstverständlich weitere Schritte folgen müssen. Fünftens. Die FDP hält nach wie vor eine spürbare Entlastung der Unternehmen von Steuern und Abgaben für notwendig, ({9}) weil nur so die notwendigen Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden können. Die Entlastungen bei der Gewerbesteuer und bei der betrieblichen Vermögensteuer sind dafür ein geeigneter Einstieg. Auch dem müssen weitere Schritte folgen. ({10}) Sechstens. Die im Steueränderungsgesetz 1992 vorgesehenen Maßnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus dürfen nicht länger hinausgezögert werden. Schon heute führt die Verunsicherung dazu, daß Tausende von Wohnungsbauvorhaben unterbleiben. ({11}) Siebtens. Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert an die Beteiligten im Bundestag und im Bundesrat, die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses anzunehmen, damit die Unternehmen, die Steuerberater, die Finanzverwaltung und die Steuerpflichtigen endlich wissen, woran sie sind. Eine parteipolitische Blockade, wie sie von der SPD hier vorgeführt wird, ist in der Verfassung nicht vorgesehen, meine Damen und Herren. ({12}) Wenn der Parteivorsitzende der SPD, Engholm, glaubt, zu solchen Mitteln greifen zu müssen, um seine innerparteiliche Autorität zu beweisen, dann ist das in meinen Augen eher ein Zeichen von Führungsschwäche. ({13}) Weil das so ist, liegt die letzte Chance darin, daß der Ministerpräsident des Landes Brandenburg die Verantwortung dafür übernimmt, im Sinne seiner Verantwortung für sein Bundesland abzustimmen ({14}) und dabei die Interessen der Bürger seines Landes in den Vordergrund zu stellen. Das ist seine verfassungsmäßige Aufgabe. Dafür ist er gewählt. Ein großzügigeres Angebot als das vorliegende kann er bei einer Ablehnung in Zukunft nicht erwarten. ({15}) Die FDP-Bundestagsfraktion beantragt ebenfalls namentliche Abstimmung. Es muß nachgewiesen werden, daß diejenigen, die so laut und immer wieder davon sprechen, ({16}) daß Teilung durch Teilen überwunden werden soll, das dann auch zu realisieren bereit sind. ({17}) Das betrifft die Bundestagsabgeordneten genauso wie die Landesregierungen, die hier aufgefordert sind, zu zeigen, daß die gesamtdeutsche Solidarität nun endlich ernstgenommen wird. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die von der Bundesregierung offiziell vertretene Kompromißlinie setzt voll darauf, daß sich die Konfliktlage zwischen den neuen und alten Bundesländern verschärft. Wie eben gesagt: Teilung durch Teilen. Die neuen Länder, von dieser Bundesregierung ohnehin zu Bittstellern degradiert und mit viel zu geringen Finanzmitteln ausgestattet, werden gegen die Altländer ausgespielt, denen man 1988 wenigstens noch ein auf mindestens zehn Jahre befristetes Strukturhilfegesetz bescherte, das eine regional ausgewogene Wirtschaftsentwicklung fördern sollte. Die Streichung der Strukturhilfe kann von den westlichen Bundesländern nicht akzeptiert werden. Denn mit der Vereinigung Deutschlands sind die regionalen Unterschiede zwischen den Altländern nicht verschwunden. Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie auf die Länder zugehen und eine mehrjährige sachgerechte Übergangslösung möglich machen würde. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, den Fonds Deutsche Einheit aufzustocken, und fordern die gleichzeitige schnelle und unbürokratische Freigabe der Finanzmittel. Das Konzept des sich selbst tragenden Aufschwungs hat nicht gegriffen. Die Verstetigung der Fondsleistungen auf hohem Niveau sollte unserer Meinung nach allerdings nicht über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden, die preissteigernd wirkt und die Bezieherinnen kleinerer und mittlerer Einkommen überproportional belasten würde. ({0}) Bund, Länder und Gemeinden müßten als Folge der Mehrwertsteuererhöhung mit einer Verteuerung des laufenden Sachaufwandes und der Investitionen rechnen. Herr Kühbacher, ein aktiver Jein-Sager, sollte sich einmal die interne Studie des hessischen Finanzministeriums zu Gemüte führen, die das mit genauen Zahlen belegt. Der sogenannte Kompromiß, den der Vermittlungsausschuß mit der Mehrheit der Koalitionsvertreter beschlossen hat, ist weder geeignet, einen wirksamen Beitrag zur soliden Finanzierung der Einigungskosten zu leisten, noch verdient er das Prädikat „familienfreundlich". Was zum Familienlastenausgleich beschlossen worden ist, ist nichts anderes als ein Ausbau bestehender Ungerechtigkeiten. Was würde die Anhebung des Kinderfreibetrags bei der Lohn- und Einkommensteuer Familien und Alleinerziehenden mit geringem Einkommen einbringen - in den neuen Bundesländern bei einer durchschnittlichen offiziellen Arbeitslosenrate von 17 % und einer Festschreibung von 60 % des Westlohnes? Was würde arbeitslosen Eltern von einer Erhöhung des Erstkindergeldes um nur 20 DM zugute kommen? Ich glaube, ich kann darauf verzichten, darzulegen, warum es keinen bindenden EG-Beschluß zur Mehrwertsteuererhöhung gibt. Daß eine bis 1996 befristete Übergangsregelung existiert, nach der eine Besteuerung im gewerblichen Bereich in dem Lande erfolgt, in das die Ware geliefert wird, so daß Wettbewerbsnachteile für die deutsche Wirtschaft nicht zu erwarten sind, hat das Bundesfinanzministerium jüngst bestätigt. Auch hat das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 13. Juni 1991 festgestellt, „daß Unterschiede in den Steuersätzen auch nach der völligen Abschaffung der Steuergrenzen den Wettbewerb nicht wesentlich verzerren können". Vielleicht spekuliert die SPD insgeheim doch darauf, daß die Mehrwertsteuererhöhung trotz ihres Neins kommen und den Ländern die Kassen füllen wird. Vielleicht ist mein Eindruck falsch und Brandenburgs Finanzminister Kühbacher glaubt wirklich an den warmen Goldregen aus Bonn. Die SPD sollte ihre Politikfähigkeit endlich unter Beweis stellen und das Flügelschlagen sein lassen. ({1}) Der so oft und mit so viel Berechtigung gegen die Bundesregierung gerichtete Vorwurf der Steuerlüge könnte sich nämlich sehr schnell als Bumerang erweisen. Die PDS/Linke Liste lehnt beide Beschlußempfehlungen ab. Gestatten Sie mir zum Schluß noch die persönliche Frage an Herrn Schäuble, ob ich es richtig verstanden habe, daß tatsächlich nur derjenige, der für eine Mehrwertsteuererhöhung ist, auch für Freiheit und Frieden ist. Wenn ich das so richtig verstanden habe, muß ich leider sagen, daß mich das sehr an Denkmuster aus der ehemaligen DDR erinnert. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat am 5. Februar Vorschläge formuliert, die niemanden zufriedenstellen können, aber auch nicht alle Beteiligten von der Zustimmung abhalten werden. Die Bundesregierung suchte nach einem Ausweg, um nicht erneut der Steuerlüge bezichtigt zu werden. Sie fand ihn in der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die geplante Anhebung dieser Steuer gibt sie - formell korrekt - als notwendige Anpassung an die steuerlichen Festlegungen in Europa aus. ({0}) Werner Schulz ({1}) Der Finanzminister vergißt dabei aber geflissentlich seinen eigenen aktiven Beitrag zum Zustandekommen jenes EG-Richtlinienentwurfs. ({2}) Zu Recht hat die Opposition darauf verwiesen, daß eine Mehrwertsteuererhöhung verteilungspolitisch ungerecht wirkt. Die unteren Einkommensschichten werden stärker belastet. Dies trifft vor allem die Menschen in den neuen Bundesländern. Darüber hinaus führt eine Anhebung der Mehrwertsteuer im Ergebnis zu einem Anstieg des Preisniveaus und erschwert dadurch die Stabilisierungsaufgabe der Deutschen Bundesbank. ({3}) Es mutet kurios an, wie die Koalitionsparteien und die SPD ihre Argumente gebrauchen: Die SPD übernimmt heute die frühere Kritik der damals oppositionellen Christdemokraten, während es so scheint, daß die Vertreter der jetzigen Regierung ihre Argumentation vor einem Jahrzehnt völlig vergessen haben. ({4}) Die Argumente beider Seiten sind austauschbar und beliebig. Und Sie, Herr Schäuble, fragen: Wie wirkt das Theater auf unsere Bürger? - Ich sage Ihnen: Wie der Streit der Platzhirsche ums Futter der Feldmäuse. ({5}) Es macht sich Partei- und Politikverdrossenheit breit - Herr Gattermann, das gilt auch für Ihren „Club", wie wir aus einer gesicherten Studie wissen -, wozu auch, wie ich denke, die Diskussion um das Steuerpaket beigetragen hat. Ich kann jeden Bürger verstehen, der von diesem Theater den Kanal voll hat. Festzuhalten bleibt: Die bisherige Politik der Bundesregierung zur Finanzierung der deutschen Einheit hat die Bezieher höherer Einkommen insgesamt geschont. Die Hauptlast wurde von den Beziehern niedrigerer Einkommen getragen. ({6}) Die investitionsfördernden Maßnahmen der Bundesregierung kommen dagegen hauptsächlich den Beziehern höherer Einkommen zugute und bewirken zusätzlich eine Umverteilung zugunsten dieser Gruppen. ({7}) Das vorliegende Steuerpaket wird daran nichts ändern, im Gegenteil. Die Bundesregierung bleibt also in der Pflicht, ein finanzpolitisches Konzept vorzulegen, das die Lasten der deutschen Einheit gerecht verteilt. Dieser Verpflichtung ist sie mit dem hier vorliegenden Paket nicht gerecht geworden. Dennoch ist es einsichtig, daß die östlichen Bundesländer auf die finanziellen Hilfen, die sich aus dem Steuerpaket und dem Gesetz zur Aufstockung der Strukturhilfe sowie zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" ergeben, nicht verzichten können. Einzig aus diesem Grund, daß ein Scheitern des Steuerpakets den neuen Bundesländern die Planung ihrer Haushalte erschweren und unverzichtbare Finanzmittel blockieren würde, werden wir dieses Steuerpaket sowohl ablehnen als auch nicht ablehnen. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder. ({0}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gern den Versuch machen, in der Steuerfrage zu einer rationalen Debatte zu kommen. Die Ablehnung des Steuerpakets durch mich und meine Regierung gründet sich nicht, Herr Gattermann, auf Beschlüsse irgendeines Präsidiums. Sie wissen auch, daß das nicht so ist. Meine Ablehnung gründet sich auch nicht auf die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer. Im Unterschied zu anderen halte ich es für denkbar und möglich und, wenn man ganz bestimmte soziale Maßnahmen vornimmt, auch für vertretbar, die Mehrwertsteuer um einen Punkt zu erhöhen. Meine Ablehnung, meine Damen und Herren, gründet sich auf das Paket selber. ({2}) So, wie es vorliegt, ist es sozial unausgewogen; so, wie es vorliegt, ist es länderfeindlich und stellt den Versuch dar, die strukturschwachen alten Bundesländer - und zwar sie allein - in die Haftung für die finanziellen Schwierigkeiten der neuen Bundesländer zu nehmen. So, wie dieses Steuerpaket vorliegt, ist es z. B. bei der ins Auge gefaßten Reform der Unternehmensbesteuerung der Versuch, im einzelnen durchaus diskutable Ansätze auf Kosten der Länder zu finanzieren. ({3}) Ich möchte das im einzelnen sehr kurz am Beispiel der Auswirkungen für mein Land beweisen dürfen. Erstens. Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß eine Direktzahlung von Kindergeld - übrigens nicht nur für das erste Kind; die logische Folge sind Veränderungen auch beim Kindergeld für das zweite Kind - bei insgesamt gleichbleibendem Volumen soziale Wirkungen gerade in den fünf neuen Bundesländern hat und haben muß. ({4}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({5}) Sie wissen doch ganz genau, daß das Einkommensniveau der Menschen dort rund 30 % unter dem der Menschen in den westlichen Bundesländern liegt. Deshalb ist es nur logisch, daß die von uns geforderte Verdoppelung des Erstkindergelds dort mehr hilft als irgendwo anders. ({6}) Meine Damen und Herren, von den Steuerfreibeträgen profitieren Sie und ich sehr viel mehr als die Bezieher niedriger Einkommen, und dies geht nicht! ({7}) Zweitens. Warum meine ich, daß dieses Gesetz gegen die Interessen der Länder insgesamt ist, weil auf die Zerstörung deren Solidarität gerichtet? Ich möchte Ihnen das an den Auswirkungen für Niedersachsen darlegen. Meinem Vorgänger, Herrn Dr. Albrecht, ist 1988 für seine Zustimmung zur damaligen Steuerreform die Strukturhilfe versprochen worden. Dieses Versprechen ist Gesetz geworden. Herr Albrecht hat 652 Millionen DM jährlich bekommen; das sollte für zehn Jahre gelten. ({8}) - Ich komme dazu, meine Damen und Herren. Diese 652 Millionen DM werden im Landeshaushalt ganz natürlich fehlen. Zu einer Bewertung komme ich noch. ({9}) Bei den Diskussionen im Vorfeld der Sitzung des Vermittlungsausschusses waren wir uns einig, Herr Gattermann und Herr Waigel, daß wir eine Unternehmensteuerreform erstens aufkommensneutral für alle Finanzierungsebenen machen wollten, zweitens finanziert durch die Streichung unsinniger Steuersubventionen für die Unternehmen. ({10}) Das vorliegende Gesetzespaket realisiert dies in keiner Weise. Wenn die Unternehmensteuerreform so durchkommt, wie Sie sie durchführen wollen, bedeutet das beispielsweise für Niedersachsen ein Minus von 220 Millionen DM. ({11}) - Ich sage Ihnen gleich, was an Subventionen hinzukommt; das werden Sie schon noch hören. Die Änderung der Gewerbesteuerumlage würde für Niedersachsen ein Minus von 105 Millionen DM bedeuten. ({12}) Wenn der Familienlastenausgleich so durchgesetzt würde, wie Sie es vorhaben, würde das für Niedersachsen ein Minus von 192 Millionen DM bedeuten. Wenn die Wohneigentumsförderung so vorgenommen würde, wie Sie es wollen, würde das für Niedersachsen ein Minus von 45 Millionen DM bedeuten. Hinzu kommt: Die Haushaltsnotlagendotationen von Bremen und vom Saarland schlagen bei uns mit minus 120 Millionen DM zu Buche. Meine Damen und Herren, insgesamt sind es 1,3 Milliarden DM weniger - in einem strukturschwachen Land! Jetzt komme ich zu dem, was wir nach Ihren Plänen dafür bekommen sollen. Unser Umsatzsteueranteil soll um zwei Prozentpunkte steigen; das ist ein Plus von 360 Millionen DM. Der Subventionsabbau - wenn er so durchgeführt wird, wie Sie es wollen; Sie wissen, daß das immer mit Risiken behaftet ist - würde ein Plus von 145 Millionen DM bringen. Wir hätten für 1993 einen negativen Finanzierungssaldo von 829 Millionen DM. Wie wollen Sie angesichts dessen von einem Ministerpräsidenten eines strukturschwachen Landes verlangen, daß er diesem Gesetz zustimmt? Das können Sie doch nicht ernsthaft verlangen. ({13}) - Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet. Ich bin bereit zu sagen: Wir haben noch Anspruch auf sieben mal 625 Millionen DM; dies sind 4,5 Milliarden DM. Nehmt diese Strukturhilfe, auf die wir Anspruch haben, die uns versprochen worden ist, die in Gesetze gegossen ist, und finanziert daraus den Fonds Deutsche Einheit! Dies ist ein Beitrag zur Solidarität, zu dem wir bereit sind, meine Damen und Herren. ({14}) Ich war dabei, als im Juni letzten Jahres über Konversionen geredet worden ist und als uns in die Hand versprochen worden ist: Wir werden auch und gerade in den alten Ländern mithelfen, die wirtschaftlichen Folgen des Truppenabbaus - für den wir sind - aufzufangen. Es ist keine Rede mehr davon, meine Damen und Herren. Ich sagen Ihnen: Meinethalben verzichten wir auf den Konversionsfonds; nehmen Sie dieses Geld, das Sie uns versprochen hatten, und finanzieren Sie daraus den Fonds Deutsche Einheit. ({15}) Etwas kann ich nicht verstehen: Wenn Sie dann noch den einen Prozentpunkt der Mehrwertsteuer bekommen, dann hindert Sie niemand daran, Ihre 63 Prozentpunkte zu nehmen und daraus den Fonds Deutsche Einheit zu finanzieren. ({16}) Ein solches Vorgehen, meine Damen und Herren, wäre nicht nur sozialverträglich, sondern es würde auch den Interessen der Länder gerecht. ({17}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({18}) Warum sage ich das? Ich sage das doch nicht deshalb, weil die Finanzminister und die Ministerpräsidenten der alten Länder aus einer Ansammlung geldgieriger Menschen bestünden. ({19}) Was tun wir denn damit? Sie diskutieren hier z. B. - was ich gut finde - einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Aber wer muß den Platz denn bauen? Das müssen die Gemeinden und die Lander tun, meine Damen und Herren. ({20}) Und denen nehmen Sie das Geld weg. Wer finanziert denn die Schulen, die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen? Das tun die Länder. Wer finanziert denn - weil Sie sich nicht auf eine Pflegeversicherung einigen können - die Menschen, die sich in den Altenpflegeeinrichtungen befinden? Das tun die Länder. ({21}) Ich denke, es ist an der Zeit, daß man in dieser Steuerdebatte endlich dazu kommt, das zu tun, was sozial gerecht ist, was auch zwischen den Ländern vernünftig ist, und das zu tun - und nur das -, was wirklich eine sinnvolle Unternehmensbesteuerung darstellt. All dies, meine Damen und Herren, hätten Sie ohne das ganze Theater, das hier von Ihnen veranstaltet worden ist, haben können. ({22}) Ich frage Sie: Warum wollen Sie das denn nicht? Sie wollen an einem Punkt Macht demonstrieren. Zur Demonstration von Macht suchen Sie sich diejenigen aus, die am meisten auf die Bundeskassen angewiesen sind. Das sind die Länder im Osten Deutschlands, Brandenburg eingeschlossen, meine Damen und Herren. Nicht Struck und andere machen ein Erpressungsmanöver, Sie spekulieren auf die Armut dort, meine Damen und Herren. Das ist Ihr Problem. ({23}) Mein Vorschlag ist: Nehmen Sie das weg, machen Sie es so, wie wir es im übrigen andiskutiert hatten in vielen Gesprächen, die geführt worden sind! ({24}) - Weil Sie immer dazwischenrufen, schreie ich so laut - und weil ich in der Tat engagiert bin; hier geht es wirklich darum, daß Interessen der Länder nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn wenn die jetzt auf Sie reinfallen, dann werden die kurzfristig etwas davon haben, langfristig aber die Solidarität und die Zusammenarbeitsfähigkeit unter den Ländern zerstören. Und Sie haben die Folgen davon zu tragen, meine Damen und Herren. ({25}) Meine Bitte an Sie ist: Bessern Sie nach in sozial vernünftiger Weise, in einer Weise, die zu ausgewogener Vertretung der Länderinteressen führt! Bessern Sie bei der Umsatzsteuerreform wirklich so nach, daß Sie nicht Geschenke zu Lasten anderer verteilen. Wenn Sie dieses geleistet haben, dann können Sie auch Ihren Punkt Mehrwertsteuer bekommen, meine Damen und Herren. ({26})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Jetzt spricht der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden Reden des Kollegen Struck und des Ministerpräsidenten haben sich bemerkenswert unterschieden. Trotz einer sehr engagierten Rede hat der Ministerpräsident bei der Fraktion der SPD nur sehr verhaltenen Beifall bekommen. ({0}) Ich möchte aber doch nicht versäumen, noch einiges zu der Rede des Kollegen Struck zu sagen: Herr Kollege Struck, Sie haben hier von Erpressung gesprochen. Sie haben gesagt, man nehme Kinder in eine Geiselhaft. Sie haben von An-die-Wand-Stellen gesprochen. Wer gibt ihnen das Recht, in dieser Tonart zu sprechen, wo Sie einen eigenen Parteifreund in dem Zusammenhang als Brutus bezeichnet haben? ({1}) Wer eigene Parteifreunde, die das Wohl ihres Landes und ihrer Bürger über die Satzung und die Strategie ihrer Partei stellen, als Verräter bezeichnet, der disqualifiziert sich hier in diesem Hohen Hause. ({2}) Es ist schon ein starkes Stück, hier zu behaupten, wir wollten den neuen Ländern kein Geld geben. Sie, Herr Kollege Struck, und ihre Haushaltspolitiker, wissen doch genau, daß die gesetzliche Grundlage für eine Umlenkung, auch wenn sie im Haushalt enthalten ist, fehlt. Wir brauchen erst die gesetzliche Grundlage, um das Geld ausgeben zu können. ({3}) - Nein, das ist richtig. ({4}) - Es ist richtig. Was die Mehrwertsteuer anbelangt: Wenn Sie mir nicht glauben, rufen Sie doch an bei Ihren Parteifreunden in Europa, bei Wim Kok, bei Pierre Bérégovoy oder auch bei Jacques Delors, hören Sie, was Madame Scrivener in dem Zusammenhang gesagt hat. Sie wissen doch ganz genau: Wir haben einem einstimmigen Beschluß im Europäischen Rat zugestimmt. Das war die Voraussetzung, um überhaupt einheitliche Steuersätze in Europa zu bekommen. Alle anderen mit Ausnahme von Luxemburg und von Spanien hatten schon höhere Steuersätze; alle anderen wollten mindestens 16 %. Wir haben erreicht, daß der Steuersatz auf 15 % gesenkt wird. ({5}) Wir haben in dem Zusammenhang etwas eingebracht, was Finanzminister der SPD nie getan haben, nämlich den ermäßigten Steuersatz gerade für die Güter des täglichen Bedarfs nicht erhöht. Das ist unsere soziale Komponente. ({6}) Zu dem Zeitpunkt, als diese Bundesregierung ihre Zustimmung gegeben hat, Herr Struck, hatten wir übrigens eine Mehrheit im Bundesrat. Wenn ich jedes Mal bei einer Entscheidung in Europa, die für die nächsten zehn Jahre gültig ist, darauf sehen müßte, ob wir ein oder zwei Jahre später eine Mehrheit im Bundesrat haben oder nicht haben werden, dann wäre eine Regierung bewegungsunfähig. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, mit einer solchen Strategie in Europa aufzutreten, mit der wir uns lächerlich machen würden. ({7}) Es sind abenteuerliche Finanzierungsvorschläge, die die SPD in dem Zusammenhang gemacht hat. ({8}) Ich war mit der Frau Kollegin Simonis jahrelang im Haushaltsausschuß. Daß sie alle Grundsätze der Wahrheit und Klarheit des Haushaltsgebarens vergessen hat, hätte ich ihr nicht zugetraut. ({9}) Man muß sich einmal vorstellen: Die SPD stellt sich vor, wir könnten 100 Milliarden mehr ausgeben, weil wir Kreditermächtigungen in den letzten zwei Jahren nicht in Anspruch genommen haben. Abenteuerlich, unseriös, und in Bayern würde man sagen: liederlich! ({10}) Ihre Rede, Herr Ministerpräsident Schröder, war von anderer Art. Darum nehme ich sie ernster. ({11}) Sie haben es nicht einfach, Herr Ministerpräsident, aber Sie sind ja in Niedersachsen nicht auf die SPD angewiesen, Sie haben ja dort die GRÜNEN noch zur Hand. ({12}) Sie haben das Ganze als Theater bezeichnet. Ich glaube, damit sollten wir vorsichtig sein. Sie haben ja im Vermittlungsausschuß auch einmal von Affentheater gesprochen. Ich glaube, das nützt uns nichts. Ich will aber hier das Geheimhaltungsprinzip dieses hohen Ausschusses nicht weiter tangieren. ({13}) Sie haben immerhin zur Mehrwertsteuer eine differenzierte Betrachtung gegeben, und ich hoffe, daß das der SPD zu denken gibt. Nur, Herr Ministerpräsident Schröder, wir haben uns vor Weihnachten darüber unterhalten, welchen Weg wir gehen, und um zu einem Kompromiß zu kommen, mußte jede Seite bereit sein, auf die andere zuzugehen. Das haben wir beide versucht. Ich glaube, wir haben im Bereich der Unternehmensteuerreform die Ideologie des letzten Jahres weggenomen und sind ganz beachtlich nach vorn gekommen. Wenn ich mir vorstelle, wie beim letzten Vermittlungsbegehren damals noch allein das Nennen des Wortes „Gewerbekapitalsteuer" bei Ihnen schon zu ungeheuren Reaktionen geführt hat, ({14}) dann kann ich heute nur sagen: Mit welcher Gelassenheit wir heute darüber reden, daß sie in den neuen Bundesländern noch ein paar Jahre nicht erhoben wird, mit welcher Ruhe wir heute über die betriebliche Vermögensteuer, über die Erhöhung der Freibeträge, über die Einsetzung der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung reden, das ist ein beachtlicher Fortschritt, der sich hier im politischen Prozeß der Sozialdemokratie ergeben hat. Ich begrüße das ausdrücklich. ({15}) Wir sind uns auch darüber einig, daß das aufkommensneutral geschehen soll, und genau das ist der Fall. Nun gab es zwei Möglichkeiten: Die eine war, beim Erstkindergeld eine Erhöhung vorzunehmen, wobei bei Ihnen der Geldsäckel des eigenen Landes und die Liebe dazu mindestens so stark ausgeprägt ist wie die soziale Komponente, von der Sie lautstark gesprochen haben. ({16}) Aber das werfe ich Ihnen nicht vor, Herr Schröder, das ist Aufgabe eines Ministerpräsidenten. Die zweite Möglichkeit war die Erhöhung des Umsatzsteueranteils. Aber beides, auf der einen Seite Erhöhung des Kindergeldes mit dem Nachteil für den Bund - 10 Mark, also über 1 Milliarde - und auf der anderen dann noch Erhöhung des Umsatzsteueranteils, beides zu Lasten des Bundes - das geht nicht. Der Bund opfert hier viel mehr als jedes Land und die Länderseite insgesamt, wenn wir 19 Milliarden DM über die Beschlüsse des Bundestages zulegen. Wir sind diejenigen, die am meisten betroffen sind und den größten Teil an Solidarität allen Ländern gegenüber zum Ausdruck bringen. ({17}) Wenn Sie auf die Strukturhilfe verweisen, Herr Ministerpräsident Schröder, dann gilt folgendes: Eine Zusage auf zehn Jahre kann es nicht geben, sondern entscheidend ist, ob etwas verfassungskonform ist oder nicht. Gegen dieses Gesetz gibt es zwei Verfassungsklagen, übrigens von einem CDU-Land und - horribile dictu - von einem SPD-Land, nämlich Hessen. So schlimm sind die Hessen in ihrer Solidarität - -({18}) - Ja, ich hätte doch wirklich erwartet, wenn dort ein SPD-Ministerpräsident gewählt wird, daß dieser dann auf Grund der Solidarität zu seinem SPD-Kollegen in Niedersachsen die Klage zurückzieht. Er hat es nicht getan. ({19}) Aber wir sind uns ziemlich darüber einig, daß dieses Gesetz über die Strukturhilfe, nachdem die Wiedervereinigung gekommen ist und fünf andere Länder mit ganz anderen Strukturproblemen als Niedersachsen, das Saarland, Bremen, Schleswig-Holstein und einige andere da sind, in der Verfassung keine Grundlage mehr hat und mit letzter Sicherheit vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wird. ({20}) Wenn das so ist, dann ist auch keine Rechtsgrundlage für weitere Mittel mehr da. Wenn wir dann eine Übergangshilfe von ursprünglich 600 und jetzt 800 Millionen DM aufwenden, um anfinanzierte Projekte fortführen und entsprechend abwickeln zu können, dann ist dies ein faires Angebot. Sie können nicht etwas, was vor der Verfassung keinen Bestand mehr haben wird, als Rechtsanspruch des Landes Niedersachsen für die nächsten zehn Jahre postulieren. ({21}) Die Mehrbelastungen des Bundes belaufen sich auf 19 Milliarden DM. Die Länder wollen weitere 30 Milliarden DM mehr. Das ist nicht finanzierbar. Zur Strukturhilfe habe ich das Notwendige gesagt. Um die Mehrwertsteuer wird ein Scheingefecht geführt. Meine Damen und Herren, Sie werden doch von Ihren eigenen Europaabgeordneten ausgelacht angesichts der Sentenz und angesichts der politischen Entwicklung in Europa. Sie wissen das ganz genau. Sie glauben, vor zwei Wahlterminen die Menschen glauben machen zu können, ({22}) die Mehrwertsteuererhöhung komme nicht und Sie könnten sie verhindern. Sie sollten mit dem Vorwurf der Steuerlüge sehr vorsichtig sein; denn Sie können das nicht einhalten, was Sie jetzt versprechen. ({23}) Ihre eigenen Ministerpräsidenten nehmen dazu schon eine andere Haltung ein. Es ist schlimm, daß die Familien möglicherweise noch über Wochen und Monate nicht wissen, woran sie sind. ({24}) Es ist schlimm, daß die Investoren nicht wissen, woran sie sind. Es ist schlimm, daß der Wohnungsbau keine verläßliche Grundlage bekommt. Es ist schlimm, daß wir zu diesem Zeitpunkt, wo auch wir unseren Part für die Belebung der internationalen Konjunktur erbringen sollten, das nicht tun können, weil Sie das verhindern wollen. Meine Damen und Herren von der Opposition hier im Bundestag und in den Ländern, Sie müssen sich entscheiden, welche Strategie Sie wollen, eine Strategie der gemeinsamen Verantwortung vor dem deutschen Volk oder eine Parteistrategie, um auf Baisse zu setzen und daraus parteipolitischen Vorteil zu erhalten. Nur, mit der letzteren Strategie werden Sie scheitern. ({25})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/2044 zum Steueränderungsgesetz 1992 und über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/2045 zum Gesetz zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" gemeinsam abzustimmen ist. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP verlangen namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. - Ich frage, ob alle Stimmen abgegeben sind. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. *) Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich zunächst das Ergebnis der Nachwahl eines Mitglieds der Parlamentarischen Kontrollkommission bekanntgeben. Mitgliederzahl 662, abgegebene Stimmen 520, ungültige Stimmen 6. Für den Wahlvorschlag der CDU/CSU haben 363 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 114 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen 37. Der Abgeordnete Johannes Gerster ({0}) hat damit die erforderliche Mehrheit von 332 Stimmen erreicht. Er ist als Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission gewählt. **) ({1}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit dem aus der Parlamentarischen Kontrollkommission ausgeschie- *) Seite 6293 B **) Verzeichnis der Abgeordneten, die an der Wahl teilgenommen haben, siehe Anlage 2 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth denen Mitglied Dr. Paul Laufs noch einmal für seine Mitarbeit herzlich danken und ihm für seine neue Aufgabe viel Erfolg wünschen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1991 ({3}) - Drucksachen 12/732, 12/1455, 12/1693, 12/2006 - Berichterstattung: Abgeordneter Rudolf Dreßler Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. -Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen! - Die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist somit einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 und die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: 6. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({4}) - Drucksache 12/1836 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Marktstrukturgesetzes - Drucksache 12/2060 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vorzeitigen Inkraftsetzung des Marktstrukturgesetzes und darauf beruhende Rechtsverordnungen im Beitrittsgebiet ({7}) - Drucksache 12/1946 Überweisungsvorschlag : Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO 6. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Poß, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Unterbindung der Geldwäsche zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität - Drucksache 12/1367 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({10}) Innenausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Post und Telekommunikation Haushaltsausschuß c) Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" - Wirtschaftsjahr 1990 -- Drucksache 12/1905 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({11}) Ausschuß für Wirtschaft d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Jan Oostergetelo, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen ethisch verantwortbaren Umgang mit Tieren - Drucksache 12/781 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({12}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf. Es handelt sich um die Beratung von Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Finanzierung der Schiffsentsorgung in deutschen Seehäfen nach MARPOL - Anlage I und II - Drucksachen 12/117, 12/1897 - Berichterstattung: Abgeordnete Wolfgang Ehlers Dietmar Schütz Uwe Lühr b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({14}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Benennung und die berufliche Befähigung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth eines Gefahrgutbeauftragten in Unternehmen, die gefährliche Güter befördern - Drucksachen 12/1122 Nr. 3.16, 12/1980 Berichterstattung: Abgeordneter Helmut Rode ({15}) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 44 zu Petitionen - Drucksache 12/1957 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 45 zu Petitionen - Drucksache 12/1991 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 46 zu Petitionen - Drucksache 12/1992 - Ich komme zum Tagesordnungspunkt 7 a. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mehrheitlich angenommen gegen die Stimmen der SPD, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE. Wer stimmt für die in Tagesordnungspunkt 7 b genannte Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Wer stimmt für die in den Tagesordnungspunkten 7 c bis e genannten Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei einigen Enthaltungen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1992 der Bundesregierung - Drucksache 12/2018 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({19}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 1991/92 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 12/1618 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({20}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({21}) - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD - zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1991 der Bundesregierung - Drucksachen 12/223, 12/377, 12/391, 12/1521 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Uwe Jens d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({22}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Den Aufbau in den neuen Ländern vorantreiben - Investitionen fördern - Umwelt sanieren - Verwaltungskraft stärken - Drucksachen 12/670, 12/1840 Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Petzold Zum Jahreswirtschaftsbericht liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP und ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Beratungen. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, wie groß die Aufgaben und Herausforderungen sind, vor denen wir jetzt stehen. Erstens. Der Aufbau der neuen Bundesländer zu einem leistungsstarken Industrie- und Dienstleistungsstandort muß weitergehen. Er wird mehr Zeit, Kraft und Geld kosten, als wir am Anfang geglaubt haben, und er wird sicher das ganze vor uns liegende Jahrzehnt beanspruchen. Zweitens. Wir sind gefordert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in Gesamtdeutschland auf der Grundlage von Stabilität und Wachstum zu sichern. Nur wenn die Wirtschaftslokomotive unter Dampf bleibt, wird sie die schweren Wagen den Berg hinaufziehen können. Dazu brauchen wir auch die Garantien des Freihandels. Dazu brauchen wir einen Erfolg bei den GATT-Verhandlungen. Drittens. Die Beziehungen mit den Staaten der GUS und Osteuropas brauchen eine neue, eine tragfähige Grundlage. Hierin liegt für ganz Europa eine Chance der Integration. Hierin liegt aber, wenn die Staatengemeinschaft, vor allem des Westens, nicht mit Rat und Tat und entschlossen helfen, auch die Gefahr des Rückfalls in totalitäre Verhältnisse oder das Risiko einer Ost-West-Völkerwanderung. Viertens. Unseren hohen Umweltstandard, unsere führende Position im Umweltschutz müssen wir noch stärker als Standortvorteil ausspielen. Es gilt, das ökologisch Notwendige ökonomisch sinnvoll zu gestalten. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind ehrgeizige Ziele, die hohe Anforderungen an die Menschen und an uns in der Politik stellen. Sie fordern die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, der Politik und des gesamten Gemeinwesens. Vor diesem Hintergrund lege ich mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine erste gesamtdeutsche Projektion vor: für Gesamtdeutschland eine Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts von gut 2 %, für Ostdeutschland ein Wachstum von 10 % und für Westdeutschland ein solches von 1,5 %. Meine Kolleginnen und Kollegen, der Aufschwung Ost ist in diesem Jahr noch nicht selbsttragend. Er basiert noch immer auf erheblichen Transferleistungen aus Westdeutschland. Allein 1991 waren es netto über 100 Milliarden DM. 1992 wird sich dieser Betrag noch erhöhen. Auf mittlere Sicht aber müssen wir wieder zu normalen Verhältnissen zurück. Die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Stabilität gerieten sonst in Gefahr. Die Haushalts- und Finanzpolitik werden weiterhin im Vordergrund stehen, wenn wir über Wachstumschancen sprechen. Sie müssen ihren Teil dazu beitragen, um Beschäftigung in Deutschland weiterhin attraktiv zu halten. ({0}) Darauf weist dankenswerter Weise auch der Sachverständigenrat in seinem hier heute zur Beratung anstehenden Jahresgutachten hin. Wir sollten diese klaren Aussagen gebührend zur Kenntnis nehmen. Neue Leistungen müssen mit Einsparungen an anderer Stelle finanziert werden. Generell gilt, daß das Moratorium für neue Leistungsgesetze auf absehbare Zeit weiter gelten muß. ({1}) Meine Damen, meine Herren, zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik gehört weiterhin auch die Überprüfung bestehender staatlicher Vergünstigungen in Form von direkten Finanzhilfen und Steuervergünstigungen. Das heißt, der Subventionsabbau muß fortgesetzt werden. Auch ich weiß, wie schwierig das ist. Die Erfahrung habe ich selber zusammen mit Ihnen gemacht. Aber es ist notwendig, diesen schwierigen Prozeß weiter fortzusetzen. Wettbewerbsfähigkeit stärken heißt auch, die Unternehmensteuerreform umzusetzen. Sie ist und bleibt ein zentraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik. Das heißt, nach dem hoffentlich positiven Entscheid des Bundesrates morgen werden wir in diesem Jahr das Gesetz, was den zweiten Schritt betrifft, einbringen, nämlich das Gesetz zur Senkung der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Das ist ebenfalls notwendig. Es geht auch - nicht nur, aber eben auch - um die im internationalen Vergleich wettbewerbsfeindlichen Unternehmensteuem in unserem Land. Daneben kann auch der Anstieg der Lohnzusatzkosten nicht so weitergehen wie bisher. Hier bürden wir der deutschen Wirtschaft, vor allem den kleinen und mittleren Unternehmen, weltweit die höchsten Lasten auf. Das zu ändern, hat die Koalition angekündigt. Schon deshalb können wir uns keine falschen Konzepte bei der Pflegeversicherung leisten. ({2}) Das gilt auch für die Gesundheitsausgaben, die hohe Kostenbelastungen bei der Wirtschaft und den Beschäftigten verursachen. Meine Damen, meine Herren, Aufschwung Ost heißt für die Bundesregierung mehr Investitionen für mehr wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Wir wollen den Aufbau eines wettbewerbsfähigen Industrie- und Dienstleistungsstandortes in den neuen Ländern. Kein Investor aus dem In- und Ausland darf in ein Förderloch fallen. Die Bundesregierung wird deshalb die Mittel für die Regionalförderung weiter aufstocken. Der Ausbau von Straßen- und Schienenverkehrswegen mit 14 Milliarden DM, aber auch der Ausbau der Telekommunikation mit 9 Milliarden DM kommen auf hohem Niveau voran. Hier werden auch neue Wege der Finanzierung und der Privatisierung beschritten, die der klassischen Haushaltsfinanzierung überlegen sind. Die Länder haben angekündigt, alle mit einem Investitionsprojekt verbundenen Planungs- und Genehmigungsvorgänge innerhalb von sechs Monaten abzuschließen. Das ist eine gute, aber auch eine mutige Ankündigung. Die Bundesregierung setzt darauf, daß aus ihr Wirklichkeit wird, damit der Aufschwung nicht dadurch gehemmt wird, daß bürokratische Entscheidungsprozesse zu lange dauern. Trotz aller Kritik will ich hier feststellen, daß die Treuhandanstalt ihren schwierigen Aufgaben gerecht wird. Nach 5 000 Privatisierungen in noch nicht einmal eineinhalb Jahren steht jetzt nur noch jeder fünfte Beschäftigte in Ostdeutschland auf der Gehalts- und Lohnliste der Treuhandanstalt. Das ist weiß Gott eine Leistung, für die Frau Breuel und ihre Mitarbeiter Dank und Anerkennung verdienen. ({3}) - Ich nehme das mit Interesse zur Kenntnis. Die Politik der Privatisierung hat sich bewährt. Sie wird und muß von der grundsätzlichen Orientierung her so fortgeführt werden. Allerdings muß die aktive Sanierung 1992 stärker als bisher in den Vordergrund treten. Dafür müssen und werden wir der Treuhandanstalt die dafür nötige Zeit und das dafür nötige Geld zur Verfügung stellen. Überall dort, wo in absehbarer Zeit Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden kann, eröffnet die Sanierung den Menschen Perspektiven auf sinnvolle Arbeit. Dies sollen die Treuhandanstalt und die Treuhandkabinette in den Ländern besonders berücksichtigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die jüngsten Meldungen zum Arbeitsmarkt zeigen, wie beschwerlich der Weg ist, den wir noch vor uns haben. Ich habe bereits zum letzten Jahreswirtschaftsbericht gesagt: Die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern werden steigen. Ich wiederhole: Die Menschen in den neuen Bundesländern brauchen nicht die Erhaltung der alten Arbeitsplätze um jeden Preis. Was sie brauchen, sind neue Arbeitsplätze, solche, die überlebensfähig sind, ({4}) die dem internationalen Konkurrenzdruck standhalten können und damit eine wirkliche Perspektive bieten. Wir setzen die Fördermittel dort ein, wo sie den größten Nutzen für Investitionen und Arbeitsplätze bringen. Von Maßnahmen der Kurzarbeit, der Arbeitsbeschaffung und Qualifizierung, von Vorruhestand und Altersübergangsgeld haben im letzten Jahr 2 Millionen Beschäftigte profitiert. 1992 unternimmt die Bundesanstalt für Arbeit mit Ansätzen von 36 Milliarden DM nochmals erhebliche Anstrengungen. Damit sich noch mehr Personen qualifizieren können, habe ich die Kopplung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierung vorgeschlagen. Noch besser qualifizierte Arbeitnehmer als bisher sind nötig, um bei immer moderneren, intelligenteren Technologien auch in den neuen Bundesländern mithalten zu können. Hier liegt der Schwerpunkt der Arbeitsmarktpolitik für die Menschen in den neuen Bundesländern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Eigentumsfrage wird wie in kaum einem anderen Bereich des Aufschwungs Ost deutlich, wie sehr wir alle Lernende in diesem Prozeß sind. Aufschwung Ost war und ist mehr als die Summe staatlicher Förderungsprogramme und Transferleistungen. ({5}) Es ging und geht um Rahmensetzung, die Marktkräfte freisetzt. Zum Kern dieser Rahmensetzung gehört es, Eigentümerinteressen zu schaffen und dadurch Märkte zu eröffnen, wie Klaus von Dohnanyi es ausgedrückt hat. Daß wir als Bundesregierung und Koalition hierüber einig sind, auch einig mit der größten Oppositionspartei, mit Gewerkschaften und Unternehmern, mit den Bürgern im Westen wie im Osten, darin liegt die eigentliche Stärke und Erfolgsaussicht der Strategie Aufschwung Ost. Die Vorschläge zur Verlängerung und Verbesserung der Vorfahrtsregel sind durch ständigen Erfahrungsaustausch mit Detlef Rohwedder und Frau Breuel zustande gekommen. ({6}) Der Streit um die Prinzipienfrage „Entschädigung oder Rückgabe" führt nicht weiter. Grundstücke zu entschädigen, die niemand für Investitionen braucht, ist ökonomisch und finanzpolitisch wenig sinnvoll und eben deshalb auch verfassungsrechtlich kaum realisierbar. Wir sind bereits jetzt bei mehr Entschädigung als Restitution - so hat es Klaus Kinkel schon vor einem Jahr festgestellt. Dieser Trend wird sich durch die beabsichtigte Novelle zum Vermögensgesetz, die Herr Kinkel und ich jetzt gemeinsam erarbeitet haben, weiter verstärken. ({7}) Lassen Sie uns also nicht die Schlachten von gestern wiederholen. ({8}) Meine Damen und Herren, es geht nicht ohne Grundbücher. Also kann niemand vorbei am mühseligen Umgang mit ihnen. Es geht nicht ohne gerichtlichen Rechtsschutz. Man darf sich allerdings als verantwortliche Gemeindeverwaltung nicht zu sehr von manchmal bemerkenswert offensiven Anwaltsschreiben beeindrucken lassen. Bund, Länder und Gemeinden müssen zusammenwirken, um die personellen Engpässe noch weiter zu überbrücken, damit hieran die notwendigen Entscheidungen nicht zu lange festgehalten werden. Die konjunkturelle Entwicklung in Westdeutschland ist natürlich nicht mit letzter Sicherheit einzuschätzen. Sie hängt nicht zuletzt auch von der Lohnentwicklung ab. Die Zahl 4 ist natürlich keine magische Zahl. Im Gegenteil, wir müssen herunter von 4 % Inflation. Damit tun wir mehr für die Beschäftigten, als es noch so heftige Grabenkämpfe bei Lohnverhandlungen je erreichen können. ({9}) Der Streit um die Mitbestimmung, die seinerzeitige Klage über das Ende der konzertierten Aktion liegt lange zurück. In den neuen Chancen des Miteinanders liegt die Zukunft der Industriegesellschaft. Offnen wir uns für die partnerschaftliche Teilhabe am Wirtschaftsergebnis, für neue Formen der Arbeitszeit, der Entlohnung, der Gewinnbeteiligung. Das Investivlohnkonzept zielt zugleich auf die Lohnseite und auf die Investitionen. Auf Investitionen kommt es für den Aufschwung Ost entscheidend an. Mit den Löhnen, die für die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern durchgesetzt sind, haben sich die Arbeitnehmer im Grunde das verbliebene Produktivvermögen der früheren DDR fast vollständig angeeignet, jedenfalls im wirtschaftlichen Sinne. Wenn Arbeitnehmer einen Teil der Löhne einsetzen, die noch nicht erwirtschaftet sind, und im Unternehmen belassen, bis sie erwirtschaftet und damit sie erwirtschaftet werden, dann sind sie Mitgestalter, Mitunternehmer des historischen Programms Aufschwung Ost. Wir wissen, das ist Sache der Tarifparteien. Sie tragen jetzt eine besondere Verantwortung für das Gemeinwohl und für unsere Zukunft. Es gibt gegenwärtig ermutigende Signale, daß dieser übergeordneten Verantwortung auf diesem Feld entsprochen werden soll. Jetzt ist die Zeit für gemeinsame Lösungen - nicht nur in den neuen Bundesländern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade in diesen Wochen werden auf internationalen Bühnen mehr denn je Schicksalsfragen der Wirtschaft entschieden. Ein Scheitern der in der Schlußphase befindlichen GATT-Runde würde uns, würde die Exportnation Deutschland besonders treffen. Es hätte folgenschwere Wirkungen für die neuen Bundesländer, für die Integration Osteuropas und für die Länder der Dritten Welt. Internationaler Handel und internationale Arbeitsteilung in der Produktion sind kein Nullsummenspiel. Dort, wo wie im Agrarsektor Abschottung das Geschehen bestimmte, sind Entwicklungschancen verpaßt worden, haben alle teuer bezahlt: die Länder, denen wir unsere Märkte verweigern, und die Verbraucher, die subventionierte Produkte kaufen. Arthur Dunkel, der Generalsekretär des GATT, hat vor einigen Tagen gesagt: Wir stehen jetzt vor der Stunde der Wahrheit. Dies ist zutreffend. ({10}) - Ja, ich weiß, die Stunde der Wahrheit herrscht hier dauernd; aber in dem Fall trifft es zu. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bundesregierung gut daran tut, in dieser entscheidenden Phase zum Vorreiter für einen Erfolg der GATT-Verhandlungen zu werden. ({11}) Niemand braucht den internationalen Freihandel mehr als wir. Deswegen haben wir uns in der Bundesregierung darauf festgelegt, in der Schlußphase die notwendigen Impulse zu geben, damit die Verhandlungen zum Erfolg geführt werden können. Meine Damen, meine Herren, im weltweiten Wettbewerb auf offenen Märkten werden Mitbestimmung und Mitverantwortung noch stärker dazu beitragen, das eigentliche Zukunftspotential weiter zu entfalten. Die starre Aufteilung der Produktion in kleinste Arbeitsabläufe am Fließband ist überholt. Moderne Produktion vollzieht sich auch als Lernprozeß. Produktivität ist deshalb zuallererst durch Einfallsreichtum am Arbeitsplatz, durch flexible Handlungsspielräume und eigenständige Fehlersuche zu steigern. In der Arbeitswelt von morgen sind mehr Eigenverantwortung, mehr Mitgestaltung, mehr Freiheit und mehr Flexibilität die entscheidenden Faktoren. Arbeitnehmer und Unternehmen gestalten schon die Zukunft. Sie haben sich in vielen Fällen bereits auf die Entkopplung von Maschinennutzung und Arbeitszeit verständigt. Aber das ist noch nicht häufig genug der Fall; das muß sich weiter fortsetzen. Das ist praktizierte Verantwortung. Sie sichert Beschäftigung am Standort Bundesrepublik. Es lohnt sich, nach Regensburg zu einem großen Automobilbauer zu fahren. Dort haben Unternehmer und Arbeitnehmer partnerschaftliche Lösungen gefunden, die die ökonomischen Erfordernisse mit den individuellen Interessen der Arbeitnehmer verbinden. Ich glaube, wenn dieses Beispiel Schule machte, könnte es unserer Wirtschaft einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil verschaffen. ({12}) - Zur Wirtschaft gehören beide: die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Natürlich ist es auch für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten nicht ohne Belang. Meine Damen, meine Herren, die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen ist ebenfalls eine Standortchance für die deutsche Wirtschaft und unsere Arbeitnehmer. Umweltbeauftragte in den Unternehmen können hier zugleich für wirksameren Umweltschutz, für sparsameren Umgang mit ökonomischen Ressourcen und für die Verkürzung der Genehmigungsverfahren sorgen. Die Sicherung des Industriestandortes Deutschland auf Kosten des Umweltschutzes kann natürlich nicht unsere Position sein. Dies liegt weder im Interesse der Bürger noch im Interesse der Wirtschaft. Der hohe Umweltstandard ist Standortvorteil und sichert zukünftige Marktchancen. Wenn wir insgesamt unsere Ansprüche überprüfen müssen, heißt das für mich: Einkommenssteigerungen dürfen nicht durch Abstriche beim Umweltschutz finanziert werden. An erster Stelle aller Anstrengungen zum Ausgleich von Ökonomie und Ökologie stehen die wirksame Senkung des Energieeinsatzes und der entschlossene Ausbau regenerativer Energien weltweit. Der Weltenergiemarkt ist ein Schlüsselbereich der Weltwirtschaftsordnung. Die Klimapolitik kann langfristig diese Ordnung stärken und für ihre Ziele nutzen. Wir brauchen daher eine europäische Klimaschutzregelung, eine Klimaschutzabgabe oder -steuer, wie sie jetzt die EG vorgeschlagen hat, als europäische Regelung. ({13}) Ökonomisch und ökologisch sind hier nationale Konzepte nicht hinreichend; vielmehr ist die Einbringung unserer nationalen Ideen in eine europäische Lösung erforderlich. Wir brauchen einen Ausstieg aus der FCKW-Produktion; das hat die gestrige Debatte in diesem Hause deutlich gemacht. ({14}) - Herr Kollege, ich weiß, daß Ihnen das meiste schon länger geläufig ist. Sie sollten es nur zum Gegenstand Ihres Handelns machen. ({15}) Auch unabhängig vom Klimaaspekt stellt der Energieverbrauch zusammen mit dem Bevölkerungswachstum langfristig die zentrale umweltpolitische Größe dar. Meine Damen, meine Herren, wir haben zu Beginn dieses Jahres 1992 - das belegt der Jahreswirtschaftsbericht; das belegen seine Kernaussagen - die Chance, dieses Jahr zum zehnten Jahr wirtschaftlichen Wachstums in Folge zu machen. Eine solche lange Phase wirtschaftlicher Prosperität, hohen Wohlstands, ausgeprägter Freizeit und der Möglichkeit, sie auch zu nutzen, haben wir noch nicht gehabt. Gewiß ist das nicht zuallererst das Verdienst der jeweils wirtschaftspolitisch Verantwortlichen, sondern primär derer, die in den verschiedenen Bereichen, in den Betrieben, in den Verwaltungen und in den Praxen, gestaltend tätig sind. Aber so schlecht kann die Wirtschaftspolitik nicht gewesen sein, die die Rahmenbedingungen für einen solchen Prozeß geschaffen hat. ({16}) Wenn wir mit Augenmaß und Vernunft, mit den Leitlinien für die Wirtschaftspolitik, die das wirtschaftspolitische Handeln in den Jahren zwischen 1983 und 1990 geprägt haben, auch in dieses Jahr hineingehen, dann besteht die Chance, daß 1992 ein gutes wirtschaftliches Jahr wird, daß wir die Kraft haben, die großen Probleme in den neuen Bundesländern entschlossen anzugehen und Schritt für Schritt zu meistern, in einem Prozeß, der dauern wird, und daß wir die großen Hoffnungen und Erwartungen, die auf Deutschland ruhen - nicht nur in Osteuropa, sondern in vielen Teilen der Welt - nicht enttäuschen müssen. Aber der Umkehrschluß gilt eben auch: Wenn wir uns in einer solchen Situation, in der alle Kräfte angespannt werden, selbst lähmen, unsere Kraft in Verteilungskämpfen verbrauchen, dann werden wir das nicht können. Deswegen ist es jetzt Zeit, die richtigen Prioritäten zu setzen. Das haben wir mit dem Jahreswirtschaftsbericht versucht. Ich danke Ihnen. ({17})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren! Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 12/2044 und 12/2045 bekannt. Es wurden 555 Stimmen abgegeben. Davon ist keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 347 gestimmt. Mit Nein haben 206 gestimmt. Es gibt 2 Enthaltungen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 553; davon ja: 345 nein: 206 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Frau Dr. Ackermann Adam Dr. Altherr Frau Augustin Augustinowitz Bargfrede Dr. Bauer Frau Baumeister Bayha Belle Bierling Dr. Blank Frau Blank Dr. Blens Bleser Dr. Blüm Böhm ({0}) Frau Dr. Böhmer Börnsen ({1}) Dr. Bötsch Bohl Borchert Brähmig Breuer Frau Brudlewsky Brunnhuber Bühler ({2}) Büttner ({3}) Buwitt Carstensen ({4}) Clemens Dehnel Frau Dempwolf Deß Frau Diemers Dörflinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehlers Ehrbar Frau Eichhorn Engelmann Eppelmann Eylmann Frau Eymer Frau Falk Dr. Faltlhauser Feilcke Dr. Fell Fischer ({5}) Frau Fischer ({6}) Fockenberg Francke ({7}) Frankenhauser Dr. Friedrich Fritz Fuchtel Ganz ({8}) Frau Geiger Geis Dr. Geißler Dr. von Geldern Gerster ({9}) Gibtner Glos Dr. Göhner Göttsching Götz Dr. Götzer Gres Frau Grochtmann Gröbl Grotz Dr. Grünewald Günther ({10}) Frhr. von Hammerstein Harries Haschke ({11}) Haschke ({12}) Frau Hasselfeldt Haungs Hauser ({13}) Hauser ({14}) Heise Frau Dr. Hellwig Dr. Hennig Dr. h. c. Herkenrath Hinsken Hintze Hörsken Hörster Dr. Hoffacker Dr. Hornhues Hornung Hüppe Jäger Jagoda Dr. Jahn ({15}) Janovsky Frau Jeltsch Dr. Jobst Dr.-Ing. Jork Dr. Jüttner Jung ({16}) Junghanns Dr. Kahl Kampeter Dr.-Ing. Kansy Dr. Kappes Keller Kiechle Klein ({17}) Klein ({18}) Klinkert Köhler ({19}) Dr. Köhler ({20}) Dr. Kohl Frau Kors Koschyk Kossendey Kraus Dr. Krause ({21}) Dr. Krause ({22}) Krause ({23}) Krey Kronberg Dr.-Ing. Krüger Krziskewitz Lamers Dr. Lammert Lamp Lattmann Dr. Laufs Laumann Frau Dr. Lehr Lenzer Dr. Lieberoth Frau Limbach Link ({24}) Lintner Dr. Lippold ({25}) Dr. sc. Lischewski Frau Löwisch Lohmann ({26}) Louven Lummer Dr. Luther Maaß ({27}) Frau Männle Magin Dr. Mahlo Frau Marienfeld Dr. Mayer ({28}) Meckelburg Meinl Frau Dr. Merkel Frau Dr. Meseke Dr. Meyer zu Bentrup Frau Michalk Michels Dr. Mildner Dr. Möller Molnar Müller ({29}) Müller ({30}) Nelle Neumann ({31}) Nitsch Frau Nolte Dr. Olderog Ost Oswald Otto ({32}) Dr. Päselt Dr. Paziorek Pesch Petzold Pfeffermann Pfeifer Dr. Pflüger Dr. Pinger Pofalla Dr. Pohler Frau Priebus Dr. Probst Dr. Protzner Dr. Ramsauer Rauen Rawe Regenspurger Dr. Reinartz Frau Reinhardt Repnik Dr. Rieder Dr. Riedl ({33}) Dr. Riesenhuber Rode ({34}) Frau Rönsch ({35}) Frau Roitzsch ({36}) Romer Rother Dr. Ruck Rühe Dr. Rüttgers Sauer ({37}) Scharrenbroich Frau Schätzle Dr. Schäuble Schartz ({38}) Schemken Scheu Schmalz Vizepräsident Hans Klein Schmidbauer Schmidt ({39}) Dr. Schmidt ({40}) Schmidt ({41}) Frau Schmidt ({42}) Schmitz ({43}) Dr. Schneider ({44}) Dr. Schockenhoff Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Scholz Frhr. von Schorlemer Dr. Schreiber Schulhoff Dr. Schulte ({45}) Schulz ({46}) Schwalbe Schwarz Dr. Schwörer Seehofer Seesing Seibel Seiters Dr. Sopart Frau Sothmann Spilker Spranger Dr. Sprung Frau Steinbach-Hermann Dr. Stercken Dr. Frhr. von Stetten Stockhausen Dr. Stoltenberg Stübgen Frau Dr. Süssmuth Susset Tillmann Dr. Töpfer Uldall Frau Verhülsdonk Vogel ({47}) Vogt ({48}) Dr. Voigt ({49}) Dr. Vondran Dr. Waffenschmidt Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke Dr. Warrikoff Werner ({50}) Wetzel Frau Wiechatzek Dr. Wieczorek ({51}) Frau Dr. Wilms Wilz Wimmer ({52}) Frau Dr. Wisniewski Wissmann Dr. Wittmann Wittmann ({53}) Wonneberger Frau Wülfing Würzbach Frau Yzer Zeitlmann Zöller FDP Frau Dr. Babel Beckmann Bredehorn Cronenberg ({54}) Eimer ({55}) Engelhard van Essen Dr. Feldmann Friedhoff Friedrich Funke Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Gallus Ganschow Gattermann Gries Grünbeck Grüner Günther ({56}) Dr. Guttmacher Hackel Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Frau Homburger Dr. Hoyer Hübner Irmer Kleinert ({57}) Kohn Dr. Kolb Koppelin Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Frau LeutheusserSchnarrenberger Lüder Lühr Dr. Menzel Möllemann Nolting Dr. Ortleb Paintner Frau Peters Frau Dr. Pohl Richter ({58}) Rind Dr. Röhl Schäfer ({59}) Frau Schmalz-Jacobsen Dr. Schmieder Schüßler Schuster Frau Dr. Schwaetzer Frau Sehn Frau Seiler-Albring Frau Dr. Semper Dr. Solms Dr. Starnick Frau Dr. von Teichman Dr. Thomae Timm Türk Frau Walz Wolfgramm ({60}) Frau Würfel Zurheide Fraktionslos Lowack Nein SPD Frau Adler Andres Bachmaier Frau Barbe Becker ({61}) Frau Becker-Inglau Bernrath Beucher Bindig Brandt Frau Brandt-Elsweier Dr. Brecht Büchler ({62}) Buchner ({63}) Dr. von Bülow Büttner ({64}) Frau Bulmahn Frau Burchardt Bury Frau Caspers-Merk Catenhusen Conradi Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Frau Dr. Dobberthien Dreßler Ebert Dr. Eckardt Dr. Ehmke ({65}) Eich Erler Ewen Frau Ferner Frau Fischer ({66}) Fischer ({67}) Formanski Frau Fuchs ({68}) Frau Fuchs ({69}) Fuhrmann Frau Ganseforth Gansel Dr. Gautier Gilges Frau Gleicke Dr. Glotz Graf Großmann Haack ({70}) Hacker Hampel Frau Hanewinckel Hasenfratz Hiller ({71}) Hilsberg Dr. Holtz Huonker Frau Iwersen Frau Jäger Frau Janz Dr. Janzen Jaunich Dr. Jens Jung ({72}) Frau Kastner Kirschner Frau Klappert Frau Klemmer Klose Dr. sc. Knaape Körper Frau Kolbe Kolbow Koltzsch Koschnick Kubatschka Kuhlwein Lambinus Frau Lange von Larcher Leidinger Lennartz Lohmann ({73}) Frau Dr. Lucyga Maaß ({74}) Frau Marx Frau Mascher Matschie Dr. Matterne Frau Matthäus-Maier Frau Mattischeck Meckel Frau Mehl Meißner Dr. Mertens ({75}) Dr. Meyer ({76}) Mosdorf Müller ({77}) Müller ({78}) Frau Müller ({79}) Müller ({80}) Müntefering Neumann ({81}) Neumann ({82}) Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Ostertag Frau Dr. Otto Paterna Dr. Penner Peter ({83}) Dr. Pfaff Pfuhl Poß Reimann Frau von Renesse Frau Rennebach Reschke Reuschenbach Reuter Rixe Roth Frau Schaich-Walch Schanz Scheffler Schily Schloten Schluckebier Frau Schmidt ({84}) Frau Schmidt ({85}) Schmidt ({86}) Frau Schmidt-Zadel Dr. Schmude Dr. Schöfberger Schreiner Frau Schröter Schröter Schütz Dr. Schuster Schwanitz Seidenthal Frau Seuster Sielaff Frau Simm Singer Frau Dr. Skarpelis-Sperk Frau Dr. Sonntag-Wolgast Sorge Frau Steen Steiner Stiegler Dr. Struck Tappe Frau Terborg Dr. Thalheim Thierse Tietjen Urbaniak Vergin Verheugen Dr. Vogel Voigt ({87}) Vosen Wallow Waltemathe Walter ({88}) Wartenberg ({89}) Weiermann Frau Weiler Weis ({90}) Weißgerber Welt Dr. Wernitz Frau Wester Frau Westrich Frau Dr. Wetzel Vizepräsident Hans Klein Frau Weyel Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz Wimmer ({91}) Dr. de With Wittich Frau Wohlleben Frau Wolf Frau Zapf Dr. Zöpel PDS/LL Frau Dr. Enkelmann Frau Dr. Fischer Dr. Gysi Dr. Heuer Frau Dr. Höll Frau Jelpke Dr. Keller Frau Lederer Dr. Riege Dr. Schumann ({92}) Dr. Seifert Frau Stachowa Bündnis 90/GRÜNE Dr. Feige Frau Köppe Poppe Dr. Ullmann Fraktionslos Henn Enthalten Bündnis 90/GRÜNE Schulz ({93}) Weiß ({94}) Die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses sind damit angenommen. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans-Ulrich Klose.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner traditionellen Pressekonferenz zu Beginn des Jahres laut „FAZ" erklärt, das Jahr 1992 dürfe kein Jahr der Verteilungskämpfe und des Anspruchsdenkens werden. ({0}) Der Bundeswirtschaftsminister hat sich eben ähnlich geäußert. Meine Damen und Herren, das Ziel solcher Aussagen ist klar. Beide wollen angesichts wachsender ökonomischer Schwierigkeiten politisch vorsorgen, um die Schuld für voraussehbare Probleme rechtzeitig anderen zuzuschieben, ({1}) den Gewerkschaften nämlich. ({2}) Das Rezept ist ja auch vielfach erprobt. Auch Graf Lambsdorff hat bei dem ebenfalls traditionellen Dreikönigstreffen nach einer vernichtenden Kritik an der Finanzpolitik der Bundesregierung am Ende nur einen Schuldigen benennen wollen, nämlich die Gewerkschaften, die mit zu hohen Tarifforderungen Stabilität und Wachstumskräfte gefährdeten. Es ist immer dieselbe Litanei. ({3}) Mit ihr versucht die Bundesregierung von eigenen Fehlern, z. B. in der Finanzpolitik, abzulenken. Dazu kommt dann noch - zur Aufbesserung schwacher Argumente - der Hinweis auf die hohen Kosten der deutschen Einigung, die man so nicht habe voraussehen können. Das mag ja sein. Aber wie man diese mangelnde Voraussicht bewerten muß, ist eine andere Frage. ({4}) Es mag auch durchaus sein - ich vermute das sogar -, daß die hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften die Bundesregierung stören. Ich finde allerdings, der Bundeskanzler sollte den Mut haben, klar und deutlich zu sagen, daß die Bundesregierung selbst einen erheblichen Beitrag geleistet hat, die Forderungen nach oben zu treiben. ({5}) Denn sie ist verantwortlich für die derzeit aus deutscher Sicht hohe Preissteigerungsrate, die überdies durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer weiter nach oben getrieben würde. Es ist doch kein Zufall, Herr Kollege Schäuble, daß die erste zweistellige Tarifforderung angemeldet wurde, nachdem innerhalb der Bundesregierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht nur um 1 sondern um 2 Punkte geredet wurde. Noch immer halten Sie ja, wie wir heute gehört haben, an der Absicht fest, die Mehrwertsteuer auf 15 % anzuheben, obwohl die Bundesbank, die Wirtschaft und alle Sachverständigen vor den Folgen dieser Steuerpolitik warnen. Selbst die „FAZ" stellt fest, zugegeben nicht im Politikteil, sondern im Wirtschaftsteil, wo man es ja bisweilen anders liest - ich zitiere -: „Wer den Lohnkonflikt in den Blick nimmt, der wird die These der SPD nicht beiseite schieben können, die höhere Mehrwertsteuer sei Gift für die Konjunktur." - Das Argument ist richtig, Herr Kollege Schäuble, und zwar nicht nur, weil die Gewerkschaften reagieren müssen, sondern auch weil die Bundesbank aus Gründen der Geldwertstabilität reagieren und die Zinsen hochhalten muß, obwohl alle unsere Partner auf ein Zinssignal nach unten warten. Der Herr Bundeskanzler sei, so haben wir gehört, über die jüngste Leitzinserhöhung der Bundesbank nicht glücklich gewesen. Nun, er hätte sich - statt zu lamentieren - zu seines Glückes eigenem Schmied machen sollen. Er hätte ja die Mehrwertsteuerpläne zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgeben können. Zumal Sie früheren Unwahrheiten derzeit eine weitere hinzufügen müssen, ({6}) nämlich indem der Herr Bundeskanzler und Sie, Herr Kollege Schäuble, behaupten, die EG-Harmonisierung der Steuern komme „zwingend" - „zwingend" haben Sie gesagt! - zum 1. Januar 1993. Die Wahrheit ist, daß wir für diese Harmonisierung bis 1997 Zeit haben. Es liegt derzeit allein an der Bundesregierung, ob sie einer rechtlich verpflichtenden Richtlinie - die Entscheidung ist im April dieses Jahres; das haben Sie selber gesagt - schon zum 1. Januar 1993 zustimmen will oder nicht. Sie verstößt keineswegs gegen EG- Vereinbarungen, wenn sie jetzt mit Blick auf die konjunkturelle Lage bei dem alten Satz von 14 bleibt. ({7}) Das ist die Wahrheit, nicht aber das, was Sie hier heute wieder erklärt haben. ({8}) Was Ihre Kritik an unserer Haltung zu dem Verhandlungsergebnis von Maastricht angeht: Ich denke, wenn Sie unsere Reden und Erklärungen dazu lesen, müssen Sie - Fairneß unterstellt - zugeben, daß wir uns in hohem Maße verantwortlich verhalten haben, ({9}) denn wir wollen nicht weniger Europa, sondern wir wollen mehr, und zwar mehr Demokratie in Europa. ({10}) Das will auch der Bundeskanzler; jedenfalls lauten die Erklärungen so. Deshalb werden wir intern sogar ermutigt, Druck zu machen, damit man in diesem Sinne noch ein bißchen mehr herausholen kann. ({11}) Ich empfinde es als eine unanständige Aufgabenverteilung, wenn uns intern gesagt wird: Macht mal Druck, damit wir eine bessere Verhandlungsposition haben, und dann stellen Sie sich hier hin und greifen uns moralisch hochtönend wegen unserer Position zu Maastricht an. Das ist nicht in Ordnung, Herr Schäuble! ({12}) Da ich gerade einmal dabei bin: Herr Kollege Schäuble, die Funktionsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems ist nicht, wie Sie in einem Gespräch mit der „FAZ" behauptet haben, durch die Schwäche der SPD bedroht, sondern durch die Tatsache, daß diese Bundesregierung mehr und mehr dazu übergeht, ihre Politik absolut zu setzen. Sie selbst sind ja ein Meister solcherart Darstellung. Für Sie ist - das haben wir inzwischen gelernt, und das haben Sie hier heute auch wieder vorgeführt - alles Polemik, was Ihrer politischen Meinung widerspricht. ({13}) Sie verfahren nach der Devise: Die Regierung hat die Wahrheit gepachtet, und die Opposition betreibt Parteipolitik. Um es Ihnen noch einmal klar zu sagen, Herr Kollege Schäuble: Die Opposition im parlamentarischen System ist nicht dazu da, die als absolut gesetzte Wahrheit der Bundesregierung zu unterstützen. ({14}) Es gibt in der Politik unterschiedliche Wahrheiten, jedenfalls wenn es sich um demokratische Politik handelt. Wer das nicht begreift, der hat den demokratischen Grundkonsens nicht begriffen. ({15}) Im übrigen, wenn es, um bei der Steuerpolitik zu bleiben, einen Refinanzierungsbedarf des Bundes gibt, um den Fonds Deutsche Einheit zu stabilisieren, dann hätten Sie doch auch über eine Ergänzungsabgabe nachdenken können. Dieses Instrument ist eingeführt. Es ermöglicht zudem ein größeres Maß an sozialer Gerechtigkeit, was mit Blick auf die laufenden Tarifverhandlungen auch ökonomisch anzupeilen wäre. Aber nein, Ihre Wahrheit ist: Es geht nur mit der Mehrwertsteuererhöhung. Etwas anderes wollen Sie nicht, aber nicht, wie Sie uns hier immer öffentlich weismachen wollen, aus sachlichen Gründen, sondern weil Sie sich nicht einmal mehr dem Vorwurf aussetzen wollen, in Sachen Steuerpolitik die Unwahrheit gesagt zu haben. Das ist der eigentliche Grund. ({16}) Das muß hier einmal gesagt werden, weil man sich nicht immer so dick moralisch aufplustern sollte, wenn ganz andere Argumente für die Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Ich will auf den Herrn Bundeskanzler zurückkommen. Er wolle den Investitionsstandort Deutschland sichern, hat er gesagt. Er wolle die Frage der Sicherung Deutschlands als führendes wettbewerbsfähiges Industrieland auch zum Wahlkampfthema machen. Nach dem Hinweis auf die schwache amerikanische Konjunktur und die Schwierigkeiten der europäischen Automobilhersteller kommt es wieder: Daraus müßten Konsequenzen in der Tarifpolitik und in der Steuerpolitik gezogen werden. ({17}) Ich würde den Herrn Bundeskanzler, wenn er noch da wäre, gerne fragen ({18}) - es kann schon einmal sein, daß man dringende Termine hat; das akzeptiere ich -, ({19}) welche Konsequenzen er denn in der Tarifpolitik ziehen will. Verhandlungspartner ist der Bund jedenfalls nur im öffentlichen Dienst, und auch dort nicht einmal alleiniger Verhandlungspartner. Ansonsten aber bleibt der Bundesregierung nur der Appell. Es wird ja unentwegt appelliert. Glaubt der Bundeskanzler aber ernsthaft, daß seine Überzeugungskraft gestärkt wird, wenn der Bundeswirtschaftsminister öffentlich empfiehlt, die Beamtengehälter vor Abschluß der Tarifrunde per Gesetz zu regeln? Glauben Sie, es befördert das von dem Herrn Bundeskanzler angemahnte sorgfältige Abwägen von Argumenten, wenn der Bundeswirtschaftsminister Zahlen vorgibt und erklärt, die Einkommenssteigerungen müßten unter 4,5 % gehalten werden? Jeder, der auch nur etwas von Tarifverhandlungen versteht, weiß, daß solche Empfehlungen das genaue Gegenteil bewirken. Wenn es also teuer wird, aus Ihrer Sicht zu teuer, Herr Bundeskanzler, dann bedanken Sie sich dafür, bei Ihrem Wirtschaftsminister. Er ist schuld. ({20}) Den Investitionsstandort Deutschland sichern: einverstanden. Wir wüßten nur zu gern, woraus der Herr Bundeskanzler schlußfolgert, daß der Investitionsstandort Deutschland gefährdet ist. Beunruhigen ihn die Unkenrufe der deutschen Automobilhersteller, die sich nach krachend guten Jahren jetzt einer gewissene Marktsättigung gegenübersehen? Daß diese Marktsättigung eintreten würde, wußte jeder. Das hat mit dem Standort Deutschlands überhaupt nichts zu tun. ({21}) Oder sind es die geringen Auslandsinvestitionen in Deutschland im Vergleich zu den deutschen Investitionen im Ausland, die der Bundesregierung Sorgen bereiten? Da rate ich in Übereinstimmung mit meiner Kollegin Ingrid Matthäus-Maier zu einer etwas genaueren Analyse. Die japanische Wirtschaft investiert - ich unterstelle, manche von Ihnen wissen das - noch weit mehr im Ausland als die deutsche. Die Auslandsinvestitionen in Japan sind noch weit geringer als die in Deutschland. Käme irgend jemand auf den Gedanken, daraus ernsthaft eine Standortschwäche Japans ableiten zu wollen? ({22}) Die hohen Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland sind kein Zeichen einer Standortflucht, sondern - wie Frau Matthäus-Maier richtig festgestellt hat - Antwort auf die Globalisierung der Weltmärkte. Sie sind eine Vorbereitung auf den europäischen Binnenmarkt. Das ist gut so. Oder beklagen Sie sich ernsthaft über deutsche Investitionen in Spanien oder in Portugal oder in Irland? Das wäre politisch wenig verständlich, weil wir alle den europäischen Binnenmarkt und möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse in Europa anstreben. Im „Handelsblatt" las man es am 21. Januar wie folgt: Würde die deutsche Industrie nicht auch in Portugal oder in Irland investieren, dann müßte der deutsche Steuerzahler die Mittel für diese zur Konvergenz notwendigen Investitionen über Kohäsions-, Struktur- oder Regionalfonds aufbringen. Da sind die freien Direktinvestitionen der Unternehmen sehr viel vernünftiger. ({23}) Völlig richtig. Das ist sehr viel vernünftiger. Dem kann ich zustimmen. Ebenso kann ich auch der Empfehlung von Herrn Leibinger zustimmen, dem Präsidenten der Maschinenbauer, daß die deutschen Unternehmen eine höhere Repräsentanz in Südostasien brauchten. ({24}) Und schließlich sind die relativ niedrigen ausländischen Investitionen bei uns nicht ein Zeichen von Standortschwäche, sondern eher ein Zeichen für die hohe Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Um noch einmal das Handelsblatt zu zitieren: ... welcher Fuchs sollte sich ausgerechnet in die Höhle des Löwen begeben, um Beute zu erjagen? Welcher ausländische Automobilproduzent sollte in Stuttgart, welches fremde Stahlunternehmen an der Ruhr investieren? Die Bundesrepublik Deutschland hat, wenn man einmal von Ostdeutschland absieht, die höchste Kapitalsättigung in Europa. Es wäre ungewöhnlich, wenn sich die Konkurrenz ausgerechnet vor der Tür eines leistungsfähigen Wettbewerbers ansiedeln würde. Die Kapitalrendite ist in weniger entwikkelten Ländern höher als in den Volkswirtschaften, die reichlich mit Kapital ausgestattet sind. Das ist eine volkswirtschaftliche Gesetzmäßigkeit . . . ({25}) Richtig. Nein - das muß man dem Herrn Bundeskanzler sagen -, von einer Schwäche des Investitionsstandortes Deutschland kann derzeit keine Rede sein. Die Auslandsinvestitionen der deutschen Industrie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke. Überhaupt finde ich: Es macht keinen Sinn, über den Wirtschaftsstandort Deutschland dauernd negativ zu reden. ({26}) Es mag ja, Herr Bundeswirtschaftsminister, hier und da Probleme geben. Über Anstrengungen zur Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, z. B. in den Hochtechnologiesektoren, können wir gern miteinander reden und streiten. Da tun Sie nämlich zuwenig; darauf komme ich zurück. Vielleicht sind auch die Nominalsätze unserer Unternehmensbesteuerung - die übrigens nichts über die reale Steuerlast aussagen - ein Problem für Sie. ({27}) Nun gut, sage ich, über eine Reform der Unternehmensbesteuerung können Sie mit uns reden. Allerdings sollten Sie ehrlich sein: Sie kann derzeit und auf absehbare Zeit nur aufkommensneutral realisiert werden. ({28}) Das wissen Sie so gut wie ich; denn woher sollte das Geld für Steuersenkungen kommen? Glauben Sie ja nicht, wir würden die Finanzierung ermöglichen, indem wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr belasten. Das ist mit uns jedenfalls nicht zu machen! ({29}) Über eine aufkommensneutrale Reform der Unternehmensbesteuerung, Herr Bundeswirtschaftsminister, wie z. B. in den USA, können wir gern miteinander reden. ({30}) - Das gefällt Ihnen natürlich nicht so gut, weil die Unternehmen nach dieser wunderbaren Steuerreform am Ende mehr Steuern bezahlen mußten als vorher. ({31}) - Das haben die nicht vom DGB abgeschrieben, sondern die Unternehmen haben, wie die Unternehmensverbände inzwischen selber zugegeben haben, nicht richtig aufgepaßt. ({32}) Aber das kann auch denen einmal passieren. ({33}) Also, aufkommensneutral - darüber können wir reden. Aber noch lieber, meine Damen und Herren, würden wir darüber reden, was denn getan werden kann, um die unbestreitbaren Vorteile des Standortes Deutschland ins Blickfeld zu rücken und auszubauen. Dabei ist diese simple Erkenntnis grundlegend: Deutschland ist nicht reich an natürlichen Ressourcen, die gibt es bei uns kaum; ein bißchen Kohle, nicht einmal genug Sonne. Der Reichtum Deutschlands beruht auf der Leistungsfähigkeit von Köpfen und Händen. Diesen Reichtum müssen wir pflegen. ({34}) Dazu genügt es nicht, auf das bewährte System der Berufsausbildung zu verweisen. Dieses System ist gut, es bedarf aber der Ergänzung. Dazu empfehlen wir seit längerer Zeit eine bildungspolitische Offensive, die der Erwachsenenbildung - der Qualifizierung, der Fort- und Weiterbildung auf allen Bildungsstufen - einen ebenso hohen Rang einräumt wie der Schule, der Hochschule und der Berufsbildung im dualen System. Wäre es nicht an der Zeit, unter Einbeziehung der vorhandenen Träger und Instrumente ein Erwachsenen-Bildungssystem zu entwikkeln und aufzubauen, das in starkem Maß praxis- und berufsorientiert arbeitet, die betrieblichen Bedarfe und Möglichkeiten berücksichtigt, zugleich aber Bildungsmöglichkeiten eröffnet und einbezieht, die im eigenen Betrieb nicht angeboten werden können? So etwas ließe sich durchaus organisieren - etwa nach Art eines Baukastens. Eine solche Initiative käme allen zugute: den Betrieben, der Volkswirtschaft und der Gesellschaft insgesamt. Hier lägen die wirklich zukunftsträchtigen Ansätze für eine strategisch orientierte Standortpolitik. Dazu hätten wir von der Bundesregierung und vom Wirtschaftsminister gern ein richtungsweisendes Wort gehört. Wer immer nur über Löhne und Lohnnebenkosten redet, Herr Minister, der springt zu kurz. ({35}) Ich nenne das Stichwort Forschungspolitik; dazu ein Zitat aus der BDI-Analyse „Industriepolitik im Hochtechnologiebereich": Bei Halbleitern steigerten japanische Unternehmen den Weltproduktionsanteil von knapp 40 Prozent aus dem Jahr 1980 auf 50 Prozent im Jahr 1990; bei modernen Speicherchips halten sie sogar 90 Prozent, bei Mikroprozessoren haben amerikanische Unternehmen 80 Prozent Weltmarktanteil. Die Position der europäischen Unternehmen ist durch zunehmend defizitäre Handelsbilanzen mit Japan und durch rote Zahlen aller europäischen Chip- und Computerhersteller gekennzeichnet. Der Weltmarktführer im Werkzeugmaschinenbau, die japanische Firma Fanuk, hat einen höheren Gewinn als der größte nichtjapanische Konkurrent Umsatz. Besonders bedenklich ist, daß auch die Systemstärke der deutschen Industrie, die Verwendung von Hardware und Software, verlorenzugehen scheint. Fraglich ist, ob Europa im Bereich der Informationstechnik für japanische Unternehmen überhaupt noch ein kompetenter Partner ist und sich Kooperationen lohnen. Der BDI folgert als Konsequenz aus dieser Analyse eine Industriepolitik des Aufholens in einer Allianz von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, auch unter Beteiligung der Gewerkschaften. Er vermißt aber politische Schubkraft und stellt fest, der Austausch zwischen Politik und Wirtschaft sei mangelhaft. Die Rede ist von „strategischer Denkfaulheit". ({36}) Da kann ich nur sagen: völlig richtig. Hier fehlt Orientierung, vor allem auch durch die Politik. Die konzentriert sich auf die deutschen Probleme und den europäischen Binnenmarkt. Auch das ist wichtig. Wir müssen aber sehen, daß dabei leicht der globale Horizont und der Blick für die qualitative Dimension einer modernen Industriepolitik verlorengehen. Dazu hätte sich der Bundeskanzler in seiner Pressekonferenz äußern müssen, ebenso der Bundeswirtschaftsminister heute hier. Denn die europäischen Volkswirtschaften - auch die leistungsstarke deutsche Volkswirtschaft - können nicht einfach abwarten und später auf neue Marktentwicklungen reagieren. Wenn es den fernöstlichen Konkurrenten mit ihren aggressiven Markteroberungsstrategien gelingt, beispielsweise in der Mikroelektronik die Schlüsselprodukte zu fertigen, auf die die restliche Welt auf Gedeih und Verderb angewiesen ist, dann ist es mit unserer Wirtschaftsstärke schnell vorbei. Wir müssen jetzt handeln, um beim zukünftigen Wettbewerb dabei zu sein. Provinzielle Standortdebatten, die in Wahrheit nur Schuldzuweisungsdebatten sind, führen uns überhaupt nicht weiter. ({37}) Was wäre zu tun? Ich nenne vier Punkte. Erstens. Forschung und Entwicklung müssen wieder einen höheren Stellenwert bekommen, übrigens auch im Bundeshaushalt. Zweitens. An unseren Hochschulen, die heute quantitativ und folglich auch qualitativ total überfordert sind, müssen verstärkt Naturwissenschaften und Ingenieurtechniken angeboten werden. Wenn das Angebot da ist, wird auch das Interesse junger Menschen, diese Fächer zu studieren, zunehmen. ({38}) Drittens. Wir brauchen ein besseres Klima für technische naturwissenschaftliche Innovationen. Statt allgemeiner Technikfeindlichkeit müssen die Chancen und Risiken neuer Techniken für eine humanere, umweltgerechtere und ressourcenschonende ProdukHans-Ulrich Klose tion kritisch, aber unvoreingenommen gegeneinander abgewogen werden. ({39}) - Seien Sie vorsichtig, der Finanzminister hat die Grünen eben gelobt; setzen Sie sich nicht in Widerspruch zu ihm. Viertens. Wir brauchen eine verstärkte technologische Kooperation zwischen Unternehmen, Forschungsinstituten und staatlicher Forschungspolitik. Diese neuen Kooperationsformen müssen sich stärker als bisher an der Marktumsetzung orientieren. ({40}) - Ja, mein Lieber, wer regiert denn eigentlich in diesem Lande? Sie sind in der Lage, handeln zu können. Handeln Sie doch endlich einmal! ({41}) Handeln Sie doch; Sie haben ja die Mehrheiten. Warten Sie doch nicht immer auf die Opposition. ({42}) Vor der Presse hat der Bundeskanzler mitgeteilt, er werde an der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Juni dieses Jahres in Rio teilnehmen; Deutschland wolle mit dem Engagement für die Tropenwälder in Brasilien und für den Klimaschutz ein Beispiel geben. - Gut. Aber wie wäre es denn, wenn die Regierung endlich damit anfangen würde, und zwar hier bei uns, im eigenen Land? Im vergangenen Jahr wurde uns versprochen, „der ökologischen Orientierung der Marktwirtschaft größere Geltung zu verschaffen". Geschehen ist in der Zwischenzeit aber so gut wie gar nichts. ({43}) Auf ein strategisch angelegtes, marktwirtschaftlich orientiertes Konzept zur Erhöhung der Energieproduktivität und zur Reduzierung des Energieverbrauchs bei uns warten wir bis heute vergebens. ({44}) Statt dessen erfreut uns der Umweltminister beinahe täglich mit neuen Sprüchen, die in der Sache gar nichts bewirken und höchstens dazu beitragen, die Planungsunsicherheit bei den Unternehmen zu steigern. ({45}) Diese Unternehmen sind nämlich - obwohl sie gerne klagen, wie ich einräume - nicht gegen verstärkte Anstrengungen im Bereich des Umweltschutzes. Sie fordern aber - und zwar zu Recht - klare und verläßlich Vorgaben; und daran mangelt es. Das ist in der Tat ein negativer Standortfaktor, denn damit werden zugleich die Genehmigungsverfahren, z. B. nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz, zu einem zumindest zeitlich kaum noch kalkulierbaren Vabanquespiel. Wenn heute z. B. ein Zuliefererbetrieb der Automobilbranche gefragt wird, ob er ein bestimmtes Teil produzieren könne, dann wird er in der Regel sagen: Ja. Aber er wird Schwierigkeiten haben, sich über den Zeitpunkt der Lieferung präzise zu äußern, weil er nicht weiß, wann die Genehmigungsverfahren für neue Maschinen abgeschlossen sein werden. ({46}) Das ist, wie ich weiß, auch ein Verwaltungsproblem. Aber in erster Linie ist es ein politisches Problem, das durch konzeptionelle Verstetigung gelöst werden könnte. Wann endlich begreift das der Herr Minister Töpfer? ({47}) Wenn ihm selbst dazu nichts einfällt, möge er doch auf die Vorschläge unserer Arbeitsgruppe „Fortschritt 90" zurückgreifen. Wenn es um die Sache geht - und um die muß es uns gehen -, darf die Bundesregierung bei uns abkupfern. ({48}) Das tun Sie, Herr Kollege Schäuble, der Sie gerade so milde lächeln, im übrigen in anderen Fällen auch, z. B. bei der Aufbauarbeit in den ostdeutschen Ländern. ({49}) Wie oft haben wir Ihnen erklärt, daß die Eigentumsfrage nach dem Grundsatz „Entschädigung vor Rückgabe" gelöst werden muß! ({50}) Wenn unsere Information zutrifft, wird dieser Grundsatz von Ihren Parteifreunden in den neuen Ländern auch voll akzeptiert. So hat z. B. der Ministerpräsident Sachsens, Dr. Kurt Biedenkopf, am 29. Oktober 1991 erklärt: Es erweist sich heute eben doch als falsch, sich von dem Grundsatz Rückgabe statt Entschädigung oder Rückgabe vor Entschädigung leiten zu lassen. ({51}) Sie wissen, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß die gegenwärtige Rechtslage das Investitionshindernis par excellence ist. Sie haben heute ja auch gesagt, Sie seien bezüglich dieses Themas ein Lernender. Das sind wir alle, und das hören wir gern. Aber hoffentlich lernen Sie wirklich etwas; ich bin nicht ganz ohne Hoffnung, denn selbst im Jahreswirtschaftsbericht wird eingeräumt, daß der Aufbau im Osten durch die Eigentumsproblematik behindert wird; von den sozialen Problemen ganz abgesehen. ({52}) Besonders beeindruckt, meine Damen und Herren, hat mich in diesem Zusammenhang - das möchte ich gern erzählen - ein Beispiel in Dresden; es steht gewiß für viele. Dort sind derzeit in der sogenannten Neustadt - die eigentlich die Altstadt von Dresden ist - 30 000 Wohnungen unbewohnbar. Von diesen 30 000 Wohnungen sind 95 % restitutionsbefangen. Es wird nicht investiert und instandgesetzt, obwohl Geld bei der Stadt vorhanden ist und die Liste der Wohnungssuchenden 27 000 Namen enthält. Das darf doch nicht wahr sein! ({53}) Hier muß doch endlich gehandelt werden, zumal selbst bei den Objekten, bei denen die Eigentumsfrage klar ist, Probleme bestehen, weil die erforderlichen Grundbucheintragungen aus Mangel an qualifizierten Mitarbeitern nur schleppend vorankommen. Der Verband der Rechtspfleger hat geschätzt, daß sich der dadurch bewirkte Investitionsstau auf ca. 20 Milliarden DM beläuft. ({54}) Ich muß wiederholen, was ich schon in der Haushaltsdebatte gesagt habe: Wir Sozialdemokraten kritisieren nicht die Höhe der notwendigen Transferleistungen in die ostdeutschen Länder. Wir kritisieren, daß zu wenig konkret und zur Sache geleistet wird, um den Aufschwung zügig voranzutreiben. ({55}) Sie lassen, im Gegenteil, den Abschwung treiben. Sie beklagen wie wir - verbal - die hohen Arbeitslosenzahlen, die, was nicht verschwiegen werden soll, auch in den alten Bundesländern wieder angestiegen sind. Aber Sie tun zu wenig, effektiv zu wenig, um die Lage ökonomisch zu stabilisieren. ({56}) Der Bundeskanzler hat erklärt - und auch der Bundeswirtschaftsminister mehrfach -, das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost sei - wörtlich - ein großer Erfolg. Ich wünschte, die Bundesregierung hätte recht mit dieser Feststellung. Einstweilen zeigen die Fakten aber ein ganz anderes Bild. Bei einer Arbeitslosenquote von real - real! - über 20 % von einem großen Erfolg zu reden, halte ich ohnehin für abwegig, um es vorsichtig zu formulieren. Ich füge hinzu, ein Stichwort aufgreifend, das mir eben zugerufen wurde: ({57}) So sehr ich mit Ihnen der Auffassung bin, daß die ABM-Programme keine Dauereinrichtung werden dürfen, so sehr sehe ich doch auch, daß es trotz der Ankündigung des Herrn Bundeskanzlers Einheitsverlierer geben wird. Vor allem ältere Arbeitnehmer ab 50, die ihren Arbeitsplatz verlieren, stehen vor der realen Gefahr, zur Dauerarbeitslosigkeit verurteilt zu sein. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen! ({58}) Hier hat der sogenannte zweite Arbeitsmarkt seine reale und bleibende Funktion. Wir fordern Sie daher nachdrücklich auf, Kürzungen bei AB-Maßnahmen, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, rückgängig zu machen. ({59}) Noch eine abschließende Bemerkung, und zwar zur Politik der Treuhand: Es ist Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von der Koalition; denn die Treuhand arbeitet nach Gesetzen, die die Mehrheit dieses Hauses beschlossen hat, und unter der Fach- und Rechtsaufsicht des Bundesfinanzministers. Wir kritisieren daher nicht die Treuhand, sondern Sie, weil Sie die Treuhand vornehmlich als Privatisierungsanstalt sehen und die Sanierungsaufgabe lange verdrängt und auch heute noch nicht wirklich akzeptiert haben. ({60}) Wenn wir aber, meine Damen und Herren, den weit fortgeschrittenen Zustand der Entindustrialisierung in den ostdeutschen Ländern aufhalten wollen, müssen Mittel und Wege gefunden werden, um den derzeit notleidenden Unternehmen, die vielleicht doch auf Dauer eine Chance am Markt haben, über die Klippen zu helfen, wobei sich der Bund durch Eigenkapitalausstattung, eventuell auch mit befristeten Lohnsubventionen, beteiligen muß, desgleichen die Länder, ({61}) unter der Voraussetzung, daß branchenkundige Unternehmen, sanierungserfahrene Manager und risikobereite Banken mit unternehmerischem Risiko beteiligt werden. Die Bereitschaft der Unternehmen und Banken sollte durch verstärkte Fördermaßnahmen und politische Einflußnahme gesteigert werden. Da geschieht derzeit viel zuwenig. ({62}) Wir haben Anlaß, uns Sorge zu machen. Das Klima der deutschen Einheit ist ohnehin durch eingetretene Enttäuschungen nach vollmundigen Versprechungen im Osten und im Westen berührt. Statt Solidarität erleben wir einen Prozeß der schleichenden Entsolidarisierung, ({63}) der übrigens - wenn ich dies hinzufügen darf - durch die medienwirksame Verbreitung von StasiGift noch befördert wird. ({64}) Diese Bundesregierung hat bereits den einen wirtschaftspolitischen Fehler gemacht, vor dem wir immer gewarnt hatten, nämlich die ostdeutsche Industrie von heute auf morgen der Weltmarktkonkurrenz auszusetzen, in der diese Industrie nicht bestehen konnte. Das wußten wir alle. „Kreative Zerstörung" hat man das genannt. Die Zerstörung kann in der Tat jeder beobachten. Aber die Menschen fragen sich, wo denn das Kreative herkommen soll. Die Bundesregierung ist nun dabei, den zweiten gravierenden wirtschaftspolitischen Fehler zu begehen, nämlich sich einer aktiven Struktur- und Industriepolitik zu versagen, so als hätte es die Erfahrung mit der Bekämpfung von Strukturkrisen hier bei uns, beim Schiffbau, bei Kohle, bei Stahl, nie gegeben. Der dritte Fehler, vielleicht der mit den schlimmsten Wirkungen für die deutsche Einheit, zeichnet sich deutlich ab: Um vom eigenen Politikversagen abzulenken, schiebt diese Bundesregierung den westlichen Bundesländern die Schuld zu: sie seien selbstbezogen und geizig. ({65}) Die Schwachen, die Strukturschwachen und die wirklich Schwachen, werden gegeneinander getrieben. Nicht Teilung überwinden durch Teilen ist das Motto dieser Regierung, sondern „Teile und herrsche! ". ({66}) Es ist hier viel von Gemeinsamkeit die Rede gewesen. Auch der Kollege Waigel hat Gemeinsamkeit eingefordert, und ihm höre ich nicht immer mit Freude, aber jedenfalls lieber zu als manchem anderen Kollegen von der Koalition. ({67}) Ich gebe zu, ich höre die Rede von Gemeinsamkeit gern, aber ich sage ihm, und er wird es verstehen: Es ist mit der Gemeinsamkeit wie mit der Liebe, Herr Bundesfinanzminister: muß man nicht sagen, muß man tun, und es gehören immer zwei dazu! Vielen Dank. ({68})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir begehen heute ein kleines Jubiläum. Wir beraten das 25. Mal einen Jahreswirtschaftsbericht, den zehnten Bericht der Bundesregierung unter Helmut Kohl und den ersten Jahreswirtschaftsbericht mit einer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Deutschland. Insofern sind wir in einer sehr komfortablen Lage, Herr Klose. Wir können nämlich auf Tatsachen verweisen. Tatsache ist: Mit einem realen Wirtschaftswachstum in 1992 von rund 1,5 % für die alte Bundesrepublik kann diese Regierung auf zehn Jahre ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwung verweisen. ({0}) In den alten Bundesländern wurden in dieser Zeit über 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Preisanstieg konnte auf jahresdurchschnittlich etwa 2 % begrenzt werden. Das ist eine großartige Zehnjahresbilanz. Wenn es überhaupt sinnvoll war, daß die SPD in unserem Land jemals regiert hat, ({1}) dann eigentlich deshalb, weil die Tatsachen das entmystifizieren, was Sie uns gesagt haben. Sie tun so, als ob Sie es besser könnten. Die Praxis hat gezeigt: Als Sie regiert haben, war es schlechter. ({2}) - Gnädige Frau, versteigen Sie sich nicht in den Zwischenruf „So ein Quatsch!". Ich will es gerne an Zahlen belegen: ({3}) Zwischen 1969 und 1982, in immerhin 13 SPD-Regierungsjahren, sind nur etwa 400 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Die Inflationsrate betrug in dieser Zeit 5 %. ({4}) Das ist doch ein sehr schlimmer Unterschied zu der wohltuenden Situation, in der wir sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, richtig ist zweifellos, daß die deutsche Wirtschaft mittlerweile in ein konjunkturell etwas ruhigeres Fahrwasser eingemündet ist. Das ist stabilitätspolitisch sicher in gewisser Weise durchaus willkommen; es gibt aber doch wohl auch sehr viel Grund zur Sorge. Ich halte die Wachstumserwartungen des Jahreswirtschaftsberichtes ingesamt gesehen für realistisch. Völlig verfehlt ist es in diesem Zusammenhang, von einem „geschönten" Jahreswirtschaftsbericht zu sprechen, wie dies der Kollege Roth unlängst getan hat. Die Bundesregierung bewegt sich in ihrer Einschätzung in der Größenordnung, von der auch die Wirtschaftsforschungsinstitute und der Sachverständigenrat ausgehen. Auch die Bundesbank sieht keinen Anlaß, von rezessiven Tendenzen in der deutschen Wirtschaft zu sprechen. Gleichwohl wollen wir nicht verkennen, daß es Sorgen gibt. Besonders einzelne Branchen machen Probleme. Ich erinnere an die Investitionsgüterindustrie, an den Maschinenbau. Ich spüre sehr deutlich im Wahlkreis, daß in der Wälzlagerindustrie viele Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut werden. Die Elektrotechnik, der Fahrzeugbau, aber sicher auch die chemische Industrie haben derzeit Sorgen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es würde alles noch viel schlimmer aussehen, wenn wir die deutsche Wiedervereinigung nicht gehabt hätten, die einen großartigen Konjunkturimpuls gegeben hat. Denn das weltwirtschaftliche Umfeld ist in dieser Zeit nicht leicht für uns, und wir haben eine exportorientierte Industrie. In Japan beginnt sich die Konjunktur abzuschwächen, in Amerika ist sie immer noch nicht angesprungen, die osteuropäischen Länder fallen als Käufer so gut wie aus, und auch in den skandinavischen Ländern scheint die Konjunktursonne noch nicht. Deswegen ist es eigentlich kein Wunder, daß sich sorgende Stimmen mehren und daß man sich dabei, nachdem der Boom in vielen Bereichen aufzuhören scheint, über das Abwandern deutscher Firmen ins Ausland bzw. über die geringen Investitionen ausländischer Firmen in Deutschland Gedanken macht. Herr Klose, der Vergleich mit Japan war ein sehr schwacher Vergleich. Bei uns im Land herrschen derzeit auf Grund der deutschen Wiedervereinigung riesige Investitionsmöglichkeiten. Sie wissen das. Es stehen jede Menge qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung, es steht industrielle Erfahrung zur Verfügung, während Japan eine Insel ist, wo die Arbeitskräfte nach wie vor knapp sind und ausländische Firmen sehr schwer investieren können, während wir derzeit die ganze Welt einladen und Sonderbedingungen bieten, damit hier investiert wird. Und wenn die Ausländer nicht so investieren, wie wir es erhoffen, dann müssen wir nachdenken, ob die Ursachen nicht auch bei uns liegen. ({5}) Mir liegt es völlig fern, die Dinge zu dramatisieren. Aber auch eine Verharmlosung in der Diskussion über den Standort Deutschland ist fehl am Platze. Es geht meines Erachtens darum, die internationale Dimension dieses Problems zu begreifen. Wir stehen einer globalen Herausforderung und einem Wettbewerb der Volkswirtschaften gegenüber. Diese Herausforderung zu bestehen ist unabdingbare Voraussetzung sowohl für die Wahrung des Wohlstandes im Westen als auch für einen erfolgreichen Aufholprozeß in den neuen Bundesländern. Wenn Sie, Herr Klose, erklären, wie unlängst mit einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung", die SPD sei besser in der Lage, dies zu tun, ({6}) dann kann ich nur sagen: Die Tatsachen sprechen dagegen. Niemand wird doch glauben, daß eine Partei mehr Vertrauen in der Wirtschaft genießt, die früher die Aktion „Gelber Punkt" erfunden hat, bei der das Wort „Unternehmer" dem Wort „Ausbeuter" gleichzusetzen ist. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu dieser „Haltet den Dieb"-Mentalität, die Sie vorhin in bezug auf die Technikfeindlichkeit gezeigt haben: Von wem kommt denn die Technikfeindlichkeit? ({7}) Nicht von uns! Bei Ihnen ist ein grüner Aussteiger immer noch beliebter als ein Einsteiger, der die Ärmel hochkrempelt und sich daranmacht, etwas auf die Beine zu stellen. ({8}) Frau Matthäus-Maier hat ja unlängst gesagt, diese ganze Standortdiskussion werde nur geführt, weil mehr für die Unternehmungen herausgeholt werden solle. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist für mich Klassenkampf. ({9}) Und es ist Doppelstrategie, genauso wie die Erklärungen und wie die Haltungen zur Steuerpolitik ein ganzes Stück Doppelstrategie darstellen. ({10}) Ich habe hier das „Handelsblatt" vom Samstag, dem 8. September 1990. Da ist Herr Engholm mit nachdenklichem Gesicht fotografiert. ({11}) - Mein Neid hält sich in Grenzen. Er stützt bedenklich seinen Kopf in die Hände, ({12}) und er plädiert dabei für vorgezogene Mehrwertsteuererhöhungen. So damals, und heute ist er nicht in der Lage, seine Partei zu koordinieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen Sie Ordnung in der Steuerpolitik, dann wird es auch besser mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir wissen, daß wir mit den hohen Unternehmenssteuern herunter müssen, ({13}) und wir wissen, daß wir uns dem internationalen Wettbewerb der Steuersysteme anpassen müssen. ({14}) Es ist keineswegs unsere Absicht, die deutschen Stärken kaputtzureden. Wir verfügen über gute räumliche und soziale Infrastrukturen. Die deutsche Währung ist stabil. Die politische Lage ist dank der großen Mehrheit der Union im Bundestag stabil. ({15}) Der Ausbildungsstand der Arbeitnehmer ist nach wie vor hoch. Aber daraus den Schluß zu ziehen, Deutschland bliebe auch in Zukunft so ganz selbstverständlich ein exzellenter Wirtschaftsstandort, hieße, die Dinge völlig zu verkennen. ({16}) Die Konkurrenz schläft nicht. Wir können uns nicht auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. So sind 1991 die Lohnstückkosten um 51/2 % in die Höhe getrieben worden. Die Lohnrunde 1992 verheißt nichts Gutes. Bei den Lohnzusatzkosten sind wir mit 85 % des Direktentgelts leider Weltmeister. Im internationalen Vergleich belasten die deutsche Wirtschaft hohe Energie- und Umweltkosten. Die Steuerbelastung der Unternehmungen beträgt bei uns rund 65 % und ist damit höher als in wichtigen Konkurrenzländern. Unsere Unternehmungen müssen ungleich mehr Feier-, Urlaubs- und Krankheitstage bezahlen als ihre ausländischen Konkurrenten. ({17}) Unsere Arbeitnehmer arbeiten etwa 1 500 Stunden pro Jahr, im Vergleich zu 1 800 Stunden in Japan und 2 100 Stunden in den USA. All dies sind Tatsachen. Ich bezweifle auch, daß wir den Wohlstand der Zukunft mit weniger Facharbeitern, mit weniger handwerklich ausgebildeten und arbeitenden Menschen, leisten können. Es gibt doch zu denken, wenn es heute schon Bundesländer gibt, in denen die Zahl der Architekturstudenten gleich hoch ist wie die Zahl der Maurer. ({18}) - Oder sogar noch höher, ja. ({19}) Nicht einzelne Standortfaktoren stehen im internationalen Vergleich; es geht vielmehr um die Gesamtheit der Einflußgrößen. Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden uns in den nächsten Monaten mit dieser Frage sehr sorgfältig auseinandersetzen. Wir wollen die Stärken und Schwächen analysieren, und wir wollen die notwendigen Konsequenzen ziehen. Aber dies kann nicht allein der Gesetzgeber. Auch die Tarifpartner müssen diese Konsequenzen ziehen. Sie bestimmen zum Teil auch, wie schnell Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Es ist ja nicht so, daß die Produktionen, die aus unserem Land abwandern, ersatzlos ausfallen. Die Produkte werden weiter produziert, nur nicht mehr bei uns, sondern irgendwo in Südostasien oder sonstwo. ({20}) Das müssen wir uns selbstverständlich immer wieder vor Augen halten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich wäre es ein Signal von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die deutsche Wirtschaft, wenn die SPD über die Notwendigkeit steuerlicher Veränderungen im Unternehmensbereich nicht nur reden würde, sondern durch ihre Zustimmung morgen im Bundesrat handeln würde. Dies wäre ein erster richtiger Schritt. Durch Umschichtungen ist die Finanzierung ja ebenfalls aufkommensneutral. Bei der Standortdiskussion geht es auch darum, den Blick für die Einsicht zu schärfen, daß selbst ein reiches Land wie die Bundesrepublik nicht gleichzeitig alles finanzieren kann: den Aufholprozeß in den neuen Bundesländern, die massivsten Hilfen für Osteuropa, das effektivste soziale Netz, den perfektesten Umweltschutz, den höchsten Lebensstandard und die üppigsten Löhne der Welt. Die Politik wird gezwungen sein, in Zukunft Prioritäten zu setzen. Auch Arbeitgeber und die Gewerkschaften müssen dazu ihren Beitrag leisten. Hören Sie sich doch einmal um, was die Arbeiter sagen. ({21}) Hören Sie sich einmal in der Henkelmannetage um - nicht in der Hummeretage, wo die freigestellten Funktionäre sitzen -, was man dort sagt und welche Gedanken man sich dort über die Zukunft der Arbeitsplätze macht. Da werden Sie auf sehr wenig Zustimmung für die Haltung des Immer-mehr-Forderns stoßen. Ich möchte mit einem Zitat von Ludwig Erhard schließen, der gesagt hat: Es ist ungleich sinnvoller, alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrages der Volkswirtschaft zu richten, als sich in Kämpfen um die Verteilung des Ertrages zu zermürben und sich dadurch von dem allein fruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktes abdrängen zu lassen. Es ist viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen, weil auf solche Weise jeder Vorteil mit einem Nachteil bezahlt werden muß. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({22})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Deutsche Wirtschaftspolitik ist wahrlich nicht einfacher geworden, und zwar weder nach innen noch nach außen. National tun wir uns in den fünf neuen Bundesländern schwerer als erwartet und stoßen wir in den alten Bundesländern an Verteilungsgrenzen. International nimmt die Kritik an hohen Zinsen, hohen Krediten und hohen Tarifabschlüssen zu. In solcher Lage brauchen wir wirtschaftspolitische Orientierung. Der Jahreswirtschaftsbericht gibt diese Orientierung. Er verschweigt keine Probleme, er analysiert zutreffend, und er gibt auch sinnvolle Hinweise für die Lösung der Probleme. Die Umstellung einer Volkswirtschaft von Plan- auf Marktwirtschaft ist ein in der Wirtschaftsgeschichte bisher einmaliger Vorgang. Man kann dies wirklich nicht oft genug sagen. ({0}) Ich habe vor Monaten von dieser Stelle aus gefordert, daß wir die Kraft bewahren müssen, die dabei unvermeidlichen Fehler zu korrigieren und nicht aus unnützem politischen Prestigedenken an Fehlern festzuhalten. ({1}) Der Mut zur Korrektur ist gefragt; und dieser Jahreswirtschaftsbericht ist mutig. Frau Matthäus-Maier, Sie hätten alles vermieden. Sie wissen es hinterher immer besser. ({2}) - Ich komme gleich dazu. ({3}) - Ach, das hätte ich einem Mann genauso gesagt. Das wissen Sie. - Also verehrte Frau Kollegin Fuchs, auch Ihre Zwischenrufe über viele Jahre hinweg können mich nicht davon abhalten, für einen höheren Anteil von Kolleginnen im Bundestag einzutreten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Herr Präsident, wenn es nicht auf die Zeit angerechnet wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Natürlich nicht. Bitte sehr.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, nachdem Sie eben den Eindruck zu erwecken versuchten, wir wüßten im nachhinein alles besser, würden Sie mir bitte darin zustimmen, daß wir erstens beim ersten beziehungsweise dem zweiten Einigungsvertrag gefordert haben, bei der Eigentumsregelung dem Prinzip „Entschädigung vor Rückgabe" zu folgen, daß wir zweitens von Anfang an gefordert haben, mehr Geld in den Aufbau der Infrastruktur in den neuen Ländern zu stecken, daß wir drittens gemeint haben, die Altschuldenregelung sei so verkehrt, und daß wir viertens von Anfang an gefordert haben, daß die Treuhand nicht in erster Linie einen Privatisierungs-, sondern zugleich einen Sanierungsauftrag haben müßte - alles, bevor Sie uns teilweise gefolgt sind?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Kollegin, ich kann doch hier kein Sonderreferat halten, dann komme ich mit der Zeit bestimmt nicht aus. Zur Eigentumsfrage werde ich mich noch äußern, zu anderen Fragen auch. Ich komme darauf zurück. Der Jahreswirtschaftsbericht bemäntelt nicht, daß es langsamer geht als erwartet, daß es teurer wird als angenommen und daß wir im Westen Deutschlands die Konsequenzen immer noch nicht ausreichend ziehen, sondern uns in schädliche Verteilungskämpfe verbeißen. Der Jahreswirtschaftsbericht erinnert daran, daß nicht die Soziale Marktwirtschaft versagt hat. Wir sind konfrontiert mit dem Elend von 40 Jahren real existent gewesenem Sozialismus. ({0}) Meine Damen und Herren, die Situation hier im Hause ist gelegentlich wirklich absurd. Ich will mal andere Beispiele von der letzten Woche nicht erwähnen. Aber gleich nach mir wird die PDS in das große Lamento über die soziale Lage in den fünf neuen Bundesländern ausbrechen. Dabei wissen wir alle ganz genau: die 17 % Arbeitslosen und die flächendeckende Zerstörung der Umwelt sind das Ergebnis der SED-Mißwirtschaft, ({1}) und sie sind nicht das Ergebnis der Politik der Regierung Kohl/Genscher. Lassen Sie mich noch etwas erwähnen, das wir hier vor wenigen Tagen erlebt haben, als wir den Krokodilstränen einer Kollegin von der PDS über die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen zuhören mußten und dann im Handbuch feststellen konnten, daß sie vier Jahre nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag in die SED eingetreten war. Das ist genauso absurd. ({2}) Meine Damen und Herren, 3,5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, das ist eine bedrückende Zahl, kein Zweifel. Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosengeld, Null-Kurzarbeit, AB-Maßnahmen sind für die Betroffenen ein schwacher Trost. Und über das Thema der Arbeitnehmer über 50 Jahre habe ich in jeder Wahlkampfrede in der damaligen DDR gesprochen und am 3. Oktober im Reichstag. Es ist eines der schlimmsten Probleme, daß man keine Antwort für die Lösung der Probleme dieser Menschen finden kann. Denen helfen Sie nicht mit AB-Maßnahmen und nicht mit Arbeitslosengeld. Deren Arbeitsleben ist von der sozialistischen Planwirtschaft verschwendet worden. Sie haben nicht mehr Zeit und keine Chance, es wiedergutzumachen. Das ist einer der schlimmsten Teile dieser Erbschaft. ({3}) Auch die FDP, meine Damen und Herren, hält AB-Maßnahmen für unverzichtbar, vor allem bei regional massierter Arbeitslosigkeit. Aber sie dürfen nicht wettbewerbsverzerrend zu Lasten des neu entstehenden Mittelstandes sein. Sie dürfen durch ihre Dauer und ihre Höhe nicht so ausgestaltet sein, daß sie die Motivation der Betroffenen für den ersten Arbeitsmarkt herabsetzen. Es bleibt unverändert die Aufgabe der Wirtschaftspolitik - Herr Möllemann hat völlig recht -, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Neue müssen es sein. Die künstliche Bewahrung obsoleter Arbeitsplätze durch Staatsholdings, Bundes- oder Länderbeteiligungen, das wäre der falsche Weg. Und Lohnsubventionen, Herr Klose, die Sie hier ins Gespräch gebracht haben, sind ein gefährlicher und bedenklicher Weg. Sie werden die Tarifverhandlungen erschweren. ({4}) - Das weiß ich, und er hat auch nicht recht. Man kann doch nicht die eine Staatswirtschaft durch eine andere Staatswirtschaft ersetzen, Stichwort Staatsholding, ({5}) und das Ganze dann Marktwirtschaft nennen. Die industriepolitischen Vorstellungen, Herr Klose, die Herr Engholm in Stuttgart geäußert hat, sind abwegig. Die von Herrn Jens in der FAZ geäußerten sind diskutabel. Aber was fangen wir denn mit solcher SPD-Politik zum Aussuchen an? Sie haben heute den BDI im Zusammenhang mit Industriepolitik zitiert. Ja, dann hätten Sie auch zitieren sollen, daß der BDI sich von dieser Stellungnahme der Zusammenfassung einer Diskussion in einer Pressemitteilung zehn Tage später, am 6. November, distanziert hat. Ich stelle sie Ihnen gerne zur Verfügung. Also, nehmen Sie den BDI nicht für Positionen in Anspruch, die er so nicht vertritt. ({6}) - Ja gut, da haben Sie in der SPD ja große Erfahrungen. Dann hätten Sie auch mehr Verständnis für den BDI haben sollen. ({7}) Meine Damen und Herren, jede D-Mark, die in Investitionen geht, ist gut angelegt. Und jede D-Mark, die in den Konsum geht, ist weniger gut angelegt. ({8}) - Deswegen habe ich gesagt: weniger gut. Ich habe nicht gesagt: schlecht. Herr Roth, hören Sie zu! Aber Geld und Investitionsanreize alleine tun es nicht. Klärung der Eigentumsrechte, Genehmigungsfragen, funktionierende Verwaltung, das sind einige wenige, aber wichtige Stichworte. Ich begrüße für die FDP die Erklärung des Bundesjustizministers und unterstreiche mit der Bundesregierung, Frau Matthäus-Maier: Eine Umkehr des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" kommt nicht in Frage. ({9}) Der Schutz des Privateigentums ist und bleibt eine konstitutive Grundlage unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. ({10}) Die Umkehr des Grundsatzes - jetzt auch noch - würde nur zu neuen Turbulenzen und neuen Unsicherheiten führen, würde neue Ungerechtigkeiten im Hinblick auf inzwischen schon erfolgte Rückgaben schaffen, und sie würde die nicht finanzierbare Forderung nach Entschädigung zu Verkehrswerten nach sich ziehen. Außerdem würde sie - ich weiß, manche nehmen das leicht; ich tue das nicht - wegen der dann zwingend notwendigen unterschiedlichen Behandlung von NS-Verfolgten sehr unliebsame Diskussionen auslösen. Fragen Sie mal nach, Herr Klose, wie viele Dresdner unter diesem Stichwort unter Ihr Beispiel fallen. Dieser Zug - das sage ich auch in Richtung des sächsischen Ministerpräsidenten, den Sie zitiert haben - ist abgefahren. Dringend notwendig - hier sind wir mit Herrn Biedenkopf einig - sind aber Änderungen des Vermögensgesetzes, um die Regelung „Vorfahrt für Investitionen" wirksamer zu machen. Wir begrüßen deshalb die Absicht der Bundesregierung, diesen Gesetzentwurf alsbald vorzulegen, und wir fordern alle Fraktionen des Hauses zur intensiven Mitarbeit auf, damit die notwendigen Änderungen noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Allerdings kann ich mir keinen Vers auf den Vorschlag von Frau Däubler-Gmelin machen, einen Koordinator für Ost-Fragen einzusetzen. Die Anregung dürfte auf der Sehnsucht nach einem Koordinator für die SPD beruhen. ({11}) Bei dieser Novellierung wird noch einmal zu prüfen sein, wie wir die rechtliche Position derjenigen sichern können, die auf der Grundlage sogenannter Nutzungsrechte in der früheren DDR in Häuser und Wohnungen investiert haben und sich jetzt Ansprüchen früherer Eigentümer gegenübersehen. Nach Ansicht der FDP muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß altes Unrecht nicht durch neues Unrecht wiedergutgemacht werden kann. ({12}) Das ist leicht gesagt, nicht ganz einfach getan. Wir verschweigen die Schwierigkeiten bei der Herstellung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Einheit Deutschlands nicht. Aber wir verschweigen ebensowenig die Erfolge, die auf diesem Wege erreicht worden sind, die wir erreicht haben und die Herr Klose dann doch etwas klein geschrieben hat. Sie sind aber unübersehbar. Jeder Bewohner, jeder Besucher der neuen Länder weiß das. Je größer der Abstand ist, mit dem er hinkommt, um so augenfälliger ist es für ihn. Wir machen Fortschritte bei der Verbesserung der Infrastruktur, bei der Telekommunikation und beim Straßenbau. Es entstehen neue Unternehmen, vor allem im Bereich des Handwerks. Die Privatisierungsergebnisse der Treuhand sind beeindruckend. Ihre höchst schwierige Arbeit verdient Anerkennung. Im Bereich von Handel und Dienstleistung ist die Privatisierung praktisch abgeschlossen. Selbst in dem so schwer gestörten Arbeitsmarkt zeigt sich erste Bewegung. Die Umstellung auf das westdeutsche Rentensystem ist technisch hervorragend gelungen und inhaltlich überwiegend akzeptiert worden. Ich verkenne dabei das Stichwort der Zusatzrenten und deren Problematik nicht. Der Jahreswirtschaftsbericht rechnet - ebenso wie die Institute und der Sachverständigenrat - mit einer kräftigen Belebung des realen Wachstums in diesem Jahr zwischen 8 und 10 %; der Bundeswirtschaftsminister hat das erwähnt. Das alles ist vorzeigbar und kein Anlaß, nur zu klagen. Wir dürfen uns aber auch nicht täuschen: Es ist noch kein sich selbst tragender Aufschwung. Die positive Entwicklung beruht zu einem guten Teil auf den Transfers aus dem Westen; sie beruht auf Subventionen. Das ist unvermeidlich; ein Dauerzustand darf es aber nicht werden. Eine marktwirtschaftliche Ordnung ist mit permanenter staatlicher Fürsorge nicht in Einklang zu bringen. Darüber hinaus würde eine ungebremste Fortsetzung staatlicher Transfers von West nach Ost den Ast absägen, auf dem heute West und Ost gemeinsam sitzen, nämlich denjenigen der Leistungskraft der Wirtschaft im Westen. Die Ansprüche, die derzeit an Staat und Volkswirtschaft gestellt werden, sind in ihrer Kumulation nicht erfüllbar. ({13}) Wir reden viel von der Verantwortungsgesellschaft, in der wir angeblich leben. Ist das eigentlich wirklich so? Ich habe viel mehr den Eindruck, daß wir in einer Forderungsgesellschaft leben. Ohne daß ich werten will oder Anspruch auf Vollzähligkeit erhebe: Mehr Erziehungsgeld, mehr BAföG, mehr Pflegeversicherung, Familienlastenausgleich, Wohnungsbau, Regionalförderung, zusätzliche Agrarsubventionen, Konversionsmittel, Hilfe für Mittel- und Osteuropa usw. usw., ({14}) wir werden das alles auf einmal wohl nicht können. ({15}) Bei einer Verschärfung des Verteilungskampfes auf allen Ebenen - zwischen Ost und West, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen alten und neuen Subventionsempfängern oder zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern - kann es letztlich nur Verlierer geben. Es liegt auch kein Ausweg darin, die Haushaltsprobleme durch immer höhere Steuern und Abgaben - seien es nun Sozialabgaben, Umweltabgaben oder sonstige Abgaben - lösen zu wollen. Wir haben schon einmal die Belastungsfähigkeit unserer Wirtschaft getestet. Das Ergebnis war die wirtschaftliche Lethargie zu Beginn der achtziger Jahre. Das Beispiel sollte uns eine Lehre sein. ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie, Graf Lambsdorff, ein bißchen mehr Verantwortungsbewußtsein anmahnen - ich stimme Ihnen durchaus zu, wenn Sie sagen: die Forderungen an Staat und Gesellschaft können zu hoch sein -, warum sind Sie dann nicht bereit, mit uns zusammen die Ergänzungsabgabe, den Solidaritätsbeitrag fortzusetzen? Denn das wäre doch ein Weg, indem man sagt: Die Lasten, die kommen, werden so verteilt, daß die stärkeren Schultern mehr tragen als die schwachen. Dann würden die Besserverdienenden ein Signal geben, daß sie bereit sind, zu teilen, damit Aufgaben wahrgenommen werden können.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Kollegin, ich habe gerade darauf aufmerksam gemacht, daß wir sortieren müssen und Prioritäten setzen müssen, welche Ansprüche jetzt eigentlich erfüllbar und finanzierbar sind. Es fällt einem immer irgend etwas ein, um eine noch so gut gemeinte Forderung, einen noch so gut gemeinten Anspruch mit der Belastung anderer zu finanzieren. Das ist aber nicht der Weg, daß wir dauernd die Steuern erhöhen und immer mehr Ausgaben veranstalten. ({0}) Schon jetzt sind für die Unternehmen, für die Verbraucher und für die Leistungsträger unserer Gesellschaft die Belastungsgrenzen erreicht. Ohne Schaden für die Wettbewerbsfähigkeit und damit für Wachstum und Beschäftigung können wir diesen Weg nicht weitergehen. Ich habe mich soeben und auch mit dieser Antwort auf die Frage von Frau Fuchs gegen Steuererhöhungen ausgesprochen. Ich wundere mich nicht, daß die Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang an die umstrittene Mehrwertsteuer, an den einen Punkt, der heute morgen Gegenstand der Debatte war, erinnern. Abgesehen davon, daß uns diese Mehrwertsteuererhöhung in der Europäischen Gemeinschaft zwingend ins Haus steht, will ich hier aber unumwunden zugeben - ({1}) - Nun hören Sie doch bitte einmal bis zu Ende zu. Das können Sie nie, Frau Matthäus-Maier. Das geht nicht; ich weiß das. Wir kennen uns so lange. ({2}) - Herr Roth, sie soll es auch nicht mehr lernen. Das macht ja ihren Charme aus. Lassen wir das! Ich sage also: Die Mehrwertsteuererhöhung steht Uris zwingend ins Haus. Ich will hier aber unumwunden zugeben: Der FDP wäre es lieber gewesen, wir hätten auf die Mehrwertsteuererhöhung jetzt verzichtet - mit diesem Hinweis haben Sie recht, Herr Klose; der Zeitpunkt ist nicht zwingend - und die notwendige Ausgabendeckung durch Umschichtung im Haushalt oder Subventionsabbau erreichen können. ({3}) Aber ausgerechnet die sozialdemokratische Opposition hat nicht den geringsten Grund, die Koalition deswegen zu kritisieren. Ich habe nicht gehört, verehrter Herr Klose, daß Sie und Ihre Kollegen den Bundeswirtschaftsminister bei seinen Bemühungen unterstützt hätten, im Steinkohlenbergbau - um ein Beispiel zu nennen - durch weiteren Subventionsabbau erhebliche Beträge einzusparen. ({4}) Im Gegenteil: Sie haben ihn für angeblich ungenügende Ergebnisse beim Subventionsabbau kritisiert, gleichzeitig alle Kräfte im Lande gegen eben diesen Subventionsabbau mobilisiert und außerdem noch an allen Ecken und Enden zusätzliche Subventionen verlangt. So kann es ja wohl nicht gehen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, ein weiteres Zwischenfragebegehren der Kollegin Matthäus-Maier.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gerne.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Graf Lambsdorff, sind Sie nicht mit mir der Ansicht, daß ich einen Zwischenruf sogar machen muß, den übrigens auch Sie an dieser Stelle machen würden, wenn ich das sagte, wenn Sie behaupten, die Anhebung der Mehrwertsteuer auf 15 Punkte sei „zwingend notwendig", obwohl Sie - gerade bei Ihrer Ausbildung - wissen, daß das nicht stimmt, weil nämlich der bisherige Beschluß vom Juni 1991 ausschließlich eine politische Absichtserklärung ist und es keine rechtliche Bindung für die Bundesregierung gibt, dem zuzustimmen?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, natürlich steht uns die Mehrwertsteuererhöhung auf 15 % und Harmonisierung auf europäischer Ebene - das wollen auch wir - zwingend ins Haus. Wann das der Fall ist und wann man die Mehrwertsteuererhöhung einführen muß - das habe ich Herrn Klose vorhin gesagt -, darüber kann man diskutieren. Wir haben auch sonst nicht jede Richtlinie pünktlich am ersten Tage umgesetzt, wenn ich daran erinnern darf. ({0}) Im übrigen möchte ich sagen: Bitte, bleiben Sie bei den Zwischenrufen! Was sollte ich hier oben machen, wenn von Ihnen keine Zwischenrufe mehr kämen. Das wäre ganz langweilig. Meine Damen und Herren, die Diskussion um das Steueränderungsgesetz zeigt nun erneut - Herr Klose, ich kann es nicht anders sagen - die Verantwortungslosigkeit sozialdemokratischer Haushaltsund Steuerpolitik. ({1}) Sie wollen die Mehrwertsteuererhöhung ablehnen und schlagen allen Ernstes vor, den höheren Bundesbankgewinn zur Deckung höherer Ausgaben einzusetzen. Dabei wissen Sie ganz genau, daß wir durch Gesetz verpflichtet sind, einen höheren Bundesbankgewinn zur Verringerung der Verschuldung zu verwenden und die Kapitalmärkte zu entlasten. Das ist Ihnen völlig gleichgültig. Sie klagen über die hohen Zinsen und machen gleichzeitig Vorschläge - Kreditermächtigungen in Anspruch nehmen -, wie man den Kapitalmarkt höher belastet und damit einen weiteren Druck in Richtung Zinserhöhung ausübt. Ihr steuerliches Gehabe erinnert mich daran, verehrter Herr Klose, ({2}) daß wir in diesem Jahr 500 Jahre „Christoph Kolumbus und Amerika" feiern. Er war bekanntlich einer der ersten Sozialisten. Er fuhr los und wußte nicht, wohin. Er kam an und wußte nicht, wo er gelandet war. Er kam zurück und wußte nicht, woher. Und das alles mit fremder Leute Geld! ({3}) Meine Damen und Herren, leider ist die steuerpolitische Haltung der SPD keineswegs spaßig. Sie stellen die Parteiräson über Länderinteressen. Sie verhindern die Zuweisung von Milliardenbeträgen an die neuen Länder, und Sie wollen wirklich das Land Brandenburg zwingen, gegen seine eigenen Interessen zu stimmen. Sie weigern sich immer noch, die finanziellen Konsequenzen aus der deutschen Einheit zu ziehen. Aber der Name ihres Verhandlungsführers war und ist Symbol. Oskar Lafontaine hat die deutsche Einheit nicht verstanden - wie sollte er wohl ihre Umsetzung begreifen? Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Thierse klagt im Bundestag immer wieder über mangelnde Hilfsbereitschaft der alten Bundesländer gegenüber den fünf neuen Bundesländern. In dieser Diskussion hätte ich die Stimme von Herrn Thierse gern einmal gehört. Wo ist sie? ({4}) Meine Damen und Herren, in ganz besonderer Verantwortung steht die Tarifpolitik. Rückkehr zu einer stabilitätsorientierten Lohnpolitik muß das Gebot sein. Das heißt: Orientierung der Tarifabschlüsse an Produktivitätsentwicklung und an dem unvermeidlichen Preisanstieg. Eine solche Politik wäre die beste Garantie dafür, daß sich nach der jetzigen konjunkturellen Verschnaufpause der Wiederaufschwung anschließt. Wie aber sieht die Realität aus? Zweistellige Tarifforderungen, ein viel zu hoher Stahlabschluß! Wollen Sie behaupten, der Bundeswirtschaftsminister sei daran schuld? Das ist ein Abschluß, erzielt in einem Wirtschaftszweig, in dem es wegen der Montanmitbestimmung keine völlige Gegnerunabhängigkeit bei Tarifverhandlungen gibt. Wie auch im öffentlichen Dienst! Der Widerstand bricht immer wieder in den Bereichen zusammen, wo die Vertreter der ÖTV an beiden Seiten des Tisches sitzen. Es wird wohl auch dieses Mal wieder da beginnen. Hoffentlich bleiben sie an anderer Stelle standhaft. Flächendeckende Abschlüsse, die keine oder zu geringe Differenzierung nach Ertragskraft und Branche zulassen! Warum muß ein Straßenbahnschaffner in dieser Lohnrunde den gleichen Zuwachs erzielen wie eine Krankenschwester? ({5}) Weitgehende Übernahme der Abschlüsse nach Ostdeutschland mit der Folge, daß sich die Schere zwischen Produktivität und Einkommen weiter öffnet und Arbeitsplätze vernichtet! Schließlich die Verschärfung der Debatte um den Standort Deutschland! Wie oft habe ich an dieser Stelle gesagt - und kein Mensch hat zugehört; das passiert einem ja gelegentlich ({6}) - Sie kommen heute noch dran, Herr Bundesfinanzminister -, wie oft habe ich hier gesagt: Der Standort Deutschland ist nicht schlechter, aber andere Standorte sind besser geworden! ({7}) Die geben sich mehr Mühe, ihre Standorte auszubauen. Auch das ist Wettbewerb. Darum müssen wir uns kümmern. Wir werden nicht absolut schlechter. ({8}) Die Folgen dieser Tarifpolitik sind doch klar. Sie heißen Rationalisierung, Arbeitsplatzabbau, Investitionsverlagerung ins Ausland. Hier stimme ich Ihnen zu: Diese Rechnung, 3 Milliarden DM hier, 30 Milliarden DM dort, ist zu einfach. Ganz hat Hans Mundorf im „Handelsblatt" nicht recht. Die Wahrheit liegt dazwischen. Man muß schon die Frage stellen: Warum werden Investitionen verlagert? Daß eine Exportnation auf Dauer auch draußen investieren muß, ist vollkommen richtig. ({9}) Aber: Welche Teile der Arbeit werden nach draußen verlagert? Glauben Sie nicht, daß es bedenklich ist - sosehr ich es unseren Partnern in der Tschechoslowakei wünsche -, daß die Arbeitsplätze, die wir in den fünf neuen Bundesländern brauchen, zur Zeit durch Tarifpolitik in die Tschechoslowakei vertrieben werden? ({10}) Das hat Gründe, die standortbedingt sind. ({11}) - Das hat sehr wohl mit Tarifpolitik zu tun. ({12}) - Wie dem auch sei, es muß untersucht, überlegt und diskutiert werden, warum diese Investitionsverlagerungen erfolgen. Die Zahlen alleine genügen nicht. Wir müssen aber auch sehen, welche Arbeit im wesentlichen nach draußen verlagert wird: Es ist die Arbeit, die bei uns zu teuer geworden ist, weil es die einfache Arbeit ist, weil es die Arbeit ist, die keine hohe Wertschöpfung mit sich bringt. Es ist schon wichtig, daß wir nicht am Ende in einer Gesellschaft landen, bei der wir nur noch diejenigen aus dem Produktionsprozeß bezahlen können, die höherwertige Arbeit leisten, und bei der die anderen durch den Rost dieser Gesellschaft fallen und von irgendwelchen Unterstützungsmaßnahmen leben. ({13}) Jetzt sage ich etwas im Gegensatz zu dem, was Sie uns vorwerfen, Herr Klose, nämlich wir schimpften auf die Gewerkschaften alleine: Nein, was haben sich eigentlich beide Tarifpartner bei Stahl gedacht, als sie ein pensioniertes Vorstandsmitglied an die Spitze der Verhandlungsdelegation gesetzt haben und keinen der Bosse aus den großen Stahlunternehmen, weil die dazu nicht bereit waren? Beide Tarifpartner einigen sich auf Kosten der Arbeitslosen und des Staates. Das war schon früher schlimm, aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in den fünf neuen Bundesländern ist es schlicht verwerflich. ({14}) Der Jahreswirtschaftsbericht erwähnt zu Recht die Bedeutung internationaler Aspekte für die deutsche Wirtschaftspolitik. Herr Möllemann hat das noch einmal erwähnt. Ich will drei Punkte nennen: Erstens, der Binnenmarkt kommt. Sind wir gerüstet? Ohne die Unternehmensteuerreform sind wir es nicht! Die SPD weiß das, jedenfalls weiß und sagt es ihr Parteivorsitzender. Werden Sie endlich begreifen, daß wir uns mit unseren Spitzensteuersätzen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Geschäft bringen? Die Spitzensteuersätze sind deswegen so bedeutsam - ich richte das auch an einige in den Reihen unseres geschätzten Koalitionspartners; ich erinnere an das Theater von damals -, weil die psychologische Wirkung dieser Steuersätze so abschreckend ist. In der realen Besteuerung mit der Steuerbemessungsgrundlage gleicht sich ja sehr vieles aus; das weiß ich auch. Aber allein die Zahl hält die Leute, wenn sie sie lesen, davon ab hierherzukommen. ({15}) - Natürlich können die rechnen. - Wenn wir uns darauf verständigen könnten, daß das aufkommensneutral gemacht werden kann, wären wir schon einen Schritt weiter. ({16}) - Nicht nur immer diskutieren, wir sollten auch einmal entscheiden. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie kennen doch die Probleme! Zweitens, GATT. Die Uruguay-Runde ist die wichtigste weltweite Aufgabe der Handelspolitik. Die USA, Europa und Japan tragen die Hauptverantwortung dafür, daß wir den Entwicklungsländern und den Ländern in Mittel- und Osteuropa unsere Märkte öffnen, aber nicht nur das. Wenn ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland ein Scheitern der Uruguay-Runde hinnimmt oder durch mangelnde Initiative dazu beiträgt, dann schneiden wir uns tief ins eigene Fleisch. Selten waren Eigeninteresse und weltpolitische Verantwortung so deckungsgleich wie hier. Drittens. Wirtschafts- und Währungsunion und einheitliche europäische Währung. Langsam kommt die öffentliche Diskussion über das, was in Maastricht erreicht worden ist und was nicht, in Fahrt. Fragen werden gestellt, und ich denke, es reicht nicht ganz aus, wenn der Bundesfinanzminister darauf mit „Dr. Waigels gesammeltem Schweigen" antwortet. Da muß schon etwas mehr kommen. ({17}) Widersprüchlich verhält sich in der Tat die SPD, auch nach dem, was ich heute gehört habe, Herr Klose. In der Debatte zu Maastricht gab es hier an dieser Stelle lobende Worte. Eine wertende Kritik kam nur von der FDP. Jetzt haben SPD-Präsidium und SPD-Ministerpräsidenten in der Erklärung vom Montag mit einiger Spätzündung entdeckt, daß das Thema etwas hergeben könnte. Nun steigen sie plötzlich kritisch ein. Das Thema ist aber zu wichtig, um Herrn Gauweiler als Rammbock gegen seinen Parteivorsitzenden zu dienen und Ihnen zur Polemik gegen die Regierung. Wir halten am Ziel der Währungsunion und an der einheitlichen europäischen Währung fest. Wir haben Fragen, ob der in Maastricht gefundene Weg richtig und sicher ist. Diese Fragen werden wir artikulieren, und wir werden sie hier im Parlament zur Diskussion stellen. Meine Damen und Herren, ich will zusammenfassend sagen: Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein wichtiger und richtiger Appell in schwieriger gewordenen Zeiten. Er weist den Weg: Fortsetzung eines marktwirtschaftlichen Kurses, solide Finanzen und stabiles Geld, Unterstützung des Anpassungsprozesses in den fünf neuen Bundesländern und Wahrung der Standortqualität als Aufgabe aller gesellschaftlichen Gruppen. Auf diesem Wege und bei dieser Politik unterstützt die Freie Demokratische Partei und ihre Bundestagsfraktion Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister Möllemann, und sie unterstützt auf diesem Wege die Bundesregierung Kohl/Genscher. Ich bedanke mich. ({18})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang, Herr Dr. Graf Lambsdorff, haben Sie sich zu der Hinterlassenschaft der früheren DDR-Wirtschaft geäußert. Ich war ein bißchen an die frühere DDR erinnert, weil dort nämlich in den siebziger Jahren alle Mängel in der Wirtschaft immer noch mit den Reparationsleistungen in den vierziger und fünfziger Jahren und der Tatsache begründet wurden, daß die DDR im Jahre 1945 nur drei Hochöfen und die Bundesrepublik ungefähr 50 hatte. Ich finde, das hilft auf Dauer nicht, um von eigenen Fehlleistungen in der Wirtschaftspolitik abzulenken. Sie wissen natürlich ganz genau, daß die hohe Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländern sehr viel mit der neuen Wirtschaftspolitik seit dem Juni 1990, d. h. mit der Währungsunion, zu tun hat. ({0}) Ich glaube, daß die zweite Beratung zum Jahreswirtschaftsbericht 1991 und die erste Beratung zum Jahreswirtschaftsbericht 1992 verschiedene Merkwürdigkeiten aufweisen. Hinsichtlich der Entschließungsanträge zum Jahreswirtschaftsbericht 1991 halte ich diese Beratung für völlig überflüssig. Das Wirtschaftsjahr 1991 ist seit über einem Monat abgeschlossen. Die Debatte könnte getrost den Historikern überlassen bleiben. Für noch bedenklicher halte ich es, wenn wir in diesem Zusammenhang über den Entschließungsantrag der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion entscheiden sollen. Welchen Wert kann eine solche Entschließung für die Bürgerinnen und Bürger haben? Wenn ich dann noch im Punkt 3 dieses Entschließungsantrages zum Jahreswirtschaftsbericht 1991 lese, daß hinsichtlich der neuen Bundesländer von einem „steilen Wachstumspfad" die Rede ist, fühle ich mich an schönfärberische Wirtschaftsberichte aus vergangener Zeit in der DDR erinnert. Der eigentliche Sinn einer solchen Debatte muß doch wohl darin bestehen, Schlußfolgerungen für das Wirtschaftsjahr 1992 zu ziehen. Diese scheinen mir aber im Jahreswirtschaftsbericht für das Jahr 1992 in völlig unzureichender Art und Weise gezogen worden zu sein. Darin besteht das Fatale der Situation. Im wesentlichen wird die Wiederholung bisher gemachter Fehler angeboten. Soweit Korrekturen vorgenommen werden, werden sie als solche kaum gekennzeichnet. Wirtschaftsminister Möllemann erklärt, daß er für das zweite Jahr Aufschwung Ost weitere 2 Milliarden DM benötigt. Diese Erklärung bedeutet aber doch, daß das erste Jahr Aufschwung Ost nicht stattgefunden hat. Dies konnte auch nicht stattfinden, weil die finanziellen Mittel überwiegend zur sozialen Abfederung des Untergangs des Industrie- und Landwirtschaftsstandortes in den neuen Bundesländern genutzt wurden, nicht aber zur Sanierung der Wirtschaft. Vor allem wird sich die wirtschaftliche Situation schon bald auch in den alten Bundesländern verändern. Die Aufträge an die Unternehmen gehen zurück; der Boom aus der Neueroberung des ostdeutschen Marktes ist vorüber. Wie immer in solchen Zeiten kommt dann die Aufforderung an die Gewerkschaften, hinsichtlich der Tarifabschlüsse maßzuhalten. Es ist klar, wie hier der Schwarze Peter verteilt werden soll. Hinsichtlich des weiteren wirtschaftlichen Abstiegs wird schon jetzt die Schuld vorbeugend den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften zugeschoben, obwohl längst und mehrfach bewiesen ist, daß Lohnsteigerungen nur zu einem Bruchteil den Gewinnsteigerungen entsprechen und keinesfalls die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Sie erhöhen die Kaufkraft und beleben damit den Markt. Außerdem geht es darum, im Kampf um soziale Gerechtigkeit nicht nachzulassen. Die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den alten Bundesländern hängen direkt mit der Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern zusammen. Die Entwicklung wird künftig nicht mehr gegeneinander verlaufen; vielmehr wird die Fortsetzung der bisherigen Wirtschaftspolitik in den neuen Bundesländern auch entsprechende katastrophale Auswirkungen auf die alten Bundesländer haben. Nach wie vor sehen Bundesregierung und Treuhandanstalt es als wichtigste Aufgabe an, die Betriebe in den neuen Bundesländern zu privatisieren. Als Begründung wird u. a. angegeben, daß die Treuhandanstalt als Herrscherin über mehr als 10 000 Unternehmen nichts über die Entwicklung der einzelnen Unternehmen wissen könne; sie sei deshalb zur Sanierung nicht in der Lage. Dann aber wird es doch wohl Zeit, den auch von uns unterbreiteten Vorschlag aufzugreifen, die Treuhandanstalt wesentlich stärker zu dezentralisieren, damit die Übersicht gewonnen werden kann. Das ist auch ein Vorschlag von CDU- Abgeordneten aus den neuen Bundesländern. Es ist also keinesfalls zwingend so, daß mit der Frage, ob sich ein Käufer für ein Unternehmen findet oder nicht, auch die Aussage verbunden werden kann, ob das Unternehmen sanierungsfähig ist oder nicht. Es gibt auch sanierungsfähige Unternehmen, die nicht gekauft werden, und es gibt natürlich ebenfalls Unternehmen, die nicht sanierungsfähig sind und dennoch erworben werden, weil z. B. Interesse an den Immobilien besteht. Die Politik der Treuhandanstalt, immer mehr Betriebe zum Nullpreis zu verkaufen, hat keinesfalls zu einer wirtschaftlichen Belebung im Osten Deutschlands beigetragen. Wann endlich, frage ich, werden Maßnahmen wie z. B. degressive Lohnsubventionen ergriffen, mit deren Hilfe die Kosten der Betriebe gesenkt und ihre Marktchancen erhöht werden können? Wann endlich wird also das Geld zur Finanzierung von Arbeit und nicht zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit ausgegeben? Wann endlich geht in Eigentumsfragen Entschädigung vor Rückgabe, um das größte Investitionshemmnis zu beseitigen? Ich habe schon einmal darauf hingewiesen: Um Eigentumsgerechtigkeit herzustellen, können wir nicht im Jahr 1945 anfangen; dazu müssen wir viel weiter zurückgehen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Treuhandanstalt bewegt sich gegenwärtig zwischen Deindustrialisierung und Monopolisierung. Sie trägt nicht zur Entzerrung der ungünstigen Kosten- und Absatzstrukturen in Ostdeutschland bei. Die von mir geforderte Regionalisierung der Treuhandanstalt ist allerdings ohne Transparenz ihrer Entscheidungen und ohne die Erweiterung von Mitbestimmungsrechten undenkbar. Regionalisierung und Demokratisierung sowie Transparenz der Politik der Treuhandanstalt sind wesentliche Voraussetzungen, wenn eine Sanierungspolitik im Interesse des Erhalts und der Schaffung neuer Arbeitsplätze durchgesetzt werden soll. Strukturkonzepte, die zur Neuschaffung von Investitionspotentialen in den Unternehmen beitragen, müssen klare und eindeutige Regelungen zur Finanzierung von Modernisierungsinvestitionen enthalten. Über eine allgemeine Investitionshilfeabgabe für westdeutsche Unternehmen, eine Arbeitsmarktabgabe für Besserverdienende und nicht zuletzt über Kürzungen im Rüstungsetat könnte der Finanzbedarf gedeckt werden. Was spricht eigentlich dagegen, das Konzept einer zeitlich befristeten Zwangsanleihe mit Zeichnungspflicht zu diskutieren, das im Finanzausschuß schon einmal vorgetragen worden ist? Die Treuhandanstalt rechnet bis Ende 1994 mit Schulden in Höhe von 250 Milliarden DM. Das wird der Preis sein, den die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes für eine rein betriebswirtschaftlichen Kriterien folgende Kahlschlagpolitik der Bundesregierung zahlen müssen. ({1}) Volkswirtschaftlich wird interessanterweise immer nur dann argumentiert, wenn es um die Bezahlung der Schulden geht. Laut „Handelsblatt" vom 5. Februar hat Treuhandfinanzvorstand Krause gefordert, bei der Gewinn- und Verlustrechnung der Treuhandanstalt auch das volkswirtschaftliche Kriterium zu berücksichtigen. Im Klartext soll das bedeuten: Wenn die Filetstücke herausgeschnitten und verscherbelt worden und die anderen Betriebe plattgemacht sind, dann wird bei der Berechnung der Schulden wieder an das große Ganze gedacht und der Schuldenberg - volkswirtschaftlich betrachtet - gewissermaßen sozialisiert. Bis dann haben aber andere die großen Geschäfte gemacht. Nicht die Bürgerinnen und Bürger insgesamt, sondern einzelne werden die großen Gewinner dieser Treuhandpolitik sein, und zwar einzelne sowohl aus den alten als auch aus den neuen Bundesländern. Jede und jeder, der eine andere Politik der Treuhandanstalt fordert, wird sofort verdächtigt, daß er antimarktwirtschaftlich eine Staatslenkung fordert. Mittlerweile müßten aber auch die Gralshüter der Marktwirtschaft erkannt haben, daß in den neuen Bundesländern von einem echten Wettbewerb und folglich auch von einem Markt keine Rede sein kann, weil Betriebe entweder sofort stillgelegt oder an marktbeherrschende Unternehmen aus Westdeutschland verkauft werden. Warum verbürgt die Treuhandanstalt in diesem Jahr Bankkredite nicht mehr global? Warum gewährt sie nur noch Einzelbürgschaften? Ist es nicht klar, daß mit solchen Entscheidungen der Einfluß auf die Investitionspläne der Unternehmen erhöht wird? Warum verzichten Sie in den neuen Bundesländern auf eine aktive, in die ökonomischen Prozesse eingreifende Struktur- und Industriepolitik, wenn Sie gleichzeitig gestatten, daß die Treuhandanstalt über die Gewährung von Bankbürgschaften mittelbar investitionslenkend tätig werden kann? ({2}) Gleiches gilt für die Hermes-Kreditbürgschaften. Obwohl in der ostdeutschen Industrie direkt und indirekt 500 000 Arbeitsplätze am Handel mit der früheren Sowjetunion hängen, wurden die Mittel für diese Exporthilfen stark gekürzt. Einem Antragsvolumen in Höhe von 70 Milliarden DM stehen HermesBürgschaften in Höhe von insgesamt 5 Milliarden DM gegenüber. Die Unternehmen, denen solche Ausfuhrbürgschaften gewährt werden sollen, wählt die Treuhandanstalt aus. Ich frage Sie, ob das etwa keine lenkenden Eingriffe in Wirtschaftsabläufe sind. In der Praxis zeigt sich also, daß die Treuhandanstalt und damit die Bundesregierung sehr wohl in Wirtschaftsprozesse eingreift. Die Frage ist nur, wie in solche Prozesse eingegriffen wird, Ich halte es für erforderlich, daß die Bundesregierung ihre wirtschaftliche Fehlpolitik eingesteht, daraus Folgerungen zieht und mit einer wirklichen Sanierungs-, Struktur- und Arbeitsbeschaffungspolitik in den neuen Bundesländern letztlich auch zum Wohl der alten Bundesländer beginnt. Ehrlichkeit haben die Bürgerinnen und Bürger immer noch am besten vertragen. Einen Fehler zu begehen ist schlimm. Aber viel schlimmer ist es, ihn nicht einzugestehen und keine Folgerungen für eine veränderte Politik zu ziehen. ({3}) - Reichlich; ja. Das ist unstrittig. Das ist kein Streitpunkt zwischen uns. Deshalb können wir ja aus diesen Erfahrungen schöpfen. Deshalb sind wir so wichtig für eine neue Politik. Die Situation in den neuen Bundesländern wird immer katastrophaler. Darum fällt es mir so sehr auf. Für Januar 1992 sind nun offiziell 1,3 Millionen Arbeitslose angegeben worden, wobei allein im Monat Januar 300 000 hinzugekommen sind. Wenn man noch die verdeckte Arbeitslosigkeit durch Vorruheständlerinnen und Vorruheständler, Umschülerinnen und Umschüler usw. berücksichtigt, erhöht sich die Zahl auf fast drei Millionen. Welches deutlicheren Beweises bedürfte es noch für eine verfehlte Wirtschaftspolitik und die Notwendigkeit einer Änderung? Noch nie gab es so viele Menschen in den neuen Bundesländern, die sich überflüssig fühlen und keine Perspektive für sich sehen. Hinter Arbeitslosigkeit stehen nicht nur soziale, sondern auch psychische Probleme. Belastet ist nicht nur die oder der Arbeitslose, sondern ihre oder seine ganze Familie. Obwohl die Menschen in der DDR bis 1989 unter den Bedingungen einer Diktatur lebten, gab es wesentlich weniger Selbstmorde als heute. Dies muß doch wohl wenigstens zu denken geben. Ich glaube, daß auf Dauer gegen diese wirtschaftliche Entwicklung auch keine politischen Ablenkungsmanöver helfen. Es berührt mich mehr als unangenehm, wenn sich ein Generalstaatsanwalt stolz Günter der Starke nennen läßt, wenn Ermittlungen der Gestapo und Anklageschriften der Nazi-Justiz vor unseren Gerichten wieder zugelassen sind, wenn eine Frau trotz Empfehlung eines demokratisch gewählten Richterwahlausschusses nicht Richterin werden darf, weil sie einer dem Regierenden Bürgermeister von Berlin nicht genehmen Partei angehören soll, wenn die einzige Antwort auf Fremdenfeindlichkeit darin besteht, daß sich die Bundesregierung überlegt, wie man Fremde loswerden kann. Es wäre noch vieles andere zu nennen. Was wir in Wirklichkeit brauchen, sind politische Besonnenheit, mehr Demokratie gerade wegen des erheblichen Mangels an Demokratie in der früheren DDR und eine transparente aktive Wirtschaftspolitik, die im Interesse der großen Mehrheit der Menschen und nicht der Gewinne einzelner Unternehmen betrieben wird. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat kürzlich eine Broschüre mit dem Titel „Die Wohlstandsmaschine" veröffentlicht. Sie soll die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern aufklären, wie die Marktwirtschaft funktioniert. Sie sollen endlich begreifen: Der Markt regelt sich selbst, und der Markt lenkt die Produktionsfaktoren. Die Erfahrungen zeigen aber - auch die Wirtschaftswissenschaft sieht das inzwischen so -, daß diese Vereinfachung nicht einmal für eine entwickelte Marktwirtschaft zutrifft. Um so weniger gilt sie für den Umbau der ehemals staatsgelenkten Wirtschaft in Ostdeutschland. Die Wohlstandsmaschine hat dort bisher weitgehend versagt. Es klappt eben nicht, wenn die eine Hälfte der Wirtschaftspolitik aus Psychologie besteht und die andere auf Selbstbetrug hinausläuft. Der Arbeitsmarkt ist aus den Fugen geraten. Die jüngsten Zahlen aus Nürnberg sind noch längst nicht der Tiefpunkt einer vermeidbar gewesenen Entwicklung. Dabei trügt die Statistik: Rund 1,7 Millionen Ostdeutsche ohne Arbeitsplatz sind gar nicht erst erfaßt, weil sie kurzarbeiten, an Arbeitsbeschaffungsoder Umschulungsmaßnahmen teilnehmen oder frühzeitig aus dem Berufsleben entlassen wurden. Momentan werden dort ganze Lebensbäume gekappt. Der tatsächliche Beschäftigungsverlust ist also mehr als doppelt so hoch und entspricht einer Arbeitslosenquote von 38 %. Das heißt, zeitgemäß formuliert, jeder dritte trägt den grausamen Stempel: Derzeit nicht zu gebrauchen. Das ist kein vorübergehendes Problem. Im Osten droht Dauerarbeitslosigkeit in neuen Dimensionen mit ungeahnten Auswirkungen. Allein daran müßte die Bundesregierung erkennen: Der freie Markt richtet längst nicht aus, was Struktur- und Industriepolitik vermögen. Die Arbeitsmarktpolitik steht vor einer in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einzigartigen Herausforderung. Der soziale Friede wackelt, aber im Wirtschaftsministerium hat das offenbar noch keinen erschüttert. Die Beschäftigungskrise wird dort einfach als Erblast des sozialistischen Systems ausgegeben. Wie lange will man dort die Menschen damit noch vertrösten? Die sozialen Verhältnisse in den neuen Bundesländern kollabieren, und die Bundesregierung betreibt business as usual. Auch der halbherzige Kurswechsel vor einem Jahr kann daran nur wenig ändern. Das Paradebeispiel ist die Regelung der Eigentumsverhältnisse. Die großspurig angepriesene Vorfahrt für Investitionen hat sich als Flop erwiesen. Die „Wirtschaftswoche" stellt kühl und nüchtern fest: Das Enthemmungsgesetz taugt nichts. Darüber hinaus hat das Vermögensgesetz in den neuen Bundesländern eine Situation der erneuten Entrechtung geschaffen. Die Behandlung der Eigentumsprobleme hat das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben. Besonders tragisch ist die Situation von Mietern und Nutzern von Grundstücken, die sich jetzt ungeahnten Rückgabeforderungen ausgesetzt sehen. Zukunftsangst und Verunsicherung haben die Freude über die Einheit getrübt. Völlig unbewiesen steht die Behauptung im Raum, daß die Eigentumsfrage das Investitionshindernis Nummer eins sei. Seltsamerweise kommen auch da keine arbeitsplatzschaffenden Investoren, wo keine ungeklärten Eigentumsverhältnisse bestehen. Die Risikobereitschaft des Kapitals hält sich eben nicht in nationalen Grenzen. Aus Werner Schulz ({0}) vaterlandslosen Gesellen sind längst Meister geworden. Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung enthält von alledem nur wenig. Die Bundesregierung betrachtet die wirtschaftlichen Probleme lieber durchs verkehrt herum gehaltene Fernglas. Selbst dort, wo der Sachverständigenrat im Jahresgutachten Handeln fordert und empfiehlt: „alles vermeiden, was Investieren und Sparen behindert, weniger subventionieren, nicht das obsolet Gewordene erhalten wollen, Augenmaß für das Verteilbare bewahren und den Staat solide finanzieren" , zieht sich die Regierung auf irreführende Aussagen zurück. Im Jahreswirtschaftsbericht ist nicht einmal in Andeutungen ein finanzpolitisches Konzept für die Bewältigung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands erkennbar. Nehmen wir uns kein Beispiel an der Bundesregierung; machen wir uns nichts vor. Der Boom der letzten Jahre ist zu Ende. Die Belastungen durch die deutsche Einheit und den Einigungsprozeß können nur noch in geringem Maße durch die Gewinne des wirtschaftlichen Wachstums finanziert werden. Der Strukturumbruch in den neuen Bundesländern wird noch für viele Jahre finanzielle Transfers von West nach Ost benötigen. Der Aufschwung Ost kommt nur sehr langsam in Gang. Er benötigt erheblich mehr Zeit, als die Bundesregierung in ihren wirtschaftlichen Wunschvorstellungen veranschlagt. Die Kosten für den Aufbau in den neuen Bundesländern werden von der Bundesregierung nach wie vor heruntergespielt und verschleiert. Der Skandal ist dabei nicht, daß mit dem Einigungsprozeß hohe Transferleistungen von West nach Ost notwendig geworden sind. Der Skandal ist vielmehr, daß die Bundesregierung - leider nicht nur sie - immer noch nicht den Ernst der Lage erkannt hat. Sie möchte mit den traditionellen Mitteln der Finanzpolitik die außergewöhnlich hohen Belastungen aus dem deutschen Einigungsprozeß bewältigen. Dabei ist schon lange abzusehen - die wissenschaftlichen Experten des Sachverständigenrates und der Institute haben darauf mehrmals hingewiesen -, daß neue Wege in der Wirtschaftspolitik beschritten werden müssen. Doch die Bundesregierung befindet sich auf einem trotzigen Trampelpfad. Ihre finanzpolitische Linie ist trotz wohltönender Rhetorik konzeptionslos geblieben. Der Sachverständigenrat hat zu Recht ein langfristiges Zukunftsprogramm für die kommende Dekade gefordert, das auf eine tragfähige finanzielle Grundlage gestellt werden muß. Wenn sich die öffentliche Verschuldung nicht weiter dramatisch erhöhen soll, müssen deshalb in den kommenden Jahren die Ausgaben für die Finanzierung des Strukturwandels in Ostdeutschland und der sozialen Sicherung stärker als bisher die Ressourcen der deutschen Volkswirtschaft beanspruchen. Diese Mittel für den Aufbau in den neuen Bundesländern werden hauptsächlich im Westen aufzubringen sein. Es erweist sich als ein großer Fehler, daß der verfassungsmäßig vorgesehene Länderfinanzausgleich ohne Not außer Kraft gesetzt und die Verteilung der Belastung über den Fonds „Deutsche Einheit" geregelt wurde. Die bisherige Politik der Bundesregierung zur Finanzierung der deutschen Einheit hat die höheren Einkommen geschont. Die Hauptlast wurde von den unteren Einkommensbeziehern getragen. Die investitionsfördernden Maßnahmen kommen ebenfalls hauptsächlich den Beziehern höherer Einkommen zugute und bewirken zusätzlich eine Umverteilung zugunsten dieser Gruppen. Hinzu kommen fatale Verteilungsfolgen in Ostdeutschland. Die Neustrukturierung der Eigentumsrechte im Rahmen der Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt und der Eigentumsregelung für Alteigentümer haben für viele der neuen Bundesbürger Verschlechterungen mit sich gebracht. Der Sachverständigenrat hat deutlich festgestellt, daß es der Finanzpolitik bisher nicht gelungen ist, für die Lösung dieser Verteilungsprobleme überzeugende Instrumente und Mechanismen zu entwickeln, die eine langfristige Strategie und damit einen klaren Kurs in der Finanzpolitik ermöglicht hätten. „Die Chronik der Finanzpolitik des Jahres 1991 präsentiert sich vielmehr als eine Fülle finanzpolitischer Einzelmaßnahmen, die eher der Not der Stunde als einer langfristig angelegten Konzeption zu folgen scheinen." Dieser Feststellung des Sachverständigenrates ist nichts hinzuzufügen. Rein fiskalisch hätte die deutsche Einheit wohl nicht stattfinden dürfen; sie rechnet sich nicht. Demzufolge hat die Bundesregierung die Probleme verdrängt, heruntergespielt und ihre Standpunkte nur widerwillig und nur auf Druck geringfügig korrigiert. Ich erinnere an das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, das ein ganzes Jahr zu spät auf den Weg gebracht worden ist ({1}) und das eben keiner schnaufenden Lokomotive entspricht, die die schweren Wagen den Berg hochzieht; denn unser Lokführer Möllemann hat vergessen, vor dem Start der „Wohlstandsmaschine" die Schienen zu legen. Wir haben an der Ausgestaltung des Gemeinschaftswerks in mancher Hinsicht Kritik geübt. Dennoch haben wir diese Initiative von Anfang an für notwendig gehalten und sind heute - mit Herrn Möllemann - der Auffassung, daß das AufschwungOst-Programm über das Jahr 1992 hinaus verlängert werden sollte. Allerdings muß die zu schaffende öffentliche Nachfrage im industriellen Sektor in den ostdeutschen Bundesländern wirksam werden. Krasse Fehler gibt es in der Arbeitsmarktpolitik: das verspätete und widerwillige Eingehen auf Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, die Beschneidung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu einem Zeitpunkt, in dem die Arbeitslosigkeit im Osten noch lange nicht überschaubar war, was sie auch jetzt leider noch nicht ist. Die jüngste Initiative des Bundeswirtschaftsministers zur weiteren Beschneidung der ABM-Möglichkeiten ({2}) Werner Schulz ({3}) muß von den Betroffenen als Ausdruck sozialer Kälte oder, drastisch gesagt, als Tritt in den Hintern verstanden werden, ({4}) ganz abgesehen davon, daß die Vorschläge auch in der Sache kaum begründbar sind. Die Bundesregierung sperrt sich bis heute gegen eine konstruktive Korrektur ihrer Treuhandpolitik. Nur millimeterweise gibt sie - und mit ihr die Treuhandanstalt und ihre eiserne Birgit - dem öffentlichen Druck nach, die lange Zeit geleugnete Sanierungsaufgabe endlich in Angriff zu nehmen. ({5}) Die eigene ideologische Fixierung hat der Regierung hier offenbar im Wege gestanden. Mit der Formel, Privatisierung sei die beste Form der Sanierung, läßt sich aber das Problem nicht lösen, daß ein Großteil der Treuhandbetriebe offenbar nicht ohne weiteres privatisierbar ist und daß so manche Teilprivatisierung eher zur Zerschlagung bestehender Funktionszusammenhänge und nicht zu ihrer Sanierung führt. Das ist ein Punkt, auf den bekanntlich auch die ostdeutschen CDU-Abgeordneten - leider ohne großen Erfolg - hingewiesen haben. Der Kanzler hat ihnen tief in die Augen geschaut, und das hat sie reihenweise hypnotisiert. Dann hatten sie die Hoffnung vor Augen, daß ihr Fraktionschef noch etwas machen kann, was wie Sanierung aussieht, damit sie zu Hause nicht gesteinigt werden. ({6}) - Wenn Sie eine schwache Politik betreiben, sind starke Bilder erlaubt. ({7}) Es dürfte hier wohl Übereinstimmung bestehen, daß der Bedarf an Arbeitsplätzen in den ostdeutschen Ländern allein mit privaten Neuinvestitionen und Neugründungen von Unternehmen auf Jahre hinaus nicht zu decken sein wird. Deshalb ist es unverantwortlich, die Diskussion über die Rolle des Staates bei Sanierung und Investitionen von einer abstraktrechthaberischen Warte zu führen. ({8}) Es stellt sich nicht die Frage, wer besser als Sanierer geeignet ist, der Staat oder Private, weil hier praktisch gar keine Alternative besteht. Um einen großen Teil der Treuhandunternehmen kümmert sich entweder der Staat, also die Treuhand, oder niemand kümmert sich darum. Zwar findet der Jahreswirtschaftsbericht schöne Worte zur Berücksichtigung umweltpolitischer Ziele beim wirtschaftlichen Aufbau im Osten. Doch in der Praxis reduziert sich das bestenfalls auf die Angleichung an das Modell Westdeutschland: weiterhin Chlorchemie, weiterhin Priorität für den Straßenbau; 9 000 neue Straßenkilometer sieht der Bundesverkehrswegeplan vor. Der „Aufschwung Ost" wird also zum Motorisierungsschub. Neue, zukunftsweisende Orientierungen läßt die Bundesregierung in der Infrastrukturentwicklung und der Energiepolitik vermissen. Ökologisch verantwortliches Wirtschaften läßt sich aber nicht auf der Basis eines „Weiter so!" erreichen. Wann möchte uns die Bundesregierung erklären, wie sie eigentlich ihr ehrgeiziges Ziel der CO2-Reduzierung erreichen will? Ein weiterer wunder Punkt in der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist die Förderung des Osthandels ostdeutscher Unternehmen. Man kann wohl kaum bezweifeln, daß Exporte in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in der nächsten Zeit mit besonderen Risiken verbunden bleiben werden. Daher ist gewiß erhöhte Vorsicht geboten. Der Beschluß der Regierung zur radikalen Beschneidung der Hermes-Kredite bleibt dessenungeachtet unverständlich und unakzeptabel. Eine neue Luftnummer von Wirtschaftsminister Möllemann war seine vollmundige Ankündigung, sich im Kabinett für die Ausweitung der Vergabe von Hermes-Bürgschaften zur Absicherung von Ostexporten stark zu machen. Bereits vor der entscheidenden Kabinettssitzung hat er klein beigegeben und damit erneut - wie schon in der Treuhandfrage - gegen Theo Waigel den kürzeren gezogen. Der Beschluß der Bundesregierung wird in absehbarer Zeit den Handel mit den GUS-Republiken praktisch abwürgen. Den völligen Ausfall dieses Marktes kann die ostdeutsche Wirtschaft derzeit nicht verkraften. Ein beschleunigter Arbeitsplatzabbau und weitere Stillegungen werden die Folgen sein. Bis auf weiteres ist die Vergabe weiterer Hermes-Bürgschaften zur Absicherung dieser Exporte unverzichtbar. Im Osten krebst die Industrieproduktion auf niedrigstem Niveau herum; zarte Anzeichen ihres Anstiegs verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen; die Arbeitslosenzahlen schwellen an. Derweil meint man im Westen offenbar, zur alltäglichen Routine zurückkehren zu können. So macht sich die Bundesregierung, wo immer möglich, daran, die Transferleistungen für den Osten zu beschneiden. Die Tarifparteien im Westen veranstalten, offenbar wenig beeindruckt von den Erfordernissen Ostdeutschlands, ihre Verhandlungsrituale. Im Osten vollbringen die Menschen erstaunliche Anpassungsleistungen. Ist es da nicht angebracht, vom Westen vernünftige Veränderungen im Sinne des zusammenwachsenden Gemeinwesens zu fordern? Deshalb müssen wir uns dem Konflikt zwischen den aus westdeutscher Sicht wohl berechtigten Lohnforderungen und den Erfordernissen eines Wirtschaftsaufschwungs im Osten wirklich und nicht nur rhetorisch stellen. Lohnsteigerungen, die auf die Korrektur der Verteilungsrelationen abzielen, haben gleichzeitig Wirkungen auf das Preisniveau und die Entwicklung der Investitionstätigkeit. Dieser Zusammenhang - als Frage nach der Qualität des Produktionsstandorts Bundesrepublik in der öffentlichen Diskussion 6314 Werner Schulz ({9}) zeigt sich auch jetzt bei den Tarifauseinandersetzungen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß starke Lohnsteigerungen in den neuen Bundesländern die Beschäftigungskrise verschärfen können. Ein großer Teil der existierenden Unternehmen wird kaum in der Lage sein, die Produktivität im gleichen Tempo zu steigern, wie die Löhne im Rahmen der tariflichen Festlegungen in den kommenden Jahren steigen werden. ({10}) Außerdem: Die Lohnkosten können bereits jetzt von vielen Unternehmen nicht erwirtschaftet werden. Nur wenige High-Tech-Betriebe und stark lokal gebundene Produktionen und Dienstleistungen können unter diesen Umständen den Lohnschock überleben. Auf seiten der Gewerkschaften - und vielfach auch in den Reihen der SPD - wird übersehen, daß die Entkoppelung der Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung die jetzige Wettbewerbssituation der industriellen Unternehmen in den neuen Bundesländern nachhaltig beeinträchtigt. ({11}) Nicht nur die Bundesregierung steht in der Kritik; auch von den Sozialpartnern in der alten Bundesrepublik fehlen bisher überzeugende Antworten auf die Herausforderungen der deutschen Einheit. ({12}) Mit der schlichten Forderung nach einem „Maßhalten der Tarifparteien", wie sie etwa der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats, Dieter Murmann, erhoben hat, der damit im Ergebnis den Verzicht auf Lohnforderungen und die Umverteilung zugunsten der Unternehmer gemeint hat, ist es allerdings nicht getan. Die traditionellen Methoden der Lohnfindung sind angesichts der jetzigen Situation ungeeignet. Wir fordern deshalb die Bundesregierung und die Sozialpartner auf, Ansätze zu einer solidarischen Einkommenspolitik zu entwickeln. Eine solche Politik der Solidarität verlangt von allen Beteiligten ein Zurückstecken. Von Gewerkschaftsseite wird häufig argumentiert, ein einseitiger Lohnverzicht im Westen nütze im Osten wenig, denn niemand könne garantieren, daß die eingesparten Mittel tatsächlich in Ostdeutschland investiert würden. - Sehr richtig. Deswegen muß eben verbindlich vereinbart werden, daß zu diesen Mitteln beide Seiten beisteuern - die Arbeitnehmer durch Konsumverzicht, die Arbeitgeber durch Verzicht auf die Realisierung eines bestimmten Gewinnanteils - und daß diese Mittel in gemeinsamer Verantwortung der Tarifpartner für den Wirtschaftsaufbau in Ostdeutschland eingesetzt werden. Solche Vereinbarungen werden kaum im Rahmen von Einzeltarifverhandlungen zustande kommen. Hier bedarf es eines weiter gefaßten Ansatzes. Das Wachstums- und Stabilitätsgesetz schreibt ihn vor. Das wohl kaum erreichbare Ziel „Hoher Beschäftigungsstand und Preisstabilität" verlangt ihn geradezu. Sowohl die keineswegs nur erfolglose Konzertierte Aktion als auch der Runde Tisch bieten Anknüpfungspunkte und Modelle. Solche Instrumente gesellschaftlicher Übereinkunft sind angesichts der scheinbaren Überlegenheit der im Westen vorherrschenden Mechanismen voreilig an den Rand gedrängt worden. ({13}) Deshalb fordern wir erstens, daß sich Regierung und Tarifpartner unverzüglich an einen Tisch setzen und einen tragfähigen nationalen Konsens zur Finanzierung der deutschen Einheit aushandeln. Zweitens fordern wir ein Investitionsgebot Ost: In nationalen Notsituationen hat sich die alte Bundesrepublik durchaus kreativ gezeigt und z. B. 1952 ein „Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft" eingeführt, durch das eine Milliarde DM von der gewerblichen Wirtschaft erhoben und für den Investitionsbedarf der notleidenden Industrie, des Kohlenbergbaus und der Energiewirtschaft verwendet wurde. Es war eine Art Zwangsanleihe. Der entscheidende Unterschied zur damaligen Investitionshilfeabgabe liegt bei unserem Vorschlag jedoch darin, daß diejenigen Unternehmen, die im Osten Arbeitsplätze nach Maßgabe einer fiktiven Pflichtquote - etwa 5 % ihrer West-Arbeitsplätze - schaffen, von der Abgabepflicht befreit werden. In Ergänzung einer solidarischen Tarifpolitik wäre gleichzeitig die Einführung einer Solidarabgabe der Vermögensbesitzer in der Bundesrepublik sinnvoll. Ein weiteres Element einer solidarischen Einkommenspolitik besteht in der Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen am Produktivkapital. Das bestehende rechtliche Instrumentarium ist hierfür nicht ausreichend. Die Bundesregierung steht hier in der Pflicht, die Möglichkeit zur Kapitalbeteiligung besonders in den neuen Bundesländern zu verbessern. Für Tarifmodelle, die einen zeitweisen Konsumaufschub und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital vorsehen, müssen die rechtlichen und sachlichen Voraussetzungen sowie Anreize geschaffen werden. So können weitere Mittel für den wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands mobilisiert werden; übrigens auch in Ostdeutschland selbst. Das geschieht im Moment; man sollte sich nicht nur an der Risikobereitschaft der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Motorradwerk Schkopau ein Beispiel nehmen. Das sind Ansätze, Überlegungen, die der Weiterentwicklung und der kritischen Diskussion bedürfen. Aber eines dürfte klar sein: Wenn die Entwicklung der Investitionen in Ostdeutschland nicht schneller vorangeht und unkonventionelle Wege beschreitet, dann sind Voraussagen, nach denen die Lebensverhältnisse in Ost und West noch in den nächsten 20 Jahren auseinanderfallen werden, keineswegs als unrealistisch anzusehen. Dann wird die ungedeckte Behauptung, die fünf neuen Länder würden bis zur Jahrhundertwende der modernere Teil Deutschlands, wohl kaum -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist bereits stattlich überschritten.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein Wort noch: - - eingelöst. Ich danke Ihnen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Werner Münch, das Wort. Ministerpräsident Werner Minch ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Es ist in dieser Debatte bereits sehr ausgiebig von der Situation in den neuen Bundesländern die Rede gewesen. Im Vordergrund aller Überlegungen stehen natürlich die vielfältigen Aufgaben und Probleme bei uns und die hohen Belastungen, die Deutschland als Ganzes zu tragen hat. ({1}) Dieses Hohe Haus hat durch eine Vielzahl von Entscheidungen unter Beweis gestellt, daß es die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland außerordentlich ernst nimmt. Ich möchte Ihnen deshalb zunächst sagen, daß ich Ihnen für diese Unterstützung außerordentlich dankbar bin und sie überhaupt nicht für selbstverständlich halte. ({2}) Als Ministerpräsident eines der neuen Länder halte ich es gleichwohl für angezeigt, speziell aus ostdeutscher Sicht einige Anmerkungen zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung zu machen. Ich tue dies, weil ich die Sorge habe, daß zwar im Osten viel über den Westen und im Westen viel über den Osten, daß aber noch immer viel zuwenig wirklich miteinander geredet wird. Dadurch ist bei vielen in unserem Land leider der Eindruck entstanden, als ob jeweils die eine Seite der anderen etwas wegnehmen wolle und als ob man sich im Westen vor den Begehrlichkeiten des Ostens - und im Osten vor denen des Westens - zu schützen habe. Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, sondern er ist auch sehr gefährlich. Lassen Sie es mich deshalb deutlich sagen: Mit der deutschen Einheit und mit dem epochalen Umbruch in Mittel- und Osteuropa ist zunächst einmal die Zeit vorbei, in der der Westen Deutschlands seinen ständig wachsenden Wohlstand gewissermaßen als naturgegeben annehmen durfte. Wir müssen begreifen: Wenn es Ostdeutschland schlechtgeht, dann geht es Deutschland insgesamt schlecht. Ein Teil unseres Staates kann nicht unbeschadet bleiben, wenn der andere mit schweren Lasten und Problemen zu kämpfen hat. Deshalb gilt: Was wir heute in den neuen Ländern tun, das tun wir für die Zukunft unseres ganzen Landes. ({3}) Wir stehen heute in Deutschland vor der Alternative, ob wir ein bestehendes gefährliches Ungleichgewicht festschreiben und damit auf Dauer zu Gefangenen unserer eigenen Strukturprobleme werden wollen oder ob wir die Probleme im Osten schnell und konsequent überwinden, damit der Standort Deutschland insgesamt stark und attraktiv bleibt, mehr noch: damit er neu an Attraktivität gewinnt. Ich habe manchmal den Eindruck, daß diese Dimension unserer Aufgabe viel zuwenig begriffen wird. Im Osten entscheidet sich heute, wie Deutschland in zehn und in zwanzig Jahren in der Welt dastehen wird. Bereits jetzt kann man im übrigen deutlich sehen, welch eine Innovativkraft in den kommenden Jahren von den neuen Ländern ausgehen wird. Es wird ja immer wieder daran erinnert, daß der Osten am Tropf des Westens hänge. Doch wer erinnert heute eigentlich noch daran, daß vom zehnten Jahr des Aufschwungs im Westen ohne die deutsche Einheit wohl keine Rede mehr sein könnte. ({4}) Ich will hier keine Seite gegen die andere ausspielen. Auch umgekehrt gilt nämlich - ich sage auch dieses ausdrücklich -, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung im Osten nur möglich ist, wenn der Aufschwung im Westen nicht stagniert. ({5}) Wenn ich dann heute in irgendeinem Entschließungsantrag lese, daß die Währungsunion den Produktionseinbruch und, daraus resultierend, eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt hat, ({6}) dann komme ich mir manchmal vor, als wenn da Brandstifter und willige, aktive Feuerwehrleute miteinander verwechselt würden. Die marode Planwirtschaft der letzten Jahrzehnte und die Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit in dieser maroden Planwirtschaft jahrelang mit gefälschten Statistiken verdeckt worden ist, sind die Ursache und nicht das, was, wie zitiert, behauptet wird. ({7}) Der Aufbau der neuen Länder, sowie die Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse in Ost und West sind die großen Aufgaben der 90er Jahre. Alle reden davon, daß wir Prioritäten setzen müssen. Ich sage Ihnen: Unsere Priorität heißt Ostdeutschland. Und sie heißt: Investitionen sichern. Wir müssen die Dinge jetzt mit aller Kraft vorantreiben, damit die Lokomotive schnell selbst zu laufen beginnt und die Phase des Übergangs für die Menschen so kurz und so erträglich wie möglich ist. Dazu brauchen wir zeitnahe Lösungen. Wir brauchen Flexibilität in der Handhabung, und wir brauchen auch die Fähigkeit zur Solidarität. Ich möchte an dieser Stelle auch ausdrücklich eine Lanze für die Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land und in den anderen neuen Bundesländern brechen. Es hat niemals eine Phase in der deutschen Nachkriegsgeschichte, auch des gesamten 20. Jahrhunderts, gegeben, in der in einem so kurzen Zeitraum den Menschen so viel zugemutet worden ist wie in den neuen deutschen Bundesländern. Wenn wir heute das Ergebnis sehen und mit den vielen falschen Prophezeiungen, die wir vor zwei, drei Jahren noch gehört haben, vergleichen, können wir stolz sein auf die Motivation, auf die Leistungskraft und auf die Ministerpräsident Werner Münch ({8}) Bereitschaft zur aktiven Mithilfe am Aufbau der neuen Bundesländer. ({9}) Niemand in Ostdeutschland will auf Dauer Almosenempfänger des Westens sein. Die Menschen bei uns haben die Fähigkeiten und sind auch bereit, ihren Beitrag zu leisten. Aber es gibt keinen Menschen in Bitterfeld oder im Mansfelder Land oder in der Altmark, wo die Hälfte der Arbeitnehmer z. B. in den landwirtschaftlichen Betrieben ihren Arbeitsplatz verloren hat, dem man verständlich machen kann, daß wir nichts Wichtigeres zu tun haben, als auch noch in der letzten westdeutschen Kleinstadt ein Hallenbad zu bauen oder eine Straße zum drittenmal zu pflastern. ({10}) Hier stellt sich die Frage der Prioritätensetzung sehr konkret. Es geht ja auch überhaupt nicht ums Verzichten, sondern darum, für eine begrenzte Zeit auf einen Teil des Zuwachses zu verzichten und nichts anderes. ({11}) Ich sage dies auch ausdrücklich mit Blick auf die laufenden Tarifauseinandersetzungen. Ich habe für das Land Sachsen-Anhalt ausgerechnet, daß eine Erhöhung im öffentlichen Dienst um 1 % bei uns pro Jahr 45 Millionen DM kosten würde. Bei den Forderungen, die im Raum stehen, würde dies eine Belastung von mehr als 400 Millionen DM zur Folge haben. Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Diese Summe kann zur Zeit keiner bei uns bezahlen. Wenn ich hinzufüge, daß dies bei einem Ist-Personalbestand in der öffentlichen Verwaltung von durchschnittlich 70 % und nicht von 100 % gilt, und daran erinnere, daß das Ganze bei einem Gehaltsniveau von 60 % im Vergleich zu 100 % im Westen gerechnet ist, dann wissen Sie, wie groß die Summe wäre, wenn ich diese beiden Faktoren noch mit berücksichtigen würde. Ich bin sehr dankbar, daß Bundesgesetzgeber und Bundesregierung für die neuen Länder die Weichen Stück um Stück in die richtige Richtung stellen. Vieles von dem, was ich heute gehört habe, kann ich aus meiner Sicht und Erfahrung überhaupt nicht teilen. Die Unterstützung, die wir vom Bund und von den alten Ländern erhalten, ist beispielhaft, und sie ist auch alles andere als selbstverständlich. ({12}) - Es ist nur die Frage, ob es gut bleibt; denn die Bewährungsprobe stellt sich jetzt, in diesen Tagen. Sie können dann nachweisen, daß Sie die Bewährungsprobe auch gerne bestehen wollen und daß Sie bei diesem Prinzip bleiben. ({13}) Herr Bundesfinanzminister - ({14}) -Ich fände es besser, die eigenen Leute in die richtige Richtung zu bringen - es ist ja noch Gelegenheit bis morgen früh - und nicht die CDU-Ministerpräsidenten auf die richtige Fährte zu lenken, auf der sie längst sind. ({15}) Herr Bundesfinanzminister, ich will auch gern sagen: Diese Unterstützung verpflichtet uns als neue Länder, auch das Unsrige zu tun, soweit wir es irgend können. Wir wissen, daß auch wir eine Bringschuld haben. Aus Sachsen-Anhalt haben Sie in der Vergangenheit keine unerfüllbaren Forderungen gehört. Es wird auch in Zukunft dabei bleiben. Dennoch werden die Länder ihre Aufgaben nur dann erfüllen können, wenn ihre Finanzkraft schnell und auf Dauer gestärkt wird. Wir brauchen Haushaltsklarheit, und wir brauchen Planungssicherheit. Es müssen so schnell wie möglich finanzpolitische Entscheidungen mindestens für die nächsten fünf Jahre getroffen werden. Wir müssen aus der Phase heraus, daß immer nur die akutesten Probleme ad hoc entschieden werden, während wir genau wissen, daß bereits weitere Probleme ungelöst anstehen. Wir brauchen, wie Sie wissen, dringend eine zumindest annähernde Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit. Natürlich muß auch bald geklärt werden, wie die Beseitigung der Umweltaltlasten finanziert werden soll. Wenn hier zusammen mit anderen Altlasten, z. B. im Wohnungsbau, ein weiterer Schuldenberg auf uns zukommt, dann haben wir in unserem Land bereits Milliardenbeträge allein für die Zinsen aufzubringen. Dieses Geld geht uns dann natürlich für dringend benötigte Investitionen verloren. Meine Damen und Herren, trotz allem, der Aufschwung Ost gewinnt an Fahrt. Für den, der die Situation vor Ort kennt und der nicht außerhalb darüber redet, ohne sie zu kennen, kann überhaupt kein Zweifel bestehen: Die eingeleiteten Maßnahmen beginnen zu greifen. Wenn wir den eingeschlagenen Weg weitergehen und wenn wir dort, wo sich neue Entwickungen ergeben, auch den Mut haben, unsere Instrumentarien konstruktiv weiterzuentwickeln wie z. B. in der Eigentumsfrage, dann bin ich sehr zuversichtlich. Ich staune ja, welche Parteienvertreter es hier gibt, die heute für eine sehr progressive Eigentumsregelung eintreten, gleichzeitig aber nicht in der Lage waren, ihren Ministerpräsidenten in einem neuen Bundesland zu einer Zustimmung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu bewegen. ({16}) Ich kann aus der Sicht des Landes Sachsen-Anhalt nur bestätigen: Es ist erstaunlich, wieviel in kurzer Zeit bereits auf den Weg gebracht worden ist. ({17}) Ich komme gerne zu den Eigentumsfragen, weil ich hier durchaus meine eigene Position habe. Ich bin zunächst einmal dankbar, daß die Bundesregierung durch gesetzliche Änderungen erhebliche Erleichterungen schaffen will; ich unterstütze dies auch uneingeschränkt. Ich habe den Eindruck, daß wir, wenn Ministerpräsident Werner Münch ({18}) beide Maßnahmen - sowohl die Verlängerung der Vorfahrtsregelung als auch die Verkürzung des Anspruchszeitraumes auf etwa zwei Wochen durchgeführt werden -, genau das erreicht haben, was wir wollen. Und wenn dann die Vertreter der Opposition ihre SPD-Oberbürgermeister in den neuen Bundesländern noch dazu bringen, daß sie § 3 a richtig anwenden, dann kommen wir auch in dieser Frage einen erheblichen Schritt weiter. ({19}) Der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Ländern zeichnet sich immer deutlicher ab. Dennoch haben wir die persönlichen Schwierigkeiten des Übergangs, die die Menschen belasten, natürlich sehr ernst zu nehmen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Wohnungsnot, die Belastung unserer Umwelt oder die Situation in der Landwirtschaft mögen als Stichworte für viele andere genügen. Aber soviel läßt sich heute sagen: Die Weichen sind eindeutig in die richtige Richtung gestellt. Wir sind auf einem guten Weg, auch wenn wir unser Ziel noch nicht erreicht haben, was ja auch gar nicht anders sein kann. Natürlich muß die eine oder andere rote Ampel noch weg, und der Zug muß noch an Fahrt gewinnen. ({20}) - Ich dachte, ich hätte eine völlig unpolitische Bemerkung gemacht, aber das scheint nicht so zu sein. ({21}) Der Zug muß also noch an Fahrt gewinnen. Ich möchte Sie ganz herzlich bitten: Behalten Sie die Anliegen der neuen Länder weiterhin im Blick, und lassen Sie uns gemeinsam mit aller Kraft dafür arbeiten, daß der Aufbau des vereinigten Deutschlands so schnell wie möglich gelingt, weil es die Herausforderung dieser Jahre ist und weil viele auf das Ergebnis dessen, was wir ohne irgendwelche Vorbilder tun, in Mittel- und in Osteuropa im Sinne eines Modellcharakters dringend warten. Vielen Dank. ({22})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter Wolfgang Roth, Sie haben das Wort.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt hat gerade betont, daß der Aufschwung begonnen hat. Ich sehe das differenzierter. Wir haben Bereiche der Wirtschaft in Ostdeutschland, bei denen volle Fahrt ist. Ich frage mich überhaupt, ob wir steuerliche Subventionen für Investitionen im Gaststättengewerbe, im Bankgewerbe, bei Versicherungen etc. noch brauchen. Aber es gibt eben Bereiche, Herr Ministerpräsident -und da stimme ich Ihrer Schönfärberei überhaupt nicht zu -, wo sich der Abschwungprozeß fortsetzt. ({0}) Das betrifft vor allem die Industrie. Das zentrale Problem in Ostdeutschland ist das Problem einer regionalen Entindustrialisierung, weil die Betriebe, die existiert haben, mit dem weltweiten Wettbewerb nicht zurechtkommen. Ich werde zu diesem Thema am Ende meiner Ausführungen noch ein paar Bemerkungen machen. Lassen Sie mich zuerst ein paar eher langfristige, strategische Aufgaben der Wirtschaftspolitik ansprechen: ({1}) ökologische Erneuerung, währungspolitische Integration Europas, über die ja heftig diskutiert wird - Graf Lambsdorff hat es angesprochen -, und dann auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind uns hoffentlich einig, daß die Industriegesellschaft die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. Die Klimakatastrophe rückt näher. Hier gab es ja erfreulicherweise eine übereinstimmende Bewertung der Enquete-Kommission. ({2}) Das Ozonloch hat sich, wie neueste Forschungen belegen, erneut vergrößert. Der Jahreswirtschaftsbericht gesteht diese Probleme durchaus ein. Doch anstatt exakte Zeitpläne zur Umsetzung und vor allem zum Umfang der Erhebung einer Klimaschutzsteuer vorzulegen, bleibt es bei völlig allgemeinen Ankündigungen, das müsse eben in der EG passieren. Statt beispielsweise die Diskussion um das FCKW zum Anlaß zu nehmen, es schnell zu verbieten, wird dieses Thema im Jahreswirtschaftsbericht als wirtschaftsfremd überhaupt nicht erwähnt. ({3}) Es ist deshalb nur logisch, wenn im Jahreswirtschaftsbericht folgende Illusion genährt wird - ich zitiere -: Die Bundesregierung unterstreicht dabei - in der Umweltfrage die Bedeutung von Eigenverantwortung und Eigeninitiative für fortschrittlichen Umweltschutz. So weit, so gut. Und dann: Sie wird die Entwicklung zu einem als Selbstverpflichtung verstandenen Umweltmanagement durch verläßliche Rahmenbedingungen fördern. Das ist nicht nur verquastes Deutsch, sondern es ist eine absolute Illusion zu glauben, daß Selbstverpflichtung im Umweltschutz in der ökonomischen Wettbewerbsgesellschaft ausreicht. ({4}) Fünf Minuten vor zwölf soll die selbstkritische Einsicht plötzlich die Wende bringen. Sicherlich, wir brauchen einsichtige Unternehmer. Wir freuen uns über jeden, der Einsicht entwickelt. Aber nur darauf zu hoffen, dafür ist die Situation zu ernst. Ich habe übrigens gerade heute ein GATT-Dokument gesehen, das noch einmal bestätigt, man dürfe in das GATT-System nicht zu viele Umweltauflagen einbringen. Ich halte das für falsch. Man müßte das auch in internationale Handelsregeln der Zukunft einbringen. So lange derjenige Kostenvorteile hat, der die Umwelt zerstört, wird es keinen wirklichen Druck auf neue Strukturen und keine Verbesserungen der ökonomischen Grundlagen geben. Deshalb steht die SPD dazu: Gerade wenn man die Marktwirtschaft für die Umweltverbesserung nutzen will, dann muß man auch über Steuern und notfalls - das FCKW ist ein Beispiel dafür - über Gebote und Verbote konsequent den Erneuerungsprozeß erzwingen. Das ist die Aufgabe. ({5}) Das zweite Thema. Die Ergebnisse von Maastricht zur Entwicklung der EG sind anläßlich der Unterzeichnung des Dokuments in den letzten Tagen heftig diskutiert worden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin ja schon beim Thema Maastricht. Er kann später noch einmal etwas sagen. ({0}) - Gut, er darf fragen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, ich kann auch nichts dafür, daß der Präsident den Blick momentan nach links und nicht nach rechts gerichtet hatte. Sonst hätte er Sie längst unterbrechen können.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich richte meinen Blick auch nach rechts. Aber da fällt mir mehr Lambsdorff als Sie auf.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, Sie haben mich herausgefordert; denn ich meine, gerade was den Umweltschutz anbelangt, doch einiges sagen zu dürfen. Sie verweisen hier darauf, daß gerade diese Regierung dem Umweltschutz nicht die notwendige Bedeutung beimißt. Deshalb die Frage: Haben Sie den Entschließungsantrag der CDU/CSU- und FDP-Fraktion gelesen, der zu diesem Tagesordnungspunkt vorgelegt wurde? Wenn nicht, bin ich gerne bereit, ihn vorzutragen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich habe ich ihn gelesen. Ich muß ihn ja lesen, um meiner Fraktion zu sagen, ob wir zustimmen oder nicht zustimmen. Ich halte dieses Papier in dieser Frage für nicht konsequent genug. Es ist genauso verharmlosend wie der Jahreswirtschaftsbericht. ({0}) Die Überführung der D-Mark und der anderen zehn Währungen in eine Gemeinschaftswährung ist kein Pappenstiel. Ich halte es für richtig, daß darüber heftig diskutiert wird. Wir haben ja auch Zeit, bis das realisiert wird. Die Konturen müssen noch klarer werden. Ich will aber eines ganz klar sagen, weil Sie, Graf Lambsdorff, hier einen Soupçon bzw. die Unterstellung hereingebracht haben, das Präsidium der SPD habe nun auch an der Europäischen Währungsunion Zweifel. ({1}) Das ist nicht der Fall. Was wir lediglich verlangen, ist eine Parallelität zwischen der Währungsunion sowie der Politischen Union und der Demokratisierung der Gemeinschaft. ({2}) Wir sind nicht für ein Europa des Geldes und gleichzeitig für ein Europa ohne parlamentarische Demokratie. Das ist der Punkt. ({3}) Wissen Sie, wenn Sie jemanden in bezug auf die Euro-Währung angreifen wollen, dann habe ich eine Adresse für Sie: Der Mann heißt Gauweiler. Der hat schmähend gesagt, das sei eine „Esperanto-Währung ({4}) Ich will eines sagen: Der völkerversöhnende Geist des Esperanto wäre in manchen Köpfen der CSU ganz gut aufgehoben. ({5}) Wir sind für die Europäische Währung. Wir sind der Meinung, sie muß kommen. Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß die Bedingungen, die in Maastricht formuliert worden sind, richtig sind. Die Schwelle ist sehr hoch. Die Bundesrepublik Deutschland könnte die Schwelle zur Eurowährung derzeit gar nicht übersteigen. Das sage ich auch einmal. Wir haben eine höhere Preissteigerungsrate als Frankreich. Erinnern Sie sich bitte an die Koalition, die wir einmal hatten, Graf Lambsdorff. In den ganzen Jahren damals war die Bundesrepublik das stabilste Land in Europa, heute sind wir nur an dritter oder vierter Stelle. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Roth, der eben von Ihnen angesprochene Graf Lambsdorff hat eine Zwischenfrage.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß Sie mich nicht auf die Attacken des Herrn Gauweiler aufmerksam zu machen brauchten, weil ich sie vorhin selber erwähnt hatte? Hätten Sie zugehört, dann hätten Sie es auch gemerkt. Darf ich zweitens fragen, Herr Kollege, ob Ihre etwas aufgeregte Darstellung der Angelegenheit jetzt darauf zurückzuführen ist, daß die sozialdemokratische Fraktion in der Debatte über Maastricht das Thema schon ziemlich verschlafen und ich bei der Gelegenheit genau dieselben Punkte angesprochen hatte, die Sie jetzt mit einiger zeitlicher Verzögerung erwähnen? Aber ich möchte auch zum Ausdruck bringen, daß uns eine späte Erkenntnis lieber ist, als gar keine.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, Sie haben im Grunde zwei Fragen gestellt. Meine etwas bewegtere Redeweise hat damit zu tun, daß ich die Kolleginnen und Kollegen zur Mittagszeit etwas aufwecken wollte. Es war vorher ein gewisses Geplätscher.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das war also reine Kollegialität.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der zweite Punkt: Frau Wieczorek-Zeul, Norbert Wieczorek, viele andere Redner unserer Fraktion haben seit Monaten im Deutschen Bundestag die Zustimmung der SPD bei politischen Vorbedingungen zur Eurowährung, zur Politischen Union und zur Demokratisierung der Gemeinschaft formuliert. Das ist unsere Position. Graf Lambsdorff, die SPD ist die einzige Partei in der deutschen Geschichte, die auf ihrem Heidelberger Parteitag im Jahre 1923 als erste für die Politische Union Europas - sie sprach sogar vom vereinten Europa - plädiert hat. Da brauchen wir weiß Gott keinen Nachhilfeunterricht von Ihrer Seite. ({0}) Aber Graf Lambsdorff, eines wollte ich auch sagen - und da sind wir hoffentlich gemeinsamer Meinung -: Ich habe große Angst, daß die Eurowährung, der Übergang von der D-Mark zu einer Konzeption Europäische Zentralbank und Stabilität dann in ganz Europa, in die Hände von Demagogen gerät. Man kann keinen Binnenmarkt auf Dauer machen und gleichzeitig elf Währungen - und wenn der Beitritt stattfindet, 20 Währungen - haben. Dann kommt der Nutzen nicht heraus. Ich bedauere sehr, daß ein bayerischer Minister in der Weise demagogisch Befürchtungen ausnutzt. Wenn es die Zeitung mit den großen Buchstaben macht, in Ordnung. Das kennen wir ja. Aber wenn verantwortliche Politiker, die diesen Konsens in diesen Parteien ewig formuliert haben, anfangen, populistisch im Stil eines NPD-Menschen daherzureden, dann ist das ganz gefährlich. Denn ich weiß, es gibt Ängste und Befürchtungen. Aber man muß auch sagen - das sage ich verantwortlich für die SPD -: Wir wollen die Stabilität der D-Mark in die Europäische Währungsunion übertragen und nicht die Stabilität der D-Mark beseitigen. Das ist unser Ziel. ({1}) Meine Damen und Herren, ein paar Bemerkungen zum Thema GATT. Graf Lambsdorff, Sie haben GATT auch angesprochen, Herr Bundeswirtschaftsminister hat es getan. Ich habe große Befürchtungen, was GATT und den Erfolg der Uruguay-Runde anbetrifft. Ich habe ein bißchen das Gefühl, daß in der deutschen Öffentlichkeit bei vielen, die nicht so unmittelbar mit Handelsproblemen zu tun haben, das Gefühl vorhanden ist: Diese GATT-Runde ist etwas für Experten und Technokraten, das hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister und seinen Beamten dankbar, daß sie einmal Modellrechnungen über Gefahren beim GATT angesprochen haben. Wenn wir hier keinen Erfolg haben, wenn in diesem erhitzten Wahljahr 1992 in Amerika die Protektionisten dort die Mehrheit bekommen - die haben alle ihre Gesetze fertig -, dann wird das vor allem für die westdeutsche Wirtschaft - Ostdeutschland ist davon, leider muß ich sagen, noch nicht so betroffen, weil sich die Exporte nicht so entwickeln - eine Bedrohung von Arbeitsplätzen bedeuten, über die sich viele noch nicht klar sind. Das betrifft die Elektrotechnik, die Automobil- und chemische Industrie. Ich kenne einige Senatoren, die protektionistische Konzeptionen haben, die unglaublich sind. Wir müssen da zusammenhalten. Was sich Herr Kiechle und andere in der EG- Agrarpolitik an Steifheit, Sturheit und Unbeweglichkeit in dieser Frage leisten, ({2}) ist gegen das Interesse der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. ({3}) Das heißt: Gehen Sie über auf unser Konzept der Förderung der kleinen und mittleren Betriebe in der Landwirtschaft, ({4}) direkte Einkommensübertragungen; ({5}) keine Exportsubventioniererei, keine Erweiterung der Preisstützung. Das alles hilft den kleinen Landwirten mehr und ist mit dem GATT-System verträglich. Das könnte den Erfolg bedeuten. Auf diesem Weg müssen wir vorangehen. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Roth, jetzt möchte gerne der Kollege Glos eine Zwischenfrage stellen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, sind Sie bereit, näher zu erläutern, was Sie über Minister Kiechle gesagt haben, er habe nämlich Steifheit und Unbeweglichkeit gezeigt, und haben Sie versäumt, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Landwirtschaftsministerium sehr weitreichende Verhandlungsgrundlagen vorbereitet worden sind?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Meinung ist, daß immer noch die Gefahr besteht, daß die UruguayRunde an der Haltung von Herrn Kiechle, aber auch derjenigen der französischen Agrarpolitik scheitern kann. ({0}) Das kann geschehen; diese Gefahr droht. Meine Meinung ist weiter, daß es seit Jahren ein verhängnisvoller Fehler der Agrarpolitik dieser Bundesregierung ist, daß sie stur auf Preissubventionen, auf Exporthilfen setzt und daß sie nicht bereit ist, den Landwirten unmittelbar, direkt zu helfen. Die amerikanische Politik hat stets betont, daß sie direkte Einkommensübertragungen unterstützt und für GATT-verträglich hält. Ich würde dieses Instrument ausnutzen, statt an diesem alten System zu hängen. Das ist unsere Position für Landwirte, insbesondere für kleine und mittlere Landwirte. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Roth, sind Sie auch bereit, dem Abgeordneten Möllemann eine Zwischenfrage zu beantworten?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unbedingt.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unbedingt ist nicht nötig. Es reicht auch so.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Kollege hat einmal gesagt: Ja, wenn er kurz und präzise ist. Das werde ich nicht sagen.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, könnten Sie mir denn nach Ihrer begrüßenswerten Unterstützung für die Bemühungen um ein schnelles und gutes Ergebnis bei den GATT-Verhandlungen sagen, wie Sie die Einlassungen des nordrhein-westfälischen Landwirtschaftsministers Matthiesen bewerten, der erklärt hat, daß, würden die Vorschläge für ein GATT- Ergebnis, wie sie jetzt auf dem Tisch liegen, umgesetzt, dies ein Sterben von Abertausenden von Bauernhöfen bedeuten würde? ({0}) Meinen Sie, es hilft uns weiter, wenn wir auf der einen Seite im Bundestag solche Plädoyers an uns selbst richten, wenn Sie Bundesminister Kiechle kritisieren, aber in Ihrer eigenen Partei Landwirtschaftsminister die gezeigte Kompromißbereitschaft viel schärfer rügen? ({1})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ich kenne den Text nicht. Ich kenne nur unsere Vorstellungen zur EG-Agrarpolitik. Wenn die realisiert würden, wäre das eine direkte Maßnahme, die den Kleinen und Mittleren gerade zum Überleben hilft. Es kann wohl sein, daß Herr Minister Matthiesen die Bedingungen so sah, daß die Bundesregierung keine kompensierenden Einkommensmaßnahmen vorsieht. Es kann sein, daß er sich darauf bezogen hat. Ich glaube jedenfalls, wir müssen uns in dieser Frage bemühen. Ich werde Ihre Frage auch zum Anlaß nehmen, bei Herrn Minister Matthiesen klärend festzustellen, was er damit gemeint hat. Ich persönlich glaube, daß die bundesdeutsche Wirtschaft - und zwar unabhängig davon, in welchem Sektor man tätig ist - schwer geschädigt würde, wenn die GATT-Runde nicht zum Erfolg geführt wird. ({0}) Ich möchte noch ein paar Bemerkungen anschließend an das, was Herr Klose zum Thema Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesagt hat, machen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Roth, Entschuldigung. Ich möchte an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen, die ein reichliches Fragebedürfnis an Sie haben, sagen: Der Redner sollte schon ein bißchen im Zusammenhang reden können. Aber trotzdem entscheidet er, ob er eine Frage beantwortet oder nicht. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Roth, können Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß das sozialdemokratische Konzept wesentlich auf den Gedanken von Herrn Minister Matthiesen beruht und daß deswegen die Einlassung nur sein kann, daß er eine sozial verträgliche Gestaltung dieses Konzeptes anmahnt? ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das wollte ich gesagt haben. Ich bedanke mich für diese Klarstellung. Eine Bemerkung zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Ich wollte folgendes sagen: Ich ziehe in der Diskussion, die derzeit geführt wird, den Begriff „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft" dem Begriff „Standort" vor. Das Wort „Standortsituation" impliziert eigentlich, es ginge nur um das, was wir hier machen. Ich will ausdrücklich sagen: Ich halte es für absolut notwendig, daß die westdeutsche Industrie nicht nur an diesem Standort gut ist, sondern beispielsweise mit Direktinvestitionen in der ganzen Welt ihre Leistungen erbringt und Arbeitsplätze schafft. ({0}) Es wird nämlich sehr oft verkannt, daß, wenn eine deutsche Firma ins Ausland geht, das nicht bedeutet, daß in entsprechender Zahl, in der dort in neue Arbeitsplätze investiert wird, bei uns Arbeitsplätze verlorengehen. Wir haben aus der Strukturberichterstattung des Bundes erkannt, daß etwa 50 % der Arbeitsplätze, die im Ausland geschaffen werden, durch Produktion im eigenen Lande ergänzt werden. Das heißt, in einer Zeit der Globalisierung der Wirtschaft ist es völlig dumm, gegen Direktinvestitionen zu mobilisieren. War es nicht richtig, daß beispielsweise VW nach Pamplona ging, dort regional entwikkelt und Einkommen schafft? Dann kommt auch wieder Nachfrage zurück, und es gibt entsprechende Vorleistungen aus der Bundesrepublik Deutschland. Ich finde, wir führen die Standortdiskussion unter vielen Aspekten viel zu provinziell. Die Globalisierung der Märkte ist notwendig und wird von uns akzeptiert. Ich war - Sie werden vielleicht davon gelesen oder gehört haben; wir haben teilweise auch schon darüber gesprochen -14 Tage in Japan. Ich habe mir bewußt die Zeit genommen, mir die Situation 14 Tage anzuschauen. Ich muß selbstkritisch eines sagen: Die Behauptung, Löhne und Lohnnebenkosten seien die Ursache unserer Probleme, ist völlig falsch. Vielmehr resultiert aus der Tatsache, daß wir unbeweglich und innovationsskeptisch geworden sind, daß wir viel zögern und daß wir für neue Investitionen oft 12, 15 Jahre brauchen, während die Japaner in drei, vier Jahren fertig sind, ein Problem für unsere Wettbewerbsfähigkeit, um das wir uns alle kümmern müssen. ({1}) - Er ruft dazwischen: Grün werden! Meine Damen und Herren, eine Umweltverträglichkeitsprüfung kann man auch in kurzer Zeit abschließen. ({2}) ({3}) Man kann sie, wenn man sie in kürzerer Zeit abschließen will, aber dadurch, daß man selbst Verantwortung trägt. Viele Investitionsprozesse in Deutschland werden nicht wegen der Umweltverträglichkeitsprüfung verzögert, sondern wegen der Feigheit derjenigen, die an der Entscheidung beteiligt sind und die Verantwortung von einem zum anderen schieben wollen. ({4}) Das können wir uns nach meiner Auffassung nicht leisten. Meine Damen und Herren, ich wollte noch ein paar Bemerkungen - Herr Ministerpräsident Münch hat, nachdem er geredet hat, keine Zeit, den anschließenden Rednern zuzuhören; aber er wird das Protokoll garantiert nachlesen - zu der ostdeutschen Wirtschaft und zu der Entwicklung dort machen. Für mich ist die Entwicklung dramatisch. Die 305 000 neuen Arbeitslosen zum 1. Januar - wir erwarten weitere 300 000 bis 400 000 Arbeitslose zum 1. August, wie die Bundesanstalt für Arbeit dargestellt hat - sind eine bedrohliche Entwicklung. Es sind vor allem Industriearbeitslose. Vorgestern hat das DIW durch einen Sprecher in einem Interview sagen lassen, daß, was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Osten anbetrifft, beim jetzigen Wachstumstempo und Entwicklungstempo auch in 20 Jahren kein Gleichstand im Verhältnis zu Westdeutschland erreicht wird. Das ist einfach eine realistische Analyse der aktuellen Daten. Wir haben schon im zweiten Halbjahr 1991 - darauf sollten wir genau achten - eine Verlangsamung des Wachstumstempos in der Industrie in Ostdeutschland gegenüber dem ersten Halbjahr. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben das ganze Thema Industriepolitik für Ostdeutschland - wie können wir das Wegfegen ganzer Sektoren der Elektroindustrie, Textilindustrie und Maschinenbauindustrie sowie beträchtlicher Teile der Chemieindustrie a) stoppen oder b) durch neue Investitionen an der industriellen Basis ersetzen? - überhaupt nicht behandelt. Es gibt keine industriepolitische Antwort dieser Landesregierung. Meine Meinung ist: Wir können den Kurs, den Sie der Treuhand vorgegeben haben, nämlich nicht wettbewerbsfähige Betriebe, die nicht privatisierungsfähig sind, einfach zuzusperren, nicht weiter durchhalten. Wir müssen hier Hilfsmittel einsetzen. Es ist interessant, daß so unterschiedliche Leute wie der eher konservativ-liberale Professor Engels auf der einen Seite und das DIW und das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv auf der anderen Seite zeitlich befristete Zuschüsse zum Überleben und zur Innovation von Treuhandbetrieben vorschlagen, und zwar degressive Zuschüsse, so daß die Betriebe genau wissen, daß sie in drei, vier Jahren voll im Wettbewerb stehen müssen. Was geschieht derzeit? Wenn Sie im Aufsichtsrat eines derartigen Betriebes sind, bekommen Sie den Besuch eines Mitarbeiters - in der Regel eines Direktors - der Treuhand, der eine Einzelbewertung vornimmt und sagt: Jetzt kriegt ihr mal wieder 20 oder 40 Millionen DM. - Nach einem halben Jahr reicht das wieder nicht; dann wird nachgeschossen. Meine Damen und Herren, das ist eine Politik, auf die die Wörter Interventionismus, mangelnde Regelhaftigkeit und mangelnde Ordnungsverträglichkeit völlig zutreffend sind. Es ist eine falsche Politik. Wir brauchen von der Treuhand einen klaren und verläßlichen Sanierungsrahmen auch auf finanzieller Seite. Das ist unsere Hauptforderung an die Politik. Reden Sie sich nicht hinter dem Rücken der Treuhand heraus! Mir hat gar nicht gefallen, daß Herr Schulz vom Bündnis 90 nun die Frau Breuel angegriffen hat. Ich habe gar keinen Grund, das zu tun. Ich habe mit ihr auch manche Konflikte gehabt, aber ich muß sagen: Bei dieser Aufgabe und diesen schlechten Vorgaben macht sie ihre Arbeit eigentlich ganz ordentlich. ({5}) Das Problem sind Sie, meine Damen und Herren in der Bundesregierung, und nicht Frau Breuel. Meine Damen und Herren, ein paar Schlußbemerkungen zum Thema konjunkturelle Entwicklung. Mein Eindruck ist, daß wir, jedenfalls nach internationalen OECD-Standards, bereits in eine Rezession eingetreten sind. Die OECD bezeichnet zwei Quartale mit sinkender Produktion - sinkende Auftragseingänge im Vorquartal und sinkende Produktion in zwei anschließenden Quartalen -- bereits als Rezession. Ich will hier jetzt keinen Streit um Worte beginnen. Ich will nur sagen, daß in der Bundesrepublik die Abschwächung im Automobilbereich, vor allem im Maschinenbau, aber auch in der chemischen Industrie begonnen hat, und zwar in einer Situation, in der wir Wachstumsprozesse und gute Entwicklungen weiß Gott brauchen, nicht zuletzt wegen der nachhaltig erforderlichen Steuereinnahmen zur Sanierung von Ostdeutschland. In Erkenntnis dessen möchte ich zwar den Streit zwischen Bund und Ländern draußen vorlassen, aber etwas zur Mehrwertsteuererhöhung sagen. Ich vermag die Mehrwertsteuererhöhung, die Sie jetzt ankündigen und durchsetzen wollen, unter konjunktur- und stabilitätspolitischen Aspekten überhaupt nicht zu verstehen. Vielleicht hätte man darüber vor eineinhalb Jahren diskutieren können. Was bedeutet das? Es bedeutet unmittelbar, daß die Preissteigerungsrate anwächst, wenn auch nicht wirklich im Sinne einer zusätzlichen Inflation. Wir alle wissen, daß die Gewerkschaften das in ihre Lohnforderungen einrechnen. Wir wissen auch, daß die Bundesbank auf solche Situationen reagiert, indem sie eine Verschärfung ihrer Geldpolitik betreibt. Wir wissen weiter, daß das höhere Zinsen bedeutet. In der jetzigen Phase, in der wir in der Bundesrepublik Deutschland eine beginnende Rezession haben, in der wir im Wohnungsbau unglaubliche Defizite haben und in der wir in Ostdeutschland Investitionen, Investitionen und noch einmal Investitionen brauchen, ({6}) die Zinsentwicklung anzuheizen, ist die falsche Politik. Die Zinsen müssen doch um zwei, drei Punkte herunter und dürfen nicht weiter steigen. ({7}) Es ist mehr als bedrückend, meine Damen und Herren: Vor etwa drei Wochen hatten wir ein leichtes Säuseln auf dem Kapitalmarkt bei den langfristigen Zinsen. Ich dachte, jetzt geht es herunter. ({8}) - Vorsicht, schauen Sie sich die letzten zehn Tage an: Es ist wieder eine Gegenbewegung in Gange. Das ist genau mit der Politik zu erklären, die Sie betreiben. In einer Phase, in der wir die Rezession mit allen Mitteln verhindern müssen, ist ein Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik angesagt. Sie müßten noch heute nicht nur aus verteilungspolitischen Gründen, sondern auch aus wirtschaftspolitischen Gründen auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten. Sie müßten noch ein anderes tun: Sie müßten mit überlegen, wie wir eine Stagnation, die leider unter den heutigen Aspekten mit der Preissteigerungsrate von 4 % und dem kommenden Prozent wegen der Mehrwertsteuererhöhung schon eine Stagflation sein könnte, vermeiden können. Da, finde ich, ist der Bundeswirtschaftsminister seit einem halben Jahr in die völlig falsche Richtung gegangen. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das gibt Ihnen die Gelegenheit, eine Frage zu beantworten, wenn Sie das wollen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Statt die sozialen Kräfte zusammenzubringen, hat er eine Kluft zwischen den Bundeswirtschaftsminister, der im Grund die Leute zusammenbringen soll, und die Gewerkschaften getrieben. Das war ein schwerer Fehler. Ich mahne Sie, kehren Sie in dieser Frage um. Erinnern Sie sich an Schillers Position der Konzertierung statt der Auseinanderdividierung. Das wäre die richtige Antwort auf die aktuelle Situation.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, darf ich Sie im Zusammenhang mit der Zinsentwicklung in den letzten zehn Tagen, die Sie beklagt haben und die ich nicht so wahnsinnig eindrucksvoll finde, fragen: Welche Wirkungen, meinen Sie, wird es auf die Zinsentwicklung haben, wenn wir Ihren Ratschlägen folgten, den Bundesbankgewinn nicht zur Verringerung der Schulden zu benutzen und die Kreditermächtigungen auszunutzen, um weiter am Kapitalmarkt Geld in Anspruch zu nehmen? ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, Sie wissen ganz genau, daß noch bis morgen früh Verhandlungsspielraum bestünde, um ein sehr solides Finanzierungskonzept zu ermöglichen. Sie wissen ganz genau, daß es diese Möglichkeiten gibt. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch, z. B. der Vorschlag einer soliden Finanzierung durch Verlängerung einer sozial gerechten Ergänzungsabgabe mit entsprechend größeren steuerlichen Freiräumen. Diese Vorschläge gibt es. Sie aber sind stur fixiert auf ein falsches Finanzierungskonzept. Das wird der Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft erheblichen Schaden zufügen. Wir sprechen uns darüber im nächsten halben Jahr in diesem Hause öfters wieder. Vielen Dank fürs Zuhören. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Josef Grünbeck das Wort. ({0}) - Das tut mir schrecklich leid; dann ist mir hier etwas falsch übergeben worden. Wenn das so ist, möchte ich Ihnen, Herr Abgeordneter Wissmann, die Möglichkeit zu reden selbstverständlich nicht nehmen.

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ich wäre auch nicht traurig, wenn mein Kollege und Freund Josef Grünbeck hier sprechen würde. Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Roth hat gerade innerhalb weniger Sätze zum Thema Konjunktur in seinen letzten Bemerkungen grundlegende Widersprüche offenbart. Erst beklagt er beredt die angeblich negative konjunkturelle Wirkung der MehrwertsteuererMatthias Wissmann höhung, um dann als Antwort auf die Zwischenfrage zu sagen, daß eigentlich die Ergänzungsabgabe ein mögliches Konzept darstellen könnte. Ich will es ganz klar sagen: Wenn dieses Paket morgen nicht in Kraft treten würde, dann gäbe es zwei negative konjunkturelle Wirkungen. Die erste ist diese: Es würden keine 33 Milliarden DM in die neuen Bundesländer fließen, wo wir solche weiteren Impulse dringend brauchen. Die zweite Wirkung, die sich mit dem Paket inzidenter ebenfalls ergibt, ist folgende: Gott sei Dank soll die Solidaritätsabgabe in Höhe von 7,5 % wegfallen. Sie fällt gerade zu dem Zeitpunkt weg, wo wir die Entlastung des Bürgers, des Steuerzahlers, des Facharbeiters, des Angestellten brauchen. Insofern ist der konjunkturelle Effekt des Steuerpakets ein positiver und nicht ein negativer. ({0}) Herr Kollege Roth, es geht einfach darum, zusammenrechnen zu können. Was die Zinsen angeht: Die Bundesbank hat immer wieder sehr deutlich gesagt, für sie sei die Frage, ob ein Spielraum für Zinssenkungen besteht, ganz wesentlich von den Entscheidungen über Tarife und Löhne abhängig. Je moderater der Tarifabschluß, desto größer der Spielraum für die Bundesbank im Bereich von Diskontsatz und Lombardsatz. ({1}) Dieser Spielraum muß in den kommenden Monaten geschaffen werden. Meine Damen und Herren, wir haben hier vom Aufbau in den neuen Bundesländern gehört. Jedermann weiß, daß sich die Leistungen von Bund und Ländern beim Aufbau in einem weltweit nicht erreichten Ausmaß bewegen. 1991 betrugen sie 140 Milliarden DM; 1992 werden es 175 Milliarden DM sein. Das ist eine Summe, die beinahe 11 000 DM pro Bürger in den neuen Bundesländern ausmacht. Wir sind uns in diesem Kreise ja alle darüber im klaren - wir sind vorhin auch noch einmal daran erinnert worden -: Es geht nicht nur um finanzielle Hilfe; vielmehr bedürfen gerade angesichts der Umstrukturierungskrise in der Industrie und der mehr als problematischen Arbeitsmarktsituation die Menschen in den neuen Bundesländern der Ermutigung und auch der moralischen Unterstützung. Wir sollten es hier zum Ausdruck bringen: Die Menschen drüben erbringen eine große Anpassungsleistung. Sie haben eine Veränderung ihres Umfeldes zu ertragen, und sie haben neue Herausforderungen zu bewältigen. Ihre Anpassungsleistung ist mindestens genausoviel wert wie die finanzielle Hilfe der Menschen aus den westdeutschen Bundesländern. Ich finde, wir Westdeutschen sollten unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern unseren Respekt vor dieser enormen Anpassungsleistung nicht versagen. ({2}) Meine Damen und Herren, inzwischen wird ja neben den großen Problemen, die wir gar nicht leugnen, an einer ganzen Reihe von Beispielen auch sichtbar, wo es drüben aufwärtsgeht. Die Aufträge der Bauindustrie lagen im Oktober 1991 um 88 % über dem Vorjahresniveau. Rund die Hälfte der Unternehmen in den neuen Bundesländern erwartet für 1992 eine Verbesserung ihrer Situation. Bereits heute beurteilen 70 % der Unternehmen ihre wirtschaftliche Lage als gut oder befriedigend. Seit Anfang 1990 verzeichnen wir über eine halbe Million Gewerbeanmeldungen. Man muß hier einmal sagen, meine Damen und Herren: Die beiden Hauptredner der Sozialdemokraten, Herr Klose und Herr Roth - wir haben genau aufgepaßt -, haben während ihrer Reden nicht ein einziges Mal das Wort „Mittelstand" in den Mund genommen. ({3}) Wir wissen doch alle, daß auf dem Aufbau der kleinen und mittleren Betriebe ein wesentlicher Teil des hoffentlich bald eintretenden Gesamterfolgs in den neuen Bundesländern beruht. Man muß doch wissen, daß auch im Westen neun von zehn neuen Arbeitsplätzen von Betrieben mit zwischen einem und 100 Beschäftigten geschaffen werden und daß wir deswegen von dem aufblühenden Mittelstand in Handel, Handwerk und Dienstleistungsbereich drüben den wesentlichsten Teil des Erfolgs erwarten. Daher brauchen die mittelständischen Unternehmer politische Unterstützung, aber auch entsprechende steuerliche und andere Rahmenbedingungen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Kollege Wissmann, sind Sie bereit eine Frage des Abgeordneten Roth zu beantworten? - Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jeder kann sich aufblasen, wie er will. Ich habe folgende konkrete Frage: Herr Wissmann, haben Sie eigentlich vergessen, wer als erster in der Bundesrepublik im Jahre 1990 Mittelstandskredite der Ausgleichsbank auf der einen Seite und der KfW auf der anderen Seite vorgeschlagen hat, als Sie noch gedacht haben, das gehe alles automatisch und ohne jeden Kredit? Finden Sie es fair, hier eine derartige Attacke zu machen? Sie wissen es doch besser.

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, ich bedauere, daß Sie zunehmend zu der Vorstellung neigen, daß die Treuhand ordnen soll und daß der Staat Einfluß nehmen soll, ({0}) und daß Sie gute Reden, die Sie früher selber zum Thema Mittelstand gehalten haben, inzwischen zum Teil wieder vergessen. Natürlich ist es richtig, daß wir im Rahmen des Eigenkapitalhilfeprogramms mittlerweile 54 000 Zusagen an Betriebe in den neuen Bundesländern haben geben können. Das Gesamtvolumen beträgt 3,4 Milliarden DM. Natürlich ist es richtig, daß wir 130 000 ERP-Kredite in Höhe von insgesamt 14,5 Milliarden DM zusagen konnten. Wenn das Geburtsrecht daran zum Teil auch Ihnen zusteht, ist es ja schön. Aber bitte vergessen Sie heute die Mittelstandspolitik nicht. Sie ist heute genauso wichtig wie vor einem Jahr. ({1}) Darum geht es mir, wenn ich hier diese Fragen anspreche. Aber, meine Damen und Herren, natürlich ist klar: Wir haben immer noch erhebliche Investitionshemmnisse. Deswegen begrüßen wir die Absicht der Bundesregierung, jetzt zügig eine Modifizierung des Vermögensgesetzes zu erreichen, um Investitionen zu erleichtern und die Rückgabe von eigenem Grundbesitz zu beschleunigen. Deswegen halten wir es zweitens - das gehört auch dazu - für dringend notwendig, daß wir auch bürokratisch die Voraussetzung in den neuen Bundesländern mit schaffen helfen, daß Anträge zügig abgearbeitet werden können. 1,2 Millionen Vermögensanträge liegen vor. 2 000 Mitarbeiter in den Vermögensämtern können sich derzeit damit beschäftigen. Wir werden Jahre brauchen, wenn wir nicht zu einer bürokratischen Beschleunigung kommen. ({2}) - Es geht darum, daß Entscheidungen unbürokratisch schneller erfolgen können. Deswegen rege ich an, daß jedes Grundbuch- und Katasteramt sowie jedes Liegenschaftsamt im Westen, in den alten Bundesländern, in Partnerschaft mit den Ämtern in den neuen Bundesländern ein bestimmtes Kontingent an Verwaltungsaufgaben einer Partnerstadt in den neuen Bundesländern im Wege der Amtshilfe übernimmt. Denn wir im Westen können hier manche Fragen zurückstellen. Wir müssen dafür sorgen, daß drüben möglichst schnell der Investitionszug anrollt. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, eine partnerschaftliche Aufgabe, die wir werden leisten müssen. Ein letzter Punkt: Wenn sich Sozialdemokraten über Investitionshemmnisse beklagen, Herr Klose, Herr Roth, dann würde ich Sie bitten: Geben Sie einmal den sozialdemokratisch geführten Landesregierungen die Sporen. ({3}) Wenn beispielsweise beim Bau der Verbundleitung von Hessen nach Thüringen von thüringischer Seite inzwischen alle Voraussetzungen erfüllt sind, wenn die neuen Länder schneller agieren als die hessische Seite, weil sich die rot-grüne Landesregierung zu den notwendigen Entscheidungen nicht durchringen kann, dann sage ich: Das ist eine Entscheidung zu Lasten des Aufbaus eines Stromnetzes, zu Lasten einer Versorgung von Berlin, ({4}) zu Lasten einer Versorgung der neuen Bundesländer. Wollen Sie denn wirklich, daß auf Grund Ihrer rotgrünen Zögerlichkeiten zum Schluß Computersysteme abstürzen, ({5}) Frequenzen nicht gehalten werden können, Opel in Eisenach Probleme mit der Stromversorgung hat? Sorgen Sie dafür, daß endlich Sozialdemokraten Hindernisse beiseite räumen, die beiseite geräumt werden müssen, wenn es um Investitionen geht. ({6}) Der Bundeswirtschaftsminister hat zu Recht deutlich gemacht, daß es uns, wenn wir den Aufschwung Ost sichern wollen, darum gehen muß, die Qualität des gesamtdeutschen und natürlich vor allem des westdeutschen Standorts ebenfalls zu sichern. Keiner von uns will den Standort herunterreden. Herr Klose hat davon gesprochen, es würden einige bei uns versuchen. Keiner tut es. Aber wir wollen die Probleme der Sicherung des deutschen Industriestandorts auch nicht wegretuschieren. Wir sind heute noch Exportweltmeister und Spitzenreiter. Aber wer vorsorgend handelt, der darf die Wolken am Horizont nicht übersehen. Bei der Autoproduktion, der Herstellung von Werkzeugmaschinen und in der Elektronik und Elektrotechnik ist Japan zunehmend in wichtigsten Bereichen an der ersten Stelle. Bei den modernen Informationstechnologien droht Europäern und Amerikanern die immer weitere Abhängigkeit von Japan. 90 % der neuesten Speicherchips stammen bereits aus japanischen Fabriken. Ich teile nicht die Meinung eines führenden deutschen Diplomaten, der in seinem Buch davon gesprochen hat, wir könnten zu einer technologischen Kolonialisierung Europas durch Japan kommen, weil ich auf der anderen Seite auch unsere Stärken sehe, unsere Stärken in der Grundlagenforschung, unsere Stärken bei der Qualifikation der Menschen, unsere Stärken bei der Infrastruktur, unsere Stärken vor allem bei dem vorhin diskutierten Mittelstand. Aber ich warne uns alle davor, daß wir uns in den Sesseln der Wohlstandsgesellschaft gemütlich ausruhen, immer wissend, daß wir heute noch Spitzenreiter sind, und dabei übersehen, daß wir es morgen nicht mehr sein könnten, wenn wir nicht an der Pflege dieses Standorts in den wesentlichsten Bereichen arbeiten. ({7}) Ich nenne ein Beispiel. Die deutschen Unternehmen müssen von Strategien der Japaner lernen, etwa im Automobilbereich. Lean production, schlanke Produktion, heißt eine der Herausforderungen. Kürzere Rüstzeiten, bessere Qualitätskontrollen, höhere Wertschöpfung: So heißen die signalhaft zugespitzten Worte japanischen Erfolgs in diesem Bereich. Es muß klar sein: Solche Erfolge lassen sich mit bisherigen deutschen Arbeitsorganisationen und Betriebsnutzungszeiten nicht erzielen. Deswegen sind Politik und Tarifparteien aufgefordert, flexibleren Arbeitszeitmodellen zuzustimmen. ({8}) Es kann doch nicht so sein, wie es in „Lean Production", der Studie des MIT, steht, daß große deutsche Automobilfabriken, die in Europa an der Spitze stehen, für Nacharbeit und Qualitätskontrolle einen höheren Aufwand haben als die vergleichbare japanische Fabrik für die Herstellung des Autos hat. Wir müssen daran arbeiten, daß wir auch hinsichtlich der Managementmethoden bessere Voraussetzungen für die Sicherung unseres Standorts bekommen. ({9}) Wir müssen zweitens daran arbeiten, daß die Arbeitskosten nicht ins Uferlose steigen. ({10}) Sie betragen 37,88 DM je Stunde in der verarbeitenden Industrie in Deutschland. ({11}) Sie betragen 25,85 DM in Japan und 24,18 DM in den USA. Wir brauchen moderate Lohnabschlüsse. Wir brauchen übrigens auch flexiblere Tarifverträge, die auf Regionen und Branchen Rücksicht nehmen, wenn wir die Herausforderungen der Zukunft meistern wollen. ({12}) Ich nenne einen dritten Punkt: Die Steuersätze für Gewinne, die in Kapitalgesellschaften für Investitionen stehen, sind in Deutschland zu hoch. Sie betragen 50 % in Deutschland, 41 % in Belgien, 40 % in Dänemark, 40 % in Irland, 37 % in Frankreich, 35 % in Großbritannien und 35 % in den Niederlanden. Es ist von überragender gesamtstaatlicher Bedeutung, daß wir das Vermittlungspaket, das erste Schritte zu einer Unternehmensteuerreform enthält, verabschieden und daß wir dem einen zweiten größeren Schritt hin zu einer Unternehmensteuerreform Mitte der 90er Jahre folgen lassen, und zwar nicht weil wir Reichen etwas schenken wollen, sondern weil wir den Investitionsstandort Deutschland für Arbeitnehmer und Unternehmen sichern wollen. ({13}) Ich glaube, das sollten wir gemeinsam erkennen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Wir als Wirtschaftspolitiker stehen gleichzeitig ja auch mitten in einer Verfassungsdiskussion. Ich schlage vor, daß wir das erfolgreichste Wirtschaftsmodell, das wir kennen, in unsere Verfassung aufnehmen, nämlich die Soziale Marktwirtschaft. ({14}) Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft hat sich im Wettkampf der Systeme überall durchgesetzt. Das Erhardsche Wirtschaftsmodell ist Vorbild für den Westen und Hoffnungsträger für den Osten. Sie ist die Wirtschaftsordnung der Zukunft. Wir alle wissen, daß wichtige Elemente der Sozialen Marktwirtschaft bereits im Grundgesetz verankert sind: Privateigentum und Sozialstaatsprinzip. Aber andere wesentliche konstitutive Elemente wie freie Preise, Leistungswettbewerb, offene Märkte, Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen tauchen dort bisher nicht auf. Ich schlage vor, daß wir Art. 15 des Grundgesetzes, der die Sozialisierungsoption enthält, streichen und die Soziale Marktwirtschaft ins Grundgesetz aufnehmen. ({15}) Eigentlich müßten auch die Sozialdemokraten zustimmen, denn sie bekennen sich ja in Reden zu dieser Wirtschaftsordnung. Lassen Sie uns diese Wirtschaftsordnung also in die Verfassung aufnehmen. Was 1948/49 nicht möglich war, nämlich eine klare gemeinsame Position zur Wirtschaftsordnung, müßte 1992 eigentlich möglich sein. Damit würde Klarheit geschaffen. Damit würde auch jeder Rückfall in altes Denken verfassungsrechtlich verhindert. Ich glaube, das wäre ein guter Vorstoß, den wir gemeinsam unternehmen sollten. ({16})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Meißner das Wort.

Herbert Meißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 1992 benennt sehr treffend die ökologischen Herausforderungen unserer Tage. Die Industriegesellschaft bedroht die natürlichen Lebensräume weltweit. Wenn wir nicht sehr schnell mit einem Bündel von Maßnahmen für eine ökologische Harmonisierung der Weltwirtschaft sorgen, werden in einem immer schnelleren Maße die drastischen Umweltkatastrophen zunehmen. Der Abstand zwischen den Meldungen wirklich tragischer Umweltzerstörungen wird immer kürzer. Eines Tages werden wir feststellen müssen, daß alle Umweltprobleme unumkehrbar sind. Doch lassen Sie mich die typischen Probleme in den neuen Bundesländern ansprechen. Die Vollendung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands befindet sich zur Zeit in ihrer ersten und vorentscheidenden Phase. Es sind jedoch nicht die Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Unterschiede, die gegenwärtig die deutsche Wirtschaft charakterisieren. Die ostdeutsche Wirtschaft steht, wenn sie nicht bereits abgewickelt ist, in ihrer Gesamtheit vor der Null-Stunden-Kurzarbeit. Dagegen hat die wirtschaftliche Entwicklung der westdeutschen Industrie einen Aufwärtstrend von bisher nicht dagewesener Größe erreicht. Nach wie vor werden Waren und Dienste in enormer Größenordnung von West nach Ost transferiert. Der Arbeitsmarkt im Westen boomt. Im Osten dagegen gehen massenhaft Arbeitsplätze verloren. Das Wegbrechen strukturbestimmender Industriestandorte im Osten nimmt erschreckende Ausmaße an, meine Damen und Herren. Der vielgepriesene Aufholprozeß will nicht so richtig in Schwung kommen. Die notwendige Schaffung neuer Arbeitsplätze liegt weit unter den Erwartungen. Zur Zeit ist ein permanentes Anwachsen der Arbeitslosenzahlen im Osten feststellbar. Sie liegt trotz einer ganzen Reihe von Entlastungsmaßnahmen, die hier schon genannt wurden, bei annähernd 20 %. Es kann dem Westen auf die Dauer nicht gutgehen, wenn es dem Osten auf Dauer schlechtgeht, ({0}) sagte unlängst Ihr Kollege Genscher. Das trifft auch voll auf die deutsch-deutsche Situation zu. Zwar hat die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen zur Beseitigung von Investitionshemmnissen ergriffen. Das entscheidende Investitionshemmnis ist nach Auffassung der Mehrzahl seriöser Beobachter, auch des Sachverständigenrats, jedoch weiterhin die Frage der Eigentumsregelung. ({1}) - Das ist ein wahres Wort. Nun darf ich doch ganz nüchtern und sachlich feststellen, daß wir Sozialdemokraten von Anfang an der Eigentumsfrage die zentrale Bedeutung zuerkannt haben. Nur wenn Eigentumsentscheidungen kurzfristig und endgültig abgeschlossen werden, kommen auch Investoren ins Land. In einer Information des Bundesministeriums der Justiz vom 11. Februar heißt es u. a.: Die Eigentumsfrage spielt eine geringere Rolle. Die Probleme im Zusammenhang mit dem Enthemmungsgesetz wurden bereits mehrmals angesprochen. Ein bisher noch nicht angesprochenes Problem sind die §-6-Grundstücke in der ehemaligen DDR. Neben einer Vielzahl von Betroffenen im Berliner Umland gibt es wohl insgesamt mehrere hunderttausend Betroffene. Fast überall können die Nutzungsberechtigten ihren Investitionswünschen nicht nachkommen, weil die Banken bei unklaren Eigentumsverhältnissen keine Kredite gewähren. Nun sprechen Sie davon, daß offene Vermögensfragen eine weitaus geringere Rolle spielen. Ich stelle hier mit einiger Genugtuung fest, daß in dieser Frage eine interfraktionelle Koalition zu verzeichnen ist. Ich hoffe nur, Herr Kolbe, Sie werden Ihre nützlichen Gedanken hierzu nicht vergessen, sondern sie mit uns gemeinsam in die Tat umsetzen. ({2}) An zweiter Stelle verweist der Sachverständigenrat auf das Hemmnisbeseitigungsgesetz. Auch hier ist dringliche Nachbesserung erforderlich. Zur Zeit kommt doch jeder gescheite Rechtsanwalt eines Verfügungsberechtigten mit einer einstweiligen Verfügung durch, und somit ist jede weitere Investitionsanstrengung hinfällig. Ein Aufmacher ist mir im Jahreswirtschaftsbericht besonders aufgefallen: „Den Auftrag der Treuhandanstalt konsequent fortsetzen". Meinen Sie nun die Privatisierung? Oder meinen Sie die Sanierung? ({3}) Oder meinen Sie die Stillegung des nicht mehr lukrativen Restes? Natürlich - das ist mir klar - meinen Sie das alles in der soeben genannten Reihenfolge. Aber das reicht nicht aus, meine sehr verehrten Damen und Herren der Koalition. Die Sahnehäubchen und die besten Tortenstücke sind doch bereits vergeben. Vor ein paar Wochen habe ich an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht, daß alles, was die Treuhand bisher vermarktet hat, ein Kinderspiel gegen das war, was jetzt noch kommt, und so ist es auch. ({4}) Die Treuhandanstalt muß von der Regierung nun endlich den eindeutigen Auftrag zur Sanierung strukturbestimmender Betriebe bekommen; das ist besonders wichtig. Sonst werden solche Hiobsbotschaften, von denen die „Sächsischen Nachrichten" vom 11. Februar schrieben, zur Alltäglichkeit. Es heißt dort, „noch 190 von 6 000 Beschäftigten bei Pentacon" . In einer anderen Nachricht heißt es: „von 8 000 noch 1 500 Beschäftigte im ehemaligen Halbleiterwerk Frankfurt/Oder" . Nehmen wir weiterhin die Schwermaschinenbau AG Wildau; ehemals 3 400 Beschäftigte, heute nur noch 1 620. Die Treuhand fordert eine Reduzierung auf 900. Dann aber werden die fixen Kosten für die verbleibende Produktion so hoch, daß die Überlebenschancen gleich Null sind. Gestatten Sie, daß ich mich weiterhin den Aufgaben der Treuhand zuwende: Die Treuhandanstalt ist der strukturbestimmende Faktor schlechthin. Sie ist, wenn Sie so wollen, neben der Eigentumsfrage der zweite wichtige Faktor für die wirtschaftliche Gesundung im Osten Deutschlands. Die im Jahreswirtschaftsbericht genannten Zahlen zur Arbeit der Treuhandanstalt sind schon beeindruckend. Doch sie nutzen den vielen Arbeitslosen in den neuen Bundesländern überhaupt nichts. Nach ihrer Prognose soll sich die Arbeitslosigkeit 1992 möglicherweise auf 17 % erhöhen. Nun haben wir aber in Brandenburg zur Zeit einen Durchschnitt von 16,8 % erreicht. In zwei Kreisen Brandenburgs sind bereits jetzt schon 20,3 % beziehungsweise 20,5 % zu verzeichnen. Rechne ich nun die von Ihnen befürchtete Zunahme hinzu, komme ich immerhin auf 27 %. Es ist höchste Zeit, daß Sie jetzt die Notbremse ziehen. Dies sind die Zahlen, und zwar ohne die von Ihnen angedachten Maßnahmen zur drastischen Einschränkung der ABM sowie zur Beendigung der zur Zeit noch möglichen Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung. Rechnen Sie selbst nach, und Sie werden sehr schnell feststellen, daß unter Berücksichtigung dieser nicht sehr günstigen Voraussetzungen die von der brandenburgischen Sozialministerin vorhergesagten 35 bis 40 % Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands gar nicht so unrealistisch sind. Ich danke Ihnen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Josef Grünbeck.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Rahmen der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht melde ich mich als mittelstandspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion zu Wort. Ich bin meinem Freund und Kollegen Matthias Wissmann sehr dankbar, daß er das erste Mal auch über den Mittelstand gesprochen hat. Ich aber rede nur über den Mittelstand und die freien Berufe; auf diesem Feld lassen wir Freien Demokraten uns von niemandem übertreffen. ({0}) Die von dieser Debatte ausgehende Stimmung betrübt mich, die Stimmung dieser Debatte macht mich viel ernster, als Sie das meinen. Was ich überhaupt nicht begreife, ist, daß die ganze Opposition im Grunde genommen versucht, ein Stimmungsbild zu zeichnen, das grau in grau ist. ({1}) - Wir bagatellisieren doch nichts. Wenn Sie zugehört haben, was der Wirtschaftsminister und Graf Lambsdorff hier vorgetragen haben, müssen Sie registrieren, daß uns alle dieselbe Sorge erfüllt. Aber ohne Perspektive und nur mit Verunsicherung der Bevölkerung - gleichgültig, ob es sich um die junge oder die ältere Generation handelt - können wir die vor uns liegenden Probleme bei Gott nicht bewältigen. ({2}) Daher bitte ich Sie: Bleiben Sie bei den Fakten! Faktum ist: In der Geschichte der Wirtschaftspolitik gab es noch niemals in so kurzen Zeiträumen so tiefgreifende Veränderungen wie in den letzten Jahren. Insbesondere der Zusammenbruch der kommunistisch gelenkten staatlichen Planwirtschaft in allen östlichen Ländern Europas hat diese Welt verändert. Diese Tatsache hat erhebliche Anpassungsprozesse ausgelöst, insbesondere bei den mittelständischen Betrieben und den freien Berufen. Man kann es so formulieren: Die kleinen und mittleren Betriebe haben in den alten und in den neuen Bundesländern bewiesen, daß man durch Flexibilität, Leistungs- und Risikobereitschaft und Qualitätssicherung diesen Anpassungsprozeß am ehesten bestehen kann. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe haben die Chancen ergriffen und die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt schon einigermaßen bestanden. Sowohl in der beruflichen Bildung als auch in der Weiterbildung wurden große Anstrengungen unternommen, um die Qualifizierung für die größer werdenden Aufgaben herbeizuführen, den Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern zu bestehen und die Betriebe wettbewerbsfähig zu machen bzw. in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dabei war klar, daß man alle Instrumente des geltenden Arbeitsförderungsgesetzes nutzen muß. Wir haben immer die Ansicht vertreten, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen da und dort notwendig sind, daß sie aber nicht zu Wettbewerbsverzerrungen für die kleinen und mittleren Betriebe führen dürfen und daß der Mißbrauch begrenzt werden muß. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dienen dazu, die Menschen wieder in einen Beruf zurückzuführen. Sie müssen das Tor zum Dauerarbeitsplatz sein und kein Ausweichplatz für öffentliche Aufgaben. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bedaure es außerordentlich, daß sich gerade die Sozialdemokraten darin üben schwarzweißzumalen, statt Fakten aufzuzählen. Dafür nur einige Beispiele. Frau Matthäus-Maier, Sie haben in einer Presseerklärung zum Jahreswirtschaftsbericht gefordert: „Wir verlangen von der Bundesregierung klare Antworten darauf, wie die ausufernde Staatsverschuldung abgebaut werden soll und wo sie im Bundeshaushalt einsparen will." Parallel dazu gibt es aber von der SPD Anträge mit erheblichen Konsequenzen auf der Ausgabenseite, etwa den Antrag über den Aufbau in den neuen Bundesländern, in dem es heißt: Investitionen fördern, Umwelt sanieren und Verwaltungskraft stärken. Wer das auch nur annähernd kostenmäßig errechnet, wird auf Milliardensummen und damit auf eine wesentlich höhere Verschuldung kommen. Aber die SPD ist nicht einmal bereit, die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu akzeptieren. Daraus macht sie ein Wahlkampfthema. ({4}) Tun Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ja nicht so, als wüßten Sie das nicht! Ich habe Ihren Antrag, den Sie im Wirtschaftsausschuß gestellt haben, einmal nachgerechnet. Es war peinlich zu sehen, daß Sie noch nicht einmal neben dem Text die Beträge ausgewiesen haben. Das hätte bei jedem Finanzbuchhalter zur fristlosen Entlassung geführt. Sie schreiben irgend etwas plakativ hin, was nach meiner Rechnung etwa 36 Milliarden DM kostet, aber Sie sind nicht einmal bereit, das zu errechnen. Das ist eine unseriöse Haushaltspolitik. Das kann natürlich so nicht hingenommen werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Grünbeck, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß allein der Vorschlag der SPD-Fraktion, die Altschulden im Wohnungsbau zu übernehmen, gegenwärtig einen Betrag von rund 40 Milliarden DM ausmachen würde?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin Ihnen für diese Zwischenfrage dankbar. Das nehme ich zur Kenntnis. Das unterstreicht meinen Vorwurf nur noch. Vielen Dank, Herr Kollege Hitschler.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dies wiederum, Herr Abgeordneter Grünbeck, veranlaßt die Abgeordnete Fuchs, Sie zu bitten, eine Frage zuzulassen.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind Sie bereit, mir zu erläutern, wie denn die FDP die Altschulden im Mietwohnungsbau beseitigen möchte?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will meiner verehrten Bauministerin nicht vorgreifen. ({0}) - Entschuldigen Sie, das ist doch keine Bagatelle. Es stünde der SPD gut an, ein solches Problem gründlich zu beraten. Die FDP ist im Augenblick dabei.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Graf Lambsdorff, unter der Voraussetzung, daß der Abgeordnete Grünbeck zustimmt.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich. ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Grünbeck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme dann auch weitergeben, daß sich im Zusammenhang mit der schlichten Übernahme der Altschulden im Wohnungsbau der früheren DDR selbstverständlich auch die Frage stellt, was denn wohl die Hypothekenschuldner im alten Bundesgebiet zu einer solchen Haltung sagen würden. Ist es nicht vernünftig und richtig, darüber nachzudenken, ob nicht zumindest diejenigen, die einen Wohnungs- und Hausbesitz haben, zum Teil in der Lage sein müssen und angehalten werden müssen, ihre Hypotheken auch zurückzuzahlen? Woher bekommen wir jemanden, der uns immer alle Hypotheken abnimmt? ({0})

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Graf Lambsdorff, ich brauche das nicht weiterzuvermitteln, weil ich gemerkt habe, daß Frau Kollegin Fuchs Ihnen aufmerksam zugehört und das zur Kenntnis genommen hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich darf das Haus darauf aufmerksam machen, daß die Geschäftsordnung Dreiecksfragen nicht zuläßt; Dreiecksweitergaben sind natürlich nicht völlig ausgeschlossen. Frau Matthäus-Maier, bitte.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In bezug auf das „Dreieck" muß ich dann auch aufpassen. Graf Lambsdorff, nachdem ich Ihnen, was die Einzelheiten angeht, nämlich daß man zu einer differenzierten Regelung kommen muß, ausdrücklich zustimme, frage ich Sie: Sind Sie nicht genau wie Frau Schwaetzer der Ansicht, daß der jetzige Zustand, diese Milliardensummen schlicht und einfach auf den kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften lasten zu lassen, mit der Folge, daß das am Schluß sowieso bei den ostdeutschen Kommunen landet, so nicht weitergehen kann?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, darf ich feststellen, daß die Frau Kollegin gar keine Frage an mich gestellt hat? Deshalb brauche ich ihr auch keine Antwort zu geben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das ist mir natürlich nicht entgangen. Deswegen hatte ich schon vor, die Zwischenfrage in eine Kurzintervention umzumünzen. Wenn Sie wollen, haben Sie aber die Gelegenheit, darauf zu antworten.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, Graf Lambsdorff hat Ihnen schon vorab die Antwort gegeben. ({0}) Der Herr Kollege Roth hat in einer Presseerklärung zum Jahreswirtschaftsbericht gesagt, daß die gegenwärtige Entwicklung in Ostdeutschland milder verlaufen wäre, wenn die Bundesregierung auf die Forderungen der Sozialdemokraten eingegangen wäre. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank hat die Bundesregierung einen eigenen Weg beschritten, der nun wirklich - das dürfen wir in dieser Debatte doch nicht verschweigen - eine Vielzahl von Anfangserfolgen gerade für die mittelständisch strukturierte Wirtschaft gebracht hat. Ich möchte wirklich nur an Hand von Zahlen und Fakten einiges vortragen. Die Zahl der Gewerbeanmeldungen in den neuen Bundesländern betrug 1990 und 1991 fast 450 000. Mit 200 000 bis 250 000 vollzogenen Neugründungen wurden 1,25 Millionen Arbeitsplätze geschaffen bzw. gesichert. Wir erkennen durchaus, daß sich diese Neugründungen vorwiegend auf das Handwerk, den Dienstleistungsbereich und die freien Berufe konzentriert haben. Wir sind aber ebenso überzeugt, daß es auch beim industriellen Mittelstand noch in diesem Jahr - wenn auch mühsam - aufwärts geht. Diese Existenzgründungen werden durch die Ausreichung von ERP-Krediten an mittelständische Investoren begleitet. Bis Februar 1992 sieht die Bilanz wie folgt aus: Bisher sind 154 000 Anträge mit einem zusagefähigen Kreditvolumen von über 17 Milliarden DM eingegangen. Dann kann man doch nicht von einer schlechten Stimmung reden. Das muß man doch als Signal aufgreifen, das insgesamt eine positive Wirkung hat. Bis 1992 steht ein Kreditvolumen in Höhe von 25 Milliarden DM zur Verfügung. Nun richten sich alle inhaltlichen Zusagen auf Investitionen. Die Förderung hat ein Investitionsvolumen in Höhe von 39 Milliarden DM mobilisiert. Mit dieser Förderung ist ein Arbeitsplatzeffekt in Höhe von 700 000 Arbeitsplätzen verbunden. Daneben werden 900 000 bestehende Arbeitsplätze gefördert. Aus den vorliegenden Anträgen zur Regionalförderung ergibt sich ein geplantes Investitionsvolumen von 79 Milliarden DM. Das ERP-Programm steht für eine Investitionssumme in Höhe von 35 Milliarden DM. Nach einer Ifo-Umfrage planen westdeutsche Unternehmen 1992 Investitionen in Höhe von 36 Milliarden DM. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist aus diesen Zahlen eigentlich ersichtlich? Investitionen und Investitionen! Nennen Sie mir ein einziges Land in Europa, in dem Investitionen so stark fließen wie bei uns in der Bundesrepublik und Gott sei Dank jetzt auch in den neuen Bundesländern. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen. Die Zeit ist schon überschritten. Herr Kollege, wenn Sie mir deshalb nicht böse sind, wird unsere Freundschaft erhalten bleiben. Ich danke von dieser Stelle aber auch - lassen Sie mich das trotz einiger unbequemer und unschöner Begleiterscheinungen feststellen - den westdeutschen Unternehmen für ihre Risikobereitschaft. Ich widerspreche von dieser Stelle ausdrücklich Herrn Steinkühler von der IG Metall, der den westdeutschen Unternehmern global eine Goldgräberstimmung unterstellt hat. Mit derart diskriminierenden Äußerungen gegenüber den wichtigsten Trägern des Aufschwungs Ost, nämlich den Investoren, kann man nichts erreichen außer Brunnenvergiftung. Alles können wir gebrauchen, nur das nicht. ({0}) Auch an die Verantwortung dort sollte appelliert werden. Wir wissen, daß der Anpassungsprozeß bei den industriellen Großbetrieben schwieriger zu gestalten ist. Die Konzerne, die als Volkseigene Betriebe eher Verteilungs- als Leistungsprozesse absolviert haben, sind heute weitgehend leider nicht mehr wettbewerbsfähig. Ihnen ist durch die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten die Auftragsstruktur buchstäblich weggebrochen. Ich teile mit Ihnen die Einschätzung, Herr Kollege Roth: Wir müssen denen helfen. Nur ist das Problem in den osteuropäischen Ländern, daß sie im Augenblick wenige Gesprächspartner anbieten können, mit denen wir überhaupt über die Fortsetzung dieser Exportbeziehungen sprechen könnten. Deshalb begrüßen wir die Begleitung dieser Betriebe durch die Treuhand, die dann Übergangshilfen leisten soll, wenn sie eine Chance zur baldigen Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit erkennt. Wenn aber diese Chance überhaupt nicht gegeben ist - meine Damen und Herren, da sind wir uns doch hoffentlich von rechts nach links einig -, dann ist die Schließung des Unternehmens auf lange Sicht gesehen die bessere Lösung. Subventionen in Höhe von 300 000 bis 900 000 DM pro Arbeitsplatz können doch nicht zur Regel werden. Mit wesentlich weniger Finanzmitteln könnte man Umschulung und Qualifizierung der Mitarbeiter für andere Branchen finanzieren und die Neuansiedlung von Betrieben dynamisch begleiten. Die Rolle der öffentlichen Haushalte wird in der Beurteilung aus mittelstandspolitischer Sicht immer kritischer. Mit großer Sorge verfolgen viele kleine und mittlere Unternehmer und auch ihre Mitarbeiter die Entwicklung, die sich durch Tarifforderungen in unserer Bundesrepublik abzeichnet. Der Solidaritätszuschlag von 7,5 % bringt nach meiner Information Mehreinnahmen von etwa 27 Milliarden DM. Allein die Forderung aus dem öffentlichen Dienst mit über 10 % würde eine Summe von mehr als 40 Milliarden DM zu ihrer Finanzierung erfordern. Glauben Sie ernsthaft, daß wir damit Jubel bei unseren Steuerzahlern auslösen könnten? Ich meine, das muß einfach noch einmal überprüft werden. Da sollte die SPD ihre Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand sehen. Wir dürfen die öffentlichen Haushalte durch solche Dinge nicht gefährden. Ich beklage in diesem Zusammenhang ausdrücklich, meine Damen und Herren, die mangelhafte Bereitschaft zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Gerade bei uns in der Bundesrepublik ist da noch wenig aufgegriffen worden. Obwohl die Kommunen viele Aufgaben privatisieren könnten, zögern sie und halten durchaus realisierbare Privatisierungsmaßnahmen in der Schublade. Natürlich spielt gerade für die mittelständische Wirtschaft die Entwicklung der Personalkosten eine große Rolle. Ich darf noch einmal darauf verweisen, daß eine Situation entstanden ist, die für den Standort Bundesrepublik Deutschland und für den Mittelstand gefährlich geworden ist. Die gesetzlich verankerten Personalzusatzkosten im produzierenden Gewerbe sind von 1978 bis 1990 von 33,6 auf 36 % gestiegen, die tariflich bestimmten in diesem Bereich von 38,2 auf 46,9 %. Insgesamt ergibt dies eine Steigerung von 71,8 % auf 82,9 % für die wenigen Jahre. Mit diesen Personalzusatzkosten liegen wir fast um die Hälfte höher als Frankreich, doppelt so hoch wie die USA und Großbritannien und dreimal so hoch wie Japan. Unerfreulich ist auch der Vergleich der Entwicklung der Arbeitszeiten, die natürlich den mittelständischen Betrieben besondere Sorge bereitet. Die effektiv geleistete Arbeitszeit der Arbeitnehmer in Stunden pro Jahr beträgt in Deutschland weniger als 1 700, in Großbritannien sind es fast 1 900, in den USA 2 000, in Japan 2 100 und in Korea 2 300. Ich hoffe, Herr Kollege Roth, daß Sie bei Ihrem Aufenthalt in Japan gemerkt haben, was das bedeutet. Einbrüche vieler deutscher Branchen, nicht nur der Automobilindustrie, auch der Werkzeugmaschinenindustrie, die primär auf den Export ausgerichtet sind, lassen sich mit solchen Arbeitszeiten nicht mehr verhindern, auch nicht durch rücksichtslose Zugriffe auf Rationalisierung. Der Arbeitnehmer ist einer, der dabei bezahlt. Ich stimme ausdrücklich meinem Parteivorsitzenden Graf Lambsdorff zu, der in Stuttgart gesagt hat: Wer das jetzt nicht erkennt, wird eines Tages mit voller Wucht getroffen, denn diese Märkte lassen sich dann nur sehr schwer zurückerwerben. Deshalb müssen wir bei den Lohnkosten darum bitten, daß regional und branchendifferenziert angepaßt wird, um Entwicklungen zu stützen und nicht zu ersticken. Wir brauchen Öffnungsklauseln, unternehmensbezogene Tarifabschlüsse und betriebsbezogene Lohnorientierungen. Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zur Deregulierung und Entbürokratisierung sagen. In Anbetracht des europäischen Binnenmarktes, der ja nun in wenigen Monaten beginnt, habe ich die Sorge, daß durch nationale und europäische Bürokratie eine Entwicklung zustande kommt, die die mittelständischen Betriebe nicht mehr verkraften. Ich sage dies ausdrücklich auch mit der Bitte an die Union. Ich habe kürzlich gelesen, daß die christlich-soziale Arbeitnehmerschaft in Deutschland die Arbeitskammern einführen will. Ich bin dankbar, daß vernünftige Leute aus der Union schon Widerstand signalisiert haben. In Österreich wollen sie die Arbeitskammern abschaffen, bei uns will man sie einführen. Was wollen wir denn noch alles der mittelständischen Wirtschaft an bürokratischen Reglementierungen überstülpen! ({1}) Gerade in den neuen Bundesländern sind kleine und mittlere Betriebe besonders betroffen. Wir brauchen weniger und nicht mehr bürokratische Auflagen, ob es die Baubürokratie, die Arbeitsmarktbürokratie, die Gewerbeaufsicht oder alle anderen Institutionen sind. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß eines feststellen. Die politische Entwicklung in Europa hat ihre eigene Faszination. Die Veränderungen verlaufen im Grunde genommen in erfreulichen Bahnen. Der Wandel von der Diktatur zur Freiheit, von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und damit zur individuellen Gestaltung der Gesellschaft ist in einem dynamischen Prozeß. Ich bin stolz, daß ich dies erklären kann und daß in den letzten Jahrzehnten liberale Wirtschaftsminister an diesen Grundsätzen nie gezweifelt und sie immer realisiert haben. Dabei gilt es festzustellen, und das wissen wir alle: Die Demokratie ist kein perfektes System, aber es gibt kein besseres. Und dazu gehört der Satz: Marktwirtschaft ist nichts Bequemes, aber es gibt nichts Gerechteres. ({2}) Das haben die mittelständischen Betriebe und die freien Berufe in den alten und neuen Bundesländern erfaßt. Sie stellen sich dieser Herausforderung und betrachten sie als große Chance für eine positive gesellschaftliche Entwicklung. Vielen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Schumann das Wort.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht habe ich viele interessante Sachen gelesen, aber insbesondere hat mich ein Satz auf Seite 13 unter Punkt 13 beeindruckt. Ich zitiere ihn: Die Bundesregierung setzt vor allem auf privates Engagement. Nur so kann auf Dauer die Basis des Wohlstands in Ost und West gesichert werden, und nur so können Chancen in Erfolge gewandelt werden. Diesem Satz kann man durchaus zustimmen, denn ohne das Engagement vieler oder besser aller Menschen sind sicher Aufgaben von der Größenordnung der deutschen Einheit niemals zu bewältigen. Hinter diesem Satz, der für mich in mehrfacher Hinsicht jedoch auch scheinheilig ist, verbergen sich aber grundsätzliche Denkansätze, die sich durch den ganzen Bericht ziehen. Erstens schlägt doch hier voll durch, daß das der Markt schon richten wird und ein regelrechter Horror der Regierungskoalition vor Strukturprogrammen und planmäßiger Wirtschaftsförderung besteht. Dabei hat der Bundeskanzler selbst bei seinen Besuchen in Halle sowie in der Treuhandanstalt Berlin oder bei Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern in Bonn von der Erhaltung von Kernbereichen der Industrie gesprochen. Wie soll denn das gehen? Durch Appelle? - Wohl nicht. Die Tatsachen zeigen doch, daß es eine umgekehrte Entwicklung gibt. Der Poker zwischen Treuhandanstalt und Unternehmen zeigt doch jedes Mal deutlich, worum es wirklich geht. Der Markt ist gesättigt, weltwirtschaftlich ist Konjunktur nicht so recht zu erkennen. Was liegt also näher, als unliebsame Konkurrenten zu beseitigen! Ich erinnere hier nur an die Stahlindustrie Brandenburgs oder an die Motorradwerke in Zschopau, ein kleines Werk im Süden, wo sogar die Belegschaft mit Teilen ihres Einkommens für ihr Werk eintreten wollte. Wenn jedoch der Markt für 250er und 500er Modelle sich gerade auftut und 750er und 1 000er nicht mehr so gut gehen, dann kann man schon verstehen, warum BMW sich diese Marktanteile erobern will. Da stört eben so ein kleines Werk in der Nähe von Chemnitz, auch wenn es dort mit diesen gefragten Modellen gute Erfahrungen gibt. Im Dezember gab es in diesem Hohen Hause eine Aktuelle Stunde zum Stahlwerk Hennigsdorf. Die Hennigsdorfer hatten sich damals zur Wehr gesetzt und sich selbst in die Verhandlungen der Treuhandanstalt eingemischt, nicht ganz ohne Erfolg. Das hat auch die Walzwerker in Eberswalde-Finow ermutigt, sich zu widersetzen, nachdem sie am 20. Januar nach monatelangen Versicherungen zur Erhaltung von 1 350 Arbeitsplätzen erfuhren, daß mehr als die Hälfte davon beseitigt werden sollte. Inzwischen sind Investitionen in Höhe von 40 Millionen DM zugesagt, und die Treuhand hat die Reduzierung der Belegschaft zurückgenommen. Warum - so muß man fragen - funktioniert denn die Soziale Marktwirtschaft nicht so, wie uns versprochen wurde? Ich denke dabei insbesondere an die Wahlkampfreden zu den vier Wahlen im Jahre 1990. Wir zollen den hohen Transferleistungen aus den alten Bundesländern durchaus höchsten Respekt. Es ist sicher nicht einfach und auch auf die Dauer nicht durchzustehen, 100 Milliarden DM netto für die fünf neuen Länder bereitzustellen. Da diese Mittel jedoch zu großen Teilen in die soziale Abfederung geflossen sind, wird damit das Loch im Faß nicht gestopft, sondern nur nachgefüllt. Nach Umfrage des Ifo-Instituts hat die westdeutsche Industrie 1991 25 Milliarden DM investiert. Herr Grünbeck hat das hier ebenfalls gesagt. 1992 sollen es 36 Milliarden DM werden. Wir sind der Meinung, daß das angesichts der enormen Gewinne, die in Wirtschaft, Handel und Banken vielleicht gerade wegen der deutschen Einheit gemacht wurden, viel zuwenig Dr. Fritz Schumann ({0}) ist und in keinem Verhältnis zu den sozialen Aufwendungen steht, die ich damit keinesfalls diskriminieren will. Es geht darum, daß sich die Bundesregierung und auch der Bundestag ihrer Mittel und Möglichkeiten besinnen, um Investitionen und Engagement noch besser zu fördern und, wenn notwendig, auch zu befördern. Wir haben in unserem vorliegenden Entschließungsantrag auf solche Maßnahmen hingewiesen und nicht nur die Ausgangslage kritisiert. Lassen Sie mich auf meinen Ausgangssatz über das private Engagement zurückkommen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen - und das sollte mein zweiter Grundgedanke dazu sein -, daß mit dem privaten Engagement nur Bürgerinnen und Bürger aus den Altbundesländern gemeint sein sollten. Herr Wissmann, ich kann Ihre Worte nur begrüßen. - Leider ist er nicht mehr da. - Er hat hier davon gesprochen, daß sich auch die Bürger in den fünf neuen Ländern engagieren wollen. In der Realität stellt sich das aber so dar, daß speziell im produzierenden Gewerbe kaum nennenswerte Ergebnisse von Initiativen aus den neuen Bundesländern vor allem im industriellen Bereich zu sehen sind. Es muß doch zu denken geben, wenn von 20 000 Gewerbeanmeldungen im November 1991 44 % im Bereich Handel und Gaststätten liegen und ganze 9,5 % im produzierenden Gewerbe einschließlich des Baugewerbes, das sich natürlich positiv entwickelt hat. Ganz abgesehen von den 273 000 Gewerbeanmeldungen - auch diese Zahl ist hier schon mehrfach genannt worden, von Herrn Wissmann und auch von Herrn Grünbeck - in elf Monaten insgesamt, muß man aber dazusagen, daß in der gleichen Zeit insgesamt 89 000 Abmeldungen registriert wurden; das sind immerhin 32,6 %. Zu einer sauberen Bilanz gehört wohl beides: An- und Abmeldungen. Ich sehe den Grund nicht mehr darin, daß es zuwenig Engagement in der Bevölkerung der fünf neuen Länder gibt. Erst recht gibt es keine allgemeine Lethargie. Aber versuchen Sie einmal als ostdeutsche Bürgerin oder als ostdeutscher Bürger, ein produzierendes Gewerbe aufzubauen. Schon die erste Frage bei der Treuhand, nämlich die nach dem geeigneten Grundstück, wird zum Problem. Aber gerade produzierendes Gewerbe läßt sich eben nicht im Wohnwagen am Straßenrand oder im Bauwagen auf der Baustelle aufbauen. Also schaut man bei der Treuhandanstalt zum Beispiel im Angesicht des „O" vor der Postleitzahl schon sehr skeptisch drein, und unklare und offene Vermögensfragen tun ein übriges. Der Weg zu den Ämtern ist inzwischen sicherlich erleichtert. Aber dann kommen die große Frage nach dem Kapital und die Gegenfrage derjenigen, die es verwalten: Was sind denn Ihre Sicherheiten? Spätestens dann wird es für die meisten sehr kompliziert. Unter den Bedingungen der DDR war es eben nicht möglich, sich Kapital und Sicherheiten zu schaffen. Das war sicher eines der Probleme des Sozialismus - das gebe ich doch ehrlich zu -, daß sich Leistung eben nicht oder kaum in Vermögen verwandeln ließ und deshalb auch Leistung ausblieb, und zwar fortschreitend mehr, bis zum Untergang dieser Gesellschaftsordnung. Wollen Sie das aber den Menschen vorwerfen, die sich früher wegen des autoritären Systems nicht entfalten konnten und heute wieder ausgeschlossen werden, weil sie sich in diesem autoritären System keine Voraussetzungen schaffen konnten? Die von der Bundesregierung gebotenen Hilfen und Mittel reichen a) nicht aus - es sollten weitere Programme, speziell für Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern, aufgelegt werden - und sind vor allem b) nicht wirksam genug. So wird auch in der Bundesregierung der zögerliche Abfluß der Mittel registriert und durchaus beklagt. Veränderungen aber sind angesagt, die eine andere Einstellung, auch von den vielen Westimporten in den Verwaltungen, verlangen. Geld genug wird dafür wohl ausgegeben. Ich wurde gestern in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses Zeuge, wie ein Antrag der SPD zur Anerkennung von Meistern der Industrie als Handwerksmeister abgelehnt wurde, leider auch mit Stimmen von Abgeordneten der CDU aus dem Osten. Grundlage für diese Ablehnung waren rein ideologische Vorbehalte, weil Industriemeister angeblich zuviel Gesellschafts- und Parteipolitik gelernt hätten. Ganz abgesehen davon, daß das honorischer Quatsch ist, weil alle Ausbildungsrichtungen mit dem entsprechenden Anteil Marxismus-Leninismus-Unterricht gesegnet waren - das wissen zumindest alle, die im Osten gelebt und gelernt haben -, ({1}) geht es doch nicht darum, daß jemand gerne einen Titel tragen möchte. Es geht vielmehr darum, daß der Meistertitel schon für eine Gewerbeanmeldung und für die Ausbildung von Lehrlingen entscheidend ist. Wollen Sie mit dieser Ablehnung die große Gruppe von berufserfahrenen Menschen ausschließen, oder haben Sie Angst, daß diese Meister neue VEBs gründen? ({2}) Ich glaube, daß es genügend Themen gibt, bei denen wir als Bundestag und bei denen die Bundesregierung Rahmen schaffen kann, die die Entwicklung in den fünf neuen Ländern schneller als bisher befördern. Danke. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Lowack das Wort.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem das monströse Produkt in Maastricht unterzeichnet wurde, sollten wir uns doch noch etwas mit Herrn Gauweiler beschäftigen. Ich meine natürlich nicht seine Person und seine Wirkung auf die CSU - vor allen Dingen nachdem das Konzil in München bereits getagt hat -, sondern ich meine die Leute, die dahinterstehen. Das ist nicht nur der sehr angesehene Präsident der bayerischen Landeszentralbank; es ist auch der sehr angesehene Präsident des Sparkassenverbandes; ({0}) und dem Vernehmen nach sind das sehr gute Leute aus der Deutschen Bundesbank - alles keine Lumpen, sondern durchaus beachtenswerte Männer und Frauen, die hierzu Stellung nehmen können. ({1}) Ich weiß nicht, was eine „Esperanto-Währung" ist. Aber es bietet sich hier doch eine ganz interessante Parallele an. Wenn wir Esperanto in allen Ländern Europas unterrichten würden, trüge das zweifellos dazu bei, daß sich die Europäer besser verstehen. Es wäre allerdings ein großer Fehler, wenn wir die wunderschönen europäischen Sprachen durch das Esperanto ersetzen wollten. Ich sehe das ähnlich bei dem oder bei der - wir haben uns ja noch nicht geeinigt, welcher Artikel der richtige ist - ECU. Auch hier bin ich der Auffassung, daß der oder die ECU durchaus eine wichtige Funktion wahrnehmen könnte, wenn er oder sie neben den nationalen Währungen als eine europäische Währung bestünde. ({2}) Das hätte vor allen Dingen den großen Vorteil, daß zwischen den einzelnen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft noch ein Stabilitätswettbewerb möglich wäre, weil sofort deutlich wird, wer Stabilitätspolitik betreibt und wer nicht. Wenn ich allerdings eine einzige Währung europaweit einbringe, dann gehe ich gerade den Schritt, der es dem einen möglich macht, keine Stabilitätspolitik zu betreiben und damit seine Lasten im Grunde genommen auf die anderen abzuwälzen. Deswegen sehe ich hier durchaus ein Problem; das muß angesprochen werden. Theo Waigel hat sich etwas Besonderes einfallen lassen, indem er sagte, der oder die ECU würde eines Tages die härteste Währung werden. Das ist für mich nicht ganz frei von Zynismus. Denn im Grunde genommen sagt er damit ja nur, daß die Leitfunktion, die die D-Mark bei der Stabilität in Europa heute hat, in Zukunft mehr oder weniger auf andere übergeht. Hier liegt also eine sehr kritische Haltung zur künftigen Entwicklung der D-Mark zugrunde. Ein Schalk ist der liebe Theo sicher nicht, ({3}) auch wenn ich manchmal den Eindruck habe, daß er gerne in die Rolle eines Clowns schlüpft, wie das früher bei Fürstenhöfen nun einmal üblich war. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Alarmzeichen sind doch unübersehbar. Das Bruttoinlandsprodukt hält sich mit dem Bruttosozialprodukt deshalb nicht mehr im Gleichklang, weil die Einkommen aus Auslandsinvestitionen gegenüber den Einkommen aus Inlandsinvestitionen überproportional steigen. Wir haben bei der Inflation in der Zwischenzeit erlebt, daß sie der Bundesregierung längst entglitten ist. Die Zinsen werden - auch das müssen wir befürchten - nach einer Phase, in der sich jeder zurückhält, steigen. Noch etwas: Die Entwicklung der Handels- und Leistungsbilanz ist erschreckend. Es nutzt uns überhaupt nichts, wenn da Experten kommen und sagen, das liege daran, daß die Preise bei den Importen so hoch seien. Wenn man die Struktur der Importe durchgeht, stellt man im Grunde genommen etwas ganz anderes fest, daß nämlich der größte Teil der Zunahme bei den Importen darauf beruht, daß sie bei uns nicht investiv verwendet werden, sondern für den Konsum. Das bedeutet, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß die großen Transfers, die wir im Augenblick leisten und die für die nächsten drei oder vier Jahre vorgesehen sind, zu einem viel zu großen Anteil in den Konsum gehen und nicht in die Investition. Ich wage die Vorhersage, daß die Hoffnung der Bundesregierung, der schnelle Aufschwung in den neuen Bundesländern würde kommen, sich so nicht halten läßt. Uns wird die Luft ausgehen. Wir werden das Geld nicht mehr haben. Aber wir werden eine unglaubliche Zunahme der Verschuldung feststellen müssen, die wieder zu Lasten unserer Wirtschaft geht. Der Bundeskanzler hatte vor neun Jahren einmal eine Rede zum Haushalt 1983 gehalten. Ich muß sagen, ich habe mich mit dieser Rede voll identifizieren können, die ein Credo marktwirtschaftlicher Politik darstellt. In dieser Rede hieß es: Unsere vorrangige Aufgabe ist es, die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen. Unser Ziel ist es, den Staat wieder zu befähigen, seine Aufgaben zum Nutzen aller Bürger wahrzunehmen, ohne die heranwachsende Generation unserer Kinder mit einem riesigen Schuldenberg vorzubelasten. Alle öffentlichen Haushalte, einschließlich Bahn und Post, meine Damen und Herren, sind gegenwärtig mit rund 700 Milliarden DM Schulden belastet. Tag für Tag, jeden Tag muß die öffentliche Hand zusätzlich über 200 Millionen DM aufnehmen. Unerträglich ist das für uns, ich hoffe, für uns alle. Jawohl, Recht hat er gehabt, der Herr Bundeskanzler! Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Zwischenzeit sind wir bei 1 300 Milliarden öffentlicher Schulden angelangt, und die Zinsbelastung beträgt über 100 Milliarden DM mit einer steil aufsteigenden Tendenz, unter der wir alle leiden und unter der diese Wirtschaft leiden muß. Der Staat ist allmählich überfordert. Auch das hatte der Bundeskanzler damals festgestellt, indem er sagte: Meine Damen und Herren, unser Land ist in diese verhängnisvolle Situation gekommen, weil der Staat überfordert und damit seine finanzielle Grundlage erschüttert wurde, weil soziale Gerechtigkeit mit staatlicher Betreuung und Bevormundung verwechselt wurde und weil die Belastung der Wirtschaft, nicht zuletzt von Ihnen, meine Damen und Herren aus der Sozialdemokratie, im Übermaß erprobt wurde. Ich frage mich nur: Wo stehen wir denn heute? Merken wir nicht, daß der Standort - die Wettbewerbsfähigkeit, würde ich mit dem Kollegen Roth sagen - Deutschland immer schwieriger wird, daß der Substanzverlust beim Mittelstand alarmierend ist und daß die Verantwortungsbereitschaft abnimmt? Ich sage voraus, daß wir in zehn oder zwölf Jahren weniger Mittelstand haben werden als heute, weil die Verantwortung und die Belastung auf Dauer nicht mehr zu ertragen sind. Der Trend geht doch weg von der Einzelverantwortlichkeit und in die Großbetriebe hinein. Hier müßten wir einhaken. Hier muß die Belastung abgebaut werden. Nur, wo tut denn die Regierung etwas? Ich meine alle, die so freundlich dazu gesprochen haben. Dafür reist unsere Regierungsspitze, der Kanzler und der Außenminister, in aller Welt herum, und sie versprechen die tollsten Sachen. Es war der Bundeskanzler, der bereit war, 90 Milliarden DM innerhalb kürzester Zeit in ein marodes sowjetisches System zu stecken. Heute fehlt uns das Geld. Es wird stückchenweise auf den deutschen Steuerzahler zukommen, der das in irgendeiner Art und Weise bewältigen muß. Die Zusage an Polen kostet uns Hunderte von Milliarden als Nettozahler, wenn wir nicht in der Lage sind, das anders in den Griff zu bekommen, als bisher die Zusagen vorliegen. Ich bin wirklich der Auffassung, man sollte als deutscher Politiker nicht um polnische oder um ausländische Orden buhlen, es wäre wahrlich besser, wenn man deutsche Auszeichnungen ein bißchen höher hielte als die aus anderen Ländern. Was wir im Augenblick machen, ist eine unglaubliche Belastung. Wir übernehmen uns politisch im Inneren wie im Äußeren. ({4}) Wenn von den Erfolgen der deutschen Politik gesprochen wird, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dann hat das doch nichts mit der Führungsspitze dieser Regierung zu tun, sondern mit den Millionen Menschen draußen, die mit härtester Arbeit unter schwierigsten Bedingungen eine Lebensleistung erbringen, die uns nach außen als Staat effektiv gestaltet hat. Nur, diese Regierung wird dem nicht gerecht. Ich bitte Sie, daran mitzuwirken, vor allem nachdem ich in der „Financial Times" gelesen habe: „Chancellor Helmut Kohl behaves ever more as a law unto himself." Bitte üben Sie Ihre Kontrolle etwas ernsthafter aus, damit wir ein Europa der freiheitlichen Prinzipien und nicht nur der Institutionen bekommen, daß wir wieder mehr Volksnähe statt Distanz zu den Menschen haben und vor allen Dingen auch, daß wir wieder zu den alten Tugenden zurückkehren, die eine Entwicklung wie nach dem Krieg zu einem blühenden Gemeinwesen in Deutschland überhaupt erst ermöglicht haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Pohler das Wort.

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine kurze Bemerkung zu Herrn Schumann bezüglich der Industriemeister. Wenn Sie die Berichte der Handwerkskammer gelesen hätten, könnten Sie daraus entnehmen, daß von den Industriemeistern, die sich beworben haben, nur maximal 5 % abgelehnt wurden, und das in der Regel, weil sie sich branchenfremd beworben haben. Nach Rücksprache auch mit der Handwerkskammer dürfte, von diesen Zahlen ausgehend, eine gesetzliche Regelung nicht erforderlich sein, wenn die Möglichkeit der Zulassung besteht. Uns allen ist klar, daß sich eine sozialistische Mißwirtschaft nicht innerhalb eines Jahres und einiger Monate in eine blühende Marktwirtschaft verwandeln kann. Im ersten Jahr nach der Vereinigung wurde aber sehr viel erreicht. Ich möchte daher zunächst einige positive Signale nennen, die es für einen Aufschwung gibt. Im Handwerk hat sich die Zahl der Betriebe bis heute auf rund 150 000 nahezu verdoppelt. Seit Anfang des Jahres 1990 gab es insgesamt über eine halbe Million Gewerbeanmeldungen. Beim verarbeitenden Gewerbe ist das Tal nach dem Abbruch des Osthandels offensichtlich durchschritten. Während im April 1991 das Produktionsvolumen nur rund 60 % des Standes des dritten Quartals 1990 erreichte, lag es im November 1991 immerhin schon wieder bei rund 70 %. Bei der regionalen Wirtschaftsförderung Sachsens gab es bis zum 31. Dezember 1991 über 4 000 förderungsfähige Anträge in der gewerblichen Wirtschaft. Damit kann ein Investitionsvolumen von 23,2 Milliarden DM angeschoben werden. 1 500 Anträge sind bereits bewilligt worden. Damit sind 12 Milliarden DM Investitionsvolumen und fast 50 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden und 35 000 bestehende Arbeitsplätze erhalten geblieben. Die vielgescholtene Treuhandanstalt arbeitet mit immensem Privatisierungstempo. Insgesamt werden pro Tag durchschnittlich 20 Unternehmen privatisiert. Damit sind Zusagen für Investitionen in Höhe von rund 26,3 Milliarden DM und 260 000 Arbeitsplätze verbunden. Trotz vieler positiver Signale, trotz der Transferleistungen nach Ostdeutschland von rund 140 Milliarden DM allein im Jahre 1991 befindet sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern nach wie vor in einem schwierigen Anpassungsprozeß. Der wirklich schwierige Teil der Privatisierung steht noch aus. Bei strukturbestimmenden Betrieben ist die Zusammenarbeit der Länder und der Treuhandanstalt zu verbessern. Erforderliche strukturpolitische Entscheidungen können nicht der Treuhand allein überlassen werden. Nach wie vor gilt jedoch: Privatisierung ist der beste und kostengünstigste Weg zur Sanierung. Aber nicht jeder sanierungsfähige Betrieb ist kurzfristig zu privatisieren. Betriebe mit bestätigtem Sanierungskonzept brauchen Zeit zur Umsetzung des Konzeptes. Diese Zeit und die erforderliche Unterstützung sollten ihnen gewährt werden. Neue Aufgaben erfordern neue Lösungswege. Keinesfalls bedeutet dies aber eine Änderung des Treuhandgesetzes. Ein vernünftiges, neues Konzept wäre es z. B. unter Mitwirkung der Treuhandanstalt mit Beteiligungsgesellschaften zu arbeiten. Neue Wege sollen beispielsweise auch mit dem Sachsen-Fonds beschritten werden, der u. a. durch Gelder von Banken, Dienstleistungsunternehmen und der Industrie finanziert werden soll. Mit seiner Hilfe sollen sanierungswürdige und sanierungsfähige Betriebe gekauft und nach erfolgreicher Sanierung gegebenenfalls weiterverkauft werden. Wesentlich bei allen Lösungen ist, daß es sich nicht um Privatisierungen durch eine Staatsholding handelt. Die Unternehmen müssen vielmehr stets privatwirtschaftlich geführt werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einige Bemerkungen zur Vergabe der Hermes-Kredite machen. Auf sie kann zur Aufrechterhaltung des Osthandels in der jetzigen Situation nicht verzichtet werden. Für viele Betriebe in den neuen Ländern sind sie zur Existenzfrage geworden. Bei der Vergabe der begrenzten Mittel sollten jedoch verstärkt strukturbestimmende und sanierungsfähige Betriebe beteiligt werden. Ein tragbares Konzept zur Sanierung und Erschließung neuer Märkte muß hier zur wesentlichen Grundlage für den Erhalt der Bürgschaften werden. Es darf nicht sein, daß die Mittel zur Festigung nichttragfähiger Strukturen genutzt werden. Größtes Problem und größtes Hemmnis sind noch immer die ungeklärten Eigentumsverhältnisse. Die Erfahrungen, die ich in meinem Wahlkreis in Leipzig machte und die viele meiner Kollegen in gleicher oder ähnlicher Form machen, zeigen: Bei der Klärung der offenen Vermögensfragen muß eingestanden werden, daß die Vorfahrtsregelung für investive Maßnahmen in der bestehenden Form nicht greift. Hier gibt es deutlichen Handlungsbedarf. Nicht das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" ist falsch. Eigentum ist einer der wesentlichen Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Dies gilt für die Menschen in den neuen Bundesländern in besonderer Weise. Jedoch mit nur ca. 2 000 Mitarbeitern in den Vermögensämtern können die rund 1,2 Millionen Vermögensanträge nicht entsprechend zügig bearbeitet werden. Diese Personalknappheit in den Vermögensämtern muß endlich beseitigt werden. Hier bedarf es weiterer Verwaltungshilfe oder auch Beschäftigung von Mitarbeitern auf Honorarbasis. Einen weiteren Zeitverzug können wir uns nicht erlauben. Aber auch der Inhalt der Vorfahrtsregelung muß verbessert werden. Der Vorschlag von Bundesjustizminister Kinkel, daß mit dem Gesetz zur Änderung des Vermögensrechts die Vorfahrtsregelung bis Ende 1995 verlängert werden soll, ist zu begrüßen. Noch wichtiger ist aber, daß der Investor, dem das Grundstück zugewiesen wurde, schneller Klarheit erhalten muß. Es ist richtig, daß sich der Alteigentümer innerhalb kurzer Zeit zu entscheiden hat, ob er gegen die Maßnahme einstweiligen Rechtsschutz beantragen will oder nicht. Richtig ist auch, daß er sich in einer Frist von zwei Wochen mit allen Argumenten gegen das Investitionsvorhaben gewendet haben muß. Es kann nicht angehen, daß der Alteigentümer durch stetes Nachschieben neuer Einwendungen oder wiederholter eigener Investitionsvorschläge das Projekt immer wieder verzögern kann. ({0}) Nur auf diese Weise kann die Vorfahrtsregelung tatsächlich enthemmend wirken. Jetzt stellt sie oftmals ein Investitionshemmnis dar. Sie wirkt sich negativ auf Investitionen und in den Kommunen aus. In Leipzig können z. B. aus diesem Grund ganze Straßenzüge nicht bearbeitet werden. Abschließend möchte ich etwas zum Steuerpaket 1992 sagen, über das morgen im Bundesrat entschieden wird. Zu Beginn hatte ich auf die steigende Produktion in den neuen Ländern hingewiesen. Wie wir alle wissen, ist das Produktionsniveau in den neuen Ländern jedoch gering und sind die Steuereinnahmen also niedrig. Die neuen Bundesländer sind auf den Fonds Deutsche Einheit angewiesen. Er war Kernstück des Vermittlungsergebnisses. Immerhin bedeutet dies 31,3 Milliarden DM zusätzliche Finanzmittel für die neuen Bundesländer bis 1994. Die SPD, die sich schon gegen die äußere Einheit gewandt hat, hat nun die Gelegenheit, zu zeigen, daß sie die innere Einheit und die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse wirklich will. ({1}) Nicht Worte, sondern Taten zählen. Danke schön. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile der Abgeordneten Anke Fuchs das Wort.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Grünbeck, auch ich bin durch diese Debatte ein bißchen beunruhigt. Ich will in meinem kurzen Beitrag nicht das herausarbeiten, worin wir einig sind, sondern will die grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen erläutern. Es geht auch gar nicht darum, daß heute grau in grau gemalt worden sei, wie Sie sagten. Eine ganze Menge läuft phantastisch. Es gibt eine ganze Menge an Zuversicht, und es gibt Signale, die positiv stimmen. Dennoch gibt es - das will ich an drei Beispielen klarmachen - in der Frage, wie wir die Übergangszeit regeln können, eklatante Unterschiede zwischen Ihnen und uns. Der erste Teil ist die Frage der Eigentumsregelung. Das habe ich gerade eben wieder gehört. Da sind Sie eben uneinsichtig. Da machen Sie eben wieder ein falsches Gesetz: Wir Sozialdemokraten sagen: Von Beginn an war es falsch, den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" zu installieren. Daran krankt die ganze Investitionsarbeit im Osten. ({0}) Der zweite Teil ist die Industriepolitik. Ich weiß, Herr Möllemann mag nicht einmal das Wort in den Mund nehmen. Aber der Kern ist doch nicht, daß wir in der Sozialen Marktwirtschaft viele neue Unternehmen wollen, weil wir wissen, daß es damit neue Anke Fuchs ({1}) Arbeitsplätze gäbe, Gewinne gäbe usw., sondern der Kern ist, daß wir nicht zulassen dürfen, daß der Osten Deutschlands entindustrialisiert wird. ({2}) Wer das nicht will, muß Industriepolitik betreiben, meine Damen und Herren. Das ist heute morgen erläutert worden. Das ist der Kernansatz, bei dem Sie falsch liegen. ({3}) Noch so viel Mittelstandspolitik, alle Förderungsinstrumente, zu denen wir stehen und die wir begrüßen, werden nichts nützen. Der Industriestandort frühere DDR wird kaputtgehen, wenn Sie nicht endlich auf unsere Vorschläge einer vernünftigen Industriepolitik eingehen. Dann gibt es einen großen Unterschied. Ich gebe zu, Graf Lambsdorff hat das Wort „Arbeitslosigkeit" in den Mund genommen. Alle anderen haben achselzuckend zur Kenntnis genommen, daß wir mehr als 3,5 Millionen Menschen ohne Arbeit haben. Ich sage Ihnen: Es wird unerträglich für die demokratische Entwicklung, wenn wir das einfach so hinnehmen. Ich weiß, daß Wirtschaftspolitiker immer wieder gesagt haben, die Arbeitslosigkeit sei die Restgröße einer wirtschaftlichen Entwicklung, und die hätten wir hinzunehmen. Ich meine, es kann nicht angehen, daß wir sozusagen tatenlos zuschauen, wie 3,5 Millionen Männer und Frauen nicht in der Lage sind, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch hier sind Sie mit allem, was Sie an Arbeitsmarktmaßnahmen anbieten, viel zu kurz gesprungen. ({4}) Da geht es um Menschen, nicht nur im Osten. ({5}) Herr Glos, Sie haben so schön geschrieben, „es geht uns glänzend", „zehn Jahre Aufschwung", „oh, wie ist alles schön". Das ist die eine Seite der Realität. Die andere Seite der Realität - das hat etwas mit Ihrer Politik zu tun - ist, daß wir auch im Westen zunehmende Armut haben, daß wir im Westen Langzeitarbeitslosigkeit haben, daß wir im Westen Wohnungsnot haben. Deswegen bedeutet eine Politik, bei der Sie sagen: „ihr kleinen Leute, verzichtet nun mal, indem ihr durch größere Preise über Mehrwertsteuererhöhung noch mehr gebeutelt werdet, damit es im Osten besser geht", eine verteilungspolitische Schieflage. Deswegen müssen wir bedenken, daß es nicht nur um Ost und West geht, sondern auch um die Bekämpfung des Unterschieds von arm und reich. Wir Sozialdemokraten bleiben bei dem Wort: Wir wollen eine solidarische Gesellschaft und keine Ellenbogengesellschaft aufbauen. ({6}) Der dritte Punkt, bei dem Sie zu kurz springen, ist die Arbeitsmarktpolitik. Ich weiß ja, daß das alles für den Wirtschaftsminister schwierig ist. Er hat da lernen müssen. Ich verstehe auch, daß Sie einiges von uns übernommen haben. Aber immer dann, wenn Sie etwas übernehmen, obwohl Sie es eigentlich nicht wollen, machen Sie es zu kurz und zu knapp und zu eng. Wie man in dieser Zeit, bei einer stagnierenden Entwicklung, auf die Idee kommen kann, im Westen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu kürzen, ist mir unbegreiflich. Hier müßte jetzt eigentlich im Westen wie im Osten geklotzt werden. Statt dessen wird eingeschränkt, wo immer man es nur kann. Dabei steht in allen Berichten folgendes - dabei nehme ich FDP-Ideologie auf -: ({7}) Es muß doch eine Brücke da sein. Wir wissen, daß wir mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, mit Umschulung, mit Fortbildung, auch mit Kurzarbeitergeld, mit Altersruhegeld einen Teil der Arbeitslosigkeit haben auffangen können. Dann muß man doch sagen: Wenn das so ist und wenn sich das heute als eins der wichtigsten Instrumente herausstellt, dann muß man doch diese Instrumente so ausbauen, daß sie noch mehr tragen, und man darf nicht ganz schnell wieder auf die Idee kommen, zu fragen: Wie können wir es einschränken? Diese Hü-und-hott-Politik macht das Ganze doch kaputt. ({8}) Deswegen liegen Sie auch falsch, Herr Möllemann, wenn Sie sagen: auf sechs Monate begrenzen. Das zeigt ebenfalls, daß Sie nicht ganz begriffen haben, was diese ganzen Maßnahmen bedeuten. ({9}) - Unser Vorschlag ist, nicht auf sechs Monate zu begrenzen. Unser Vorschlag ist, eher daran zu denken, wie man qualitativ etwas machen kann, wie man Umschulung und Fortbildung hineinnimmt. ({10}) Man muß aber auch ganz knallhart sagen: Solange wir andere Arbeitsplätze nicht anzubieten haben, werden ganz normale Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im größtmöglichen Maß angeboten. ({11}) Denn wir wissen doch auch: In den neuen fünf Bundesländern liegt die Arbeit geradezu auf der Straße. Es gibt so viel zu tun, daß es sinnvoller ist, die Arbeit über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu organisieren, als daß wir die Leute zu Hause sitzen lassen und den Anschluß an die Gemeinschaft verlieren lassen. ({12}) - Nein, Sie wollen sie jetzt auf sechs Monate beschränken. Daran sehen Sie, daß das auch ein qualitatives Element hat, auf das ich in dieser Frage hingewiesen haben wollte. ({13}) Graf Lambsdorff hat recht bei dem, was er zu den Fünfzigjährigen sagte: Es kann auf die Dauer nicht so sein, daß wir ihnen einen schäbigen Altersruhestand Anke Fuchs ({14}) anbieten, und das war es dann. Ich sage noch einmal: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist zu zwei Drittel zu Lasten der Frauen gegangen. Ich denke, wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, so schwierig das ist - auch durch Ausfahren der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, auch durch die Überlegung, wie wir die Frauen im Arbeitsprozeß belassen können -, damit sie nicht die Verlierer der jetzigen Entwicklung sind. Deswegen sage ich Ihnen: Der dritte Punkt, bei dem Sie schiefliegen - neben der Eigentumsideologie, neben der mangelnden Industriepolitik -, betrifft den Arbeitsmarkt und die Chancen, die die Arbeitsmarktpolitik heute bietet. Ich will auf das eingehen, was heute in der Debatte schon anklang. Es war wieder das alte Strickmuster: Die Regierung macht alles richtig, den Menschen geht es eigentlich insgesamt gut, wer auf die Probleme hinweist, ist ein Schwarzmaler, und wenn es Probleme gibt, haben die anderen, nämlich die Gewerkschaften, schuld. ({15}) Das kennen wir ja auch: Lohnerhöhungen sind immer falsch. ({16}) Entweder wird die Konjunktur abgebrochen oder sie wird angeheizt. Deswegen möchte ich aus sozialdemokratischer Sicht einmal ganz deutlich sagen, Herr Möllemann: Ich weiß, daß die Arbeitnehmer, ihre Betriebsräte und ihre Gewerkschaften die Betriebe sehr gut kennen. Sie kennen auch die Branchen, und sie kennen die gesamten ökonomischen Probleme. Denen vertraue ich sehr viel mehr als Ihren Aussprüchen zur Tarifautonomie, meine Damen und Herren. ({17}) Das war immer ein schwieriges Problem. Zuzugeben ist, daß Löhne auch Kosten sind. Aber Löhne sind auch Kaufkraft. Wenn Sie den Menschen auf Dauer niedrige Löhne verpassen, dann können sie die Produkte nicht kaufen. Ein Teil unseres wirtschaftlichen Erfolges liegt auch daran, daß wir mit guten Löhnen gute Produkte haben kaufen können. Deswegen bedenken Sie bitte immer, daß Löhne auch kaufkraftorientiert gezahlt werden müssen und deswegen nicht nur des Teufels sind. Nun sage ich dazu:

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sind Sie, bevor Sie das sagen, bereit, eine Frage zu beantworten?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Abgeordneter Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Fuchs, ich würde Sie gerne fragen, ob Sie hier in der Debatte jemandem von uns unterstellt haben, daß wir auf die Dauer niedrige Löhne gefordert hätten. Es klingt gerade so in Ihrer Erwiderung.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das haben Sie alle gefordert: nur mäßige Lohnabschlüsse, oder Möllemann sagte: nur 4 % - damit hat er nämlich die 6 % erst provoziert; das hat er immer noch nicht begriffen. ({0}) Überall wird gesagt, wenn es schwierig wird, sollen die Gewerkschaften Zurückhaltung üben. ({1}) - Überall steht: maßvolle Lohnabschlüsse, eigentlich ist das viel zu hoch. Herr Möllemann hat gesagt: nicht mehr als 4 %. Das haben Sie alle so gesagt. Wenn Sie mir jetzt zustimmen, bitte ich auch um Beifall, wenn ich sage: ({2}) Wir haben Tarifautonomie. Wir trauen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern zu, daß sie wie in der Vergangenheit verantwortungsbewußt Tarifverträge abschließen. Dann ist das Thema erledigt. Dann müssen Sie jetzt aber klatschen. - Das tun Sie nicht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Möllemann kann auch deswegen nicht klatschen, weil er Ihnen eine Frage stellen möchte. Vielleicht wollen Sie sie auch beantworten.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Fuchs, mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, wie Sie die Anregung der geschätzten Kollegin Frau Simonis bewerten, für den öffentlichen Dienst einen Abschluß mit nicht mehr als einer 3 vor dem Komma anzustreben, ({0}) und wie Sie den diesbezüglichen Vorschlag von Helmut Schmidt, der Ihnen ja ebenfalls noch bekannt ist, bewerten, nunmehr eine reale Nullrunde für diesen Bereich vorzusehen. ({1}) - Er hat sogar gesagt: für zwei Jahre; Sie haben recht. Da das ja beides ausgewiesene Sozialdemokraten sind, deren Sachverstand jedenfalls Sie nicht in Zweifel ziehen werden, ist es denn aus Ihrer Sicht so fatal, wenn der ehemalige Bundeskanzler und eine amtierende Finanzministerin das gleiche sagen wie der Bundeswirtschaftsminister, der nur etwas großzügiger gewesen ist? ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bleibe dabei: Wir haben Tarifautonomie. Wer immer sich äußert, muß wissen, daß er damit eher höhere Abschlüsse provoziert als niedrigere. Nun komme ich zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Frau Simonis, meine gute Parteifreundin, ist in diesem Rahmen Arbeitgeberin; das ist doch völlig klar und logisch. Sie spielt die schwierige Rolle, mit wenig Geld einen Tarifabschluß hinzubekommen, der in etwa dem entspricht, was sie einbringen kann. Ich finde, das ist eine Rolle, die völlig in Ordnung ist. ({0}) Aber wenn die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes dank Ihrer Verschuldenspolitik inflationsbedingt hohe Zinsen zahlen müssen, wenn eine Abgabenhöhe da ist, die so hoch ist wie lange nicht, und wenn sie mehr Steuern zahlen müssen, dann ist es doch völlig klar, daß die für den öffentlichen Dienst zuständige Gewerkschaft die Interessen ihrer Arbeitnehmer vertreten muß. Solange Sie nicht in der Lage sind, auf eine Senkung der Unternehmensteuern zu verzichten, kann ich es den Menschen im öffentlichen Dienst nicht verdenken, wenn auch sie ihren Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung haben wollen, meine Damen und Herren. Hinzu kommt folgendes: Ich denke, wir sind uns darin einig, daß wir aufpassen müssen, daß wir den öffentlichen Dienst nicht global beschimpfen. ({1}) Denn in den letzten Jahren - das will ich einmal sagen - haben, soweit ich es beurteilen kann, sehr viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes eine überproportionale Leistung erbracht, was die Einigung der beiden deutschen Staaten anbelangt. Da gab es viel zusätzliches Engagement; ({2}) da gab es viel zusätzliche Arbeit. Ich sehe überhaupt nicht ein, meine Damen und Herren, wenn jetzt so getan wird, als ob sich ihre Interessenvertretung nach einer konservativen Steuerpolitik zu richten hätte. ({3}) Deswegen unterstütze ich die Rollenverteilung. Ich finde auch, der Ministerpräsident - er ist nicht mehr da - hat unrecht, wenn er sagt, die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst im Osten sollten auf Einkommen verzichten. ({4}) Ich komme wieder zu meinem Nachfrageinstrument und sage noch einmal: 10 % der dort beschlossenen Tariferhöhungen kommen über Steuern wieder herein. Herr Präsident, jetzt lasse ich eine Frage zu.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Jetzt wollen wir die Frage noch zulassen. Dann würde ich aber bitten, so langsam mit der Fragerei aufzuhören; sonst ist die Zeit zur Beantwortung von Fragen länger als die eigentliche Redezeit. Herr Abgeordneter Glos, bitte.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Fuchs, da ich die Frau Landesministerin Simonis aus ihrer Zeit im Haushaltsausschuß als eine äußerst sachkundige und engagierte Kollegin, die alles, was sie betrieben hat, mit großer Ernsthaftigkeit getan hat, kenne, erlaube ich mir, Sie zu fragen, ob Sie ihre Verhandlungsführung als eine Art Spiel, als eine Art Kuhhandel, bei dem man mit Angeboten kommt, die niemand akzeptieren kann, darstellen wollen? ({0}) Denn Sie haben es hier als einen eigentlich ganz normalen Vorgang bezeichnet, wenn sie mit so niedrigen Angeboten einsteigt.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist auch normal, und das ist Ihre Rolle. Ich habe nicht von „Spiel", sondern von „Rolle" gesprochen. Sie verstehen nicht, wie in Betrieben in der organisierten Arbeitnehmerschaft Forderungen aufgestellt werden. Das ist ein langer Prozeß, in dem eine ganze Menge Betrachtungen angestellt werden, z. B. auch Betrachtungen über Flexibilität und Arbeitszeit. Wir haben in unseren Betrieben die längsten Maschinenlaufzeiten und die kürzeste Arbeitszeit. Das heißt, alles, was wir unter dem Stichwort Wettbewerbsfähigkeit diskutieren, ist ja in der Realität der Betriebe ganz anders, als es hier in den abstrakten Debatten manchmal zum Vorschein kommt. Frau Simonis muß das gewichten; es ist eine schwierige Aufgabe. Aber ich sage noch einmal: Es wäre völlig falsch, wenn man in dieser Situation den Eindruck erweckte, als ob es nicht berechtigte Interessen der Arbeitnehmerschaft, auch der im öffentlichen Dienst, gäbe, die in Tarifverhandlungen einzubringen sind. ({0}) Mein letzter Gedanke ist, meine Damen und Herren - ich habe zu Wettbewerbsfähigkeit und Standortfragen schon etwas gesagt, ich glaube, der Kollege Roth hat zu Recht darauf hingewiesen -: Die Wettbewerbsfähigkeit wird immer dann in Frage gestellt, wenn es einmal wieder um die Forderung nach Steuersenkungen geht oder um die Forderung nach Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. ({1}) Wettbewerbsfähigkeit heißt doch: die Infrastruktur beachten, d. h. Schule, d. h. Hochschule, d. h. Verkehrspolitik und d. h. Verläßlichkeit in der Politik, die die Unternehmen brauchen, z. B. in der Umweltpolitik. Daß es da Probleme gibt und daß man darüber miteinander im Gespräch sein muß, das, glaube ich, werden wir alle miteinander gerne wollen. Deswegen fasse ich meinen Diskussionsbeitrag so zusammen und sage: Ich bedauere, daß wir in den drei ideologi6338 Anke Fuchs ({2}) schen Blockaden mit Ihnen nicht weiterkommen. Ich mahne uns alle, daran zu denken, ({3}) was es für die Zuversicht in eine demokratische Entwicklung bedeutet, wenn nach dieser Debatte die 3,5 Millionen arbeitslosen Menschen den sicheren Eindruck haben müssen: Es bleibt so wie es ist; die Regierung beschönigt alles. - Das kann nicht ihre Antwort sein, meine Damen und Herren. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Friedhelm Ost.

Friedhelm Ost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001659, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeitsteilung bei den Freunden der SPD war ja sehr interessant. Der Kollege Klose als Kolumbus der Ökonomie ({0}) mit großen Zeitzeugen. Ich hoffe, daß das „Handelsblatt" für die SPD jetzt zur Tageslektüre wird und daß sie sich nicht nur an einem Artikel aus dem Januar dieses Jahres von Hans Mundorf, sondern an all den Weisheiten orientiert, die Hans Mundorf sonst in der Steuer-, Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltschutzpolitik von sich gibt. Dies hat etwas mit dem „Kursbuch" des DGB zu tun. Das habe ich schon gemerkt und auch zu dem Standort Deutschland angemerkt. Hier gibt es Nachholbedarf, nachdem man bei der Diskussion über Arbeitszeitgestaltung Verwirrung gestiftet hat. Herr Kollege Roth, das war ein Versuch, endgültig ein Konkurrent zum Weltökonomen Schmidt zu werden. ({1}) Lieber Herr Kollege Roth, es war nachher sehr schwer, vor allem bei der Interpretation der großen Kapitalmarkt- und Zinspolitik. Da war es doch mehr der Hackethal der Wirtschaftspolitik, den wir hier gehört haben. Frau Kollegin Fuchs, ich gebe Ihnen recht, es geht hier nicht um Schwarzweißmalerei oder um Rechthaberei. Natürlich ist die soziale Marktwirtschaft wie keine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fähig, weil sie keine Ideologie ist, sich dynamisch anzupassen, neue Dinge aufzunehmen. Nur sage ich Ihnen auch bei Ihrem großen Vertrauen in die Tarifpartner - das haben wir ja alle -, es war kein geringerer als Helmut Schmidt, der Null-Runden gefordert hat. ({2}) - Das kann ja sein. Ich hoffe, daß Sie ihm das auch selber sagen. Aber ich denke auch, daß der Wirtschafts- und auch andere Minister, die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik, für die wirtschaftliche Entwicklung tragen, ein Recht haben, sich in die Diskussion einzuschalten. Sie haben doch nach konzertierter Aktion gerufen. Karl Schiller war ein großer Freund von Lohnleitlinien. Ich selber habe mit großer Freude im Unternehmensteil gelesen, daß es die berühmte Gruppe des Beamtenheimstättenwerks in Hameln gibt. Diese Gesellschaft streicht 700 Arbeitsplätze. Die Begründung ist ganz gut, die Anteilseigner dieser Gesellschaft - das sind der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Deutsche Beamtenbund -({3}) wünschen nämlich eine Verbesserung der Ertragslage. ({4}) - Das ist ja richtig. Nur, diese Bausparkasse war in Ihrem Sinne ganz fortschrittlich, so fortschrittlich, daß sie die 35-Stunden-Woche eingeführt hat in der Hoffnung, daß andere die Regelung auch übernehmen. Sie kann sie jetzt nicht halten und muß 700 Leute entlassen. Dies zeigt, glaube ich, sehr deutlich - an einem, kleinen Beispiel, aber die praktischen Beispiele sind die besten -, daß in der Tat die Erträge von heute die Investitionen von morgen und auch die Arbeitsplätze von morgen und die Einkommen von übermorgen sind und daß es wenig bringt, wenn wir weiter solche Parolen hören wie „Verteilung von unten nach oben" . Wenn man sich die variantenreiche Ablehnung des Steueränderungsgesetzes durch die SPD vor Augen führt, so hat man bei der Begründung bisweilen den Eindruck, daß Sie immer noch so etwas wie Nostalgie in bezug auf den Sozialismus haben. Sie schüren Angst und Neidkomplexe, Sie machen Front gegen sinnvolle steuerpolitische Maßnahmen zur Förderung von Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, vor allem auch von betrieblichen Investitionen im Mittelstand, fordern zugleich für alles und jedes mehr Geld, rufen dann, aufgeschreckt durch Frau Matthäus-Maier, immer nach mehr Konsolidierung des Bundeshaushalts, verlangen aber zugleich wieder eine Aufstockung großartiger Hilfen und sagen nicht, wie dies bezahlt werden soll, verweigern aber die Zustimmung zum Steueränderungsgesetz. ({5}) Ich sage Ihnen: Die SPD ist in der Tat ein Sicherheitsrisiko für die Konjunktur, für die Beschäftigung und für den Aufschwung in den neuen Ländern geworden. ({6}) Die rasche Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes hätte positive Wirkungen auf die Konjunktur. ({7}) - Doch. - Eine Solidaritätsabgabe würde - das muß man sehr deutlich sagen - die Leistung gerade derjenigen einschränken, die viel Leistung erbringen, nicht nur der reichen Leute - Herr Penner, deswegen rufen Sie jetzt „Ja" -, sondern auch der Facharbeiter und der Meister, der tüchtigen Ingenieure. Eine VerFriedhelm Ost abschiedung des Steueränderungsgesetzes hätte in der Tat eine Erhöhung des Kindergeldes zur Folge. Sie, die Sozialdemokraten, waren ja ein großer Verfechter der Kaufkrafttheorie. Sie ist etwas angestaubt, aber ein höheres Kindergeld mag ja noch die Kaufkraft stärken. ({8}) Selbst die Bauförderung würde noch verbessert mit der Folge, daß die Konjunktur weiter gestärkt würde. Sie sind in der Tat diejenigen, die hier immer Solidarität anmahnen, aber Sie sind unsolidarisch mit den Menschen in Ostdeutschland. Mit der Beschwörung von Krisen und Katastrophen kommen wir in der Tat nicht weiter. Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Ich bin der Meinung - darin stimme ich sogar der Analyse des DGB voll zu -, der Wirtschaftsstandort Deutschland ist ein guter Standort. ({9}) - Sie können alle klatschen. - Sie können das ja nachvollziehen an Hand der vom DGB vorgelegten Daten und Fakten. - Lieber Herr Kollege Schwanhold, Sie können das ja nachvollziehen und nachlesen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist deshalb ein guter Standort, weil in den 80er Jahren die Standortfaktoren durch eine konsequente Politik der Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft nachhaltig verbessert worden sind. Ich sage Ihnen: Die Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft muß fortgesetzt werden, weil - das sehen Sie übrigens bei jeder Olympiade und bei jeder Weltmeisterschaft und bei jedem Europapokal - auch die Konkurrenten besser geworden sind. Österreich und Frankreich und auch andere sozialistisch oder sozialdemokratisch regierte Länder haben gemerkt, daß man die Rahmenbedingungen kontinuierlich verbessern muß, wenn man für Wachstum, Wettbewerb, Beschäftigung und Einkommen sorgen will. Mit einer Puppenstubenstrategie, wie sie von einigen SPD-Politikern in der Tat empfohlen oder wie sie in einigen SPD-regierten Ländern inzwischen auch betrieben wird, können wir weder im Europapokal noch bei der Weltmeisterschaft einen Titel holen. Schauen Sie sich einmal Nordrhein-Westfalen an, das ja schon etwas zu lange von der SPD regiert wird. ({10}) - Es wird schlecht verwaltet, nichts gegen den öffentlichen Dienst, aber gegen die Landesregierung. - Dort wird der Ausstieg aus modernster zukunftsträchtiger Technologie praktiziert. Herr Klose hat es angemahnt; auch Herr Kollege Roth hat es doch angemahnt, etwa im Energiebereich. Sie haben doch auch die Umweltkrise hier mit beschworen. ({11}) Der Schnelle Brüter, der Hochtemperaturreaktor: All dies sind Zukunftstechnologien. ({12}) - Nein; ich komme gleich noch auf die Kohle zu sprechen. - Schauen Sie sich die Konzeptionslosigkeit Nordrhein-Westfalens in der Strukturpolitik an! Schauen Sie sich die Bildungs- und Schulpolitik an! Die SPD selber ist ja mit dem Kultusminister nicht zufrieden. Nur beim Denkmalschutz, insbesondere in bezug auf neuzeitliche Industriedenkmäler, entfaltet sich gewaltige sozialdemokratische Dynamik in Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ihnen: Mit einer solchen Museumspolitik können wir in der Tat nicht der moderne Standort Deutschland bleiben. ({13}) Was wichtig für die Zukunft ist - darauf könnten wir uns vielleicht alle verständigen -: Die Quelle unseres Wohlstandes, die Quelle für die Beschäftigung und für wirtschaftliches Wachstum ist unsere Produktivität. Dazu müssen wir - auch Sie - in der Tat vergessen, was Karl Marx einmal über das Kapital geschrieben hat. Das hat das Kapital sozusagen in Verruf gebracht. ({14}) - Sie sind Spezialistin, Frau Kollegin. Ich weiß das. ({15}) Wir brauchen Humankapital. Wir müssen mit diesem Humankapital pfleglich umgehen und es gut qualifizieren. Wir müssen es gut einsetzen und auch nutzen. ({16}) - Ich bin ganz Ihrer Meinung: Wenig Arbeitslosigkeit oder Vollbeschäftigung muß unser Ziel sein, und zwar Vollbeschäftigung von gut qualifizierten Menschen. Sie haben völlig recht: Wir brauchen für die Phase des Übergangs gewaltige Anstrengungen. Sie werden auch gemacht. Sie sind sogar verstärkt worden. Wir brauchen Investitionskapital. Investitionskapital fällt nicht vom Himmel. Es gibt auch nicht irgendwo eine Quelle, sondern es muß erbracht werden. Es muß verdient werden. Deswegen sage ich Ihnen nochmals, was Karl Schiller Ihnen vor langer, langer Zeit, auf dem Bonner SPD-Parteitag, gesagt hat: Erträge sind in der Tat notwendig für Investitionen und Arbeitsplätze. Nehmen Sie deswegen Abschied von Ihrer Ideologie, ({17}) auch bei der Steuerpolitik. Wir sind nach wie vor ein Hochsteuerland und ein Hochlohnland. Wir müssen davon herunter. Freunden Sie sich endlich damit an, damit mehr Erträge und mehr Arbeitsplätze kommen und wir weniger Arbeitslose haben. ({18}) Wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht sehr aufmerksam lesen, finden Sie gute Anregungen. Es ist ein verläßliches Kursbuch, das in einem zweifellos schwierigen internationalen Fahrwasser Zukunftsorientierung vermittelt. Ich komme gerne noch auf die Energiepolitik zurück, Frau Kollegin Fuchs. Ich glaube, wir brauchen angesichts der dramatischen Veränderungen in der letzten Zeit in Mittel- und Osteuropa in der Tat einen neuen Konsens über Kohle, Kernenergie und soweit wie möglich regenerative Energien. Wenn Sie möglichst bald aussteigen wollen, tun Sie so, als ob Sie ganz alleine auf einer Insel sitzen. Tschernobyl kann jeden Tag wieder passieren, 18mal, mit schrecklichen Dimensionen. Sie übernehmen überhaupt keine Verantwortung. Sie müßten sagen: einsteigen statt aussteigen. ({19}) Aber wahrscheinlich sind Sie unbelehrbar. Deutschland steht vor großen Herausforderungen, die wir mit gewaltigen Anstrengungen, insbesondere auch mit dem Mut zu Innovationen auf allen Feldern anpacken müssen, nicht nur im Bereich der Technologie. Das gebe ich Ihnen zu. Das ist ein Feld von vielen. Wir brauchen Chips und Grips. Wir brauchen auch soziale Innovationen. ({20}) Wir dürfen uns nicht selbst die Zukunftschancen verbauen, sondern müssen jetzt den Kurs der Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft bei uns sehr konsequent fortsetzen, um weitere wirkliche Fortschritte im Umweltschutz, im Sozialbereich, beim Wohlstand für alle und vor allem auch bei der notwendigen Hilfe für unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa, aber auch für die Entwicklungsländer zu verdienen. Wenn wir hier weiter ertragreich wirtschaften, wenn wir hier ein hohes Maß an Beschäftigung haben, werden wir auch genug Mittel erwirtschaften können, um den Nachbarn in Europa und den Entwicklungsländern helfen zu können. Wir werden dann unter einem anderen Aspekt die zweifellos kräftig gestiegenen Auslandsinvestitionen diskutieren. Vielen herzlichen Dank. ({21})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Der Jahreswirtschaftsbericht 1992 und das Jahresgutachten 1991/92 - sie liegen auf den Drucksachen 12/2018 und 12/1618 vor - sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Abweichend von der Tagesordnung soll der Jahreswirtschaftsbericht nicht dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. Der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP - er liegt Ihnen auf der Drucksache 12/2077 vor - sowie der Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste - er liegt auf der Drucksache 12/2063 vor - sollen an die gleichen Ausschüsse wie der Jahreswirtschaftsbericht überwiesen werden. Das Haus ist damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 12/1521. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlußempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/377 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung, den SPD-Antrag abzulehnen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Beschlußempfehlung mit der Mehrheit des Hauses gefolgt worden. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt unter Nr. II, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 12/391 anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der gleichen Mehrheit angenommen worden. Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 12/1840 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/670 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der gleichen Mehrheit angenommen worden. Meine Damen und Herren, damit kommen wir zu Punkt 2 unserer heutigen Tagesordnung: Fragestunde - Drucksache 12/2051 Ich rufe zunächst einmal den Geschäftsbereich des Herrn Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Hier steht uns Staatsminister Schmidbauer zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Die erste Frage dieses Geschäftsbereichs ist die Frage 17 des Abgeordneten Bury. Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident, ich möchte die Fragen 17, 18, 50, 58, 59, 93 und 94, wenn das Hohe Haus damit einverstanden ist, im Zusammenhang beantworten. Denn ich gehe davon aus, daß sich alle Fragen auf ein und denselben Komplex beziehen und daß es besser wäre, wenn vorab einige allgemeine Hinweise ermöglicht würden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Bury, wären Sie mit dem Verfahren einverstanden? ({0}) - Herr Abgeordneter Gansel, ich muß die Zustimmung aller drei beteiligter Kollegen herbeiführen. ({1}) - Ja, es sind fünf.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, das ist ein sehr ungewöhnliches Verfahren. Praktisch wird uns ein Referat angeboten, zu dem wir zum Schluß noch Fragen stellen dürfen. Ich hätte nichts dagegen, wenn der Staatsminister einleitende Bemerkungen macht, dann aber noch zu jeder Frage einzeln Stellung nimmt, damit auch die Zusatzfragen in der korrekten Form gestellt werden können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich neige dazu, Herr Staatsminister, mich dieser Meinung anzuschließen. Ich bin sehr damit einverstanden, wenn die beiden Fragen des Abgeordneten Bury zusammengefaßt werden, aber darüber hinaus sollten wir nicht gehen. Denn sonst kriegen wir ein bißchen Schwierigkeiten mit den Zusatzfragen, Schwierigkeiten, das Ganze auseinanderzuhalten. Wenn es Ihnen nicht allzu schwerfällt, wäre ich dankbar, wenn Sie zunächst einmal ein paar Vorbemerkungen zum Gesamtkomplex machen und dann damit beginnen würden, die Fragen 17 und 58 des Abgeordneten Bury zu beantworten. Danach könnten wir etwaige Zusatzfragen abwickeln und dann mit den weiteren Fragen so fortfahren. Wenn wir darüber Übereinstimmung erzielt haben, bitte ich Sie, zunächst einmal mit den allgemeinen Vorbemerkungen zu beginnen.

Not found (Gast)

Herr Präsident, das war mein Vorschlag. Ich wollte im Anschluß an die Vorbemerkungen dann die einzelnen Fragen beantworten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich weiß, daß es hilfreich gemeint ist; ich weiß das zu schätzen. - Bitte sehr.

Not found (Gast)

Ich sagte bereits, daß sich alle Fragen auf einen Sachverhalt beziehen, den man mit der Kurzbeschreibung „Ungenehmigter Waffentransport auf einem deutschen Schiff unter Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz" zusammenfassen kann. Da Fragen jeweils Teilaspekte berühren - das hatte ich bereits angedeutet -, der Gesamtzusammenhang aber für das Verständnis notwendig ist, möchte ich den Vorgang, soweit mir bekannt, auch chronologisch darstellen und auf diese Weise dokumentieren, daß die Bundesregierung unter verantwortungsvoller Koordinierung der Ressorts ihrer Verantwortung unverzüglich nachgekommen ist. Mit Drahtbericht vom 3. Januar 1992 berichtete die Botschaft Prag dem Auswärtigen Amt, daß nach tschechoslowakischen Presseberichten angeblich ein deutsches Schiff den Transport von Panzern tschechoslowakischer Herkunft nach Syrien von Stettin aus durchführen solle. Dies ergebe sich aus der Presseauswertung, ohne daß sich konkrete Einzelumstände, insbesondere Zeitpunkt der Verladung, Name des Schiffes oder sonstige Identifizierungsmerkmale des Schiffes, ausmachen ließen. Zwar war der Export grundsätzlich von tschechoslowakischer Seite bestätigt worden; nähere Einzelheiten wurden aber nicht bekannt. Das Auswärtige Amt informierte dann den Bundesminister für Wirtschaft, den Bundesminister für Verkehr sowie den Bundesnachrichtendienst, die - soweit betroffen - jeweils in ihrem Zuständigkeitsbereich recherchierten. ({0}) So fragte der Bundesminister für Verkehr bei der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nord als der örtlich zuständigen Behörde und bei den Schiffahrtsverbänden am 9. Januar 1992 nach, ohne daß sich jedoch ein positives Ergebnis erzielen ließ. Während die Recherchen insgesamt weiterliefen, konnte die MS Godewind am 13. Januar 1992 den Stettiner Hafen verlassen und am 14. und 15. Januar 1992 im Hamburger Freihafen unbehelligt zuladen, da bis zu diesem Zeitpunkt das Schiff noch nicht als Transporter für die Waffen erkannt war, zumal Transitgüter an Bord von Schiffen im Freihafen nicht deklariert werden müssen und somit keiner Kontrolle unterliegen. Nachdem sich ab dem 20. Januar 1992 die Hinweise auf den Namen des Schiffes konkretisierten, der Hinweis auf „Godwin" aber auch nur eine Namensähnlichkeit enthielt, konnten am 27. Januar 1992 nach einer Überprüfung von deutschen Schiffen mit ähnlichen Namen durch den Bundesminister für Verkehr betroffener Reeder und Schiff festgestellt werden. Zu demselben Zeitpunkt bat der Bundesminister für Verkehr den Reeder, sicherzustellen, daß die „Godewind" ihre Fahrt mit den an Bord befindlichen Kriegswaffen nicht fortsetzt und den avisierten Zielhafen Tartus in Syrien nicht erreicht. Beides wurde zugesagt. Im Verlauf des 28. Januar 1992 wurde dann bekannt, daß das Schiff entgegen der vom Reeder avisierten Reiseroute im Hafen Augusta nicht angelegt, sondern bereits die italienischen Hoheitsgewässer verlassen hatte. Da im weiteren Verlauf verschiedene Positions- und Richtungsangaben eintrafen, die den beabsichtigten Kurs des Schiffes nicht zweifelsfrei erkennen ließen, wurde der sich südlich von Sizilien aufhaltende Schiffsverband der Marine gebeten, den Aufenthalt des Schiffes festzustellen. So hatte der Reeder der „MS Godewind" für die Mittagsstunde des 29. Januar eine Position gemeldet, die der Schiffsverband der Marine zu derselben Zeit durchlaufen hatte, ohne jedoch im Umkreis von fünf Meilen überhaupt ein Schiff ausgemacht zu haben. Um 18.20 Uhr des 29. Januar 1992 konnte dann durch den Zerstörer Mölders festgestellt werden, daß das Frachtschiff „Godewind" wie vom Reeder veranlaßt in westlicher Richtung lief. Diese Dokumentation beantwortet einen großen Teil der Fragen. Ich will gleich auf die einzelnen Fragen eingehen, zuvor aber der Vollständigkeit halber einen neuen Hinweis im Rahmen der Chronologie geben, weil ich denke, daß er dazugehört, um sich ein Bild zu machen. Ich meine, daß dies zusätzlich zur Chronologie, die ich vorgetragen habe und auf die im Detail noch eingegangen werden kann, erfolgen sollte: In einer polnischen Tageszeitung vom 11. Januar soll der Name „Godewind" bereits aufgetaucht sein. Diese Mitteilung ist nach meiner Kenntnis Ende Januar im Auswärtigen Amt auch so eingegangen. Ich konnte das in der Kürze der Zeit nicht im einzelnen überprüfen, will es aber der Vollständigkeit halber sagen. Sie können davon ausgehen, daß natürlich im nachhinein beim Studieren vieler Zeitungen und Tausender von Meldungen das eine oder andere zusätzlich ermittelt werden konnte und ermittelt werden kann.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nach dieser einleitenden Darstellung rufe ich nunmehr die Frage 17 des Abgeordneten Bury auf: Wann und mit welchem Inhalt hat es zwischen Stellen, die der Bundesregierung unterstehen, und israelischen Stellen das erste Mal im Zusammenhang mit der „Godewind"-Affäre Kontakt gegeben?

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Einen Kontakt zwischen Stellen, die der Bundesregierung unterstehen, und israelischen Stellen im Zusammenhang mit der „MS Godewind" hat es nach Kenntnis der Bundesregierung nicht gegeben. Ich will aber anfügen, daß die Bundesregierung wohl am 28. Januar die israelische Botschaft über den Vorfall insgesamt unterrichtet hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir kommen jetzt zu den Zusatzfragen. Bitte sehr.

Hans Martin Bury (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000312, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sieht die Bundesregierung oder - soweit Sie das beurteilen können - die israelische Regierung Parallelen oder gar Zusammenhänge zwischen dem Export sogenannter landwirtschaftlicher Geräte durch den BND und der deutschen Beteiligung an dem Export von Panzern nach Syrien?

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In aller Ernsthaftigkeit, Herr Kollege Bury: Diese beiden Fälle sind überhaupt nicht vergleichbar. In dem einen Fall handelt es sich um einen lang praktizierten Akt der Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung; in dem anderen Fall handelt es sich um einen Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Ich bitte wirklich darum, beide Dinge nicht miteinander zu vergleichen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun rufe ich Frage 18 des Abgeordneten Norbert Gansel auf: Wann hat der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, das Außenministerium der CSFR davon informiert, daß die Bundesregierung die Bundesmarine nutzen würde, um den ungenehmigten Weitertransport von tschechoslowakischen Panzern auf einem deutschen Schiff noch während der KSZE- Konferenz in Prag zu verhindern, und warum ist das Außenministerium der CSFR nicht gebeten worden, seinerseits über das tschechoslowakische Ausfuhrunternehmen die Rückkehr der „Godewind" zu veranlassen?

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Auf Bitten des zuständigen Bundesministeriums für Verkehr war es der Reeder der „Godewind", der veranlaßte, daß das Schiff seine ungenehmigte Fahrt nicht weiter fortsetzte, sondern den Rückweg antrat. Verantwortlich für den Transport und die Einhaltung der entsprechenden deutschen Gesetzesbestimmungen ist ausschließlich der deutsche Reeder. Die Bundesregierung hatte daher keine Veranlassung, in der Angelegenheit an die Regierung der CSFR heranzutreten, der das Verhalten des Reeders in keiner Weise zuzurechnen ist. Das gilt um so mehr, als der Export und Transport der Panzer unter CSFR- Recht keine strafbare Handlung darstellt. Bei seinem Gespräch mit dem Außenminister der CSFR am 30. Januar 1992 hat der Bundesminister des Auswärtigen diesen über den Sachverhalt unterrichtet. Außenminister Dienstbier zeigte sich über die Angelegenheit bereits informiert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, meine Frage geht eigentlich eher an das Außenministerium. Es tut mir leid, daß man Ihnen die unangenehme Aufgabe der Beantwortung übertragen hat.

Not found (Gast)

Ich empfinde es als eine sehr angenehme Aufgabe, Herr Kollege Gansel, zumal ich weiß, daß Sie uns in diesem Zusammenhang unterstützt haben.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut, dann interessiert es mich um so mehr, warum man nicht versucht hat, den Transport der tschechoslowakischen Panzer auf einem deutschen Schiff so zu verhindern, daß man die Tschechoslowakei international nicht unangemessen in ein schiefes öffentliches Licht bringt. Denn Sie wissen, auch andere Staaten - u. a. die Bundesrepublik - exportieren gelegentlich Waffen. Nach tschechoslowakischem und internationalem Recht war das Geschäft nicht verboten. Deshalb wäre die normale Reaktion im diplomatischen Verkehr doch gewesen, der tschechoslowakischen Regierung zu sagen: Da kommt ein Problem auf uns zu; wir versuchen, es auf unserer Seite zu klären; aber ihr als Genehmiger mit Einfluß auf die Exportfirma sorgt bitte dafür, daß das Schiff umkehrt; oder besser noch davor - nachdem es die ersten Presseberichte gegeben hatte -: Sorgt dafür, daß solche Waffen nicht auf einem deutschen Schiff verladen werden, denn die Bundesregierung wird dafür keine Genehmigung geben. Warum also hat man den Transport auf einem deutschen Schiff nicht so verhindert, daß die tschechoslowakische Regierung nicht zusätzlich beschämt wurde, von der wir wissen, daß sie dieser Waffenexportpolitik selbst sehr kritisch gegenübersteht?

Not found (Gast)

Ich denke, Herr Kollege Gansel, ich habe vorhin deutlich gemacht, daß es Meldungen - ich will es hier einmal in aller Nüchternheit ausführen - über Transporte von Panzern auf der gesagten Route unter Beteiligung der beiden Länder gab und daß dies eine sehr voluminöse Information war, die keinesfalls Hinweise darauf gab, daß deutsche Schiffe an diesen Transporten beteiligt sind. Als in den Informationen zum erstenmal - und auch dieses Datum habe ich genannt - der Hinweis auf die Möglichkeit auftauchte, daß sich ein deutsches Schiff an diesen Transporten beteiligen könnte, gab es dieses Schiff noch nicht an entsprechender Stelle, nämlich in Stettin. Es wurde weder beladen, noch wurde transportiert. Zu diesem Zeitpunkt, als wir festgestellt haben, welches Schiff den Transport - ich spreche immer von Panzern, aber ich muß korrekterweise dazu sagen und tue das auch nicht ohne Grund: und Beiladung - durchführen würde und daß es sich um ein deutsches Schiff handelte, wurde exakt die von mir beschriebene Maßnahme ergriffen, die dann dazu geführt hat, daß gemäß unserer Gesetzgebung dieser Kriegswaffentransport unterblieben ist. Zusammenhänge zwischen bestimmten Terminen - ich nenne den Termin KSZE - und der Operation sind überhaupt nicht herzustellen. Auch dies wurde der CSFR in entsprechender Weise mitgeteilt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Stimmen Sie mir zu, daß man den Transport von Panzern und Beiladung - es handelt sich dabei offenbar um Munition - auf dem deutschen Schiff und die nachfolgende spektakuläre Aktion hätte verhindern können, wenn nach dem ersten Pressebericht das Auswärtige Amt der tschechoslowakischen Regierung gesagt hätte, es gebe Presseberichte, wonach Panzer auf einem deutschen Schiff exportiert werden sollten, daß es dafür aber keine Genehmigung gäbe und daß sie bitte auf ihren Kanälen - tschechoslowakisches Außenministerium, Genehmigungsbehörde, Staatshandelsunternehmen, Reeder - dafür sorgen möge, daß eine Einschiffung auf einem deutschen Schiff nicht erfolge?

Not found (Gast)

Erstens will ich darauf hinweisen - das ergibt sich aus der Chronologie -: Diese Gespräche hätten Sinn gemacht, wenn es gelungen wäre, die bekannte Nadel in dem riesengroßen Heuhaufen zu einem Zeitpunkt zu identifizieren, als es weder Heuhaufen noch Nadel gegeben hat. ({0}) Ich stimme Ihnen in dem einen Punkt zu: daß, wenn es Informationen - ich sprach davon, und ich werde auch an anderer Stelle darüber noch ausführlich informieren - über dieses Transportgeschäft, dessen Volumen schon monatelang über entsprechende Vorstöße anderer Regierungen bei den beteiligten Staaten in Rede stand, gegeben hätte, daß insbesondere auch deutsche Reeder, deutsche Schiffe involviert sein würden, dies eine der theoretisch möglichen Maßnahmen gewesen wäre. Ich gehe auch davon aus, daß man, wenn die Chance bestanden hätte, dieses Schiff zu identifizieren, bevor Ladung an Bord genommen worden wäre, zu diesem Zeitpunkt eine solche Maßnahme in die Erwägungen hätte mit einbeziehen müssen. Ich will Ihnen aber zu dem Begriff „spektakuläre Aktion" auch sagen: Ich würde das nicht so bewerten. Ich werde nachher in einem anderen Zusammenhang einfach sagen, daß es eine angemessene Operation war. Der Vorgang ist ja heute noch nicht abgeschlossen, sondern das Schiff befindet sich noch auf dem Wege nach Stettin. Die Staatsanwaltschaft in Kiel hat das Verfahren in der Hand. Wir müssen abwarten, wie sich dieses Verfahren und dieser Vorgang weiter entwickeln.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hat die Bundesregierung geprüft, ob Schiffen mit Ladung und vor allem auch mit, wie Sie sagen, Beiladung wie bei der „Godewind" die Durchfahrt durch den Nordostseekanal untersagt werden kann? Denn nach meiner Kenntnis ist es so, daß bei gefährlicher Ladung die Durchfahrt verboten werden kann. Munition ist, so würde ich sagen, zumindest eine gefährliche Ladung.

Not found (Gast)

Auch dies ist natürlich eine hypothetische Frage, da dieser Transport als illegaler Transport funktionierte und weder für Schiff noch für Ladung Genehmigungen im Rahmen der notwendigen Verfahren vorgelegen haben. Aber wäre dies bekannt gewesen, hätte man erstens die Genehmigung nicht gegeben - das heißt, der Transport hätte nicht stattfinden können -, und bei Transportvorhaben ohne Genehmigung hätte man zweitens natürlich in entsprechender kommoder Weise an der Stelle, die Sie erwähnten, eingreifen müssen und auch eingegriffen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe davon aus, Herr Staatssekretär, daß am 3. Januar 1992 die Information aus Prag nicht zufällig an uns gekommen ist. ({0}) - 3. Januar 1992. Sie haben sechs Tage verstreichen lassen, um bei der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nord nachzufragen. Ich frage Sie: Gibt es außer einer Anfrage bei der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nord weitere Versuche, die Stecknadel im Heuhaufen, der Ihnen dann mit Stettin ja bekannt war, zu finden, möglicherweise auch durch Rückkopplung in Richtung Prag oder Stettin?

Not found (Gast)

Hinsichtlich einer Rückkopplung mit Prag hätte ich meine Zweifel, ob wir bei Abgabe des Geschäftes von Prag an eine entsprechende Gesellschaft fündig geworden wären. ({0}) Aber Sie können unterstellen, daß sämtliche Möglichkeiten in diesen Zeiträumen, die ich genannt habe, abgeprüft wurden, um entsprechenden Hinweisen nachzugehen. Hinterher sind alle sehr viel schlauer, aber zu diesem Zeitpunkt waren weder Heuhaufen noch Stecknadel bekannt. Es gibt viele Meldungen und Hinweise auf viele Schiffe, auf viele Länder, die Transporte durchführen. Deshalb war es in diesem Zeitraum nicht möglich, auch wenn man es beklagen mag. Rückwärts betrachtet, hätte ich eine Chance gesehen, die Dinge etwas früher zu identifizieren, aber nicht so früh, daß es gelungen wäre, vor Abfahrt des Schiffes die entsprechenden Hinweise zu besitzen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bevor ich dem Abgeordneten Bachmaier das Wort zu einer Zusatzfrage gebe, bitte ich diejenigen, die Zusatzfragen stellen wollen, ein wenig darauf zu achten, ob nicht im Zusammenhang mit dem anschließenden Fragenkomplex die gleichen Fragen noch einmal behandelt werden. Die letzte Frage hätte meines Erachtens ebensogut oder noch sinnvoller unter der Frage 94 abgehandelt werden können. Ich will Ihre Rechte nicht einschränken. Ich möchte im Sinne einer ökonomischen Abwicklung der Fragestunde nur auf dieses Problem aufmerksam machen. Unter den Umständen kann ich nun den Abgeordneten Schloten bitten.

Dieter Schloten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001986, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, die Zusatzfrage schließt hier an: Trifft zu, was ich gehört habe, daß nämlich die CSFR beabsichtigt, den Erlös aus dem Panzergeschäft zur Konversion der Panzerfabrik in der Tschechoslowakei einzusetzen und zukünftig keine Panzer mehr in Krisengebiete zu exportieren?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich kann das nicht bestätigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Abgeordneter Bachmaier, bitte schön.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ich habe Sie doch richtig verstanden, daß am 3. Januar bereits deutschen Dienststellen bekannt war, daß tschechoslowakische Panzer mit einem deutschen Schiff aus dem Hafen Stettin transportiert werden sollten. Meine Frage geht dahin: Braucht man, wenn man intensiv sucht, wirklich 20 Tage, bis man den tatsächlichen Frachter gefunden hat?

Not found (Gast)

Herr Kollege Bachmaier, es trifft nicht zu, daß nur ein Hafen angegeben wurde, sondern wir hatten Meldungen von zwei Ausgangshäfen. Wir hatten vor allem Meldungen, daß überhaupt Schiffe diese Transporte bereits durchgeführt hätten. Ich will hier nur andeuten, aber auch an anderer Stelle detaillierte Informationen geben, daß die Schiffsrouten dieses Transports nicht diejenigen waren, die zu diesem Zeitpunkt wirklich gewählt wurden. Es gab auch andere Routen. Aus der Vielfalt der Aufkommen war es also zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, Genaueres festzustellen, zumal das Schiff den Hafen, aus dem es nachher ausgelaufen ist, noch nicht angelaufen hatte. Deshalb konnten wir entsprechende Maßnahmen noch nicht auf den Weg bringen. Das Problem war, daß die Meldung einer eventuellen Möglichkeit wesentlich früher lag als die eigentliche Aktion, die sich dann in einem wesentlich späteren Zeitraum abgespielt hat. In diesem Zwischenraum gab es keine Möglichkeit, die Dinge zu verifizieren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Damit ist die Frage 18 einschließlich der Zusatzfragen erledigt. Jetzt müssen wir uns überlegen, ob wir, um den sachlichen Zusammenhang zu wahren, zunächst die Frage 59 oder die Frage 58 behandeln. Wahrscheinlich ist es vernünftiger, jetzt die Frage 58 des Abgeordneten Bury zu beantworten: Wie ist die rechtliche Begründung der Bundesregierung für den Einsatz der Bundesmarine in der „Godewind"-Affäre, soweit sie nicht Kommunikationsaufgaben übernommen hat, und trifft es zu, daß das Bundesministerium der Verteidigung den Einsatz auf § 13 Abs. 4 in Verbindung mit Absatz 1 Kriegswaffenkontrollgesetz stützt?

Not found (Gast)

Herr Kollege Bury, ein Einsatz der Marine im Sinne des Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes hat nicht stattgefunden. Die Feststellung von Fahrtkurs und Position des Frachters „Godewind" geschah mit Unterstützung durch Schiffe der Marine, die im gleichen Seegebiet standen. Maßnahmen nach § 13 Abs. 4 des Kriegswaffenkontrollgesetzes sind nicht getroffen worden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte, eine Zusatzfrage.

Hans Martin Bury (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000312, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wird der Einsatz der Bundeswehr mit einem Verstoß gegen den § 3 oder den § 4 des Kriegswaffenkontrollgesetzes begründet?

Not found (Gast)

Im Sinne des eingeleiteten Strafverfahrens möchte ich auf diese Frage keine Antwort geben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Weitere Zusatzfragen? - Bei Ihnen nicht, Herr Abgeordneter Bury. Dann Herr Gansel, bitte.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, da es sich hier mit dem Einsatz der Bundesmarine um ein sehr heikles Thema handelt und in diesem Bereich auch keine Grauzone entstehen darf, möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, daß exekutive Maßnahmen der Bundeswehr außerhalb der Bundesrepublik nicht auf § 13 Abs. 4 Kriegswaffenkontrollgesetz gestützt werden können, wie es etwas ungenauen Verlautbarungen aus dem Bundesverteidigungsministerium zu entnehmen war.

Not found (Gast)

Herr Kollege Gansel, deshalb, weil ich mit Ihnen der Meinung bin, daß es in diesem sensiblen Bereich unter der gegebenen Rechtslage keine Operation in Grauzonen geben kann, sagte ich sehr deutlich, daß weder nach Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes noch nach § 13 Abs. 4 des Kriegswaffenkontrollgesetzes Maßnahmen ergriffen wurden.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wären auch nicht zulässig gewesen. Darum geht es!

Not found (Gast)

Wir haben das geprüft, aber „Worst case"-Überlegungen und andere Dinge spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wir haben darauf geachtet, und da möchte ich bei dieser Gelegenheit auch der Marine meinen Dank abstatten. Wir haben dies in diesem Verfahren geprüft und uns entschlossen, eben nicht nach diesen von Ihnen zitierten Gesetzesunterlagen vorzugehen oder das auch nur in Erwägung zu ziehen, sondern uns auf das zu beschränken, was wir gemacht haben: Positionen festhalten, Information und Kommunikation betreiben, so daß wir jederzeit in der Lage waren, über den Standort des Schiffes Bescheid zu wissen. Dies war eine Maßnahme der Marine. Weitere Maßnahmen gab es nicht; sie waren nicht notwendig. Abgeprüft wurde selbstverständlich die sensible Frage des Art. 87a Abs. 2.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Abgeordneter Bachmaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, könnten Sie uns dann präzise darlegen, auf welcher Rechtsgrundlage Sie im konkreten Fall eingegriffen haben?

Not found (Gast)

Wir haben um Unterstützung durch die Marine gebeten. Ich hatte das gesagt. Eine kleine Form der Amtshilfe, wenn Sie so wollen, aber ich bezeichne es nicht als Amtshilfe. Sie sind Jurist und werden das viel besser wissen als ich als Naturwissenschaftler, aber ich habe mich da ganz gut briefen lassen und mich auch bei der Diskussion in der Ressortabstimmung sehr genau um diese Dinge gekümmert. Wir haben die Marine um Unterstützung gebeten. Ich will nicht ausschmücken, was notwendig gewesen wäre, wenn es nicht möglich gewesen wäre, die deutsche Marine um Unterstützung zu bitten. Sie hat uns diese Unterstützung gewährt; so möchte ich das formulieren. Damit waren Kommunikation und Information ja sicher möglich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Nun rufe ich die Frage 59 des Abgeordneten Schwanhold auf: Trifft es zu, daß die Bundesregierung, um den Frachter „Godewind" zur Umkehr zu zwingen, auch Überlegungen angestellt hat, den Bundesgrenzschutz bzw. die GSG 9 mit dieser Aufgabe zu beauftragen, und warum hat sie sich dann für einen Einsatz der Bundeswehr entschieden?

Not found (Gast)

Die Bundesregierung hat alle rechtlich zulässigen Maßnahmen in ihre Überlegungen einbezogen. Im übrigen verweise ich auf die von mir eben gegebene Antwort zur Frage 58 des Kollegen Bury, in der bereits festgestellt wurde, daß die Marine in zulässiger Weise Unterstützung gewährt hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage? - Bitte schön.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich zunächst für die Bestätigung, daß Sie auch überprüft haben, die GSG 9 dort einzusetzen. Aus welchen rechtlichen Gründen sind Sie denn zu der Entscheidung gekommen, diese nicht einzusetzen?

Not found (Gast)

Es gab überhaupt keine Veranlassung, „Worst case " -Betrachtungen in die Tat umzusetzen, aber es wäre sicherlich möglich gewesen. Die rechtliche Möglichkeit wäre sicher da gewesen, eine Unterstützung durch Polizei in internationalen Gewässern zu bekommen, wenn polizeiliche Maßnahmen notwendig gewesen wären. Ich will auch nicht verschweigen, daß das Bundesgrenzschutzgesetz dies als Möglichkeit vorsieht, wenn ich recht informiert bin, in § 6.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen? - Bitte schön.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, da ich auch der Meinung bin, daß sich die Bundesmarine in dieser schwierigen und auch rechtlich heiklen Situation geschickt verhalten hat, da sie aber in ähnlichen Fällen wissen muß, was sie darf und was sie nicht darf, möglicherweise auch, wozu sie rechtlich verpflichtet ist und wozu sie nicht verpflichtet ist, ist es doch notwendig, die Frage zu beantworten, ob § 13 Abs. 4 Kriegswaffenkontrollgesetz die Bundeswehr außerhalb des Bundesgebietes rechtlich legitimieren oder sogar verpflichten könnte, mit exekutiven Maßnahmen Kriegswaffen sicherzustellen.

Not found (Gast)

Die Bundesregierung hat sich dafür entschieden, nicht nach § 13 Abs. 4 des Kriegswaffenkontrollgesetzes vorzugehen und diese Vorschrift auch nicht in Maßnahmen im Zusammenhang mit der Marine einzubeziehen. Ich denke, daß wir in den nächsten Monaten im Rahmen der Verfassungsdiskussion ausgiebig Gelegenheit haben, über solche Fragen zu diskutieren und zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen. Im Augenblick ist es nicht Gegenstand von Überlegungen gewesen, dies überhaupt zu praktizieren oder durchzuführen. Schon die Frage, die ich eben im Zusammenhang mit Polizeieinsatz beantwortet habe, macht deutlich, in welche Richtung die Überlegungen eher gegangen wären.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß Frage und Antwort schon im Zusammenhang mit der Frage 58 fast wortgleich behandelt worden sind. Nun rufe ich die Frage 93 des Abgeordneten Bachmaier auf: Weshalb hat die Bundesregierung den Waffentransport nach Syrien nicht bereits verhindert, als die „Godewind" am 14. Januar 1992 den Hamburger Hafen anlief, um dort weitere Fracht zuzuladen?

Not found (Gast)

Herr Präsident, darf ich die Fragen 93 und 94 zusammenfassend beantworten?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich unterstelle, daß der Abgeordnete Bachmaier nichts dagegen hat. Ist das richtig? ({0}) - Okay. Dann haben Sie vier Zusatzfragen. Ich rufe dann noch die Frage 94 des Abgeordneten Bachmaier auf: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Warum hat die Bundesregierung erst am 29. Januar 1992 Maßnahmen gegen den illegalen Kriegswaffentransport durch den deutschen Frachter „Godewind" ergriffen, obwohl sie bereits am 3. Januar 1992 durch die deutsche Botschaft in Prag über diesen Waffentransport informiert wurde?

Not found (Gast)

Die Antwort zur Frage 93 ergibt sich aus der Beantwortung zur Frage 94, die folgendermaßen lautet: Wie anfangs ausgeführt, konnten trotz intensiver Recherchen erst am 27. Januar 1992 Reeder und Name des Schiffes eindeutig identifiziert werden. Am 14. Januar 1992 war der Bundesregierung nicht bekannt, daß die „Godewind" unter Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz Waffen geladen hatte. - Ich hatte dies auch schon in meinem Eingangsstatement in Ausführlichkeit chronologisch beschrieben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wann wurden Sie als zuständiger Staatsminister zum erstenmal über den Vorgang, der ja bereits am 3. Januar 1992 in groben Umrissen der Bundesregierung bekannt geworden war, informiert, und welche konkreten Maßnahmen haben Sie daraufhin unmittelbar eingeleitet?

Not found (Gast)

Am 28. Januar nachmittags unterrichtete mich das BMV. Ich bin zu diesem Zeitpunkt tätig geworden. Wir haben am 29. Januar veranlaßt, daß sich alle betroffenen Ressorts in einer koordinierten Befassung mit diesen Fragen, die ich vorhin erwähnte, beschäftigen, und zwar mit dem Ergebnis, daß am selben Tag, also am 29. Januar abends gegen 18 oder 19 Uhr Position und Kurs des Schiffes festgestellt wurden. Dazu waren mehrere Besprechungen notwendig. Ich will auch hier nicht versäumen, mich für die Zusammenarbeit der Ressorts im Rahmen dieser Besprechungen am 29. Januar ausdrücklich zu bedanken.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Welche konkreten Maßnahmen wurden nach der ersten Information vom 3. Januar, die offensichtlich an das Auswärtige Amt erging, von dort aus eingeleitet? Welche Ministerien bzw. Dienststellen der Bundesregierung wurden unmittelbar nach Eingang der Erstinformation eingeschaltet? Welche Maßnahmen haben Sie eingeleitet, nachdem Ihnen der Vorgang offensichtlich erst zu einem verblüffend späten Zeitpunkt bekannt geworden sein soll?

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Erstens: nicht „sein soll", sondern „ist". Zweitens: Ich hatte vorhin im Eingangsstatement die chronologische Abfolge - vom 3. Januar über den 9. Januar, den 10. Januar, den 13. Januar, den 16. Januar bis zum 23. Januar - dargelegt. Ich will das aber gerne noch einmal darstellen, damit es auch im Protokoll festgehalten wird - zusammen mit den Ergänzungen, die ich vorhin gemacht habe. Mit Einverständnis des Präsidenten will ich also diese Chronologie wiederholen. Ich sage in Stichworten: 3. Januar 1992: Eingang des Fernschreibens im Auswärtigen Amt. 9. Januar 1992: Das Auswärtige Amt bittet das BMV, das BMWi und den BND, den Sachverhalt dieser Mitteilung zu überprüfen. 10. Januar: Eine Nachfrage des BMV bei der Wasserschutzdirektion Nord und bei den Schiffahrtsverbänden über Telefax ergibt, daß dort keine Informationen zum Sachverhalt vorliegen. 13. Januar: „Godewind" verläßt Stettin. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen, daß alles, was ich eben erwähnt habe, vor Abfahrt des Schiffes stattfand. 16. Januar: Schreiben des BMV an das AA, daß Schiff und Reeder nicht bekannt seien. 23. Januar: Dem AA wird mitgeteilt, daß laut entsprechender Information ein Schiff namens „Godwin" am 13. Januar den Hafen von Stettin mit entsprechender Ladung verlassen habe. Allerdings kann dieser Sachverhalt in der Mitteilung nicht bestätigt werden. ({0}): Wann war das?) - Am 23. Januar. Das Auswärtige Amt gibt den Hinweis auf das deutsche Schiff telefonisch an das BMV weiter. Das BMV kommt nach Rückfrage bei Reedereienverbänden und nach Überprüfung amtlicher und veröffentlichter Schiffslisten zu dem Ergebnis, daß ein Schiff dieses Namens nicht unter deutscher Flagge registriert ist. ZFA Hamburg erhält von dritter Stelle den Hinweis, daß das deutsche Schiff Godewind am 14. Januar 1992 mit Panzern an Bord im Hamburger Freihafen gelegen habe und nach Augusta unterwegs sei. ZFA unterrichtet ZKI. Am 24. Januar informiert ZKI die italienischen Behörden - das war einen Tag später - im Hinblick auf den Zielhafen Augusta. In der Folge hatte ich vorhin den 27. bis zum 29. Januar beschrieben. Ich habe vorhin auch noch eine Ergänzung neuesten Datums nachgereicht, die Meldung einer polnischen Zeitung vom 11. Januar mit Eingang, nach meiner Kenntnis, Ende Januar im Auswärtigen Amt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bachmaier, Sie haben noch zwei weitere Zusatzfragen.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, wie erklären Sie sich, daß, nachdem der BND nach Ihren Ausführungen doch ganz offensichtlich zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Information erhalten hatte, Sie als der dafür zuständige Minister erst mehr als zwei Wochen später vom BND - ich sage es noch einmal - informiert worden sein sollen? Ein langer Dienstweg, nicht?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich sagte, daß es allgemeine Informationen über die Geschäfte an sich gegeben hat, die mir vorgelegen haben. Wir sprechen von dem Vorfall mit einem bestimmten Schiff, der „Godewind". Es gab Meldungen, die sich über Monate hinzogen, die Sie überall nachlesen konnten. Und ich sagte, es gab die entsprechenden diplomatischen Vorstöße. Dazu gibt es auch Meldungen, daß Waffentransporte stattfinden. Wir haben es im Augenblick mit einem bestimmten Vorgang zu tun, der am 3. Januar mit dem Hinweis ausgelöst wurde - übrigens nicht vom BND, deshalb geht Ihre Frage in diesem Zusammenhang natürlich ins Leere -, daß auch ein deutsches Schiff bei diesen vielen Waffentransporten beteiligt sein könnte. Wobei Schiff und Ladung - ich sage es noch einmal - zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht bekannt sein konnten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die nächste Zusatzfrage, bitte schön!

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Welche Maßnahme wird die Bundesregierung ergreifen, um Vorgänge dieser Art in Zukunft zu vermeiden respektive frühzeitiger über Vorgänge dieser Art informiert zu sein? Und mit welchen Maßnahmen denken Sie dann zu reagieren?

Not found (Gast)

Ich denke, Herr Kollege, daß die Bundesregierung Vorgänge dieser Art überhaupt nicht vermeiden will, sondern mit Vorgängen dieser Art tunlichst als Signalwirkung deutlich machen will, daß es mit unserem Recht nicht so sein kann, daß es umgangen wird, sondern daß das Kriegswaffenkontrollgesetz ernstgenommen wird. Was die Zeitabläufe angeht, so sagte ich bereits eingangs, daß man hinterher - „Wer aus der Kirche kommt ... "; auch dies ist ein bekanntes Sprichwort - die Dinge in einem anderen Licht sehen konnte. Wir suchen natürlich nach Möglichkeiten, bei solchen Vorgängen entsprechende Koordinationsmöglichkeiten in kürzerer Frist zu haben. Ich fürchte nur, daß es, wenn es sich um ähnliche Vorgänge handelt, dann auch ähnlich ablaufen wird. Ich bin an sich sehr froh, daß am Ende das Ziel vollständig erreicht wurde.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, die Fragestunde krankt daran, daß, wenn man Fragen an Ressorts hat, die geschlafen haben, ausgerechnet das Ressort antwortet, das aufgepaßt hat. Insofern ging meine Frage nur indirekt an das Bundeskanzleramt. Deshalb frage ich: Wären Sie bereit, Herr Staatsminister, meiner Bitte zu folgen und dem Auswärtigen Amt mitzuteilen, daß man, wenn wieder ähnliche Meldungen in der Zeitung stehen über Panzer, die ohne Genehmigung auf ein deutsches Schiff verladen werden, sich dann nicht damit herausredet, daß es sich um eine Stecknadel in einem Heuhaufen handelt? Die Ausrede mit dem Heuhaufen kann doch wohl nur einem Esel einfallen. Aber ein Schiff ist ziemlich groß, und die Ostseeküste ist ziemlich klein. Notfalls kann man auch den Journalisten fragen, der den Artikel geschrieben hat. Oder man kann einen Angehörigen der Botschaft mit einem Auto losschicken mit der Bitte, im Stettiner Hafen nachzufragen, ob dort ein deutsches Schiff mit Panzern beladen worden ist. Würden Sie das bitte dem Auswärtigen Amt mitteilen?

Not found (Gast)

Unabhängig davon, daß Bitten keine Fragen sind und wir hier keine Bittstunde haben, bin ich sicher, daß dieses weitergemeldet wird. Ich will nur, Herr Kollege Gansel, noch einmal darauf hinweisen, jedes Fahrzeug, das Sie nach Stettin geschickt hätten, hätte eben kein deutsches Schiff im Stettiner Hafen zwischen dem 3. und dem 13. Januar vorgefunden. Darauf will ich noch einmal hinweisen. Ich werde an geeigneter Stelle, auch Ihnen gegenüber, der Sie sich positiv zu diesem Vorgang in der Presse ausgelassen haben, noch einmal darauf hinweisen, daß dies ein sehr umfangreicher Vorgang ist, bei dem nur der geringste, der kleinste Teil hier im Rahmen dieser Fragestunde diskutiert wurde.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Im übrigen erlaubt sich der Präsident den Hinweis, Herr Abgeordneter Gansel, daß sich diese Bitte an den Herrn Staatsminister schon dadurch erübrigt, daß das Auswärtige Amt in würdevoller Form hier vertreten ist. ({0}) - Sie kennen die Geschäftsordnung sehr genau. Sie haben zwei Fragen.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jedenfalls dann, wenn es sich um die Rechte von Abgeordneten handelt; die paar kann man ja schließlich überblicken, Herr Präsident. Herr Staatsminister, meine zweite Frage lautet: Wären Sie bereit, meiner Bitte zu folgen, auch dem Bundesverkehrsminister mitzuteilen, wenn es einmal eine ähnliche Situation geben sollte, im Rahmen der Amtshilfe die polnischen Verkehrsbehörden anzurufen und sie zu bitten, festzustellen, ob in ihren Häfen zufällig ein deutsches Schiff mit nicht ganz unauffälligen Panzern beladen wird, und, wenn ja, den Namen des Schiffes der deutschen Behörde mitzuteilen?

Not found (Gast)

Ich darf das mit der Antwort beantworten, die der Herr Präsident Ihnen eben zur ersten Zusatzfrage gegeben hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Dieter Schloten auf: Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß die deutschen Verkehrswege nicht von ausländischen Spediteuren genutzt werden, um Kriegswaffen in Länder zu liefern, für die deutsche Exporteure keine Exportgenehmigung erhalten würden

Not found (Gast)

Herr Kollege, die Beförderung von Kriegswaffen auf deutschen Verkehrswegen unterliegt genehmigungsrechtlich dem Kriegswaffenkontrollgesetz. Hiernach dürfen auch ausländische Spediteure grundsätzlich nur dann Kriegswaffen durch das Bundesgebiet durchführen lassen, wenn die hierzu erforderliche Beförderung genehmigt ist. Insbesondere im Bereich des Straßentransports, des Luftverkehrs und, mit Einschränkungen, auch des Eisenbahntransports müssen ausländische Spediteure immer im Besitz einer speziellen Genehmigung sein. Bei der Ausstellung dieser Durchfahrtsgenehmigungen für ausländische Antragsteller wendet die Bundesregierung die gleichen strengen Maßstäbe an, die auch für die Ausfuhr von Kriegswaffen aus Deutschland gelten. Richtschnur sind hierbei die rüstungsexportpolitischen Grundsätze der Bundesregierung vom 28. April 1982, nach denen insbesondere die Lieferung von Kriegswaffen nicht zu einer Erhöhung bestehender Spannungen beitragen darf. Durch die Verordnung über allgemeine Genehmigungen nach dem KWKG wurde der Transport von Kriegswaffen mit Seeschiffen fremder Flagge nur insoweit allgemein genehmigt, als die Kriegswaffen auf dem Seewege ohne Wechsel des Verfrachters durchgeführt werden und die Seeschiffe im Bundesgebiet - außer in besonderen Notfällen - nur an Zollanlandungsplätzen oder in Freihäfen mit anderen Fahrzeugen oder mit dem Land in Verbindung treten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schloten, bitte. - Erledigt. Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da bei Ihrer Aufzählung die Wasserwege fehlten und Sie vorhin bei meiner Zusatzfrage ein wenig ausgewichen sind, darf ich Sie noch einmal fragen: Sehen Sie die Möglichkeit, daß Schiffe im Nord-Ostsee-Kanal gestoppt werden, wenn sie Panzer und Munition geladen haben?

Not found (Gast)

Ich sehe die Möglichkeiten. Aber ich sehe mich im Augenblick außerstande, hierauf konkret einzugehen. Ihre Frage bezieht sich auf Schiffe ausländischer Flagge. ({0}) Bei deutschen Flaggen ist die Lage klar; ich hatte das beantwortet. Für ausländische Flaggen habe ich allgemein genau darauf eine Antwort gegeben. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Herr Abgeordneter Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, da wir respektieren wollen, daß der Nord-Ostsee-Kanal eine internationale Wasserstraße ist, wir aber andererseits Interesse daran haben müssen, daß keine gefährlichen Güter ohne entsprechende Deklarierung und Vorwarnung auf dem Kanal transportiert werden, frage ich Sie, ob Sie bereit sind, überprüfen zu lassen, welche Möglichkeiten der Kontrolle, der Überwachung, der Unterbindung deutschen Behörden zur Verfügung stehen, wenn auf dem Nord-Ostsee-Kanal scharfe Munition transportiert wird?

Not found (Gast)

Ich bin gerne bereit, Ihnen durch das zuständige Ministerium die Prüfung dieser Frage schriftlich zugehen zu lassen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Abgeordneter Bachmaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, welchen Rückweg benutzt nach Ihren bisherigen Erkenntnissen die Godewind derzeitig, um in den Hafen Stettin zurückzukehren, und wo befindet sich das Schiff im Augenblick?

Not found (Gast)

Herr Kollege, unter besonderer Beachtung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen möchte ich darüber keine Auskunft geben. Mir ist die Position des Schiffes zur Zeit bekannt. Mir sind die Maßnahmen der Staatsanwaltschaft Kiel aus Informationen bekannt. Aber ich möchte darüber hier keine Auskunft geben, um die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Kiel nicht zu stören, die mit uns in guter Weise zusammengearbeitet hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Im übrigen stand diese Frage nicht im Zusammenhang mit der Frage, wie die Bundesregierung Spediteure in Zukunft an illegalen Waffenlieferungen zu hindern gedenkt, Herr Abgeordneter Bachmaier. Nichtsdestoweniger bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen, Herr Staatsminister, für die Mühewaltung. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht uns die Staatsministerin Frau Seiler-Albring zur Verfügung. Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Lowack auf: Begründet das Zustimmungsgesetz zum Nachbarschaftsvertrag mit Polen Verhaltenspflichten für deutsche Staatsangehörige, die in ihrer alten Heimat östlich von Oder und Neiße geblieben sind?

Not found (Gast)

Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Kollege Lowack, nach Art. 22 Abs. 2 des Nachbarschaftsvertrages sind die Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen gehalten, sich wie jeder Staatsbürger loyal gegenüber dem Staat zu verhalten, in dem sie leben und in dem sie sich nach den Verpflichtungen richten, die sich auf Grund der Gesetze dieses Staates ergeben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Staatsministerin, vielleicht hatten Sie die Frage nicht so intensiv durchgelesen, daß Sie den Sinn ganz erschlossen haben. Die Frage war eigentlich, ob durch ein deutsches Zustimmungsgesetz zusätzliche Verpflichtungen für Deutsche entstanden sind.

Not found (Gast)

Herr Kollege Lowack, die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist bei Minderheitenregelungen völkerrechtlich üblich. Der Vertrag befaßt sich im übrigen aber nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit. Es tut mir leid, wir haben uns an den Buchstaben Ihrer Frage gehalten. Ich bedaure es, wenn uns der tiefere Sinn verborgen geblieben sein sollte. Wir würden dann gerne weiteren Fragen in dieser Richtung entgegensehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich erspare mir die Zusatzfrage.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Okay. - Dann kommen wir zu der Frage 13 des Abgeordneten Lowack: Warum hat die Bundesregierung die betroffenen vertriebenen Sudetendeutschen nicht an dem Vertrag der Tschechoslowakei beteiligt, und welche Chancen sieht die Bundesregierung für die Durchsetzung der Rechte der Sudetendeutschen nach der Unterzeichnung des Vertrages?

Not found (Gast)

Herr Kollege Lowack, bereits im Vorfeld der Verhandlungen über den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag wie auch in ihrem weiteren Verlauf hat die Bundesregierung einen sehr umfassenden Dialog mit den verschiedenen Repräsentanten der Sudetendeutschen geführt. Die Gespräche sind auf seiten der Bundesregierung neben anderen vom Bundeskanzler und vom Bundesminister des Auswärtigen persönlich geführt worden. Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Nach der Unterzeichnung des Vertrages, die für den 27. Februar 1992 in Prag vorgesehen ist, und der Zustimmung durch die gesetzgebenden Körperschaften beider Länder werden beide Seiten den Vertrag in all seinen Aspekten unverzüglich mit Leben erfüllen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Auf diese Erfüllung mit Leben darf man sich freuen. Hat zu den Gesprächspartnern, die Sie erwähnt haben, auch der Sprecher der Sudetendeutschen gehört?

Not found (Gast)

Herr Kollege Lowack, ich habe eine ganze Auflistung von verschiedenen Gesprächspartnern. Zum Beispiel hat der Staatssekretär Kastrup mit Vertretern der sudetendeutschen Landsmannschaft am 25. Februar 1991 in Bonn diskutiert. Er hat auch mit dem Bundesvorsitzenden der Seeliger-Gemeinde gesprochen. Der Botschafter Höynck hat mit der sudetendeutschen Landsmannschaft z. B. am 12. Juni 1991 in Bonn gesprochen. Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer Kontakte, die ich Ihnen, wenn Sie darauf Wert legen, gerne zur Kenntnis gebe.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr verehrte Frau Kollegin, warum ist dann eigentlich auf das Hauptanliegen der Sudetendeutschen und ihrer Sprecher, bessere Rückkehr- und Investitionsmöglichkeiten für die Sudetendeutschen zu schaffen, in dem Vertrag überhaupt nicht eingegangen worden?

Not found (Gast)

Herr Kollege Lowack, es ist eine Hypothese, daß dies nicht geschehen ist, und auf Hypothesen kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann rufe ich die Frage 14 des Abgeordneten Pfuhl auf: Ist die Bundesregierung bereit, das Gebäude der ehemaligen DDR-Botschaft auf der Insel Kulosaari im Osten von Helsinki für alle in Helsinki ansässigen Institutionen der deutsch-finnischen Zusammenarbeit, wie Goethe-Institut, Deutsch-Finnische Handelskammer, Deutsche Gemeinde, Deutsche Bibliothek u. a., zur Verfügung zu stellen und somit ein deutsches Zentrum in Helsinki zu schaffen? Ist es sinnvoll, die Fragen 14 und 15 zusammen zu beantworten?

Not found (Gast)

Das kann ich gerne machen, wenn der Kollege Pfuhl damit einverstanden ist.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einverstanden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann rufe ich noch die Frage 15 des Abgeordneten Albert Pfuhl auf: Sollte die Antwort aufgrund der Lage des Gebäudes zu diesem Zweck negativ ausfallen, so frage ich, ob die Bundesregierung bereit ist, den Erlös des Verkaufs zum Ankauf oder Bau eines Deutschen Zentrums in Helsinki zu verwenden, damit die o. g. Institutionen zusammen mit dem deutschen Kindergarten eine Heimstatt finden könnten?

Not found (Gast)

Herr Kollege Pfuhl, das Gebäude der ehemaligen DDR- Botschaft in Helsinki wird bis Mitte Juli 1992 für die KSZE-Folgekonferenz benötigt, die am 24. März 1992 in Helsinki beginnt. Außer der deutschen Delegation werden dort weitere untergebracht sein, nämlich die britische und die niederländische. Für die Zwecke der Deutschen Botschaft werden zur Zeit eine Kanzlei und eine Residenz neu gebaut. Es besteht daher kein amtlicher Bedarf des Auswärtigen Amtes, die Botschaften der ehemaligen DDR über Juli 1992 hinaus zu nutzen. Die Liegenschaft wird somit dem Bundesminister der Finanzen zur Übernahme in das allgemeine Grundvermögen gemeldet werden. Sollte auch kein anderes Bundesressort amtlichen Bedarf geltend machen, steht es den in Helsinki ansässigen und im Interesse der deutsch-finnischen Zusammenarbeit tätigen Institutionen frei, sich beim BMF für den Erwerb oder die Nutzung dieser Liegenschaft zu bewerben. Die Bundesregierung würde gut begründete Anträge im Interesse der deutsch-finnischen Beziehungen wohlwollend prüfen. Für den Fall, daß es weder zum Erwerb noch zur Nutzung durch einen oder mehrere auf dem Felde der deutsch-finnischen Zusammenarbeit tätigen Interessenten kommt, wird der Herr Bundesminister der Finanzen die Liegenschaft nach den Regeln der Bundeshaushaltsordnung veräußern und den Erlös, wie es das Gesetz vorschreibt, dem Bundeshaushalt zuführen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatsminister, wäre die Bundesregierung bereit, die Federführung zur Zusammenführung all dieser deutsch-finnischen Institutionen in Helsinki zu betreiben, um dabei eine gemeinsame Lösung zu finden, oder würde sie sich dabei in vornehmer Zurückhaltung üben?

Not found (Gast)

Natürlich würde die Deutsche Botschaft in Helsinki gern das in ihrer Macht Stehende tun, um hilfreich zu sein, die Interessen zu koordinieren. Ich rege an, daß sich die Vertreter dieser Gruppierungen mit der Botschaft in Verbindung setzen, so daß man abgleichen kann, inwieweit es Möglichkeiten gibt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatsminister, ist Ihnen bzw. dem Auswärtigen Amt die räumliche Unterbringung all dieser Institutionen in Helsinki bekannt, und zwar hinsichtlich der räumlichen Mängel, die bestehen, und ist Ihnen bzw. dem Auswärtigen Amt die Notwendigkeit bekannt, dort etwas Neues zu schaffen, wenn wir daran denken wollen, daß wir die deutsche Sprache, die deutsche Kultur auch in Finnland stärker als bisher fördern wollen, damit wir im Integrationsprozeß in Europa bessere Karten haben?

Not found (Gast)

Natürlich sind die Beurteilungen unserer Botschaft in die Beantwortung dieser Frage eingeflossen. Ich sagte es ja: Wenn es einen vernünftigen Weg gibt, diese Interessen, z. B. die weitere Praktizierung und Verbreitung und Vermittlung der deutschen Sprache, so zu koordinieren, daß es sinnvoll ist, dann wird die deutsche Botschaft in Helsinki Sie, Kollegen, die sich hier darum kümmern, oder finnische Stellen, die miteinander kooperieren wollen, gern unterstützen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatsminister, nicht ohne Grund habe ich die zweite Frage gestellt, ob das jetzige alte Botschaftsgebäude in Helsinki unter Berücksichtigung der geographischen Entfernung gegebenenfalls für ein solches deutsches Zentrum geeignet wäre. Deswegen die Frage: Würde das Auswärtige Amt diese deutschen Institutionen unterstützen und darauf drängen, daß aus dem Erlös dieses Verkaufs, gegebenenfalls an einer anderen, neuen Stelle in Helsinki, etwas Neues geschaffen werden könnte?

Not found (Gast)

Herr Kollege Pfuhl, ich sagte Ihnen bereits, daß die Haushaltsordnung ein sehr genaues Vorgehen vorschreibt. Noch einmal: Wenn es eine vernünftige Lösung, ein Modell gibt, wie man hier zu einer Koordinierung dieser Gruppierungen kommen kann, werden wir das gern tun. Ich habe Ihnen bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage bereits zugesichert, daß die Bundesregierung solche Bestrebungen wohlwollend unterstützen wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Letzte Zusatzfrage.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatsminister, wären Sie als ehemalige Haushälterin persönlich bereit und in der Lage, durch Ihre Sach- und Fachkenntnis helfend einzugreifen?

Not found (Gast)

Herr Kollege Pfuhl, Sie wissen, wie hartleibig der Bundesfinanzminister aus guten Gründen bei manchen Dingen ist. Er hat sich aber noch nie einer sehr sinnvollen und die zwischenstaatlichen Beziehungen fördernden Maßnahme verschlossen. Wenn das Auswärtige Amt zu einer solchen Hilfe herangezogen wird, will ich mich gern im Rahmen meiner Zuständigkeiten dafür einsetzen und dieser guten Sache meine - wie Sie so nett sagen - guten Kontakte zum Haushaltsausschuß und zum Bundesminister der Finanzen dienbar machen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Herr Abgeordnete Pfuhl empfiehlt sich dann als Reisebegleiter. ({0}) Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Dieter Schloten auf: Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß die neuen osteuropäischen Wirtschaftspartner nicht nur die westliche Wirtschaftsordnung, sondern auch die in den westlichen Ländern im Konsens vereinbarten Richtlinien zur Rüstungsexportkontrolle übernehmen?

Not found (Gast)

Herr Kollege, hinsichtlich A-, B- und C-Waffen vertraut die Bundesregierung darauf, daß die osteuropäischen Staaten die bestehenden Verbote weiterhin einhalten. Die Bundesregierung setzt sich intensiv dafür ein, daß auch die neu entstandenen Staaten diese Verpflichtungen übernehmen. Bei Dual-use-Gütern im ABC- Bereich unterstützt die Bundesregierung aktiv die Bemühungen der verschiedenen Exportkontrollregime - ich nenne hier die australische Gruppe, Trägertechnologieregime, Nuclear Suppliers Group -, die neuen osteuropäischen Wirtschaftspartner an diese Regime heranzuführen. Schließlich unterstützt die Bundesregierung diejenigen osteuropäischen Staaten, die es wünschen, beim Aufbau eines wirksamen Exportkontrollsystems. Dies ist z. B. im Falle Ungarns und der Tschechoslowakei bereits geschehen und der Ukraine konkret angeboten worden. Zu konventionellen Waffen und Dual-use-Waren im konventionellen Bereich gibt es noch keine allgemein vereinbarten Richtlinien, welche diese Länder übernehmen könnten. Sie wissen aber, Herr Kollege, daß sich die Bundesregierung seit langem und nachdrücklich für Zurückhaltung und größere Verantwortung bei Exporten von Waffen und Rüstungsgütern einsetzt. Wichtige internationale Erfolge sind die im Rahmen der Vereinten Nationen und der KSZE übernommenen Verpflichtungen aller, auch der osteuropäischen Staaten, ein Waffentransferregister bei den Vereinten Nationen einzurichten bzw. bei Waffentransfers in Spannungsgebiete und in Staaten, die eine übermäßige Anhäufung von Waffen betreiben, Verantwortungsbewußtsein zu zeigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schloten? - Bitte schön.

Dieter Schloten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001986, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Anlaß meiner Fragestellung war natürlich auch der Fall Godewind - wenn ich ihn einmal so nennen darf. Deshalb möchte ich noch eine Zusatzfrage stellen: Auf welche Weise gedenkt die Bundesregierung auf die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten bzw. deren Nachfolgestaaten einzuwirken, damit zukünftig Waffenexporte in Krisen- oder gar Kriegsgebiete verhindert werden?

Not found (Gast)

Herr Kollege Schloten, ich glaube, Sie sind mit mir einig, wenn ich sage, daß der Bundesminister des Auswärtigen dies in der Vergangenheit sehr nachdrücklich und in bilateralen Gesprächen immer wieder getan hat. Wir werden z. B. die Möglichkeiten, die sich im Bereich der Kooperation auf EG-Ebene mit diesen Staaten in Zukunft verstärkt abzeichnen, dazu nutzen können, die Politik der Nichtweitergabe und am besten der Einstellung dieser Waffenlieferungen zu betreiben. Ich kann Ihnen das für mein Haus sicherlich signalisieren und zusagen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen hierzu werden nicht gewünscht. Dann teile ich dem Haus zunächst einmal mit, daß die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Dr. Ruck sowie die Frage 21 des Abgeordneten Bindig schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Augustinowitz auf: Gegen welche internationalen Verträge bzw. Abkommen verstößt Chile eventuell, indem die chilenische Botschaft in Moskau Erich Honecker weiterhin in der Botschaft duldet, und durch welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher auf die Regierung in Chile eingewirkt, damit diese ihre Botschaft in Moskau veranlaßt, Erich Honecker aus der dortigen Botschaft auszuweisen?

Not found (Gast)

Herr Kollege, in Betracht könnte lediglich das Übereinkommen über diplomatische Beziehungen kommen. Chile verletzt aber nur dann das WÜD, wenn Rußland die Beendigung des Aufenthalts von Erich Honecker in der Botschaft Chiles in Moskau verlangt und Chile sich dann diesem Verlangen widersetzt. Allerdings kann Rußland einen solchen Anspruch nicht zwangsweise durchsetzen. Sie wissen, daß die Bundesregierung wiederholt auf allen ihr zur Verfügung stehenden Kanälen der chilenischen Regierung ihre Haltung im Falle Honecker erläutert hat und gebeten hat, Erich Honecker nicht in der Botschaft Chiles in Moskau zu dulden. Die chilenische Regierung hat erwidert, sie werde Erich Honecker kein Asyl gewähren, sie sehe sich aber außerstande, Honecker aus der Botschaft auszuweisen. In Chile wird diese Haltung vielfach mit humanitären Erwägungen und mit angeblicher Dankbarkeit gegenüber Honecker für die Aufnahme vieler Chilenen in der früheren DDR während der PinochetDiktatur gerechtfertigt. Der chilenischen Regierung ist die deutsche Position klar bewußt. Sie hält aber bislang an der geschilderten Haltung fest. Dessenungeachtet wird die Bundesregierung in ihren Bemühungen nicht nachlassen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Jürgen Augustinowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Staatsministerin, für die Beantwortung der Frage. Die russische Regierung hat ja mehrfach bekräftigt, daß sie Erich Honecker beim Verlassen der chilenischen Botschaft den deutschen Behörden zuführen will. Wäre es nicht sinnvoll, von der russischen Regierung zu erbitten, daß sie in dem Sinne, wie Sie es eben geschildert haben, gegenüber Chile aktiv wird?

Not found (Gast)

Herr Kollege Augustinowitz, Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung alle Facetten dieser Thematik mit den dafür zuständigen Stellen angesprochen hat. Es gibt wirklich eine unglaubliche Fülle von Kontakten. Wir haben bislang den Zustand - wir haben heute ja einige andere Meldungen gehört -, daß Erich Honecker nach wie vor in der chilenischen Botschaft ist. Aber wir gehen weiterhin davon aus, daß die Zusage der chilenischen Regierung steht, daß sie Erich Honecker nur mit einem gültigen deutschen Paß ins Land lassen wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Jürgen Augustinowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsministerin, können Sie vielleicht Zweifel zerstreuen, daß die Bundesregierung gegenüber Chile diesen Fall nicht deutlich genug formuliert hat? Denn wir müssen natürlich auch die besondere innenpolitische Situation in Deutschland betrachten. Für uns ist die Sache Erich Honecker nicht irgendeine Angelegenheit, sondern ein Fall von besonderer Bedeutung.

Not found (Gast)

Herr Augustinowitz, wenn Sie es möchten, kann ich Ihnen gerne einen Einblick in die Liste der Kontakte geben. Ich kann es nur nicht hier vortragen, weil es eine ganze Reihe schutzwürdiger Kontakte gibt. Darauf nehmen Sie bitte Rücksicht. Ich kann Ihnen versichern, daß der chilenischen Regierung nicht verborgen geblieben ist, welchen Nachdruck die Bundesregierung mit ihrem Wunsch verbindet, Erich Honecker vor ein deutsches Gericht zu stellen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Staatsministerin, ich bedanke mich bei Ihnen. Ich kann noch die Fragen 36 und 37 der Abgeordneten Frau Westrich aufrufen, damit der Staatssekretär Dr. Grünewald für den Bundesminister der Finanzen nicht völlig vergeblich gekommen ist. Ist es sinnvoll, die Fragen zusammen zu beantworten? ({0}) - Sie setzen sich damit dem Risiko aus, Frau Abgeordnete, daß wir nur noch die Frage 36 behandeln. Ich rufe also diese Frage auf: Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die Verkehrswertermittlung für den von den US-Streitkräften im vergangenen Jahr geräumten Flugplatz Zweibrücken sich auf den Stichtag der Freigabe und auf die Eigenschaften, den Zustand und die Beschaffenheit des Grundstücks zum Freigabestichtag ohne Rücksicht auf die Planungsmaßnahmen der Stadt Zweibrücken beziehen wird? Bitte sehr.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Frau Kollegin Westrich, bei der Ermittlung des Wertes bundeseigener Grundstücke, für die ein Bebauungsplan nicht vorliegt, ist der Bund grundsätzlich gehalten, von der zukünftig vorgesehenen Bauleitplanung auszugehen, es sei denn, die Baulandeigenschaft ergibt sich bereits auf Grund der baurechtlichen Vorschriften. Davon abweichend kann nach dem Verbilligungskonzept der Bundesregierung bei der Verkehrswertermittlung für den ehemaligen Militärflugplatz Zweibrücken für den eine Planung noch nicht vorliegt, yon der derzeitigen Grundstücksqualität auszugehen sein. Dazu müssen allerdings die Voraussetzungen für die Durchführung städtebaulicher Maßnahmen im Sinne des Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch erfüllt sein. Auch ohne eine entsprechende förmliche Festlegung des Gebietes kann nach dem Ihnen bekannten Haushaltsvermerk in diesem Fall an die Gemeinde zum entwicklungsunbeeinflußten Grundstückswert veräußert werden. Voraussetzung dafür ist, daß sich die Gemeinde zur Durchführung der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen innerhalb von fünf Jahren verpflichtet. Eine weitere Voraussetzung ist das Vorhandensein einer im Ergebnis gleichen Regelung im Land Rheinland-Pfalz. Weitere Einzelheiten über diese Grundsätze werden augenblicklich interdisziplinär in der Bundesregierung festgelegt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich lasse eine Zusatzfrage zu. Dann ist die Fragestunde beendet. Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da der Beauftragte der Oberfinanzdirektion Koblenz als Vertreter der Bundesregierung bei Wertermittlungen immer auf einen Zeitpunkt nach vorliegenden Planungen verweist, frage ich Sie: Wie ist es dann mit eventuell vorhandenen oder entstehenden Planungsgewinnen? Kommen diese den betroffenen Kommunen als Ausgleich für die Kosten, die sie bis dahin getragen haben, zugute?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Verkehrswertermittlung richtet sich nach dem Zeitpunkt der Freigabe mit Sicht auf die zukünftige Planung. Der Bund beabsichtigt, um es ganz deutlich zu sagen, in keinem Fall, Planungsgewinne für sich zu beanspruchen, wenn die Gemeinde kauft und selber tätig wird oder einen Dritten beauftragt. Dann muß der Planungsgewinn auch der Gemeinde zukommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. ({0}) - Wir haben die für die Fragestunde vorgesehene Zeit jetzt schon deutlich überschritten. Aber wenn Ihnen die Zusatzfrage sehr am Herzen liegt und wenn sie kurz ist, will ich sie zulassen. Ich mache jedoch darauf aufmerksam, daß wir die Zeit schon deutlich überschritten haben. Bitte schön.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muß noch einmal fragen, Herr Staatssekretär, ob es unter der Aufzählung flankierender Maßnahmen für schwer vom Truppenabzug betroffene Gebiete auch die Möglichkeit der vorgezogenen Wertermittlung gibt. Ist das auch bei der Stadt Zweibrücken möglich?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ja, natürlich. Nur werden, wie Ihnen bekannt ist, auf dem Flughafen die Schäden der dortigen Altlasten noch festgestellt, und zwar sowohl von amerikanischer Seite als auch im Auftrag des Bundes durch die Landesbauverwaltung sowie wohl auch im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz von einer Gesellschaft, deren Namen ich momentan nicht genau weiß. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. *) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verstärkte Berücksichtigung von ostdeutschen Betrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge - Drucksache 12/737 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Debatte und erteile dem Abgeordneten Dr. Jens das Wort.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der bekannte amerikanische Nationalökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson meinte: „God gave us two eyes: one to watch supply side, and one to watch demand side." Gerade die Nachfrageseite ist im Programm Aufschwung Ost bisher leider viel zu kurz gekommen. Angebotspolitische Maßnahmen wie eine Investitionszulage setzen Unternehmen voraus, die investieren wollen. Bei unausgelasteten Kapazitäten, zu großem Angebot und zu geringer Nachfrage wirken diese Maßnahmen überhaupt nicht. So war es zum Teil. Trotz lautstarker Versprechungen vieler Großunter- *) Die Frage 99 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein ist zurückgezogen. Die übrigen Fragen sind schriftlich beantwortet worden und als Anlagen abgedruckt. nehmen wurde bisher in den neuen Bundesländern viel zu wenig investiert. ({0}) Man konnte ja schließlich die Nachfrage in Ostdeutschland mit Leichtigkeit durch die vorhandenen Kapazitäten in Westdeutschland befriedigen. Wir können der Bundesregierung den Vorwurf nicht ersparen, daß sie auf die Einführung der Währungsunion am 1. Juli 1990 wirtschaftspolitisch zu spät und zu schwach reagiert hat. Politisch gab es zur Einführung der D-Mark zu dieser Zeit keine Alternative. Dennoch waren die verheerenden Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft vorhersehbar. Gleichzeitig mit der Währungsunion hätte ein umfassendes und großzügiges Programm zur Belebung der Wirtschaftstätigkeit in den neuen Bundesländern auf die Beine gestellt werden müssen. ({1}) Jetzt haben wir in den neuen Bundesländern etwa ein Viertel der Bevölkerung ganz Deutschlands wohnen, aber die Bruttowertschöpfung betrug im vergangenen Jahr nur etwa 10 %. Die Bruttoinvestitionen der privaten Wirtschaft lagen noch wesentlich tiefer: bei 6 % der gesamten Investitionen der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts dieser Entwicklung den Eindruck in den neuen Bundesländern zu erwecken, mit der Angleichung der Lebensverhältnisse dauere es noch drei bis fünf Jahre, ist verwerflich und falsch. Wenn nicht mehr als bisher getan wird, werden wir nicht einmal in zehn Jahren angenäherte Lebensverhältnisse in Ostdeutschland erreichen. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Leistungen gibt es für kleine und mittlere Unternehmen in Ostdeutschland zur Zeit noch eine sogenannte Mehrpreispräferenz von 6 %. Nach unserem Antrag, den wir heute diskutieren, muß diese Mehrpreispräferenz angehoben, verlängert und auf alle Unternehmen in den neuen Bundesländern ausgeweitet werden. Selbst wenn die Unternehmen in Ostdeutschland 20 % teurer sind, sollten sie die öffentlichen Aufträge bekommen. Das will unser Antrag. Zweitens fordern wir, daß öffentliche Vergabestellen aller Art - nicht nur in den neuen Bundesländern - bei Aufträgen für die neuen Bundesländer dafür sorgen, daß mindestens 70 % der Lieferungen und Leistungen aus ostdeutschen Betrieben kommen. In begründeten Ausnahmefällen gibt es eine Ausweichmöglichkeit. Was in Ostdeutschland neu benötigt wird, soll von Kommunen, Ländern, Bund, Post, Bahn usw. vor allem in ostdeutschen Betrieben bestellt werden. Das würde die Auftragslage der ostdeutschen Unternehmen spürbar verbessern. Es wäre auch ein Anreiz für westdeutsche Unternehmen, in den neuen Bundesländern endlich eigene Produktionsstätten aufzubauen. Den Einwand im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft kennen wir; er ist geprüft. Aber Probleme sind bekanntlich dazu da, daß sie überwunden werden. Wenn wir nicht mehr als bisher tun, werden die Probleme in Ostdeutschland nicht geringer, sondern immer größer werden. ({2}) Wenn wir von öffentlichen Unternehmen sprechen, dann meinen wir selbstverständlich nicht nur die Stadtwerke, sondern auch alle Elektrizitätsversorgungsunternehmen. Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, die Probleme bei der Firma Bergmann-Borsig in Ost-Berlin zu diskutieren. Diese Firma gehört mittlerweile zum ABB- Konzern. Da ist ein Unternehmen privatisiert worden. Ob das für dieses Unternehmen ideal ist, wage ich zu bezweifeln. Die Aufträge werden nämlich zentral von der Konzernleitung akquiriert und zentral vergeben. Berlin hat bisher wenig abbekommen; aber es sind Aufträge z. B. nach Mannheim vergeben worden. Das scheint mir nicht sehr sinnvoll zu sein. Die Privatisierung hat nicht das gebracht, was wir eigentlich erhofft hatten. Tatsache ist, daß der Betriebsrat unwahrscheinlich aktiv ist und sich bemüht, daß Aufträge hereinkommen. Das weiß ich sehr wohl zu schätzen; das finde ich ganz hervorragend. Wenn wir hinbekämen, daß 70 % der öffentlichen Aufträge drüben erledigt werden müssen, wäre dieses Unternehmen für diesen Konzern plötzlich wieder hochattraktiv. Ich erwähne noch kurz drei weitere Maßnahmen, um die Nachfrageseite in Ostdeutschland, die bisher viel zu kurz gekommen ist, zu beleben: Erstens. Die Haltung der Gasunternehmen gegenüber den Lieferstaaten in der ehemaligen UdSSR ist mir unverständlich. Sie ist auch in der Diskussion im Wirtschaftsausschuß unverständlich geblieben. Gegenüber diesen Konzernen muß der Bundesminister für Wirtschaft offenbar eine etwas verständlichere Sprache sprechen. Zweitens. Der Kabinettsbeschluß vom 22. Januar über die Hermes-Deckung von 5 Milliarden DM für dieses Jahr für Lieferungen in die GUS-Staaten greift nach meinem Dafürhalten ein wenig zu kurz. Wir kennen das Problem selbstverständlich. Darüber muß jedoch im Interesse der ostdeutschen und einiger westdeutscher Unternehmen in der ersten Hälfte dieses Jahres neu nachgedacht werden. Mit jeder Maschine, die wir in die GUS-Staaten liefern, stabilisieren wir auch den Umstrukturierungsprozeß, den wir im Eigeninteresse unserer Wirtschaft dringend benötigen. Drittens. Ich weiß nicht, warum die Bundesregierung nicht mehr unternimmt, um Lander wie Polen, die CSFR und Ungarn in die Europäische Gemeinschaft zu holen. Auch das wäre ein Beitrag zur Stabilisierung des Reformprozesses. Auch damit würden wir die wirtschaftliche Position von Unternehmen in Ostdeutschland verbessern. In den Tagesnachrichten vom 23. Januar dieses Jahres läßt der Bundesminister für Wirtschaft verlauten: Bei Käufern der öffentlichen Hand müßte im Rahmen des rechtlich Zulässigen eine Präferenz für ostdeutsche Anbieter geschaffen werden. Ich wieder6354 hole - das war das Anliegen meiner kleinen Rede -: Tun Sie es doch endlich! Unser Antrag zur verstärkten Berücksichtigung ostdeutscher Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, über den wir heute diskutieren, liegt seit dem 2. Juli des vergangenen Jahres als Bundestagsdrucksache vor. Warum müssen die Sozialdemokraten die Regierung bei den Hilfsmaßnahmen für Ostdeutschland ununterbrochen treiben? Der Bundesminister für Wirtschaft hat ja bekanntlich schon sehr viel von uns übernommen, worüber wir natürlich nicht böse sind. Es sei aber erlaubt, dies immer wieder hervorzuheben. Auf alle Fälle meine ich, es wäre gut, wenn der Bundesminister für Wirtschaft auch diese Anregung, die heute zur Debatte steht, möglichst schon morgen verwirklichen würde. Schönen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Ulrich Köhler.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Baujunktur in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin beruht überwiegend auf öffentlichen Aufträgen. Die von der Bundesregierung bereitgestellten Mittel für den Aufschwung Ost haben sich als Initialzündung bewährt. Das zeigt die Entwicklung des Auftragseinganges und des Auftragsbestandes beim Bauhauptgewerbe. Die Bauaufträge lagen im Herbst 1991 um fast 90 % über dem Vorjahresniveau. Das Hauptanliegen der Bundesregierung war es von Anfang an, der einheimischen Bauindustrie sowie dem aufkeimenden mittelständischen Baugewerbe in den neuen Bundesländern Präferenzen einzuräumen. Deshalb erhalten kleine und mittlere Betriebe aus den neuen Bundesländern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen auch dann noch den Zuschlag, wenn sie mit ihrem Angebot bis zu 5 % über dem günstigsten Angebot eines Unternehmens liegen, das nicht in den neuen Bundesländern ansässig ist. Außerdem haben die in den neuen Bundesländern ansässigen Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen ein Recht zum Eintritt in das Angebot bzw. den Preis des günstigsten Anbieters, der nicht aus den neuen Bundesländern stammt. Das bedeutet, daß das Unternehmen die Möglichkeit erhält, seine Preise neu zu kalkulieren, so daß sie das günstigste Angebot nicht oder um nicht mehr als 5 % übersteigen. Darum ist die 20 %-Marge richtig und sinnvoll, weil sich nur innerhalb dieser Preisspanne Rationalisierungsreserven bilden lassen. Oberhalb dieser Preisspanne ist die einwandfreie Erfüllung dieses Angebots zumindest zweifelhaft. Die dabei festgelegte Obergrenze bei Liefergeschäften von 100 000 DM und bei Bauvorhaben in Höhe von 1 Million DM hat sich ebenfalls bewährt. 1991 betrug laut dem Statistischen Bundesamt die Summe der Bauinvestitionen in den neuen Bundesländern zuzüglich Ost-Berlins 36,4 Milliarden DM. Nach einer Umfrage des Hauptverbandes der Bauindustrie bei 100 ostdeutschen Mitgliedsunternehmen ist das Volumen der neu hereingekommenen Aufträge im Januar 1992 gegenüber dem Vormonat um 11 % gestiegen. Dabei stieg die Baunachfrage in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Ost-Berlin, während in Thüringen, Sachsen und Brandenburg eine Belebung ausblieb. Nach den Präferenzregelungen der Bundesregierung hat sich gezeigt, daß Arbeitsgemeinschaften zwischen Betrieben in den alten Bundesländern und Betrieben in den neuen Bundesländern deutlich die Nase vorn hatten. Erfahrungen des einen Partners, gepaart mit dem Heimvorteil des anderen, führten naturgemäß öfters zum Erfolg. Das Baugewerbe in den neuen Bundesländern mußte sich sehr schnell an die neuen Bedingungen des Marktes gewöhnen. Doch was nützen uns die besten Verordnungen und Präferenzen, wenn sie vor Ort von den Ländern und Kommunen nicht oder nur teilweise angenommen werden? Oder ist der Landrat oder Bürgermeister immer und in jedem Fall zu kritisieren, der aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln mehr herausholen will, als es mitunter die einheimischen Handwerker zulassen würden? Hinzu kommt, daß Planungsbüros aus den alten Bundesländern auf Grund ihres besseren Know-hows, verbunden mit den unerläßlichen Beziehungen und Kenntnissen der VOB Wege finden, Gesetze und Verordnungen geschickt zu umgehen. Das „Handelsblatt" schreibt dazu in seiner Ausgabe vom 7. Oktober 1991: Von der Präferenzregelung, die die Bundesregierung Mitte des Jahres erlassen hatte, um den ostdeutschen Unternehmen eine Vorzugsbehandlung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu sichern, wird in den Beitrittsländern kaum Gebrauch gemacht. Denn diese Regelung ist von den Ländern und Gemeinden in der ehemaligen DDR weitgehend nicht übernommen worden. Das „Handelsblatt" begründet seine Feststellung mit Überforderung der Beamten an den Vergabestellen für öffentliche Aufträge ebenso wie mit der Überforderung der öffentlichen Haushalte. Demzufolge brauchen wir keine Erweiterung der Präferenzen, wie von der SPD in dem Antrag gefordert, und schon gar keine Mehrpreispräferenz unabhängig von der Größe des Unternehmens. Denn schließlich wollen wir den Mittelstand und nicht die Großunternehmen fördern. Wir müssen dafür sorgen, daß bestehende Regelungen konsequent angewandt werden. Jeder gesetzgeberische Eingriff der Bundesregierung in den Markt, der über die bestehende Mehrpreispräferenz hinausgeht, bedeutet eine gefährliche Gratwanderung hin zum Dirigismus. Wir können darüber hinaus beschließen, was wir wollen: Das Ausgrenzen von Firmen aus den alten Bundesländern auf dem ostdeutschen Baumarkt können wir dadurch nicht erreichen. Dabei stellt sich gleichzeitig die Frage, ob wir das überhaupt wollen. Hans-Ulrich Köhler ({0}) Unser Ziel muß es sein, unser deutsches Vaterland gemeinsam aufzubauen. Wir alle sind gefordert, so schnell wie möglich und so viel wie möglich dazuzulernen. Mit gutem Beispiel geht hier die Deutsche Bundespost Telekom mit ihrer Vergabe von Aufträgen voran: Von den 7,25 Milliarden DM, die 1991 für den Aufbau der Infrastruktur und die Angleichung des Dienstleistungsstandards insgesamt zur Verfügung standen, wurden bereits im ersten Halbjahr 18 500 Aufträge mit einem Volumen von 800 Millionen DM an Unternehmen in den neuen Bundesländern vergeben. Die Tendenz blieb steigend, so daß die Unternehmen der Deutschen Bundespost, also Telekom, Postdienst und Postbank, schon bis Ende des dritten Vierteljahres rund 48 000 Aufträge mit einem Gesamtwert von 1,8 Milliarden DM in den neuen Bundesländern erteilt hatten. Handwerk, Handel und die mittelständische Industrie sind unmittelbarer Nutznießer dieses Auftragsvolumens, von dem zusätzlich Sekundarwirkung zugunsten des Mittelstandes ausgeht. Kleinere und mittlere Betriebe können sich noch als Unterauftragnehmer und Zulieferer für Großunternehmen anbieten und erhalten so Aufträge, die eigentlich der Industrie zugerechnet werden. Von der hohen Nachfrage nach Telefonanschlüssen in den neuen Bundesländern wird eine weitere Signalwirkung für den wirtschaftlichen Aufschwung erwartet. 1991 hat die Bundespost Telekom 550 000 Anschlüsse geschaltet und 453 000 neu verlegt. Dieses Ergebnis übertraf alle Erwartungen und Prognosen. Dafür und für das Programm „Telekom 2000", das 7,2 Millionen Anschlüsse für die neuen Bundesländer bis 1997 vorsieht, möchte ich der Bundesregierung danken. Der Ausbau des Telefonverkehrs in den neuen Bundesländern ist ein wesentlicher Beitrag zum Aufbau der Infrastruktur und zum Aufbau der Wirtschaft. Statt neue Forderungen zu erheben, schlage ich vor, daß die SPD-Regierungen der alten Bundesländer darlegen, wie vielen Unternehmen aus den neuen Ländern sie bisher Präferenzen bei der öffentlichen Auftragsvergabe gewährt haben. Dabei sollten zunächst die Regelungen des Bundes und der neuen Länder von den alten Ländern übernommen werden. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen bei der SPD wie immer Welten. ({1}) Bevor die SPD die Bundesregierung kritisiert, sollte sie dafür sorgen, daß die SPD-Landesregierungen die Präferenzregelungen übernehmen. ({2}) Damit helfen diese den Unternehmen und hier besonders dem Mittelstand in den neuen Ländern. Hier kann die SPD-Bundestagsfraktion einmal zeigen, wie gut die Zusammenarbeit mit den SPD-Landesregierungen funktioniert und welchen Einfluß sie geltend machen kann. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schumann.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir verkennen nicht die Anstrengungen, die in den neuen Ländern unternommen worden sind, um den Unternehmen aus den neuen Bundesländern größere Chancen im Wettbewerb um öffentliche Aufträge einzuräumen. Dazu hat besonders der Erlaß des Bundeswirtschaftsministeriums vom 1. Juli 1991 beigetragen. Die Anteile, die sich bei der Vergabe der Aufträge an ostdeutsche Unternehmen ergeben, sind örtlich zwar unterschiedlich, aber rein zahlenmäßig entfällt ein nicht unbeträchtlicher Anteil auf ostdeutsche Unternehmen. Eine andere Frage ist das vorhandene Auftragsvolumen, das trotz gewaltiger Transferleistungen nicht ausreichend ist. Notwendigkeiten für öffentliche Aufträge gibt es in Hülle und Fülle. Da wären in erster Linie die Wohnungserhaltung, die Stadtsanierung, die Beseitigung von Umweltschäden und die Probleme mit Trinkwasserqualitäten zu nennen. Sieht man das Ganze dazu vor dem Hintergrund der stark angestiegenen Arbeitslosigkeit im Osten, der vielen Menschen, die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind, obwohl sie noch gern gearbeitet hätten, und der fehlenden Infrastruktur, die das Entstehen von Arbeitsplätzen behindert, dann muß man sich doch ganz zwangsläufig die Frage nach einem öffentlich finanzierten Programm mit Arbeit für viele hunderttausend stellen, das diesen für viele Menschen ohne Arbeit schmerzhaften Kreislauf durchbrechen helfen könnte, statt Arbeitslosigkeit durch Passivsein zu finanzieren. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich bei der Diskussion auch die tatsächliche Finanzausstattung der ostdeutschen Kommunen vor Augen halten. Eine Gemeinde im Westen nahm 1991 pro Einwohner rund 1 270 DM Steuern ein - eine Gemeinde im Osten dagegen nur 200 DM. Eine weitere mögliche Einnahmequelle, nämlich die Energieversorgung über die Stadtwerke, gehört nach dem Stromvertrag großen Westkonzernen; zumindest so lange, bis diese Entscheidung gerichtlich rückgängig gemacht wird. Auch die Mittel aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost bringen hier keinen Ausgleich, auch wenn man dafür sicher dankbar sein muß. Zugleich ist es auch nach unserer Auffassung besonders notwendig, ostdeutschen Betrieben bei der Vergabe zu erwartender öffentlicher Aufträge Vorrang einzuräumen. Das könnte auch dem Mittelstand, dem produzierenden Gewerbe, weiteren Auftrieb geben. Wir haben heute in der Wirtschaftsdebatte ausführlich darüber gesprochen. Einigen ostdeutschen Firmen, z. B. in Sachsen, war es gelungen, öffentliche Aufträge zur Montage von Stahlschutzplanken und Sicherheitsausrüstungen an Autobahnen und Straßen zu bekommen. Die neuere Dr. Fritz Schumann ({0}) Entwicklung geht dazu über, daß verstärkt Umbauten und Neubauten ausgeschrieben werden. Alle vorliegenden Informationen deuten darauf hin, daß dies jedoch nach einer anderen Methode erfolgen soll: Man bevorzugt die Beauftragung von Generalunternehmen. Eine getrennte Ausschreibung von geeigneten Gewerken, z. B. Stahlschutzplanken, Lärmschutz, Markierung und Beschilderung, soll nicht mehr erfolgen. Gerade für die neuen mittelständischen Unternehmen ist eine solche Ausschreibungsmethode jedoch von großem Nachteil. In aller Regel wird der Generalunternehmer nicht eine Ausschreibung, sondern ein Angebotsverfahren durchführen. Außerdem wird ein Generalunternehmer die bestehende Richtlinie für die Behandlung bevorzugter Bewerber aus mittelständischen Betrieben nicht unbedingt anwenden müssen. Wir schlagen vor, in jedem Fall und unabhängig vom direkten Auftragnehmer bei den Auftraggebern der öffentlichen Hand eine Ausschreibung sicherzustellen, damit die Förderung des Mittelstandes nicht auf diesem Umweg zurückgeht. Danke. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Jürgen Türk das Wort.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hinlänglich bekannt, daß ostdeutsche Betriebe durch die erforderliche Umstrukturierung Anpassungsschwierigkeiten in beträchtlichen Größenordnungen haben und haben müssen, weil sie nicht auf Leistung und damit nicht auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet waren. Extrem schwierig wird die Lage durch den weggebrochenen Markt. Somit sind sowohl vorhandene Betriebe als auch viele Existenzgründer benachteiligt: Sie haben wesentlich schlechtere Wettbewerbschancen als westdeutsche Unternehmen. Da aber ohne Zweifel zu einer gesunden Wirtschaft insbesondere bodenständige, kleinere und mittlere Unternehmen gehören, müssen diese Wettbewerbsnachteile schrittweise abgebaut werden. Das macht die Bundesregierung seit Mitte 1991 mit entsprechenden Erlassen zugunsten der neuen Bundesländer bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und einem Nachtragserlaß des Bundesministers für Wirtschaft vom 14. November 1991 über die Aufgaben der Auftragsberatungsstellen in Ostdeutschland. Eintrittsrechte in Bestgebote westdeutscher Bieter bei Übersteigung des ostdeutschen Angebots bis 20 %, ein Mehrpreis von 5 % für mittlere und kleine Unternehmen und Eintrittsangebote vorrangig an kleine und mittlere Unternehmen gehen zweifellos über die bis zum ersten Halbjahr 1991 gültigen Regelungen hinaus und sind meines Erachtens eine optimale Hilfe. Natürlich stellt sich die Frage, ob diese eingeleiteten Maßnahmen greifen. Für den Bereich Cottbus, aus dem ich komme, kann ich das feststellen. Laut dem Bundesverband Mittelständischer Wirtschaft im Land Brandenburg werden die öffentlichen Aufträge im Bereich von Cottbus überwiegend an ostdeutsche Firmen vergeben. Das bedeutet freilich nicht, daß das schon ausreicht. Ganz offensichtlich hat hierzu auch die Auftragsberatungsstelle des Landes Brandenburg mit Sitz in Cottbus beigetragen. Doch nichts ist so gut, daß es nicht verbessert, d. h. besser angewendet und umgesetzt, werden könnte. Ein Hindernis ist, daß sich die westdeutschen Länder weigern, diese Bundesregelung zu übernehmen. Das dürfte ein weiteres Mal nicht gerade ein Beweis von Solidarität sein. Unabhängig davon könnten wahrscheinlich durch die genannte Regelung insgesamt die Angebote gedrückt und damit in der Summe öffentliche Mittel eingespart werden. Bei der Gelegenheit: Gespart werden könnte und muß nicht nur durch zahlenmäßige Reduzierung von öffentlichen Maßnahmen in den alten Ländern, sondern vor allem durch Reduzierung der Größe und Ausstattung entsprechend dem tatsächlich erforderlichen Bedarf. Wir brauchen jetzt also keine Paläste mit goldenen Klinken. Hier sollte, das ist meine Anregung, über Bemessungsrichtwerte - das sage ich ganz bewußt - nachgedacht werden, da öffentliche Anlagen ohne Zweifel überbemessen werden. Das hatte ich schon bei uns festgestellt. Ich nehme an, das ist hier im öffentlichen Dienst nicht anders. Ohne den zu erwartenden Berichten vorgreifen zu wollen, stelle ich fest: Offensichtlich kommen noch nicht alle öffentlichen Auftraggeber in vollem Umfang ihrer Verpflichtung nach, sich über die Auftragsberatungsstellen geeignete ostdeutsche Unternehmen für die Angebotsabgabe nennen zu lassen. Laut Auftragsberatungsstellen hat hier z. B. die Bundespost noch zuwenig und die Bahn - d. h. Bundesbahn und Reichsbahn - kaum Bedarf angemeldet. Insgesamt ist der Trend zu verzeichnen, daß vorwiegend nur das angemeldet wird, was über Jahre fest gebundene westdeutsche Lieferanten nicht mehr produzieren können. Erfreulicherweise ist hier eine Trendumkehr erkennbar, wie ich mir heute aus Cottbus habe berichten lassen. Doch das müssen die Analysen, die zu erwarten sind, besser ausweisen. Sie müßten auch darüber Aufschluß geben, ob jeweils eine Beratungsstelle in den ostdeutschen Ländern ausreicht. Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob die Beratungsstellen weiterhin nur Lieferungen oder besser auch Bau- und Planungsleistungen vermitteln sollten. Viele Investitionen bestehen aus diesen genannten Teilleistungen. Insgesamt bedeutet das: Die vorhandenen Regelungen stellen wesentlich verbesserte Hilfen dar, haben sich bewährt und sollten auf der Grundlage der noch zu erwartenden Berichte umgehend bis Ende 1993 - ich betone: bis Ende 1993 - verlängert und noch konsequenter umgesetzt werden. Damit würde sich der SPD-Antrag, der sicher gut gemeint war, allerdings erübrigen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Beckmann das Wort.

Klaus Beckmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000133

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Anfang Januar dieses Jahres hat der Bundeswirtschaftsminister die zweite Runde des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost der Bundesregierung eingeläutet und der Öffentlichkeit vorgestellt. Ziel dieses weltweit wohl einmaligen Unterfangens ist es, in den neuen Bundesländern die Rahmenbedingungen und Infrastruktur zu schaffen, die es mittelfristig ermöglichen, dort eine blühende, auch dem internationalen Wettbewerb standhaltende Wirtschaft zu schaffen und damit das Gefälle zwischen Ost und West und innerhalb der Bundesrepublik abzubauen. Dies alles hat seinen Preis. Die Bundesregierung stellt deswegen sowohl 1991 als auch 1992 jeweils 12 Milliarden DM für das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost bereit. Ein großer Teil dieser Gelder - damit komme ich zum Thema der heutigen Debatte - fließt als öffentliche Aufträge in den Wirtschaftskreislauf zurück. Die Bundesregierung hat mit Wirkung vom 1. Juli 1991 zur Flankierung dieses Mammutprogramms im öffentlichen Auftragswesen ein Bündel von Maßnahmen verabschiedet, das besonders den Unternehmen in den neuen Bundesländern zugute kommt. Insoweit, Herr Kollege, ist die Bundesregierung dem Antrag der SPD zuvorgekommen. Sie werden sicher damit einverstanden sein, daß wir damit im wesentlichen dem Ziel Ihres Antrages entsprochen haben. Um den Problemen, die sich für Unternehmen aus den neuen Bundesländern im Wettbewerb auch um öffentliche Aufträge ergeben, zu begegnen, hat die Bundesregierung viele Instrumente entwickelt. Eines der wichtigsten Instrumente ist dabei der Zugang zu öffentlichen Aufträgen. Ich nannte eingangs die 12 Milliarden DM pro Jahr aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs, nämlich der Transfer der Haushaltsmittel, die gezielt und projektbezogen in die neuen Bundesländer fließen. Doch insgesamt ist das Auftragsvolumen viel, viel höher. Nach Berechnungen der EG-Kommission fließen derzeit weit mehr als 10 % des Bruttosozialprodukts aller Mitgliedstaaten als öffentliche Aufträge in den Wirtschaftskreislauf zurück. Dies bedeutet allein für die Bundesrepublik mit einem Bruttosozialprodukt von rund 2,2 Billionen DM, daß rund 220 Milliarden DM von Bund, Ländern und Gemeinden als öffentliche Aufträge vergeben werden. Damit nun ein großer Teil dieses Geldes auch tatsächlich den Unternehmen in den neuen Bundesländern zugute kommt, ist ihnen der Zugang zum Kunden öffentliche Hand zunächst bis Ende 1992 erleichtert worden. Erstens. Den öffentlichen Auftraggebern wurde die Möglichkeit eingeräumt, an Stelle der öffentlichen Ausschreibung beschränkt auszuschreiben. Zweitens. Den Unternehmen der neuen Bundesländer haben wir ein generelles Eintrittsrecht in die Bestgebote westdeutscher Bieter ermöglicht. Dies bedeutet, daß immer dann, wenn ein ostdeutsches Unternehmen mit seinem Angebot um nicht mehr als 20 % über dem westdeutschen Bestgebot liegt, es in dieses Angebot eintreten kann. Drittens. Den Unternehmen der neuen Bundesländer wird, wenn sie in ein westdeutsches Bestgebot eingetreten sind - bei kleineren Aufträgen, also bei Lieferaufträgen bis 200 000 DM und Bauaufträgen bis 1 Million DM -, ein Mehrpreis von bis zu 5 % gewährt. Viertens. Zusätzlich wird allen kleinen und mittleren Unternehmen ohne Rücksicht auf die Größe des Auftrages ein weiterer Mehrpreis von nochmals 5 % eingeräumt. Dies bedeutet, die Unternehmen bekommen für Lieferaufträge bis zu 200 000 DM und Bauaufträge bis zu 1 Million DM 10 % mehr als die westdeutsche Konkurrenz. Fünftens. Die öffentlichen Auftraggeber des Bundes wurden verpflichtet, bei beschränkten Ausschreibungen und freihändigen Vergaben, wo es nicht unmöglich oder unzweckmäßig erscheint, die Auftragsberatungsstellen der neuen Bundesländer einzuschalten und sich geeignete Unternehmen aus den neuen Bundesländern benennen zu lassen. Sechstens. Alle öffentlichen Auftraggeber wurden verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß bei umfangreichen Leistungen, die in einzelne Lose oder Gewerke aufzuteilen sind, Unternehmen aus den neuen Bundesländern angemessen zu beteiligen sind. Gleiches gilt für westdeutsche Hauptauftragnehmer. Auch sie sind gehalten, möglichst als Unterauftragnehmer Partner in den neuen Ländern zu suchen. Dies ermöglicht auch einen Know-how-Transfer, learning by doing. Siebtens. Den Auftraggebern in den neuen Ländern wird in gewissem Umfang Spielraum für freihändige Vergaben eingeräumt wie die Möglichkeit, das Leistungsprofil für den einzelnen Auftrag so zu gestalten, d. h. abzuspecken, daß Unternehmen aus den neuen Ländern eine Chance haben, sich um diesen Auftrag zu bewerben. Es muß nicht sofort bei allen Leistungen, die mehr als 40 Jahre überhaupt fehlten, bei Leistungszeitraum und Ausführung von 0 auf 100 beschleunigt werden. Meine Damen und Herren, ich denke, daß diese kurze und auch nicht abschließende Aufzählung zeigt, was die Bundesregierung im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geleistet hat. Die Maßnahmen greifen. Ich denke, wir haben insoweit auch schon viel bewegt. Aber - das will ich nicht verkennen - es gibt auch Grenzen, über die auch die Bundesregierung nicht springen kann. Dazu, Herr Kollege Jens, gehören die Forderungen der SPD, nämlich 20 % Mehrpreise für alle Unternehmen in den neuen Bundesländern und 70 % des Auftragswertes aller Aufträge für Einrichtungen in den neuen Bundesländern. Derartige LocalContent-Regelungen für Unternehmen in den neuen Ländern sind unrealistisch und auch mit EG-Recht nicht vereinbar. Sie sind vorhin so salopp - ich verstehe das aus Ihrer Sicht - über diese Problematik hinweggegangen. ({0}) Ein kleines Beispiel zum Eintrittsrecht in westdeutsche Bestgebote: Sobald der Bestbieter aus einem EG-Mitgliedstaat kommt, gilt das Eintrittsrecht eben nicht mehr. Hier ist der EWG-Vertrag eine absolute Sperre, wie er auch eine Sperre ist gegen alle Versuche, eine sogenannte Local-Content-Lösung einzuführen, nach der gewisse Auftragsteile für gewisse Auftragnehmer reserviert werden sollen. Ein derartiges Eintrittsrecht oder eine Local-Content-Regelung ist mit dem durch den EWG-Vertrag garantierten freien Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht vereinbar. Folge wäre in letzter Konsequenz ja auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof. ({1}) Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zur finanziellen Seite sagen: Würde jeder der von der SPD geforderten 70 % aller Aufträge mit 20 % Mehrpreis vergeben, bedeutete dies entweder rund 15 % weniger Investitionen oder die Aufstockung der Haushalte um diesen Betrag. Derartige Forderungen passen in keiner Weise in die haushalts- und finanzpolitische Landschaft. Wir haben ja heute vormittag darüber schon gesprochen. Als letztes ein Appell an die Verantwortlichen in den alten Bundesländern. Die alten Bundesländer haben ja die jetzigen Bundesregelungen im öffentlichen Auftragswesen nicht übernommen. Das wurde eben schon ausgeführt. Der Bundeswirtschaftsminister hat deswegen erst vor kurzem bei seiner Vorstellung „Der Aufschwung Ost im zweiten Jahr" die Forderung wiederholt, die alten Bundesländer möchten nun auch endlich ihren Beitrag leisten und die Präferenzen im öffentlichen Auftragswesen übernehmen. Ich denke, daß insbesondere angesichts der Tatsache, daß derzeit geprüft und erwogen wird, diese Regelung um ein Jahr zu verlängern, der Appell besonders deutlich wird. Meine Damen und Herren, machen Sie bitte Ihren Einfluß geltend und helfen Sie uns, die alten Bundesländer zu überzeugen und sie zu einer Übernahme dieser Regelungen zu bewegen. Damit tun Sie das Richtige zugunsten der Unternehmen und der Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern. Vielen Dank. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat nun der Kollege Christian Müller das Wort.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn heute nun endlich unser Antrag vom 12. Juni 1991 auf der Tagesordnung steht, sind wir wohl um einige bittere Erkenntnisse über den Verlauf des gesamtdeutschen Einigungsprozesses reicher. Daher komme ich auch nicht umhin, diese ganze Angelegenheit einmal aus einer etwas emotionaleren Sicht zu beleuchten. Es wurde heute und hier schon festgestellt, daß von der Lösung der Probleme im Osten letztendlich auch die wirtschaftliche Zukunft des gesamten Landes abhängt. Ich glaube, wir sind allmählich an einem Punkt angelangt, an dem ich mich frage, welche Bedeutung das Wort Flexibilität in diesem Lande hat. Von den Ostdeutschen erwartet man ein Höchstmaß davon, damit sie mit den neuen Bedingungen fertigwerden. Ich kenne jede Menge Leute, die ihre ganze Intelligenz, Kreativität und Tatkraft dafür einsetzen, um sich selbst oder ihrem Unternehmen ein Stück Zukunft zu verschaffen. Dazu braucht man einen gewissen Spielraum, und um den geht es auch in diesem Antrag. Es geht auch darum, daß in diesem Hause begriffen werden muß, daß man, um den tatsächlichen Vollzug der deutschen Einheit zu erreichen, nicht einfach nach den seit Jahrzehnten eingeübten Strickmustern weiter verfahren kann. Die gesamte deutsche Politik und natürlich die Gesellschaft als solche sind gefordert, die Situation der Menschen im Osten wirklich wahrzunehmen und ein Höchstmaß an Flexibilität aufzubringen, um Lösungen hervorzubringen, damit dort Geld nicht nur ausgegeben, sondern auch verdient werden kann. ({0}) Immer noch begünstigt die Zerstörung der alten Strukturen im Osten vorwiegend die Produktion im Westen. Dies könnte wenigstens in Teilbereichen geändert werden, wenn - wie auch in diesem Antrag gefordert - ostdeutsche Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge stärker berücksichtigt würden. Es ist hier schon einiges zu den Hintergründen gesagt worden. Ich muß nicht wiederholen, welche Vorstellungen wir dazu haben. Ich meine, wenn dies auch irgendwo eine Wettbewerbsverzerrung ist, so sollte diese vorübergehende Verstärkung der Wettbewerbsverzerrung doch wohl von den westdeutschen Unternehmern akzeptiert werden können, zumal es ja bei diesem Antrag zunächst nur um Einrichtungen in den neuen Bundesländern geht. Dabei muß ich einfügen, daß mir der Antrag als solcher angesichts der fatalen Situation der ostdeutschen Unternehmen nicht weit genug geht. Präferenzen und Bevorzugungen der ostdeutschen Wirtschaft durch die öffentliche Hand sollten auch für bestimmte Zeiten im alten Bundesgebiet gelten, um die unmäßig hohe Schwelle des Einstiegs in die Westmärkte zu überwinden. ({1}) EG-Regelungen in allen Ehren, aber ich glaube, wir müssen mit diesem Problem zurechtkommen. Der Wettbewerb ist ohnehin verzerrt, und zwar aus der Sicht der ostdeutschen Unternehmen. Wie ist es denn um die Chancengleichheit der ostdeutschen Unternehmen bestellt? Die Energiepreise liegen im Westen deutlich unter denen im Osten. Schon dieser Umstand allein reduziert die Chancen der ostdeutschen Industrie. Christian Müller ({2}) Alle ostdeutschen Existenzgründer leiden in katastrophalem Maße an Kapitalmangel. Seit geraumer Zeit ist nun auch zu beobachten, daß die anfangs großzügiger gehandhabte Gewährung von Eigenkapitalhilfe und ERP-Krediten einer strengeren Vergabepraxis nach dem Kriterium nachgewiesener Qualifikation gewichen ist. Damit geraten die Existenzgründer in Schwierigkeiten, die einen fachlichen Neueinstieg verursachen. Schon existierende mittelständische Unternehmungen - ausgenommen die der Baubranche - haben kein wirtschaftliches Umfeld, um größere Betriebe als Zulieferer zu versorgen, weil diese als Treuhandunternehmen in der Regel tief in der Krise stecken. Ist es dann nicht fair, vorübergehend ein wenig bevorzugt zu werden - und sei es durch öffentliche Aufträge -, um die jetzige Durststrecke zu überleben? Dabei geht es schließlich um Arbeitsplätze und letztendlich auch darum, ob Kommunen in Zukunft einheimische Steuerzahler aus dem Mittelstand haben werden oder ob der Löwenanteil von Steuern in den Kommunen der westlichen Firmenstammsitze kassiert wird. Aber jenseits dieser im Antrag vorgeschlagenen Verfahrensweise, die die reduzierten Chancen ostdeutscher Unternehmer bestenfalls lindern hilft, geht es nach meiner Meinung längst um mehr. Es geht doch in der Tat darum, ob wir es zulassen, daß die Industrielandschaft zwischen Elbe und Oder verödet und den dort lebenden Menschen zugemutet wird, vom Westen her alimentiert zu werden. Es geht darum, die Deindustrialisierung zu stoppen und in den vernachlässigten Regionen des Landes - ob im Norden oder bei mir in der Oberlausitz - die sanierungsfähigen Kerne der noch vorhandenen Betriebe auch wirklich zu sanieren, gleichgültig, ob die Treuhandanstalt dafür noch in diesem Jahr die Privatisierung in Gang setzen kann oder nicht. Denn eine neue Industriestruktur, die näherungsweise in der Lage wäre, die notwendigen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, die für ein menschenwürdiges Dasein der Bevölkerung notwendig wären, wird mit den Instrumentarien des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost in einem erträglichen Zeitraum nicht entstehen. Das wissen wir schon längst. Ich fand es sehr erfreulich, mit welcher Klarheit Herr Tyll Necker in der „Wirtschaftswoche" Nr. 5 die Situation umrissen hat. Schließlich geht es für mich als ostdeutschen Abgeordneten klar darum, daß der ausgebrochene Verteilungskonflikt zwischen Ost und West nicht automatisch auf dem Rücken der Ostdeutschen ausgetragen wird. Was wäre sonst jahrzehntealtes Gerede von den „Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone" , später der sogenannten DDR, eigentlich wert gewesen? Natürlich ist es so, daß expandierende Märkte im Westen die beste Voraussetzung dafür wären, daß auch konkurrenzfähige Ostprodukte Marktanteile gewinnen könnten. Aber was ist eigentlich, wenn diese expandierenden Märkte in mittelfristigen Zeiträumen nicht existieren sollten? Dann gibt es doch wohl nur die Lösung, Marktanteile und Arbeit zwischen Ost und West zu verteilen. Der Staat hat dabei, soweit er als Auftraggeber oder mit Subventionen auftritt, mit gutem Beispiel voranzugehen. Das gilt ganz besonders für das Beschaffungsprogramm von Bundesbahn und Reichsbahn und auch für den Bereich Kohle und Energie. Genau zu diesem Thema gehört, klar die regionalen Interessen zu definieren, welche der Industriestandorte in einer Region unverzichtbar sind. Es war immerhin ein Fortschritt - ich habe das sehr begrüßt -, daß die sächsischen CDU-Abgeordneten begonnen haben, Forderungen dieser Art geltend zu machen. Ich kann nur hoffen, daß Sie, liebe Kollegen, in der Lage sein werden, Ihren Standpunkt durchzusetzen. Für mich und die Oberlausitz möchte ich klar ausdrücken, daß der Schienenfahrzeugbau in Bautzen, Niesky und Görlitz ebenso unverzichtbar ist wie die als sanierungsfähig eingestuften Reste der Textilindustrie bei Frottana in Großschönau oder Lautex, das Ferrolegierungswerk in Hirschfelde, das sich seit zwei Jahren erfolgreich am westlichen Markt behauptet und in Gefahr ist, „rekonstruiert" zu werden, das Dieselmotorenwerk in Cunewalde, der Stahlbau in Niesky. Diese Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Die Existenz dieser Betriebe ist für diese Region genauso wichtig wie die Existenz der Leuna-Werke für den Raum Merseburg. Ich fordere nochmals die Automobilbranche der Bundesrepublik auf, sich die hundertjährigen Erfahrungen im Lkw-Bau bei ROBUR in Zittau und die fachliche Qualifikation der dort noch beschäftigten Menschen zunutze zu machen, um da wenigstens ein Stück Zulieferindustrie aufzubauen. Gemessen an diesen Problemen, an deren Bewältigung sich niemand vorbeidrücken kann, ist der vorliegende Antrag - so glaube ich - lediglich ein bescheidener Schritt, dem zugestimmt werden sollte. Ich bin der Meinung, es gäbe wesentlichere Maßnahmen zu beschließen, die der ostdeutschen Wirtschaft deutlicher auf die Beine helfen als diese. Ich bedanke mich. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Ulrich Petzold das Wort.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut mir leid, daß die Kollegen der SPD die Erlasse der Bundesministerien - ich will sie nicht alle aufzählen - einfach nicht zur Kenntnis genommen haben. Das fehlt in der Diskussion heute natürlich ein bißchen. Aber ich möchte sagen: Ein Ziel, zwei Wege - kurz umschrieben ist das die Formel, wenn man sich den Antrag der SPD und die Erlasse mehrerer Ministerien zur verstärkten Berücksichtigung ostdeutscher Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ansieht. Ich danke der Opposition, daß auch sie sich dieses Themas annimmt. Die drängende Auftragslage in der ostdeutschen Wirtschaft zum Entstehungszeitpunkt des Antrags sowie der Erlasse ist uns noch gut im Gedächtnis. Doch ich möchte feststellen, daß sich - nicht zuletzt auch durch die Erlasse über Ausnah6360 meregelungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zugunsten der neuen Bundesländer - die Auftragslage, insbesondere im Handwerk und in der Bauindustrie, wesentlich entspannt hat. Deshalb erlaube ich mir, Ihre beiden Forderungen den Grundforderungen der Erlasse gegenüberzustellen. Sie fordern unter Punkt II. 1 eine 20%ige Mehrpreispräferenz. Dazu muß ich sagen: Es wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Als ostdeutscher CDU-Bundestagsabgeordneter habe ich nicht nur unsere notleidende Industrie, sondern auch viele Gemeinden zu vertreten, in denen wir die politische Verantwortung tragen. Wo jemand 20 % mehr für einen Auftrag erhalten soll, da muß auch jemand 20 % mehr für einen Auftrag zahlen. ({0}) Hier fehlen den Gemeinden, Kreisen und Ländern einfach die Einnahmen - auch die aus dem Fonds Deutsche Einheit -, um die wir jetzt alle gemeinsam kämpfen sollten. Bei einer wahllosen 20%igen Mehrpreispräferenz für ostdeutsche Unternehmen würden verständlicherweise auch die westdeutschen Unternehmensverbände nicht mitmachen. Schon jetzt sprechen drohende Stimmen von Preisdumping ostdeutscher Betriebe mit Hilfe der Treuhand. ({1}) Das ist nach allen Überprüfungen bisher jedoch unberechtigt. Insgesamt, so meine ich, ist eine 20%ige wahllose Mehrpreispräferenz in ihrer Höhe und auf Grund der Ziellosigkeit eher schädlich als nützlich. Ihre zweite Forderung nach der Festschreibung, daß mindestens 70 % des Lieferungs- und Leistungsumfanges bei öffentlichen Aufträgen aus ostdeutschen Betrieben stammen sollen, ist schon auf Grund des verwaltungstechnischen Umfangs beim erforderlichen Nachweisverfahren kaum realisierbar. Wir müssen davon ausgehen, daß sich im vergangenen Jahr eine große Zahl von Ost-West-Unternehmen gebildet hat, bei denen ein Herkunftsnachweis kaum mehr möglich ist. Außerdem sind viele technische Gebilde in ihrer Struktur zu kompliziert, als daß man sie auf den einfachen Nenner 70 : 30 reduzieren kann. Woher nehmen Sie die Atteste über viele Einzelteile bei der heute üblichen internationalen Kooperation? Der in Ihrem Antrag aufgeführten globalen Mehrpreispräferenz wird in den Erlassen der Ministerien ein, so meine ich, präzises Förderinstrument gegenübergestellt. Hier werden sehr wirkungsvolle Fördermaßnahmen für den sich bildenden Mittelstand angeboten. Die im Aufbau befindlichen mittelständischen Unternehmen können durch die Festlegung der Erlasse nicht bloß in das niedrigste Gebot einer Firma aus den Altbundesländern einsteigen, sondern können außerdem bei Lieferungen mit einem Auftragswert bis 200 000 DM oder bei Bauleistungen mit einem Volumen bis zu 1 Million DM erstens einen Mehrpreis von 5 bzw. 2,5 % und zweitens einen Mehrpreis in gleicher Höhe auf Grund geringer Betriebsgrößen in Anspruch nehmen. Beide Maßnahmen können sich bei kleinen und mittleren Unternehmen zu einer Mehrpreispräferenz von 10 bzw. 5 % addieren. Hinzu kommen die gerade für mittelständische Firmen so wichtige Erweiterung der Verdingungsordnungen durch die Erhöhung des Auftragswertes für die freihändige Vergabe und die Erleichterung der beschränkten Ausschreibung. Hier trat am 14. November vorigen Jahres per Erlaß des Bundeswirtschaftsministeriums eine weitere Vereinfachung in Kraft. Wenn gerade diese Ausnahmeregelungen als zweischneidig betrachtet werden können, so haben die Erfahrungen in den neuen Bundesländern die positiven Aspekte überwiegen lassen. Aus dem Maßnahmenpaket der Erlasse, das ich Ihrer problematischen Mehrpreispräferenzlösung gegenüberstelle, möchte ich insbesondere noch einmal das Eintrittsrecht in das wirtschaftlichste Angebot hervorheben. Die Kalkulation von Preisen ist in ostdeutschen Firmen oft noch mit großen Unsicherheiten behaftet. Gerade daß man Konkurrenzangebote kennenlernt und darauf reagieren kann, ist für diese Unternehmen wichtig und wirkungsvoll. Leider liegen zu den Auswirkungen des Eintrittsrechtes noch keine klaren statistischen Zahlen in allen Bereichen vor. Um so erfreulicher ist die vorläufige Bilanz im Bereich Verkehr in den neuen Bundesländern. Demnach wurden im Bundesfernstraßenbau 88 % der Aufträge und 73 % des Auftragswertes in Höhe von insgesamt 2,136 Milliarden DM an Ost- bzw. Ost-West-Firmen vergeben. Wünschenswert dabei wäre, wenn gerade auch an den Schaufenstern des Straßenbaus, den Autobahnbaustellen, mehr Schilder ostdeutscher Firmen zu sehen wären. Die Autofahrer aus den neuen Ländern registrieren hier viel mehr die Schilder aus dem Westen als die schönen Zahlen aus dem Bundesverkehrsministerium. Auch so etwas kann trotz stolzer Bilanz Frust und Minderwertigkeitsgefühle erwekken. Bei den Bundeswasserstraßen kann man davon ausgehen, daß von dem Auftragsvolumen von 67 Millionen DM alle Aufträge bis auf wenige Projektierungen an Ost- bzw. Ost-West-Unternehmen gegangen sind und daß auf Grund des noch niedrigen Lohnniveaus in den neuen Bundesländern der überwiegende Anteil der Beschäftigten von dort kommt. Ähnlich gut sieht es nach Angaben des Ministeriums im Bereich der Deutschen Reichsbahn aus. Fast sämtliche Aufträge sind an Ostfirmen gegangen. Langfristige gute Lieferbeziehungen zahlen sich hier aus. Nur bei der Deutschen Bundesbahn scheinen sich die Erlasse des Ministers nicht so schnell herumzusprechen. Ganze 9,7 % der Aufträge bei 10,3 % des Gesamtauftragswertes gingen in den Osten. Das ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß der Dezernent für maschinentechnische Anlagen des Zentralamtes Minden der Deutschen Bundesbahn am 23. Oktober 1991 den Erlaß seines Ministers vom 1. Juli 1991 noch nicht kannte und steif darauf beharrte, daß sich das Einstiegsrecht nur auf Aufträge bis zu 1 Million DM beschränke, und einer ostdeutschen Firma jedes Eintrittsrecht verweigerte. ({2}) Doch auch hier scheint sich durch den Einsatz des Ministeriums eine positive Entwicklung zu vollziehen. Entscheidend ist, daß durch die Privatisierungsbestrebungen, die, wie wir hoffen, einen positiven Einfluß auf die Wirtschaftlichkeit unserer Eisenbahn haben werden, die Ausnahmeregelung für Unternehmen aus den neuen Ländern nicht unterlaufen wird. Als Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft - hier betone ich Marktwirtschaft - ist uns das Heranführen der ostdeutschen Betriebe an eine Konkurrenz sehr wichtig. Die Frage ist hier natürlich auch wieder die nach der Zeitspanne. Vielen von uns erscheint das Abschmelzen der Erlasse zum 30. Juni 1992 und das Auslaufen zum 31. Dezember 1992 zur Zeit als zu hart. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar, daß er sich gemäß seiner Erklärung vom 7. Januar 1992 gemeinsam mit uns bei der EG und der westdeutschen Wirtschaft für eine Verlängerung der Erlasse über den 31. Dezember 1992 hinaus einsetzen will. Außerdem werden wir uns gemeinsam mit dem Wirtschaftsminister dafür einsetzen, daß das Eintrittsrecht und die Mehrpreisgewährung für ostdeutsche Firmen auch durch die alten Bundesländer festgeschrieben werden. Hier, meine Damen und Herren von der Opposition, erbitten wir Ihre Unterstützung, da ja die Mehrzahl der Regierungen dieser Bundesländer von Vertretern Ihrer Partei geführt werden. Wir wissen, es fällt schwer, etwas abzugeben. Aber nach dem großzügigen Antrag dürfen wir doch auf Ihre Hilfe hoffen. Ich sehe im Zusammenhang mit dem Antrag noch großen Gesprächsbedarf. Ich freue mich auf eine Diskussion im Ausschuß. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/737 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 36 zu Petitionen ({1}) - Drucksache 12/1454 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. - Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist diese halbe Stunde so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gertrud Dempwolf.

Gertrud Dempwolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD hat im Petitionsausschuß die Aussprache über die Petitionen beantragt, die, unterstützt durch über 5 700 Unterschriften, ein Verbot der Produktion und die Bestrafung der Ausbringung toxischer chemischer Stoffe in die Umwelt fordern. Die Petenten beziehen sich auf die Studie über ein Forschungsvorhaben der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft unter Förderung des Umweltbundesamtes, das zwischen 1986 und 1989 durchgeführt wurde. Als Schlußfolgerung aus dieser Studie über „Verbleib von Pflanzenschutzmitteln in der Umwelt" ein generelles Verbot von Pflanzenschutzmitteln zu ziehen, ist jedoch falsch. Die Studie hat erbracht, daß nicht ein Verbot sinnvoll ist, sondern eine zusätzliche Überprüfung des Verflüchtigungsverhaltens von Pflanzenschutzmitteln und der Abbaubarkeit der Wirkstoffe in der Luft. Die Biologische Bundesanstalt erteilt auf Grund der Untersuchungen keine Zulassung mehr für Pflanzenschutzmittel, die durch Sonneneinstrahlung oder durch sonstige chemische Vorgänge in der Luft nicht abgebaut werden. Leider müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, daß dieses Problem national kaum zu lösen ist, da Luft keine Ländergrenzen kennt und Pflanzenschutzmittel und andere Chemikalien, die in Nachbarländern eingesetzt werden, binnen kurzer Zeit bei uns mit der Luft und mit dem Regen ankommen. Wir nehmen die Sorgen der Petenten ernst. Unsere Bemühungen um einen verantwortungsvollen Umgang mit Pflanzenschutzmitteln müssen sich auf ein sachgemäßes Verfahren konzentrieren. Dreh- und Angelpunkt unserer Fragen sind die Zulassung und der heutige wissenschaftliche Erkenntnisstand. Pflanzenschutzmittel werden laut § 15 des Pflanzenschutzgesetzes nur zugelassen, wenn sie bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier und auf den Naturhaushalt haben. ({0}) - Kommt noch, Frau Kollegin. ({1}) Maßstab ist der gegenwärtige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wie anders sollte es sein? Auch Sie haben heute noch nicht das Wissen von morgen, liebe Frau Kollegin. ({2}) Wie in anderen Bereichen bleibt auch bei Pflanzenschutzmitteln die Zeit nicht stehen. Verbesserte Untersuchungsmethoden führen zu neuen Erkenntnissen, die laufend Eingang in das Zulassungsverfahren finden. Das Zulassungsverfahren bei uns in der Bundesrepublik ist besonders streng. Das zeigen folgende Zulassungszahlen für die verschiedenen EG-Staaten: Während in Deutschland 220 zugelassene Wirkstoffe existieren, sind es in Frankreich 400, in Portugal über 600. Während es in der Bundesrepublik 80 verbotene Wirkstoffe gibt, sind es in der EG nur 18. ({3}) - Diese Zahlen sind ein beredtes Beispiel für die kritischen Prüfungen bei uns. Das sagt das. Wir haben es begrüßt, daß es die Bundesregierung auf der Grundlage des Pflanzenschutzgesetzes vom 15. September 1986 gegen erheblichen Widerstand mehrerer Mitgliedstaaten der EG und teilweise auch der EG-Kommission durchgesetzt hat, daß einerseits eine möglichst weitgehende Harmonisierung, andererseits ein möglichst hohes Schutzniveau für Mensch, Tier und Naturhaushalt EG-weit verzahnt wurden. Für die Anwendungsvorschriften gilt im übrigen ausschließlich das hohe Schutzniveau des deutschen Pflanzenschutzrechtes. Auf Grund der Zulassungskriterien und der gesetzlichen Bestimmungen ist doch völlig klar, daß die Biologische Bundesanstalt nicht so lange wartet, bis gesundheitsschädigende Wirkungen eintreten. Aufhebungen von Zulassungen und Anwendungsverbote werden bereits ausgesprochen, wenn neue Untersuchungen nachteilige Wirkungen erkennen lassen. Es sind eine Reihe von Fällen aufzuzählen, in denen in der Bundesrepublik Deutschland Stoffe verboten wurden, die zum Teil in anderen Ländern eingesetzt werden oder erst sehr viel später aus dem Verkehr gezogen wurden, wie z. B. die Quecksilberbeize, Phthalimide, Gramoxone und Atrazin seit 1991. Wir erwarten in diesem Zusammenhang, daß sich die Bundesregierung wie bisher mit Nachdruck für die EG-weite Durchsetzung der Anwendungsverbote für alle atrazinhaltigen Pflanzenschutzmittel einsetzt. ({4}) Auf Grund des hohen Schutzniveaus des deutschen Pflanzenschutzrechts sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt keine weitere Notwendigkeit für eine Novellierung oder Änderung im Pflanzenschutzgesetz; denn bei uns werden erkannte Gefahrenpotentiale mit hoher Sicherheit in beschränkende Verordnungen umgesetzt. Ich nenne hier z. B. die Wasserschutzauflage und die Bienenverordnung. Im übrigen: Wenn wir uns rational mit den für uns alle eminent wichtigen Fragen auseinandersetzen, müssen wir doch darin übereinstimmen, daß es nicht ohne jeglichen Pflanzenschutz in der Landwirtschaft geht. Natürlich können Sie argumentieren, daß im Kleingarten- und Gewächshausbereich und zum Teil im Obst- und Weinbau der biologische Pflanzenschutz z. B. mit Einsatz von Nützlingen schon heute praktikabel ist. Darin stimme ich mit Ihnen überein. In unseren großen, flächendeckenden Kulturen - ich denke an Getreide, Rüben, Raps und Kartoffeln ({5}) gibt es zur Zeit kein geeignetes Verfahren für die biologische Kontrolle von Krankheiten und Schädlingen. Dies ist auch in der Zukunft sehr kritisch zu sehen. Es ist so und wird wohl so bleiben, daß es z. B. ökonomisch einfach völlig unrealistisch ist, Marienkäfer für die Blattlausbekämpfung im Getreide zu produzieren und einzusetzen. Das einzige Verfahren, das funktioniert, ist bisher die Bekämpfung des Maiszünslers in Süddeutschland. Diese Erkenntnisse kann man einer Studie über die Situation zum biologischen Pflanzenschutz entnehmen, die vom BMFT gefördert wurde und die Sie ja einmal studieren können, wenn Sie die Forderungen nach Verbot von chemischen Pflanzenschutzmitteln unterstützen. Ich kann Ihnen sagen, wo Sie sie finden. ({6}) In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen weiteren Gedanken anschließen. Landwirtschaft ohne jegliche Chemikalien erscheint auch nicht durchführbar, weil eine solche Form der Landwirtschaft im Wettbewerb nicht bestehen kann. Es könnte - wenn überhaupt - nur funktionieren, wenn wir uns in Deutschland vollständig abschotten und keine Importe mehr zulassen. Zum einen könnten wir dann nicht mehr mit konventioneller, intensiver Produktion konkurrieren. Zum anderen würden alle Importe die Belastungen wieder zurückbringen; denn auf die Apfelsinen aus Spanien und das Gemüse aus Holland wollen wir nicht verzichten. Oder wollen Sie dem Bundesbürger vorschreiben, von den exotischen Köstlichkeiten, an die wir uns alle gewöhnt haben, ganz Abstand zu nehmen? Denn da sind die Belastungen besonders hoch, und sie werden so bleiben, da viele Produkte aus den Tropen bzw. aus den Subtropen ohne Chemie überhaupt nicht zu produzieren sind. Flächendeckender alternativer Landbau ist also nicht denkbar, wenn man halbwegs realistische ökonomische Kriterien anlegt. Ich glaube, daß das Grundprinzip des integrierten Pflanzenbaus und speziell des integrierten Pflanzenschutzes, das im Gesetz als Richtlinie für den Landwirt verankert ist, eine sehr vernünftige und, wenn richtig angewendet, durchaus realistische Grundlage zur umweltgerechten Pflanzen- und Tierproduktion bietet. So sind die Bauern bemüht, mit möglichst wenig Dünge- und Pflanzenschutzmitteln - das Problem ist gekoppelt - auszukommen. ({7}) Neue Meßmethoden und der Einsatz von Computern sind dabei eine wichtige Hilfe. ({8}) Ich unterstreiche für meine Fraktion, daß wir eine umweltgerechte Pflanzenproduktion eher im integrierten Pflanzenbau in vernünftiger Abstimmung von biologischen und umweltverträglichen chemischen Verfahren verwirklicht sehen. Das ist realistisch und gut und muß gefördert werden. Ich kann die Forderung, im Pflanzenschutzgesetz ein sogenanntes Vorsorgeprinzip aufzunehmen, nicht unterstützen. ({9}) Verlassen wir uns auf den wissenschaftlichen Sachverstand, nicht auf Emotionen, und arbeiten wir weiter daran, daß bei der Festlegung der einheitlichen Grundsätze auf EG-Ebene schrittweise das jeweils höchste Schutzniveau erreicht wird. Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Forderung der Petenten nach der qualifizierten Unterrichtung für Landwirte und Forstleute über den alternativen Landbau sagen. Es ist doch einfach unrichtig zu behaupten, daß eine solche Unterrichtung von seiten der für die Beratung, Aus- und Fortbildung zuständigen Landwirtschaftsministerien der Länder versäumt wurde. Die Vermittlung umweltrelevanter Lerninhalte ist im übrigen Bestandteil der landwirtschaftlichen Ausbildung. ({10}) Es sollte Ihnen doch nicht entgangen sein, daß die Bundesregierung bereits seit 1973 den alternativen Landbau durch intensive Forschungsförderung unterstützt. Es wurden und werden Forschungsvorhaben über umwelt- und naturverträgliche Pflanzenschutzmaßnahmen durch den BML und den BMFT mit vielen Millionen DM - zur Zeit über 22 Millionen DM - gefördert. Für meine Fraktion - meine Zeit ist abgelaufen; darum mache ich es kurz, schlage ich vor, das Petitionsverfahren abzuschließen, ({11}) weil die Unterschriftenaktionen keinen Anlaß ({12}) zu gesetzgeberischen Maßnahmen bieten. Ich danke Ihnen. ({13})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Sie hatten sogar noch zehn Sekunden, Frau Kollegin. Jetzt hat die Kollegin Susanne Kastner das Wort. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wie gesagt: 5 280 Bürger unterstützen die Petition, die die Kollegin Dempwolf hier gerade vorgetragen hat. Diese Unterstützung geschieht aus Sorge und Unsicherheit über mögliche Risiken der massenweise ausgebrachten Pflanzenschutzmittel. Ein in die Irre führendes Wort im übrigen, suggeriert es doch, daß Kulturpflanzen und Wildkräuter - bei uns Unkräuter genannt - geschützt werden sollen, verschweigt aber gleichzeitig, daß diese massenweise, bisher nicht ausreichend kontrollierte Anwendung chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel bei uns und in anderen Ländern Pflanzen, Tiere, Naturhaushalte, Umweltklima und die Gesundheit des Menschen gefährden kann und tagtäglich schon gefährdet. Die Bürgerinnen und Bürger draußen lassen sich aber nicht mehr so ohne weiteres durch Hochglanzbroschüren und teure Werbespots der Industrie blenden. ({0}) Es ist richtig, daß die Zahl der zugelassenen Mittel und Wirkstoffe seit 1986 stark zurückgegangen ist. ({1}) Der landwirtschaftliche Verbrauch liegt aber z. B. in den alten Bundesländern immer noch bei 30 000 t, Herr Göttsching. Im ersten Zwischenbericht der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Technikfolgenabschätzung Grundwasser kann man lesen - ich zitiere -: Relevante landwirtschaftliche Faktoren für den Eintrag von Pflanzenschutzmitteln ins Grundwasser sind insbesondere die Anwendungsmenge, die Anwendungshäufigkeit, der Anwendungszeitpunkt und die Anwendungsart. ({2}) Sie wissen genau, daß die Abbaurate eines ausgebrachten Wirkstoffs in der Umwelt sehr hoch sein muß, um Grundwasserbelastungen auszuschließen. Das Landwirtschaftsministerium steht dabei völlig konträr zum Beschluß der Umweltministerkonferenz, alle Pflanzenschutzmittel zu verbieten, die ins Grundwasser gelangen können. Frau Dempwolf, ich erinnere Sie daran, daß wir in der letzten Legislaturperiode eine Petition zum Verbot von Ausbringungen von Pflanzenschutzmitteln bei der Bundesbahn gemeinsam beschlossen haben. Der Vollzug dieser Petition ist bis heute noch nicht passiert. ({3}) Ich gebe ja zu, daß wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen höheren Standard bei der Zulassung und Anwendung haben. Aber auch wenn nur 6 % der Pflanzenschutzmittel toxisch sind - wie der Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, Herr Gallus, der heute nicht anwesend ist, sagt -, ({4}) dann sind das immerhin 1 800 t toxische Pflanzenschutzmittel, die uns Menschen unmittelbar gefährden. Das kann man doch nicht lapidar abtun. Im übrigen geht es aber nicht nur um die Giftigkeit der Wirkstoffe für uns Menschen. Wenn durch Pflanzenschutzmittel unser wichtigstes Lebensmittel, nämlich das Trinkwasser, gefährdet ist und ein dramatisches Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten fest6364 zustellen ist, muß jeder zustimmen, daß die Anwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln drastisch eingeschränkt bzw. zum Schutz des Trinkwassers - da stimmt mir die Frau Gesundheitsministerin sicher zu - verboten werden muß. ({5}) Hier besteht ein Grund zum politischen Handeln, und dazu brauchen wir dringend die Durchsetzung des Vorsorgegrundsatzes bei der Zulassung und Anwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln. ({6}) Dies ist im übrigen auch ein Beschluß der Umweltministerkonferenz vom November 1989, um die sich der Bundeslandwirtschaftsminister herzlich wenig kümmert. ({7}) Wir brauchen eine Reform des Pflanzenschutzgesetzes mit einer Verschärfung der Zulassungsanforderungen entsprechend dem Vorsorgeprinzip, schnellere Verbote von grundwasser- und gesundheitsgefährdenden Wirkstoffen sowie strengere Regeln für eine ordnungsgemäße Pflanzenschutzanwendung - alles unabdingbare, wichtige gesetzliche Regelungen des Bundes, sei es über die Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes oder der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung. Mit Ihrer Passivität in der Regierung fördern Sie die Pflanzenschutzmittelhersteller, stempeln aber viele gutwillige Landwirte zu Buhmännern in der Gesellschaft ab, weil sie den Wettbewerbsverzerrungen durch Ihre verfehlte Landwirtschaftspolitik nicht mehr gewachsen sind, und bringen den ökologischen Landbau ins Hintertreff en. Sie verweisen auf den Handlungsbedarf in der EG, wohl wissend, Frau Dempwolf, wie schwierig es ist, überhaupt ein EG-weites Verbot von bei uns nicht zugelassenen Wirkstoffen zu erstreiten. Viele Menschen - glauben Sie mir -, auch die Petenten, haben längst das Vertrauen in die EG-weiten Regelungen verloren, weil sie von der Bundesregierung einfach nicht konsequent eingefordert werden. ({8}) Länder und Kommunen werden mit ihren Wasserproblemen einfach alleingelassen. „Alarmierend" nennt das niedersächsische Umweltministerium in einem Zeitungsbericht vom 11. Februar dieses Jahres, also von vor zwei Tagen, die Belastung des Grundwassers durch Nitrate und Pflanzenschutzmittel. In 15 % der Messungen sei in Niedersachsen mindestens eine Pflanzenschutzmittelsubstanz nachgewiesen worden. Die Kommunen versuchen verzweifelt, ihr Trinkwasser vor der Belastung mit Pflanzenschutzmitteln zu schützen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meiner eigenen Gemeinde nennen. Dort hat sich der Gemeinderat gemeinsam mit den Verantwortlichen der Landwirtschaft dazu entschlossen, Ausgleichsmaßnahmen für die Landwirte zu zahlen, die im Wasserschutzgebiet und im weiten Wassereinzugsgebiet ihre Felder bestellen. 400 DM zahlt die Gemeinde pro Hektar für Ausgleichsmaßnahmen, 100 DM pro Hektar für Mehrkosten für Pflanzenschutzmittel, die für Wasserschutzgebiete zugelassen sind. Das bedeutet in meiner Gemeinde eine Mehrbelastung von 60 000 DM, und dazu kommen die Kosten für die im Frühjahr und Herbst durchgeführten Bodenproben. Dabei sind das nicht einmal Sanierungsmaßnahmen, sondern es ist der Versuch, durch Vorsorgemaßnahmen den Schadstoffeintrag vielleicht in den nächsten zehn Jahren langsam, aber stetig zu vermindern. Der Verbraucher bezahlt dies durch eine Erhöhung seines Wasserpreises um 50 Pfennig, nachdem er ohnehin schon durch seine Steuern die falsche Landwirtschaftspolitik der EG und der Bundesregierung mitbezahlen muß. Nun müssen Sie mir doch eigentlich recht geben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, daß das Petitum der Bürger, diese gefährlichen Stoffe zu verbieten, so ungerechtfertigt nicht ist. Wir brauchen eine flächendeckende umweltverträgliche Landwirtschaft und umfassenden Schutz unserer wertvollen Grundwasservorräte. Im übrigen ist auch der Export von Pflanzenschutzmitteln weder in der EG-Richtlinie noch in unserem Pflanzenschutzgesetz ausreichend geregelt. Immer noch besteht die Gefahr, daß unsere Kinder die exotischen Bananen und Apfelsinen, verehrte Frau Kollegin, die mit bei uns verbotenen Pflanzenschutzmitteln belastet sind, weiterhin essen. Welch einen Zynismus stellt die Aussage von Herrn Gallus dar, wenn er auf die Unzulänglichkeit dieser Vorschriften hinweist, indem er sagt - so nachzulesen in der Petition -: Es ist jedoch davon auszugehen, daß auf Grund des internationalen Verhaltenskodex für das InVerkehrBringen und für die Anwendung von Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln Stoffe der Anlage 1 der PflanzenschutzAnwendungsverordnung nicht in zu exportierenden Pflanzenschutzmitteln enthalten sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Vertrauen mag da ja gut sein. Aber ich denke, Gesetze und Kontrolle sind in dieser Frage einfach unerläßlich. ({9}) Der zweite Teil der Petition ist die Forderung nach einer qualifizierten Unterrichtung für Land- und Forstwirte. Aber Sie, verehrte Frau Dempwolf, wissen sicher auch, daß es da weitergehende Vorschläge gibt, nämlich z. B. eine Pflanzenschutzmittelbuchführung, eine Verschärfung des Sachkundenachweises bei den Landwirten, eine Verschärfung der Anforderungen an Feldspritzgeräte ({10}) und die Verbesserung der Pflanzenschutzmittelanwendungstechnik. Die Vorschläge sind sehr viel weitergehend als die, von denen Sie gerade geredet haben. Letzteres geht sicherlich nicht durch eine Rechtsverordnung, sondern nur durch eine gezielte Förderung des Bundes. Der wirtschaftliche Erfolg des ökoSusanne Kastner logischen Landbaus sollte für alle Anlaß zum Umdenken und Nachahmen sein. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie also die Forderung der Petenten auf. Stimmen Sie unserem Antrag zu, und sorgen Sie mit uns für die notwendige Verschärfung des Pflanzenschutzrechtes. Die Landwirtschaft, die Natur und die Mitwelt, kurz: wir alle werden davon profilieren. Danke schön. ({11})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächste hat unsere Kollegin Birgit Homburger das Wort. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja natürlich, immer. Bei solch wichtigen Sachfragen sind wir uns einig. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt schon einiges über die Petition gehört. Die Petenten beziehen sich auf eine Untersuchung der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Braunschweig mit dem Titel „Verbleib von Pflanzenschutzmitteln in der Umwelt-Exposition, Bioakkumulation, Abbau". Auf Grund dieser Untersuchung fordern die Petenten, die Ausbringung von toxischen und chemischen Stoffen in die Umwelt zu verbieten und zu bestrafen, mit der Begründung, daß Pflanzenschutzmittel nicht abgebaut werden können. Mich wundert ein bißchen, daß die SPD hier beantragt, diese Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, alldieweil ich die Position, die in der Petition vertreten wird, bisher von der SPD-Fraktion, insbesondere von ihren Landwirtschaftspolitikern, in dieser Form noch nicht gehört habe. Offensichtlich haben sie nicht genau hingesehen, was die Petition eigentlich alles fordert. ({0}) Wie die Nachforschungen ergaben, liefert die Studie der Biologischen Bundesanstalt lediglich Einzelergebnisse, z. B. zum Verflüchtigungsverhalten des Verbleibs von Pflanzenschutzmitteln in der Luft, die nicht verallgemeinert werden können und auch nicht verallgemeinert werden dürfen. Für eindeutige Aussagen zum Verbleib von Wirkstoffen beispielsweise in der Atmosphäre sind noch weitere Untersuchungen nötig. Das wurde uns auch bei der Anhörung mitgeteilt. Solche Untersuchungen sind nach Auffassung der FDP voranzutreiben. Die Ermittlungen des Petitionsausschusses haben weiterhin ergeben, daß aus der zitierten Untersuchung nicht abgeleitet werden kann, daß Pflanzenschutzmittel generell nicht abgebaut werden können. Die Abbaubarkeit hängt vielmehr von der Form, in der die Pflanzenschutzmittel in der Atmosphäre vorliegen, nämlich gasförmig oder an Staub gebunden, und von ihrer photochemisch-oxidativen Stabilität ab. Auf Grund der bisherigen Untersuchungen geht das Bundeslandwirtschaftsministerium davon aus, daß ein Großteil der angewandten Wirkstoffe in Pflanzenschutzmitteln photochemischen Abbaumechanismen unterliegt. Stoffe, für die eine hohe Persistenz angenommen werden kann, wie z. B. DDT, HCB oder auch Aldrin, wurden in die Anlage 1 der PflanzenschutzAnwendungsverordnung aufgenommen und sind in der Bundesrepublik Deutschland bereits verboten. Darüber hinaus ist für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik ein komplexes Verfahren zu durchlaufen, in dem Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Menschen, Tiere, Pflanzen, auf Boden, Luft und Wasser in vielfältigen Untersuchungen überprüft werden. Das heißt nicht, daß wir uns damit zufrieden geben sollen. ({1}) Selbstverständlich ist es die Pflicht der für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständigen Ämter, auch weiterhin intensiv zu prüfen. ({2}) Dazu gehört für mich insbesondere, daß endlich alle zur Zeit zugelassenen Pflanzenschutzmittel dem seit 1. Januar 1987 geltenden erweiterten Zulassungsverfahren unterworfen werden. Das wurde auf Ihre Anfrage, Frau Kollegin von der SPD, geantwortet. Hier muß endlich das durchgeführt werden, was zwischenzeitlich per Verordnung festgelegt worden ist. Aus meiner Sicht geht es nicht an, daß erst etwas mehr als ein Viertel dieser Pflanzenschutzmittel mit Altzulassungen dieser Prüfung unterzogen wurden. Das muß nachgeholt werden. Darüber hinaus ist es unerläßlich, weitere Forschungsvorhaben intensiv zu betreiben und die Wirkung von Stoffen auf Menschen, Pflanzen und Tiere und auf die gesamte Umwelt zu erforschen. Ein komplettes Verbot von Pflanzenschutzmitteln, wie der Petent es fordert oder aber wie Sie mit Ihrem völlig überzogen formulierten Vorsorgeprinzip fordern, ({3}) das sagen will, daß Stoffe erst dann zugelassen werden, wenn die Gesundheitsunschädlichkeit mit allerletzter wissenschaftlicher Sicherheit bewiesen ist, ist im Endeffekt nicht möglich. Sonst könnten Sie überhaupt nichts mehr zulassen und müßten alles verbieten. Das wäre ein Verbot über die Hintertür. Das können wir so nicht machen. ({4}) Ein Problem besteht u. a. auch darin, daß wir oft nichts über Kombinationswirkungen von Agrochemikalien wissen. Auch hier in diesem Bereich muß weiter geforscht werden. Aber ich bin schon der Meinung, daß wir hier etliche Verfahren durchlaufen und wichtige Prüfungsverfahren nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft und der Technik durchgeführt werden und dadurch nur Mittel mit einem sehr hohen Standard zugelassen werden. Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen. Die Petenten werfen darüber hinaus dem Staat vor, daß er in der Vergangenheit die chemisch-orientierte Wirtschaftsweise durchgesetzt habe und Kenntnisse in alternativer, chemiefreier Pflanzenbehandlung den Landwirten bisher vorenthalten habe. Diesen Vorwurf der Petenten kann man so auf gar keinen Fall stehenlassen. ({5}) Ich weise darauf hin, daß es für die Landwirte auch jetzt schon möglich ist, auf biologischen Pflanzenbau umzustellen, und daß es dafür auch eine Förderung von der Bundesregierung gibt.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Aber keine Förderung für mehr Zeit.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich komme zum Schluß. Ich stelle fest, daß diese Petition Dinge fordert, die nicht machbar sind und sich daher aus Sicht der FDP nicht als Anstoß für nötige weitergehende Überlegungen - daß solche anzustellen sind, streite ich gar nicht ab - eignet. Daher empfiehlt die FDP-Fraktion, dem Votum des Petitionsausschusses zu folgen und das Petitionsverfahren abzuschließen. Danke. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2066. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Änderungsantrag knapp abgelehnt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Fritz Schumann ({1}), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Verstärkte Einflußnahme auf die Weiterbildung in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/1795 Überweisungsvorschlag : Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Wirtschaft Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Als erste hat Frau Petra Bläss das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der festen Überzeugung: In diesem Saal herrscht Übereinstimmung darüber, welch hohen Stellenwert Weiterbildung in den neuen Bundesländern für den angekündigten wirtschaftlichen Aufschwung hat. Mit rund 11 Milliarden DM stellt die Bundesregierung schließlich keinen Pappenstiel zur Verfügung. Die PDS/Linke Liste hat keinesfalls die Absicht, das auf diesem Gebiet bisher Geleistete abzuwerten. Vielmehr geht es uns darum, konkrete Erfahrungen aus den neuen Bundesländern in die gegenwärtige Debatte um die Weiterbildung offensiv einzubringen, indem auf sichtbar werdende Defizite aufmerksam gemacht wird. ({0}) - Vielleicht können Sie einen Moment - es ist ja nur eine kurze Runde - zuhören! Die gegenwärtigen Bemühungen seitens der Bundesregierung, die bisherige Weiterbildungspraxis in den neuen Bundesländern zu analysieren und zu überarbeiten - ich erinnere an die Ankündigung, daß die Konzertierte Aktion Weiterbildung mit neuen inhaltlichen Aspekten und in gestraffter Organisation fortgesetzt werden soll -, übersehen wir keinesfalls. Insofern möchte ich dafür plädieren, den von uns vorgelegten Antrag in den Ausschüssen gemeinsam mit dem bereits angekündigten Berufsbildungsbericht 1992 zu beraten. Mit seinem Erscheinen sind schließlich konkrete neue Analyseergebnisse zur Weiterbildung in den neuen Bundesländern zu erwarten, die ich für eine weitere Debatte für unabdingbar halte. Die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes halte ich trotzdem für lohnend, um einige Aspekte der Weiterbildung in den neuen Bundesländern zu benennen, die Anlaß zu Kritik geben. Erstens. Um die Nutznießung der von der Bundesregierung bereitgestellten Mittel buhlen mittlerweile unzählige Weiterbildungsträger, so daß das gegenwärtige Bildungsangebot eher einem undurchschaubaren Wirrwarr gleicht. Der Verdacht, daß für die einzelnen Bildungsträger ökonomische Erwägungen auf dem Bildungsmarkt primäre Bedeutung bekommen, liegt nahe. Für die Betroffenen ist das insofern ein Problem, als ihnen vielfach die Orientierung, die notwendige Übersicht über vorhandene Weiterbildungsangebote fehlt. Auch die Verantwortlichen vor Ort thematisieren diesen Fakt immer häufiger. Ich verweise auf Überlegungen in Berlin und Brandenburg, eine Art Weiterbildungs-TÜV einzurichten. Zweitens. Es gibt verhältnismäßig wenige Umschulungsmaßnahmen, die mit staatlich anerkannten Abschlüssen enden. Ein Zertifikat für die erfolgreiche Teilnahme an einer Umschulung wird von Personalmanagern vielfach als Armutszeugnis für diejenige oder denjenigen angesehen, die oder der sich mit der ursprünglichen Qualifikation nicht in der Lage sah, sich dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu stellen. Das betrifft insbesondere Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die nun neben ihrem Diplom über ein Zertifikat auf lediglich Assistentinnen- oder Assistentenniveau verfügen. Das ist eine eindeutige Dequalifikation, abgesehen davon, daß im bisherigen Berufsleben und zu DDR-Zeiten typische Aus- und WeiterPetra Bläss bildungen Schlichtweg ignoriert werden. Weiterbildung muß ebenso an vorhandene allgemeine und, wo immer es geht, auch spezifische Qualifikationen anknüpfen, zumal eine große Weiterbildungsbereitschaft auf seiten der neuen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger besteht. Drittens. Umschulung macht letztlich nur dann Sinn, wenn sie mit einem Strukturkonzept für die Entwicklung der einzelnen Regionen einhergeht. Hier ist die Bundesregierung schon gefordert, denn es sollte nicht länger dem Spiel der freien marktwirtschaftlichen Kräfte überlassen bleiben, ob es für die neuen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger über kurz oder lang vor Ort ausreichende Möglichkeiten gibt, sich ihren Lebensunterhalt mit eigener sinnerfüllter und qualifikationsgemäßer Erwerbsarbeit zu verdienen. Ohne zu wissen, ob man nach abgeschlossener Fortbildung und Umschulung reelle Chancen hat, mit seiner nunmehr neuen Ausbildung auch einen Arbeitsplatz zu finden, bleibt die Umschulung für viele nicht mehr als ein Parkplatz. Konzepte für den wirtschaftlichen Um- und Ausbau der Regionen und deren Veröffentlichung für jede Betroffene und für jeden Betroffenen sind Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Qualifikation, d. h. auch für einen sinnvollen Einsatz der bewilligten Gelder. Lassen Sie mich abschließend noch zu einem Aspekt kommen, der bei diesem Thema leider vielfach unter den Tisch fällt. Frauen versuchen, ihre schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt zumindest teilweise durch Qualifikationslehrgänge zu kompensieren, aber inzwischen sind sie diesbezüglich nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ benachteiligt. Ostdeutsche Frauen sind nach wie vor überproportional an Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung beteiligt, aber zum einen liegt ihr Anteil längst unter ihrem Anteil an den Erwerbslosen, zum anderen werden Frauen viel stärker „auf Halde" qualifiziert als Männer, da sie weniger vermittelt werden. Damit ist die Entwertung auch neu erworbener Qualifikationen vorprogrammiert. Durchschnittlich drei Viertel der sich qualifizierenden Frauen gehen in die Fortbildung. In den höherqualifizierenden Fortbildungskursen dominieren insgesamt jedoch die Männer. Demgegenüber besetzen Frauen zu 60 % die Plätze in den sogenannten Orientierungskursen, die keine berufliche Fortbildung bringen. Kein Zufall ist außerdem, daß Frauen weniger als Männer in betrieblich organisierten Kursen bzw. in der Kombination von betrieblicher und schulischer Qualifikation vertreten sind. Betriebliche und betrieblich-schulische Weiterbildung wird deutlich weniger Frauen ermöglicht. Auch die staatlich geförderte betriebliche Einarbeitung kommt anteilig mehr Männern als Frauen zugute. Fazit: Folglich werden Frauen nicht nur überproportional entlassen, sondern auch weniger in Arbeit vermittelt bzw. weniger wirklich arbeitsmarktpolitisch gefördert. Selbst in der Weiterbildung und Einarbeitung haben sie weniger Chancen, ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu stärken, als Männer. Danke. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Franz Romer das Wort.

Franz Romer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Der vorliegende Antrag der PDS/Linke Liste ist nur auf den ersten Blick ein Zeichen von Sorge um die berufliche Zukunft der ostdeutschen Bürger. In Wirklichkeit startet er hier wieder einen Versuch, DDR-Nostalgie zu erzeugen. Damit aber werden Sie weder dem Problem gerecht noch den Maßnahmen, die die Regierung Kohl zur Förderung der Weiterbildung in den neuen Ländern bereits erfolgreich einsetzt. Das Problem ist: Es stimmt zwar, daß die ostdeutschen Arbeitnehmer allgemein gut qualifiziert sind, und niemand bezweifelt, daß viele durch ständige Weiterbildung ein hohes Maß an Fachkompetenz erreicht haben. Aber genau diese Qualifizierung erfolgte oft für Berufe und Wirtschaftsbereiche, die unter normalen marktwirtschaftlichen Bedingungen keine Zukunft haben. Hier rächt sich, daß die SED starrsinnig versucht hat, ein nicht funktionierendes Wirtschafts- und Beschäftigungssystem künstlich am Leben zu erhalten. Ihre Vorgängerpartei, meine Damen und Herren von der PDS, hat mit diesem System der real existierenden Scheuklappen verschuldet, daß jetzt so viele Menschen ihre alten Jobs verlassen müssen. Die Regierung Kohl betont die Förderung der beruflichen Qualifizierung als Schwerpunkt der aktiven Arbeitsmarktpolitik Ost. S e stellt daher in diesem Jahr 11 Milliarden DM für diesen Zweck bereit, 3,3 Milliarden DM mehr als 1991. Damit finanziert sie Qualifizierungsmaßnahmen für weitere 700 000 Interessenten, nach den 900 000 Weiterbildungsmaßnahmen, die 1991 ermöglicht wurden. Das sind Zahlen, die für sich sprechen. Ihr Antrag kommt also offensichtlich viel zu spät. Aber auch Ihre Kritik, daß am Bedarf vorbei gehandelt werde, stößt ins Leere. Die Weiterbildungsmaßnahmen sind auf die Marktbedürfnisse ausgerichtet. Das wird durch die Arbeitsverwaltung regelmäßig überprüft. Das duale System von beruflicher und schulischer Weiterbildung sorgt für einen engen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis. Allerdings wäre es wünschenswert, den Anteil der Weiterbildungsmaßnahmen im Betrieb noch zu erhöhen. Aber auch in den neuen Einrichtungen der Arbeitsamtsbezirke wird grundsätzlich arbeitsplatzbezogen weitergebildet. In den 269 seit 1990 vom Bund aufgebauten Bildungseinrichtungen lag der Schwerpunkt der Maßnahmen zu Beginn im kaufmännischen Bereich. Denn hier gab es einen großen Nachholbedarf. Seit 1991 stehen die gewerblich-technischen Berufe im Vordergrund. Ein großer Teil der 40 000 hochwertigen neuen Plätze wird für Weiterbildungsmaßnahmen in den neuen Techniken genutzt. Es gibt jedoch auch Angebote für Interessenten aus Bereichen wie Touristik, Hotelwesen oder Umwelt. In diesen Einrichtungen wird also in einer Bandbreite und Qualität geschult, die den Weiterbildungseinrichtungen im Westen unseres Landes entsprechen. Daß es bei den privaten Anbietern schwarze Schafe gegeben hat, ist möglich. Aber die Arbeitsverwaltung hat den Auftrag und auch die Möglichkeit, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Wenn Sie, meine Damen und Herren Antragsteller, der Arbeitsverwaltung vorwerfen, sie verschwende Steuergelder an diese Leute oder an unnütze Projekte, so versuchen Sie doch nur, die Bürger gegen das Arbeitsamt aufzubringen. Das ist unwahr und ebenso falsch wie Ihre Kritik, Frauen würden bei der Weiterbildung benachteiligt. Die Zahlen beweisen das Gegenteil. Die Frauen in den neuen Ländern sind in den Prozeß der beruflichen Weiterbildung integriert. ({0}) Ich werde daher bei Ihrem Antrag den Verdacht einfach nicht los, daß Sie, meine Damen und Herren von PDS und Linker Liste, wieder einmal das Märchen von der vollkommenen Gleichberechtigung der Frau in der DDR auftischen wollen. Tatsache ist: Die DDR war kein Hort der Gleichberechtigung, genausowenig wie sie eine Demokratie war. ({1}) Also geht Ihr Antrag auch hier an den Tatsachen vorbei. Meine Damen und Herren, auch die Gelder für die Weiterbildung in den fünf neuen Ländern werden vom Beitragszahler aufgebracht, also von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam. ({2}) Diese großartige Solidarität verpflichtet uns, die Umstrukturierung auch auf diesem Gebiet zügig voranzubringen. Unsere Politik ist es daher, sich an den Erfordernissen und nicht an den alten Strukturen zu orientieren. Wir wollen, daß die Arbeitnehmer den Blick in der Weiterbildung optimistisch nach vorn und nicht wehmütig zurück richten. Daher bitten wir die Mitglieder des Deutschen Bundestages, den Antrag der PDS/Linke Liste abzulehnen. ({3}) Danke schön. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat unser Kollege „Conny" Gilges das Wort, dem ich zu seinem heutigen 51. Geburtstag ganz herzlich gratuliere. ({0})

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, liebe Renate, herzlichen Dank für die Gratulation! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Notwendigkeit der Weiterbildung und Umschulung steht außer Zweifel und wird auch nicht bestritten. Sie wurde nicht bestritten für die alte Bundesrepublik, und sie wird auch nicht bestritten für die neue Bundesrepublik. Diese Bildung ist ein wichtiger Teil unserer Gesamtbildung; denn sie ist notwendig, weil sich im ökonomischen Prozeß der Bundesrepublik ständig etwas verändert. Frau Bläss, es ist nicht unproblematisch, zu sagen, daß man auf der beruflichen Bildung in der ehemaligen DDR aufbauen kann. Die berufliche Bildung in der ehemaligen DDR war auf das ökonomische Prinzip und das System dieses Landes ausgerichtet. Heute haben wir ein anderes Wirtschaftssystem in der ehemaligen DDR. Es muß deswegen Weiterbildung, Umschulung in großem Maßstab stattfinden, weil Berufszweige, Berufsgruppen, die in der ehemaligen DDR noch bestehen konnten, in den fünf neuen Bundesländern heute nicht mehr bestehen können; denn die Bedingungen sind, wie ich schon sagte, anders geworden. Deswegen kann man das nicht so sagen, wie Sie es gesagt haben. Ich teile auch nicht die Meinung des Kollegen Romer, der sagt, es sei alles schlecht gewesen, ({0}) was in der ehemaligen DDR im Bereich der beruflichen Bildung stattgefunden hat. Der zweite Punkt ist die Qualität der Weiterbildung. Wir sind uns darüber einig, daß die Qualität der Weiterbildung und ihre Auswirkungen, d. h. die berufliche Qualifikation, ein Standortfaktor sind. Das gilt insbesondere für die fünf neuen Bundesländer. Je höher die berufliche Qualifikation in diesen neuen Ländern ist, desto mehr Chancen haben die Arbeitnehmer und die Länder, ökonomisch Anschluß an die alten Länder der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Diese Notwendigkeit besteht. Daher muß man sich schon Gedanken machen, wie man diesen Anschluß durch Qualifikation, durch Weiterbildung und durch Umschulung erreichen kann. Das gilt auch für die Frage der Produktivität. In der ehemaligen DDR war die Produktivität ein schwieriges Problem. Die Produktivität lag weit unter der in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland. Die Schätzungen gehen in Richtung 50 bis 60 %. Hohe Produktivität kann man nur dann erreichen, wenn eine hohe Qualifikation in der beruflichen Bildung besteht. ({1}) Um die Produktivität zu steigern, ist es also notwendig, daß Weiterbildung, Qualifikation stattfindet. Drittens. Wir bedauern- und das stellen wir fest -, daß es mittlerweile eine große Geschäftemacherei in der ehemaligen DDR im Bereich der Weiterbildung und Umschulung gibt, daß es Geschäftemacherei in dem Sinne gibt, daß man Schulen, Einrichtungen zum Erwerb von Qualifikationen einrichtet, in denen es nicht darum geht, die Menschen, die dort hingehen, zu qualifizieren, sondern in denen es darum geht, Geld zu verdienen, und zwar durch denjenigen, der die Ausbildungsstätte, Umschulungsstätte bereitstellt. ({2}) Und das darf nicht sein. Deswegen sind wir schon der Meinung, daß sich die Bundesregierung bemühen müßte, dem endlich einen Riegel vorzuschieben. Denn das Ganze nimmt immer katastrophalere Ausmaße an. Es gibt so etwas auch schon in den alten Ländern der Bundesrepublik. Ich kenne das von meinem DGB-Kreis Köln. Wir kämpfen ständig dagegen an und haben inzwischen Mittel entwickelt, die es uns ermöglichen, dagegen anzukommen. Aber in der ehemaligen DDR, d. h. in den fünf neuen Bundesländern, scheint es dafür noch keine ausreichenden Instrumente zu geben. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung den Arbeitsämtern, den Gewerkschaften, den Unternehmerverbänden und insbesondere den Kammern helfen würde, gegen diese Geschäftemacherei anzukämpfen, sie zu unterbinden. Viertens. Wir als Sozialdemokraten fordern, daß es einen Weiterbildungsplan gibt. Die Arbeitsämter, die Kammern, die Kommunen und die Länder müssen sich gemeinsam überlegen, wie man einen Gesamtplan entwickeln kann, um Weiterbildung, Qualifikation und Umschulung in den fünf neuen Bundesländern so zu meistern, daß, wie ich schon zu Beginn sagte, ein Anschluß an die ökonomische Entwicklung hergestellt wird. Des weiteren fordern wir, daß die Weiterbildung mit einer allgemeinen Bildung verbunden wird. Ein Handwerksmeister oder ein Fliesenlegergeselle, wie ich einer bin, muß notfalls auch eine Rechnung ausstellen können. Zur Vermittlung solcher Qualifikationen ist ein großes Maß an Weiterbildung erforderlich. Es reicht nicht aus, daß nur die handwerklichen Fertigkeiten gefördert werden. Auch die Allgemeinbildung muß zum Ausbildungsinhalt werden. Wir sind weiterhin der Meinung, daß besonders die Frauen in der ehemaligen DDR verstärkt einbezogen werden. Sie sind die Verlierer der Umstrukturierung und der ökonomischen Entwicklung in der DDR. Die Arbeitslosenstatistik zeigt, daß sehr viele Frauen arbeitslos geworden sind. Die Frauenarbeitslosigkeit stellt also ein gravierendes Problem dar. Ich meine, es ist notwendig, daß ein Gesetz verabschiedet wird, in dem die Freistellung von Arbeitnehmern für die berufliche Weiterbildung fixiert wird. Es muß gesetzlich geregelt werden, daß der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, sich für Weiterbildung oder Umschulung von der Arbeit freistellen zu lassen. Danke schön. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat die Kollegin Margret Funke-Schmitt-Rink das Wort.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Mit gewaltigen finanziellen Mitteln versucht die Bundesregierung, die schwierige Arbeitsmarktsituation in den neuen Ländern zu verbessern. Um einen möglichst reibungslosen Anpassungsprozeß an verwertbare Qualifikation zu gewährleisten, wurden im vergangenen Jahr 6,8 Milliarden DM bereitgestellt. 1992 werden es sogar 7,5 Milliarden DM für Investitionen in Qualifizierungsmaßnahmen entsprechend den Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes sein. Die FDP begrüßt die großen Anstrengungen der Bundesregierung als einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle aber nicht versäumen, auf einen wunden Punkt hinzuweisen. Zur Zeit schießen Weiterbildungs-GmbHs wie Pilze aus dem Boden. Man hat Grund zu bezweifeln, daß diese Unternehmungen Qualifikationen vermitteln, die auf dem Arbeitsmarkt wirklich verwertbar sind. Ich erinnere an die unrühmlichen Erfahrungen, die wir in den 60er Jahren in der Bundesrepublik mit den Weiterbildungskampagnen gemacht haben. Für Bildungshaie kann das Geld der Bundesanstalt für Arbeit nicht verschwendet werden. ({1}) Inkompetente Dozenten und auf schnellen Profit schielende Geschäftemacher müssen in Zukunft mit wirksamen Kontrollinstrumenten verhindert werden. Aber nicht nur der Staat ist gefordert, sondern auch die Betriebe sind aufgerufen trotz ihrer wirtschaftlichen Probleme -, ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, z. B. mit Hilfe der Kammern und/oder Partnern aus dem Westen, zu Qualifizierungsmaßnahmen zu schicken. Nur auf diese Weise werden die wirtschaftlichen Probleme gemeistert, da die Wettbewerbsfähigkeit hierdurch entscheidend gesteigert wird. Meine Herren, meine Damen, Weiterbildungsmaßnahmen haben nur Sinn, wenn sie bedarfsgerechte Angebote machen und vor allem hohen Ansprüchen gerecht werden. Angesichts der Tatsache, daß täglich in den neuen Ländern rund 25 000 Fortbildungsveranstaltungen stattfinden, ist es daher unbedingt notwendig, ein besonderes Augenmerk auf die Qualitätssicherung in der beruflichen Weiterbildung zu setzen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat mit seinem Erlaß vom August 1991 hier erste wichtige Zeichen gesetzt, den § 34 Arbeitsförderungsgesetz in die Realität umzusetzen. Doch sind über den FrankeErlaß hinaus zusätzliche Maßnahmen erforderlich. Angesichts der Tatsache, daß für die Menschen, die sich in den neuen Ländern zur Zeit in Fortbildung befinden, keine Garantien für einen Arbeitsplatz gegeben werden können, sind Anstrengungen zur Qualitätssicherung besonders vordringlich, um Weiterbildungsfrustrationen zu verhindern. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dürfen nicht demotiviert werden. Die FDP unterstützt daher die Bemühungen der Bundesregierung im Rahmen einer marktwirtschaftlich pluralen Weiterbildungsordnung - nicht plan-, sondern marktwirtschaftlich pluralen Weiterbildungsordnung , entsprechende freiheitliche Instrumente der Qualitätssicherung zu erproben und einzuführen. ({2}) Hier liegt der falsche Ansatz des PDS-Antrags. Deshalb lehnt die FDP-Fraktion den Antrag ab. Denn Ihr Antrag läuft darauf hinaus, in altbekannter Manier staatliche Weiterbildung zu organisieren in einer Organisationsform, die den sachlichen Notwendigkeiten von beruflicher Weiterbildung nicht gerecht wird. ({3}) Entscheidend für die FDP ist die Sicherung einer marktwirtschaftlichen Weiterbildungsordnung. ({4}) Deswegen müssen auch Qualitätssicherungselemente, wie sie in der Marktwirtschaft üblich sind, in der Weiterbildung verstärkt werden. Dazu gehören im einzelnen: erstens die Ausweitung der Beratung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an Weiterbildungsmaßnahmen hinsichtich anzustrebender Fortbildungsgänge, zweitens verstärkte Kontrollen der Bundesanstalt für Arbeit bei den Trägern, drittens der Aufbau von Weiterbildungsschutzzentralen und telefonischen Informationsdiensten, viertens die freiwillige Selbstkontrolle von Trägern der Weiterbildung in Richtung Qualitätszirkel und vor allem: fünftens die Qualitätskontrollmechanismen wie die Stiftung Warentest. Fazit, meine Herren, meine Damen: Nur mit marktwirtschaftlich orientierten Instrumenten ist sicherzustellen, daß wir eine hinreichende Qualität der beruflichen Weiterbildung erhalten. Die Bundesregierung wird aufgefordert, alle Anstrengungen zu intensivieren, damit keine Weiterbildungsdemotivation in großem Umfang entsteht. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen in Einrichtungen geschult werden, die dem im Westen üblichen Qualitätsstandard nicht nachstehen. Galt 1990 bei vielen Verantwortlichen - übrigens auch im BMA - vielleicht noch die Priorität „Quantität vor Qualität", so hält die FDP für 1992 an der Forderung „Qualität vor Quantität" fest. Danke. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1795 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf: Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Bericht „Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich" - auf der Grundlage des Modellprogramms „Psychiatrie" der Bundesregierung - Drucksache 11/8494 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu gibt es keinerlei Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Als erstes hat die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Gerda Hasselfeldt, das Wort.

Gerda Hasselfeldt (Minister:in)

Politiker ID: 11000825

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Verpflichtung, für eine bessere Versorgung unserer psychisch kranken Mitbürger zu sorgen, ist nicht teilbar; sie geht uns alle an. Unser gemeinsamer Anspruch auf eine menschliche Gesellschaft muß sich daran messen lassen. Die Bundesregierung steht zu dieser Verantwortung; aber sie steht dabei nicht alleine. Diese Verantwortung schließt in gleicher Weise Länder und Kommunen sowie alle anderen mitwirkenden Institutionen und Leistungserbringer ein. Keiner der Beteiligten kann die erfolgreiche Weiterführung der PsychiatrieReform alleine sicherstellen. Diese erfolgreiche Weiterführung der Psychiatriereform kann auch nicht kurzfristig realisiert werden. ({0}) Das ist im übrigen auch die einhellige Auffassung der Expertenkommission, über deren Bericht wir heute beraten. Dieser Bericht analysiert die Lage in den westlichen Bundesländern. Angesichts der Verhältnisse in den neuen Bundesländern hat er aber eine zusätzliche Bedeutung. Dort gelten für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung die gleichen Reformziele, die gleichen Prinzipien wie auch in den alten Bundesländern. Dabei ist ganz besonders wichtig, meine Damen und Herren: Wir müssen von der bloß verwahrenden Psychiatrie zu einer therapeutischen und rehabilitativen Psychiatrie kommen. ({1}) Die dafür in der Psychiatrie-Enquete aufgestellten Grundprinzipien sind unbestritten, nämlich erstens eine möglichst gemeindenahe Versorgung, zweitens eine bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, drittens die Koordination aller Versorgungsdienste und viertens die Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken. ({2}) Diese Prinzipien dürfen aber nicht alleine stehen, ({3}) sondern mindestens genauso kommt es darauf an, wie wir mit den psychisch kranken Menschen umgehen. Sie dürfen nicht ausgegrenzt oder zur Seite geschoben werden, sondern wir müssen unvoreingenommen auf ihre Bedürfnisse eingehen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung war und ist bestrebt, die Lage der psychisch Kranken und Behinderten im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verbessern. ({5}) Allerdings - und das, meine Herren von der Opposition, können auch Sie nicht verschweigen - bleibt die konkrete Ausgestaltung der psychiatrischen Versorgung vor Ort in der alleinigen Kompetenz der Länder und der Kommunen. ({6}) - Das hat nichts mit fehlender Verantwortung zu tun. Sie wissen genau, daß der Bund über seine Verantwortung hinaus aktiv geworden ist und dies auch in der Zukunft sein darf. Nur darf dies alles nicht über die Kompetenzen hinwegtäuschen. ({7}) Es steht fest, daß wir bereits jetzt entscheidend dazu beigetragen haben, dem Reformimpuls der Psychiatrie-Enquete zum Durchbruch zu verhelfen. Verbesserungen der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter gibt es vor allem auch im nichtstationären Sektor. Trotzdem muß noch vieles weiterentwickelt und ergänzt werden. Das will ich gar nicht leugnen. Das bestätigen im übrigen auch die Ergebnisse des von uns finanzierten Psychiatrie-Modellprogramms. Sie wissen, daß der Bund von 1980 bis 1985 dafür etwa 190 Millionen DM ausgegeben hat.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerda Hasselfeldt (Minister:in)

Politiker ID: 11000825

Gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, warum hat dann der Gesundheitsausschuß, in dem die CDU/CSU-FDP-Koalition die Mehrheit hat, den Antrag der SPD abgelehnt, in den neuen Bundesländern an den einzurichtenden psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser auch die Institutsambulanzen zuzulassen und damit eine wesentliche Verbesserung der Versorgung der chronisch Kranken aus der Bundeskompetenz zu erreichen?

Gerda Hasselfeldt (Minister:in)

Politiker ID: 11000825

Sie wissen, daß dies, Herr Kollege, nicht unbedingt eine Verbesserung der Versorgung der psychisch Behinderten und der psychisch Kranken beinhaltet. Wir können hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Ich bitte, dies nicht durcheinanderzuwerfen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir zwischen 1980 und 1985 etwa 190 Millionen DM in einem großangelegten Modellprogramm bereitgestellt haben. Gemeinsam mit sechs Bundesländern konnte in 14 Regionen ein Versorgungsnetz zwischen niedergelassenen Nervenärzten und stationären Einrichtungen entwickelt und erprobt werden. Ein anderer Teil der Modellmittel wurde für Maßnahmen im stationären Bereich, in der beruflichen Rehabilitation und für die wissenschaftliche Begleitung eingesetzt. Dieses Bundesprogramm ist dann auch die Grundlage der vorliegenden Expertenempfehlungen. Dort wird bestätigt, daß es seit dem Beginn der Arbeit an der Psychiatrie-Enquete zu beträchtlichen Investitionen der öffentlichen Hände gekommen ist. Außerdem plädieren die Experten dafür, daß die Erfahrungen aus diesem Modellprogramm weiter umgesetzt werden. Nun steht fest, daß das Programm in vielem positive Anstöße gegeben hat: Wir wissen, daß die Bettenzahl in den großen psychiatrischen Krankenhäusern um fast die Hälfte reduziert wurde - eine deutliche Verbesserung für die Betroffenen. Die Forderung nach einem möglichst flächendekkenden Aufbau psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern ist weitgehend erfüllt. Die Zahl dieser Abteilungen ist seit 1971 von 20 auf 120 gestiegen. Insgesamt stehen dort heute rund 11 000 Betten bereit. Nicht zuletzt ist auch durch die Verbesserung des Stellenplans für die Pflegekräfte in der Psychiatrie die Belastung für die dort Tätigen besser geworden. Das hat zu einer Erhöhung der Stellenzahl in den alten Ländern um etwa 5 000 Stellen geführt, in den neuen Ländern um etwa 1 500 Stellen. ({1}) - Das ist eine Verbesserung der Situation für die dort Tätigen, die wirklich harte Arbeit zu leisten haben. Außerdem hat sich die Zahl der niedergelassenen Nervenärzte seit der Psychiatrie-Enquete verdreifacht, auf insgesamt 4 500 erhöht. Weitere Versorgungsverbesserungen wurden durch den Ausbau teilstationärer, ambulanter und komplementärer Behandlungsangebote erreicht. Dabei, meine Damen und Herren, dürfen und werden wir alle gemeinsam uns nicht ausruhen. Diese Erfolge müssen gesichert, müssen vor allem weiter ausgebaut werden. Deshalb werden wir immer wieder Modellmaßnahmen fördern, nicht nur in den alten, sondern natürlich und insbesondere auch in den neuen Bundesländern. Insgesamt stehen in diesem Jahr dafür 7 Millionen DM bereit, doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Mehr als die Hälfte dieser Mittel fließt schon jetzt in die neuen Länder. ({2}) Über den Ansatz der Modellförderung des nächsten Jahres wird in den kommenden Haushaltsverhandlungen entschieden, und Sie dürfen sicher sein, daß ich mich dabei mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion für eine weitere Etatverbesserung einsetzen werde. Bei der Mittelvergabe konzentrieren wir uns schon jetzt auf die Bereiche, die von der Expertenkommission als besonders entwicklungsbedürftig eingestuft worden sind. Dies gilt vor allem für die schweren Behinderungen, für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für die Psychiatrie unserer älteren Mitbürger. Dabei ist die Rehabilitation ganz besonders wichtig. Bei der Rehabilitation verfolgen wir das Ziel, die Selbständigkeit der Lebensführung möglichst lange zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Trotzdem müßten natürlich auch die Pflegemöglichkeiten weiter ausgebaut werden. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz haben wir schon einen ganz wichtigen Schritt zur Stärkung der häuslichen Pflege getan. Sie wissen, daß wir am umfassenden Konzept der sozialen Absicherung der Pflegebedürftigen derzeit arbeiten und dieses Konzept in einigen Monaten vorlegen können. Die bisherige Bilanz für die alten Bundesländer beweist, daß der notwendige Strukturwandel in der Versorgung psychisch Kranker vorankommt. Der erfolgreiche Abschluß dieser Bemühungen fordert allerdings die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern, Gemeinden und allen anderen Beteiligten. Diese gemeinsame Verantwortung ist vor allem auch deshalb unverzichtbar, weil wir das katastrophale, das inhumane Psychiatrieerbe der SED-Diktatur nur so, nämlich nur gemeinsam erfolgreich umgestalten können. ({3}) Außerdem müssen wir - das sage ich mit voller Deutlichkeit - Gemeinsamkeit in der schonungslosen Aufdeckung des Psychiatriemißbrauchs in der ehemaligen DDR beweisen. ({4}) Die stationären Einrichtungen in der ehemaligen DDR weisen nicht nur schwere bauliche und organisatorische Mängel auf. Die Psychiatrie dort, meine Damen und Herren, hat über Jahrzehnte keine Reform erfahren. Das war eine für alle Patienten und viele engagierte Mitarbeiter unerträgliche Situation.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Gerda Hasselfeldt (Minister:in)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Kollege Knaape, bitte.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, liegen der Bundesregierung genaue Zahlen vor, in welchen psychiatrischen Kliniken der ehemaligen DDR Mißbrauch der Psychiatrie getrieben wurde, bzw. laufen Ermittlungsverfahren gegen einige Psychiater? Denn es ist sehr häufig herauszulesen - ich will Ihnen das nicht unterstellen -, daß es eine pauschale Verurteilung der Psychiatrie in der ehemaligen DDR ist, die sicherlich nicht gerechtfertigt wäre. Da stimmen Sie doch sicher zu?

Gerda Hasselfeldt (Minister:in)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, wenn Sie aus meinen Äußerungen, die ich soeben und auch sonst getan habe, eine pauschale Verurteilung herausgehört haben sollten, dann haben Sie nicht richtig zugehört. ({0}) Zu den Zahlen: Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich nicht alle Zahlen im Kopf habe. Aber was an Zahlenmaterial vorliegt, bin ich gern bereit Ihnen zur Kenntnis zu geben. Ich werde dies gern prüfen. Meine Damen und Herren, im Ergebnis müssen wir heute einen über 20jährigen Versorgungsrückstand aufarbeiten. Es ist klar, daß die Mittel, die wir mit dem Aufschwung Ost auch für Investitionen in psychiatrischen Krankenhäusern bereitgestellt haben, dies nicht mit einem Schlag aufholen konnten. Dies gilt auch für die Ansätze des Modellverbunds „Psychiatrie", die wir jetzt in immer stärkerem Maße auf die neuen Länder konzentrieren. Wer uns angesichts dieser objektiven Schwierigkeiten Untätigkeit vorwirft, argumentiert nicht sachlich. Nun gestehe ich gern zu, daß es das Recht der Opposition ist, immer noch mehr zu fordern, auch mehr Geld zu fordern, aber dieses Recht der Opposition, immer noch mehr zu fordern, schließt nicht die Freiheit ein, tatsächliche Leistungen zu leugnen. Die Bundesregierung wird ihre Anstrengungen für eine erfolgreiche Psychiatriereform weiter fortführen. Dabei werden wir uns auch in Zukunft an den Empfehlungen der Expertenkommission orientieren. Bei dieser wichtigen Aufgabe hat ein nutzloser parteipolitischer Streit keinen Platz. Jeder muß seine Verantwortung an seiner Stelle wahrnehmen. Letztlich haben wir alle hier gemeinsam ein Ziel, nämlich die Verbesserung der Situation der psychisch Kranken. Lassen Sie uns daran auch gemeinsam arbeiten! ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Regina Schmidt-Zadel das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muß ich sagen, daß ich es ausgesprochen schade finde, daß wir über dieses Thema hier zu so später Stunde reden. Dieses Thema hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. ({0}) - Ja, aber ich denke schon, es hätte mehr Aufmerksamkeit verdient, und das ist zu später Stunde ja immer nicht sehr einfach. ({1}) Wenn es in der heutigen Debatte um die Verbesserung der Lage psychisch kranker Menschen geht, sollten wir uns zunächst vor Augen führen, um welchen Personenkreis es hier überhaupt geht. Nicht Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 76. Sitzung. Borin, Donnerstag, den 13. Februar 1992 6373 zuletzt, meine Damen und Herren, die stark unterschiedliche, unscharfe Definition des Begriffs „psychisch krank" hat in der Vergangenheit dazu geführt, daß der Stellenwert der Psychiatriepolitik nicht deutlich genug wurde. Hinter Begriffen verbergen sich Schicksale, überwiegend schlimme Schicksale, die sehr in das Leben von Menschen und Familien eingreifen können. Eine genaue Definition und vor allem die Größenordnung machen daher, wie ich finde, die Bedeutung, die einer Psychiatriereform zukommt, besonders deutlich, Ich halte daher die von der Expertenkommission gemachte Quantifizierung für sehr wichtig. Die Kommission grenzt psychische Störungen mit Krankheitswert von kurzfristigen allgemeinen Lebenskrisen oder Befindlichkeitsstörungen ab. Gerade der Begriff „psychische Störungen mit Krankheitswert" macht deutlich: Hier handelt es sich um kranke Menschen, um Menschen, die eine lange Zeit, viele von ihnen ein Lebenlang, unter psychischen Störungen und Erkrankungen leiden, um Menschen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die unserer Gesellschaft nicht gleichgültig sein dürfen, deren Betreuung und Versorgung wir ebenso wichtig nehmen sollten, wie wir es bei den körperlich Kranken bereits tun. Da wir leider immer noch nicht auf statistisch ausreichend gestütztes Datenmaterial zurückgreifen können, lassen sich bei der Größenordnung nur Trends feststellen. Unter anderem auch deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Große Anfrage zur Situation der psychisch Kranken in Deutschland eingebracht. Eine Tatsache, die den mangelnden Stellenwert psychisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft widerspiegelt, ist, daß die Mitglieder der EnqueteKommission feststellen mußten, daß wir noch nicht einmal zuverlässige Daten über die Anzahl der Betten in psychiatrischen Einrichtungen haben und es sie auch nicht gibt. Die wenigen Zahlen, die uns vorliegen, sind um so erschreckender: Etwa 10 bis 12 % der Bevölkerung sind innerhalb eines Jahres psychiatrisch behandlungsbedürftig. Konkret, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedeutet dies 6 bis 8 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Dies entspricht, um das einmal plastisch darzustellen, der Einwohnerzahl unseres Nachbarlandes Österreich, was nicht heißen soll, daß alle Österreicher psychisch krank seien. Ich denke, das wird richtig verstanden. - Es sind 6 bis 8 Millionen Bürgerinnen und Bürger, für deren Versorgung die Politik der Koalitionsparteien außer einer halbherzig durchgeführten Reform bisher nicht viel zu bieten hatte. ({2}) - Das ist nicht nett, aber es ist so. In ihrer Stellungnahme zu den Empfehlungen der Expertenkommission bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der Modellprogramme aus den Jahren 1980 bis 1985 überwiegend positiv. Sie erweckt hierdurch den Eindruck, als führte sie diese Ergebnisse auf ihre eigene Arbeit zurück. Die Wahrheit aber ist - ich denke, das sollte nicht verwischt werden -: Sowohl die Einsetzung der Psychiatrie-Enquete als auch die Modellprojekte fielen in die Zeit der sozialliberalen Koalition. Ähnliche Anstrengungen sind während der Amtszeit dieser Regierungskoalition bisher noch nicht zu verzeichnen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Mit der Gesundheitsreform 1988 hatte die Regierung die einmalige Chance, eine längst überfällige Neuregelung für psychisch Kranke mit einzubeziehen. Dies hat sie versäumt. Sie hat damit die Erwartungen der Experten und auch der Betroffenen auf sträfliche Weise, so will ich es einmal ausdrücken, enttäuscht. Richtig ist aber, daß sich auf Grund der Modellprogramme wesentliche Veränderungen in den Modellregionen vollzogen haben. Sicherlich sind davon auch Initialzündungen für andere Städte und Gemeinden ausgegangen. Allerdings stellt die Expertenkommission zum Abschluß fest, daß die Reformbestrebungen nicht kurzfristig - auch nicht in fünf Jahren - vollzogen werden können. ({3}) - Sie ist ja schon länger als fünf Jahre dran, Frau Kollegin. - Vielmehr ist es notwendig, den Auf- und Ausbau eines gemeindepsychiatrischen Verbundes flächendeckend zu realisieren und ständig den Erfordernissen anzupassen. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es gewesen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Bericht der „Aktion Psychisch Kranke" mit dem Titel „Zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR" mit einer Drucksachennummer zu versehen und somit auch ihren Stellenwert in der Politik zu dokumentieren. Angesichts der katastrophalen Bedingungen der Psychiatrie in den neuen Bundesländern ich habe es mir angesehen und muß sagen, daß ich mehr als erschüttert gewesen bin - ist es längst überfällig, dort ebenfalls flächendeckende Reformen zu bewerkstelligen oder sie überhaupt erst einmal in Gang zu setzen. ({4}) Ja, das haben wir diese Woche im Ausschuß erlebt. Frau Kollegin, ich komme nachher auf diesen Punkt. Hier sieht die Expertenkommission die gemeinsame Verantwortung von Ländern und Bund. Vor allem der Bund ist nach Art. 72 GG verpflichtet, dann tätig zu werden, wenn Angelegenheiten durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden können. Der Bund ist für die Herstellung der Gleichheit der Lebensverhältnisse zuständig. Er hat daher auch die Möglichkeit, in diesem Bereich Entwicklungen in Gang zu setzen. Die jüngsten Erhebungen zur Lage der Psychiatrie in den neuen Bundesländern bescheinigen katastrophale Defizite und zum Teil - das finde ich sehr traurig - menschenunwürdige Verhältnisse. Besonders fatal ist, daß das zerstört worden ist, was hier vorbildlich war, nämlich die Polikliniken, die eine ambulante Versorgung der psychisch Kranken möglich gemacht hätten. Erhebungen - darüber sind wir uns einig - alleine reichen aber nicht aus, um zu dokumentieren, daß man sich dieses Problems annimmt. Glaubwürdiger wäre es gewesen, dem Antrag der SPD-Fraktion im Gesundheitsausschuß zuzustimmen, Modellprojekte in den neuen Ländern zu initiieren, um damit Initialzündungen für die Versorgung psychisch Kranker ausgehen zu lassen. Frau Ministerin, ich habe nicht verstanden, was Sie zu diesem Punkt soeben gesagt haben. Denn wir hatten dies ja beantragt. Aber die Koalitionsparteien haben diesen Antrag mit ihrer Mehrheit im Ausschuß abgebügelt. Offensichtlich war ihnen dieses Problem da nicht wichtig genug. Wertvolle Zeit ist ungenutzt verstrichen. Angesichts der neuen Aufgaben - Psychiatriereform in den neuen Ländern - darf nicht noch mehr Zeit vertan und vertändelt werden. Das wäre um so verheerender angesichts der Tatsache, daß die Zahl psychisch kranker Menschen auf Grund unterschiedlicher Entwicklungen auch in den neuen Ländern weiter zunimmt. Die Situation insgesamt möchte ich an Hand dreier Gruppen Behandlungsbedürftiger exemplarisch darstellen. Da gibt es zunächst die Gruppe der chronisch Kranken; sie wird in der Bundesrepublik auf ca. 600 000 Personen geschätzt. Von diesen ist ca. ein Drittel dauerhaft in Einrichtungen untergebracht. Ein großer Teil jedoch lebt noch in den Familien. Ich denke, die meisten von Ihnen können sich vorstellen, welchen Belastungen diese Familien ausgesetzt sind. Dazu kommt in den meisten Fällen auch noch eine katastrophale finanzielle Situation. Bis zu 90 % dieser Menschen sind aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt. Sie leben an oder unterhalb der Armutsgrenze von Kleinrenten und Sozialhilfe, viele ausschließlich vom Vermögen ihrer Angehörigen. Das ist eine Situation, die unserer Bundesrepublik und uns nicht würdig ist. Jede Psychiatriereform muß sich daher auch daran messen lassen, was sie bereit ist für Langzeitkranke, also für chronisch kranke Menschen, zu tun. Eine große Gruppe innerhalb der chronisch Kranken sind die psychisch Alterskranken. Die Zahl dieser Menschen wird infolge der Verschiebung der Altersstruktur weiter zunehmen. Hier fallen nicht nur die biologischen Faktoren ins Gewicht, es spielen auch soziale und psychologische Faktoren eine Rolle. Die Versorgungsangebote sollten daher berücksichtigen, daß die stationären Aufenthalte so kurz wie möglich gehalten werden, damit die Selbständigkeit der alten Menschen gewahrt bleibt. Auch hier tragen größtenteils die Familien die Hauptlast der Betreuung. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muß auch dringend und schnell die gesetzliche Pflegeversicherung kommen. ({5}) Denn Pflegebedürftigkeit ist ein allgemeines Risiko und kann jeden treffen. Nach wie vor herrscht hier Uneinigkeit. Der Koalitionspoker, meine Damen und Herren, bei diesem Thema sollte nicht auf den Rücken dieser Menschen ausgetragen werden. ({6}) - Ja, unwürdig. Oft führen die immensen sozialen und finanziellen Belastungen zu gesellschaftlicher Isolation. Zum sozialen Abstieg ist es dann meist nur noch ein kleiner Schritt. Welche Forderungen ergeben sich nun hinsichtlich einer konsequenten Weiterentwicklung der Psychiatriereform? Hier ist an erster Stelle zu nennen die schnellstmögliche Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission. Die Abkehr vom klinikzentrierten Denken, das heißt die Loslösung von der Versorgung in verwahrenden stationären Langzeitkrankenhäusern, und die Hinwendung zu wohnortnahen therapeutischen Angeboten müssen schnellstens realisiert werden. Dazu ist es erforderlich, das bisher unzureichende Netz an gemeindepsychiatrischen Hilfen flächendekkend auszubauen. Aber dort, wo stationäre klinische Versorgung weiter erforderlich ist, muß eine Abkehr von Großeinrichtungen und Hinwendung zu kleineren gemeindeintegrierten Kliniken und Abteilungen erfolgen. Die Deutsche Vereinigung hat das Problem der Psychiatrie verstärkt ins Blickfeld gerückt. Der Aufbau der psychiatrischen Versorgung in den neuen Ländern muß sehr schnell erfolgen. Auf Dauer kann es aber nicht angehen - da gebe ich Ihnen recht, Frau Ministerin -, daß die Reform der Psychiatrie ständig nur in Form von Modellprojekten gebietsweise realisiert wird. Die Zeit der wissenschaftlichen Sandkastenspiele muß hier vorbei sein, so hilfreich sie auch sein mögen. Die seit langem geforderte Gleichsetzung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken ist immer noch nicht verwirklicht und muß dringend verwirklicht werden. Eine Ungleichbehandlung, eine Zweiteilung in psychisch Kranke, die das Glück haben, in einer Modellregion zu wohnen, und solche, die das Glück nicht haben, darf es doch bei diesem Personenkreis nicht auch noch geben. Die Lage der chronisch psychisch Kranken ist eine Katastrophe und beschämend für die Bundesrepublik. Der erforderliche Neuaufbau in den neuen Bundesländern muß auch als Chance für die Psychiatrie begriffen werden. Die Angleichung in Ost und West darf nicht, wie in anderen Bereichen bereits geschehen, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner enden. Es muß auch eine Angleichung des Niveaus erfolgen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Liebe Frau Kollegin - Regina Schmidt-Zadel ({0}): Ich bin sofort fertig. Erneuerungen rufen nach gemeinsamen Entschließungen aller Fraktionen und dürfen - und damit will ich versöhnlich enden - nicht zum parteipolitischen Zankapfel werden. Das hilft sicher am allerwenigsten diesen Menschen, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen für das Zuhören. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Uta Würfel.

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich reicht die Reform der Psychiatrie bis in die 70er Jahre zurück. Der Deutsche Bundestag hat in seiner 130. Sitzung am 23. Juni 1971 den Auftrag erteilt, eine Kommission zur Erarbeitung einer Enquete über die Reform der Psychiatrie einzusetzen. Die Psychiatrie-Enquete hat in ihrem Abschlußbericht 1975 teilweise dramatische Versorgungsbedingungen in der Psychiatrie festgestellt. Von elenden, menschenunwürdigen Verhältnissen war damals die Rede. Eine Reform der Psychiatrie wurde als mehr als überfällig erkannt. Diese Enquete hat auch die Grundprinzipien einer Reform formuliert: Die Versorgung muß gemeindenah erfolgen, sie muß bedarfsgerecht und umfassend sein, die Versorgungsdienste müssen bedarfsgerecht miteinander koordiniert werden, und psychisch Kranke und somatisch Kranke müssen gleichgestellt sein. Das heißt, die Versorgungsbedingungen für psychisch Kranke dürfen in unserem Gesundheitswesen nicht schlechter sein als diejenigen für somatisch Kranke. Wo stehen wir heute, 16 Jahre, nachdem diese Reformprinzipen aufgestellt wurden? - Die von der Bundesregierung einberufene Expertenkommission zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich hat dies in ihrem umfassenden Bericht deutlich genannt: Die Versorgungsbedingungen für psychische Kranke haben sich wesentlich gebessert. Die Langzeitbereiche in psychiatrischen Krankenhäusern und Heimen konnten deutlich verkleinert werden, weil für viele Kranke und Behinderte eine neue Lebensgrundlage in Wohngruppen oder auch in betreuten Einzelwohnungen gefunden werden konnte. Dies war möglich, weil in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche neue Versorgungsformen in enger Kooperation zwischen ambulanten und stationären Angeboten entstanden sind. Viele Menschen, die heute schwer psychisch erkranken - das kann jeden von uns treffen; denn wie wir schon gehört haben, wird jeder vierte deutsche Bundesbürger im Verlaufe seines Lebens einmal psychisch krank -, hätten früher nur eine Lebensperspektive in den Langzeitbereichen unserer psychiatrischen Krankenhäuser gefunden. Die Psychiatriereform hat uns gelehrt, daß wir für viele psychisch Kranke durch intensive rehabilitative Bemühungen dieses Schicksal vermeiden können. Wir haben durch die Psychiatriereform auch gelernt, daß es keine einfachen Rezepte zur Behandlung und Versorgung psychisch Kranker gibt. Das Risiko der Chronifizierung des Krankheitsverlaufs kann nur gemindert werden, wenn ein engmaschiges Netz von ambulanten, stationären und komplementären Versorgungsangeboten zur Verfügung steht. Für eine verbesserte Versorgung ist es deshalb auch nicht ausreichend, alleine die Behandlung durch niedergelassene Ärzte oder Krankenhäuser im Auge zu haben. Es kommt auf ein sorgsam aufeinander abgestimmtes Netz von Versorgungsangeboten an, in dem psychosoziale Dienste, komplementäre Wohnungsangebote, Angebote zur beruflichen Rehabilitation, teilstationäre Angebote und andere Versorgungsformen eine entscheidende Rolle spielen. Die Bundesregierung hat in einem beispiellosen Programm mit einem Aufwand von 186,5 Millionen DM die Erforschung und Erprobung solcher neuartigen Versorgungsstrukturen gefördert. Dieses Programm hat zentrale Erkenntnisse der psychiatrischen Versorgung erbracht. Es hat daneben - das ist ein viel wichtigerer Beitrag - während seiner Laufzeit in allen Bundesländern umfassende Reformbemühungen zur Verbesserung der Psychiatrie in Gang gesetzt. Die Erprobung neuer Versorgungsformen und die allgemeine Umsetzung erfolgte somit gewissermaßen Hand in Hand.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Würfel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Knaape?

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich, gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Würfel, ich möchte Sie fragen: Wäre es, da die Bundesregierung in der zurückliegenden Zeit dieses Anschubprogramm für die Psychiatrie in den alten Ländern geleistet hat, nicht auch denkbar und wünschenswert, daß eine Anschubfinanzierung für eine Aufbesserung der Psychiatrie in den neuen Bundesländern erfolgt? Würden Sie dem zustimmen?

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Dr. Knaape, ich halte dies sogar für unverzichtbar. ({0}) Diese zweifellos beträchtlichen Erfolge, die ich eben genannt habe, sollten uns allerdings keine Veranlassung dazu geben, die notwendigen Verbesserungen der psychiatrischen Versorgung als erfolgreich abgeschlossen anzusehen. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt uns im Grunde genommen schon die heutige Debatte. Dies sollten vor allem auch jene unter uns bedenken, die das Thema Pflege als letzte zu lösende sozialpolitische Aufgabe bezeichnen. Es gibt durchaus noch weitere große Aufgaben. Die Expertenkommission hat trotz aller erreichten Verbesserungen deutlich darauf hingewiesen, daß wir von der gesetzlich verbürgten Gleichstellung der psychisch Kranken mit den somatisch Kranken noch immer weit entfernt sind. Vorwiegend im gemeindepsychiatrischen Bereich besteht nach Auffassung der Experten für die kommenden Jahre der größte Hand6376 lungsbedarf. Dies gilt auch für die hinzugekommenen Länder. Es fehlt in vielen Kommunen nach wie vor an der Schaffung ausreichender Angebote. Es fehlt vor allen Dingen auch an der notwendigen Koordination und Verzahnung dieser Angebote untereinander. Diese Versorgungsprobleme sind spätestens seit der Vorlage des Expertenberichts 1988 bekannt. Es sind nun insbesondere die Kommunen und Länder aufgefordert, die in ihren Bereichen noch liegenden Defizite anzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns haben die Erkenntnisse der Psychiatriereform auch besondere Bedeutung für die neuen Bundesländer. Wir wissen um die besonderen Probleme der Psychiatrie in den neuen Ländern, und wir werden uns damit auch noch eingehender auseinanderzusetzen haben. Wir haben aus den Reformprogrammen heraus auch hinreichende Erkenntnisse gewinnen können, welche Maßnahmen bei der Reform der Psychiatrie in den neuen Ländern zu ergreifen sind. Dort wie hier gilt der Grundsatz, daß eine Psychiatriereform auf gemeinsame Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen angewiesen ist. Der Bund hat im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung in den letzten Jahren ergriffen. Dazu gehört beispielhaft die Verbesserung der Möglichkeit einer tagesklinischen Behandlung, finanzierungsrechtliche Absicherung der Behandlung durch eine psychiatrische Institutsambulanz, die Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts, Verbesserung der Personalausstattung mit Pflegekräften in psychiatrischen Krankenhäusern und die besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse psychisch Kranker im Rahmen der Gesundheitsstrukturreform. Damit ist viel erreicht; aber noch nicht alles ist geschafft. Die Expertenkommission hat zu Recht darauf hingewiesen, daß ein Psychotherapeutengesetz mit dem Ziel der Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung erforderlich ist. Dieses Gesetz - so strittig es in der Ausgestaltung zwischen den verschiedenen Interessengruppen auch sein mag - ist meines Erachtens in der Tat längst überfällig. Dabei geht es vor allen Dingen um die berufsrechtliche Regelung. Dies ist nicht nur im Interesse der tätigen Psychotherapeuten dringend notwendig, sondern auch im Interesse der Patienten; denn der Patient hat doch ein Anrecht darauf, von einem Psychotherapeuten ein hohes Qualifikationsniveau zu verlangen. Nur derjenige sollte sich Psychotherapeut nennen können, der seine Befähigung für diese verantwortungsvolle Aufgabe nachgewiesen hat. Ich plädiere also sehr dafür, daß wir dieses Berufsrecht nicht mit der Frage vermischen, wie die Psychotherapie von der Krankenversicherung finanziert werden soll. Dafür wird es Regelungen geben, wenn wir erst einmal die wichtigere Aufgabe des Berufsrechts gelöst haben. ({1}) Die Expertenkommission hat uns auch darauf hingewiesen, welche besondere Bedeutung die Sozialhilfe als Rehabilitationsträger für psychisch Kranke hat. Sie hat uns deshalb empfohlen, die Regelungen der Heranziehung von Einkommen und Vermögen kritisch zu überprüfen; denn Mittellosigkeit der Betroffenen - das hat bereits die Kollegin von der SPD ausgeführt - kann den Weg zur Unabhängigkeit und selbständigen Lebensführung des gesundenden psychisch Kranken versperren. Wer psychisch schwerkrank wird und über Jahre hinweg der Betreuung bedarf, dem darf nicht allein aus Mangel an eigenen Geldmitteln die Reintegration in eine selbständige Lebensführung verwehrt werden. Wir werden weitere Verbesserungen für psychisch Kranke im Rahmen der Überarbeitung des Rehabilitationsrechts sorgfältig zu prüfen haben. Meine Damen und Herren, dies ist keine Psychiatriepolitik an sich, sondern dies ist Gesundheitspolitik und Rehabilitationspolitik schlechthin; denn wenn wir eines durch die Psychiatriereform gelernt haben, dann ist es der uns allen ins Stammbuch geschriebene Auftrag zur Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken. Wie anders können wir diesem Auftrag besser entsprechen, als eine einheitliche Gesundheitspolitik sowohl für psychisch als auch für somatisch Kranke zu betreiben? ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt der Frau Abgeordneten Dr. Ursula Fischer das Wort.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe es sicherlich nicht einfach, hier zu diesem Thema zu sprechen. Ich tue es trotzdem. ({0}) - Sie haben jetzt gut reden, weil Sie auf dieser Bank sitzen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Psychiatrie als Teil der Staatsheilkunde gelehrt. Ich wollte damit nur darauf hinweisen, daß es gemeinsame Wurzeln in Ost und West gibt. Daß die Psychiatrie das Fach ist, in dem sich Menschenbild, Abhängigkeiten und Verflechtungen mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung besonders deutlich zeigen, hat sich in der deutschen Geschichte in eklatanter Weise durch die Verstrikkung in das Euthanasieprogramm der Faschisten gezeigt. Das ist das schwerwiegendste Beispiel; es gibt andere. Dem psychiatrisch Tätigen vertrauen sich eigentlich besonders verletzliche Menschen an, aber auch solche, bei denen das Ausmaß von Krankheit bzw. Störung ein selbstbestimmtes Handeln nicht mehr zuläßt. Genau in einer solchen Spezifik der psychiatrischen Erkrankung liegt eben auch die Gefahr der Psychiatrie, insbesondere der institutionalisierten Psychiatrie, über Menschen zu verfügen. Das ist auch jetzt in der ehemaligen DDR ganz deutlich zu sehen. Diese Zustände dort betreffen mich sehr. Ich habe auch gelesen, was es in den westlichen Bundesländern noch zu tun gibt. Vor diesen beschriebenen Gefahren standen und stehen ost- und westdeutsche Psychiatrien gleichermaßen. Ebenso wie die Gesellschaft bedarf die Psychiatrie einer kritischen Öffentlichkeit, um die Fähigkeit zur ständigen Selbstkorrektur nicht zu verlieren. Das ist für uns aus folgendem Grund sehr wichtig. Die Versorgung psychisch Kranker ist in ganz Deutschland nach wie vor unzureichend. Das, was in der DDR gut gewesen ist - das wurde hier auch schon gesagt -, wurde hier „plattgemacht". Folgt man der Entwicklung seit der PsychiatrieEnquete 1975, allen durch den Bund finanzierten und wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten, stellt sich aus unserer Sicht heraus: Das sogenannte Basissystem niedergelassener Nervenarzt und stationäre psychiatrische Versorgung ist eben doch keine Basis, da die Vielzahl der komplementären ambulanten Betreuung gerade in diesem Bereich von immenser Bedeutung ist. Der langjährig verschleppte Reformprozeß - da folgen wir den Intentionen der Großen Anfrage der SPD scheint seit Jahren steckengeblieben zu sein. Warum wohl? Weil unter anderem das Modellprogramm Psychiatric, die Expertenkommission, das Gutachten des Sachverständigenrates im Empfehlungscharakter stehengelassen worden sind. Die Bundesregierung hat es bis heute verabsäumt, die Reformansätze und die entsprechenden Empfehlungen durch gesetzgeberische Aktivitäten für die Länder verbindlich zu regeln. Hier liegt der akute Handlungsbedarf. Die Reform der Psychiatrie, bekanntlich vor 16 Jahren eingeleitet, ist aber auch dringend durch die Reform der Finanzierung der Psychiatrie bundesweit zu ergänzen. Die entsprechenden Gesetzesregelungen haben die Finanzlasten der Reform der psychiatrischen Einrichtungen neu auf die Kostenträger zu verteilen. Zu den gesetzlichen Regelungen muß dann aber auch endlich ein Psychotherapeutengesetz gehören, und zwar aus meiner Sicht noch in diesem Jahr. Die Gruppe PDS/Linke Liste fordert dies. Aus der Fragestunde mit Frau Bergmann-Pohl gestern war ja ersichtlich, wie der Verlauf sein könnte: Referentenentwurf im ersten Halbjahr, Beschluß im Kabinett 1993. Dann sind Wahlen. Ich habe große Befürchtungen, daß auch das wieder steckenbleibt. Die außerklinische Psychiatrie, über die seit 1975 eigentlich ein verbaler Konsens besteht, hat ein pluralistisches Versorgungsangebot zu beinhalten. Dieses Versorgungsangebot muß aber endlich dem Bedarf der psychisch Kranken entsprechen. Es darf keine andersgeartete Lobby dominant sein. Dieser Bedarf ist eben sehr unterschiedlich zu realisieren. Er betrifft auf der einen Seite fast 600 000 chronisch psychisch Kranke, er betrifft auf der anderen Seite ein psychotherapeutisches Angebot für psychosomatisch und noch nicht chronifizierte psychisch Erkrankte. Er betrifft aber auch das Angebot für Kinder und Jugendliche. Der Schlußfolgerung, daß sozialpsychiatrische Zentren eben nicht das Nonplusultra sind und daß mehr niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater eingesetzt werden müssen, können wir so ausschließlich nicht folgen. Wir sind sehr gespannt auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD, die Schlüsse zulassen wird, ob eine wirkliche Bewegung in diesem Bereich tatsächlich entsteht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kollegin Editha Limbach.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Dank an Frau Schmidt-Zadel beginnen, weil sie deutlich und ausdrücklich gesagt hat, daß sie nicht möchte, daß diese Diskussion, bei der es sich ja um das Schicksal von Menschen handelt, die es besonders schwer haben, in das Parteiengezänk kommt. Ich würde mich freuen, wenn es uns gelänge, dies in der Diskussion und auch bei den Formulierungen, die die einzelnen dann finden, durchzuhalten. Wir waren uns auch in der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung einig, als wir diesen Abschnitt besprochen haben, daß wir da gemeinsam vorangehen wollen, um zu erreichen, daß, ich sage einmal: auch psychisch kranke Menschen möglichst nahe an eine normale Lebensführung herankommen, daß die Behandlung immer individuell und nicht schematisiert stattfindet, daß, ich sage einmal: mit gleichen Rechten und auf gleichen Wegen behandelt wird und daß in der Tat körperlich und seelisch oder psychisch Kranke gleichgestellt werden. ({0}) Das ist mir auch sehr wichtig. Aber, Frau Schmidt-Zadel, ich muß Ihnen auch sagen: Wenn Sie meinen - das klang in Ihrer Rede doch sehr an -, die Bundesregierung - Sie meinten die jetzige Bundesregierung - brauche zuviel Zeit, ({1}) darf ich einmal darauf hinweisen, daß bereits von 1975 bis 1982 - vorher war Helmut Kohl nicht Kanzler, ({2}) aber im Oktober 1982 wurde er es - sieben Jahre vergangen sind, in denen eigentlich nicht so schrecklich viel geschah, außer daß 1980 das Modell-Projekt auf den Weg gebracht wurde. Ich sage das bewußt nicht als Vorwurf, sondern das ist einfach ein so kompliziertes und schwieriges Problem mit so großen Aufgaben, daß es nicht richtig ist, bei den Menschen, die betroffen sind, den Eindruck zu erwecken, diese Probleme könnte man so mit einem Fingerschnipsen in Null Komma nichts erledigen. ({3}) Ich wollte darauf hinweisen, daß mit dem Modellprogramm, das von 1980 bis 1985 lief, nicht daran gedacht war - das sage ich gerade auch den Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern , sozusagen Versorgungslücken zu schließen oder Versorgung sicherzustellen. Vielmehr war es - nur das ist Bundesaufgabe - gezielt ein Modell6378 programm, das neue Strukturen, moderne Strukturen, entwickelte Strukturen ausprobieren sollte, um damit denen, die Verantwortung haben - das sind in diesem Fall die Länder und Kommunen -, etwas an die Hand zu geben, wonach man sich bei der Reform dieses Bereiches in den Ländern, in den Kommunen richten könnte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Limbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, er war Vorsitzender der Enquete-Kommission; deshalb darf er fragen.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Limbach, wenn Sie eben auf tatsächliche oder auch nicht vorhandene Versäumnisse der damaligen sozialliberalen Koalition nach der Enquete-Kommission von 1975 hinwiesen, wäre es dann nicht auch angebracht, zu erwähnen, daß das Modellprogramm damals vorwiegend in sozialdemokratisch und sozialliberal geführten Bundesländern durchgeführt wurde und leider, muß man sagen, von den CDU/CSU-geführten Bundesländern damals nicht mitgemacht wurde?

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kirschner, ich habe deshalb nicht darauf hingewiesen, weil mir die Hintergründe dafür nicht bekannt sind. Immerhin war 1980 die Bundesregierung stark von der SPD geprägt; möglicherweise hat das damit zusammengehangen. Ich kann das nicht beurteilen und kann Ihnen deshalb diese Frage nicht schlüssig beantworten. Ich wollte noch darauf hinweisen, daß keineswegs seit 1975 und erst recht nicht, seit Helmut Kohl die Bundesregierung führt, nichts geschehen sei. Es ist eine ganze Menge erfolgt. Es gibt zwar keine AhaErlebnisse, die die ganze Republik erschütterten, aber eine Menge Kleinarbeit, die den richtigen Weg weiterverfolgt hat, Schritt für Schritt, wie man ja meistens große Probleme nicht mit einem großen Rundumschlag, sondern nur Schritt für Schritt in die richtige Richtung lösen kann. Ich möchte einmal sagen, was erfolgt ist. Zunächst einmal gibt es eine ganze Reihe von einschlägigen Vorschriften im Gesundheits-Reformgesetz. Diese können Sie alle im Sozialgesetzbuch V nachlesen. Ich habe mir einige Punkte aufgeschrieben. Nach § 118 können psychiatrische Institutsambulanzen errichtet werden und die Zulassung bekommen. Die sozialpädiatrischen Zentren sind in § 119 erwähnt. Die Chance, eine ambulante und eine stationäre Behandlung zu vermischen und zu verzahnen, ist gegeben. Ich gestehe zu: Wir haben an die mündigen Bürgerinnen und Bürger geglaubt, die in den Selbstverwaltungsorganen tätig sind, und haben vielfach den Krankenkassen sozusagen Ermächtigungen gegeben, dies zu tun. Ich halte das auch für richtig, weil ich im Grunde der Meinung bin, daß es notwendig ist, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Bürgerinnen und Bürger, insbesondere wenn sie in den Selbstverwaltungsorganen in der Verantwortung stehen, zum Wohle der ihnen jeweils anvertrauten Menschen handeln können. Ich hoffe sehr, daß auf diesem Wege noch sehr vieles geschieht. Die Möglichkeit dafür ist gegeben, und auch die grundsätzliche Aussage steht im Sozialgesetzbuch. In § 27 SGB V steht ausdrücklich: Bei der Krankenbehandlung ist den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation. Also auch dies ist im SGB V mit einem kleinen Schritt in die richtige Richtung gesteuert worden. Auch das, was dort in bezug auf die häusliche Pflege geregelt wurde, kommt natürlich nicht nur somatisch Kranken, sondern auch psychisch Kranken zugute. Was haben wir denn sonst noch gemacht? Wir haben das Betreuungsgesetz, das ab Anfang dieses Jahres gilt, neu geschaffen. Auch darin sind die Rechte psychisch Kranker gestärkt worden. Wir haben Frau Minister Hasselfeldt hat schon darauf hingewiesen - die Bettenzahl reduziert und die Verweildauer verkürzt. Die Bettenzahl - die Zahl wurde eben schon einmal genannt - ich wiederhole sie aber gerne noch einmal - wurde von 150 000 im Jahre 1976 auf 75 000 im Jahre 1990 verringert. Auch die Verweildauer im Krankenhaus ist erheblich verkürzt worden, nämlich von 152 Tagen auf 100 Tage. Die 100 Tage beziehen sich auf 1986.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Limbach, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Knaape gestatten?

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das tue ich.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, wir hatten ja im Gesundheitsausschuß den Antrag gestellt, die nicht ärztlichen Leistungen, die zur psychischen Rehabilitation bzw. auch zur psychischen Diagnostik notwendig sind, zu erweitern, also nicht nur auf die sozialpädiatrischen Zentren zu beschränken. Das haben Sie doch abgelehnt. ({0}) Es wäre doch ein Fortschritt gewesen, wenn dies eine Zustimmung erfahren hätte. Oder gehe ich fehl in dieser Annahme?

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, Herr Dr. Knaape, Sie haben unseren Argumenten im Ausschuß nicht richtig zugehört. Ich kann die Ausschußberatungen, die sehr ausführlich waren, jetzt nicht wiederholen. Aber die Gründe, die dagegen sprachen, Ihrem Antrag zu folgen und die z. B. mit den Kassenleistungen und anderen Fragen zusammenhängen, waren meiner Ansicht nach überzeugend. Wenn sie Sie nicht überzeugt haben, bedauere ich das. Aber uns hatten sie überzeugt. ({0}) Ich möchte noch einige weitere Punkte erwähnen, weil man sie immer übersieht und meint, das müsse alles in einem Gesetz auffindbar sein. Auch das, was in einschlägigen Rentenversicherungsregelungen über Rehabilitation und Wiedereingliederung steht, gehört zu dem, was für psychisch Kranke wichtig sein kann und auch wichtig ist. Auch das, was im neuen Jugendhilferecht geschaffen wurde, das nicht nur die seelisch behinderten Kinder und Jugendlichen, sondern außer der Jugendhilfe expressis verbis die ärztliche Beteiligung ausdrücklich erwähnt, muß dann angesprochen werden. Es wird sicher noch mehr Punkte geben. Die Kapazität meines Büros und meine eigene sind nicht so groß, daß ich das jetzt überall hätte heraussuchen können. Ich wollte Ihnen nur einen Eindruck davon geben, daß es unrichtig ist, wenn man sagt: Seit 1975 ist nichts geschehen. Nein, es ist sehr viel geschehen. Ich gebe zu, es ist nicht so viel geschehen, daß wir uns zurücklehnen und sagen können: Wunderbar, jetzt ist alles geregelt. Aber man kann auch nicht so tun, als sei nichts geschehen und man säße nur da und staunte über Expertenmeinungen. Ich möchte auch noch ein wenig über die Psychiatrie sagen, auf die sich vorhin auch Ihre Frage, Herr Dr. Knaape, bezog. Ich habe die Frau Ministerin nicht so verstanden, als hätte sie generell alle, die in diesem Beruf oder in Randberufen tätig waren, pauschal verurteilt. Aber wir wissen doch - und das ist doch schon in der ersten freigewählten Volkskammer herausgekommen -, daß beispielsweise die Klinik Waldheim überprüft werden mußte, weil dort sehr schlimme Dinge bekannt wurden. Gerade kürzlich hat der sächsische Gesundheitsminister Hans Geisler die Überprüfung aller Kliniken in Sachsen angeordnet auf Grund der Dinge, die dort im einzelnen herausgekommen sind. Ich finde es auch deshalb richtig, daß man dies insgesamt tut, damit man dann zu Recht sozusagen die faulen Eier von den richtigen Eiern trennen kann. Nicht pauschale Verurteilung ist hier angesagt, aber doch ein Hinweis darauf, daß die Menschenverachtung des Systems, unter dem Sie, Herr Dr. Knaape, und Sie, Frau Michalk, Sie, Herr Sopart - ich könnte jetzt alle nennen -, so lange leben mußten, sowohl die psychisch und seelisch Kranken, aber auch die alten Menschen, die vielleicht etwas desorientiert waren, in verheerender Weise getroffen hat. Ich wünsche mir sehr, daß wir gemeinsam in der Lage sind, dieses alles zu überwinden. ({1}) Lassen Sie mich aber noch ein letztes dazu sagen. Die Verantwortung dafür liegt bei uns allen. Sie liegt auch beim Bund, aber nicht nur beim Bund. Es geht nicht an, alle Probleme aufzuzählen, sie dem Bund, dem Bundestag und der Bundesregierung, vor die Füße zu kippen und zu sagen: Nun kehre sie einmal weg. Wenn wir am Föderalismus festhalten - und das will ich, weil ich ihn für gut und nützlich für unseren Staat, für unser Volk halte -, wenn wir an der gemeindlichen Selbstverwaltung festhalten - was ich auch für gut und nützlich halte -, dann müssen wir auch die Kompetenzen, auch die finanziellen, jeweils da lassen, wo sie sind und darauf hinwirken, daß gemeinsam zur Linderung der Not und des schweren Lebens der Betroffenen gearbeitet wird. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorläufig letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Horst Schmidbauer.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 1975 gegebenen Empfehlungen der Enquete-Kommission wurden in der allgemeinen und in der Fachöffentlichkeit und vor allem bei der damaligen Bundesregierung mit großer Zustimmung aufgenommen. Wenn man sich das durchliest, kam die Kritik seinerzeit nur von den Ärzteverbänden. Am Anfang aber war klar - das ist, glaube ich, auch der Punkt heute, der sichtbar geworden ist -, daß die Reform wesentliche Veränderungen des Leistungsrechts erforderte. Diese sollten durch ein Bundesmodellprogramm erst noch legitimiert werden. Als die Ergebnisse vorlagen und der Bericht der Expertenkommission fertiggestellt worden war, brachte die inzwischen konservativ-liberale Bundesregierung 1988 das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz auf den Weg. Trotz gegenteiliger Voten des Bundesrates blieben darin die Erfordernisse der Psychiatriereform unberücksichtigt. Für meine Fraktion war dies ein Anlaß, ein eigenes Gesetz in den Bundestag einzubringen. Unser Ziel war es, in den entsprechenden sozialrechtlichen Bestimmungen psychisch Kranke mit körperlich Kranken gleichzustellen. Der Entwurf scheiterte seinerzeit an den Mehrheitsverhältnissen. ({0}) Nach dem sogenannten Gesundheitsreformgesetz dagegen sollen die besonderen Belange der Psychiatrien im Bereich der ambulanten Pflege und der Rehabilitation zwar angemessen berücksichtigt werden, aber mit der Maßgabe, „daß psychosoziale Maßnahmen, die bei der Betreuung psychisch Kranker eine wichtige Rolle spielen, weiterhin nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehören", ({1}) eine Formulierung, deren Paradoxie durchaus ins Fachgebiet der Psychiatrie fällt. ({2}) Wenn man heute die entscheidende Frage stellt, was von den Reformansätzen verwirklicht worden ist, muß man resigniert feststellen, von der damaligen Aufbruchstimmung ist wenig geblieben. Manche halten die Reform für versandet, ja sogar für gescheitert. Wie steht es denn mit der Prioritätensetzung beim Aufbau ambulanter oder teilstationärer Einrichtungen, komplementärer Dienste und Einrichtungen oder der Errichtung psychiatrischer Abteilungen in den allgemeinen Krankenhäusern? Wenn Sie die deprimierende Antwort nicht selbst wissen, würde ich sagen, fragen Sie doch die Betroffenen. Das mit dem Aufbau solcher Einrichtungen verknüpfte Ziel, unnötige Hospitalisierung zu vermeiden, eine humanisierte Psychiatrie auf den Weg zu bringen, scheint so 6380 Deutscher Bundestag - l2. Wahlperiode Horst Schmidbauer ({3}) weit entfernt wie je zuvor. Der wenig attraktive Bereich der psychiatrischen Versorgung droht weiter an den Rand des gesellschaftlichen Bewußtseins zu geraten, und das sollte uns herausfordern. Siebzehn Jahre sind seit der Enquete verstrichen, ohne daß der Gesetzgeber ausreichend tätig geworden ist. Bestätigt wird das nicht nur von uns, sondern auch vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. 1988 konstatierten die Experten nämlich weiterhin ernstzunehmende Defizite im Bereich der nichtstationären psychiatrischen Langzeitversorgung. Sie prangern dabei vor allem die mangelhaften Finanzierungsgrundlagen an. Halten wir also fest: Es gibt zwei zentrale Defizite, zum einen den Mangel an ambulanten Versorgungsstrukturen und zum anderen eine unzureichende Finanzierungsgrundlage. Die beiden Mängel werden aber gerade dort sichtbar, wo der größte Nachholbedarf besteht, nämlich bei der Realisierung des psychiatrischen Gemeindeverbundes. Dabei spielt die Idee eines umfassenden regionalen Psychiatriebudgets eine ganz zentrale Rolle. Psychiatriebudget bedeutet: ein regionaler Finanzierungsverbund, in dem die Mittel aller Leistungsträger gebündelt werden, um der Zersplitterung bei der Zuständigkeit ein Ende zu bereiten. Es kann doch nicht angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Träger von umfassenden gemeindepsychiatrischen Angeboten mit bis zu zwölf verschiedenen Kostenträgern jonglieren müssen! Mehr als die Hälfte der Ausgaben für die psychiatrische Versorgung wird über die Sozialhilfe finanziert und nur etwa ein Drittel aus den Kassen der Sozialversicherung, also Kranken-, Renten-, Arbeitslosenversicherung. Das Modellprogramm des Bundes, in dem die Leitlinien der Enquete erprobt werden sollten, hat beispielhaft die Verwendung der Mittel errechnet: Die Hälfte der Mittel wird für die Krankenhausbehandlung herangezogen, ein Viertel für die Heimbetreuung und man höre und staune! ein Siebtel für den gesamten ambulanten Bereich und nur ein Prozent für die Rehabilitation. Prävention ich habe nachgeschaut - taucht nirgends auf. Das Leistungsbilanzdefizit, das von 1975 bis heute fortbesteht, in ein paar Stichworten: Die Institutsambulanzen der Krankenhäuser sind zum einen meist zu weit entfernt von den Kranken. Sie sind zum anderen unzureichend finanziert. Darüber hinaus ist, was vor allem die psychiatrischen Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser anbelangt, immer noch die Bedarfsprüfung erforderlich, bevor sie die Leistungen anbieten dürfen. In bezug auf die medizinischen Leistungen des Sozialpsychiatrischen Dienstes an Gesundheitsämtern sind die Kassen nicht leistungsverpflichtet. Die Personalausstattung ist ungenügend. In einem Bereich gibt es keine Probleme, nämlich bei der Finanzierung von Psychopharmaka; bezeichnenderweise, kann man dazusagen. ({4}) Für Übergangswohnheime gilt wiederum: Sie sind meist zu weit entfernt. Für die Kosten kommt im besten Fall die überörtliche Sozialhilfe auf. Bei der beruflichen Rehabilitation ergibt sich das gleiche düstere Bild: Für die Zentren oder Tagesstätten mit den für die Betroffenen wichtigen sozialen Funktionen haben die Kommunen kein Geld. Andere Leistungsträger sieht das Leistungsrecht nicht vor. Seit 1988 hatte die Koalition die Chance, endlich wesentliche Maßnahmen zu einer Psychiatriereform in Gesetzesform zu gießen. Dazu hätte sie ganz einfach nur die Ergebnisse der Expertenkommission, die in einem schlüssigen Bericht mit eindeutigen Empfehlungen vorgelegt worden sind, umsetzen müssen. Diese Chance, so muß ich sagen, haben Sie leichtfertig vertan. Die Verzögerung von nunmehr 17 Jahren ist sachlich nicht mehr erklärbar und entschuldbar. Wenn man die Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken wirklich will, wenn man die Abwertung und Ausgrenzung bestimmter Patientengruppen, die in dem unerträglichen Gerede von der Zwei-KlassenPsychiatrie ihren Ausdruck gefunden haben, beenden will, muß mit der Neuordnung der psychiatrischen Versorgung endlich ernst gemacht werden. Dies bedeutet vor allem: Es muß ernst gemacht werden mit dein Aufbau einer gemeindenahen Psychiatrie. Lassen Sie mich zum Abschluß feststellen: Bislang läßt sich die Psychiatriereform am ehesten mit einem steckengebliebenen Karren vergleichen, der an allen vier Rädern blockiert wird, und zwar erstens durch Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber psychisch Kranken, die noch weiter abgebaut werden müssen, zweitens durch die Abhängigkeit von der Sozialhilfe, die angesichts der chronischen Finanznöte in den Kommunen dazu führt, daß die Mangelsituation zur Normalsituation wird, drittens durch das Einfrieren zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten durch die Krankenkassen angesichts ausufernder Kosten und drohender Beitragserhöhungen und viertens wegen der fehlenden gesetzlichen Absicherung der Pflegeversicherung, die immer noch auf sich warten läßt, weil sich der große Koalitionspartner nicht gegen den kleinen durchsetzen kann oder auch nicht durchsetzen will. Meine Redezeit ist um. Die Zeit, die man dem Gesetzgeber für die Psychiatriereform zubilligen muß, ist aber schon längst abgelaufen, ohne daß der Präsident des Hohen Hauses mit der Glocke an die Pflichten hätte erinnern können. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Ich bedanke mich für die Kooperation der Geschäftsführer. Ich will bei dieser Gelegenheit sagen: Die Koalition hat ihre Redezeit unterschritten, die Opposition hat sie überschritten, und das einvernehmlich. Ich finde das sehr nett. Es kann auch einmal anders herum laufen. Eine zweite Bemerkung an die Frau Kollegin Regina Schmidt-Zadel. Die Tagesordnung des Bundestages und der Ablauf hier werden nach § 20 Vizepräsident Helmuth Becker unserer Geschäftsordnung in der Ältestenratssitzung festgelegt. Das heißt, die Fraktionen und Gruppen verständigen sich auch darauf, wann welcher Tagesordnungspunkt aufgerufen wird. Nicht alle Tagesordnungspunkte können morgens um 11 Uhr aufgerufen werden, jedenfalls nicht zusammen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Überweisung der Drucksache 11/8494 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Das sind federführend der Ausschuß für Gesundheit und mitberatend die Ausschüsse für Arbeit und Sozialordnung und für Familie und Senioren. - Ich höre und sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar 1992, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.