Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/29/1990

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern, und zwar um den Punkt: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik, Drucksachen 11/5622, 11/6778, 11/6836. Die Vorlage soll im Anschluß an die Fragestunde mit einer Debattenzeit von vier Stunden beraten werden. Wird hierzu das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? - Herr Abgeordneter Bohl, bitte schön.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Leider haben wir uns im Ältestenrat und interfraktionell nicht darauf verständigen können, diesen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu nehmen. Ich möchte deshalb begründen, weshalb wir trotz des Widerspruchs der Opposition darauf bestehen und die Aufsetzung beantragen. Das Gesetz ist in allen Einzelheiten sorgfältig beraten worden und jetzt auch verabschiedungsreif. ({0}) Auf den zeitlichen Druck, der auf uns deshalb lastet, weil die Erfordernisse für ein solches Gentechnikgesetz objektiv gegeben sind, möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht weiter eingehen. Wesentliche parlamentarische Vorarbeiten wurden auch bereits durch die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie " geleistet. Unter dem bewährten Vorsitz von Herrn Catenhusen haben wir hier wichtige Erkenntnisse bekommen. Die Beratungen über den Gesetzentwurf selbst waren besonders intensiv. Alle Fraktionen hatten umfassend Gelegenheit, ({1}) zu allen Sachfragen Stellung zu nehmen. ({2}) Damit in dieser Frage in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck entsteht, will ich die Sitzungen, die zur Beratung dieses Gesetzes stattgefunden haben, aufzählen. Erste Beratung im Bundestag und Überweisung des Gesetzentwurfs waren am 15. November 1989. Die Einsetzung eines Unterausschusses „Gentechnikgesetz" auf Antrag der SPD erfolgte am 6. Dezember 1989. Die Anhörung dort hat am 18. und 19. Januar dieses Jahres stattgefunden. Der Unterausschuß hat dann getagt am 8. und am 14. Dezember 1989 sowie am 8., 15. und 16. Februar 1990; weiter am 8. und 16. März 1990 sowie am 23. März 1990. ({3}) Die abschließende Beratung im federführenden Ausschuß hat zu Beginn der Woche am 26. März stattgefunden. Von unserer Fraktion ist sogar eine weitere Ausschußsitzung beantragt worden. Die SPD und die GRÜNEN waren jedoch nicht geneigt, diesem Antrag zuzustimmen. Mir scheint es deshalb zumindest sehr widersprüchlich zu sein, ({4}) wenn Sie heute von zuwenig Beratungszeit sprechen. Sie hätten ja dann der weiteren Sitzung zustimmen können. Wir haben auch den Eindruck, daß mit Ihrem Widerspruch zu der heutigen Beratung lediglich die Uneinigkeit in Ihren eigenen Reihen verdeckt werden soll. Es gibt nämlich interessante Hinweise aus den Reihen der betroffenen Gewerkschaften und auch von dem Kollegen Rappe darauf, daß von Teilen der SPD doch eine sehr zügige Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs gewünscht wird. Wir wollen diesen Wunsch, der in Ihren Reihen vorhanden ist, gerne aufnehmen und bitten deshalb um die Beratung dieses Gesetzentwurfes am heutigen Tag. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Jahn ({0}) das Wort.

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, der eben gestellt worden ist, ist nichts anderes als ein Offenbarungseid. ({0}) Abgesehen davon, daß die federführende Ministerin bei dieser wohl nicht unwichtigen Debatte nicht einmal anwesend ist und damit ihr Desinteresse und die mangelnde Anteilnahme der Regierung dokumentiert, ({1}) offenbaren dieser Antrag und die Tatsache, daß es für notwendig befunden wird, ihn zu stellen, daß diese Koalition eine Regierung unterstützt, die den sachlichen Anforderungen, nämlich eine grundlegende Frage an unsere Gesellschaft zu beantworten, in keiner Weise gewachsen ist. ({2}) Die Koalition unterstützt eine Regierung, die zudem nicht einmal das Handwerk eines geordneten parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens beherrscht. ({3}) Wir haben eben einige Daten gehört. Verschwiegen hat Herr Kollege Bohl bei seinen Abläufen, die er dargelegt hat, daß der Bundesrat den Entwurf, der im November 1989 gelesen worden ist, für so miserabel hielt, daß er dazu 254 Änderungsanträge eingebracht hat - immerhin eine ungewöhnlich große Zahl - und daß in der öffentlichen Anhörung alle Sachverständigen aus der Wissenschaft, aus der Forschung und aus der Wirtschaft diesen Entwurf für unannehmbar erklärten mit der Folge, daß sich vor gerade fünf Wochen, im Februar, die Regierung genötigt sah, einen völlig neuen, mit dem ursprünglichen Entwurf überhaupt nicht mehr zusammenhängenden Entwurf in den Ausschuß einzubringen. Der Unterausschuß hatte dafür dann einen Monat Zeit zur Beratung. Dem federführenden Ausschuß haben Sie ganze zwei Stunden für die Beratung eines solch grundlegenden Gesetzes gegeben. ({4}) Sie haben die notwendige und beantragte Anhörung verhindert. Sie haben die Stellungnahmen zu den Entwürfen von Rechtsverordnungen unmöglich gemacht, indem Sie in letzter Minute noch Tischvorlagen präsentierten, die keiner der verantwortlich vorbereitenden Entscheidungen in den Ausschüssen auch nur annähernd zur Kenntnis, geschweige denn ernsthaft prüfen konnte. Die mitberatenden Ausschüsse haben zum Teil erst nach der abschließenden Sitzung des federführenden Ausschusses überhaupt Zeit gefunden, sich mit den Ergebnissen zu befassen. Der Haushaltsausschuß war nicht in der Lage, die finanziellen Folgen dieses Gesetzes zu bewerten, weil Sie dazu nicht einmal eine ordentliche Vorlage liefern konnten. Die Fraktionen haben Anfang dieser Woche beraten müssen, ohne daß überhaupt ein schriftlicher Bericht vorlag. Der ({5}) Ausschußbericht liegt überhaupt erst seit gestern nacht in den Fächern, d. h. die Vorlage, über die heute abgestimmt werden soll. Sie, meine Damen und Herren, hindern mit Ihrem Antrag, wenn er denn durchgehen sollte, die Abgeordneten daran, ihren verantwortlichen Pflichten nach Art. 38 des Grundgesetzes nachzukommen. ({6}) So gehen Sie mit einer der schwierigsten Fragen um, die sich für die Menschen in unserer Zeit überhaupt stellt. Das ist kein Einzelfall. Das ist kennzeichnend für die Art, wie diese Bundesregierung überhaupt arbeitet. ({7}) Angefangen mit der sogenannten Gesundheitsreform über das Kinder- und Jugendhilfegesetz, mit dem wir uns gestern befassen mußten, und das Besoldungsänderungsgesetz bis hin zum Nachtragshaushalt überall das gleiche: überstürzte und hastige Verfahren. ({8}) Sie, meine Damen und Herren, die Sie sich jetzt so lauthals betätigen, fördern dieses unmögliche Verhalten der Regierung noch mit Ihrem Geschäftsordnungsantrag. ({9}) Sie geben damit das Recht und die Pflicht des Bundestages zu einer sorgfältigen und verantwortungsbewußten Beratung auf. Sie machen sich schlicht zum Handlanger Ihrer Regierung. ({10}) Sie beklagen, daß das Ansehen der Abgeordneten draußen im Lande nicht besser wird. Wir hören hier schöne Sprüche über Parlamentsreform. Nichts davon ist ernst zu nehmen, wenn das Parlament sich mit solchen Anträgen der Mehrheit selbst seiner Rechte begibt und seine Verantwortung aufgibt. ({11}) Nichts rechtfertigt Hast in der Gesetzgebung, schon gar nicht bei einem solch grundlegenden Gesetz. Wir fordern Sie auf, mit uns den Antrag, der gestellt worden ist, abzulehnen, die heutige Beratung nicht vorzunehmen, sondern dem Parlament und den einzelnen Mitgliedern des Deutschen Bundestages Gelegenheit zu geben, in Ruhe und Verantwortung zu prüfen, welche Entscheidungen ihnen eigentlich abverlangt werden. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß sich Herr Kollege Jahn bei der Begründung der Ablehnung der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes in das große politisch Allgemeine hat flüchten müssen, zeigt, daß der SPD die Argumente in der Sache ausgegangen sind. ({0}) Im übrigen muß ich natürlich sagen: Es hat mich sehr gewundert, gerade aus dem Mund eines Parlamentariers ein so gouvernementales Politikverständnis, wie es vorgetragen wurde, zu erleben. Tatsache ist nämlich, daß der Deutsche Bundestag im Jahre 1984 eine Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" eingesetzt hat. Wir haben über zwei Jahre in einem intensiven, das Parlament und den externen Sachverstand einbeziehenden Diskussionsprozeß alle Argumente, alle Sachverhalte eingehend geprüft ({1}) und haben diesen Bericht im Jahre 1987 der Öffentlichkeit übergeben. Wir sind von der internationalen parlamentarischen Öffentlichkeit belobigt worden, (Jahn [Marburg] [SPD]: Sie Gesetzgebungsamateur? weil wir hier eine hervorragende Arbeit geleistet haben. Das, was die Bundesregierung im Jahre 1989 als Gesetzentwurf zur Regelung eines Teilbereiches der Gentechnologie vorgelegt hat, ist der Ausfluß dieser parlamentarischen Vorarbeit. Ich vermag überhaupt nicht einzusehen, wie man vor diesem Hintergrund ernsthaft und seriös das Argument vortragen kann, der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit hätten keine Gelegenheit gehabt, sich intensiv an der Beratung dieses Gesetzgebungsvorhabens zu beteiligen. Ich weise dieses zurück. ({2}) Im übrigen, Herr Kollege Jahn, werden Sie, wenn Sie die 254 Änderungsanträge, die Sie mit Bezugnahme auf den Bundesrat erneut in die Diskussion gebracht haben, bitte einmal genau ansehen, feststellen, daß es sich hierbei um einander widersprechende Gesetzesvorschläge und Absichten handelt. Der harte Kern, den der Bundesrat uns, dem Parlament und der Regierung, mit auf den Weg gegeben hat, verdichtet sich exakt in sieben Punkten. ({3}) Diese sieben Punkte haben wir in die ganz konkrete Textvorlage aufgenommen, so daß auch von dieser Seite her einer Verabschiedung des Gesetzes am heutigen Tage nichts mehr im Wege steht. ({4}) Zum Schluß muß ich noch folgendes sagen. Wenn Sie, Herr Kollege Jahn, vorgetragen haben, der federführende Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit habe das alles gleichsam in zwei Stunden durchgepeitscht, dann muß ich Sie daran erinnern, daß es Ihre Fraktion gewesen ist, die gefordert hat, daß ein Unterausschuß „Gentechnikgesetz" eingerichtet wird. ({5}) Wir haben diesem Petitum Rechnung getragen, damit dort die inhaltliche Arbeit durch die Kollegen stattfinden konnte, die diese Thematik für ihre Fraktionen seit vielen Jahren behandelt haben. ({6}) Daß der federführende Ausschuß dem Votum dieses Unterausschusses zugestimmt hat, zeigt nur, wie gut die Arbeit im Unterausschuß gewesen ist. ({7}) Im übrigen muß ich Ihnen sagen: Daß die GRÜNEN nichts anderes im Sinn haben, als durch Filibustern eine Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern und durch ihren Vorschlag eines fünfjährigen Moratoriums für die gesamte Gentechnologie diese wichtige Schlüsseltechnologie für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland im Grunde zu zerschlagen, kann ich vor deren Hintergrund noch nachvollziehen. Daß aber die SPD-Bundestagsfraktion in genau das gleiche Horn stößt, ist ein Trauerspiel sozialdemokratischer Forschungs- und Wirtschaftspolitik. Die Bundestagsfraktion der FDP wird der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes am heutigen Tage mit großer Entschiedenheit und aus Überzeugung zustimmen. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun wäre ich dem Hause sehr dankbar, wenn es in Ruhe die Ausführungen des Abgeordneten Hüser entgegennehmen würde.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dem kann ich nur zustimmen, Herr Präsident. Meine Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, Sie wollen heute nachmittag - damit gehe ich auf die letzten Sätze des Kollegen von der FDP ein - einen Gesetzentwurf verabschieden, ({0}) der die Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft in einer noch nicht dagewesenen Art und Weise beeinflussen kann, die wir grundsätzlich für unverantwortbar halten. Dieser Gesetzentwurf, der diese grundlegenden Einschnitte in unser Leben bewirken kann, ist in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestags in noch nicht einmal drei Monaten beraten worden. Gerade wenn Sie darauf hinweisen, daß die Enquete-Kommission so lange getagt hat, dann muß hinzugefügt werden, daß es doch eine Pflicht ist, die Ergebnisse der Enquete-Kommission in ausreichendem Umfang zu beraten. ({1}) Das ist bei einer Beratung von drei Monaten, so wie es geschehen ist, mit Sicherheit nicht der Fall. Der Bundesrat hat den Entwurf abgelehnt. Wir haben vom Kollegen Jahn gehört, wie viele Änderungsanträge gestellt worden sind. In dem federführenden Ausschuß, im Unterausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen hat es vielfältige Kritik gegeben, auch von beteiligten Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen außerhalb dieses Parlaments. Trotzdem ist eine erneute Anhörung einer quasi neuen Gesetzesvorlage, die sich bei den Beratungen ergeben hat, vom federführenden Ausschuß verweigert worden. Dies zeigt auch deutlich, daß Sie an einer ausführlichen Beratung nicht interessiert sind, sondern wahrscheinlich nur den Landtagswahltermin in Niedersachsen im Auge haben, damit Ihnen dieser Gesetzentwurf nicht noch gekippt werden kann. ({2}) Alle mitberatenden Ausschüsse und der federführende Ausschuß wurden in unzumutbarer Weise mit zahlreichen Sondersitzungen belastet, die auch während der Plenarsitzungen stattgefunden haben. Wir wehren uns nicht gegen neue Sitzungen des Ausschusses, wir wehren uns nur gegen die zeitliche Hektik, in der die Beratungen stattfinden sollen. Wir sind schon für neue Beratungen; allerdings sollte man sich hierfür Zeit nehmen. Das Protokoll der Anhörung, das über 600 Seiten Umfang hatte, ist den mitberatenden Ausschüssen zwar formal rechtzeitig zugegangen. Aber wer kann schon glauben, daß irgendein Mensch 600 Seiten Ausschußprotokoll an einem Tag liest, dies ordentlich auswertet und diese Auswertung dann auch noch verantwortungsvoll in die Beratung einbezogen werden kann? Dies ist purer Unsinn. ({3}) Die Bundesregierung hat auch zu keinem Zeitpunkt irgendeine Bereitschaft gezeigt, von dem vorgesehenen Zeitplan abzuweichen. Dies belegt unserer Meinung nach sehr deutlich, daß es Ihrerseits nur formal um eine ordentliche Beratung ging. Von einer Beteiligung der Legislative in ausreichendem Maße, so wie wir uns das vorstellen, kann wirklich keine Rede sein. Herr Bohl, wenn Sie sagen, eine ausführliche Beratung habe stattgefunden, dann können wir dem nur entgegnen: Ihrerseits soll ein Gesetz durchgepeitscht werden. Dem können wir nicht zustimmen. Da wir allerdings annehmen, daß Sie diesen Geschäftsordnungsantrag mit Ihrer Mehrheit annehmen werden, werden wir heute nachmittag eine namentliche Abstimmung dazu beantragen. Ich bin sicher, die Mehrheit von Ihnen hat den Gesetzentwurf und den Ausschußbericht nicht gelesen und weiß wahrscheinlich überhaupt nicht, über was im einzelnen abgestimmt werden soll. ({4}) Wir werden beantragen, daß Sie alle mit Ihrem Namen dafür geradestehen müssen, wenn Sie diesem Gesetz zustimmen werden. ({5}) Dies ist kein Einzelfall. Herr Kollege Jahn hat noch einmal einige Punkte dargelegt, wo dies auch schon der Fall war. Wir haben diese Beratungspraxis in der letzten Woche bei der Debatte über das Bundes-Immissionsschutzgesetz erlebt. Auch hier wurden in letzter Sekunde in der Ausschußsitzung vor der zweiten und dritten Lesung wichtige Änderungen in den Entwurf eingearbeitet, die in diesem konkreten Fall das Abfallgesetz betreffen. Dort war eine ordentliche Beratung ebenfalls nicht möglich. Uns steht die Art der Gesetzesberatung, so wie Sie sie praktizieren, wahrscheinlich auch in der nächsten Sitzungswoche bevor, wenn es um das Ausländerrecht geht. Auch hier ist, da die Beratungen in den Ausschüssen nicht oder nur sehr kurzzeitig abgeschlossen werden, eine GO-Debatte angekündigt worden, damit auch dieses Gesetz auf die Tagesordnung gepusht wird. Dem können wir nicht zustimmen. Wir werden Ihren Geschäftsordnungsantrag selbstverständlich ablehnen. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer stimmt dem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung angenommen worden. Die Vorlage wird nach der Fragestunde - das wird gegen 15.00 Uhr sein - mit einer Debattenzeit von 4 Stunden zur Beratung aufgerufen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstraßen mit schweren Lastfahrzeugen - Drucksache 11/6336 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({0}) - Drucksache 11/6720 Berichterstatter: Abgeordneter Fischer ({1}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/6768 Berichterstatter: Abgeordnete Purps Windelen Zywietz ({3}) Hierzu liegen der Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN sowie ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf den Drucksachen 11/6831 und 11/6834 vor. Als erster Redner wird der Abgeordnete Fischer ({4}) sprechen.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstraßen mit schweren Lastfahrzeugen ist nach unserer Überzeugung ein wesentlicher Beitrag zur Harmonisierung der fiskalischen Belastungen mit Steuern und Abgaben des Güterkraftverkehrsgewerbes auf EG-Ebene. Die Errichtung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes erfordert die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen dem deutschen und dem ausländischen Verkehrsgewerbe. Bisher ist unser nationales Gewerbe im internationalen Wettbewerb insbesondere durch hohe Kfz- und Mineralölsteuern erheblich benachteiligt. Wir wollen mit dem Gesetz durch eine Senkung unserer Kfz-Steuer auf ein mittleres europäisches Niveau und gleichzeitig durch die angemessene Belastung des Straßengüterverkehrs mit Wegekosten durch die Einführung einer für In- und Ausländer gleichen Straßenbenutzungsgebühr die Angleichung erreichen. Wir erhalten also, wenn dieses Gesetz zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft getreten sein wird, endlich einen angemessenen Deckungsbeitrag für unsere Straßenkosten auch von ausländischen Lkw, die insbesondere im Transitverkehr bisher lediglich mit etwa 6 % dazu beigetragen haben. Zu diesem Schritt sind wir auch und gerade deshalb gezwungen, weil es nicht länger hingenommen werden kann, daß ausländische Schwerlastfahrzeuge erhebliche Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen für unsere Straßen verursachen und natürlich auch ganz erheblich zu der hohen Verkehrsdichte auf unseren Fernstraßen beitragen, ohne irgendeine Gegenleistung zu erbringen, in Wahrheit also von unseren Steuerzahlern hoch subventioniert werden. Das Gesetz ist so angelegt, daß - wie auch bei der Kfz-Steuer - das Straßennetz durch eine besondere Förderung des kombinierten Ladungsverkehrs - Schiene/Straße, Binnenschiff/Straße - in Form einer gleitenden Gebührenerstattungsregelung entlastet wird. Dies ist auch ein aktiver Beitrag zum Umweltschutz. Mit dem Gesetz erhält die Deutsche Bundesbahn ordnungspolitischen Flankenschutz. Der ausländische Wettbewerber kann also nicht mehr kostenlos die Infrastruktur unseres Landes benutzen, während der Wettbewerber auf der Schiene die Kosten seines Fahrweges selbst tragen muß. Die Koalitionsfraktionen waren erfolgreich bemüht, Anliegen des Gewerbes bezüglich einer verbesserten und gerechteren Lösung umzusetzen. Wir haben folgende Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf beschlossen: einmal die Absenkung des KfzSteuer-Maximalsatzes von 3 700 DM auf 3 500 DM. Die Folge ist eine Entlastung des Gewerbes in unserem Lande um etwa 40 Millionen DM. Wir haben ferner die Wiederherstellung der bisherigen Regelung der Anhängerbesteuerung, wonach Steuern nur für jene Anhänger zu entrichten sind, die tatsächlich in den Verkehr gebracht werden, beschlossen. Die Steuerpolitik gilt also nicht für jene Anhänger, die irgendwo auf dem Hof stehen. Durch diese Wiedereinführung wird das Gewerbe zusätzlich um etwa 13 Millionen DM entlastet. Wir haben auch die Entscheidungsmöglichkeit des Gewerbes während des laufenden Gebührenzeitraumes durch die Entrichtung einer Zusatzgebühr verbessert, wenn im laufenden Gebührenzeitraum eine andere Fahrzeugkombination gewählt werden soll. Das Gewerbe wird diese zusätzliche Flexibilität zu schätzen wissen. Das Schaustellergewerbe, das bisher schon weitgehend von der Kfz-Steuer befreit gewesen ist, wird auch der neuen Gebührenpflicht praktisch nicht unterworfen sein. Damit tragen wir dem Umstand Rechnung, daß es sich hier nicht um gewerblichen Güterverkehr handelt, sondern daß dieses Gewerbe gezwungen ist, mobile Betriebsstätten zu unterhalten. Ferner haben wir beschlossen, daß das gesamte Gebührenaufkommen zweckgebunden verwandt werden muß, was, wie ich glaube, auch dem Gebührenelement angemessen ist. Es wird aufwandsbezogen eingesetzt. Einerseits erhalten die Länder, spitz abgerechnet, vollen Ausgleich ihrer Kfz-Steuerausfälle, die durch die gleichzeitige Absenkung der Kfz-Steuer auf ein mittleres europäisches Niveau bedingt sind. Andererseits muß das restliche Gebührenaufkommen, vor allem jenes, das die Ausländer erbringen, für Straßenunterhalt und Straßenerneuerung eingesetzt werden. Sollte die Anwendung des Gesetzes ergeben, daß das Gebührenaufkommen von inländischen Lkw größer ist als der Betrag, der den Ländern auszugleichen ist, so muß der Gesetzgeber nach der dem Bundestag gleichzeitig zur Entscheidung vorgelegten Resolution seine Gebühren bzw. Steuersätze so anpassen, daß keine gravierende Mehrbelastung des inländischen Güterkraftverkehrsgewerbes entsteht. Damit wird eine Zusage erfüllt, die wir dem Gewerbe von Anfang an gemacht haben: daß sie keine Mehrbelastungen haben sollen, daß vielmehr eine Umschichtung stattfindet und daß wir von jenen mehr Geld haben wollen, die bisher unsere Infrastruktur zum Nulltarif benutzt haben, d. h. von den Ausländern. Die von den schweizer Lkw seit Einführung einer Vignette in der Schweiz bei uns erhobene Teil-KfzSteuer soll aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung mit Einführung der Straßenbenutzungsgebühr wieder auslaufen. Das ist aber nur möglich, wenn die Schweiz auf zusätzliche Retorsionsmaßnahmen gegenüber unserem Gewerbe in Zukunft verzichtet. Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, die Einführung der Straßenbenutzungsgebühr ist erforderlich, damit wir auf der EG-Ebene endlich Fortschritte bei der Harmonisierung der fiskalischen Belastungen des Verkehrsgewerbes erzielen, die bisher entgegen langjähriger und vielfältiger Absichtserklärungen leider an der beharrlichen Weigerung anderer europäischer Staaten, insbesondere Hollands, gescheitert sind, die jahrzehntelang immer wieder das allgemeine Postulat der Angleichung der Wettbewerbsbedingung als Voraussetzung für einen Binnenmarkt vorgetragen haben. Als es zum Schwur kam, haben sie allerdings dazu beigetragen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in einer 11 : 1-Position, als alleiniger Staat, der das dann auch umsetzen wollte, befunden hat. Fischer ({0}) Unsere europäischen Nachbarn dürfen davon ausgehen, daß nur echte Harmonisierungsfortschritte bei den fiskalischen Belastungen uns in Bonn davon abhalten werden, das Gesetz über den 31. Dezember 1993 hinaus, dem Zeitpunkt des im Gesetz angelegten automatischen Außerkrafttretens, zu verlängern. Das heißt also, wir müssen konsequent sein. Die ganze Operation ist nur sinnvoll, wenn entweder die Harmonisierungsfortschritte erzielt werden oder wenn verlängert wird. Ansonsten hätte man von vornherein auf ein solches Instrument verzichten können. Wir hoffen aber - ich glaube, dieses ehrlichen Herzens - , daß sich das Gesetz bis dahin im guten Sinne als ein Harmonisierungsbeschleuniger eines liberalen EG-Verkehrsmarktes erweist, in dem alle Wettbewerber aus allen Mitgliedstaaten zu möglichst gleichen Bedingungen und nur dadurch auch mit gleichen Chancen in der Zukunft miteinander wetteifern können. Dies ist unser Verständnis von einem gerechten EG-Binnenmarkt. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Gries.

Ekkehard Gries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000726, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in der EG - darüber hat Herr Fischer gesprochen - steckt zu unserem großen Bedauern noch in den Kinderschuhen. Nur so ist es zu erklären, daß diese pubertären Schwierigkeiten jetzt durch die Straßenbenutzungsgebühr für schwere Lkw ausgeglichen oder teilweise behoben werden sollen. Sie wissen - ich sage das hier ganz offen; wir sind ja auch fast noch unter -, daß die FDP diese Gebühr nicht erfunden hat. ({0}) Die Kollegen von der SPD haben, Herr Daubertshäuser, wiederholt darauf hingewiesen, daß hier nichts anderes geschieht, als daß ein alter SPD-Vorschlag von vor 15 Jahren nun endlich regierungsamtlich übernommen wird. Ich will das nicht bestreiten, meine Damen und Herren. Ich kämpfe auch nicht um das Erstgeburtsrecht. Es macht dann nämlich deutlicher, warum die Liberalen so viele Schwierigkeiten mit diesem Gesetz, mit dieser Gebühr zum Nachteil Europas, hatten. Aber wir sind uns darin einig, daß wir in der Vorbereitung des Binnenmarktes für Europa verstärkt Harmonisierungsbemühungen unternehmen müssen. Wir haben uns bisher davon leiten lassen, daß dazu eben nicht die Verteuerung, sondern die Verbesserung von Transportleistungen gehört. Wir wollten auf einem mittleren steuerlichen Niveau in Europa harmonisieren. Das wäre sicher vernünftig gewesen. Ich sage hier genauso offen, daß wir uns mit dem Vorschlag einer radikalen Senkung bis hin zur Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer in der Koalition nicht haben durchsetzen können. Es hat keinen Zweck, da um den Brei herum zu reden. Das zu verabschiedende Gesetz, meine Damen und Herren, schafft natürlich einen nicht unbeträchtlichen bürokratischen Aufwand; es führt auch zu nicht unerheblichen Kosten. Die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr kann darin eine gewisse Beschäftigungsgarantie zumindest für die Dauer dieses Gesetzes sehen. Es werden zusätzliche Personalkräfte eingestellt werden müssen, etwa 40 bis 45 allein für die zusätzlichen Kontrollen, die das Gesetz hervorruft, und noch einmal etwa 20 Kräfte für das Eintreiben von Bußgeldern, weil sich das an sich von uns allen gewünschte vereinfachte Verfahren, etwa durch Automaten an den Grenzen, als nicht realisierbar herausgestellt hat. So müssen jetzt die Zollgrenzstellen, die Speditionen und die Straßenverkehrsgenossenschaften ihrerseits tätig werden. Aber ich denke, daß jetzt endlich auch der Zeitpunkt gekommen ist, diese Diskussion durch Handeln abzuschließen. Das Gesetz kann jetzt in Kraft treten. Es war ja schon ein bißchen betrüblich, wie das lief. Das Gesetz wurde nicht am 1. Januar dieses Jahres - ich habe das damals immer gesagt - und auch nicht am 1. April dieses Jahres in Kraft gesetzt, sondern es soll nach dem Antrag der Koalitionsfraktionen, so der Bundestag will und nicht noch einmal etwas passiert, heute verabschiedet werden und dann am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Ich denke, daß dann aber auch unbürokratisch gehandelt werden muß und daß das Gesetz schnell umgesetzt werden muß. Es klang jetzt alles, was ich gesagt habe, sehr kritisch. Aber das Gesetz ist im Zuge der Beratungen nicht unerheblich verbessert worden. Ich will hier, so wie auch Herr Fischer, z. B. die Zweckbindung erwähnen. Ich weiß, daß das umstritten ist, auch zwischen den Finanz- und Verkehrspolitikern. Aber ich glaube, dieses Gesetz macht ja am Ende nur dann einen Sinn, wenn die Überschüsse aus dieser Gebühr dann tatsächlich für den Zweck, der Anlaß für dieses Gesetz ist, ausgegeben werden können. Es ist viel weniger, als normal wäre, weil der Löwenanteil an die Länder zurückfließt. Aber ich finde, das, was überschüssig ist, darf nicht in der Kasse des Finanzministers versickern, sondern es muß für die Unterhaltung und Sanierung von Bundesfernstraßen ausgegeben werden können. Das Gesetz wird nicht ganz aufkommens- und belastungsneutral für das Gewerbe sein, auch nicht sein können. Wir haben immer darauf hingewiesen. Aber es ist durch die Absenkung des Höchstbetrags auf 3 500 DM pro Einheit auf jeden Fall erträglicher geworden. Wir müssen um Verständnis bitten - jedenfalls die glühenden Befürworter dieses Gesetzes -, daß die Wünsche des Gewerbes in diesem Punkt nicht alle in Erfüllung gegangen sind. Es gibt Sprünge in der Belastung, die nicht vermeidbar sind, auch unter europäischen Rechtsgesichtspunkten. Denn das Gesetz wird nicht ohne Zweifel aus der EG-Kommission gesehen. Ich selber habe diese Zweifel auch. Das war mit ein Grund, weshalb ich nicht zu den glühenden Befürwortern dieses Gesetzes gehöre. Es ist zu fragen, ob es mit Art. 76 des EWG-Vertrages vereinbar ist, ob hier nicht doch die Spur einer Diskriminierung drinsteckt, indem man zwar eine Straßenbenutzungsgebühr für alle in- und ausländischen Kraftfahrzeugunternehmen festlegt, ({1}) aber dann de facto die Belastung für das inländische Gewerbe durch Absenkung der Steuersätze ausgleicht. Ich kann im Interesse der Bundesrepublik nur hoffen, daß eine - mögliche - Klage beim Europäischen Gerichtshof erfolglos sein wird. Ganz sicher bin ich mir da nicht. Denn es gibt in anderen Ländern Kraftfahrzeugsteuern, z. B. in Großbritannien, die höher sind als bei uns. Nur muß ich hier noch sagen: Die EG ist kein sehr überzeugender potentieller Kläger. Denn die EG hat bisher ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sie hat immer wieder Vorschläge gemacht, die erkennbar nicht realisierbar sind. Als die Arbeitsgruppe Verkehr der Koalitionsfraktionen in Brüssel war, haben wir mit dem Kommissar Herr van Miert gesprochen. Er hat uns sagen müssen: Ich suche, ich prüfe, ich habe noch nichts gefunden; ich sehe auch keinen mittleren Horizont. Das heißt, hier muß noch viel getan werden. Ich denke, daß es der einzige Weg ist, um aus dem Dilemma herauszukommen, daß wir eine europaweite Regelung finden, die alle Länder in Europa gleich und gerecht auf einem niedrigeren Kostenniveau, nicht auf einem höheren, berücksichtigen kann. Es gibt ein Bedenken innerhalb des Gesetzes. Dazu wird sich mein Kollege Gattermann noch äußern. Wir haben eine Ermächtigung drin, die ein bißchen Ausdruck des schlechten Gewissens ist. Er wird das im einzelnen ausführen. Es ist die Ermächtigung, Steuersätze durch den Verordnungsgeber anzupassen. Dahinter steckt die Befürchtung, daß das erhoffte und erwünschte Aufkommen aus diesem Gesetz nicht so hoch ist wie das, was man an die Länder erstatten muß. Das ist ein bißchen seltsam, auch die Erklärung, die der Finanzminister dazu abgegeben hat. Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion trägt das Gesetz trotz der von mir vorgetragenen Bedenken und leichten Zweifel mit. Es macht die Zustimmung ein wenig leichter, daß das Gesetz zeitlich befristet ist, um deutlich zu machen: Es ist fast ein letzter Aufschrei und ein sehr deutliches Signal in Richtung Brüssel, in Richtung Kommission, nun endlich ein einheitliches Konzept vorzulegen, ein Konzept zur Harmonisierung der Steuern und Abgaben insgesamt auf den Tisch zu legen. Es ist aus meiner Sicht schon so etwas wie ein Sündenfall. Aber ich sehe zum jetzigen Zeitpunkt auch keinen Ausweg außer einer nationalen Lösung. Es soll jedoch die Aufforderung sein, vor Ablauf dieses Gesetzes am 31. Dezember 1993 zu einer europäischen Lösung zu kommen. Vielen Dank. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Abgeordneten Kretkowski das Wort. - Herr Abgeordneter, es war einfach ein Versehen von mir, daß ich die traditionelle Reihenfolge nicht eingehalten habe. Ich bitte, mir das nachzusehen.

Volkmar Kretkowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kein Problem, Herr Präsident. Damit sind die besonderen Probleme in der Koalition auch noch deutlicher geworden, als wenn Herr Kollege Gries im größeren Abstand zu mir gesprochen hätte. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits vor mehr als 20 Jahren hat die EG-Kommission vorgeschlagen, die Kfz-Steuer, die Mineralölsteuer und, soweit vorhanden, auch die Straßenbenutzungsgebühren zur Anlastung der Wegekosten zu verwenden. Die Summe der Abgaben sollte dabei in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht niedriger, aber auch nicht höher als die von den Lkw verursachten Wegekosten sein. Die Kommission hat ihre Vorschläge 1987/88 bekräftigt und erneuert. Die Mineralölsteuer auf Dieselkraftstoff -so die EG - sollte bis 1993 auf einen EG-einheitlichen Satz gebracht werden. Die Kfz-Steuer und, soweit vorhanden, die Autobahngebühren sollten nach dem sogenannten Territorialitätsprinzip erhoben werden. Jeder zahlt im Prinzip seine Wegekosten also dort, wo er auch fährt. Heute ist eine Entscheidung der Mitgliedstaaten wegen der vermeintlich unterschiedlichen Interessenlagen wohl nicht zu erwarten. Die Harmonisierung der fiskalischen Belastungen ist somit nach wie vor nicht gelöst. Eine Lösung ist weiter denn je entfernt. Von den Versprechungen der Herren Dollinger, Warnke, Zimmermann bis hin zum Bundeskanzler ist nichts übriggeblieben, so daß sich das Gewerbe heute betrogen und verschaukelt fühlen muß. Ich erinnere an die Zusage des Bundeskanzlers vom 11. August 1986, also vor der Bundestagswahl im Jahre 1986. Damals sagte er: Zugleich möchte ich Ihnen erneut versichern, - so der Kanzler im Originalton daß für mich ein fester Zusammenhang zwischen der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen und der Schaffung eines europäischen Verkehrsmarktes besteht. Gemeinsam mit dem Bundesverkehrsminister gehe ich davon aus, daß nach den Beschlüssen des EG-Verkehrsministerrates vom 14. November 1985 und 30. Juni 1986 die Verwirklichung des gemeinsamen Verkehrsmarktes und der Abbau der Wettbewerbsverzerrung Hand in Hand gehen müssen. Der Übergang in einen europäischen Verkehrsmarkt ist von einer Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen abhängig. So der Kanzler vor der Bundestagswahl. ({0}) - Danach, Kollege Fischer, hat er sein Wort nicht gehalten. Die Regierung hat die Liberalisierung tatsächlich vorangetrieben, und zwar durch eine Aufstockung der Kontingente an Gemeinschaftsgenehmigungen mit Ratsbeschlüssen vom November 1985, 1986, 1987 und zuletzt vom Juni 1988 von 5 300 im Jahre 1985 auf immerhin 24 000, also mehr als das Vierfache. Ich nenne ferner den Wegfall der mengenmäßigen Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Güterverkehrs ab 1993 sowie die freie Preisbil15898 dung im grenzüberschreitenden Verkehr ab Januar 1990 und die Kabotage ab Juli 1990. Mit anderen Worten: Das Junktim zwischen der Harmonisierung und der Liberalisierung war eine Mogelpackung, von der heute nichts mehr übriggeblieben ist. ({1}) Die Folgen der dilettantischen Verhandlungsstrategie der Bundesregierung - Kollege Fischer, es liegt natürlich nicht nur an den Holländern, die ihre Interessen vertreten, sondern es liegt auch am Dilettantismus der Bundesregierung, daß hier nicht bessser verhandelt worden ist - sind entsprechend: noch mehr ausländische Lkw auf unseren Straßen; Staus und Staugefahren werden zunehmen; unsere Straßen werden weiter kaputtgefahren; Mehrbelastungen durch Lärm und Abgase; letztendlich zahlt der Steuerzahler die Zeche. Der Straßengüterverkehr trägt seine Wegekosten bisher nur zu rund 45 %. Dieser Wegekostendekkungsgrad wird im Zusammenhang mit der Deregulierung auf etwa 30 % sinken. Die fehlenden Beträge müssen aus Steuermitteln bereitgestellt werden. Nach Berechnungen der Bundesregierung subventioniert der Steuerzahler heute schon jede einzelne Fahrt eines ausländischen Lkw durch die Bundesrepublik mit 200 DM. Bei 50 Hin- und Rückfahrten - das ist die Untergrenze in der Praxis - addiert sich hieraus ein jährlicher Subventionsbetrag von rund 20 000 DM pro Lkw. Die Umwelt- und die Unfallkosten sind dabei nicht einmal eingerechnet. Der Verkehrszuwachs durch ausländische Nutzfahrzeuge auf unseren Straßen führt zu Transportverlusten bei der Bahn. Auch die sich hieraus ergebenden finanziellen Einbußen bleiben letztendlich beim Steuerzahler hängen. Diese Einnahmeneinbußen schätzt der Vorstand der Bahn auf 1,5 Milliarden DM pro Jahr. Das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe wird ebenfalls weitere Marktanteile verlieren. Die Marktverluste im grenzüberschreitenden Güterverkehr werden weiter steigen und beschleunigt auch den deutschen Binnenmarkt erfassen. Die jetzt eingeführte Kabotage wird in die gleiche Richtung wirken. Die Ausländer werden mit zum Teil technisch überalterten Fahrzeugen in lukrative deutsche Märkte einbrechen, und die Bundesregierung sieht zu. Was geschieht denn, um die Inlandsdiskriminierung zu verhindern? Wie wird sichergestellt, daß alle Fahrzeuge, in- und ausländische, im technischen und sozialen Bereich gleich streng kontrolliert werden? Stimmt es denn tatsächlich, wie die „DVZ" in der letzten Woche meldet, daß ausländische Gefahrgutfahrzeuge bei Kabotagefahrten nicht den strengen deutschen Sicherheitsvorschriften unterliegen sollen wie die deutscher Unternehmen? Will die Bundesregierung tatsächlich die Verkehrssicherheit aufs Spiel setzen, obwohl die Kabotage-Verordnung wie der EG-Vertrag hier die Anwendung des nationalen Rechts ausdrücklich zulassen? Meine Damen und Herren, die Lkw-Lawine, die jetzt in Brüssel losgetreten wird, schüttet die Kapazitäten unseres Fernstraßennetzes völlig zu. Fahr- und Transportleistungen werden immer länger und sind immer weniger kalkulierbar. Unsere Volkswirtschaft ist aber angewiesen auf leistungsfähige und verläßliche Verkehrssysteme. Mit anderen Worten: Sie opfern mit Ihrer Deregulierungspolitik nicht nur ein ganzes Gewerbe, sondern Sie gefährden auch den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Seit fünf Jahren, meine Damen und Herren, nicht seit 20 Jahren, fordern wir, die deutsche Kraftfahrzeugsteuer für Lkw auf ein europäisches Niveau zu senken und eine Schwerverkehrsgebühr für in- und ausländische Lkw für das deutsche Gewerbe aufkommens- und belastungsneutral einzuführen. ({3}) Gerade unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten hat sie eine positive Wirkung. Die Schwerverkehrsgebühr gestaltet den europäischen Wettbewerb fairer als bisher. Den Beitrag, den ausländische Nutzfahrzeuge zur Deckung ihrer Wegekosten in der Bundesrepublik leisten, wird verbessert. Schließlich wird der kombinierte Verkehr gestärkt. ({4}) Die Schwerverkehrsgebühr war und ist für uns nicht Ziel unserer Verkehrspolitik, sondern Instrument, Instrument, um mehr Gerechtigkeit in dem europäischen Verkehrsmarkt zu erreichen, Instrument aber auch, um andere Partner schneller zu einer europäischen Lösung zu drängen. Nationale Lösungen können immer nur Zwischenlösungen, d. h. auch nur die zweitbesten Lösungen sein. So gesehen haben Sie viel Zeit verloren. Erst haben Sie unseren Vorschlag als Teufelswerk gebrandmarkt, dann viel zu lange gezögert, sich von einer Ankündigung zur anderen gedrückt und sich nun in eine Situation gebracht, wo offenbar auch der 1. Mai nicht mehr gehalten werden kann.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie gewillt, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer zu gestatten?

Volkmar Kretkowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn das nicht zu Lasten meiner Zeit geht, ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich werde es nicht anrechnen.

Volkmar Kretkowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Herr Kollege Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, sollte ich Sie bei Ihren letzten Ausführungen ertappt haben, daß Ihnen der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 1. Februar 1968, Unterschrift „Dr. Barzel und Fraktion", mit der Überschrift „Entwurf eines Gesetzes über die Straßenbenutzungsgebühr für schwere Lastfahrzeuge", unbekannt ist? ({0})

Volkmar Kretkowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fischer, ich weiß nicht, welcher Beamte Ihnen diese Frage aufgeschrieKretkowski ben hat. Aber ich will sie Ihnen dennoch beantworten: Wir reden über die letzten fünf, sieben Jahre Ihrer Politik in dieser Ihrer Regierungsverantwortung. ({0}) Und da mußten wir Sie zu diesem Gesetzeswerk treiben. ({1}) Ohne unseren Druck wäre dieser Entwurf der Bundesregierung mit Ihrer Unterstützung hier heute nicht im Parlament. ({2}) Meine Damen und Herren, auch wenn wir dem Gesetz zustimmen, müssen wir Ihnen sagen: Die Straßenbenutzungsgebühr kommt spät, ja als Druckmittel gegenüber den übrigen Partnern zu spät; denn inzwischen sind alle Deregulierungsbeschlüsse gefaßt. Der Deregulierungszug fährt im Hochgeschwindigkeitsbereich, und die Einführung des Territorialprinzips befindet sich zur Zeit auf dem Abstellgleis. Auch hier gilt: Wer zu spät kommt, ist es selber schuld. Sie kommen nicht nur zu spät, Sie werden auch erneut wortbrüchig. Auch Sie haben - übrigens wie wir - von Anfang an zugesagt, dieses Instrument aufkommens- und für die deutschen Transportunternehmer belastungsneutral zu nutzen. Mit der Zeit wurden dann aber mit rabulistischer Tücke Wendemanöver gedreht, so daß zum Schluß eine 20prozentige Mehreinnahme herauskam. ({3}) Das zahlen nicht nur die Ausländer, sondern auch die deutschen Unternehmer, hier insbesondere der im internationalen Verkehr tätige gewerbliche Güterverkehr. Wir bedauern deshalb sehr, daß Sie unserem Vorschlag, die Obergrenze der Kfz-Steuer auf 3 300 DM festzulegen, nicht gefolgt sind. So kommen zu den alten Ungerechtigkeiten neue hinzu. Wenn es dem Kollegen Gries hier bei der Darstellung der FDP-Position nicht nur um verbales Eiern gegangen wäre, hätte die FDP, um ihrer Klientel gerecht zu werden, wenigstens in dieser Frage unseren Vorstellungen im Ausschuß und auch heute hier im Plenum folgen können. Wir erwarten von der Bundesregierung, meine Damen und Herren, daß bei der künftigen Gestaltung der Gebühr und der Kfz-Steuer diese Ungerechtigkeiten beseitigt werden. Wir erwarten auch, zumal der Termin des Inkrafttretens erneut verschoben wird und damit genügend Zeit ist, daß bei der Umsetzung keine neuen bürokratischen Belastungen für das Gewerbe entstehen. Wir erwarten auch präzise Rechenschaft über die Verwendung der Mehreinnahmen. Im übrigen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von der Koalition, fordern wir Sie auf: Nutzen Sie die letzte Chance in Brüssel, um endlich zu der immer wieder versprochenen Harmonisierung im fiskalischen Bereich und zu einer gerechten Anlastung der Wegekosten zu kommen! ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Rock.

Helga Brahmst-Rock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zur abschließenden Beratung anstehende Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstraßen mit schweren Lastfahrzeugen ist ein erster notwendiger und richtiger Schritt in Richtung Einführung des Verursacherprinzips zur Abgeltung der vom Straßengüterverkehr verursachten Kosten durch die Straßengüterverkehrsunternehmer. Doch - und hier setzt unsere Kritik an - es ist nur ein erster kleiner Schritt auf dem offenbar sehr langen Weg, die gesamtgesellschaftlichen Kosten des Lkw-Verkehrs zu beziffern und ihrem Gesamtumfang nach entsprechend dem Verursacherprinzip anzulasten. Dazu gehören neben den Wegekosten, die hier ja schon mehrfach angesprochen wurden und an denen Sie sich ausschließlich orientieren, selbstverständlich auch die Kosten durch Luftverschmutzung, durch Lärm, durch Unfälle und die Kosten der Gewässerverschmutzung durch Gefahrgutunfälle. Hier hat sich der Umfang des Transportvolumens entgegen allen Beteuerungen der Bundesregierung zur Verlagerung auf die Bahn in der Vergangenheit noch erhöht. Dazu gehören ebenso die Kosten der Gewässerverschmutzung durch Streusalzeinsatz und auch Kosten für berufsspezifische Krankheiten der Lkw-Fahrer. Damit habe ich nur die wesentlichsten Posten der notwendigen gesamtgesellschaftlichen Kosten benannt. In einer von den GRÜNEN im Bundestag in Auftrag gegebenen Studie des Umwelt- und Prognoseinstituts in Heidelberg ({0}) - Sie können gern eine andere Studie vorlegen, und wir können dann darüber diskutieren; aber diese Studie einfach zu verlachen, ist etwas zu billig ({1}) wurde berechnet, daß die staatlichen Einnahmen durch den Lkw-Verkehr, bestehend auf Mineralölsteuer und Kraftfahrzeugsteuer, 7,4 Milliarden DM jährlich betragen. Dagegen sind die quantifizierbaren Kosten aus dem Lkw-Verkehr in Höhe von 46 Milliarden DM gegenzurechnen. Das ergibt ein volkswirtschaftliches Defizit von 38,6 Milliarden DM. Umgerechnet auf die Bevölkerung bedeutet das, daß jeder Bundesbürger und jede Bundesbürgerin, vom Säugling bis zum Rentner, den Straßengüterverkehr mit jährlich 600 DM bezuschußt. Nach dieser Rechnung trägt der Straßengüterverkehr in der Bundesrepublik nur 16 % der gesamten volkswirschaftlich und gesellschaftlich entstehenden Kosten. Der sicherlich gravierendste Mangel des Entwurfs ist jedoch, daß diese gesamtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Kosten nicht als Berechnungsgrundlage genommen werden, sondern daß der Gesetzentwurf ganz einfach darauf abzielt, ausländische Lkw zu einem Wegedeckungsbeitrag heranzuziehen. Für die bundesdeutschen Lkw-Unternehmer ist dieses Gesetz annähernd kostenneutral, da die zukünftige Gebühr mit der Kfz-Steuer verrechnet wird. Damit wird jedoch noch nicht einmal eine volle Wegekostendeckung erreicht; lediglich der Deckungsgrad wird etwas verbessert. Solange jedoch noch nicht einmal ein hundertprozentiger Wegekostendeckungsbeitrag erreicht ist, ist eine Senkung der Kraftfahrzeugsteuer für bundesdeutsche Lkw nicht gerechtfertigt. Damit würde auch die Durchsetzung der Straßenbenutzungsgebühr gegenüber der EG erschwert. Die EG sieht hierin die Schaffung eines Diskriminierungstatbestandes, da zusätzliche Belastungen für bundesdeutsche Lkw-Unternehmen durch die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer ausgeglichen werden und ausschließlich ausländische Lkw mit Mehrbelastung zu rechnen haben. Sie alle wissen doch sicherlich, daß die Straßenbenutzung und der Straßenunterhalt von der Achslast abhängig sind, aber gerade bei Fragen von Achslasterhöhung und Veränderung von Maßen und Gewichten haben Sie in diesem Hause noch nicht einmal Debattenbedarf. Ich denke, es ist Ihnen bekannt, daß eine Verdopplung der Achslast eine 32fache Erhöhung der Wegekosten bedeutet. Diesem Gesichtspunkt müßte durch eine Staffelung der Gebührensätze in diesem Gesetzentwurf Rechnung getragen werden. Wir wenden uns aber auch gegen Bestrebungen der Koalitionsfraktionen, die zusätzlichen Einnahmen, die aus der Erhebung der Straßenbenutzungsgebühr durch ausländische Lkw stammen, zweckgebunden für den Straßenbau bzw. für den Straßenunterhalt zu verwenden. Damit werden die Aussagen der Bundesregierung, den Güterverkehr verstärkt über die Schiene abwickeln zu wollen, konterkariert. Durch weitere Straßenbau- und Ausbaumaßnahmen erleidet die Bundesbahn weitere Wettbewerbsnachteile, die sie aus eigener Kraft nicht ausgleichen kann. Die Straßenbenutzungsgebühr sollte jedoch als Mittel verstanden werden, die Subvention des Straßengüterverkehrs durch den Bund zu beseitigen oder zumindest zu verringern. Dies ist aber nur zu erreichen, wenn die Subventionen nicht im gleichen Maße erhöht werden wie die Einnahmen. Wenn mit diesem Gesetzentwurf erste Ansätze zur Anwendung des Verursacherprinzips gemacht werden, so dürfen die Fahrzeuge des Bundesgrenzschutzes, der Bundeswehr und der NATO-Streitkräfte von dieser Regelung nicht ausgenommen werden; denn sie tragen in ganz erheblichem Maße zu Straßenschäden und Umweltzerstörung bei und müssen diese zumindest im Ansatz durch eine Straßenbenutzungsgebühr auch abgelten. ({2}) Trotz der eben angeführten Kritikpunkte werden wir dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen, insbesondere auch deshalb, um damit die Position der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Gemeinschaft zu stützen. Das ist notwendig, weil die EG-Kommission der Bundesrepublik grundsätzlich das Recht bestreitet, eine Straßenbenutzungsgebühr für schwere Lkw auf bundesdeutschen Straßen einzuführen. Der EG-Verkehrskommissar hat sogar angekündigt, wegen des geplanten Gesetzentwurfs vor den Europäischen Gerichtshof zu gehen. Ich würde mir an dieser Stelle wünschen, daß der Bundestag und die Bundesregierung sehr viel öfter ein Klageverfahren vor dem EG-Gerichtshof riskierten, um eine tatsächliche Vorreiterrolle in der europäischen Verkehrspolitik zu markieren. Deshalb halten wir es für erforderlich, daß die grundsätzliche Entscheidung zur Einführung einer Gebühr für die Benutzung von Fernstraßen mit schweren Lkw von einer breiten Mehrheit bzw. einstimmig im Bundestag getragen wird. Wir sehen in diesem Gesetzentwurf - wie bereits zu Anfang dargestellt - lediglich einen ersten Schritt zur Abgeltung aller von Lkw verursachten gesamtgesellschaftlichen Kosten. Wir fordern die Bundesregierung auf, dies weiterzuentwickeln hin zu einer fahrleistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe und sich innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für eine Harmonisierung der Belastungen des Lkw-Verkehrs nach dem Territorialitätsprinzip einzusetzen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Dr. Zimmermann.

Dr. Friedrich Zimmermann (Minister:in)

Politiker ID: 11002597

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank für die beachtlichen Redebeiträge, die zu diesem wichtigen Gesetzentwurf abgegeben worden sind. Es gehört mit zu den Paradoxien in der Politik, daß ich von hier nach Brüssel gehe, um dort im Verkehrsministerrat eine riesige Tagesordnung abzuwickeln. ({0}) Ja, mit der Liberalisierung geht es vorwärts in Europa - das ist schon wichtig - , aber mit der Harmonisierung der verkehrsspezifischen Steuern leider nicht. Wir haben lange genug zugesehen - der erste Gesetzentwurf ist 22 Jahre alt - , bis wir jetzt - dafür bin ich sehr dankbar - mit einer offenbar doch sehr breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag der EG ein Zeichen geben, daß jetzt Schluß sein muß, daß wir die höchste Belastung, die höchsten Kraftfahrzeugsteuern haben - die ausländischen Unternehmen zahlen bei uns nichts - , daß wir alles auf unserem Buckel austragen und jede Bemühung zur Harmonisierung einfach im Sande verläuft. 65 % des grenzüberschreitenden Straßengüterverkehrs auf deutschem Boden werden mit ausländischen Lkw abgewickelt. Jährliche Erhöhungen des Gemeinschaftskontingents sind auf dem Weg zum Binnenmarkt erforderlich - es ist ja nicht mehr lange hin - , und die Kabotage kommt am 1. Juli 1990. Was die einfache Formel - wie sie von der SPD verwendet worden ist - vom „besseren oder schlechteren Verhandeln" angeht: Also, das kann eigentlich nur jemand sagen, der beim Verhandeln in Brüssel noch nicht dabei war. Es sind ja nicht bloß die Holländer und nicht nur d i e Franzosen, sondern gerade auf diesem Sektor gibt es eine solche Fülle von nationalen Egoismen, Verschiedenheiten und eingewurzelten, tradierten Verhaltensweisen auch des jeweiligen Gewerbes, daß es wahnsinnig schwierig ist, GeBundesminister Dr. Zimmermann meinsamkeiten auf einem bestimmten Niveau zu erreichen. Das geht halt nicht nach dem Motto: Ja, wie hätten Sie's denn gern? Es geht auch nicht nach dem Motto: Jetzt zeigen wir ihnen einmal die Zähne oder nehmen das Messer in die Hand. Vielmehr erfordert das leider das jahrelange Bohren dicker Bretter, immer wieder. Das Zeichen, das wir heute geben, ist für mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, von einer gar nicht abzusehenden Bedeutung. Ein so bedeutendes Land innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, wie wir es nun einfach sind, muß klarmachen: Unsere Geduld ist jetzt am Ende; wir geben euch ein letztes Zeichen. Wir haben auch keine Angst vor dem Risiko einer Klage; wir haben uns sorgfältig vorbereitet. Ich glaube, daß das Gesetz eine gute Sache ist. Ich bedaure, daß der Einführungszeitpunkt nun auf Wunsch der Länder aus technischen Gründen vom 1. Mai auf den 1. Juli verschoben werden mußte. Die technischen Umstellungen bei der Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer sind schneller nicht zu machen. Aber ich sage - das ist vielleicht das Wichtigste - : Wir haben die Hoffnung auf eine EG-einheitliche Lösung nicht aufgegeben. Wir befristen die Straßenbenutzungsgebühr deswegen bis 1993, um der Gemeinschaft ein Zeichen zu geben. Ich bedanke mich für die sachliche Debatte und besonders für die große Mehrheit, die im Deutschen Bundestag in dieser Frage offenbar vorhanden ist. Das wird in Brüssel Eindruck machen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Antretter.

Robert Antretter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000042, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Minister, ich habe nicht die Absicht, den sachlichen Teil der Debatte zu beenden. Aber was gesagt werden muß, muß man schon noch hinzufügen. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir stimmen Ihrem überfälligen Gesetzentwurf in der dritten Lesung zu. Ich habe aber eine Bitte an den Herrn Präsidenten: Ich beantrage namens der SPD-Fraktion, daß Sie über den Änderungsantrag der CDU/CSU ziffernweise abstimmen lassen. - Vielen Dank. ({0}) Was wir kritisieren, meine Damen und Herren, ist, daß dieser Gesetzentwurf zu spät kommt, daß er ebenso zu spät kommt wie seinerzeit das Bußgeld für das Nichtbenutzen des Sicherheitsgurts, das Sie lange Zeit als Verteufelung des Autos abgetan haben. Die freie Fahrt ausländischer Lkw zum Nulltarif durch die Bundesrepublik hätte schon längst beendet sein müssen: Lkw, die bei uns keine Steuern zahlen, die gleichzeitig außerhalb der deutschen Grenzen tanken, weil der Dieseltreibstoff dort billiger ist, und die sich an den durch die Straßenbenutzung entstehenden Ausgaben in der Bundesrepublik für Straßenbau und Straßenunterhaltung nicht einmal in Höhe von 10 % beteiligen - die Umwelt- und Unfallkosten noch gar nicht eingerechnet. Sozialdemokratische Position war stets, die massiven Wettbewerbsbeschränkungen und -verzerrungen im europäischen Straßengüterverkehr, die natürlich vor allem zu Lasten der deutschen Unternehmen gehen, zu beseitigen. Auch der Bundeskanzler hat doch in der Regierungserklärung am 18. März 1987 verkündet, der europäische Verkehrsmarkt müsse für deutsche Verkehrsträger faire Chancen bringen. Dazu - so sagte er wörtlich - muß mit der Liberalisierung des Binnenmarktes Zug um Zug die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen einhergehen. Mein Kollege Kretkowski hat doch recht: Das war die Ankündigung. Die Wirklichkeit sah natürlich anders aus; denn für den Verkehrsminister - es war nicht der jetzige, sondern sein Vorgänger - war das alles Makulatur, was der Kanzler gesagt hat. Die Wirklichkeit, die er in Brüssel herbeigeführt hat, ist die, daß sich die Zahl der ausländischen Nutzfahrzeuge aus EG-Ländern bei uns bis zum Jahre 1990 verdoppelt hat. Die Folgen für das deutsche Straßennetz sind katastrophal. Heute schon ist jeder Verkehrsknotenpunkt im deutschen Autobahnnetz mit 10 000 bis 15 000 Lkw und teilweise mit mehr als 100 000 Pkw pro Tag belastet. Leidtragende sind die Umwelt, die Verkehrssicherheit und unser deutsches Verkehrsgewerbe. Dabei haben die Verkehrsunternehmer ja nur den Fehler gemacht, der Bundesregierung immer wieder zu glauben, wenn diese versicherte, mit der Harmonisierung in Europa meine sie es ernst. Das Verkehrsgewerbe hätte die Regierung besser an ihren Taten messen sollen; dann wäre ihm klar geworden: Diese Regierung betreibt die ungebremste Deregulierung der Verkehrsmärkte. Sie nimmt in Kauf, daß damit mittelständische deutsche Transportunternehmen immer mehr aus dem Markt gedrängt werden, und sie weiß, daß sie damit die Eigentümer und die Arbeitnehmer um die Früchte ihrer Arbeit bringt. Nun endlich haben Sie also Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir erkennen das an. Mit dieser Schwerverkehrsgebühr wird der europäische Wettbewerb fairer als bisher sein. Glauben Sie aber bitte nicht, Sie hätten damit alle Ihre Hausaufgaben gemacht. Sie haben lediglich einen richtigen Schritt getan; ein Verkehrskonzept jedoch ist dieses noch nicht. Sie haben auch keines. Sie sind nicht einmal der Aufforderung des Parlaments vom 30. November nachgekommen, bis zum 15. März dieses Jahres dem Deutschen Bundestag ihr Gesamtverkehrskonzept für den europäischen Güterverkehr vorzulegen. ({1}) Alle Welt weiß, daß der Straßenverkehr seine Wachstumsgrenzen erreicht hat, daß wir überzeugende Lösungsansätze für die Probleme von heute und morgen brauchen, daß wir die Verkehrspolitik konzeptionell neu gestalten müssen, daß wir einen ganzheitlichen Ansatz brauchen, daß wir eine Verkehrspolitik brauchen, die die einzelnen Verkehrsträger übergreift und die orientiert ist an den Bedürfnissen der Bürger und der Wirtschaft, den Erfordernissen des Umweltschutzes und der Energieeinsparung, der Bedeutung einer verstärkten Verkehrssicherheit und der Notwendigkeit einer gestaltenden Raumordnungspolitik, mit einem Wort: daß eine Verkehrspolitik aus einem Guß nötig ist. Hier aber ist politische Führung mit einem sensiblen Blick für die Zukunftserfordernisse der Menschen gefordert. Dazu gehören eine Verkehrspolitik und ein Verkehrsminister, der weiß, daß das Gebot der Stunde „Intelligenz statt Beton" lautet. ({2}) Aber dies ist ja nicht Ihre Maxime; sonst würden Sie beim ÖPNV und beim Individualverkehr nicht nach wie vor mit zweierlei Maß messen, indem Sie Investitionen für den öffentlichen Verkehr von deren betriebswirtschaftlichem Nutzen abhängig machen, beim Straßenbau aber solche betriebswirtschaftlichen Prüfungen nicht durchführen. Sie haben dafür die wohlklingende Formulierung parat: Verkehrsinvestitionen sind am Bedarf auszurichten. In der Praxis heißt dies, daß für Straßenbauinvestitionen immer der Maximalbedarf zugrunde gelegt wird. Wenn also im morgendlichen Berufsverkehr oder zu Beginn der Ferienzeit an einer bestimmten Stelle ein Stau entsteht, muß dort eine neue Straße gebaut werden. Im öffentlichen Verkehr wird aber fast immer nur der Minimalbedarf genannt: Weil abends oder an Wochenenden die Züge oder die Busse leer sind, soll die ganze Strecke geschlossen oder soll die Linie eingestellt werden. Meine Damen und Herren, als ersten Schritt sollten Sie also die Wettbewerbsverzerrungen zwischen ÖPNV und Pkw abbauen. Das wäre eine Grundlage für eine Verkehrspolitik des Maßes und der Vernunft. Was dies betrifft, ist allerdings Skepsis am Platz, vor allem, Herr Minister Zimmermann, nach Ihren jüngsten Ankündigungen im Zusammenhang mit der DDR. Sie wissen ganz genau, die Hauptunfallursachen im bundesdeutschen Straßenverkehr sind Alkohol und zu hohe Geschwindigkeit. Trotzdem wollen Sie diese jetzt in die DDR exportieren. Nach Ihrer Auffassung soll also die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h für Pkw auf Autobahnen der DDR aufgehoben werden. Dies ist fast kriminell, weil der Zustand des Autobahnnetzes höhere Geschwindigkeiten als 100 km/h in der DDR nicht zuläßt. In vielen Fällen sind selbst 100 km/h zu schnell. Auch unsere westliche, gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise, Alkohol zu trinken und trotzdem Auto zu fahren, kann nicht zur Nachahmung empfohlen werden. ({3}) Durch alkoholbedingte Verkehrsunfälle verlieren beispielsweise in der Bundesrepublik mehr Menschen ihr Leben als insgesamt durch Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung. ({4}) In Europa gibt es vielfältige Tendenzen, den Alkoholkonsum im Straßenverkehr zu reduzieren. Viele Länder haben die Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 gesenkt. Das Europäische Parlament und die EG-Kommission befürworten diese Senkung. Unsere Promillewerte sind weiß Gott keine Regelungen, die wir anderen zur Übernahme vorschlagen dürfen. Sie sollten Ihre Empfehlung, sie auch in der DDR einzuführen, schnell widerrufen; denn sie ist lebensgefährlich. ({5}) Mit „Alkohol rauf und Raserei hoch in der DDR und ÖPNV-Investitionen in der Bundesrepublik runter" ist keine vernünftige Verkehrspolitik der Zukunft zu machen! Vielen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Rauen das Wort.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Herrn Minister Dr. Zimmermann sehr dankbar dafür, daß er noch einmal die Bemühungen der Regierung deutlich gemacht hat, auf dem europäischen Verkehrsmarkt zu Harmonisierungen zu kommen, und auch die Schwierigkeiten geschildert hat, die einfach damit zusammenhängen, daß nationale Egoismen diese Bemühungen teilweise behindert haben. Auf Grund der Rede von Herrn Minister Zimmermann kann ich es mir ersparen, auf die ungerechtfertigten Vorwürfe der Kollegen Kretkowski und Antretter näher einzugehen. Ab dem 1. Juli sollen Lastkraftwagen und Lastzüge mit einem Gesamtgewicht von über 18 t für die Benutzung bundesdeutscher Straßen Gebühren bezahlen. Ich mache zum Abschluß noch einmal in Zahlen die Gesamtgrößenordnung deutlich, um die es dabei geht. Berechnungen auf Grund des heutigen Verkehrsaufkommens haben ergeben, daß mit einem jährlichen Gebührenaufkommen von 1 121 Millionen DM gerechnet werden kann. Davon erbringen ausländische Lkw 256 Millionen DM und die Lkw der 45 000 deutschen Unternehmen im Straßengüterverkehrsgewerbe, von denen 9 000 im Fernverkehr tätig sind, insgesamt 865 Millionen DM. Da gleichzeitig die Kfz-Steuer gesenkt wird, ist den Einnahmen aus Straßenbenutzungsgebühren ein Einnahmeausfall bei den Kfz-Steuern in Höhe von 927 Millionen DM gegenzurechnen. Sofern diese Berechnungen stimmen - wovon ich ausgehe - , nimmt der Fiskus unter dem Strich 194 Millionen DM mehr ein. Da künftig mit der Ausstellung von Gebührenbescheinigungen durch die Zollämter oder an der Grenze mit der Kontrolle der Auflagen des Gesetzes zusätzlicher bürokratischer Aufwand und Kosten entstehen, ist, wie Kollege Gries schon gesagt hat, die Frage erlaubt, ob dieses Gesetz überhaupt zu rechtfertigen ist. Es sind im wesentlichen zwei Gründe, die die Einführung der Straßenbenutzungsgebühren erforderlich machen. Erstens. Die zunehmende Be- und Überlastung bundesdeutscher Straßen rechtfertigt es, daß künftig auch ausländische Lkw mit der Gebühr ihren Beitrag zu den Wegekosten hier bei uns leisten, um so mehr, weil unser Land im Herzen Europas von vielen ausländischen Lkw häufig lediglich auf dem Transitweg durchfahren wird. Zweitens. Die Angleichung von Steuer-, Sozial- und Sicherheitsvorschriften, die für den europäischen Verkehrsmarkt seit den Römischen Verträgen von 1957 beabsichtigt war, ist bis heute nicht gelungen. Herr Kretkowski, schon daraus mögen Sie erkennen, daß die Bemühungen um Harmonisierung ein Thema nicht erst der letzten Jahre, sondern der letzten 30 Jahre im Bereich des europäischen Verkehrsmarktes sind. Die Liberalisierung des europäischen Verkehrsmarktes schreitet unaufhaltsam voran. Die dem deutschen Straßengüterverkehrsgewerbe versprochene Harmonisierung blieb jedoch bisher auf der Strecke.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Rauen, Entschuldigung, daß ich Sie unterbreche. Der Geräuschpegel hat eine Höhe erreicht, die allmählich unerträglich ist. Ich bitte die Kollegen sehr eindringlich, sich ruhiger zu verhalten. Versuchen Sie nun, Ihre Rede fortzuführen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin Ihnen für dieses Eingreifen sehr dankbar. Meine Damen und Herren, während der holländische Fuhrunternehmer für den 38-Tonnen-Zug 1 294 DM Kfz-Steuer und 19,24 Pfennige Mineralölsteuer für den Liter Dieselkraftstoff, der französische Fuhrunternehmer zwischen 120 DM und 962 DM Kfz-Steuer und 39,42 Pfennige Mineralölsteuer und der luxemburgische Fuhrunternehmer 1 053 DM Kfz-Steuer und 20,74 Pfennige Mineralölsteuer zahlen, zahlt der deutsche Fuhrunternehmer für den gleichen 38-Tonnen-Zug 9 364 DM Kfz-Steuer und 44,20 Pfennige Mineralölsteuer für den Liter Dieselkraftstoff. Diese Wettbewerbsverzerrung für den deutschen Fuhrunternehmer auf dem europäischen Verkehrsmarkt gegenüber seinem ausländischen Konkurrrenten wird durch dieses Gesetz teilweise behoben. ({0}) Nach den Berechnungen werden in der Summe die deutschen Fuhrunternehmen mit der Straßenbenutzungsgebühr unter Abzug der ersparten Kraftfahrzeugsteuer um 62 Millionen DM entlastet, während die ausländische Konkurrenz mit 256 Millionen DM belastet wird. Ich weiß, daß bei verschiedenen Zugkombinationen die Summe aus Benutzungsgebühr und gesenkter Kfz-Steuer höher als vorher nur die Kfz-Steuer, was aber, weil andere Zugkombinationen billiger wegkommen, nichts an der Tatsache ändert, daß, vom Gesamtaufkommen her gesehen, das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe um 62 Millionen DM jährlich entlastet wird. Sollten die Straßenbenutzungsgebühren höher sein als in den Berechnungen der Ministerien angenommen - darauf hat Herr Kollege Fischer bereits sehr deutlich hingewiesen - , so soll eine weitere Absenkung des Höchstbetrages der Kfz-Steuer vorgenommen werden. Dieses Gesetz auf den Weg zu bringen war ein mutiger und zeitgerechter Schritt des Bundesverkehrsministers und der Bundesregierung in Richtung Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen des Güterkraftverkehrsgewerbes auf EG-Ebene. Wegen der Bedeutung hat unsere Fraktion Antrag auf namentliche Abstimmung gestellt. Wir werden dem Gesetz in dieser namentlichen Abstimmung zustimmen. Schönen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Gattermann nach § 31 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung das Wort.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich werde Sie nur ganz kurz strapazieren, aber es möge bitte einen nachdenklichen Effekt auslösen. Ich werde diesem Gesetz meine Zustimmung verweigern, nicht weil ich mich aus getroffenen Kompromissen verabschieden wollte oder weil ich der Zielsetzung dieses Gesetzes nicht zustimmen könnte, sondern aus einem prinzipiellen Grund, der mit meinem Parlamentarismusverständnis zu tun hat. Es geschieht mit diesem Gesetzentwurf zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß ein Königsrecht des Parlaments, nämlich die Festsetzung von Steuern, per Rechtsverordnung der Bundesregierung übertragen werden soll. ({0}) Genau das steht in diesem Gesetzentwurf. Als Vorsitzender des für die Steuergesetzgebung zuständigen Ausschusses kann ich diesen Vorgang hier nicht unwidersprochen passieren lassen. Ich erwarte mir davon zumindest den Effekt, daß dies ein einmaliger Vorgang bleiben möge. Das das Ganze im Sinne der Zielsetzung des Gesetzentwurfs dann auch noch außerordentlich unklug im Hinblick auf die Rechtsposition der Bundesregierung bei dem mit Sicherheit zu erwartenden Prozeß vor dem Europäischen Gerichtshof ist, sei nur am Rande erwähnt. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie jetzt über den weiteren Verfahrensgang informieren. Wir werden zunächst über den vorliegenden Gesetzentwurf auf Drucksache 11/6336 und über die Drucksache 11/6720 abstimmen, und zwar - wie gerade beantragt - in namentlicher Abstimmung. Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vor, und die SPD-Fraktion hat beantragt, daß zu den drei Artikeln jeweils über die einzelnen Abschnitte getrennt abgestimmt werden soll. Ich werde so verfahren. Danach wird die namentliche Abstimmung beginnen. Meine Damen und Herren, außerdem liegt zu dem Gesetzentwurf ein Entschließungsantrag vor, über den ich verständlicherweise erst abstimmen lassen kann, wenn das Ergebnis der namentlichen Abstimmung vorliegen wird. Weil wir aber heute große zeitliche Probleme haben - es wird bis spät in die Nacht gehen - , schlage ich dem Haus vor, daß wir nach Schließung der Urnen, also nach Beendigung der namentlichen Abstimmung, mit der Wahl des Wehrbe15904 Vizepräsident Cronenberg auftragten beginnen. Ich hoffe, daß das Haus damit einverstanden ist. ({0}) Die Schriftführer werden gebeten, mit der Auszählung der namentlichen Abstimmung erst dann zu beginnen, wenn sie ihrer Wahlpflicht Folge geleistet haben. Ich hoffe, daß das so vorgeschlagene Verfahren akzeptiert wird. - Das ist offensichtlich der Fall. Nunmehr beginne ich mit der Abstimmung über die Gesetzesvorlage auf Drucksache 11/6336 und rufe zunächst den Artikel 1 auf. Zum Artikel 1 liegt uns ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/6834 vor, hier die Abschnitte I 1 und 2. Ich lasse jetzt also über diesen Änderungsantrag der CDU/CSU und der FDP, Abschnitt I 1, abstimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Abschnitt I 1 mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Ich rufe nunmehr den Änderungsantrag Abschnitt I 2 zu Artikel 1 dieses Gesetzentwurfs auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag Abschnitt I 2 mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Jetzt lasse ich über Artikel 1 in der Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen Änderungen abstimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann habe ich folgende Mehrheit festzustellen: Die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der GRÜNEN stimmen dem abgeänderten Artikel 1 zu, die Fraktion der SPD enthält sich der Stimme. Wir kommen nunmehr zu Art. 2. Ich verfahre genauso wie eben. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vor, über den die SPD-Fraktion eine getrennte Abstimmung vorgeschlagen hat. Ich bitte nunmehr um Ablehnung oder Zustimmung zu Abschnitt II 1 des Änderungsantrages auf Drucksache 11/6834. Wer diesem Teil zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der erste Änderungsantrag der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion zu Art. 2 mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Die SPD-Fraktion hat dagegen gestimmt, und DIE GRÜNEN haben sich enthalten. Ich lasse jetzt über Abschnitt II 2 des Änderungsantrags zu Art. 2 abstimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen. Nunmehr frage ich, wer dem geänderten Art. 2 des Gesetzes zustimmt. - Die Mehrheit; damit ist die Vorschrift angenommen. Ich lasse nun über Art. 3 und Art. 4 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind Art. 3 und Art. 4 in der Ausschußfassung einstimmig angenommen worden. Wir kommen nunmehr zu Art. 5. Hierzu gibt es einen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, und zwar unter III der Drucksache. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Teil III des Änderungsantrags zu Art. 5 mit den Stimmen der CDU/ CSU, der FDP und der SPD bei Stimmenthaltung der GRÜNEN angenommen worden. Jetzt lasse ich über Art. 5 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung abstimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Art. 5 in der Ausschußfassung mit der beschlossenen Änderung angenommen worden. Wir kommen nunmehr zur Einleitung und Überschrift. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dies einstimmig angenommen worden. Ich gehe davon aus, daß wir auch nach Annahme der Änderungsanträge unmittelbar in die dritte Beratung eintreten können. - Ich sehe, dies ist der Fall. Dann ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Wir treten damit in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich muß darauf aufmerksam machen, daß nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes zur Annahme des Gesetzes die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - das sind 249 Stimmen - erforderlich ist. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP verlangen, wie der Abgeordnete Rauen festgestellt hat, namentliche Abstimmung. Bevor wir zu der namentlichen Abstimmung kommen, möchte der Abgeordnete Bohl zur Geschäftsordnung etwas sagen.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Präsident hat schon darauf hingewiesen, daß wir zur Verabschiedung dieses Gesetzes eine absolute Mehrheit brauchen. Die Fraktionen der SPD und der GRÜNEN haben uns wissen lassen, daß sie dem Gesetz in der dritten Lesung zustimmen wollen. Wir hatten die namentliche Abstimmung beantragt, um sicherzustellen, daß auf alle Fälle eine absolute Mehrheit festgestellt werden kann. Ich erteile ihm das Wort. Herr Präsident, ich bin nun der Auffassung, daß ein Augenschein genügen kann - wenn die beiden anderen Fraktionen zustimmen - , um festzustellen, daß die absolute Mehrheit gegeben ist. Unter diesem Gesichtspunkt ziehen wir den Antrag auf namentliche Abstimmung zurück und setzen darauf, daß Sie durch Augenschein feststellen können, daß wir eine absolute Mehrheit haben. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Mir wird von den Fraktionen der SPD und der FDP signalisiert, daß sie mit dem Verfahren einverstanden sind. Auch die GRÜNEN sind mit diesem Verfahren offensichtlich einverstanden. Wir treten in die dritte Beratung ein. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben; dies kann ich Ihnen trotz der überwältigenden Mehrheit nicht ersparen. - Gegenstimmen? - Zehn Gegenstimmen. Enthaltungen? - Zwei Enthaltungen; dabei gehe ich davon aus, daß die stehenden Kollegen sich nicht enthalten. Ich stelle für das Protokoll nach § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung formal fest, daß die erforderliche Mehrheit vorhanden ist. Wir können nunmehr über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/6831 abstimmen. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer enthält sich? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU - ({0}) - Ich habe ausdrücklich gefragt, wer dem Entschließungsantrag auf Drucksache 11/6831 zuzustimmen wünscht. Es sind offensichtlich erhebliche Zweifel an dem eigenen Abstimmungsverhalten aufgetaucht. Ich lasse deswegen über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/6831 noch einmal abstimmen. ({1}) Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Ordnung offensichtlich wiederhergestellt. Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt worden. Wollen Sie sich zur Geschäftsordnung melden? - Bitte sehr.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Die Ausschußempfehlung enthält die Zustimmung zu einem Entschließungsantrag, der im Ausschuß mit Mehrheit beschlossen worden ist. Die Verwirrung ist dadurch entstanden, daß zunächst vermutet wurde, über diesen Antrag würde abgestimmt werden. Es muß auf jeden Fall noch über den Entschließungsantrag, der gemäß der Ausschußempfehlung angenommen werden soll, abgestimmt werden. Darum bitte ich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Fischer, ich lasse jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses abstimmen. ({0}) Die Beschlußempfehlung unter Ziffer I - ich lese sie jetzt noch einmal vor -, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 11/6336 in der aus der Anlage ersichtlichen Fassung anzunehmen, ist mit überwältigender Mehrheit angenommen worden. Ferner wird unter Ziffer II empfohlen, eine Entschließung anzunehmen, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, bestimmte Dinge zu tun. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen, und die Zweifel sind damit ausgeräumt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Wahl des Wehrbeauftragten - Drucksache 11/6437 Meine Damen und Herren, bevor wir mit der Wahl beginnen, möchte ich zunächst den bisherigen Wehrbeauftragten Willi Weiskirch begrüßen. Er hat auf der Tribüne Platz genommen. ({1}) Sie, verehrter Herr Weiskirch, haben in den letzten fünf Jahren das Amt des Wehrbeauftragten bekleidet. Dieses Amt ist nicht nur für den Deutschen Bundestag wichtig, um im militärischen Bereich parlamentarische Kontrolle ausüben zu können. Dieses Amt ist von genauso großer Bedeutung für die Angehörigen der Bundeswehr. Der Wehrbeauftragte, der darauf zu achten hat, daß die Grundrechte der Soldaten und die Grundsätze der Inneren Führung eingehalten werden, ist für die Soldaten von großer Bedeutung. In Ihrem letzten Bericht, lieber Herr Weiskirch, schreiben Sie, daß für Sie das Ihnen entgegengebrachte Vertrauen der positive und bleibende Eindruck Ihrer fünfjährigen Amtszeit ist. Lieber Herr Weiskirch, ich möchte diesen Gedanken aufgreifen und Ihnen im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages bestätigen, daß auch wir stets großes Vertrauen in unseren Wehrbeauftragten Willi Weiskirch haben durften. Der Beifall soeben beweist Ihnen das sehr eindringlich. ({2}) Sie haben sich in Ihrer Amtszeit mit wesentlichen Fragen der Bundeswehr und der Sicherheits- und Verteidigungspolitik befaßt. Um nur eines zu nennen: Im Bereich der Menschenführung haben Sie darauf gedrungen, daß die Umgangsformen und Umgangstöne dem Bild des Staatsbürgers in Uniform entsprechen. Ihr Anliegen war es, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen vertrauensvolle Gespräche zu ermöglichen, und sie haben auch stattgefunden. Das Amt des Wehrbeauftragten ist darauf angewiesen, daß es von einer verantwortungsbewußten und engagierten Persönlichkeit ausgefüllt wird. Durch Ihre Amtsführung, Herr Weiskirch, haben Sie hohe Maßstäbe gesetzt. Wenn Sie nun in Ihren alten Beruf als Journalist zurückkehren und sich dort weiterhin mit Verteidigungsfragen beschäftigen werden, so werden wir Ihren Rat, aber auch Ihre Kritik auch in Zukunft gerne hören, dies um so mehr, da uns die augenblickliche deutschland- und weltpolitische Entwicklung in be15906 Vizepräsident Cronenberg sonderem Maße dazu zwingen wird, über den Umfang, die Gestalt, das innere Gefüge und die Einbettung der Streitkräfte in unsere Gesellschaft erneut sehr, sehr ernsthaft nachzudenken. Ich möchte Ihnen nochmals, lieber Herr Weiskirch, im Namen des ganzen Hauses für Ihre Arbeit danken. Gestatten Sie mir am Schluß das persönliche Wort: Ich freue mich, daß ich von dieser Stelle aus dem ehemaligen Sauerländer Kollegen dies sagen darf. Herzlichen Dank, Herr Weiskirch! ({3}) Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Die Fraktion der CDU/CSU hat mit Schreiben vom 5. März 1990 den Abgeordneten Alfred Biehle vorgeschlagen, die Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6437 den Abgeordneten Horst Jungmann. Ich darf Ihnen mitteilen, daß die Vorgeschlagenen die in § 14 Abs. 1 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages genannten Voraussetzungen für die Wahl erfüllen. Diese Vorschläge entsprechen den Erfordernissen des § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nunmehr um Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages in Verbindung mit den §§ 113 und 49 unserer Geschäftsordnung wird mit verdeckten Stimmzetteln, d. h. geheim gewählt. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Anstelle des Namensaufrufs soll im Interesse eines zügigen Ablaufs mittels Wahlausweis gewählt werden, wie wir es in der Vergangenheit ja schon öfter praktiziert haben. Das Haus ist - ich sehe das an Ihrem Verhalten - offensichtlich damit einverstanden. Wahlausweise liegen in den Fächern und sind inzwischen auch verteilt worden. Ich bitte Sie aber, sich noch einmal zu vergewissern, daß der Wahlausweis, den Sie erhalten haben, auch wirklich Ihren Namen trägt und keine Verwechslung vorliegt. Für die Wahl selbst sind nur weiße Stimmkarten gültig, die am Stenographentisch und im Eingangsbereich ausgegeben werden. Sie dürfen die Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen. Die Schriftführer müssen jeden zurückweisen, der sich nicht so verhält. Meine Damen und Herren, wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung auf der Stimmkarte. Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurne werfen, müssen Sie den Schriftführern an der Wahlurne Ihren Wahlausweis übergeben. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß allein die Abgabe Ihres Wahlausweises als Nachweis für die Teilnahme gilt. Ich bitte, daß nunmehr die Schriftführer ihre vorgesehenen Plätze einnehmen. Wir können jetzt mit der Wahl beginnen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, sind alle Stimmkarten abgegeben worden? - Ich schließe die Wahl und bitte um Auszählung. * ) Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können. Das Wahlergebnis geben wir nach der Auszählung bekannt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis 13 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes - Drucksache 11/4482 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0}) - Drucksache 11/6773 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Daniels ({1}) Großmann ({2}) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes ({3}) - Drucksache 11/6524 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4}) - Drucksache 11/6773 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Daniels ({5}) Großmann ({6}) c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland - Drucksache 11/6005 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({7}) - Drucksache 11/6774 Berichterstatter: Abgeordnete Pesch Müntefering ({8}) Zu dem Entwurf des Wohnungsbindungsgesetzes liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD sowie ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/6797 bis 11/6802 und 11/6832 vor. *) Ergebnis Seite 15911D Vizepräsidentin Renger Im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung 90 Minuten vereinbart worden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Möller.

Dr. Franz Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001522, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorlagen, die wir heute abschließend beraten, sind weitere wichtige Schritte zur Bewältigung der nach wie vor großen Herausforderung in der Wohnungspolitik. Sie sind keine marginalen Entscheidungen, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, sie sind vielmehr wichtige zusätzliche Maßnahmen auf einem richtigen Weg. Der Regierungsentwurf und der Entwurf des Bundesrates, die wir im Ausschuß zusammengefaßt und ergänzt haben, sichern den Bestand an Sozialwohnungen, erleichtern den Wohnungstausch, vergrößern das Angebot an preiswerten Wohnungen und verbessern die Belegungsmöglichkeiten von Sozialwohnungen. Lassen Sie mich das ein wenig erläutern. Erstens. Es ist bemerkenswert, daß es für einen sachlich gebotenen Wohnungstausch im Sozialwohnungsbestand eines Gesetzes bedarf. Wer bisher eine öffentlich geförderte Wohnung gemietet hatte, aber wegen seines Einkommens nicht mehr wohnberechtigt war, verlor beim Auszug seinen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein; dies galt selbst dann, wenn er die Wohnung für eine kinderreiche Familie freimachen wollte. Das soll jetzt geändert werden. Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes ist der Wohnungstausch entscheidend erleichtert; denn dann können größere, preisgünstigere, vielleicht ältere Wohnungen für Familien mit geringem Einkommen oder aber auch für kinderreiche Familien freigemacht werden, ohne daß der bisherige Mieter seinen Anspruch auf eine Sozialwohnung verliert. Durch die Neuregelung kann z. B. ein älterer Mieter von einem Obergeschoß in eine Parterrewohnung umziehen oder in eine Wohnung in der Nähe seiner Kinder, auch wenn er inzwischen keinen Anspruch mehr auf eine Sozialwohnung hat. Mir scheint, daß das ein wesentlicher weiterer Schritt nach vorn ist, aber auch ein weiterer Schritt zu mehr Freizügigkeit im Wohnungsmarkt, und deswegen begrüßen wir diese Neuregelung. ({0}) Zweitens. Das neue Gesetz bremst auch die Mietpreissteigerung bei vorzeitiger Rückzahlung öffentlicher Mittel. Wer öffentliche Darlehen vorzeitig zurückzahlt, kann künftig Zinsen nur noch in der Höhe ansetzen und beim Mietpreis berechnen, die er vor der Rückzahlung bezahlt hat. Drittens. Wir haben darüber hinaus die Nachwirkungsfristen bei vorzeitiger Rückzahlung öffentlicher Mittel verlängert. Auch dadurch wird dem Rückgang des Sozialwohnungsbestandes entgegengewirkt. Der Anreiz zur Rückzahlung wird vermindert. Die verkürzten Nachwirkungsfristen des § 16 a haben wir gestrichen. Auch hier gilt die allgemeine Frist von zehn Jahren. ({1}) - Eine richtige Erkenntnis, Herr Kollege Müntefering, und deswegen haben wir das ja auch so beschlossen. Sie haben sich bei dem Gesetzentwurf der Stimme enthalten, meine Damen und Herren. Weitere Verbesserungen, meine Damen und Herren, bitte ich dem guten Bericht unserer Berichterstatter, der Ihnen schriftlich vorliegt, zu entnehmen. Lassen Sie mich noch einige Punkte und einige Anmerkungen zur allgemeinen Wohnungspolitik sagen. Dieser Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, setzt die gute und richtige, inzwischen auch erfolgreiche Politik der Regierungskoalition fort. Erinnern wir uns: Bis 1988 haben wir alle über Leerstände bei Wohnungen geklagt. Der SPD-Wohnungsbauminister von Nordrhein-Westfalen, Dr. Zöpel, wollte noch 1987 und 1988 Hochhäuser abreißen, weil sie nicht zu vermieten waren. ({2}) - Ich kann Ihnen die Fundstelle zeigen, Herr Kollege. Die Bundesländer haben stetig ihre Wohnungsbauleistungen verringert. Investoren waren verunsichert, auch weil die Bevölkerungsprognosen rückläufig waren. Aus dieser Situation hat die Bundesregierung Ende 1988/Anfang 1989 mit einer Reihe von vernünftigen Entscheidungen den Wohnungsbau wieder belebt und bis heute alles getan, um Anreize für den Wohnungsbau zu geben, Hemmnisse zu beseitigen und dadurch die Zahl der Wohnungen drastisch zu erhöhen. Ich will nur einige dieser wichtigen in die Zukunft reichenden Entscheidungen vortragen: ({3}) Erstens. Der Bund stellt jährlich 2 Milliarden DM - da hören Sie, wer es macht - für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. ({4}) Mit den zusätzlichen Mitteln der Länder und der Gemeinden stehen damit 10 Milliarden DM bereit. Damit können in der nächsten Zeit viele, viele Sozialwohnungen gebaut werden. Für 1990 rechnen wir bereits mit mehr als 100 000 neuen Sozialwohnungen. Zweitens. Die hohe Förderung durch den Bund kommt insbesondere Nordrhein-Westfalen zugute, Herr Kollege Müntefering; darüber sollten Sie sich freuen. ({5}) Von 1980 bis 1990 hat die Bundesregierung Finanzhilfen in Höhe von 4,5 Milliarden DM an NordrheinWestfalen gezahlt. ({6}) Das ist eine vernünftige Politik. Drittens. Die steuerlichen Abschreibungen für Wohnungen mit Sozialbindung sind wesentlich verbessert worden. Viertens. Aus- und Umbaumaßnahmen werden oder sind steuerlich erleichtert. Die Herstellungskosten können bis zu einer Höhe von 60 000 DM in fünf Jahren abgeschrieben werden. Fünftens. Die zinsgünstigen Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau - hören Sie gut zu! - sind sehr begehrt. ({7}) Sie sind bereits überzeichnet. Durch den Nachtragshaushalt wollen wir das morgen ja auch noch von 1,5 Milliarden auf 2,5 Milliarden DM aufstocken. Ganz besonders wichtig ist, daß 80 % der vergebenen Kreditmittel in hochverdichtete Regionen gehen. Dort müssen sie auch angewendet werden; das finde ich ganz besonders wichtig. Nahezu die Hälfte der vergebenen Kreditmittel wird für den Umbau und den Dachgeschoßausbau verwendet. Lassen Sie mich sechstens noch sagen: Auch das Bausparzwischenfinanzierungsprogramm hat zur Ankurbelung des Wohnungsbaus beigetragen. Und siebtens: Der Studentenwohnungsbau, den Sie in Ihrer Regierungszeit eingestellt haben, ist wiederbelebt worden. Auch das ist eine wichtige Maßnahme. Der deutliche Anstieg der Zahl der Baugenehmigungen im Jahr 1989 um 29 % - im Geschoßwohnungsbau sogar um 66 % - zeigt, daß diese sorgfältigen wohnungspolitischen Maßnahmen greifen und erfolgreich sind. In meiner Heimatstadt Sankt Augustin sind diese Prozentzahlen noch beträchtlich überschritten: Wir haben bei der Zahl der allgemeinen Baugenehmigungen eine Steigerung von 66 % und beim mehrgeschossigen Wohnungsbau eine Steigerung von sogar 365 %. ({8}) Wir sind auch eine ganz besonders gute Gemeinde, Stadt und ein ganz besonders guter Kreis. Deshalb hat sich das bei uns ganz besonders niedergeschlagen. ({9}) Ein Weiteres, Herr Kollege Müntefering: Auch aus der Städtebauförderung, die die Bundesregierung verdreifacht hat - zu Ihrer Zeit waren es 220 Millionen DM, wir haben 660 Millionen DM daraus gemacht - , erhält gerade Nordrhein-Westfalen einen ganz besonders hohen Anteil, ({10}) nämlich von 1980 bis 1990 1,45 Milliarden DM Finanzhilfe. Das ist das 3,8fache dessen, was Nordrhein-Westfalen 1971 bis 1979 vom Bund erhalten hat. Hier sollten Sie als nordrhein-westfälischer Abgeordneter ({11}) durchaus einmal Beifall klatschen. Meine Damen und Herren, auch das Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz, das wir am 15. März verabschiedet haben, wird das Baugeschehen nachhaltig und positiv beeinflussen. Ich appelliere von hier aus an den Bundesrat, dieses Gesetz ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses möglichst bald abzuschließen. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der Erkenntnis, daß diese Koalition auch in der Wohnungsbaupolitik erfolgreich ist, können auch Miesmachereien à la Lafontaine und - ich sage das hier ganz deutlich - auch scheußliche Parolen von Herrn Conradi nicht ablenken. ({13}) In der Debatte über das Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz hat Herr Conradi gesagt, daß die Obdachlosigkeit in den Städten und die Höhe der Mieten - jetzt zitiere ich ihn - „nicht aus Versehen, nicht fahrlässig, sondern absichtlich herbeigeführt" seien. ({14}) Wer etwas in dieser Weise sagt, hat sich - das gilt neben Lafontaine in gleicher Weise auch für Sie - als seriöser Wohnungspolitiker abgemeldet und sich selbst ins Abseits gestellt. ({15}) Ich frage Herrn Lafontaine nur, lieber Herr Conradi, was er der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, seinen sozialdemokratischen Genossen Rau und Zöpel, unterstellt, die den Wohnungsbau von 1985 bis 1988 um mehr als 60 % verringert und auf ein Drittel reduziert haben. ({16}) Haben Zöpel und Rau die Obdachlosigkeit in Nordrhein-Westfalen absichtlich herbeigeführt? Sind die Bürger von Nordrhein-Westfalen von der Landesregiérung absichtlich in die Wohnungsnot getrieben worden? ({17}) - Zur Gemeinnützigkeit sage ich Ihnen auch noch etwas: Genauso ist es mit der Behauptung, die Sie aufgestellt haben, daß die Aufhebung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes kalt kalkuliert gewesen sei. Auch dieser Satz ist eine Bosheit, die auf Sie zurückfällt, Herr Conradi. ({18}) Wenn jemand den Wohnungsbau und damit die Anliegen der Mieter in den 70er und 80er Jahren zum Spielball verwerflicher Interessen gemacht hat, dann waren es die Genossen der Neuen Heimat, die Ihnen sehr nahestehen. ({19}) Sie haben die Gemeinnützigkeit ausgenutzt und zu Tode geritten. Und ich sage Ihnen, lesen Sie den bisher geheimen Bericht über die Praktiken der Gewerkschaftsfunktionäre, von denen ja jetzt noch einer im Gefängnis sitzt. Dann erst werden Sie feststellen können, wer den Wohnungsbau und damit die Interessen der Mieter damals geschädigt hat. ({20}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen: Wir wollen dieses Gesetz, das Ihnen vorliegt, mit einer breiten Mehrheit verabschieden. Die Opposition hat sich im Ausschuß aus verschiedenen Gründen der Stimme enthalten; ich will darauf nicht eingehen. Sie haben die im Ausschuß abgelehnten Anträge heute - mit einer Ausnahme - wieder eingebracht. Diese Änderungsanträge werden wir ablehnen. Dieses Gesetz, das wir heute vorlegen, das die Bundesregierung vorgelegt hat, werden wir heute - ich hoffe, mit einer großen Mehrheit - verabschieden. Das vorliegende Gesetz ist ausgereift, es ist in Ordnung, und es ist ein weiterer guter Weg zu mehr Wohnungen für unsere Bürger. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. ({21})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Großmann.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einmal mehr müssen wir heute erleben, wie die Bundesregierung versucht, ihre verkorkste Wohnungsbaupolitik mit Kinkerlitzchen zu verbessern. ({0}) Die Änderungen des Wohnungsbindungsgesetzes sollten - so der Vorschlag der Ministerin - lediglich den freiwilligen Tausch von Sozialwohnungen ermöglichen. Ob durch diese Änderungen überhaupt ein Tausch von Wohnungen zustande kommt, sei dahingestellt. Im Ausschuß konnte man uns keine Zahlen nennen. Wir haben auch diesmal danach gefragt und, wie immer, keine Antwort bekommen. Wir können nur hoffen, daß wenigstens ein paar hundert Wohnungen zum Tausch anstehen, daß also vielleicht ein paar hundert Wohnungen andere Mieter finden werden. Derzeit jedoch fehlen - das sei hier erneut gesagt - über 1 Million Wohnungen in der Bundesrepublik. ({1}) Berücksichtigt man diese Relation und bedenkt man, daß ein Wohnungstausch keine einzige neue Wohnung schafft, so klingt es wie blanker Hohn, wenn es in der Begründung zu dieser Gesetzesänderung heißt: Durch die Erleichterung des Tausches von Sozialwohnungen werden öffentliche Mittel für den Bau größerer Sozialwohnungen eingespart. Ein Glück nur, daß der Bundesrat die Gelegenheit beim Schopfe packte, mit eigenen Vorschlägen auch ein Stück Mieterschutz in diese Veränderung hineinzuschreiben. Wir als SPD sind darüber auch deshalb froh und zufrieden, weil es Initiativen sind, die wir im Deutschen Bundestag seit Jahren gefordert haben, die jedoch bisher von der Mehrheit aus CDU/CSU und FDP immer weggestimmt worden sind. Allmählich scheint ihnen zu dämmern, daß Sie mit ihrer mieterfeindlichen Ideologie nicht mehr weiterkommen. 1985 und 1989 war das noch anders. Als wir forderten, alte Wohnungsbindungen zu sichern, den Mietenanstieg zu bremsen und neue Wohnungsbindungen zu schaffen, wollten Sie davon nichts wissen. Erst jetzt, unter dem Druck von teilweise extremer Wohnungsnot und explodierenden Mieten, sind Sie bereit, die Forderungen der SPD wenigstens teilweise zu übernehmen; dies ist jedoch zu spät und zu halbherzig. Über Jahre hinweg haben Sie den sozialen Mietwohnungsbau verkümmern lassen ({2}) und es so versäumt, rechtzeitig neue Wohnungsbindungen zu schaffen. Über Jahre hinweg haben Sie es unterlassen, alte Bindungen trotz steigender Darlehensrückzahlungen bei den Sozialmietwohnungen zu sichern. Für über eine Million Wohnungen wurden seit der Regierungsübernahme durch Sie vorzeitig Mittel zurückgezahlt. ({3}) Das sind rund 20 % des sozialen Wohnungsbestandes. Sie haben das einfach laufen lassen. Eine Million Wohnungen sind allein während Ihrer Regierungszeit aus der Bindung herausgefallen. ({4}) - Absichtlich! Und Sie haben dies willenlos laufen lassen! Daß Sie das jetzt verhindern wollen, kommt deshalb zu spät, weil bis Mitte der 90er Jahre die Hälfte der sozialgebundenen Wohnungen aus der Bindung herausfällt. In zehn Jahren wird von diesen Wohnungen nur noch ein Drittel übrig sein. Dabei weiß die Bundesregierung genau Bescheid, welche Konsequenzen dieses Laufenlassen hat. Es gibt nämlich eine Untersuchung, die sie selbst in Auftrag gegeben hat. Der Bundesbauminister wollte wissen, welche Konsequenzen denn die vorzeitige Rückzahlung von Darlehen beim sozialen Mietwohnungsbau hat, etwa bei Wegfall der Bindungen. Während jedoch willkommene Untersuchungsergebnisse auf Glanzpapier mit Foto der Ministerin veröffentlicht werden - übrigens lächelt sie auf Farbfotos mehr als auf Schwarzweißfotos - , waren die Ergebnisse dieser Untersuchung unerwünscht; sie wurden bis heute nicht veröffentlicht. Ich will daher die Gelegenheit nehmen, aus dieser Untersuchung ein paar Zahlen zur Kenntnis zu geben: Die Studie weist aus, daß Mitte der 80er Jahre beispielsweise die gemeinnützigen Eigentümer den Zinsverfall nutzten, um kostenneutral Mietsenkungen weiterzugeben. Anders die nicht gemeinnützigen Eigentümer; die zahlten zurück, um Mieterhöhungen vorzunehmen. Die Zahlen sprechen für sich. Während in den Wohnungen von gemeinnützigen Eigentümern die Mieten nach Bindungsende um ca. 3 % pro Jahr stiegen, waren dies bei den Wohnungen der nicht gemeinnützigen Eigentümer zwischen 8 und 21 % pro Jahr. Ich zitiere einen Satz aus der Untersuchung: In 22 % - diese Zahl muß man sich genau anhören von den untersuchten 102 Fällen wurde eine Überschreitung der 30-%-Kappungsgrenze für Mieterhöhungen innerhalb von drei Jahren bei bestehenden Mietverhältnissen festgestellt, dabei in 7 % der Fälle eine Überschreitung von mehr als 50 % innerhalb von drei Jahren. Da Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die Gemeinnützigkeit ja abgeschafft haben, drohen uns diese Praktiken demnächst im gesamten sozialen Mietwohnungsbau. In der Untersuchung heißt es weiter: Die Mietpreissteigerungen haben häufig entweder zu einer Verdrängung von Bewohnern oder bei vielen verbliebenen Altmietern, die insbesondere auf angespannten Wohnungsmärkten keine tragbaren Alternativen hatten, zu einer erheblichen Erhöhung der Mietbelastung geführt. Es ist logisch, daß diese Mietpreissteigerungen auch zur Anhebung des allgemeinen Mietniveaus führen. So führen nicht nur die starke Wohnungsnot, sondern auch der von der Bundesregierung willenlos hingenommene Wegfall von Bindungen zu teilweise horrenden Mieterhöhungen, zu zahlreicher werdenden, nicht geahndeten Verstößen - denn viele Mieter halten den Mund, weil sie keine Alternative haben - und zu immer weniger preiswertem Wohnraum. Immer, wenn es um die Politik der sozialen Gerechtigkeit geht, meine Damen und Herren von der Koalition, sind Sie überfordert. So ist es nur logisch, daß die wirklich wichtigen Änderungsvorschläge über den Bundesrat, und zwar von Nordrhein-Westfalen, beantragt worden sind. Sie müssen also, meine Damen und Herren, von der Koalition, förmlich dazu gedrängt werden, in dieser katastrophalen Wohnungssituation endlich etwas für die Mieter zu tun. Sie seien klüger geworden, hat Herr Dörflinger vor zwei Wochen hier in der Debatte zum Wohnungsbauerleichterungsgesetz gesagt. Auch heute scheinen Sie klüger zu werden, weil Sie endlich Vorschläge der SPD aufgreifen. Leider verläuft der Prozeß des Klügerwerdens bei Ihnen beängstigend langsam und geht zu Lasten der Wohnungssuchenden, der Mieter und der Städte und Gemeinden, die mit den Problemen und Mietpreissteigerungen nicht mehr allein fertig werden können. Die Vorschläge des Bundesrats sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Dies gilt besonders für die Verlängerung der Nachwirkungsfrist, in der eine öffentlich geförderte Wohnung auch nach Rückzahlung der Fördermittel weiter wie eine Sozialwohnung behandelt wird. Damit dies eine spürbare Verlängerung wird, werden wir - Herr Möller hat darauf hingewiesen - wie im Ausschuß beantragen, die Nachwirkungsfrist bei unfreiwilliger Rückzahlung von 10 auf 14 Jahre und bei freiwilliger Rückzahlung von 8 auf 12 Jahre zu verlängern. Wir begrüßen es, daß eine Abkürzung der Nachwirkungsfrist durch die Streichung des Abs. 3 in § 16 ausgeschlossen wird. Ganz wesentlich ist für uns der Wegfall des § 16 a. In Städten und Gemeinden unter 200 000 Einwohnern fällt derzeit sechs Monate nach der vorzeitigen Rückzahlung der öffentlichen Mittel die Mietpreisbindung weg; der Vermieter darf die örtliche Vergleichsmiete erheben. Die Praxis hat gezeigt, daß viele Mieter mit kleinem Einkommen ihre Mieten dann nicht mehr zahlen können. Die SPD begrüßt ausdrücklich die Initiative von Nordrhein-Westfalen zur Streichung dieses Paragraphen aus dem Wohnungsbindungsgesetz. Die Sonderregelung für Städte und Gemeinden unter 200 000 Einwohnern entfällt. Hier gelten künftig die gleichen Bindungen wie in den größeren Städten. Da die Wohnungsnot auch vor diesen kleineren Städten nicht haltmacht, ist es dringend nötig, die Mieter auch in kleineren Städten stärker zu schützen. Einen anderen wichtigen Schritt zu mehr Mieterschutz wollen Sie nicht mitgehen. Wir werden beantragen, im Fall einer Zwangsversteigerung die Nachwirkungsfrist von drei auf sechs Jahre zu verlängern. ({5}) Ich habe erst kürzlich in zwei konkreten größeren Mietobjekten in meinem Wahlkreis erlebt, mit welch rüden Methoden die Mieter nach einer Zwangsversteigerung eingeschüchtert wurden. Wir müssen zum Schutz der Mieter die Zwangsversteigerungen erschweren, indem wir sie weniger attraktiv machen. Neun Bundesländer haben diesen Vorschlag von Nordrhein-Westfalen unterstützt. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag heute zuzustimmen. Es sind die Fachleute aus den Bundesländern, die diese Praxis ja genau kennen und Abhilfe schaffen wollen, Abhilfe gegen ein oftmals skandalöses Vorgehen einiger Immobilienhaie und zum Schutz oftmals völlig hilfloser Mieter, nicht selten älterer Menschen, die seit Jahrzehnten dort wohnen. Mehr Mieterschutz bringt auch ein weiterer Antrag des Bundesrats zu § 28. Durch diesen Änderungsvorschlag wird sichergestellt, daß bei einer vorzeitigen Rückzahlung öffentlicher Mittel im sozialen Wohnungsbau die möglicherweise höheren Zinsen der Ersatzfinanzierung nicht zu einer Mieterhöhung führen werden. Eine Dämpfung der Miete kann auch durch die Regelung erzielt werden, künftig Vereinbarungen zuzulassen, in denen sich ein Eigentümer verpflichtet, über die derzeit gültige Frist von sechs Jahren hinaus bestimmte Kosten nicht geltend zu machen. Auch dies ist keine Idee der Bundesregierung oder gar der Koalition; all diese Vorschläge sind Vorschläge des Bundesrates. Ich wiederhole das deshalb, damit hier kein Etikettenschwindel betrieben wird. Die Bundesregierung ist von sich aus überhaupt nicht auf die Idee gekommen, über Mieterschutz nachzudenken, geschweige denn mehr Mieterschutz in den eigenen Gesetzentwurf hineinzuschreiben. ({6}) Wie halbherzig die Vorschläge übernommen werden, zeigt der Art. 4 der vorliegenden Änderung. Wir Sozialdemokraten fordern eine größere Rückwirkung des Gesetzes. Eine dreimonatig längere Frist als vorgesehen würde z. B. allein in Nordrhein-Westfalen ca. 16 000 Wohnungen in eine längere Bindung bringen. Sie schieben verfassungsrechtliche Bedenken vor. Das große Gewicht dieser außerordentlichen Notlage Wohnungsnot für das Allgemeinwohl und den sozialen Frieden würde es zulassen, eine längere Rückwirkung in dieses Gesetz hineinzuschreiben. Dem Art. 4 werden wir daher in der vorliegenden Fassung nicht zustimmen können. Ansonsten weisen die Vorschläge des Bundesrates in die richtige Richtung. Unsere Änderungsanträge sind daher textgleich mit den Vorschlägen des Bundesrates, die bisher nicht in den Gesetzestext übernommen worden sind. Ausruhen darf man sich mit diesem Wohnungsbindungsänderungsgesetz aber keineswegs. Zentrale Forderungen der SPD bleiben weiterhin unberücksichtigt, sind aber völlig unverzichtbar. Wenn man Wohnungsnot und die damit einhergehende galoppierende Mietenexplosion in den Griff bekommen will, müssen erstens neue Bindungen im sozialen Mietwohnungsbau geschaffen werden. Dazu muß der Bau von Sozialmietwohnungen stärker als bisher gefördert werden, sowohl in der zur Verfügung stehenden Gesamtsumme wie auch durch eine höhere Förderung der einzelnen Wohneinheit. Ich erzähle Ihnen hier nichts Neues; das fordern z. B. der Städte- und Gemeindebund und der Städtetag seit Monaten. Zweitens muß der Schutz der Mieter vor der zunehmenden Umwandlungsspekulation verbessert werden. Die Sperrfrist für Eigenbedarfskündigungen in Umwandlungsfällen von drei auf fünf Jahre ist zuwenig. Die SPD fordert mindestens sieben, besser noch zehn Jahre. Darüber hinaus müssen Umwandlungen generell erschwert werden durch die Einführung des zonierten Satzungsrechtes für Kommunen, die damit befristet Umwandlung in Problemgebieten untersagen können, oder durch konsequente Anwendung strenger Kriterien bei der Erteilung der sogenannten Abgeschlossenheitsbescheinigungen, die erforderlich sind, um Mietwohnungen umzuwandeln, oder durch die Reduzierung der steuerlichen Anreize für Wohnungserwerb aus dem Bestand durch eine Umgestaltung der Eigentumsförderung auf Abzug von der Steuerschuld und Verstärkung der Neubaukomponente. Dringend erforderlich sind schließlich Verbesserungen im Mietrecht: Um die Mietenexplosion zu bremsen, muß für die Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete wieder der gesamte Wohnungsbestand zugrunde gelegt werden. Die höchstzulässige Erhöhung der Miete im Bestand - heute in drei Jahren 30 % - muß deutlich reduziert werden. ({7}) - Das sind Anträge, die seit Jahren im Bundestag liegen, Frau Oesterle-Schwerin. Überlegen Sie mal, wer hier von wem abschreibt! Diese drei wichtigen Bereiche, wirklicher sozialer Wohnungsbau, Schutz gegen Umwandlungsspekulationen und wirksame Verbesserungen des Mietrechts, sind mit der Koalition nicht zu machen. Im Gegenteil, durch Zuwarten und falsche Politik auch in anderen Bereichen haben Sie die Verantwortung für die sich zuspitzende Wohnungsnot und die Mietenwillkür zu tragen. Wer erst von außen gedrängt werden muß, Schritte in die richtige Richtung einzuleiten, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Wenn Wohnungsnot Chefsache ist, der Chef aber nichts tut, dann sollten die Wohnungssuchenden und die Mieter den Chef bei nächster Gelegenheit feuern. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe jetzt erst einmal das Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages bekannt. Mitgliederzahl 519, abgegebene Stimmen 476, davon 473 gültige Stimmen, Enthaltungen 25, ungültige Stimmen 3. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Biehle 249 Stimmen, auf den Abgeordneten Jungmann 199 Stimmen. Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages wäre derjenige gewählt gewesen, der die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhalten hätte. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages einschließlich der Mitglieder des Landes Berlin beträgt mindestens 260 Stimmen. Damit hat hier keiner der vorgeschlagenen Abgeordneten die ausreichende Mehrheit erhalten. Meine Damen und Herren, wir müssen erneut in die Wahl zum Wehrbeauftragten eintreten. Der Zeitpunkt für die Wahl des Wehrbeauftragten wird Ihnen rechtzeitig bekanntgegeben. Dazu sind sicherlich erst neue Überlegungen nötig. ({0}) Meine Damen und Herren, wir fahren in den Beratungen fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die mit der Drucksache 11/6773 vorgelegten Änderungen des Wohnungsbindungsgesetztes verfolgen im wesentlichen zwei Ziele:... ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich bitte, die Gespräche doch nicht hier vorn vor der Rednertribüne zu führen. Bitte, Herr Hitschler, Sie haben wieder das Wort.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

... erstens der erleichterte Tausch von Sozialwohnungen, zweitens die Festlegung der Nachwirkungsfristen bei vorzeitiger Rückzahlung öffentlicher Baudarlehen auf die früher geltende Zeitdauer. Die Freien Demokraten stimmen diesen Änderungsvorschlägen mit Bedenken zu, die daher rühren, daß wir gegen das System des sozialen Wohnungsbaus insgesamt Bedenken haben. Die Zustimmung wird uns dadurch erleichert, daß diese kosmetischen Korrekturen an der bejahrten Dame sozialer Wohnungsbau ihr Make-up vielleicht etwas freundlicher erscheinen läßt. Blicke begeisternder Bewunderung kann uns das Bild einer in die Jahre gekommenen Diva, die ihren jugendlichen Glanz verloren hat und deren Fältchen mühsam immer wieder geliftet werden müssen, freilich nicht entlocken, Herr Conradi. An diesem Gesetzentwurf offenbart sich die ganze Schwäche des sozialen Wohnungsbaus alter Prägung. Eine Fülle von Reglementierungen zieht immer wieder neue Interventionen nach sich, weil eine noch so hohe Regelungsdichte hie und da doch noch eine Ungerechtigkeit im Detail ermöglicht, die wiederum durch einen erneuten Eingriff beseitigt werden soll. Was wird mit dem neuerlichen Facelifting bezweckt? Der Tausch von Sozialwohnungen soll künftig erleichtert werden, weil festgestellt werden kann, daß größere Sozialwohnungen vielfach unterbelegt sind, weil beispielsweise die Kinder aus dem Hause sind oder der Lebenspartner bereits verstorben ist, ({0}) so daß eine Einzelperson eine Sozialwohnung mit vier Zimmern, Küche, Bad bewohnt, während eine junge Familie mit zwei Kindern keine entsprechende Sozialwohnung findet. ({1}) Ein freiwilliger Tausch scheiterte bisher daran, daß in nicht wenigen Fällen die Einzelperson, inzwischen zum Fehlbeleger geworden, keinen Anspruch mehr auf eine andere, auch nicht kleinere Sozialwohnung hat und keinen Wohnberechtigungsschein mehr bekommt. Die ältere Dame im fünften Stock könnte also nicht ins Parterre ziehen, eine unterbelegte größere Wohnung könnte nicht im Tausch gegen eine kleinere freigemacht werden. Deshalb machen wir es jetzt möglich, und zwar amtlich, daß ein Fehlbeleger Anspruch auf eine kleinere Sozialwohnung bekommt, ohne daß er in den ersten drei Jahren eine Fehlbelegungsabgabe entrichten muß. ({2}) Wir müssen also Ausnahmen in unserem sozialen Anspruch an das Gesetz machen, um die Fiktion der sozialen Gerechtigkeit im sozialen Wohnungsbau insgesamt nicht aufgeben zu müssen. Wenn es denn der sozialen Gerechtigkeit dient, soll es uns recht sein. Ob diese komplizierten Detailregelungen in der Praxis wirksam werden, mögen wir freilich bezweifeln, ({3}) weil wir befürchten, das Dickicht der Einzelregelungen ist so dicht geworden, daß es für die Bürger undurchdringlich zu sein scheint. ({4}) Wir stimmen also nach dem Motto zu: Ob es hilft, wissen wir nicht, schaden tut es in keinem Fall. ({5}) Mit dem zweiten Ziel dieses Änderungsgesetzes, der Verlängerung der sogenannten Nachwirkungsfristen bei unfreiwilliger vorzeitiger Rückzahlung von zehn auf zwölf Jahre und bei freiwilliger vorzeitiger Rückzahlung öffentlicher Baudarlehen von acht auf zehn Jahre wird angestrebt, in einer Zeit akuter Wohnungsengpässe die Sozialbindung angemessen lange aufrechtzuerhalten. In dieser Regelung scheint für die jeweilige Bundesregierung ein gewisses Maß an Aktivitätspotential zu liegen. Varianten der Sätze nach oben bzw. nach unten unterstreichen die Handlungsfähigkeit des jeweiligen Bauministers und signalisieren seine Bereitschaft zum aktiven Handeln. In der sozialliberalen Koalition haben wir diese Fristen von zehn bzw. zwölf Jahre auf acht bzw. zehn Jahre gesenkt. Die christlichliberale Koalition erhöht jetzt ({6}) diese Fristen wieder von acht bzw. zehn Jahre auf zehn bzw. zwölf Jahre. Gymnastische Übungen halten die alte Dame fit. ({7}) Doch im Ernst, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist gegen Kniebeugen dieser Art nichts einzuwenden, wenn demjenigen, der öffentliche Baudarlehen in Anspruch nimmt, die Bedingungen einer vorzeitigen Rückzahlung bei Vertragsabschluß bekannt sind. Eine Verlängerung der Nachwirkungsfristen rückwirkend auf bestehende Vertragsverhältnisse kommt für uns freilich nicht in Frage, weil dies einen erheblichen Mißbrauch des Vertrauenschutzes bedeutet hätte, den der Vertragspartner im Glauben auf die Verläßlichkeit gesetzlicher Regelungen bei einem Vertragsabschluß in einem Rechtsstaat genießen sollte. ({8}) Daß die Opposition bereit ist, verfassungsrechtliche Bedenken um eines Silberlings willen sozusagen über Bord zu werfen, muß uns schon bedenklich stimmen. Der Stichtag 31. Dezember 1989 wurde gewählt, um nicht durch den Ankündigungseffekt des Gesetzes eine Welle vorzeitiger Rückzahlungen auszulösen. Diejenigen, die in der Zeit vom 1. Januar 1990 bis jetzt im Vertrauen auf die alten Fristen öffentliche Baudarlehen in Anspruch genommen haben, sind im Falle einer beabsichtigten vorzeitigen Rückzahlung, was angesichts der Zinsentwicklung wahrlich nicht zu erwarten ist, auf den Rechtsweg zu verweisen. Die Verlängerung der Nachwirkungsfristen bewirkt im übrigen, daß sich der Topf, in den diese Mittel fließen, um zweckgebunden wieder dem sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stehen, langsamer füllt. Diese Nachwirkung mag den einen die Freude bei der Zustimmung dämpfen, anderen das Unbehagen. Kurioserweise liegt uns neben der Beschlußempfehlung des Ausschusses ein Gesetzentwurf des Bundesrates vom 7. Dezember 1989 vor, der begehrt, daß die für den sozialen Wohnungsbau zweckgebundenen Darlehensrückflüsse von den Ländern künftig auch für städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen Verwendung finden können. Dieses Begehren erscheint deshalb kurios, weil damit von Länderseite eingestanden wird, daß die Länder die Rückflüsse aus Wohnungsbaudarlehen zur Finanzierung anderen Ausgabenbedarfs verwenden möchten, obwohl immer wieder darüber geklagt wird, es stünden nicht genügend Mittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. ({9}) - Beispielsweise hat auch das Land Ihres Kanzlerkandidaten Lafontaine dieser Regelung zugestimmt, Herr Müntefering. Der Antrag ging von Hessen aus. Dies sollte uns etwas gelassener machen gegenüber den immer wieder erhobenen Forderungen, den unsozialen, ineffektiven und teuren sozialen Wohnungsbau mit immer mehr Milliarden zu fördern, ohne Rücksicht auf die Wirkungen, die davon auf die Zinshöhe ausgehen. Es ist schon frappierend, mit welcher Zähigkeit manche Zeitgenossen die wirtschaftliche Unvernunft lautstark proklamieren und dabei noch Beifall für das Gutgemeinte, aber Schlechtbedachte finden. Wir möchten bei dieser Gelegenheit noch einmal darauf aufmerksam machen, daß diese Rückflüsse aus Wohnungsbaudarlehen besser dafür verwendet werden sollten, daß sich die Kommunen Belegrechte erwerben, um ihrer Wohnungsfürsorgepflicht gegenüber Mitbürgern, die aus vielerlei Gründen Zugangsprobleme am Wohnungsmarkt haben, nachkommen zu können. ({10}) Bei Übernahme einer Miet- und Instandsetzungsgarantie durch die Gemeinde gegenüber dem Vermieter ließen sich Wohnungen in ausreichender Zahl im vorhandenen Bestand für diese Zwecke finden. In verschiedenen Gemeinden wird dieses System bereits erfolgreich praktiziert. Mit seiner Hilfe ist es in jedem Falle möglich, mehr Wohnungen mit weniger öffentlichen Mitteln für die soziale Wohnungsfürsorge zu beschaffen. Den Neubau von Wohnungen sollte man daher getrost dem privaten Sektor überlassen und nicht den Datenkranz eines freien Wohnungsmarktes über Gebühr durch staatliche Einflußnahme stören. Wir bedauern, daß wir von einem freien Wohnungsmarkt noch meilenweit entfernt sind, daß die Einsicht dafür, daß ein erheblich erweitertes Wohngeld für Mitbürger mit Mietzahlungsschwierigkeiten und der Erwerb von Belegrechten für Mitbürger mit Schwierigkeiten, überhaupt eine Wohnung zu finden, die effektiveren und gerechteren sozialen Korrekturen für einen freien Wohnungsmarkt darstellen, noch keine breitere Basis gefunden hat. Aber das macht auch deutlich, daß auf die Liberalen künftig noch reichlich Missionsarbeit wartet. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und liebe Zuhörerinnen! Wir haben überhaupt nichts dagegen, wenn die Bundesregierung die Hemmnisse, die dem Tausch einer großen sozialen Mietwohnung gegen eine kleine im Wege stehen, jetzt beseitigt. ({0}) Aber bitte versuchen Sie nicht, diese durch Ihre verfehlte Wohnungspolitik notwendig gewordenen Maßnahmen - denn es gibt viel zuwenig große Wohnungen - eines Tages als wohnungspolitische Heldentat zu verkaufen; denn das sind sie weiß Gott nicht. ({1}) Der Gewinn wird im Vergleich zu den Verlusten, die Ihre Wohnungspolitik bisher schon verursacht hat, verhältnismäßig gering sein. Die ganze Sache ist der Rede kaum wert. ({2}) - Gott sei Dank gibt es auch noch intelligentere Vorschläge. ({3}) Der Bundesrat hat hingegen in seinem Antrag zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes den Finger tatsächlich auf einen der wundesten Punkte der bundesdeutschen Wohnungspolitik gelegt. Dieser wunde Punkt ist die Tatsache, daß Bund und Länder zwar seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland enorme Summen in den sozialen Mietwohnungsbau gesteckt haben, der öffentlichen Hand, den Wohnungsämtern der Kommunen dadurch aber nicht die Möglichkeit gegeben haben, dauerhaft über die Vergabe und die Mietpreise dieser Wohnungen zu bestimmen. Man hat einerseits viel Geld in den sozialen Mietwohnungsbau investiert, ({4}) andererseits die Verfügungsgewalt über diese Wohnungen den Investoren überlassen, und das war falsch. ({5}) In der bundesdeutschen Wohnungspolitik galt von Anfang an folgendes Prinzip: Bund und Länder zahlen, Unternehmer schöpfen die Gewinne ab. ({6}) Anstatt einen dauerhaften Bestand an sozial gebundenen Wohnungen zu schaffen, der zur dauerhaften Sicherung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung dringend notwendig gewesen wäre, machte man aus dem öffentlich geförderten Wohnungsbau ein sehr lukratives Geschäft für Investoren. ({7}) Unternehmer, die sich im herkömmlichen sozialen Wohnungsbau engagierten, mußten für jede Wohnung nur 15 % Eigenkapital aufbringen, die sie zudem von Anfang an mit 4 % verzinst bekommen haben, was im frei finanzierten Wohnungsbau keineswegs üblich ist. Sie brauchten nur 15 % Eigenkapital einzubringen, die restlichen 85 % wurden vom Staat über Darlehen vorfinanziert, die über die Mieten abbezahlt wurden, wodurch die Entschuldungsgewinne der Unternehmer von Jahr zu Jahr gestiegen sind. Sie hätten also auch ohne den Ablauf der Bindungen, also auch bei Dauerbindungen, mit einer hohen Eigenkapitalverzinsung rechnen können. Durch die Begrenzung der Bindungsdauer auf 30 Jahre bzw. durch die Möglichkeit, nach Ablauf der Bindungen frei über die Wohnungen zu verfügen, kommt die Wertsteigerung, die die Wohnungen in der Zwischenzeit erfahren haben, zur Eigenkapitalverzinsung und zu den Entschuldungsgewinnen hinzu. Jährliche Kapitalverzinsungen von ca. 11 % - ohne jegliches Risiko, versteht sich - waren in dieser Branche überhaupt keine Seltenheit. Die Möglichkeit, durch vorzeitige Rückzahlung der Darlehen auch vorzeitig aus der Bindung auszusteigen, eine Möglichkeit, die nicht von Anfang an vereinbart war, sondern den Investoren als Bonbon im nachhinein noch geschenkt worden ist, ist durch gar nichts zu rechtfertigen. Sie hat einzig und allein den Zweck, den Zeitpunkt der freien Verfügung über die Wohnungen vorzuziehen und damit zu einer noch schnelleren Kapitalvermehrung beizutragen. Kolleginnen und Kollegen, es war von Anfang an falsch, die Miet- und Belegungsbindungen im sozialen Wohnungsbau auf 30 Jahre zu begrenzen. Es war falsch, den vorzeitigen Ausstieg aus den ohnehin zu kurzen Bindungen zu ermöglichen, und es ist heute absolut falsch, mit enormen Summen Wohnungen zu fördern, die nur noch fünf bis zehn Jahre lang gebunden sind. ({8}) Angesichts der heute erkennbaren Folgen dieser miserablen Wohnungspolitik - es sind bereits über eine Million Wohnungen aus der Bindung gefallen, und wir wissen, daß bei gleichbleibendem Tempo bis zum Jahre 1995 überhaupt nur noch eine Million soziale Mietwohnungen übrig sein werden - hat der Bundesrat vollkommen recht, wenn er jetzt versucht, die Notbremse zu ziehen und die Nachwirkungsfrist beim vorzeitigen Ausstieg aus den Bindungen auf zwölf Jahre zu verlängern. Es ist sozusagen der Versuch, wenigstens einen Fehler der bundesdeutschen Wohnungspolitik zu korrigieren. Wir können diese Forderung nur unterstützen, sind allerdings der Auffassung, daß diese Notbremse den in den Abgrund rasenden Karren nur dann aufhalten wird, wenn das Gesetz auch für solche Wohnungen Gültigkeit bekommt, für die die Darlehen bereits zurückgezahlt wurden und deren viel zu kurze Nachwirkungsfrist bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes in Lauf gesetzt wurde; dies hat auch der Innenausschuß des Bundesrates gefordert. Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dem sogenannten Vertrauensschutz für die armen Unternehmer, die in dem guten Glauben, sie könnten die Wohnungen innerhalb von kurzer Zeit aus der Bindung lösen, ihre Darlehen bereits zurückgezahlt haben, in der Hoffnung, sie könnten die Wohnungen noch schneller teuer verkaufen oder vermieten! Bitte kommen Sie mir nicht mit dem Argument des Vertrauensschutzes für diese Unternehmer! Denn wer denkt eigentlich an den Vertrauensschutz für Mieterinnen und Mieter? Wer denkt eigentlich an Tausende und aber Tausende von Sozialmieterinnen, ({9}) die ihre Wohnungen im Vertrauen darauf bezogen haben, daß sie dort bis zum Ablauf der von Anfang an vorgesehenen Bindungsfrist ungestört und geschützt vor Unternehmerwillkür weiter wohnen bleiben können? Wer denkt an den Vertrauensschutz von Mieterinnen und Mietern, und warum ist der Vertrauensschutz für Unternehmer in diesem Land so viel mehr wert als der Vertrauensschutz für Mieterinnen und Mieter? ({10}) Kolleginnen und Kollegen, wenn die SPD-Fraktion nicht den Mut dazu aufbringt, den Antrag des mehrheitlich SPD-besetzten Innenausschusses des Bundesrates zu übernehmen - es ist ja der einzige Antrag des Bundesrates, den die SPD-Fraktion nicht übernommen hat - , dann machen wir das eben. ({11}) - Wenn Sie Ihren Genossinnen und Genossen im Bundesrat bei der Abstimmung nachher in den Rükken fallen wollen - ({12}) - Sie übernehmen das nicht! ({13}) - Ich lasse die Zwischenfrage zu.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Großmann.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Oesterle-Schwerin, ist Ihnen bekannt, daß dieser Antrag bei der Schlußabstimmung im Bundesrat nicht zur Debatte gestanden hat und daß auch im Gesetzentwurf des Bundesrates, ebenfalls in den Gegenäußerungen der Bundesregierung dieses Thema gar nicht behandelt wird?

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, das ist mir bekannt. Dennoch wurde der Antrag von den Genossen Ihrer Partei in den Innenausschuß eingebracht und dort mehrheitlich verabschiedet. Ich halte ihn auch für einen vernünftigen Antrag. Wenn Sie ihn nicht übernehmen, dann übernehmen wir ihn. Wir sind der Meinung, daß die Nachwirkungsfristen auch für diejenigen Wohnungen verlängert werden müssen, deren Darlehen bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes zurückgezahlt wurden und bei denen die viel zu kurze Nachwirkungsfrist bereits in Lauf gesetzt wurde. Uns ist der Vertrauensschutz für Mieterinnen und Mieter mehr wert als der Vertrauensschutz für Investoren. Das sage ich hier ganz ausdrücklich. Grundsätzlich sind wir natürlich der Meinung, daß der ganze § 16, nach dem der vorzeitige Ausstieg aus den Bindungen überhaupt möglich ist, weg muß. Es darf überhaupt keinen vorzeitigen Ausstieg aus den Bindungen mehr geben. Das haben wir bereits in unserem Obdachlosenantrag gefordert. Wir haben das ebenfalls in unserem Antrag ökologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot gefordert. Wir fordern das heute wieder. Kein frühzeitiger Ausstieg aus den Bindungen darf mehr möglich sein, und in Zukunft dürfen nur noch solche Wohnungen gefördert werden, die dauerhaft sozial gebunden sind. Einmal öffentlich gefördert muß heißen: dauerhaft sozial gebunden. Nur wenn Sie dieses Prinzip übernähmen, würde es gelingen, die Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu lösen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Hitschler?

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Oesterle-Schwerin, sind Sie gewillt, mir zuzustimmen, wenn ich sage, daß bei einer dauerhaften Bindung, die Sie vorschlagen, der Aufwand der öffentlichen Hand, also der Subventionsbedarf, für eine Sozialwohnung wesentlich höher wäre, als er gegenwärtig ist, und daß Sie bei entsprechend erhöhtem Aufwand wesentlich weniger Sozialwohnungen bauen könnten, als dies gegenwärtig geschieht?

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, das trifft absolut nicht zu. Der Aufwand der öffentlichen Hand ist dann am höchsten, wenn Sie die Mittel den Unternehmern zukommen lassen und ihnen anschließend die Verfügungsgewalt über die Wohnungen überlassen. ({0}) Wir haben Modelle entwickelt, bei denen wir nachweisen, daß es mit den Mitteln, die der Bund jetzt ausgibt und jetzt an die Unternehmer verschleudert, verschenkt, möchte ich sagen, möglich wäre, die gleiche Anzahl von Wohnungen zu bauen, und zwar in dauerhafter Bindung. Kommen Sie in unser Büro; ich werde es Ihnen erläutern. Es kommt demnächst sowieso in den Ausschuß. ({1}) - Milchbübchen! ({2}) So, vielleicht darf ich das abschließen: „Einmal öffentlich gefördert" muß heißen „dauerhaft sozial gebunden" . Wir sehen ein, daß wir dies mit Positionen, wie sie hier vertreten werden und wie sie in dieser Regierung vertreten werden, nicht werden durchsetzen können. Wir brauchen eine neue Regierung. Wir erhoffen allerdings von einer neuen Regierung, daß diese Positionen dann von ihr auch übernommen werden. Die Wahl einer SPD-Regierung allein ohne die Übernahme von Positionen der GRÜNEN in der Wohnungspolitik würde auch keine Änderungen herbeiführen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Echternach. ({0})

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Großmann, ich will nicht zu der Streitfrage zwischen Frau Oesterle-Schwerin und Ihnen Stellung nehmen, wer von wem abgeschrieben hat. ({0}) Ich möchte nur feststellen: Beim Wohngeld haben Sie voll von der Bundesregierung abgeschrieben, und was das Copyright dieser Anträge angeht, die heute eingereicht worden sind, so liegt es auch nicht bei Ihnen, sondern diese Anträge sind samt und sonders vom Bundesrat abgeschrieben. Im übrigen ist es unbestritten, daß wir auf dem Wohnungsmarkt vor einer schwierigen Situation stehen. Auch die hohe Zahl der Übersiedler hat in den letzten Monaten die Situation am Wohnungsmarkt weiter verschärft. Insofern sind die Ergebnisse der DDR-Wahlen vom 18. März auch für unseren Wohnungsmarkt von ganz erheblicher Bedeutung. Der Wahlsieg der Allianz für Deutschland hat die Zuversicht begründet, daß es sehr schnell zur notwendigen wirt15916 schaftlichen und sozialen Erneuerung in der DDR kommen wird wie auch zur staatlichen Einheit. Damit sind die Voraussetzungen für bessere Lebensbedingungen für die Menschen drüben spürbar besser geworden. Inzwischen ist auch die Zahl der Übersiedler aus der DDR deutlich zurückgegangen. Unser Wohnungsmarkt wird damit weniger belastet. ({1}) Natürlich bedeutet das, daß die Bundesregierung in ihren wohnungspolitischen Anstrengungen nicht nachlassen wird. ({2}) Ebensowenig werden wir uns aber von unserem wohnungspolitischen Kurs abbringen lassen, Herr Kollege Müntefering. ({3}) Diese Wohnungspolitik der Bundesregierung ({4}) sorgt für verläßliche, stabile Rahmenbedingungen. ({5}) Sie mobilisiert anlagebereites Kapital für den Wohnungsbau und setzt damit die Kräfte des Marktes frei. Zu dieser Politik, die durch gezielte soziale Hilfen ergänzt wird, gibt es keine Alternative. ({6}) Jede Politik gegen das Engagement, gegen die Initiative und gegen die Finanzkraft der Privaten ist zum Scheitern verurteilt, weil sie im Ergebnis die Ausweitung des Wohnungsangebots behindert. ({7}) Wer allein auf den Staat setzt, Herr Kollege Menzel, der mag sich einmal außerhalb unserer Grenzen umsehen, und er wird sehen, wohin eine solche Politik führt. ({8}) Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, daß wir offen sagen: Es ist nicht möglich, den Wohnungsmangel über Nacht zu beseitigen. ({9}) Neue Wohnungen, Herr Kollege Conradi, lassen sich nicht über Nacht herbeizaubern, und auch Sie haben kein Patentrezept dafür. Der Zeitraum zwischen Planung und Bezugsfertigkeit läßt sich nun einmal nicht beliebig verkürzen, und die Baukapazitäten sind ausgelastet. An diesen Tatsachen kommen auch diejenigen nicht vorbei, die jetzt Luftschlösser bauen und so tun, als hätten sie Patentrezepte in der Tasche. Wer die Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt, der sollte sich auch davor hüten, unrealistische Erwartungen aufzubauen. ({10}) Die Bundesregierung ist bei der Verwirklichung ihrer wohnungspolitischen Ziele Schritt für Schritt vorangekommen. Unser Maßnahmenpaket vom Herbst letzten Jahres ({11}) erweist sich, Herr Kollege Großmann, zunehmend als erfolgreich. Im letzten Jahr hatten wir eine Zunahme der Baugenehmigungen um fast 30 % - und das ist das beste Ergebnis seit fünf Jahren - zu verzeichnen. Beim Mehrfamilienhausbau haben wir sogar eine Zunahme der Baugenehmigungen um 66 % festzustellen. ({12}) Auch im sozialen Wohnungsbau hat sich unser verstärktes Engagement ausgezahlt. Wir haben im letzten Jahr eine Zunahme der Bewilligungen um über drei Viertel - um 76 % - auf inzwischen über 68 000 Bewilligungen zu verzeichnen. Nach den Planungen von Bund und Ländern können wir in diesem Jahr im sozialen Wohnungsbau Neubewilligungen von über 100 000 Wohneinheiten erwarten. Ein Volltreffer wurde auch das Ausbau- und Anbauprogramm. Die Mittel, die wir dafür bereitgestellt hatten, waren in wenigen Wochen vergriffen. Wir haben die Mittel zweimal aufgestockt und können allein auf diesem Wege mit zusätzlichen 50 000 Wohnungen rechnen. Diese Zahlen zeigen, daß wir mit unserem Maßnahmepaket vom Herbst letzten Jahres auf dem richtigen Wege sind. Ich halte es deshalb auch für falsch, den Anstieg der Zinsen zu dramatisieren. Heute befassen wir uns mit weiteren Maßnahmen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Bei den Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und des Bundesrates geht es um die bessere Nutzung des vorhandenen Wohnungsbestandes. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung will den Wohnungstausch im sozialen Wohnungsbau erleichtern. Größere Sozialwohnungen sind heute oft unterbelegt, z. B. weil die Kinder ausgezogen sind oder der Ehepartner verstorben ist. Wenn diese Bewohner ihre unterbelegte Wohnung einer kinderreichen Familie zur Verfügung stellen wollen, sie also gegen eine kleinere Wohnung eintauschen wollen, dann sollen ihnen in Zukunft dabei keine Steine in den Weg gelegt werden. ({13}) - Nein, das ging nicht. Das war so nach dem Wohnungsbindungsgesetz. ({14}) Nach dem Wohnungsbindungsgesetz war eine neue Einkommensprüfung erforderlich. - Dies gilt genauso, wenn ältere Menschen aus dem Obergeschoß ins Parterre umziehen wollen oder wenn sie sich eine Wohnung in der Nähe ihrer Kinder suchen. In diesen Fällen soll der Wohnungstausch in Zukunft unabhängig vom Einkommen möglich werden. Diese Neuregelung wird dazu führen, daß größere und preiswerte Sozialwohnungen verstärkt für kinderreiche Familien zur Verfügung stehen. Für ältere Menschen schaffen wir damit die Möglichkeit, eine Wohnung zu beziehen, die ihren besonderen Bedürfnissen eher entspricht. Insgesamt sorgen wir dafür, daß der Sozialwohnungsbestand besser genutzt wird. Das ist ein Gebot wohnungspolitischer Vernunft und orientiert sich gleichzeitig unmittelbar an den Interessen der Menschen. Etwa 10 % des Wohnungsbestandes im sozialen Wohnungsbau können von dieser Neuregelung betroffen sein. Natürlich kann niemand vorhersagen, wie sehr sie tatsächlich in Anspruch genommen wird; denn sie beruht ja auf Freiwilligkeit. Entscheidend aber ist, daß wir einmal mehr bürokratische Hürden beiseite räumen und den Freiraum für die Bürgerinnen und Bürger vergrößern. Dies entspricht auch der zentralen Zielsetzung der Bundesregierung, die wir auch in anderen Bereichen der Politik verfolgen. Die Bundesregierung hat auch den Vorschlag aufgegriffen, bei vorzeitiger Rückzahlung der öffentlichen Mittel im sozialen Wohnungsbau die Nachwirkungsfristen für die Belegungsbindungen und die Mietpreisbindungen zu verlängern. ({15}) - Diese Anregung kommt aus dem Bundesrat. ({16}) Wir haben sie genau in der Form aufgegriffen, Herr Kollege Müntefering, wie sie einmal in den 70er Jahren bestanden hat, bevor Sie diese Nachwirkungsfrist in Ihrer Regierungszeit im Jahre 1981 verkürzt hatten. ({17}) Das heißt, hier ist ein Stück Erblast vorhanden gewesen, die wir nun aufbereiten. Wir sorgen dafür, daß der Fehler, den Sie 1981 begangen haben, wieder korrigiert wird, daß also die Nachwirkungsfrist wieder verlängert wird, und zwar genau auf den Stand, wie er von 1972 bis 1980 bestanden hat. ({18}) Dies wird gerade den Mietern und auch den Gemeinden zugute kommen, die sich in einer besonders angespannten Wohnungsmarktsituation befinden. Auch die Gesetzesinitiative des Bundesrates, bei vorzeitiger Rückzahlung der öffentlichen Mittel den Zinssatz für Ersatzfinanzierungsmittel zu begrenzen, findet die Unterstützung der Bundesregierung. In Zukunft können also vorzeitige Darlehensrückzahlungen nicht mehr zum Anlaß genommen werden, die Mieten der betroffenen Sozialwohnungen zu erhöhen. Damit wird zugleich der Anreiz für vorzeitige Rückzahlung der öffentlichen Mittel verringert und der Verkürzung der Belegungs- und Mietpreisbindungen eine Grenze gesetzt. Die geplanten Änderungen des Wohnungsbindungsgesetzes gehen Hand in Hand mit dem verstärkten Engagement des Bundes im sozialen Wohnungsbau. Wir haben durch die Aufstockung der Mittel auf 2 Milliarden DM jährlich deutlich gemacht, daß für uns die soziale Absicherung ein zentrales Anliegen unserer wohnungspolitischen Offensive ist. Hierbei stehen Bund, Länder und Gemeinden in einer gemeinsamen Verantwortung. Um so weniger Verständnis habe ich dafür, daß auf Initiative des Bundesrates jetzt die Rückflußmittel aus dem sozialen Wohnungsbau auch für andere Zwecke eingesetzt werden sollen, nämlich für städtebauliche Maßnahmen. ({19}) - Das hat der Bundesrat beantragt, wie Sie wissen, dem Sie ja auch sonst gefolgt sind. ({20}) - Sie wissen, Herr Kollege Müntefering, daß sozialdemokratische Länder genauso daran beteiligt waren wie unionsgeführte Länder. ({21}) Insofern werden wir diesem Anliegen nicht folgen. Es wäre vielleicht in einer Situation verständlich gewesen, die wir vor einigen Jahren hatten, bei vielen leerstehenden Sozialwohnungen. Angesichts der heutigen Wohnungsmarktlage wäre ein solcher Beschluß unvertretbar. Gerade beim sozialen Wohnungsbau wird deutlich, mit welch fragwürdigen Argumenten die wohnungspolitische Diskussion immer wieder geführt wird. Der Mieterbund und der DGB haben in der letzten Woche in einem gemeinsamen Papier gefordert, daß der Bund alleine in jedem Jahr 10 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen soll. Diese Forderung ist weder neu, noch wird sie durch ständige Wiederholung richtiger. Wer das Baugeschehen nur einigermaßen verfolgt, der weiß, daß die Baukapazitäten an ihre Grenzen stoßen. Heute wird über eine Stellungnahme des DIW unter der Überschrift „Produktionsausweitung konnte mit Nachfrageboom nicht mehr Schritt halten" berichtet. Dieses Institut steht Ihnen ja nicht allzu fern. Zusätzliche Milliardenprogramme würden die heute schon vorhandenen Engpässe weiter verschärfen und inflationäre Tendenzen im Baubereich auslösen. Das würde viele Hoffnungen auf eigene vier Wände zerstören. Es würde auch den Neubau der Sozialwohnungen kräftig verteuern. Die Wohnungssuchenden hätten den Schaden davon. Niemandem wäre damit geholfen. ({22}) Genauso wenig hilfreich ist die Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen, wie wir es aus der DDR-Verfassung kennen, einschließlich der dort ver15918 ankerten Pflicht des Staates, Wohnungen instandzuhalten. Die Wohnungsmarktsituation in der DDR macht deutlich, was von einem solchen Grundrecht zu halten ist und daß es völlig wertlos ist, wenn es nur auf dem Papier steht und nicht durch konkrete politische Maßnahmen begleitet wird. Drüben sind drei Viertel der Wohnungen sanierungsbedürftig, wie die OstBerliner Regierung selbst sagt, d. h. drei Viertel der Wohnungen befinden sich in einem verfassungswidrigen Zustand. Auch die Menschen in der DDR brauchen eine Wohnungspolitik, die sich ihrer sozialen Verantwortung stellt. Sie muß neuen Wohnraum schaffen, und sie muß gleichzeitig die dringend notwendige Sanierung des vorhandenen Wohnungsbestandes ermöglichen. Im Unterschied zu den Vorstellungen der Opposition ist das wohnungspolitische Konzept der Bundesregierung ausgewogen und langfristig tragfähig. Wir werden den gegenwärtigen Mangel an Wohnraum schrittweise abbauen und soziale Härten beseitigen. Für jeden sinnvollen Vorschlag sind wir dabei offen. Die geplante Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes ist ein weiterer Baustein unserer wohnungspolitischen Offensive. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu diesem Vorhaben. ({23})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war schon interessant, wie jetzt auch der Staatssekretär die Möglichkeit des Wohnungstausches hier angesprochen hat. Da wird gesagt: Wer jetzt freiwillig aus einer unterbelegten Wohnung in eine kleinere Wohnung umzieht, der soll das unbeschadet seiner Wohnberechtigung können. Die Praxis in den Städten war schon seit vielen Jahren so, daß das gemacht worden ist. Was jetzt nur schlimm ist, Herr Staatssekretär, ist der moralische Zeigefinger, der bei Ihnen immer mehr durchkommt, daß man den alten Menschen jetzt nahelegt, sie sollen aus den Wohnungen herausgehen. Wir wehren uns ganz entschieden dagegen. Wir werden jedenfalls die Wohnungsnot, die wir bei uns im Lande haben, nicht auf dem Rücken der alten Menschen, Frauen und Männer, lösen, ({0}) die schon 10, 20 oder 30 Jahre in solchen Wohnungen wohnen und die jetzt von Ihnen hören müssen: Zieht doch mal bitte in eine kleinere Wohnung um. Wir sagen, wir müssen mit den Problemen fertigwerden, ohne daß wir den älteren Menschen sagen: Geht ihr mal bitte schön da heraus. ({1}) Das, was Sie beschrieben haben, ist schon längst Praxis in vielen Städten und Gemeinden gewesen. Aber das zeigt nur, daß Sie, die Wohnungspolitiker der Koalition, offensichtlich den Kontakt zur Basis und zur Realität vor Ort verloren haben. ({2}) Was ist denn los bei uns in der Bundesrepublik? 200 000 Haushalte sind ohne Obdach, ohne Dach über dem Kopf. Eine Million und mehr haben Angst davor, aus ihren Wohnungen verdrängt zu werden, oder sie suchen Wohnungen, weil sie menschenunwürdig oder völlig unzureichend untergebracht sind. Das IfoInstitut hat sich in der letzten Woche mit diesem Thema beschäftigt und hat seine Meinung kundgetan: 1,7 Millionen Wohnungen fehlen in der Bundesrepublik Deutschland. Und Sie sagen: Es ist im Grunde alles in Ordnung; ein bißchen nachsteuern, dann wird das Ganze schon funktionieren. Sie unterschätzen auch die Angst, die viele Mieter haben, aus ihren Wohnungen verdrängt zu werden ({3}) oder irgendwann ihre Wohnung nicht mehr bezahlen zu können. - Herr Geis, Sie wissen nicht, was in den großen Städten los ist, sonst würden Sie hier nicht so dazwischenreden ({4}) und so tun, als ob das alles völlig harmlos wäre. Wenn heute in den großen Städten Wohnungen neu vermietet werden, ist die durchschnittliche neue Miete 13,10 DM pro Quadratmeter plus Heizkosten plus städtische Gebühren. 18 DM, 20 DM pro Quadratmeter, das kann kein Normalverdiener mehr bezahlen. Deshalb haben die am freien Markt in den großen Städten und Gemeinden keine Chance mehr, an dem freien Markt, den Sie immer so bejubeln. In den großen Städten gibt es bei Neuvermietung Mietsteigerungen um 30 % und mehr. Das heißt, ein Normalverdiener hat am freien Markt keine Chance mehr, sich eine Wohnung zu besorgen. Was die Entwicklung der Menge angeht: 350 000 bis 400 000 Wohnungen pro Jahr brauchen wir, um überhaupt Gleichstand zu halten. Gebaut werden in diesem Jahr 280 000 bis 300 000 Wohnungen, wenn es denn ganz gut geht. Das heißt, auch im Jahre 1990 nimmt die Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland wieder zu. Nun freuen Sie sich darüber, daß weniger Übersiedler kommen. Darüber freue ich mich auch. Aber eine Beruhigung ist das überhaupt nicht. Die 1,7 Millionen Wohnungen fehlen jetzt, nicht Ende des Jahres. Da muß jetzt mehr getan werden ({5}) und nicht darüber philosophiert werden, was irgendwann passiert. Zum Wohnungsbindungsgesetz, das jetzt auf dem Tisch liegt. Als die Sozialdemokraten 1985 gefordert haben, die Bindung von Sozialwohnungen zu verlängern und zu sichern, hat die Koalition gesagt: Nein, kommt überhaupt nicht in Frage. Ordnungspolitischer Meinungsbildner und -führer dabei war die FDP. Sie sagte: Freier Markt, kommt überhaupt nicht in Frage. ({6}) 1989 haben die Sozialdemokraten diesen Antrag erneut in den Deutschen Bundestag eingebracht. Er liegt zur Beratung in den Ausschüssen. Sie haben gefordert, die Bindung der Wohnungen zu verlängern. Was hat die Koalition gesagt? Nein, kommt überhaupt nicht in Frage; ordnungspolitisch völlig widersinnig; machen wir überhaupt nicht. Nun haben im Bundesrat die Länder NordrheinWestfalen und Berlin die Initiative ergriffen und haben gesagt: Wir müssen etwas tun. Diese Länder haben auf Ihren kleinen Gesetzesantrag etwas oben draufgesattelt. Die Mehrheit der Länder, auch CDU/ CSU-regierte, hat gesagt: Die Sozialdemokraten haben recht; das wird jetzt gemacht. Das ist jetzt das, was auf dem Tisch liegt. Also tun Sie nicht so, als ob das Ihre Idee wäre. Sie haben mißmutig und gezwungenermaßen - Sie wissen auch gar nicht, wie Sie es eigentlich ordnungspolitisch begründen können - dieses Gesetz mal eben gemacht, weil Sie sich sonst vor Ihren eigenen Ländern im Bundesrat blamiert hätten. Das ist die Wahrheit. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gattermann?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müntefering, könnten Sie mir den historischen Ablauf der sogenannten Nachbindungsfrist bestätigen, der da lautet: im ersten Gesetz fünf Jahre, später eine Erhöhung auf zehn Jahre, und jetzt kommt es: gemeinsame Initiative der sozialliberalen Koalition: Reduzierung auf acht Jahre, und jetzt wieder Anhebung auf den alten Zustand von zehn Jahren? ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich sehr dafür, Herr Gattermann, daß Sie Ihre Rolle noch mal so schön beschrieben haben: Die FDP war immer dabei, ist immer dabei gewesen. Das ist wohl wahr. ({0}) Ich wünsche mir von Herzen, wenn wir hier in Bonn wieder regieren, daß wir auf Sie nicht angewiesen sind, was Wohnungs- und Städtebau angeht. ({1}) Das sage ich Ihnen ganz klar. Denn das mit Ihnen zu machen ist weiß Gott ein schwieriges Feld. - Das war die Antwort darauf. ({2}) Die soziale Funktion des Wohnungsbaus ist von dieser Koalition seit 1982/83 systematisch untergraben und fallengelassen worden. Natürlich hat der Kollege Conradi recht, wenn er sagt: Die Politik, die Sie mit dem sozialen Wohnungsbau gemacht haben, ist vorsätzlich und absichtlich. Sie haben nicht nur den Neubau von Sozialwohnungen reduziert, ({3}) sondern Sie haben auch die soziale Funktion des Wohnungsbestandes kaputtgehen lassen und alles getan und zugelassen, daß auch im Bestand die Zahl der Sozialwohnungen so schnell wie möglich abnimmt und daß sich auch da der sogenannte freie Markt austoben kann. ({4}) - Das ist die Wahrheit. So ist das in diesen Jahren gelaufen. Sie haben kein Gefühl und kein Verständnis für das, was die Menschen in unserem Lande im Augenblick wirklich bewegt, insbesondere die Mieter. Herr Hitschler hat gesagt: Wir haben noch viel zu tun, bis der freie Wohnungsmarkt wirklich da ist. Da sage ich Ihnen: Ja, da haben Sie wirklich noch viel zu tun. Aber ich wünsche mir von Herzen, daß er nicht kommt. Denn der Markt ist eine gute Einrichtung, aber er ist sozial blind. Was Wohnungen angeht, ist er ebenfalls blind. Deshalb muß man sehen, daß man nachsteuert und daß man soziale Kriterien einbaut. Deshalb sind wir für sozialen Wohnungsbau und nicht für den freien Wohnungsbau à la FDP und à la CDU/ CSU, so wie Sie das in den letzten Jahren betrieben haben. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, es haben sich zwei Kollegen zu Zwischenfragen gemeldet. Gestatten Sie erst dem Herrn Abgeordneten Geis und dann dem Herrn Abgeordneten Dr. Hitschler, eine Zwischenfrage zu stellen?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Bitte, Herr Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Müntefering, könnten Sie mir sagen, weshalb das Land Nordrhein-Westfalen sein Engagement im sozialen Wohnungsbau in der Zeit von 1986 bis 1988 von 1,6 Milliarden DM auf 660 Millionen DM, d. h. um zwei Drittel zurückgefahren hat?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens sind die Mittel, die der Bund dazugegeben hat, deutlich reduziert worden. ({0}) Zweitens messen wir das an dem, was in den letzten zwei bis drei Jahren gemacht worden ist. Wir geben ja zu, daß wir alle 1984/85 in der Vorstellung gelebt haben: Da herrscht Ruhe; da braucht man nicht mehr so viel. Aber seit 1986/87 haben wir verstanden, was da los ist, und haben darauf hingewiesen, daß da gehandelt werden muß. ({1}) Im Jahre 1990 ist es nun so: In Nordrhein-Westfalen werden in diesem Jahr 27 600 Sozialwohnungen gebaut. Davon finanziert das Land Nordrhein-Westfalen umgerechnet 23 000 Wohnungen, der Bund 4 600. Das entspricht einem Verhältnis von 8 : 2. ({2}) Wenn Sie glauben, das sei eine angemessene Beteiligung des Bundes, dann muß ich Ihnen sagen: Das Land tut, an dieser Stelle, was es kann, und der Bund muß sich stärker engagieren. Der Bund ist jetzt gefordert. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Kann Herr Kollege Hitschler jetzt eine Zwischenfrage stellen? - Herr Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müntefering, Ihrer These, daß der freie Markt sozial blind ist, ausdrücklich zustimmend, frage ich Sie, ob Sie nicht registriert haben, daß die FDP ein anderes System sozialer Korrekturen des freien Markts im Wohnungsbau, nämlich eine wesentliche Erhöhung des Wohngeldes und eine wesenliche Ausweitung des Instruments des Belegrechts, vorgeschlagen hat.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, daß Sie sich jetzt korrigieren. Ich habe mich in meinem Beitrag an das gehalten, was Sie soeben gesagt haben. Sie haben von dieser Stelle aus - Sie können das gerne im Protokoll nachlesen - den freien Wohnungsmarkt gefordert und gesagt: Es ist noch viel zu tun, bis wir so weit sind. ({0}) Ich sage noch einmal: Die Art von Wohnungsbau, die Sie meinen, meinen wir nicht, wenn wir darüber sprechen, daß die Menschen das Recht haben, sicher und sozial in ihren Wohnungen zu leben. ({1}) Herr Staatssekretär, ich bin auch nicht damit einverstanden, mit welcher Lässigkeit Sie die Zinsproblematik angehen. ({2}) Tausende, ja, Zehntausende derjenigen, die ein selbstgenutztes Eigenheim besitzen, müssen plötzlich 2 %, 3 To mehr Zinsen bezahlen. Bei 150 000 DM Fremdkapital - das ist nicht viel - macht das 250 DM bis 300 DM mehr im Monat aus. Das stellt für die Menschen die Grenze der Finanzierbarkeit dar. Wir werden in den nächsten Jahren wieder erleben, daß Eigenheime zwangsversteigert werden müssen, weil die Menschen das nicht mehr bezahlen können. Auch wenn potentielle Bauherren eine Genehmigung haben, so fragen sie sich doch: Kann ich denn jetzt anfangen zu bauen? Das gilt sowohl für diejenigen, die ein selbstgenutztes Eigenheim bauen wollen, als auch für diejenigen, die Mietwohnungen bauen wollen. Die Bundesregierung kann doch nicht sagen: Das geht uns nichts an; wir hoffen, daß das Bauen irgendwann billiger wird. Ich sage Ihnen ganz klar: Wer - wie diese Bundesregierung - Wechsel auf die Zukunft ausschreibt, um Wahlkampf zu machen, und diejenigen, die sich um das Geld kümmern, darüber im unklaren läßt, was das eigentlich kostet, der darf sich nicht wundern, wenn hier die Zinsen explodieren und die Menschen bei uns - auch die kleinen selbstnutzenden Eigentümer - die Zeche für Ihr selbstherrliches Versprechen, das Sie in alle Richtungen machen, bezahlen müssen. Das ist nämlich der Grund für die Zinsentwicklung, die wir im Augenblick bei uns in der Bundesrepublik erleben.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, sicher.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Kansy.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da Sie wie ich die beiden Statistiken bekommen und lesen, frage ich Sie: Können Sie nicht wenigstens bestätigen, daß der Zinsanstieg bereits um die Jahreswende 1988/89 begonnen hat, daß der wesentliche Zinsanstieg - um rund 2 % - schon vor dem entscheidenden Datum, November letzten Jahres, zu verzeichnen war, daß das, was jetzt an Unsicherheit im Hinblick auf die deutsche Zukunft dazugekommen ist, nur einen Teil darstellt, und daß es wirklich wenig sinnvoll ist, Wohnungssuchende in der Bundesrepublik gegen Leute auszuspielen, die für die deutsche Einheit arbeiten? ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hat mit Ausspielen nichts zu tun. Es ist richtig, daß die Zinsen schon seit längerer Zeit steigen; das bestreite ich Ihnen gegenüber ja nicht. Aber in den letzten Wochen und Monaten waren, gerade was den Darlehens- und Hypothekenbereich angeht, entscheidende Sprünge zu verzeichnen. Hören Sie sich doch einmal vor Ort um. An welchen Versammlungen nehmen Sie denn teil? Ich werfe Ihnen hier vor: Sie wissen gar nicht, worüber die Menschen draußen in den Versammlungen diskutieren. Die kleinen Leute kommen doch heute zu uns und sagen: Ich kann nicht mehr. - Jetzt kritisiere ich, daß sich der Staatssekretär hier hinstellt und sagt: Wir hoffen, daß alles wieder besser wird. - Das hoffe ich auch. Irgendwann wird das schon wieder so sein. ({0}) Die Frage ist nur: Was machen die Menschen zwischenzeitlich? Nun komme ich auf das Wohnungsbindungsgesetz zu sprechen. Sie versuchen ja den Eindruck zu erwekken, nun sei das Mietrecht aber komplett. Der soziale Wohnungsbau und der Bestand des sozialen Wohnungsbaus sind damit keinesfalls gesichert. Deshalb wird auch in Zukunft weiter von Miet- in EigentumsMüntefering wohnungen umgewandelt werden. Mieter werden verdrängt werden. Bei Neuvermietungen werden die Mietpreise explodieren. Das ist etwas gewesen, was in den letzten Wochen und Monaten, in Bayern, in vielen Städten, eine erhebliche Rolle gespielt hat. Sie haben doch gemerkt, wie die Menschen darauf reagiert haben, als sie festgestellt haben, daß die Wohnungspolitik, die Sie hier in Bonn machen, eben keine soziale Wohnungspolitik ist. ({1}) Deshalb muß das Mietrecht auch an dieser Stelle im Interesse der betroffenen Menschen noch weiter verändert werden. Die Forderungen der SPD bleiben deshalb akut. Wir fordern strengere Kriterien für die Eigenbedarfskündigung. Wir fordern, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen energischer durch ein Satzungsrecht der Städte und Gemeinden zu bremsen, mit dem sichergestellt werden kann, daß auf bestimmte Zeit in Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf Umwandlung ausgeschlossen wird. ({2}) - Das ist interessant, was der Herr Geis da sagt. Herr Geis sagt, Sie wollten das mit der Satzung machen. Bis jetzt kenne ich nur ein Gesetz, bei dem Sie lange gewürgt haben, ob man denn die Kündigungsfrist bei Eigenbedarf von drei auf fünf Jahre verlängern kann. Wir haben zehn Jahre gefordert. Bayern hat gesagt: sieben Jahre. Die Ministerin, aus Bayern, sagt auch: sieben Jahre. Die Koalition hat rumgewürgt. Herr Hitschler hat gemeint, das sei nicht mit der Verfassung vereinbar. Dann hat man das Mittel genommen, fünf Jahre. Diese fünf Jahre, zu denen Sie sich jetzt langsam durchgeeiert haben, sind noch nicht die Lösung für den sozialen Wohnungsbau, das Mietrecht. Es müssen stärkere Maßnahmen ergriffen werden, um die Umwandlungen zu stoppen. Das ist der entscheidende Grund, warum die Menschen heute aus den Wohnungen hinausgeworfen werden. ({3}) Deshalb wollen wir, daß die Städte und Gemeinden diese Möglichkeit bekommen. ({4}) - Ich will Ihnen meine Liste eben noch zu Ende sagen, Herr Gattermann. Dann können Sie gerne fragen. Wir möchten auch noch - auch das wird Ihnen natürlich nicht gefallen - die Mieterhöhungsmargen begrenzen. Es ist heute möglich, daß in solchen Umwandlungssituationen die Miete im ersten Jahr um 30 % steigt, weil man alle drei Jahre die Miete um 30 % erhöhen kann, in vier Jahren um 60 %. Nun werden Sie wieder fragen: Wie war das denn eigentlich irgendwann in den 70er Jahren, während der Regierungszeit von Sozialdemokraten und Liberalen? Ich sage Ihnen: Dieses paßt in die heutige Marktstruktur nicht hinein. Deshalb sind wir dafür, die 30 % deutlich zu reduzieren, auf 10, 12 oder 15 %. Dann verdienen die, die da vermieten, immer noch genug. Deshalb müssen die 30 % weg. Das ist eine unzumutbare Größenordnung. Wir wollen natürlich auch die Mieterhöhungsmargen bei Neuvermietungen begrenzen. ({5})

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müntefering, würden Sie mir bestätigen, daß die Umwandlungsproblematik in wesentlichen Teilen des Althausbestandes auf Grund der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts zu Abgeschlossenheitsbescheinigung praktisch bereits gelöst ist, wenn die Gemeinden sie denn anwenden?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Abgeschlossenheitsbescheinigung ist außerordentlich hilfreich. Wir ermutigen alle Städte und Gemeinden, sich daran zu halten. Aber Sie sagen nicht dazu, daß da noch eine ganze Menge im Schlauch ist. Es gibt eine Menge Abgeschlossenheitsbescheinigungen in den großen Städten und Gemeinden, wo die, die sie haben, nur darauf warten, das umzusetzen. An dieser Stelle müßten wir doch reinschneiden. ({0}) - Natürlich kriegen wir das hin. Jetzt fangen Sie hier mal nicht an zu diskutieren. ({1}) Wir machen den Vorschlag, daß eine Satzung für die Stadt entsteht. Dann wird die Stadt entscheiden können, ob in diesem Gebiet mit erhöhtem Wohnbedarf umgewandelt wird oder nicht. Wir wollen, daß die Umwandlungen dort nicht mehr möglich sind. Wenn Sie mit dem Hinweis auf die Abgeschlossenheitsbescheinigungen sagen wollen, daß auch Sie gegen die Umwandlungen sind, freut mich das sehr. Dann bitte ich, daß Sie unseren Vorschlag, der Umwandlungen komplizieren soll, unterstützen. Sie werden bald Gelegenheit dazu haben, das zu tun. ({2}) Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf wird die Situation am Wohnungsmarkt ganz sicher nicht wesentlich entlastet. Wir werden in diesem Jahr erleben, daß die Wohnungsnot bei uns zunimmt, weil weniger gebaut wird, als wir brauchen. Die Bundesregierung, die Koalition, läßt dieses geschehen, weil Sie immer noch nicht bereit sind, zu akzeptieren, daß wir massiv sozialen Wohnungsbau als Neubau brauchen, mehr als die Bundesregierung jetzt dafür einsetzt, ({3}) und weil Sie nicht akzeptieren, daß der soziale Wohnungsbau auch im Bestand gesichert bleiben muß. ({4}) Ich bin frohen Mutes, mit Ihnen über dieses Thema in diesem Jahr 1990 in der Bundesrepublik zu diskutieren. Sie haben sich ja inzwischen ein paar erhebliche Schlappen eingehandelt. Das war im Saarland so, das war in Bayern so, und das wird auch in NordrheinWestfalen und in Niedersachsen so sein. Heute morgen haben wir erlebt, daß Sie nicht einmal hier die Mehrheiten zusammenbekommen. Sie sind vielleicht in der Lage, anderswo zu gewinnen, aber in der Bundesrepublik Deutschland werden wir das in diesem Jahr machen. Das kann ich Ihnen von hier aus sagen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Pesch. ({0})

Hans Wilhelm Pesch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müntefering, wir wollen doch in aller Ruhe abwarten, wer die Bundestagswahl am 2. Dezember gewinnt. ({0}) Ich glaube, da sind die Vorteile auf unserer Seite; was die nächsten Wahlen angeht, sicherlich auch. ({1}) Herr Müntefering, nach Ihren etwas aufgeregten Einlassungen - das gehört wohl zur Wahlkampf strategie des laufenden Wahljahres - nun einige Dinge zur Sache. ({2}) Meine Damen und Herren, erst in den letzten beiden Jahren sind die Engpässe bei der Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik entstanden. Sie haben sicherlich in den letzten Monaten zugenommen. Zu diesen neuen Wohnungsproblemen hat ganz sicher der erhebliche Zustrom von Aussiedlern und Obersiedlern beigetragen. Es kann aber sicherlich nicht übersehen werden, daß diesem eingetretenen Wohnungsmangel auch strukturelle Entwicklungen zugrunde liegen. Ich darf das an einem Beispiel aus meiner Heimatstadt aufzeigen, das sehr aufschlußreich ist. Die Anzahl der Haushalte von Zuwanderern und Aussiedlern in meiner Heimatstadt stieg in einem Jahr, nämlich von September 1988 bis September 1989, um 272 %, die der jungen Ehepaare um 113 %, die der Alleinstehenden zwischen 18 und 25 Jahren um 322 % , die der Studierenden und Auszubildenden um 114 %. Dazu kommt die Suche nach größeren und besser ausgestatteten Wohnungen. ({3}) Das hat die SPD natürlich schon vor sieben, acht oder zehn Jahren vorausgesehen. Ein Großteil der aufgetretenen Probleme am Wohnungsmarkt ist sicherlich auf Massenwohlstand und Individualisierung zurückzuführen. Die Haushalte werden kleiner, und es ist eben bei vielen mehr Geld für schöneres Wohnen vorhanden, als es noch vor Jahren der Fall war. Im Schnitt stehen jedem Bundesbürger 35 qm Wohnraum zur Verfügung - eine in der Welt sicherlich einmalige Größenordnung. Man kann davon ausgehen, daß der Bundesbürger im Schnitt alle zwei Jahre seine Wohnfläche um einen Quadratmeter ausdehnt. Mit dieser Feststellung umschreibe ich die aktuelle Situation, übersehe aber auch nicht, daß Übersiedler, Umsiedler und Obdachlose schlechthin nun einmal ein Dach über dem Kopf brauchen. In diese momentane Situation hinein, da es anerkannterweise um jede Wohnung geht, die neu entsteht, kommt der Gesetzentwurf des Bunderats zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes. Damit soll erreicht werden, daß die Rückflüsse aus Wohnungsbauförderungsmitteln nicht mehr nur zur erneuten Förderung von Maßnahmen des sozialen Wohnungsbaus eingesetzt werden können, sondern für alle möglichen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Städten und Gemeinden, ({4}) ohne daß sie wie bisher durch die Nichtwiederverwendung für den sozialen Wohnungsbau anteilig an den Bund zurückfließen. ({5}) Man sollte es bei der Verpflichtung der Länder belassen, die Rückflüsse aus der Wohnungsbauförderung mit dem Bund abzurechnen und den auf den Bund entfallenden Anteil an diesen zurückzuführen. Es muß aber auch weiter § 70 Abs. 4 des Wohnungsbaugesetzes Gültigkeit haben, der besagt, daß die Rückflüsse, die den Bundesanteil beinhalten, nur dann von den Ländern einbehalten werden können, wenn sie von diesen wieder für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt werden. Die von den Ländern erhofften Effekte, was den besagten Einsatz der bundesanteiligen Rückflüsse aus den Mitteln des sozialen Wohnungsbaus angeht, liegen sicherlich im Städtebauförderungsbereich. Mittel- und langfristig dürfen wir diese Bedeutung nicht übersehen oder gar unterschätzen. Daß aber die Städtebauförderung von seiten der Bundesregierung nicht zu kurz kommt, zeigen die für diesen Zweck vom Bund bereitgestellten Mittel, nämlich 660 Millionen DM in diesem Jahr. ({6}) Unlogisch handeln die Länder, meine Damen und Herren, die gleichzeitig die Erhöhung der Finanzhilfen des Bundes für den sozialen Wohnungsbau fordern und im gleichen Atemzuge in ihrem Verantwortungsbereich die dafür vom Bund bereitgestellten und nun zurückfließenden Mittel nicht mittelbar für den sozialen Wohnungsbau ausgeben wollen. Angesichts der Lage am Wohnungsmarkt mutet es schon sehr seltsam an, daß dieselben Ministerpräsidenten, z. B. der saarländische, die das Versagen der Bundesregierung bei der Bewältigung der Wohnungsprobleme lauthals anprangern, ({7}) selbst als Volksbeglücker durch die Lande ziehen und aus dem Füllhorn schier nicht versiegender Mittel diese Mittel für alle möglichen sonstigen Ausgaben verteilen, anstatt sie für den Wohnungsbau bereitzustellen. ({8}) Einige Damen und Herren in den Ländern sollten vielleicht einmal überlegen, ob man diese Mittel, anstatt sie für einen toll konzipierten Radweg - in Nordrhein-Westfalen natürlich in feiner roter Pflasterung ({9}) oder alle möglichen Stadtverschönerungen auszugeben, die wir sicherlich alle begrüßen, im Augenblick vorrangig für die Wohnungsförderung einsetzen sollte. ({10}) Auch in Nordrhein-Westfalen ist im Augenblick große Reisezeit der Minister. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wofür z. B. Herr Rau die dann nicht mehr gebundenen Rückflußmittel aus dem sozialen Wohnungsbau haben will. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müntefering?

Hans Wilhelm Pesch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr! ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin kein Techniker, Herr Grünbeck; das gebe ich Ihnen gern zu. Herr Kollege, wären Sie bereit zuzugeben, daß dieser Antrag, über den Sie sich jetzt mokieren, im Bundesrat vom Land Hessen vorgelegt worden ist und im Bundesrat vom Land Nordrhein-Westfalen abgelehnt worden ist, und können Sie mir sagen, weshalb Sie nun über Herrn Rau sprechen und nicht über Herrn Wallmann?

Hans Wilhelm Pesch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er ist vom Saarland unterstützt worden, und Herr Rau hat sicherlich eine sich anbahnende Mehrheit sehr geschickt genutzt ({0}) - ja natürlich; ich weiß doch, wie der Johannes Rau das in unserem Lande macht ({1}) und hat sich auf diese Weise natürlich seine Mittel wieder freigeschaufelt, die er jetzt eben volksbeglükkend in unserem Lande verteilt. Ich sehe doch wiederum in meiner Vaterstadt, was da passiert, Woche für Woche. ({2}) Alle zwei Tage haben wir einen Minister Ihrer Couleur in unserer Stadt, ({3}) der uns im Augenblick weiß Gott was für Mittel für alle möglichen Zwecke, ich kann fast sagen - Herr Großmann hat eben den Ausdruck benutzt -: für alle möglichen Kinkerlitzchen zur Verfügung stellt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie gestatten noch eine Zwischenfrage? - Herr Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie können ruhig kürzer antworten, Herr Pesch, aber vielleicht doch auf meine Frage: Ist es richtig, daß das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat dagegengestimmt hat? ({0})

Hans Wilhelm Pesch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das mag ja alles sein, nur, Herr Müntefering, wiederum mit einer Zahl: Wir haben in Mönchengladbach fast 600 Anträge für den sozialen Wohnungsbau, Leute, die sofort ihre persönlichen und auch andere Mittel mit einbringen würden. Wissen Sie, was vor einer Woche auf den Tisch des Hauses gekommen ist? ({0}) Ganze 45 Bewilligungen, Herr Müntefering! ({1}) Was die SPD jetzt betreibt,vor allem in meinem Heimatland, ist, meine ich, in Wahlkampfzeiten für den Politiker sicherlich verständlich, für die betroffenen Bürger unseres Landes aber sicherlich keine Hilfe bei der schwierigen Suche nach Wohnraum. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung der Bundesregierung, daß in der gegenwärtigen Engpaßsituation das Wohnungsangebot gerade im sozialen Wohnungsbau vergrößert werden sollte. Hier würde durch das Wollen des Bundesrates eine Reihe von Maßnahmen des Bundes nicht mehr in dem Umfang greifen, in dem sie zur Linderung des Wohnungsmarktproblems beitragen würden. Einige Zahlen noch. - Neben den steuerlichen Hilfen des Bundes für das Wohnen in 1990 mit rund 8,8 Milliarden DM würden die Finanzhilfen des Bundes zum Teil konterkariert. - Ich darf Ihnen, meine Damen und Herren, noch einige Zahlen für 1990, was Finanzhilfen des Bundes angeht, in Erinnerung rufen. ({2}) Sozialer Wohnungsbau: 2 Milliarden DM; Wohngeld: 2,25 Milliarden DM; MW-Programm: 750 Millionen DM; Bauzwischenfinanzierung, was den Verpflich15924 tungsrahmen des Bundesanteils angeht: 450 Millionen DM; Studentenwohnungsbau, Bundesanteil, Verpflichtungsrahmen: 150 Millionen DM; Wohnungsbauprämien, Haushaltsansatz: 590 Millionen DM; insgesamt: 6,2 Milliarden DM. Auch das Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz und die Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes - weitere Maßnahmen, die zum Ziel haben und dazu beitragen, daß sich die Wohnraumsituation in der Bundesrepublik rasch und nachhaltigst verbessert - geraten in die Gefahr, ihre Zielsetzung durch Ihre Politik und durch Ihre Vorstellungen, was den Wohnungsbau angeht, zu verfehlen. ({3}) Meine Damen und Herren, was der Bundesrat mit seiner Gesetzgebung zum Zweiten Wohnungsbaugesetz vorhat, paßt augenblicklich absolut nicht in die Landschaft, wo wir gemeinsam, Bund, Länder und Gemeinden, größte Anstrengungen unternehmen müssen, um die uns gestellten Probleme auf dem Wohnungsmarkt schnell in den Griff zu bekommen, und alles unterlassen sollten, was in irgendeiner Form dazu führen würde, Hemmnisse und Steine auf diesen notwendigen gemeinsamen Weg zu legen. ({4}) Auch die von den Ländern gewählte Formulierung, daß die oben angesprochenen Rückflußmittel nur dann zur Förderung von städtebaulichen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen verwendet werden dürfen, ({5}) wenn diese Maßnahmen zur Fortführung des Wohnungsbaus oder zur Verbesserung der Wohnverhältnisse eingesetzt werden, kann meine Fraktion nicht von einem Nein zu dieser Gesetzgebung und Gesetzesänderung abhalten. Es liegt doch, meine Damen und Herren, klar auf der Hand - ich betone dies noch einmal ausdrücklich - , daß damit einer anderen Verwendung dieser Gelder als für den Wohnungsbau Tür und Tor geöffnet ist. Denn was kann man mit dem Wohnungsbau in einer Gemeinde nicht alles in Verbindung und Zusammenhang bringen! ({6}) Das reicht eben von der Grünanlage über die Radwege bis zum Kanal- und Straßenbau und allen möglichen Maßnahmen, die das Wohnen und Arbeiten in einer Gemeinde oder Stadt oder in einem Kreis sicherlich erträglicher machen. ({7}) Ich darf noch einmal feststellen, meine Damen und Herren, daß es in der augenblicklichen Situation am Wohnungsmarkt notwendig ist, alle Kräfte und Mittel zu bündeln, um die durch die geschilderten Umstände am Wohnungsmarkt entstandenen Engpässe möglichst schnell zu beseitigen. Was danach mit den anteilig rückfließenden Bundesmitteln aus Zinsen und Tilgungen geschieht, muß dann nach einer erneuten Analyse des Wohnungsmarktes und des sich daraus ergebenden Bedarfs neu festgelegt werden. ({8}) Unsere Wohnungspolitik muß darauf ausgerichtet sein, augenblickliche Probleme am Wohnungsmarkt zu lösen und für die Zukunft nicht neue zu schaffen, wie es in der Vergangenheit leider häufig der Fall gewesen ist. Wir lehnen die vom Bundesrat gewollte Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes ab und stimmen der Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes zu. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes; das sind die Drucksachen 11/4482, 11/6524 und 11/6773. Der Ausschuß empfiehlt, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung und des Bundesrates in der Ausschußfassung anzunehmen. Ich rufe die einzelnen Artikel auf. Art. 1: Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, die ich nach der Reihenfolge der Drucksachennummern zur Abstimmung aufrufe. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6798? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6799? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6800? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6801? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Abgelehnt. Wer für Art. 1 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Ich rufe die Nr. 1 des Änderungsantrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6802 auf. Es wird beantragt, nach Art. 1 einen neuen Art. 1 a einzufügen. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Abgelehnt. Ich rufe den Art. 2 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/6802 unter Nr. 2 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Abgelehnt. Wer nunmehr für den Art. 2 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Vizepräsidentin Renger Ich rufe Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Wiederum bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Ich rufe Art. 4 auf. Auf Drucksache 11/6832 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN vor. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit Mehrheit abgelehnt. Wer für den Art. 4 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN gegen die Stimmen der SPD angenommen. Wir stimmen jetzt über die Einleitung des Gesetzentwurfs ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Einleitung ist bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Ich rufe die Überschrift des Gesetzentwurfs in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6797 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer nunmehr für die Überschrift des Gesetzentwurfs in der Ausschußfassung stimmen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Meine Damen und Herren, wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen. Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland auf Drucksache 11/6005; das ist Punkt 13 c unserer Tagesordnung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6774 die Ablehnung des Gesetzentwurfs des Bundesrates. In diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen, und das tun wir jetzt. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Conradi, Huonker, Müntefering, Menzel, Großmann, Dr. Niese, Oesinghaus, Dr. Osswald, Reschke, Scherrer, Weiermann, Bernrath, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Verbilligte Abgabe von Grundstücken aus Bundesbesitz für den sozialen Wohnungsbau - Drucksache 11/6382 Oberweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß ({0}) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im Herbst letzten Jahres durch die Bundesbauministerin, die heute leider nicht anwesend ist, erklären lassen, sie würde bei dem akuten Wohnungsmangel und bei der Baulandnot den Gemeinden durch den Verkauf bundeseigener Grundstücke für den Wohnungsbau helfen. Das war wie vieles andere, was diese Bundesregierung verspricht, nicht wahr. Tatsächlich sind der Bundesfinanzminister ebenso wie Bundespost und Bundesbahn sowie der Bundesverteidigungsminister sehr zurückhaltend, wenn es darauf ankommt, den Gemeinden in den schwierigen Baulandfragen zu helfen. Ein zentraler Punkt ist der hohe Bodenpreis. In vielen Fällen fordert die Bundesregierung Bodenpreise, die den sozialen Mietwohnungsbau nicht mehr zulassen. Ich will ein anschauliches Beispiel aus Stuttgart nennen. Da liegt zwischen Stuttgart und Kornwestheim ein Reservegelände der Bundeswehr, Ackerland, zu einem Schätzpreis von derzeit höchstens 20 DM für den Quadratmeter, und der Bundesfinanzminister verlangt von der Stadt Stuttgart für dieses Ackerland einen Preis von 800 DM für den Quadratmeter. ({0}) Wenn das nicht Bodenspekulation ist, wenn das nicht Wucher ist, dann weiß ich nicht, was Wucher ist. ({1}) Im Strafgesetzbuch - ich habe nachgeschaut - steht: Wer die Zwangslage .. . - eine Zwangslage ist bei dem Wohnungs- und Baulandmangel ja gegeben eines anderen dadurch ausbeutet, daß er sich . . . für eine ... Leistung ... Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung ... stehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft ... In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe ... bis zu zehn Jahren ... wenn ({2}) ... die Tat gewerbsmäßig begeht .. . Man darf annehmen, daß der Bundesfinanzminister sein Amt gewerbsmäßig ausübt. Es handelt sich hier also um einen Fall von Wucher. Schließlich hat die Bundesregierung diese Grundstücke auf öffentlichen Druck hin zu 200 DM für den Quadratmeter abgegeben - immer noch zum Zehnfachen des tatsächlichen Wertes. Interessant ist, daß dieselbe Bundesvermögensverwaltung, die hier zu Lasten der kleinen Leute die Bodenpreise hochtreibt, in anderen Fällen äußerst großzügig ist, z. B. beim Verkauf einer bundeseigenen Villa an den früheren CDU-Staatssekretär im schleswig-holsteinischen Finanzministerium, einen Herrn mit Namen Schleifer - richtig müßte er wohl heißen: Unterschleifer - , einen Parteifreund des damaligen CDU-Finanzministers Stoltenberg, der von der ganzen Angelegenheit natürlich überhaupt nichts wußte. Immerhin hat der Herr Oberfinanzpräsident in Kiel, ebenfalls der CDU angehörend, - ({3}) - Ich verstehe, daß Sie das ärgert. Ich will hier nur deutlich machen, daß der Bundesfinanzminister, wenn's um große Herren geht, außerordentlich großzügig, wenn's um kleine Leute geht, außerordentlich kleinlich ist. ({4}) - Also, verehrter Herr Kollege, unsere liebe frühere Kollegin Frau Simonis, die jetzt Finanzministerin in Schleswig-Holstein ist, hat monatelang versucht, diesen Verkauf zu erhellen - ohne Erfolg. Jetzt ist der Bundesrechnungshof dran. Wir hoffen, daß der Bundesrechnungshof nicht einknickt, daß er nicht knieweich wird, sondern daß er diese Affäre hier gründlich aufhellt. ({5}) - Sie konnten ja schon in den Zeitungen lesen, ({6}) zu welchen Konditionen der Herr Staatssekretär eine bundeseigene Villa bekommen hat. ({7}) Nein, das Bodeneigentum des Bundes steht ebenfalls unter der Sozialpflicht des Grundgesetzes. Auch für das Bodeneigentum des Bundes gilt, daß sein Gebrauch dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll, also auch dem sozialen Mietwohnungsbau - nicht Parteifreunden des Bundesfinanzministers. Wir wollen mit unserem Antrag die Bereitschaft der Bundesfinanzverwaltung befördern, Bundesgrundstücke für den sozialen Mietwohnungsbau abzugeben. Wir schlagen vor: Grundstücke, die für den Wohnungsbau geeignet sind, sollen an die Gemeinden verkauft werden. Der Preis soll bis auf 50 % des Wertes herabgesetzt werden können. Das entspricht einer Forderung des Bundesrates. Und damit keiner damit spekuliert, sollen die Wohnungen, die darauf gebaut werden, für 30 Jahre gebunden werden. Das sollen also nicht die Wohnungen sein, die jetzt mit der vereinbarten Förderung für fünf, sieben oder zehn Jahre gebunden und dann spekulativ weiterverkauft werden können. Nein, es sollen Wohnungen sein, die den Namen sozialer Mietwohnungsbau verdienen und die 30 Jahre lang bei der Miete und beim Bewohnerkreis gebunden sind. Unsere Initiative bekommt einen neuen Aspekt durch die friedliche Entwicklung in Europa mit der Abrüstung und dem Rückzug ausländischer Truppen aus der Bundesrepublik. In vielen Städten gibt es ausgedehnte Militärareale, zum Teil mit Kasernen bebaut; zum Teil werden da Fahrzeuge geparkt, zum Teil wird da geübt. Das alles ist jetzt nicht mehr im alten Ausmaß notwendig. Wir erwarten, daß die Bundesregierung mit den Verbündeten, vor allem mit der US-Armee, prüft, welche dieser Areale in den nächsten Jahren frei werden ({8}) und welche davon für den Wohnungsbau geeignet sind. In die Kasernen könnte man jetzt erst einmal die Aussiedler und Übersiedler unterbringen, die zum Teil in Notquartieren, in Turnhallen, in schmuddeligen Hotels und in Baracken notdürftig untergebracht sind. Dann könnte man viele dieser Kasernen abreißen und durch sozialen Mietwohnungsbau ersetzen. In der Bibel steht: Macht aus Schwertern Pflugscharen! Wir sagen: Macht aus Kasernen Wohnungen! Und zu der Bauindustrie sagen wir: Macht aus Soldaten Bauarbeiter und Bauhandwerker! ({9}) Denn es ist besser, Wohnungen zu bauen, als Wohnungen zu zerstören. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller ({0}).

Hans Werner Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Intention dieses Antrags - das ist auch unsere Ansicht - ist durchaus lobenswert, nämlich die verfügbaren Baugrundstücke der öffentlichen Hand auch in Anbetracht der derzeitigen Wohnungslage, soweit dies möglich ist, zur Verfügung zu stellen. Wir kommen aber zu der Überzeugung, diesem Antrag nicht folgen zu können, wenn wir uns auch der Überweisung des Vorschlages des Ältestenrates hier nicht widersetzen. Ich will dies in wenigen Sätzen erläutern. Zunächst einmal eine Bemerkung zum Grundsatz. Es muß doch festgehalten werden, daß die Länder für den sozialen Wohnungsbau zuständig sind. Die Kompetenz des Bundes liegt bei der Mitfinanzierung nach Art. 104 a Abs. 4 unseres Grundgesetzes. So haben die Finanzhilfen des Bundes im Jahre 1981 1,05 Milliarden DM betragen; im Jahre 1990 wurden diese Hilfen auf 2 Milliarden DM aufgestockt. Müller ({0}) Ich darf daran erinnern, daß der Bund den Ländern die Rückflußanteile läßt. Diese betragen immerhin bis zu 250 Millionen DM jährlich. Es sei auch daran erinnert, daß die Koalition am 7. November 1989 beschlossen hat, diese Finanzhilfen auf der Höhe von 2 Milliarden DM aufrechtzuerhalten, und ich meine, dies ist schon eine bemerkenswerte, ja lobenswerte Leistung. ({1}) Meine Damen und Herren, nun zu einigen Gründen, die uns zu einer abweichenden Meinung haben kommen lassen und die uns veranlassen, dem Antrag so nicht zu folgen. Zunächst sind von den Grundstükken, die im Bundesbesitz zur Verfügung stehen, etwa 180 Hektar als Bauerwartungsland eingestuft. Es muß auch daran erinnert werden, daß bis jetzt ca. 5 400 Hektar Bauerwartungsland vom Bund in den letzten Jahren insgesamt verkauft worden sind. Nach dem Grundstücksverbilligungsgesetz wurde bis 1982 ein Nachlaß von 30 % gewährt, ab 1982 gilt auf Grund von Haushaltsvermerken nur noch ein Nachlaß von 15 %. ({2}) Dieser Nachlaß sollte haushaltswirksam nur einen Gesamtbetrag von etwa 2 Millionen DM jährlich nicht überschreiten. Es steht fest, daß dieser Nachlaß in den vergangenen Jahren auch nicht annähernd ausgeschöpft wurde. Insofern trägt die geltende Regelung der Nachfrage voll Rechnung. Zum zweiten wäre eine Erhöhung des Preisnachlasses auf 50 % auch aus einem anderen Grund nicht sinnvoll: weil in aller Regel die gesetzlich vorgesehenen kürzeren Bindungszeiten - es handelt sich um zehn statt bisher um dreißig Jahre - in Anspruch genommen werden. Nach Ablauf der Bindungszeit kann der Bauträger die volle Marktmiete erzielen oder das Grundstück zu dem dann am Markt zu erzielenden Preis verkaufen. Daher gilt der Grundsatz: Je kürzer die Bindungszeit, desto weniger ist der Preisnachlaß gerechtfertigt. Sie haben eben, Kollege Conradi, darauf schon abgehoben. Ich zweifle, ob das, was Sie vorschlagen, überhaupt realisierbar ist. Zum dritten muß auch gesehen werden: Sollten bundeseigene Grundstücke bereitgestellt werden, so stellt dies im Prinzip kein geeignetes Mittel dar, die Wohnungsbauförderung breit zu streuen, denn es ist wohl eher zufällig, wo der Bund Grundstücke besitzt. Damit würde die Verbilligung regelrecht eine Zufallsförderung darstellen. Viertens hat sich auch gezeigt, daß bei den Grundstücken, die zum sogenannten normalen Preis zu erhalten sind, die Verbilligung um 15 % durchaus ausreicht, denn auf besonders teuren Grundstücken sollte man üblicherweise keinen sozialen Wohnungsbau erstellen. ({3}) Schließlich möchte ich letztlich darauf hinweisen, daß aus unserer Sicht auch eine Erhöhung des Preisnachlasses um 50 % auch aus folgendem Grund nicht geboten erscheint, da wir statt des Verkaufs auch das Instrument des Erbbaurechts anwenden können, wobei hier ausdrücklich noch einmal zu betonen ist - dies wird auch getan - , daß der Erbbauzins in schwierigen Fällen abgesenkt werden kann. Dieses Instrument bietet wohl die Möglichkeit, dem Ziel in dem gewünschten Umfang näherzukommen. ({4}) Aus allen diesen Gründen, die ich habe vortragen dürfen, sind wir nicht in der Lage, den Argumentationen des Antrages zu folgen. Wie ich bereits gesagt habe, sträuben wir uns aber nicht, dem Antrag auf Überweisung an die zuständigen Ausschüsse zuzustimmen. Ich bedanke mich dafür, daß Sie mir zugehört haben. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, bundeseigene Grundstücke verbilligt an Gemeinden zu verkaufen, ist grundsätzlich vernünftig. Wir stimmen ihm zu. Er hat allerdings den Pferdefuß, daß der Bund nicht in allen Städten und Gemeinden, in denen Wohnungen fehlen, auch geeignete Grundstücke besitzt, die er den Kommunen verbilligt verkaufen kann. ({0}) Auf diese Weise würde bei Annahme dieses Antrages die Ungerechtigkeit entstehen, daß ein Teil der Städte und Gemeinden ihre für den sozialen Wohnungsbau benötigten Grundstücke verbilligt beim Bund kaufen könnte, während ein anderer Teil weiterhin den Wucherpreisen auf dem sogenannten freien Grundstücksmarkt ausgeliefert wäre. Um diese Situation zu verhindern, würden wir bei Annahme dieses Antrages durch den Bundestag demnächst zusätzlich beantragen, daß aus den Einnahmen aus dem verbilligten Kauf von Grundstücken ein Fonds gebildet wird, aus dem Gemeinden unterstützt werden können, die darauf angewiesen sind, für den sozialen Wohnungsbau Grundstücke auf dem freien Markt zu erwerben. Nur so kann unserer Meinung nach die entstehende finanzielle Bevorzugung der einen Kommune gegenüber der anderen verhindert werden. Außerdem würden wir natürlich Wert darauf legen, daß auf den zu verbilligten Preisen abgegebenen Grundstücken nur soziale Mietwohnungen gebaut werden, die auch dauerhaft sozial gebunden sind. Es wäre übrigens merkwürdig, wenn dieser Antrag vom Deutschen Bundestag nicht angenommen würde; denn das, was uns CDU/CSU, FDP und SPD heute bieten, ist eine Aufführung, die jeder Kleinkunstbühne Ehre machen würde. Ich will Ihnen die einzelnen Akte dieses Kunststückes einmal vortragen. Erster Akt: Am 23. Oktober 1981 bringt die CDU/ CSU einen Änderungsantrag zum Gesetz zur verbil15928 ligten Veräußerung von bundeseigenen Grundstükken ein. Inhalt: Grundstücke des Bundes und seiner Sondervermögen Bahn und Post sollen nach Meinung der CDU/CSU bis zu 50 % unterhalb des Verkehrswertes verkauft werden können. Zweiter Akt: Die SPD/FDP-Regierung streicht mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1982 das Gesetz über die verbilligte Veräußerung von bundeseigenen Grundstücken. Begründung: Trotz Preisnachlässen von bis zu 30 % des Verkehrswertes sei der gewünschte marktstabilisierende Effekt ausgeblieben; zusätzlich würden die Bundeseinnahmen durch die Streichung um bis zu 14 Millionen DM jährlich steigen. Der 16. Ausschuß unter Vorsitz von Oscar Schneider forderte damals hingegen einmütig, daß die Bundesregierung dieses Gesetz nicht streichen und das fehlende Geld statt dessen woanders holen sollte. Dritter Akt: Nach der Wende setzt die CDU/CSU-FDP-Regierung genau die Praxis fort, die sie vorher bei der SPD-FDP-Regierung kritisiert hatte. Sie gibt ihre Grundstücke also nicht zu verbilligten Preisen ab. Vierter Akt: Die SPD bringt am 7. Februar 1990 einen Antrag ein, in dem nahezu identische Forderungen gestellt werden wie seinerzeit in dem Antrag der CDU/CSU. Im Grunde hätten SPD und CDU/CSU ihre alten Redemanuskripte austauschen können. Es wäre niemandem in diesem Hause aufgefallen. Im übrigen ist es natürlich falsch anzunehmen, daß man die heutige Wohnungsnot hauptsächlich durch die Erstellung von Neubauten beseitigen kann. Viel wichtiger ist die Bestanderhaltung an billigem Wohnraum. Dazu muß endlich die Umwandlung von preiswerten Mietwohnungen in teure Eigentumswohnungen gestoppt werden, die der Staat allein im letzten Jahr mit 5,7 Milliarden DM gefördert hat. Das muß man sich einmal vorstellen: 5,7 Milliarden DM allein dafür, daß diejenigen, die sich Eigentum leisten können, denjenigen, die es sich nicht leisten können, die Wohnungen buchstäblich wegkaufen. Solange Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nicht die Abschaffung dieser Form von Eigentum verlangen, so lange ist Ihre Wohnungspolitik auch nicht glaubwürdig. Wie können Sie denn auf der einen Seite sagen, Herr Müntefering, Sie wollen die Umwandlung stoppen, wenn Sie auf der anderen Seite nicht die Abschaffung des § 10e des Einkommensteuergesetzes wenigstens für den Erwerb von Altbauwohnungen fordern? Wo bleibt die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik? ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Conradi, ich muß Ihnen ein Kompliment machen: ({0}) Sie sind einer der abgefeimtesten Polemiker, die ich kenne. ({1}) Die Grundstücksverhandlungen der Stadt Stuttgart mit den schleswig-holsteinischen Verhandlungen über den Verkauf einer Dienstvilla zu verknüpfen ist schon gekonnt, Herr Kollege. ({2}) Aber es ist zutreffend: Wer Wohnungen schaffen will, der braucht Grund und Boden, der braucht Baurecht und der braucht Geld. Wer sogenannten preiswerten Wohnraum schaffen will, der braucht einen Dritten, der Grundstücke billig hergibt und die Baukosten in erheblichem Umfang bezahlt. Einer muß immer bezahlen. Das kann nach Lage der Dinge nur die Gemeinschaft sein: entweder durch Hergabe oder Verschleuderung von Grund und Boden oder durch Subventionen in erheblichem Umfang oder durch zugemutete Vermögenseinbußen privater Eigentümer. Einer bezahlt die Zeche immer. Dieses ökonomische Grundgesetz löst niemand auf. Ihnen gefällt dieses Grundgesetz nicht. Deswegen muß man es immer wieder einmal erwähnen. ({3}) Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden, daß Grundstücke des Bundes zum halben Preis in die Verfügungsgewalt der Gemeinden kommen. Dort sollen sie bindungsmäßig auch bleiben. Auf diesem Hinterweg soll die alte programmatische Forderung der SPD nach Kommunalisierung von Grund und Boden jedenfalls auf einem kleinen Teilsektor schon praktiziert werden. Ich frage mich nur, warum bei dem erheblichen kommunalen Grundbesitz, den es auch in sozialdemokratisch regierten Städten gibt, von dieser konsequenten Durchführung der Kommunalisierung von Grund und Boden nicht die Rede ist.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gattermann, ist Ihnen bekannt, daß unsere Vorlage einem Antrag des Bundesrats entspricht, daß uns also die Regierung des Freistaates Bayern und die Regierung des Landes Baden-Württemberg dieser sozialdemokratischen Kommunalisierungsforderung damit zugestimmt hätten, wenn das wahr wäre, was Sie behaupten?

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Kollege Conradi, daß natürlich auch in Baden-Württemberg und in Bayern die eigentumsmäßigen Überlegungen bezüglich Grund und Boden nicht immer mit den Überlegungen identisch sind, die ich für die richtigen halte, ist unstrittig. Wenn man in diesem Fall aber eine gewisse Übereinstimmung sieht, stellt man fest, daß das sektoral wirklich begrenzt und nicht der Einstieg in eine allgemeine Kommunalisierung ist. Das ist der Unterschied.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ihr verehrter Kollege Grünbeck wünscht eine Zwischenfrage zu stellen.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auch die erlaube ich.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gattermann, ist Ihnen bekannt, daß in der Stadt München nach einer sorgfältigen Zählung etwa anderthalb Millionen Quadratmeter Baulücken bestehen und daß sich der dortige SPD-Oberbürgermeister nicht für fähig hält, wenigstens diese Baulücken nutzbar zu machen? Wer solche Hausaufgaben versäumt, hat eigentlich kein Anrecht, derartige Anträge einzubringen, wie es heute geschehen ist. Sind Sie meiner Auffassung? ({0})

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Grünbeck, diese Zahlen, die Sie genannt haben, waren mir nicht geläufig; ({0}) ich gehe davon aus, daß sie zutreffen. Sie bestätigen genau das, was ich, bezogen auf die Wohnungsversorgung in der Stadt München, schon immer gedacht und vermutet habe. Das Ärgerliche an solchen Anträgen wie dem hier vorliegenden besteht darin, daß sie mit der Grundstückswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland so gut wie nichts zu tun haben und einzig und allein der Täuschung der Bürgerinnen und Bürger dienen, die preiswerten Wohnraum suchen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gehe immer davon aus, Frau Präsidentin, daß das nicht angerechnet wird.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das ist klar.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann selbstverständlich. Bitte sehr.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gattermann, darf ich aus Ihrer Antwort und der Frage des Kollegen Grünbeck schließen, daß Sie der Auffassung sind, daß alle Eigentümer von Baulücken zwangsenteignet werden müssen, damit die Grundstücke einer Bebauung zugeführt werden können?

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, dieser Meinung bin ich durchaus nicht. Der Kollege Grünbeck hat von Baulücken gesprochen, die im Eigentum der Stadt München sind. ({0}) - So habe ich ihn verstanden. Wenn es sich nicht um Baulücken im Eigentum der Stadt München handelt, dann gibt es meines Wissens im Bundesbaugesetz ein Baugebot. Allerdings hat das gewisse administrative Probleme mit sich gebracht, die im Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz jetzt gerade korrigiert worden sind. Ich hoffe, daß, so die Baulücken nicht der Stadt München gehören, Herr Kronawitter nunmehr Sorge dafür trägt, daß auf der Grundlage des WohnungsbauErleichterungsgesetzes das Baugebot dort a tempo ausgeübt werden wird. Meine Damen und Herren, ich sagte, daß es eine Täuschung der Bürgerinnen und Bürger sei, wenn man meint, auf diesem Wege an der Wohnungsversorgung irgendwo etwas ernsthaft verbessern zu können. Seit Jahren gibt der Bund für den Wohnungsbau geeignete Grundstücke ab, soweit sie nicht anderweitig selbst dringend benötigt werden. Die noch im Bundesbesitz für den sozialen Wohnungsbau geeigneten befindlichen Flächen sind, gemessen an der insgesamt zum Wohnungsbau geeigneten vorhandenen Fläche, minimal; man kann sie kaum in Promillesätzen ausdrücken. Die Gemeinden z. B. verfügen über weit mehr für den sozialen Wohnungsbau geeignete Flächen, als es sich der Bund nur träumen lassen könnte. Deshalb ist das ein Schau-Antrag, der für die Probleme, um die es hier geht, in der Sache überhaupt nichts bringt. Es hapert nicht nur an Grund und Boden, es hapert auch am Baurecht, bei dem die Gemeinden im Verzug sind. Es hängt an allen möglichen administrativen Hemmnissen, die man immer wieder anklagen muß. Mit der unentgeltlichen oder verbilligten Übergabe von wenigen Grundstücken an die Gemeinden ändern wir an unserem Problem also so gut wie gar nichts. Der Bund wird seine Restbestände, so sie geeignet sind und nicht anderweitig dringend benötigt werden, selbstverständlich nach wie vor verbilligt, und zwar um 15 % , in den Markt - nicht nur in die Gemeindeverfügung - geben. Wir haben im Herbst vergangenen Jahres lange überlegt, ob der Satz von 15 % Rabatt auf 30 oder 50 % erhöht werden sollte. Wir haben das lange hin und her gewendet, weil man natürlich auf die Idee kommen könnte, das bringe kurzfristig etwas. Wir haben uns dann einmal die gesamten Verkaufsfälle der Vergangenheit angesehen und haben zu unserer Verblüffung festgestellt, daß beim Hineingeben in den Markt von den bisherigen Möglichkeiten des Rabatts von 15 % kaum Gebrauch gemacht worden ist. Dann macht es wenig Sinn, den Rabatt, wenn man Grundstücke in den Markt hineingeben will, noch weiter zu erhöhen. Wir sahen und sehen in dieser Geschichte keinen Sinn. Ich komme auf meinen Ausgangspunkt zurück. Der Antrag liefert uns die bei den im Herbst angestellten Überlegungen vermißte Sinnhafigkeit mit dem Teileinstieg in die Kommunalisierung von Grund und Boden, soweit es sich um Bundeseigentum handelt, nicht nach. Wir lehnen den Antrag daher ab. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Carstens.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte auch ich sagen, daß es sich um ein Thema handelt, welches wegen seiner Bedeutung für den sozialen Wohnungsbau und für die Grundstücke, die dafür zur Verfügung zu stellen sind, wirklich wert ist, diskutiert zu werden. Angesichts der Bedeutung der Thematik bedanke ich mich bei den Kollegen Müller ({0}) und Gattermann ganz herzlich für ihre sachlichen Beiträge. Ich habe mich allerdings sehr gewundert und bin sogar etwas enttäuscht darüber, in welcher Weise Kollege Conradi eine Vermengung von Vorwürfen vorgenommen hat, die, recht polemisch formuliert, in einer Schärfe vorgetragen wurden, die meiner Meinung nach völlig unangebracht war. ({1}) Wir wollen ja alle den Versuch unternehmen, in Sachen sozialer Wohnungsbau etwas zustande zu bringen. ({2}) Die Bundesregierung - dies sei in diesem Zusammenhang einmal erwähnt - hält präzise und genau das ein, was sie in der Vergangenheit zugesagt hat. ({3}) Das trifft auch für die Aussagen der Ministerin Hasselfeldt im Zusammenhang mit dem Begehren zu, Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Wir haben ja - das ist soeben erwähnt worden - schon seit Jahr und Tag im Haushalt die Regelung, daß wir die Grundstücke beim Verkauf bis zu 15 % verbilligen können. Hierüber sind 5 400 ha in der Vergangenheit verkauft worden, und es kam zu 114 Millionen DM Einnahmeverzichten. ({4}) Dieses Instrument ist jetzt - das war die Einhaltung der Zusage der Wohnungsbauministerin - durch eine neue Formulierung im Bundeshaushalt erheblich verstärkt worden, die ab 1990 gilt und praktiziert wird, nämlich die Regelung, daß wir die Kosten bei der Vergabe von Grundstücken auf Erbbaubasis ganz deutlich und nachhaltig um weit über 15 % hinaus senken können. Die Bundesregierung, aber offensichtlich auch der Haushaltsausschuß und das Parlament halten den Weg für angemessener, über den Erbbauzins zu einer deutlichen Reduzierung der Mietzinsbelastung zu kommen. Das ist möglich. Da gibt es auch keine Probleme und keine Bedenken. ({5}) Insofern möchte ich gar nicht auf die Einzelfälle und Beispiele eingehen, die vorgetragen wurden. Ich werde sie aber im nachhinein noch einmal in Ruhe prüfen lassen und vor der Öffentlichkeit gegebenenfalls darauf zurückkommen. Ich komme auf einen Punkt zurück, den der Kollege Gattermann schon angesprochen hat. 5 400 ha sind vom Bund in den vergangenen Jahren zur Verfügung gestellt worden. Das ist die eine Zahl, die feststeht. Wir haben zur Zeit im Allgemeinen Grundvermögen des Bundes im gesamten Bundesgebiet nur noch 114 ha, die sofort bebaubar sind. Davon ist nur auf etwa 50 ha die Errichtung größerer Wohngebäude möglich. Die restlichen 64 ha sind auf Grund der Festsetzungen in den jeweiligen Bebauungsplänen nur für die Bebauung mit Ein- und Zweifamilienhäusern vorgesehen. Von den Flächen, auf denen die Errichtung größerer Wohngebäude möglich ist, liegt der Großteil, nämlich 36 ha, in kleinen oder abgelegeneren Orten. In Ballungsgebieten sind damit nur noch wenige Grundstücke des Allgemeinen Grundvermögens vorhanden, auf denen Dritte Wohngebäude des sozialen Wohnungsbaus errichten können. Ich habe das deswegen vorgetragen, weil ich damit deutlich machen wollte, daß das, was wir jetzt noch zur Verfügung haben - wenn Sie es einmal genau nehmen -, die Größe des - wenn auch großen - Hofes eines Getreidebauern ausmacht, und das auf dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem wird der Eindruck erweckt, als ob über die verbilligte Vergabe von Baugrundstücken des Bundes die gesamte Problematik des sozialen Wohnungsbaus geregelt werden könnte. ({6}) Zusätzliche Flächen könnten dann bereitgestellt werden, wenn die Belegenheitsgemeinden schnell die noch fehlenden planungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen würden. Dies wäre neben dem Viesenhäuser Hof in Stuttgart vor allem z. B. in Ulm, auf anderen Grundstücken in Stuttgart sowie in München möglich. Auf die Bauleitplanung der Städte und Gemeinden hat der Bund aber keinen Einfluß. Der Bund, meine Damen und Herren, hat mit der verbilligten Abgabe von Grundbesitz in der Vergangenheit bereits viel für den sozialen Wohnungsbau getan. Er ist auch künftig dazu im Rahmen seiner Möglichkeiten bereit. Ich weise aber noch einmal darauf hin, daß Länder und Kommunen erheblich mehr Grundstücke als der Bund haben, die für die Bebauung im sozialen Wohnungsbau geeignet sind. Ich rege an, diese Möglichkeiten verstärkt zu nutzen. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/6382 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich sehe keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatztagesordnungspunkt 4 auf : 15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ehmke ({0}), Heistermann, Horn, Erler, Fuchs ({1}), Gerster ({2}), Dr. Klejdzinski, Kolbow, Koschnick, Leonhart, Steiner, Zumkley, Dr. von Bülow, Gansel, Dr. Götte, Kühbacher, Leidinger, Nagel, Opel, Dr. Scheer, Schulte ({3}), Voigt ({4}), Wiefelspütz, Walther, Dr. Ahrens, Dr. Struck, Dr. Hauchler, Börnsen ({5}), Dr. NieVizepräsidentin Renger huis, Würtz, Faße, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Überprüfung und Aufhebung des SoltauLüneburg-Abkommens - Drucksache 11/5665 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß ({6}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP4 Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Lippelt ({7}) und der Fraktion DIE GRÜNEN Überprüfung und Aufhebung des SoltauLüneburg-Abkommens - Drucksache 11/6804 Überweisungsvorschlag : Verteidigungsausschuß ({8}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell ist im Ältestenrat eine Stunde Beratungszeit vorgeschlagen worden. - Auch damit ist das Haus einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Soltau-Lüneburg-Abkommen ist ein Produkt des Kalten Krieges. Ich denke, es besteht Einigkeit darüber, daß der Kalte Krieg zu Ende ist. Was liegt also näher, als auch von den Produkten des Kalten Krieges Abschied zu nehmen? Um hier einen konstruktiven Beitrag zu leisten, haben wir Sozialdemokraten den vorliegenden Antrag zur Überprüfung und Aufhebung des Soltau-Lüneburg-Abkommens eingebracht. Der Antrag enthält im wesentlichen die folgenden Punkte. Erstens. Die Region Soltau-Lüneburg ist militärisch überaus stark belastet. Von den Truppenübungsplätzen Munster-Süd, Munster-Nord und Bergen gehen militärische Gesamtbelastungen aus, die die Bevölkerung nicht mehr hinzunehmen bereit ist. Dazu kommt der Übungsraum des Soltau-Lüneburg-Abkommens, der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges britischen und zum Teil kanadischen Truppen zur Verfügung steht. Vertraglich geregelt ist dies seit 1959. Für Mensch und Natur sind die Belastungen mit ihren Auswirkungen auf die ökologische und ökonomische Entwicklung des Raumes unerträglich geworden. Die von den britischen Truppen in Anspruch genommenen Sonderrechte sind nicht länger vertretbar. Es muß erreicht werden, daß die Ausbildungs-und Übungsmaßnahmen der britischen Rheinarmee denen der Bundeswehr entsprechen. Zweitens. Der Deutsche Bundestag soll deshalb die Bundesregierung auffordern, eine Überprüfung des Soltau-Lüneburg-Abkommens zu verlangen, und zwar mit dem Ziel, die Verlegung der Übungen auf dafür geeignete Truppenübungsplätze innerhalb der nächsten zehn Jahre zu erreichen. Wir sind der Ansicht, daß es gelingen müßte, diese Verlegung weitaus schneller zu bewerkstelligen. Die politisch-militärische Lage macht dies möglich. Drittens. Eine Reihe von Sofortmaßnahmen sollte umgehend wirksam werden. Ohne die in unserem Antrag genannten Sofortmaßnahmen zu gewichten, will ich an dieser Stelle nur einige wenige benennen. Wir wollen eine Änderung der Grenzlinie des Übungsraumes und der sogenannten roten Flächen in der Weise, daß jeweils militärfreie Schutzzonen von mindestens 1 km von der Wohnbebauung der Ortschaften und Siedlungen entstehen. Wir wollen, daß Panzerbewegungen im Rahmen des Abkommens ausschließlich innerhalb der „roten Flächen" durchgeführt werden und daß die Truppenstärke, die Anzahl der Rad- und Kettenfahrzeuge sowie Art und Umfang von Waffen und Geräten eindeutig begrenzt werden. ({0}) Wir wollen, daß Schießübungen mit Darstellungsmunition nur noch in festzulegenden Gebieten und in einer Mindestentfernung von 1 000 m von Ortschaften, Gehöften und Straßen gestattet werden.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Nolting?

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte, Herr Kollege Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heistermann, sind Sie nicht mit uns der Meinung, daß es dazu kommen muß, daß die „roten Flächen" ganz verschwinden?

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Nolting, ich nehme dies gern auf. Wir werden ja im Ausschuß bei der Beratung feststellen, ob das hier nur so gesagt wird oder ob Sie unserem Antrag in dieser Richtung zustimmen werden. Ich lade Sie und auch die Kollegen von der CDU gerade aus Niedersachsen ein, gemeinsam mit uns Druck zu machen, damit wir hier zu einer vernünftigen Lösung kommen. Unsere Unterstützung bekommen Sie dabei, Kollege Nolting. Wir würden uns natürlich freuen, wenn Sie dann auch unseren Antrag unterstützen könnten. Wir wollen also - ich wiederhole es -, daß Schießübungen mit Darstellungsmunition nur noch in festzulegenden Gebieten und in einer Mindestentfernung von 1 000 m von Ortschaften, Gehöften und Straßen gestattet werden. Sprengstoffe aller Art dürfen nicht zur Explosion gebracht werden. Wir wollen schließlich - dies wäre eigentlich eine Selbstverständlichkeit -, daß exakte Übungszeiten vorgegeben werden. An Samstagen und Sonntagen sowie an gesetzlichen Feiertagen sind alle Arten von Übungen zu untersagen. Gleiches muß für die Hauptferienzeit und die Zeit der Heideblüte gelten, damit der Fremdenverkehr nicht weiteren Schaden nimmt. Viertens. Die Bundesregierung wird aufgefordert, dem Plenum des Deutschen Bundestages bis Ende September 1990 - und dann im zweijährigen Tur15932 nus - über ihre Bemühungen bis zur schließlichen Aufhebung des Abkommens zu berichten. Ich stelle unseren Antrag gerade auch deshalb so ausführlich dar, weil er das Ergebnis eines intensiven Meinungsaustausches mit betroffenen Bürgern und Bürgerinitiativen, mit den Gemeinden, Städten und Kreisen ist. Wir Sozialdemokraten machen damit wahr, was wir versprochen haben: Wir lassen uns nicht länger mit Pressemitteilungen und vermeintlichen Zugeständnissen beschwichtigen. Wir wollen endlich Taten der Regierung sehen. Mit all den Petitionen, Anträgen, Anhörungsprotokollen, Briefwechseln, Kleinen und Großen Anfragen, Protokollen über Konferenzen und Ortstermine lassen sich allein in meinem Büro mehrere Aktenordner füllen. Ich bin sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Sie wollen nicht, daß diese unendliche Geschichte ohne Ende bleibt. ({0}) Deshalb bitte ich Sie, vor allem die niedersächsischen Kollegen unter Ihnen, um Zustimmung zu unserem Antrag. In diesem Zusammenhang möchte ich auch meine niedersächsischen Kollegen Dieter Möhrmann, MdL, und Karl Ahrens, MdB, erwähnen, die sich seit Jahren um Verbesserungen für diese Region bemühen, deren militärische Inanspruchnahme in Europa einmalig ist. ({1}) Sie haben mir vor dieser Sitzung noch einmal eindrucksvoll die Besorgnisse der Bürgerinnen und Bürger im Raum Soltau-Lüneburg geschildert. Die Bevölkerung dränge vor allem darauf, die Verlegung der Übungen auf dafür geeignete Truppenübungsplätze so schnell wie möglich zu erreichen. Außerdem werde nicht eingesehen, daß die Bundeswehr die Erweiterung des Übungsplatzes in Breloh und die seit Jahren geplante Schießbahn 7 im Lopautal in Munster vollziehen wolle. Schließlich müsse in den Kommunen, in den Ländern und im Bund darüber nachgedacht werden, wie Abrüstung und Arbeitsplatzprobleme strukturschwächerer Regionen unter einen Hut gebracht werden können. Ich kündige an, daß wir diese und weitere Punkte bei den Beratungen im zuständigen Ausschuß eingehend prüfen und besprechen werden. Eine Ergänzung unseres Antrages in diesem Sinne wird erfolgen. All das, was ich in den letzten Jahren aus der Region Soltau-Lüneburg mitbekommen und erfahren habe, steht auf jeden Fall der gemeinsamen Presseerklärung von Verteidigungsminister Tom King und Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg diametral entgegen. Die beiden Verteidigungsminister meinten noch am 21. September 1989, in einem Pressekommuniqué festhalten zu können: Die beiden Verteidigungsminister kamen überein, die Anwendung des Soltau-Lüneburg-Abkommens neu zu regeln, um die Belastung der Bevölkerung aus der militärischen Übungstätigkeit zu vermindern. Damit konnten die langen und intensiven Verhandlungen zwischen den Bündnispartnern erfolgreich abgeschlossen werden. Die neue Regelung beachtet die Übungserfordernisse der britischen Streitkräfte sowie die berechtigten Interessen der Bevölkerung und findet die Zustimmung der kanadischen Streitkräfte. Wie schnell ist das obsolet geworden? Diese Erklärung entspricht nicht der Wirklichkeit. Jedem, der sich über die Wirklichkeit informieren will, empfehle ich das Dossier aus der „ZEIT" vom 25. November 1988 mit dem Titel „Schwarze Wüste - Die Lüneburger Heide ist ein permanenter KriegsÜbungsplatz", der kurz und anschaulich schildert, was die Menschen in diesem Landstrich auszuhalten haben. Ich wiederhole deshalb meine dringende Bitte an alle Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages: Die Initiative der SPD-Fraktion zur Überprüfung und Aufhebung des Soltau-Lüneburg-Abkommens sollte Sie dazu ermutigen, eine konstruktive Lösung anzustreben und zu ermöglichen. Das gilt auch für die Kolleginnen und Kollegen der GRÜNEN, die meinten, einen eigenen Antrag mit Datum vom 27. März 1990 einbringen zu müssen, der überdies meiner Meinung nach unausgegoren erscheint. Viele Formulierungen gleichen erstaunlich unserem Antrag. Ich bitte also auch Sie, dem Antrag der SPD-Fraktion zuzustimmen, und schließe mich deshalb dem Vorschlag des Ältestenrates, den Antrag federführend an den Verteidigungsausschuß zu überweisen, an. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Hoffmann.

Ingeborg Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Heistermann, wenn Sie von den Belastungen, die die Bevölkerung, und den Schäden, die die Natur im Raum Soltau-Lüneburg erleiden muß, sprechen, haben Sie unsere volle Unterstützung. Es ist für mich als Wahlkreisabgeordnete der CDU selbstverständlich, daß ich mich seit vielen, vielen Jahren für die Verringerung der militärischen Belastungen in unserem Gebiet einsetze. Hierzu gehört natürlich auch eine spürbare Entlastung im Zusammenhang mit dem Soltau-Lüneburg-Abkommen. Es stimmt, wenn Sie in Ihrem Antrag feststellen, daß der Raum Soltau-Lüneburg eine militärisch überaus stark belastete Region ist. Neben dem Übungsraum Soltau-Lüneburg ergeben sich noch andere Belastungen - das haben Sie schon gesagt - z. B. durch die Truppenübungsplätze Munster-Nord, Munster-Süd und Bergen sowie durch das Tieffluggebiet „Area 5". Das ist wirklich einmalig in der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Frau Hoffmann ({1}) - Das habe ich schon immer gewußt, und dagegen habe ich mich auch immer schon gewehrt. ({2}) - Ich stelle keine Anträge, sondern wir haben realistische Erfolge vorzuweisen. ({3}) - Warten Sie ab; hören Sie bitte zu. Das Soltau-Lüneburg-Abkommen zwischen Großbritannien, Kanada und der Bundesrepublik Deutschland besteht seit 1959. Die Kanadier benutzen dieses Gebiet nicht, so daß es jetzt ausschließlich ein Übungsgebiet der Briten ist. Das Schlimme an diesem Übungsgebiet ist, daß Übungen auch im bewohnten Gebiet stattfinden und daß bewohnte Ortschaften durch den Übungsbetrieb belastet sind, vor allen Dingen Schneverdingen und Bispingen und andere kleine Ortschaften. Durch die dauernde militärische Belastung ist es zu berechtigten Protesten in der Bevölkerung gekommen. Die Forderungen nach Erleichterungen für den Raum Soltau-Lüneburg und einer gerechteren Verteilung der militärischen Übungsgebiete und des Tieffluglärms sind von mir seit langem mit Nachdruck erhoben worden. Ich habe immer wieder gemeinsam mit meinen Kollegen aus dem Wahlkreis, mit Herrn Neuhausen und mit Herrn Dr. Ahrens, bei den britischen Partnern drei Kernforderungen eingebracht: Einführung einer Sommerpause im gesamten Übungsraum, Einhaltung einer Sonn- und Feiertagsruhe im gesamten Übungsraum und Einhaltung von sogenannten Pufferzonen zu den Wohngebieten im gesamten Übungsraum von mehreren hundert Metern. Leider - meine Damen und Herren, muß man es hier ganz deutlich sagen - hat die britische Regierung bisher, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, überhaupt kein Entgegenkommen gezeigt. ({4}) Erst nachdem Bundeskanzler Dr. Kohl und Premierministerin Thatcher Ende 1985 die Lösung der anstehenden Fragen den beiden Verteidigungsministern übertragen hatten, wurde eine deutsch-britische Koordinierungsgruppe gebildet, die Lösungsvorschläge erarbeitet hat. Die britische Seite, meine Damen und Herren, hat leider diese Verhandlungen verzögert. ({5}) 1987 haben überhaupt keine Gespräche stattgefunden, und bis zum Spätsommer 1989 waren sie sehr zögerlich. Es ist aber das Verdienst von Minister Dr. Stoltenberg, daß die beiden Verteidigungsminister im September 1989 übereinkamen, die Anwendung des Soltau-Lüneburg-Abkommens neu zu definieren. ({6}) Erstens - und das ist ein Erfolg und eine Forderung, die auch aus dem Wahlkreis lange und immer wieder erhoben wurde - : Eine jährliche und, was wichtig ist, zusammenhängende vierwöchige Sommerpause in der Zeit der Heideblüte wurde eingeführt. Die Sommerpause findet in diesem Jahr vom 17. August bis zum 17. September geschlossen für vier Wochen und einem zusätzlichen Wochenende statt. ({7}) - Das ist sehr gut, weil das eine seit langem erhobene Forderung ist und weil sich die Bundeswehr schon lange in diesem Sinne verhält. ({8}) - Meine liebe Kollegin, oft ist das Selbstverständliche nicht sofort zu erreichen. ({9}) - Meine Damen, meine Herren, ein bißchen Ruhe! Man sollte doch die Erfolge jetzt nicht zerreden. ({10}) - Ein bißchen leiser, liebe Kollegin! Es ist die Heideblütezeit, die für die Menschen dort im Fremdenverkehr eine ganz wichtige Urlaubszeit ist. Zweitens ist die Einhaltung der Wochenend- und Feiertagsruhe erreicht worden. Sie wird eingehalten, wie die Bevölkerung bestätigt. Von samstags 13 Uhr sowie an Sonn-und Feiertagen werden militärische Aktivitäten auf das absolut Notwendige beschränkt. ({11}) - Das kann ich Ihnen gerne sagen. Das bedeutet, daß man irgendwelche Fahrzeuge, wenn sie liegenbleiben, birgt. Es gilt auch für Erkundungs- und für Nachschubfahrten. Es ist verboten, an diesen Wochenenden mit Kettenfahrzeugen zu fahren. Die Pufferzone - das ist der dritte Punkt - in besonders kritischen Bereichen - das sind die Wohngebiete - wurde auf 400 Meter erweitert. ({12}) - Hören Sie doch noch bitte zu! Alles, was gefragt wurde und was wir in diesen Gesprächen verlangt haben, ist von den Ministern erreicht worden. Jetzt ist die Umsetzung vor Ort gefragt. Hier, meine Damen und Herren, ist noch einiges zu tun. Die Bürger dieser Region berichten mir leider immer wieder, daß von den Vereinbarungen bisher noch nichts zu spüren ist. Das liegt meines Erachtens daran, daß sich die britischen Streitkräfte nur nach und nach umstellen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ich habe in einem Gespräch mit der britischen Gesandtin erfahren, daß jetzt ein neues Briefing von den Briten herausgebracht wird, das ihre Truppen genauestens über die jetzigen Bedingungen informiert. Frau Hoffmann ({13}) Was sehr wichtig ist: Das besonders belastende Überschießen mit der Haubitze M 107 mit Ladung 3 wird ab sofort nicht mehr durchgeführt. Was die vereinbarte vierwöchige Sommerpause anbetrifft, meine Damen und Herren, können wir natürlich keine Erfahrung haben, weil sie erst am 17. August beginnt und bis zum 17. September reicht. Lassen wir doch den Briten die Möglichkeit, zu beweisen, daß sie sich diesbezüglich bewähren! ({14}) Meine Damen und Herren, das sind handfeste Erfolge, die wir nach jahrelangem Ringen mit der britischen Regierung erreicht haben. ({15}) Was den Umwelt- und Naturschutzbereich in diesen Gebieten betrifft, so veranlaßt die hierzu geschaffene Kommission für Maßnahmen zur Vermeidung und Eindämmung der Bodenerosion und sonstiger Umweltschäden im Raum Soltau-Lüneburg eine Vielzahl von geeigneten Maßnahmen. Wenn man kritisiert, sollte man auch das Positive erwähnen. Das lassen Sie in Ihrem Antrag total weg. ({16}) Sie sprechen nicht von den Neuanpflanzungen. Sie sprechen nicht von dem Bau der Über- und Unterführungen. Sie sprechen nicht vom Anlegen der Teiche. ({17}) Selbstverständlich ist die Natur belastet, leider Gottes. ({18}) Aber es ist nötig, auch das Positive darzustellen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?

Ingeborg Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Hoffmann, darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie auch für die Aufkündigung des Soltau-Lüneburg-Abkommens sind, ja oder nein?

Ingeborg Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das können Sie meinen Ausführungen nicht entnehmen. Ich will es jetzt weiter ausführen. Ich will es nicht so, wie Sie es in Ihrem Antrag haben. Ich bin für das totale Auslaufen des Soltau-Lüneburg-Abkommens, aber in einer anderen Form. ({0}) - Bitte.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Wie können Sie mir erklären, daß sich bei diesem für Niedersachsen wichtigen Thema kein einziger niedersächsischer Abgeordneter der CDU hier im Raum befindet?

Ingeborg Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das erkläre ich mir mit der Mittagspause. Mir gefällt das auch nicht, Herr Kollege. ({0}) Die Anwesenheit der britischen Streitkräfte in der Bundesrepublik ist weiterhin notwendig. Meine Damen und Herren, das westliche Verteidigungsbündnis ist ein Garant nicht nur für unsere Freiheit, sondern auch für die Stabilität in ganz Europa. Das wird von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, auch nicht bestritten, wenn Sie mit der Aufhebung des Soltau-Lüneburg-Abkommens eine Verlegung des britischen Übungsbetriebes auf geeignete deutsche Truppenübungsplätze fordern. Sie wissen genauso wie ich, daß die überbelastet sind, daß die Bundeswehr selbst im Ausland übt und daß hier kaum Möglichkeiten sind. ({1}) Ich muß mich jetzt kurz fassen, weil sich meine Redezeit dem Ende zuneigt. Ich möchte zum Schluß mein Fazit ziehen. Nach langen Jahren und schwierigen Verhandlungen mit der britischen Regierung ist es uns im September 1989 erstmals gelungen, weitgehende Erleichterungen für die Bevölkerung im Einzugsbereich des Abkommens zu erreichen. Das ist der Erfolg der Union und des Verteidigungsministeriums. ({2}) Nach erfolgreichem Abschluß der KSZE-Verhandlungen zur Abrüstung, wahrscheinlich Mitte dieses Jahres, werden weitergehende Abrüstungsgespräche folgen, die dann zu Truppenreduzierungen der Bundeswehr und der in Deutschland stationierten NATO-Truppen führen werden. ({3}) Das beginnt wahrscheinlich Mitte oder Ende des kommenden Jahres. Hierzu melden wir schon heute unsere Forderungen aus dem Kreis Soltau-Fallingbostel an, ({4}) daß dann das in Deutschland einmalige britische Übungsgebiet im Soltau-Lüneburg-Raum verschwindet ({5}) und daß so die belastete Bevölkerung aufatmen kann. Dieser Zeitpunkt ist bei der jetzigen großpolitischen Situation gar nicht so weit. Im übrigen werden wir reichlich Gelegenheit haben, diese Debatte in den Ausschüssen fortzusetzen. ({6}) Frau Hoffmann ({7}) Ich beantrage im Namen meiner Fraktion Überweisung der Anträge. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwischen Soltau und Lüneburg - bis vor die Tore von Lüneburg - erstreckt sich eine der größten militärischen Absurditäten der inzwischen nun schon 45 Jahre währenden Nachkriegszeit, von der doch viele meinen, daß sie inzwischen zu Ende gegangen sei: ein bewohnter Truppenübungsplatz - etwa 40 km lang, 10 km breit, mit ca. 35 000 ha - mit einer Bevölkerung von 26 000 Menschen, die dort leben und wohnen, die über die Straßen und Wege zu ihren Arbeitsplätzen fahren, die die Felder bestellen und die immer wieder in Manöver geraten und durch deren Ernten die Panzer der britischen Rheinarmee fahren. Ca. 4 600 ha dieses Gebiets sind sogenannte Rote Flächen, die gemäß Art. 3 des Soltau-Lüneburg-Abkommens ständig benutzt werden können und die dementsprechend verwüstet sind. Das übrige Gebiet ist Manöverraum, der von Panzern und Truppen jederzeit durchquert werden kann. Wer einmal in der Gegend war, wer die breiten Panzertrassen durch die Felder gesehen hat, wer die verwüsteten Roten Flächen gesehen hat, wer einen Tiefflug in der Area 5, die sich auch in diesen Raum hinein erstreckt, erlebt hat, der weiß, daß der dortigen Bevölkerung dieser Zustand nicht länger zuzumuten ist. ({0}) Es gibt denn auch eine lange Geschichte des Widerstands gegen diese Belastungen. Die Bürgerinitiativen, aber auch der Landkreis Fallingbostel mit dem CDU-Oberkreisdirektor an der Spitze, auch der SPD-Kollege Möhrmann mit seiner Bürgerinitiative haben in vielfachen Eingaben die besondere militärische Belastung dieses Raums, die größer als die irgendeines anderen Raumes in der Bundesrepublik ist, dargelegt und auf Abhilfe gedrungen. Die vielfältigen Verhandlungen vor Ort und die Verhandlungen auf der obersten Ebene mit den britischen Benutzern haben zu keinen wesentlichen Entlastungen geführt, trotz der Bilanz, die Sie, Frau Hoffmann, soeben hier vorgetragen haben. Die Fraktion der GRÜNEN im Niedersächsischen Landtag - deshalb, Herr Heistermann, komme ich jetzt auf den Antrag zu sprechen, den ich hier wieder vorgelegt habe - hat vor zwei Jahren die Überprüfung des Soltau-Lüneburg-Abkommens entsprechend Art. 82 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut gefordert. Das ist der entscheidende Schritt, den die CDU und die FDP bisher nicht mitmachen wollten. Da das Soltau-Lüneburg-Abkommen keine eigenständige Kündigungsklausel enthält, wohl aber in die Rechtsregelungen des NATO-Truppenstatuts eingebettet ist, war dies die einzige Möglichkeit, zu einer grundsätzlichen Abhilfe zu kommen und nicht nur kleine Verbesserungen zu erreichen. Wir wollten damals und wollen auch heute eine Überprüfung mit dem Ziele, die „ständige Nutzung" der Roten Flächen aufzuheben, die Naturschutzgebiete aus dem Gebiet militärischer Übungen überhaupt herauszunehmen, denn das ist verfassungswidrig, ({1}) und alle Sonderrechte für Übungen außerhalb der Roten Flächen zu streichen. Außerdem sollte nach unserer Meinung eine eigenständige Kündigungsklausel in den Vertrag eingebaut werden. Unsere Forderungen laufen praktisch auf die Aufhebung der Anomalität eines bewohnten Truppenübungsplatzes hinaus. ({2}) Ich denke, es ist ganz selbstverständlich, daß 31 Jahre nach Abschluß des Abkommens nun endlich einmal von den Rechten des NATO-Truppenstatuts auf Überprüfung Gebrauch gemacht wird. Die SPD hat sich vor zwei Jahren unserem Vorstoß auf Nutzung der Möglichkeit gemäß Art. 82 angeschlossen, im übrigen aber zwischen kurzfristigen, nicht so weitgehenden Forderungen, die zu erreichen sie für realistisch hielt, und einer eher langfristigen Tendenz zur Aufhebung des Abkommens unterschieden. Dieselbe Unterscheidung spiegelt sich in dem jetzt von Ihnen vorgelegten Antrag wider. Wenn Sie etwa alle zwei Jahre die Vorlage eines Berichts verlangen wollen, wie viele Zwei-Jahres-Perioden sehen Sie eigentlich vor? Die CDU hielt seinerzeit den Weg über Art. 82 für einen den Engländern nicht zuzumutenden unfreundlichen Akt und hat die Initiative im Niedersächsischen Landtag verwässert. In dieser Initiative wurden erneut kleine Verbesserungen gefordert.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Heistermann?

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie es nicht anrechnen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ganz bestimmt nicht.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lippelt, könnten Sie unserer Formulierung zustimmen, wenn wir in zwei Jahren erreichen würden, daß die Bundesregierung ein Ergebnis vorlegt, das die Aufkündigung des Abkommens vorsieht?

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn wir versuchen, diesen Weg zu gehen. Wir werden im Ausschuß darüber sprechen. Ich bin allerdings der Meinung, daß man gleich ganz entschieden die radikalere Lösung, nämlich eine Überprüfung mit dem Ziel, das Abkommen überflüssig zu machen, suchen sollte. Vor mehr als einem Jahr ist der Unterausschuß Truppenübungsplätze unseres Hauses vor Ort gewesen. Er hat sich erneut von der Unhaltbarkeit der Situation überzeugt. Viele Bürger haben deutlich gemacht, daß ihre Geduld am Ende ist und daß sie den Weg über Art. 82 - das war das entscheidende Ergebnis dieser Sitzung - unterstützen. Die zuständi15936 Dr. Lippelt ({0}) gen Abgeordneten der vier Fraktionen dieses Hauses haben sich anschließend zusammengesetzt und gegenüber der britischen Regierung brieflich nochmals Einspruch erhoben. Ich selber habe mich diesem Brief allerdings nicht mehr angeschlossen und darauf aufmerksam gemacht, daß die Meinung der Bevölkerung entschiedener sei. Ich habe aber auch erklärt, ich wolle eventuellen kleinen Schritten nicht im Wege stehen. Deshalb habe ich stillgehalten. Erst aus dem jetzt von der SPD vorgelegten Antrag habe ich entnehmen müssen, daß die Initiative der drei Abgeordneten wiederum zu praktisch nichts geführt hat. Ich bedauere, daß es nicht zu dem von mir damals vorgeschlagenen gemeinsamen radikaleren Herangehen an die Sache gekommen ist. Insofern schien es mir sinnvoll, Herr Heistermann, jetzt auf den Antrag der GRÜNEN, so wie er seinerzeit, vor zwei Jahren, im Niedersächsischen Landtag gestellt worden ist, zurückzugreifen und nicht einfach nur Ihrem anderen Antrag zuzustimmen. Ich werde noch erläutern, warum. Trotzdem sollten wir uns, denke ich, im Ausschuß um ein gemeinsames Vorgehen bemühen; allerdings unterhalb einer Forderung nach Überprüfung nach Art. 82 können wir jetzt wirklich nicht mehr bleiben. Ich fordere deshalb insbesondere auch die örtlichen Abgeordneten von CDU und FDP auf, sich diesem überfälligen Schritt anzuschließen und in ihren Fraktionen massiv dafür zu werben. Man kann und muß so etwas nach 31 Jahren endlich machen. Unser Antrag unterscheidet sich von dem der SPD an zwei weiteren wichtigen Punkten. Erstens. Wir haben die Frage des Tiefflugs hier nicht mit hineingenommen. Der Tiefflug muß generell gestoppt werden, nicht nur im Bereich Soltau/Lüneburg. ({1}) Wir haben hier genügend Anträge gestellt und müssen an diesem Punkt nicht unter Beweis stellen, daß wir den sofortigen Stopp des Tiefflugs wollen. Zweitens. Wir verweisen auch nicht auf Ausweichmöglichkeiten für die Rheinarmee in Richtung auf andere Truppenübungsplätze der Region. Bekanntlich ist der große Truppenübungsplatz Munster-Nord wegen Arsenbelastung geschlossen. Sollten wir uns jetzt etwa das Gegenargument einhandeln, das sei alles ganz schön und gut, aber jetzt, wo Munster-Nord geschlossen sei, sei solches Ausweichen nicht möglich? Es kann, denke ich, nicht unsere Aufgabe sein, uns den Kopf unserer Regierung oder der britischen Regierung zu zerbrechen. Es kann auch nicht unsere Aufgabe sein, Belastungen zu verlagern und sie Anwohnern von anderen Truppenübungsplätzen zuzumuten. ({2}) Kern unseres Antrags und Kern des politischen Problems ist, daß in einer Zeit, wo beispielsweise die Nationale Volksarmee der DDR auseinanderläuft, wo Tschechoslowakei, Polen, Ungarn den Warschauer Pakt praktisch schon verlassen haben, daß in einer Zeit, wo die bisherigen Bedrohungsanalysen nicht mehr gelten und sich Europa zu friedlicher Zusammenarbeit wiedervereinigt, die Voraussetzungen des Soltau-Lüneburg-Abkommens entfallen sind. Die Anomalität eines bewohnten Truppenübungsplatzes muß nun endlich aufgehoben werden. Zwei Jahre für den ersten Bericht der Bundesregierung sind viel zu lang. Sie müssen jetzt sofort in die Überprüfung nach Art. 82 eintreten, mit der Tendenz, die Sache aufzulösen. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An dieser Stelle ist schon darauf hingewiesen worden, daß der britischen Rheinarmee im SoltauLüneburg-Abkommen in den 50er Jahren ein ganz normaler Siedlungsraum in der Lüneburger Heide zum Üben zur Verfügung gestellt wurde. Durch diesen Übungsraum, durch drei reguläre Truppenübungsplätze und durch die Tiefflug-Area 5 ist dieses Gebiet zu einer der am stärksten militärisch belasteten Gegenden Deutschlands geworden. Für die FDP-Fraktion stelle ich fest: Dies muß sich ändern; ({0}) denn angesichts des gegenwärtigen Wandels in Mitteleuropa ist es nicht mehr einsichtig, warum die Bevölkerung in einer bestimmten Region weiter derart belastet werden soll. ({1}) Die FDP hat bereits vor einigen Jahren die Initiative ergriffen, ({2}) um den Raum Soltau-Lüneburg, Frau Kollegin, zu entlasten. ({3}) Außerdem ist am 9. November 1988 vom Niedersächsischen Landtag mit sehr breiter Mehrheit eine Resolution verabschiedet worden, in der dieses Anliegen unterstrichen wird - ich zitiere - : Der Raum Soltau/Lüneburg ist durch militärische Übungen besonders stark beansprucht. Der Landkreis Soltau/Fallingbostel ist der am höchsten belastete Landkreis in der Bundesrepublik Deutschland. ({4}) - Herr Kollege, hören Sie doch erst einmal zu und stimmen Sie dem zu. Weiter heißt es in bezug auf das Soltau-LüneburgAbkommen - ich zitiere wieder - : Die nur noch von den britischen Truppen in Anspruch genommenen Sonderrechte sind, auch bei Bejahung des NATO-Auftrages, auf Dauer nicht vertretbar. Es muß erreicht werden, daß die Ausbildungs- und Übungsmaßnahmen der britischen Rheinarmee wie bei den übrigen NATO-Partnern gekoppelt in das System der dafür vorbehaltenen Einrichtungen und Truppenübungsplätze eingegliedert oder in weniger belastete Regionen verlegt werden. Meine Damen und Herren, diese Haltung wird von uns ausdrücklich unterstützt. ({5}) Sie werden feststellen, daß diese Sätze fast wörtlich in den vorliegenden SPD-Antrag aufgenommen wurden. Insofern finden diese Aussagen natürlich auch unsere Unterstützung, Herr Kollege Heistermann. Allerdings sind einige weitere Punkte in dem Antrag enthalten, die sich so nicht halten lassen. Es trifft eben nicht zu, daß im Übungsraum des Soltau-Lüneburg-Abkommens an 365 Tagen im Jahr geübt werden darf. Sie wissen, daß es von diesem Jahr an eine vierwöchige Sommerpause zur Zeit der Heideblüte gibt. ({6}) Außerdem sind die Aktivitäten an Sonnabenden sowie an Sonn- und Feiertagen auf ein Minimum beschränkt worden. Die Frau Kollegin hat darauf hingewiesen. Weitere Verbesserungen sind im September 1989 mit den Briten vereinbart worden. Wir werden sehr genau prüfen, wie sich diese Abmachungen auswirken werden. Ich sage an dieser Stelle: Falls diese Abmachungen nicht eingehalten werden sollten, werden wir den Konflikt nicht scheuen. Meine Damen und Herren, auch die GRÜNEN haben zu diesem Thema einen Antrag vorgelegt, nachdem zunächst das Abkommen „unverzüglich gekündigt werden" soll; später wird nur noch von einer Überprüfung gesprochen. ({7}) - Herr Kollege, Sie werden bis zu den Ausschußberatungen noch Gelegenheit haben, zu sagen und zu erklären, was Sie denn nun wirklich wollen. ({8}) Meine Damen und Herren, aus der Sicht der FDP-Fraktion ist es angesichts der jüngsten Entwicklung im West-Ost-Verhältnis nicht mehr zeitgemäß, einen Raum wie das Gebiet um Soltau und Lüneburg als militärischen Übungsraum auszuweisen. Eine ganz normal besiedelte Landschaft teilweise so zu behandeln wie einen Truppenübungsplatz kann auf Dauer nicht mehr akzeptiert werden. Wir setzen uns deshalb dafür ein, daß Verhandlungen geführt werden, um die Belastungen in dieser Region weiter zu verringern. Ziel - ich sage: Ziel - muß letztlich die Aufgabe des Übungsraumes sein, so wie es auch der Niedersächsische Landtag gefordert hat. Ich denke, die Perspektiven dafür sind günstig. Wir rechnen noch in diesem Jahr mit einem erfolgreichen Abschluß der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Auf Wien I wird Wien II folgen. ({9}) Die Truppenpräsenz in Mitteleuropa wird spürbar reduziert werden. Wenn hier erst weniger Bundeswehrsoldaten und Soldaten unserer Verbündeten stationiert sein werden, dann werden automatisch auch Kapazitäten auf Truppenübungsplätzen frei, die dann den Briten zur Verfügung gestellt werden können. ({10}) Dann werden wir endlich den Übungsraum des Soltau-Lüneburg-Abkommens aufgeben können. Die SPD nennt in ihrem Antrag einen Zeitraum von zehn Jahren. Ich frage: warum so zögerlich? Ich denke, die Abrüstungsverhandlungen erlauben uns realistische Perspektiven, das auch schon früher zu schaffen. Wir als Liberale lassen uns auf einen Zeitraum nicht festlegen. Meine Damen und Herren, die SPD schlägt in ihrem Antrag allerdings auch eine Reihe von Maßnahmen vor, die einer kritischen Überprüfung im Ausschuß bedürfen. Insbesondere werden wir untersuchen müssen, welche Maßnahmen denn praktikabel sind und welche - gestatten Sie mir den Ausdruck - wirklich nur Augenwischerei sind, ohne der Bevölkerung tatsächlich zu helfen. So möchte die SPD mit ihrem Antrag beispielsweise eine Überprüfung des Soltau-Lüneburg-Abkommens gem. Art. 82 c ii des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut erreichen. Dieses Verfahren sieht vor, daß der NATO-Generalsekretär als Schiedsrichter angerufen wird ({11}) und schließlich eine Empfehlung ausspricht, an die sich beide Seiten halten müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten sehr sorgfältig überlegen, wie groß die Chancen sind, in einem solchen Schiedsverfahren die Aufhebung des Abkommens zu erreichen. Allein dieses Beispiel soll zeigen, daß wir den vorliegenden Antrag bei allen grundsätzlich richtigen Einsichten - das will ich an dieser Stelle betonen - noch nicht für ausgereift halten. Wir werden im Ausschuß noch einige liberale Gedanken einbauen müssen, damit den Menschen vor Ort nicht nur ein weiteres Papier präsentiert wird, sondern damit den Menschen vor Ort auch wirklich geholfen wird. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Heistermann?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich, wenn es nicht angerechnet wird; denn ich habe nur noch wenig Redezeit.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, wären Sie bereit, mit mir den ehemaligen Kollegen Dr. Wörner in seiner jetzigen Funktion als Nato-Generalsekretär aufzusuchen und ihm unsere gemeinsame Hal15938 tung hier nahezubringen, damit er das auch gegenüber den Alliierten entsprechend vertritt?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heistermann, dazu bin ich gern bereit. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege Lippelt auch noch eine Zwischenfrage? - Bitte!

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, kann ich daraus entnehmen, daß Sie grundsätzlich der Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 82 zustimmen würden? Der andere Schritt kommt ja nur in dem Falle, daß dann keine Einigung zustande kommt. Würden Sie also die Einleitung eines solchen Verfahrens grundsätzlich mitmachen?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir werden uns im Ausschuß darüber unterhalten. Wir werden darüber beraten. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, daß der Artikel 82 der richtige Weg ist, dann werden wir diesen Weg begehen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch folgendes sagen: Wir werden im Ausschuß auch die Petition der Bürgerinitiative zur Verringerung der militärischen Belastung in der Heide in unsere Überlegungen einbeziehen. ({0}) Ich hoffe, daß wir dann alle gemeinsam zu einem Ergebnis kommen werden, und zwar so, wie wir es hier alle heute auch vorgetragen haben, nämlich zum Wohl der Bürger in der Heide. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zumkley.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sich seit nunmehr 45 Jahren zunehmend zuspitzenden Probleme des Soltau-Lüneburg-Abkommens seit 1959 und vorher seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie deren dringliche, unaufschiebbare Beseitigung müssen im Jahre 1990 auch vor einer geänderten sicherheitspolitischen Lage in Europa beurteilt werden. Die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West war noch nie so gering wie heute. Der KSZE-Prozeß, das INF-Abkommen und die sich deutlich abzeichnende Aufgabe des sowjetischen Anspruchs auf überlegene, zur weitreichenden Offensive befähigte Streitkräfte sowie die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa haben positive Auswirkungen hinsichtlich der Veränderung der sicherheitspolitischen Lage. Die Politik der Umgestaltung in der Sowjetunion, die Entwicklung in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und - für uns Deutsche besonders wichtig - in der DDR lassen die Feststellung zu, daß eine Bedrohung, wie sie vor Jahren noch empfunden wurde, heute nicht mehr gegeben ist. Die Staaten Osteuropas suchen die Zusammenarbeit mit dem Westen. Die Warschauer Vertragsorganisation büßt ihre militärische Funktionsfähigkeit mehr und mehr ein. Heute gibt es kaum jemanden, der an einem erfolgreichen Abschluß der Wiener Abrüstungsverhandlungen zweifelt. Bereits in einem ersten Schritt werden dabei Truppenreduzierungen in Ost und West vereinbart werden. Weitere Schritte lassen noch drastischere Verringerungen erwarten. Wir begrüßen diese Entwicklung. Dies alles hat Auswirkungen und muß auch Auswirkungen auf den Ausbildungsbetrieb der Streitkräfte haben. Ich habe Verständnis dafür, wenn die Intensität der Ausbildung im Spannungsfall erhöht werden würde. Kein Verständnis habe ich, wenn Truppenübungen insbesondere außerhalb von Truppenübungsplätzen heute, im tiefsten Frieden, so intensiv betrieben werden, als ob morgen der Krieg ausbrechen würde, wie dies von den britischen Truppen im Raum Soltau-Fallingbostel praktiziert wird. In der Tat: Wir begrüßen deshalb andererseits und anderenorts die Reduzierungen bzw. den völligen Verzicht auf die Durchführung von nationalen und alliierten Großübungen. Es ist an der Zeit, daß auch unsere britischen Bündnispartner über die Notwendigkeit des besonderen Übungsraumes im Rahmen des Soltau-Lüneburg-Abkommens neu nachdenken. Die von den britischen Truppen in Anspruch genommenen Sonderrechte sind nicht länger vertretbar. Genau wie alle anderen NATO-Partner, einschließlich der Bundeswehr, muß die britische Rheinarmee die Ausbildungs- und Übungsregularien außerhalb von Truppenübungsplätzen, wie sie im Übungsraum des Landkreises Soltau-Fallingbostel gelten, ohne Ausnahme beachten. Es muß erreicht werden, daß die Ausbildungs- und Übungsmaßnahmen der britischen Rheinarmee denen der übrigen NATO-Partner entsprechen. Danach sind Übungen, wenn sie im freien Gelände stattfinden sollen, anzumelden und mit einem Genehmigungsverfahren verbunden. Angesichts der geänderten sicherheitspolitischen Lage, der bevorstehenden Reduzierung und Umstrukturierung der Streitkräfte und des daraus resultierenden geringeren Raum- und Landbedarfs für Übungen, der unerträglichen Belastung der Bevölkerung und der Natur über Jahrzehnte hinweg ist es an der Zeit, das Soltau-Lüneburg-Abkommen zu überprüfen und aufzuheben, und dies mit dem Ziel, kurzfristige Verbesserungen zu erreichen und knappe Fristen für die Umstellungsphase zu vereinbaren. Nur so, meine Damen und Herren, kann die notwendige Akzeptanz von Streitkräften in dem ohnehin militärisch stark belasteten Landkreis Soltau-Fallingbostel erreicht werden. Wer vor Ort mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern redet - ich komme damit zum Schluß -, weiß, daß es nicht um Vorbehalte gegenüber unseren britischen Freunden oder um die grundsätzliche Frage der Landesverteidigung geht, sondern um die Wahrung berechtigter Interessen der dort lebenden Bevölkerung und der Menschen, die in der Lüneburger Heide Erholung suchen. Die Bundesregierung ist jetzt gefordert, mit der Regierung von Großbritannien das Problem energisch anzupacken und zu lösen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Börnsen ({0}).

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Vorbereitung der heutigen Debatte erinnerte ich mich an einen Besuch in der Lüneburger Heide. Ich kramte also gestern morgen einmal in meinen sehr alten Photoalben und fand tatsächlich drei Bilder von einer Jugendgruppe des Bundes für Vogelschutz, die sich im Jahre 1959 auf den Weg zum Naturpark Wilseder Berg gemacht hatte. Und als wir in der Nähe von Schneverdingen eine schöne Straße mit Birkenbestand und drumherum noch in Ordnung befindlicher Heide entlangfuhren, kamen plötzlich von rechts britische Panzer auf uns zu, überquerten die Straße mit einem fürchterlichen Gedröhne und fuhren auf der anderen Seite in gewaltigen Staubwolken weiter. - Ich habe die Bilder tatsächlich noch gefunden. ({0}) Sie werden das nicht ganz erkennen können - das gebe ich ja zu ({1}) - Herr Präsident, bitte sehr -, ({2}) aber es ist ein Dokument, meine Damen und Herren, aus der Zeit von 1959. Wenn man bedenkt, daß sich in der Zeit seit 1959, als mit eben diesem Soltau-Lüneburg-Abkommen sogar erste Einschränkungen durchgesetzt wurden, also seit 31 Jahren, nicht das geringste geändert hat ({3}) im Gegenteil, die Landschaft ist in diesen 31 Jahren von den Panzern kaputtgefahren worden - , dann muß man sehen, Frau Hoffmann, daß man heute nicht mehr darüber reden kann, daß in der Vereinbarung mit dem britischen Verteidigungsminister eventuell leichte Einschränkungen vorgenommen wurden, sondern daß es darum geht, daß dieses Abkommen aufgehoben, daß der Übungsbetrieb mit Panzern im Naturpark völlig eingestellt wird. ({4}) Meine Damen und Herren, als Jugendlicher hat man ja manchmal ein einfacheres Urteilsvermögen; das ist aber gelegentlich auch vernünftiger. Für uns, die wir als 14jährige damals diesen wirklich schlimmen Eindruck hatten, war die einzige Frage, die sich stellte: Wie ist so etwas eigentlich möglich? Wir wußten, daß das ein Naturschutzgebiet ist. Wir hatten aber keine Ahnung von irgendwelchen Regierungsabkommen. Für uns war es unvorstellbar, daß durch eine solche Landschaft wie die Heide überhaupt jemals Panzer rattern würden. ({5}) Wenn die Jugendlichen ein einfaches Urteilsvermögen haben, könnte das in diesem Fall durchaus einmal auf eine verantwortliche Regierung übertragen werden, die mit dem notwendigen Druck dann auch endlich bereit ist, Änderungen durchzusetzen, ({6}) und zwar nicht in freundlichen Gesprächen, Frau Hoffmann. Wenn die Briten hier nicht gesprächsbereit sind, dann muß man seitens dieser Bundesregierung ein bißchen mehr Durchsetzungsvermögen zeigen, ({7}) um zu erreichen, daß diese Belästigungen der Bevölkerung endlich beendet werden. ({8}) Die Belästigungen dort sind nicht länger zumutbar. Es sind bereits verschiedene Fakten genannt worden. Es leben dort 26 000 Menschen in einem Gebiet, in dem quasi unkontrolliert militärisch geübt wird. Es ist nicht erst seit 1959, sondern bereits seit 1945 gleichsam ohne Übergang geübt worden. Es handelt sich um ein Naturschutzgebiet, um den Naturpark Lüneburger Heide, in dem 22 % des gesamten Naturparks für militärische Zwecke in Anspruch genommen werden. Das kann doch ein normaler Mensch gar nicht mehr nachempfinden. ({9}) Hinzu kommt, daß die Briten außerhalb der Tiefflugarea 5 Sonderrechte haben, Tiefflugübungen durchzuführen. Den Menschen dort kann nicht verständlich gemacht werden, daß man nun versuchen wolle zu prüfen, ob man auf Tiefflüge verzichten könne. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß sich die Welt in den letzten Monaten verändert hat. Einem normalen Menschen kann man nur noch die Antwort geben: Auf Tiefflüge muß dort unverzüglich verzichtet werden. Alles andere ist nicht mehr nachvollziehbar. ({10}) Das heimatliche Umfeld der Menschen im Bereich Schneverdingen/Naturpark Lüneburger Heide ist in den vergangenen Jahrzehnten zerstört worden. Der Boden ist durch Panzerbewegungen in einer Art und in einem Umfang verdichtet worden, der für einen normalen Menschen kaum nachvollziehbar ist. Wenn man dort versucht, eine Stahlsonde in den Boden zu stecken, dann ist nach 5 cm Schluß. Außerdem ist der Boden mit Altöl verseucht worden. Ab und zu werden dort auch Ölbehälter vergessen, die dann durch die Panzer plattgewalzt werden, wodurch das Grundwasser gefährdet wird. Börnsen ({11}) Es sind - um ein weiteres Beispiel zu nennen - gerade in diesem Gebiet erhebliche Rüstungsaltlasten vorhanden, weil dort schon seit Jahrzehnten immer und immer wieder militärisch geübt worden ist. Deswegen kann nur der eine Schluß gezogen werden: Mit den Übungen im Bereich des Gebietes des SoltauLüneburg-Abkommens muß Schluß gemacht werden! ({12}) Wir haben zusammen mit den Vertretern der Bürgerinitiativen einen Antrag formuliert. Die Vertreter dieser Bürgerinitiativen sind dankenswerterweise heute auch zu uns gekommen und werden festgestellt haben, daß niemand, ob von seiten der FDP, von seiten der CDU, von seiten der GRÜNEN oder von seiten der SPD, in der Tendenz gegen eine solche Meinungsbildung gesprochen hat. Jetzt kommt es darauf an, daß wir auch eine Entscheidung herbeiführen, die den Menschen wirklich nützt. Wir haben diesen Antrag also gemeinsam mit den Bürgerinitiativen formuliert. Das war vor einem knappen halben Jahr. ({13}) Deswegen sind in diesem Antrag sicherlich noch Änderungen, d. h. weitergehende Formulierungen, notwendig. Darüber wird im Ausschuß gestritten werden. Ich wünsche den Beratungen im Interesse der betroffenen Menschen wirklich einen Erfolg. - Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Wimmer das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Heistermann, wenn Sie in sich gehen würden - ich weiß, daß Sie das können - , dann würden Sie feststellen, daß Ihre Ausführungen im Zusammenhang mit unseren Verhandlungen nun wirklich von Maßlosigkeit gekennzeichnet sind. Das ist um so verwunderlicher, als ja in der Zeit der von Ihnen gestellten Bundesregierung nichts, aber auch wirklich gar nichts unternommen worden ist, um auf dem hier angesprochenen Gebiet Verbesserungen zu erzielen. ({0}) - Das ist aber noch nicht aus unserer Erinnerung gewichen! Es gab sehr viele Probleme, für deren Beseitigung Sie nichts getan haben. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch einen anderen Hinweis: Heute wurde hier mehrfach die gute politische Entwicklung in Europa beschworen. Diese wäre nicht möglich gewesen ohne unsere kluge Politik. ({1}) - Sie wäre vor allem nicht möglich gewesen ohne die Aktivitäten unserer eigenen Streitkräfte und die unserer Verbündeten. Wenn sich diese Politik so umgesetzt hat, wie sie das tut, dann sind wir die ersten, die Belastungen in Form von „Sicherheitsdividenden" an unsere Mitbürger wieder zurückgeben. Es ist gar keine Frage, daß wir das tun werden. Wir sind uns in der Koalition sehr einig, daß das sehr konzentriert geschehen soll. ({2}) Nachdem hier ein entsprechendes Bild gezeichnet worden ist, will ich in diesem Zusammenhang doch noch einmal auf einige Grundtatbestände aufmerksam machen und diese in Erinnerung rufen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben bemerkt, daß der Herr Abgeordnete Heistermann eine Zwischenfrage stellen möchte?

Not found (Staatssekretär:in)

Ja, sicher. Aber ich wartete darauf, daß Sie mir das sagen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gut. Sie gestatten also eine Zwischenfrage?

Not found (Staatssekretär:in)

Aber gern.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Wimmer, darf ich Sie daran erinnern - ich will jetzt nicht die Protokolle auflisten - , daß Ihre Regierung unter Ihrer Zuständigkeit das Abkommen geschlossen hat? Und können Sie mir erklären, daß der Protest der Bürger und der Bürgerinitiativen gerade zu der Zeit am stärksten hervorgetreten ist, in der Sie regieren? Es muß doch Ursachen dafür geben, ({0}) daß sich das Bewußtsein der Bevölkerung dermaßen verändert hat. Kollege Wimmer, ich will es vereinfacht ausdrücken: Können Sie hier die Zusage geben, daß die Regierung jetzt bereit ist, auf der Grundlage dieses Antrags in Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsausschuß mit der britischen Regierung über dieses Abkommen zu verhandeln? Das ist der Punkt, über den wir hier heute reden. Können Sie diese Zusage heute geben?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege Heistermann, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß alle guten Dinge von einer CDU/CSU-Bundesregierung beschlossen worden sind. (Heistermann ({0}) Das wird in Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner auch so bleiben. Das Problem, das wir mit Ihnen in den zurückliegenden Jahren hatten, bestand einfach darin, daß Sie ab Oktober 1982 sofort von der Regierungstätigkeit auf eine absolut verneinende Oppositionstätigkeit umgeschaltet haben - auch in diesen Dingen. Das hat es schwergemacht. ({1}) - Wir haben uns in den zurückliegenden Jahren wirklich oft über diese Dinge im Zusammenhang mit Soltau-Lüneburg unterhalten. Dieser konstruktive Stil, der von Frau Kollegin Hoffmann beispielhaft in die Diskussion eingebracht worden ist, wird uns auch im Verteidigungsausschuß weiter bestimmen, alles zu tun, um das auf das vertretbare Maß zurückzudrehen, was im Zusammenhang mit einem Übermaß an Belastungen vielleicht von allen festgestellt wird. Aber noch einmal ein Hinweis auf die harten Fakten: Die kanadischen Streitkräfte, die ebenfalls ein Übungsrecht hatten, haben es seit mehreren Jahren nicht mehr genutzt. Das Gebiet, das ja mehrere bewohnte Ortschaften sowie Acker- und Waldland umfaßt, trägt in einem Gesamtraum von 345 qkm mit 44 qkm, in den sogenannten Roten Flächen, zur Belastung der Bevölkerung bei. Denn da gibt es militärisches Übungsgelände zur ständigen Verfügung. Es handelt sich nicht um ein zusammenhängendes Gebiet, sondern um sechs getrennte Manövergebiete unterschiedlicher Größe, bezogen auf diese 44 qkm. ({2}) - Herr Kollege, ich habe Ihnen zugehört. Sie könnten das bei mir auch einmal machen. ({3}) In der Region Soltau-Lüneburg werden die Truppenübungsplätze Munster-Nord, Munster-Süd und der NATO-Truppenübungsplatz Bergen sowie das britische Übungsgebiet Soltau-Lüneburg für Übungen benutzt. Gemeinsam mit den britischen Verbündeten hat sich deshalb die Bundesregierung - diese Bundesregierung, Herr Kollege Heistermann! - darum bemüht, die damit verbundenen Gesamtbelastungen zurückzuführen. ({4}) - Nur eine gute, und die wird von uns gestellt. Im November 1985 vereinbarten deshalb Bundeskanzler Kohl und die britische Premierministerin Thatcher, ({5}) die Suche nach Entlastungsmöglichkeiten den beiden Verteidigungsministern zu übertragen. Im Ergebnis kamen beide am 21. September 1989 überein, die Anwendung des Soltau-Lüneburg-Abkommens neu zu regeln. Sie vereinbarten - dies sollte hier festgehalten werden - , erstens eine jährliche zusammenhängende vierwöchige Sommerpause in der Zeit der Heideblüte, d. h. in der Hauptfremdenverkehrssaison, einzuführen; zweitens zur Erhaltung der Wochenendund Feiertagsruhe ab Samstag 13 Uhr und an Sonn- und Feiertagen die militärischen Aktivitäten auf das absolut notwendige Minimum, z. B. Bergen liegengebliebener Fahrzeuge, Erkundungs- und Nachschubfahrten nur mit Rad-Kraftfahrzeugen, zu beschränken; drittens die Pufferzonen in besonders kritischen Bereichen über 400 m hinaus auszudehnen. Weitere Verbesserungen für die betroffene Bevölkerung wurden vereinbart, u. a. erstens ein grundsätzliches nächtliches Durchfahrverbot für Kettenfahrzeuge durch geschlossene Ortschaften - dies gilt auch tagsüber, soweit Ortsumgehungen vorhanden sind -; ({6}) zweitens keine taktischen Bewegungen von Kettenfahrzeugen außerhalb der Roten Flächen in einer Zone von 400 m um geschlossene Ortschaften; drittens - das ist wichtig - keine Verwendung von Sprengstoff zur Darstellung von Artillerieeinschlägen außerhalb der Roten Flächen. Die niedersächsische Landesregierung - der Landtag wurde hier ja mehrfach zitiert - und die Bezirksregierung von Lüneburg haben diese Ergebnisse zu Recht als großen Erfolg gewertet, da durch diese neuen Bestimmungen ihren Forderungen entsprochen wurde. Im Gebiet des Soltau-Lüneburg-Abkommens werden Maßnahmen zum Schutz von Natur und Umwelt durch den dafür zuständigen ständigen Ausschuß getroffen. Darüber hinaus veranlaßt die Kommission für Maßnahmen zur Vermeidung und Eindämmung der Bodenerosion und sonstiger Umweltschäden im Raum Soltau/Lüneburg und deren Planungsgruppe für spezielle Natur- und Umweltschutzprobleme eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen. Dazu zählen z. B. Anpflanzungen, Bau von Überführungen, Auffangbekken, Anlage von Teichen und Laichgebieten. Von „unerträglichen Auswirkungen auf die Natur", Herr Kollege Heistermann, wie in Ihrem Antrag behauptet, kann man deshalb nicht sprechen. ({7}) Die Bundesregierung hat - dies sollte hier für uns mit aller Deutlichkeit festgestellt werden - nach wie vor Interesse an der Anwesenheit der britischen Streitkräfte in Deutschland sowie an ihrer guten militärischen Ausbildung. Das hat uns in der Vergangenheit gedient und wird uns auch in Zukunft dienen. Eine Aufhebung des Soltau-Lüneburg-Abkommens ist daher nicht unser Ziel. ({8}) Hier ist angemahnt worden, es sollten deutsche Truppenübungsplätze stärker frequentiert werden. Ich muß darauf verweisen, daß eine Verlegung aller britischen Übungen auf dafür geeignete deutsche Übungsplätze allerdings nicht möglich ist. Das Bundesministerium der Verteidigung hat mehrmals geprüft, ob die britschen Streitkräfte zur Entlastung der Gebiete des Soltau-Lüneburg-Abkommens Truppenübungsplätze der Bundeswehr mitbenutzen können. Die Prüfung hat ergeben, daß vollständige Ersatzmöglichkeiten nicht bestehen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Not found (Staatssekretär:in)

Bitte Herr Kollege Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, meinen Sie, da Sie jetzt in den Zahlen Ihrer neuen Planung heruntergehen und wenn Sie berücksichtigen, daß in der DDR insgesamt noch 50 000 stehen, nachdem die anderen weggelaufen sind, nicht, daß Sie diesen Gedanken noch einmal neu überprüfen können, weil Sie selber mit Ihren Zahlen sehr viel stärker heruntergehen müssen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege Dr. Lippelt, Sie wissen, daß in Anbetracht einer wirklich guten und konsequenten Politik die äußeren Erscheinungsformen, was die Ergebnisse dieser Politik betrifft, ständig in unsere Überlegungen einbezogen werden. Wir machen das so konstruktiv, daß es Ihnen meistens nicht auffällt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zwischenfrage, bitte sehr.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben erklärt, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, das Soltau-Lüneburg-Abkommen grundsätzlich überprüfen zu lassen und zu kündigen. Spielt dabei eine Rolle, daß deutsche Streitkräfte in Großbritannien auch üben sollen und daß dann, wenn Sie das SoltauLüneburg-Abkommen überprüfen und kündigen würden, gefährdet wäre, daß deutsche Truppen in England üben?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, Sie wissen, daß wir im Zusammenhang mit allen militärischen Aktivitäten darauf angewiesen sind, daß wir in unserem Land Flächen und auch den Luftraum zur Verfügung stellen, und daß wir dies natürlich auch bei unseren Bündnispartnern so sehen. Wir üben in Großbritannien genausogut wie in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten. ({0}) - Selbstverständlich im Rahmen der dort gültigen Rechtsordnung. ({1}) Das ist nach dem NATO-Truppenstatut eindeutig geregelt, Frau Kollegin Schilling. ({2}) Deswegen gehen wir davon aus, daß diese Interdependenzen, die nun einmal bestehen, erforderlich sind, um innerhalb der NATO konstruktiv zusammenzuarbeiten. Sie haben bei dieser Bundesregierung keinen Anlaß, an dieser guten Form der Zusammenarbeit zu zweifeln. Meine Damen und Herren, die deutschen Truppenübungsplätze werden intensiv genutzt. Sie reichen seit langem für das Schießen der gepanzerten Kampftruppen nicht mehr aus, so daß die Bundeswehr - das beantwortet Ihre Frage, Herr Kollege, noch weiter - sogar auf Truppenübungsplätze im Ausland ausweichen muß. Zu den Sofortmaßnahmen im Abschnitt III des Antrages bemerke ich folgendes: Erstens. Schutzzonen von mindestens 1 km von der Wohnbebauung der Ortschaften und Siedlungen hätten zur Folge, daß dann nicht mehr geübt werden kann. Das verbleibende Gelände wäre für Übungen zu klein, und wir wollen, daß die Briten hier üben können. ({3}) - Weil sie unserem und Ihrem Schutz dienen. Daß Sie davon Gebrauch machen, haben Sie bis heute nicht zu erkennen gegeben. Zweitens. In den vereinbarten Schutzzonen von 400 m und mehr werden in Abstimmung mit der Forstverwaltung, der zuständigen Gemeinde und den britischen Streitkräften die notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Natur und Umwelt durchgeführt. Drittens. Panzerbewegungen können nach dem Abkommen nicht auf die Roten Flächen begrenzt werden. Der gesamte Übungsraum ist den britischen Streitkräften vertragsgemäß für die Bewegungen zwischen diesen Flächen vorzuhalten. Viertens. Das Straßennetz ist ausreichend. Notwendige Ergänzungen werden von der Kommission „Straßen" des Soltau-Lüneburg-Abkommens veranlaßt. ({4}) Fünftens. Die Reduzierung der Truppenstärke, der Rad- und Kettenfahrzeuge sowie des Umfangs von Waffen und Gerät ist Angelegenheit der britischen Streitkräfte. ({5}) Sechtens. Die Möglichkeit einer Begrenzung des Einsatzes von Hubschraubern wird im Ständigen Ausschuß zu prüfen sein. Ein Verbot der militärischen Tiefflüge im Gebiet der Gemeinden Schneverdingen und Bispingen ist nicht vorgesehen. ({6}) Für die Streitkräfte besteht die Notwendigkeit, zumindest zeitweilig und für simulierte Übungsangriffe auf dem Platz Bergen in niedrigeren Höhen operieren zu können. Dem Wunsch - das ist Punkt sieben -, Schießübungen mit Darstellungsmunition nur in einer Mindestentfernung von 1 000 m von Ortschaften, Gehöften und Straßen zu gestatten, kann nicht entsprochen werden, weil das für militärische Übungen verbleibende Gelände sonst zu klein wäre. ({7}) Die Übungszeiten - Punkt acht - sind aufgrund der Vereinbarung vom 21. September 1989 vorgegeben. In der jährlichen vierwöchigen Sommerpause finden deshalb keine Übungen statt. Mit den im Jahre 1989 erzielten und ab Januar 1990 in Kraft getretenen Verbesserungen sind wichtige Forderungen nach Erleichterungen für die Bevölkerung im Raum Soltau/Lüneburg erfüllt worden. Ich gehe davon aus, daß auch die Beratungen im Verteidigungsausschuß in gewohnter Weise konstruktiv verlaufen werden. Ich glaube, daß wir auch der Zusammenarbeit mit den besonders betroffenen Kollegen gut und gern entgegensehen können. - Ich bedanke mich. ({8})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/5665 und 11/6804 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 11/6762 Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Fragen 36 und 37 des Abgeordneten Dreßler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Bundesminister Klein zur Verfügung. Die Fragen 23 und 24 des Abgeordneten Stahl ({0}) sowie 26 und 27 der Abgeordneten Frau Schulte ({1}) sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe jetzt Frage 25 des Herrn Abgeordneten Sielaff auf: Welche weiteren Beratungshilfen haben der Bundesminister für Wirtschaft sowie das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung interessierten Besuchern aus der DDR zur Verfügung gestellt?

Hans Klein (Minister:in)

Politiker ID: 11001114

Herr Präsident! Herr Kollege! Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat auf seinem Stand auf der Leipziger Frühjahrsmesse für die Besucher ein breitgefächertes Informations- und Beratungsangebot bereitgehalten. So standen rund 60 verschiedene Broschüren und Faltblätter aus dem BPA und aus verschiedenen Bundesministerien in einer Gesamtstückzahl von über 250 000 Exemplaren für die Verteilung zur Verfügung. Der Schwerpunkt lag dabei - dem Charakter einer Industriemesse entsprechend - auf Publikationen zu wirtschaftspolitischen Themen. So hatte der Bundesminister für Wirtschaft eigens für die Leipziger Messe ein Faltblatt über die ERP-Kredite für Investitionen in der DDR herausgebracht. An weiteren Publikationen des Bundesministers für Wirtschaft, die sehr gefragt waren, sind die Broschüre „40 Jahre soziale Marktwirtschaft" und „Das Handwerk" zu nennen. Daneben wurden vor allem Broschüren mit allgemeinen Informationen über die Bundesrepublik Deutschland angeboten, z. B. „Tatsachen über Deutschland", „Bonner Almanach" und - besonders stark gefragt - Textausgaben des Grundgesetzes. Mit dem Bildschirmtextprogramm des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung wurde ein in der DDR bisher unbekanntes aktuelles Informationsmedium vorgestellt. Für persönliche Beratungsgespräche standen abwechselnd Mitarbeiter des Referats für innerdeutsche Beziehungen im Bundeswirtschaftsministerium, aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, aus der Treuhandstelle für Industrie und Handel und aus dem Bundespresseamt zur Verfügung. Das Informations- und Beratungsangebot wurde in einer Weise genutzt, die alle Erwartungen übertraf.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hielt die Bundesregierung es dann für notwendig, daß in Anwesenheit des Bundeswirtschaftsministers eine Broschüre der in einer anderen Frage genannten Bank mit Unterschrift verteilt wurde?

Hans Klein (Minister:in)

Politiker ID: 11001114

Ja.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, bitte.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kann es auch sein, daß Mitarbeiter der Bundesregierung oder des Informationsamtes selber diese Werbeschrift der KKB-Bank auf der Messe in Leipzig verteilt haben?

Hans Klein (Minister:in)

Politiker ID: 11001114

Das kann sein.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht uns Frau Staatsminister Dr. Adam-Schwaetzer zur Verfügung. Die Frage 28 des Herrn Abgeordneten Stiegler soll bitte schriftlich beantwortet werden. Es wird so verfahren. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe Frage 29 des Herrn Abgeordneten Jäger auf: Welche Schritte gegenüber der sowjetischen Regierung wird die Bundesregierung unternehmen, um die Litauer und die anderen baltischen Völker angesichts des massiven Drucks aus Moskau in ihrem Freiheits- und Unabhängigkeitskampf zu unterstützen? Bitte sehr.

Not found (Gast)

Herr Präsident, ich würde gerne die Fragen 29 und 30 gemeinsam beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Einverstanden? ({0}) - Keine Einwendungen. - Dann rufe ich auch Frage 30 des Abgeordneten Jäger auf: Wird die Bundesregierung die Regierung der UdSSR nachdrücklich darauf hinweisen, daß ihre Glaubwürdigkeit bezüglich der Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker sich gerade auch im Verhältnis zu den baltischen Völkern erweisen muß, deren Selbstbestimmungsrecht von Stalin und Hitler 1939 bis 1945 brutal unterdrückt worden ist?

Not found (Gast)

Danke schön. - Herr Abgeordneter, in ihrer gemeinsamen Erklärung haben die Außenminister der Zwölf in Lissabon folgendes erklärt - ich zitiere - Die Zwölf haben mit Sorge die Berichte aus Litauen zur Kenntnis genommen. Sie setzen sich für eine größtmögliche Zurückhaltung aller Seiten ein. Sie hoffen auf einen gleichberechtigen, offenen und fairen Dialog zwischen Moskau und Vilnius, der den Einsatz von Gewalt oder die Drohung eines Gewalteinsatzes vermeidet und auf der Grundlage der Prinzipien aus der Schlußakte von Helsinki steht.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsminister, anerkennt die Bundesregierung, daß sie - anders als andere Regierungen der Zwölf - eine ganz besondere Aufgabe und Verpflichtung hat, sich des Schutzes der baltischen Völker anzunehmen, da Deutschland seinerzeit im Hitler-Stalin-Pakt zusammen mit der Sowjetunion dazu beigetragen hat, den heutigen Unterdrücktenstatus der baltischen Völker herbeizuführen?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, gerade aus der Verantwortung für unsere eigene Vergangenheit unterstreicht die Bundesregierung den gesamteuropäischen Zusammenhang, der auch für die Lösung der baltischen Frage wichtig ist. Deswegen agieren wir in enger Abstimmung mit unseren Freunden und Partnern aus der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Die Bundesregierung wird sich weiter mit ihren Partnern dafür einsetzen, daß alle Prinzipien der Helsinki-Schlußakte verwirklicht werden können.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsminister, ist Ihre Antwort eben, nämlich der Verweis auf die Erklärung der zwölf Außenminister, das einzige, was die Bundesregierung bisher unternommen hat und in dieser Sache noch zu unternehmen gedenkt?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung in enger Abstimmung mit ihren Partnern in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit - was zu tun wir übrigens auch vertraglich gehalten sind - in dieser Frage weiter verfahren wird. Die Litauer wünschen ihr Selbstbestimmungsrecht zu verwirklichen. Zeitpunkt und Form der Verwirklichung muß in einem Dialog zwischen Vilnius und Moskau bestimmt werden. Dieser Dialog soll fair und offen sein; darauf weist auch die Erklärung der EPZ hin. Diese Überzeugung wird die Bundesregierung auch bei weiteren Schritten leiten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsminister, meinen Sie angesichts des Umstandes, daß Gewaltakte und Machtdemonstrationen in Litauen bereits in beträchtlichem Umfang stattgefunden haben, nicht, daß sich das litauische Volk von den Staaten des europäischen Westens im Stich gelassen fühlen muß, wenn nur so relativ einsilbige und dürftige Erklärungen abgegeben werden?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, die Bewertung, die Sie gerade vorgenommen haben, teilt die Bundesregierung selbstverständlich nicht. Die Bundesregierung setzt sich wie in anderen Fragen auch in dieser Frage für die volle Anwendung der Prinzipien der Schlußakte von Helsinki ein; ich habe bereits darauf hingewiesen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß die Schlußakte bereits massiv verletzt wurde, denn in ihr werden Machtdemonstrationen, Machtmanifestationen verboten, und wird die Bundesregierung in den Gremien der 35, die tagen oder noch tagen werden, diese Verletzungen rügen?

Not found (Gast)

Herr Abgordneter, die Richtigkeit der Haltung der Bundesregierung wird, denke ich, dadurch bestätigt, daß die letzten Nachrichten, die uns aus Litauen erreichen, durchaus darauf hindeuten, daß eine Deeskalation von beiden Seiten nicht nur beabsichtigt ist, sondern auch aktiv in Angriff genommen wird. Die Aussage, daß die litauischen Deserteure nicht bestraft werden, auf der einen Seite und die Bereitschaft, Waffen abzugeben, wenn dazu aufgefordert wird, auf der anderen Seite zeigen doch, daß beide Seiten daran interessiert sind, nun konkrete Schritte in Richtung Dialog zu tun.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf Huyn.

Hans Huyn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000987, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß es beim deutschen Standpunkt nicht lediglich um eine Bewertung der Schlußakte von Helsinki und noch weniger um eine Gleichstellung zwischen Vilnius und Moskau gehen kann, die aus den Texten, die von Ihnen verlesen worden sind, hervorgeht, sondern eindeutig um eine Wiederholung des Standpunkts, der von der Bundesregierung mehrfach zum Ausdruck gebracht worden ist, daß erstens der schändliche Hitler-Stalin-Pakt und damit natürlich auch seine Folgen für die BundesGraf Huyn regierung keine Gültigkeit haben und daß zweitens die Annexion der baltischen Staaten seitens der Sowjetunion schon an Hand der Stimson-Doktrin völkerrechtlich ungültig ist?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, zu diesen Themen hat die Bundesregierung auf Grund mehrfacher Anfragen unterschiedlicher Kollegen aus dem Deutschen Bundestag in den vergangenen Monaten Stellung genommen. Der Standpunkt der Bundesregierung in diesen Fragen ist absolut klar. Es geht jetzt darum, daß zwischen Moskau und Vilnius ein Dialog in Gang gesetzt wird und daß dieser Dialog in konstruktivem Geist geführt wird, um die anstehenden Probleme zu einer Lösung zu bringen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Die Frage 38 des Abgeordneten Conradi, die Fragen 39 und 40 des Abgeordneten Roth ({0}), die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Dr. Rose, die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Schreiber, die Fragen 45 und 46 des Abgeordneten Borchert, die Fragen 47 und 48 des Abgeordneten Ganz ({1}), die Fragen 49 und 50 der Abgeordneten Frau Schmidt ({2}) und die Frage 51 der Abgeordneten Frau Würfel sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Es wird so verfahren. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl zur Verfügung. Die Fragen 52 und 53 des Abgeordneten Hinsken, die Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Müller ({3}) und die Frage 56 der Abgeordneten Frau Würfel sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Es wird so verfahren. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe Frage 57 des Herrn Abgeordneten Sielaff auf: Welche Wirkungen auf die Besucher aus der DDR versprach sich der Bundesminister für Wirtschaft, als er die Broschüre der KKB auf dem Stand des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung auf der Leipziger Messe verteilte und signierte?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, indem ich Ihnen zunächst einmal Respekt zolle, daß Sie von den vielen Fragestellern einer der wenigen sind, die hier persönlich anwesend sind, will ich Ihre Frage wie folgt beantworten. Herr Abgeordneter, es sind auf die Besucher aus der DDR genau die Wirkungen eingetreten, die der Herr Bundesminister für Wirtschaft bei seiner Entscheidung, die von Ihnen zitierte Broschüre auf dem Stand des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung auf der Leipziger Messe zu verteilen, vorhergesehen hat. Ich darf Ihnen sagen, daß es für viele Menschen in der DDR völlig unverständlich ist, daß Sie an einer solchen offenkundigen Informationsbereitschaft der Bundesregierung Anstoß nehmen. Ich war selbst drüben in der DDR. Ich halte es für weitaus wichtiger, konkretes Informationsmaterial an unsere Mitbürger in der DDR zu verteilen, als Gummibären, Schokolade oder sonstige Geschenke, was läppisch ist. Herr Abgeordneter, ich möchte an Ihre Verpflichtung erinnern, die Sie als gewählter Abgeordneter im Deutschen Bundestag haben, alles zu tun, damit den Menschen in der DDR, die wahrlich nicht mit echten Informationen über die Soziale Marktwirtschaft in der Vergangenheit überhäuft worden sind, jede Möglichkeit, die auch der Herr Bundesminister für Wirtschaft wahrgenommen hat, gegeben wird, um sich ordentlich zu informieren.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte sehr.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß eine Information der Bundesregierung lediglich durch Broschüren, die von der KKB herausgegeben, in Gegenwart des Ministers und, wie wir hörten, vermutlich auch von Mitgliedern der Bundesregierung verteilt wurden, dazu beiträgt, daß die kritischen Stimmen in der DDR nicht den Eindruck haben, daß die Wirtschaft in stärkerem Maße als die Politiker die Macht übernehmen will?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Sehr verehrter Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, ob Sie die Broschüre kennen. Das ist ein ausgezeichnetes Informationswerk. Ich hätte sie genauso verteilt. Ich habe in der DDR alle brauchbaren Broschüren verteilt, die ich zur Verfügung hatte, auch die aus meinem Haus. Die Leute reißen Ihnen das aus der Hand. Ich hatte bei einer Veranstaltung in Mittweida vor Tausenden von Leuten das Grundgesetz nicht wie weiland Hermann Höcherl unter dem Arm, Herr Präsident, aber ich habe es aus der Tasche gezogen. Ich habe dort versucht, Art. 23 des Grundgesetzes zu erklären. Hinterher kamen Hunderte von Menschen und wollten das Grundgesetz haben. Die KKB-Broschüre ist wie viele Broschüren ausgezeichnet. Das Parteiprogramm der SPD hätte ich den Menschen in der DDR ebenfalls gerne gegeben. Ich hätte allerdings Zweifel, ob dann der Sinn der Marktwirtschaft richtig verstanden worden wäre.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann man denn bei der Finanzlage der Bundesregierung, wenn alles zu finanzieren schwieriger wird, damit rechnen, daß man auch das Grundgesetz über eine Firma der Bundesrepublik, welche es auch sein mag, frank und frei verteilt?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Das Grundgesetz können Sie, auf Kosten der Bundesregierung hergestellt, bei der Bundeszentrale für politische Bildung in beliebiger Stückzahl bekommen. Sie können es bestellen. Herr Abgeordneter, wir sind uns doch darüber im klaren: Wir reden hier doch über des Kaisers Bart. Wir wollen doch alle miteinander die Menschen drü15946 ben gut und richtig informieren. Mein Minister hat eine völlig richtige Entscheidung getroffen. Auch ich hätte sie getroffen. Die KKB-Broschüre gibt ausgezeichnete Informationen. Wir haben auch aus anderen Industriebereichen und von anderen Banken tolle Broschüren. Es gibt auch - ich will hier keine Schleichwerbung machen - von anderen Banken großartige Informationen. Raus damit, rüber damit in die DDR! Alles, was gut ist, sollten wir verteilen. Ich nehme Sie einmal mit. Dann machen wir das gemeinsam. ({0}) - Ich nehme das Parteiprogramm der CSU mit. Dann kommen wir beide sicherlich sehr unterschiedlich bei den Menschen an. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte sehr.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nachdem ich das Glück habe, häufiger an Fragestunden teilzunehmen, möchte ich Sie fragen: Können Sie sich erklären, warum die Kollegen von der SPD bei der Verteilung von Broschüren der Bundesregierung in der DDR immer wieder nachfragen?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Es kann doch einzig und allein die Qualität der Broschüren sein, die unsere Freunde von der SPD zu solchen Fragen veranlaßt, Herr Abgeordneter.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Hiller ({0}) auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Es wird so, wie in den Richtlinien vorgesehen, verfahren. Ich rufe die Frage 59 der Abgeordneten Frau Dr. Sonntag-Wolgast auf: Wie hoch sind unter Berücksichtigung der Lebensdauer die Gesamtkosten ({1}) einer herkömmlichen Glühbirne im Vergleich zu einer Kompakt-Leuchtstofflampe ({2})? Bitte sehr. Dr. Riedl Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, wenn ich eine Vorbemerkung wegen der sehr speziellen Art der Beantwortung dieser Frage machen darf: Die Bundesregierung ist natürlich zur Beantwortung dieser speziellen Frage auf die Auswertung einschlägiger Veröffentlichungen und Darlegungen der Industrie angewiesen. Soweit in der Kürze der Zeit vor dieser Fragestunde eine sorgfältige Prüfung der vorhandenen Unterlagen möglich war, kann zu den Fragen 59 und 60 der Abgeordneten Frau Dr. Sonntag-Wolgast sowie zur Frage 61 der Frau Abgeordneten Blunck folgendes ausgeführt werden. Ich bitte, diese drei Fragen im Zusammenhang beantworten zu dürfen, wenn Sie einverstanden sind. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Die Rationalisierung ist natürlich auch im Parlament schon ziemlich weit fortgeschritten. Bisher sind bei der Beantwortung aber immer nur zwei Fragen zusammengefaßt worden. Aber nachdem Sie, Frau Abgeordnete Blunck, Ihre Frage zurückgezogen haben - ({0}) - Ich habe eine schriftliche Mitteilung, daß Sie nicht anwesend seien. Aber wenn Sie hier sind, nehme ich Sie natürlich sofort zur Kenntnis, und Ihre Frage wird natürlich aufgerufen. Wenn die Fragesteller einverstanden sind, rufe ich jetzt auch noch die Frage 60 der Abgeordneten Frau Dr. Sonntag-Wolgast und die Frage 61 der Abgeordneten Frau Blunck auf: Wie beurteilt die Bundesregierung den Einsatz von KompaktLeuchtstofflampen im Hinblick auf eine sparsame und rationelle Energieverwendung, und welche Stromeinsparung ließe sich erzielen, wenn alle herkömmlichen Glühbirnen durch KompaktLeuchtstofflampen ersetzt werden würden? Welche Verfahren zur Herstellung von Kompakt-Leuchtstofflampen ({1}) sind der Bundesregierung bekannt, und in welchen Ländern erfolgt die Herstellung?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident, ich bedanke mich bei Ihnen und auch für das Entgegenkommen der beiden Damen. Die Antwort lautet wie folgt. Kompakt-Leuchtstofflampen benötigen für gleiche Lichtausbeute etwa 20 bis 25 % elektrische Leistung und haben etwa die achtfache Lebensdauer entsprechender herkömmlicher Glühlampen. Legt man dem von Ihnen, Frau Abgeordnete, erfragten Vergleich eine 100-W-Glühlampe und entsprechend eine elektronische Kompakt-Leuchtstofflampe von 20 W mit integriertem Vorschaltgerät und Normalsockel jeweils auf dem Preisniveau des Elektro-Einzelhandels zugrunde, so ergibt sich für die Lebensdauer einer Kompakt-Leuchtstofflampe - also von acht Glühlampen - ein Gesamtkostenvorteil von 136 DM zugunsten der Kompakt-Leuchtstofflampe. Als Strompreis wurden hierbei 25 Pf je Kilowattstunde angenommen. Im einzelnen liegen die Gesamtkosten für die Kompakt-Leuchtstofflampe bei 80 DM, für die Glühlampe bei 216 DM - bei Stückpreisen von 40 DM bzw. 2 DM. Wird statt der elektronischen eine konventionelle Kompakt-Leuchtstofflampe verwendet, so mindert die geringere Energieersparnis den Kostenvorteil geringfügig. Handelt es sich um Lampen ohne Vorschaltgerät mit Spezialsockel für neue Leuchten, so erhöht sich der Kostenvorteil wegen des geringeren Anschaffungspreises. Allerdings wird dies durch die teurere Leuchte dann wahrscheinlich überkompensiert. Ich hoffe, Frau Abgeordnete, damit auch die Differenzierung „alt/neu" in der Fragestellung richtig getroffen zu haben. Ich gebe Ihnen ganz offen zu: Ich habe meine eigene Antwort selbst fast nicht verstanden. ({0}) - Ich habe es richtig vorgelesen, aber kapiert habe ich es selber nicht.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielleicht hilft uns die Nachfrage etwas weiter, denn es geht ja vor allem darum - ich bitte Sie, mir diese Frage noch zu beantworten - , ob Sie Auskunft darüber geben können, ob in den Räumen der Bundesbehörden bereits Energiesparlampen verwendet werden. Wenn das der Fall ist: Für wieviel Prozent der gesamten Beleuchtung der Bundesbehörden gilt dies?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Frau Abgeordnete, ich nehme diese Frage natürlich sehr ernst, weil dies in der Tat auch ein wirksamer Beitrag zur Energieeinsparung ist. Ich kann Ihnen diese Frage aber, ehrlich gesagt, nicht beantworten; ich kenne nur einige Räume der Bundesregierung, aber nicht alle. Ich werde Ihre Frage jedoch zum Anlaß nehmen, daß der Bundesminister für Wirtschaft den obersten Bundesbehörden und den nachgeordneten Bundesbehörden eine entsprechende Empfehlung gibt, gegebenenfalls auch über die Bundesbaudirektion. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich aus dieser Tatsache schließen, daß die Bundesregierung angesichts der positiven Effekte bezüglich der Energieeinsparung und der Lebensdauer, von denen wir eben gehört haben, offensichtlich bereit ist, in ihrem eigenen Bereich eine schrittweise Umstellung auf solche energiesparenden Leuchten vorzunehmen?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Davon können Sie mit Sicherheit ausgehen. Ich hoffe aber, daß es dann nicht so ausgeht wie bei dem umweltschonenden Papier, diesem berühmten „Graupapier", das ich in den Behörden nahezu überhaupt nicht mehr finde, weil Experten festgestellt haben, daß es für die Augenschärfe nicht unbedingt zuträglich ist, nur auf dieses Umweltpapier zu schauen. Aber wenn man die Kirche im Dorf läßt, kann ich im Prinzip Ihrer Zielsetzung nur zustimmen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr, Frau Blunck.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, aus dem Haushalt des Wirtschaftsministeriums sind ja vielfältige Forschungsaufträge vergeb en worden, sinniger und manchmal auch sehr unsinniger Art. Wäre es denn nicht sinnvoll - nachdem ich jetzt die Antwort gehört habe und Sie auch noch gesagt haben, daß Sie einen Teil dieser Antwort, die Sie vorgelesen haben, selbst nicht verstanden haben, wobei ich Ihnen den Rat geben möchte, sich vielleicht doch noch einmal mit dem Handel und seinen Verbänden in Verbindung zu setzen - , einen Forschungsauftrag genau in Richtung auf diesen Fragenkomplex auf den Weg zu bringen? Wann könnte das geschehen, und - ich habe ja zwei Zusatzfragen; denn meine Frage ist mit beantwortet worden - wann könnte er abgeschlossen werden? Ich denke, Ihnen ist bekannt, daß es bereits Bundesländer gibt, die hier massiv einsteigen. Wir müssen dringend Energie einsparen. Das ist auch schon dem Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" zu entnehmen.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Ich gebe Ihnen völlig recht: Wenn ein solcher Auftrag noch nicht erteilt worden wäre, ({0}) wäre es sehr sinnvoll, ihn zu erteilen. Ich werde das bei uns im Haus prüfen. Das hat durchaus Sinn. Wenn ich aber vorhin ganz bewußt gesagt habe: Ich habe das nicht verstanden!, dann will ich eigentlich nur zum Ausdruck bringen: Wir blasen uns hier vorne manchmal so auf, als ob wir alles wüßten. Fragen Sie einmal einen Abgeordneten, ob er weiß, was ein Pfund Butter kostet. Die meisten geben nicht zu, das sie es gar nicht wissen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Sehr verehrte Frau Abgeordnete Blunck, ich weiß, daß Sie auch Mitglied des Europarates sind. Sie scheinen die Methoden des Europarates in den Bundestag übertragen zu wollen. ({0})

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Ich will noch einmal wiederholen: Ich halte einen solchen Auftrag für sinnvoll. Ich werde bei uns im Haus die Angelegenheit in Ihrem Sinne, gnädige Frau, positiv besprechen. ({0}) - Ich gebe die Sympathie zurück.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das wollten Sie noch loswerden? Herr Abgeordneter Urbaniak, bitte sehr.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie können zwar nicht in allen Räumen der Bundesregierung herumlaufen - Sie laufen ja viel herum - , aber ich frage Sie: Wissen Sie denn, wieviel Kompakt-Leuchtstofflampen im eigenen Ministerium vorhanden sind und was Sie dadurch bisher eingespart haben? Oder hatten Sie bei Ihrer Lauferei noch keine Gelegenheit, sie zu zählen?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Wenn ich Abgeordneter wäre, würde ich den Staatssekretär genau das gleiche fragen, weil ich wüßte: Er kann die Frage nicht beantworten. ({0}) Das ist Ihr gutes Recht. ({1}) Ich werde eine Zählung veranlassen, Herr Abgeordneter, und teile Ihnen dann das Ergebnis mit. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, wir haben also die Zusicherung der Bundesregierung, daß in allen Räumen, die Leuchtstofflampen, ganz gleich, ob alter oder neuer Art, gezählt werden. In einer der nächsten Fragestunden wird dann haargenau bekanntgegeben, wieviel alte und neue Lampen brennen. ({0})

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident, ich weise einen Zwischenruf aus den Reihen der CDU/ CSU zurück, die Bundesregierung möge alle Flaschen zählen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich möchte Sie dringend davor warnen, auf Zwischenrufe aus dem Plenum zu antworten; denn dann werden Sie nicht fertig. Die Fragen 62 und 63 des Abgeordneten Gansel sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik - Drucksache 11/5622 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0}) - Drucksache 11/6778 Berichterstatter: Abgeordneter Catenhusen Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/6836 Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Zander Zywietz Frau Vennegerts ({2}) Hierzu liegen Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/6812 bis 11/6821 und 11/6851 vor. Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung vier Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.

Heinrich Seesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002142, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik wird ein vorläufiger Endpunkt einer sechsjährigen Debatte solcher Fragen im Deutschen Bundestag erreicht. Begonnen hat es 1984 mit der Einrichtung der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie". Diese Kommission bestand aus neun Abgeordneten der vier Fraktionen des Deutschen Bundestages und acht Sachverständigen. Nach zweieinhalbjährigen Beratungen hat die Kommission unter Vorsitz unseres Kollegen Wolf-Michael Catenhusen einen Bericht über die Chancen, aber auch über die Risiken der Gentechnologie vorgelegt. Man kann ihn auch heute noch als eine grundlegende Arbeit auf diesem Gebiet ansehen. Schon in diesem Bericht, der im Januar 1987 dem Bundestagspräsidenten übergeb en wurde, wurde die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung der Fragen der Gentechnik erhoben. Die Enquete-Kommission hat seinerzeit über diese Problematik intensiv diskutiert. Sie glaubte damals, daß es sinnvoll sei, das Bundes-Seuchengesetz zu einem Gesetz über die biologische Sicherheit auszubauen. Der Verzicht auf ein eigenständiges Gentechnikgesetz ist damals u. a. auch damit begründet worden, daß ein Herausheben der Gentechnologie aus den anderen Technikbereichen nicht wünschenswert sei. Aber sehr schnell wurde bei den Beratungen des Abschlußberichts der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages deutlich, daß zumindest drei Fraktionen ein eigenständiges Gentechnikgesetz anstrebten. Einen entsprechenden Beschluß hatte auch der Deutsche Bundestag am 26. Oktober 1989 gefaßt. Aber nicht nur der Bundestag hat sich in den letzten Jahren mit der Frage eines Gentechnikgesetzes auseinandergesetzt. Die betroffene Forschung und Industrie haben sich lange Zeit sehr kritisch mit den Forderungen nach einem Gentechnikgesetz befaßt. Oft wurde geäußert, daß ein solches Gesetz völlig sinnlos und überflüssig sei. Dabei wurde auf die rechtliche Lage in anderen Staaten verwiesen. Aus solchen Darstellungen ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, als wenn man in anderen Ländern Gentechnik betreiben könne, wie man Lust und Laune habe. Ich behaupte, daß deswegen viele Menschen in unserem Lande Ängste entwickeln. Damit ist genau das Gegenteil von dem erreicht worden, was man eigentlich erreichen wollte. Statt Erleichterungen für die deutschen Betreiber sind daraus Forderungen nach Verbot oder nach starken Einschränkungen der Gentechnologie geworden. Deswegen habe ich es durchaus begrüßt, daß deutsche Forschung und Wirtschaft seit geraumer Zeit auch die Forderung nach einem Gentechnikgesetz unterstützt haben. Wir, CDU und CSU, haben das Gentechnikgesetz vor allem auch deswegen gefordert, weil bestimmte rechtliche Regelungen für die Gentechnologie keine gesetzliche Grundlage haben. Die Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nukleinsäuren haben bisher funktioniert, weil sich Forschung und Wirtschaft mehr oder weniger freiwillig den Vorschriften unterworfen haben. Natürlich haben Bund und Länder ein anderes Machtmittel dazu genutzt: die Gewährung oder Nichtgewährung von finanziellen Beiträgen zu einem Projekt. Das kann aber auf Dauer nicht gutgehen. Wer etwas von unserer Verfassung und von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kennt, der weiß auch, daß Rechtsverordnungen nur auf der Grundlage eines Gesetzes Bestand haben können. Auch deswegen wollten und wollen wir ein Gentechnikgesetz. Es ist häufig kritisiert worden, daß die Bundesregierung den Entwurf eines Gentechnikgesetzes erst so spät oder zu spät vorgelegt habe. Nun scheint es mir an der Zeit zu sein, die Dinge einmal aus der Sicht der Koalitionsfraktionen zu beleuchten. Problem Nummer eins: Am 4. Juni 1987 hat der Deutsche Bundestag noch darum gebeten, erst die Beratungen des Berichts der Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie" in den Ausschüssen des Bundestages abzuwarten, bevor man zu Maßnahmen komme. Ich war sehr erstaunt darüber, daß wir das damals hier so gesagt haben. Problem Nummer zwei: Etwa zum gleichen Zeitpunkt begann die intensive Beratung von Vorentwürfen der EG-Richtlinien zur Gentechnik. Das hat sicherlich auch zur Diskussion von Zuständigkeitsfragen in der Bundesregierung geführt. Aber viel wichtiger waren die Fragen, wie man die sachlichen Probleme lösen könne. Die Vorlage sogenannter Eckwerte im Spätherbst 1988 war der Versuch, Anhaltspunkte für ein Gentechnikgesetz diskutieren zu lassen. Im Juni 1989 waren die Vertreter der Koalitionsfraktionen der Auffassung, nunmehr einen Gesetzentwurf formulieren und im Bundesrat einbringen zu sollen. Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. Juli 1989 ging von den Zuständigkeiten aus, die vom Bund verfassungsrechtlich in Anspruch genommen werden können. Der Bundesrat hat dem eine andere Konzeption gegenübergestellt. Daß die Bundesregierung diesen Vorstellungen des Bundesrates weitestgehend folgen wollte, ist spätestens seit dem 15. November 1989 bekannt. Bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes im Bundestag ist das angesprochen worden. In der Bundestagsdrucksache 11/5622 kann man es lesen. Ich haben den Eindruck, meine Damen und Herren, daß viele, die sich über den Gesetzentwurf ausgelassen haben, nicht die ganze Drucksache zur Kenntnis genommen haben. ({0}) Der Bundestag hat am 15. November 1989 den Gesetzentwurf in die Ausschüsse überwiesen und den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit mit der Federführung beauftragt. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion wurde bei diesem ein Unterausschuß „Gentechnikgesetz" eingerichtet. Ihm gehörten fünf Abgeordnete der CDU/CSU, vier Abgeordnete der SPD, ein Abgeordneter der FDP und eine Abgeordnete der GRÜNEN an. Dem Unterausschuß war als Aufgabe die Beratung des Gesetzentwurfes, die Auswertung einer dreitägigen Anhörung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu diesem Gesetzentwurf, die Beratung der Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse und die Diskussion der Entwürfe von Verordnungen zu diesem Gesetz übertragen worden. In acht Sitzungen hat der Unterausschuß diese Aufgaben erledigt. Weitere vorgeschlagene und vereinbarte Termine brauchten nicht in Anspruch genommen zu werden. ({1}) Wenn heute sicher auch noch Kritik an der Arbeit des Unterausschusses oder zumindest an seinem Zeitplan geübt werden wird, so darf ich doch als Vorsitzender dieses Unterausschusses feststellen, daß die Arbeit im Unterausschuß in größter Sachlichkeit geleistet wurde. ({2}) Ich hatte den Eindruck, daß jedes Mitglied dem anderen zumindest den Willen zugute hielt, ein möglichst gutes Gentechnikgesetz schaffen zu wollen, wobei die Ansichten darüber, was ein gutes Gesetz sei, natürlich auseinandergingen. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen persönlich herzlich bedanken für die Form des Umgangs miteinander. Dem Vorsitzenden wurde die Arbeit dadurch sehr erleichtert. Ganz besonders herzlich darf ich aber dem Sekretär des Unterausschusses, Herrn Regierungsdirektor Nothelle, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken. ({3}) Er hatte bis dahin, wenn ich es richtig sehe, keine Ausschußerfahrung. Heute kann ich ihn jedem Ausschußvorsitzenden nur empfehlen. ({4}) - So gut. Was hat nun der Unterausschuß zustande gebracht? Das Ergebnis liegt Ihnen in der Bundestagsdrucksache 11/6778 vor. Ich sagte schon, daß der Unterausschuß insgesamt acht Sitzungen durchführte. Ich höre nun Kritik, daß nicht genügend Beratungszeit zur Verfügung gestanden habe. Ich meine aber, daß man nicht mehr tun kann, als Beratungszeit anzubieten. Wenn ganze Sitzungen ausfallen konnten, weil kein Beratungsbedarf mehr zu bestehen schien, darf das nicht anderen zum Vorwurf gemacht werden. Es ist richtig, daß der Unterausschuß keine Grundsatzdebatte mehr geführt hat, ob wir Gentechnologie wollen oder nicht wollen. Es ging ausschließlich darum, wie man die Fragen der Gentechnologie rechtlich regeln sollte. Ich meine heute morgen hier gehört zu haben, daß der Bericht der Enquete-Kommission nicht beraten worden wäre. Das kann man nun wirklich nicht sagen. Er ist über zwei Jahre in den Ausschüssen des Bundestages eingehend diskutiert worden. ({5}) Die Grundsatzfragen sind in den Jahren vorher in den Gremien des Bundestages zur Genüge erörtert worden. Ich bedaure sehr, daß hier heute wieder der Eindruck erweckt wird, als wenn dafür nicht genügend Zeit zur Verfügung gestanden habe. Ich frage mich, was der Vorwurf soll, der federführende Ausschuß habe nicht einmal zwei Stunden über den Gesetzentwurf beraten. Warum, so frage ich, haben wir eigentlich den Unterausschuß gebildet? Worüber hätte denn der Ausschuß weiter beraten sollen? Die Anträge der SPD z. B. sind in der Fraktion wohl erst nach der Ausschußsitzung diskutiert worden. ({6}) Deswegen will ich durchaus anerkennend bewerten, daß die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion dennoch zahlreiche, aus ihrer Sicht fundierte Änderungsanträge schon in die Unterausschußarbeit eingebracht haben. Warum das erst so spät erfolgen konnte, bleibt allerdings das Geheimnis der SPD-Fraktion. ({7}) Die Koalitionsfraktionen haben zusammen mit der Bundesregierung und den Bundesländern unmittelbar nach den Anhörungen begonnen, die notwendigen Änderungen des Gesetzestextes zu erarbeiten. Ich sagte vorher schon, daß die bereits seit der Einbringung im Bundestag bekannte neue Konzeption Änderungen einfach erzwang. Hinzu kamen Überlegungen, die Vorgaben der EG möglichst weitgehend in das Gesetz zu übernehmen. Wenn die SPD da von Flickschusterei spricht, so behaupte ich, daß ein Gesetz entstanden ist, das ganz konsequent eine einmal als richtig erkannte Linie in rechtliche Vorschriften umsetzt. Ich bin sehr dankbar, daß sich die Koalitionsfraktionen dabei immer auch auf die Unterstützung durch die Bundesländer verlassen konnten. Begriffe wie „Durchpeitschen" , „Konzessionen an die Industrie", „unverantwortlich", „Nähen mit heißer Nadel" oder „Dickicht naher Wahltermine" treffen - mit Ausnahme des Hinweises „nahe Wahltermine" - nicht die Wahrheit. Aber diese nahen Wahltermine sind in keinem Dickicht verborgen. Sicherlich finden Gesetzesberatungen auch im Hinblick auf Wahltermine statt. Ich bin sogar bereit, Äußerungen im Hinblick auf den 13. Mai zu schlucken. Ich kann das heute um so eher, als ich davon überzeugt bin, daß der 13. Mai kein guter Tag für die SPD sein wird. ({8}) Es ist aber auch nicht unehrenhaft, eine Sache zielbewußt und terminbewußt voranzutreiben. Wenn mir bewiesen würde, daß die SPD das noch nie getan hat, dann müßte ich mich allerdings schämen. Ich glaube aber, daß es noch andere Gründe gibt und gegeben hat, das Gentechnikgesetz zügig auf den Weg zu bringen: Erstens. Es gilt, so schnell wie möglich eine zweifellos bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen und Rechtsklarheit zu schaffen. Zur Zeit müssen bei der Genehmigung gentechnischer Anlagen und Arbeiten folgende Rechtsgrundlagen beachtet werden: die Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nukleinsäuren, die in der Fassung vom 28. Mai 1986 vorliegen; die Vierte Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz in der Fassung vom 19. Mai 1988; die Abwasserherkunftsverordnung in der Fassung vom 3. Juli 1987; das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung vom 12. Februar 1990; die Gefahrstoffverordnung nach dem Chemikaliengesetz - mir hat niemand sagen können, wo da der Zusammenhang zwischen Gentechnologie und Chemikalien zu suchen sei - und die Unfallverhütungsvorschriften, die aber nach dem Inkrafttreten des Gentechnikgesetzes ihre Gültigkeit behalten werden. All diese Rechtsgrundlagen werden nun in einer Rechtsvorschrift, nämlich im Gentechnikgesetz, zusammengefaßt. Zweitens. Große Rechtsunsicherheit hat das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom November 1989 hervorgerufen. Ich habe bisher nur wenige Leute gehört, die glauben, daß dieses Urteil vor dem Bundesverfassunsgericht Bestand haben wird, wenn jemand das höchste Gericht anrufen würde. Ich bin auch etwas verwundert über die Begründung des Urteils, denn die Richter behaupten, daß die Gentechnik auch bei der Beachtung der notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ein letztlich nicht abschätzbares Risiko darstellt, und vergleichen die Gentechnologie mit der Kernenergie. Ich bedaure, daß die Richter, wie man es dem Text entnehmen kann, nur eine Auffassung von Gentechnik studiert haben, nämlich die des Öko-Instituts. In der Praxis bedeutet dieses Urteil - trotz aller verfassungsrechtlichen Bedenken - ein Moratorium in den Genehmigungsverfahren. Auch deswegen brauchen wir ein Rechtsicherheit schaffendes Gentechnikgesetz. Drittens. Es gibt aber auch noch einen äußerst wichtigen Grund, der mich seit Monaten zu einem möglichst frühen Inkrafttreten des Gentechnikgesetzes drängt. Mir scheint, man hat bei der Diskussion um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Entwicklung in Europa und das Jahr 1992 aus den Augen verloren. Die Wirtschaft vergißt das nicht. Sie wird in der zweiten Jahreshälfte Investitionsentscheidungen treffen. Mir ist schon sehr daran gelegen, daß solche Entscheidungen für die Errichtung gentechnischer Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland fallen. Mit unserem Gentechnikgesetz haben wir ganz klare Bedingungen vorgegeben. Jeder weiß, woran er ist. Dieses Gesetz gilt nunmehr für gentechnische Anlagen, gentechnische Arbeiten, Freisetzungen von gentechnisch veränderten Organismen und das In-Verkehr-Bringen von Produkten, die gentechnisch veränSeesing derte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen. Das Gesetz gilt nicht für gentechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen, für Gentherapie und Genomanalyse bei Menschen. Dazu werden rechtliche Regelungen in anderen Gesetzen geschaffen. Zweck des Gesetzes ist es zunächst, Mensch, Natur und Umwelt vor möglichen Risiken und Gefahren zu schützen. Es soll aber auch den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik abgeben. Aus der Reihenfolge der Ziele wird die Abstufung ihrer Bedeutung deutlich. Wir sind schon der Ansicht, daß auch die Forschung in der Bundesrepublik Deutschland es verdient hat, in ihrer Arbeit gefördert zu werden. Wir sind auch der Ansicht, daß das durch dieses Gesetz insgesamt geschieht, selbst wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft noch anderer Auffassung sein sollten. Wie nun behauptet werden kann, daß die Einführung des Wortes „Förderung" die Gentechnik der öffentlichen Anfrage und Kritik entzieht, ist mir nicht erklärlich. Sie muß sich nach unserer Auffassung gerade dem Vorbehalt und der Kritik stellen. In den USA haben es sich Staat, Forschung und Industrie als Aufgabe gesetzt, intensive Aufklärung über die einzelnen Vorhaben zu betreiben. Wir erwarten gerade wegen des Fördergedankens nun auch eine verstärkte Aufklärung der Bevölkerung als gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern, Schulen, Forschung und Industrie. Wenn etwas gefördert werden soll, muß man auch wissen, um was es sich handelt. Im Gesetz wird unterschieden zwischen Forschungs- und Produktionsanlagen. Es hat Schwierigkeiten gegeben, den Begriff „gentechnische Arbeiten zu Forschungszwecken" zu erklären. Das Gesetz beschreibt sie nunmehr als „eine Arbeit für Lehr-, Forschungs- oder Entwicklungszwecke oder eine Arbeit für nichtindustrielle bzw. nichtkommerzielle Zwecke in kleinem Maßstab". Ich möchte ausdrücklich zu Protokoll geben, daß hier Forschungsarbeit als Forschungsarbeit zu betrachten ist, unabhängig von Gefäßgrößen und Forschungsfinanzierung. Die Forschung erfährt durch dieses Gesetz also sehr annehmbare Dinge. Es wird kritisiert, daß in Teilbereichen das Genehmigungsverfahren durch ein Anmeldeverfahren ersetzt wird. Nach unserer Auffassung entsprechen diese neuen Regelungen auch dem Fortschritt der Erkenntnis aus 20 Jahren Forschungsarbeit in der Gentechnik. Wir sind bereit, der Forschung in der Bundesrepublik auch den rechtlichen Rahmen zu geben, der ihr wegen Art. 5 des Grundgesetzes zusteht. Dennoch stellt das Gentechnikgesetz eine durchgehende Kontrolle auch der Forschung sicher. Manche Bedingungen, die in den Rechtsverordnungen präzisiert werden, stoßen auf den Widerwillen der Verbandsfunktionäre. Ich meine aber, daß es gerade hier um Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit geht. Ich würde also weniger Kritik aus den Reihen der Forschung erwarten, dafür aber um so mehr Erklärung, was man da eigentlich tut. Ich glaube, daß es möglich ist, viel mehr über die gentechnische Forschung zu sagen, ohne irgendwelche betrieblichen Geheimnisse zu verraten. Von großer Bedeutung sind die im Gesetz festgelegten Fristen für die Genehmigungsverfahren. Die zuständigen Behörden sind gehalten, über einen Genehmigungsantrag innerhalb einer Frist von drei Monaten schriftlich zu entscheiden. Unter bestimmten Bedingungen kann diese Frist um bis zu drei Monate verlängert werden, wenn es sich dabei nicht um die gentechnischen Arbeiten handelt. Die Fristen ruhen während eines Anhörungsverfahrens oder wenn der Antragsteller noch nicht alle Unterlagen eingereicht hat. Die Setzung dieser Fristen ist ein ehrgeiziges Ziel. Die Koalition war aber der Auffassung, daß auch der Bürokratie in Deutschland Zeichen zu setzen sind. Wir müssen von den überlangen Zeiten für Genehmigungsverfahren herunter. Mit diesem Gesetz werden Bund, Länder und Kommunen festgelegt. Ich glaube, daß die Frage der Beteiligung der Öffentlichkeit in einem gentechnischen Genehmigungsverfahren angemessen geregelt ist. Ich weiß, daß die Industrie mit den Vorschriften des § 16 dieses Gesetzes zunächst nicht einverstanden ist. Danach findet immer ein Anhörverfahren statt, wenn es um die Errichtung und den Betrieb einer gentechnischen Anlage geht, in der gentechnische Arbeiten der Sicherheitsstufen 2, 3 oder 4 zu gewerblichen Zwecken durchgeführt werden sollen. Aber auch bei den anderen Anlagen mit den Arbeiten der Sicherheitsstufe 1 ist ein Anhörverfahren durchzuführen, wenn ein Genehmigungsverfahren nach § 10 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erforderlich ist. Bei Freisetzung ist ein Anhörverfahren immer durchzuführen, es sei denn, es handelt sich um Organismen, deren Ausbreitung begrenzbar ist. Ich wehre mich einerseits gegen die Ausdehnung der Anhörverfahren auf die einzelnen gentechnischen Arbeiten in den Anlagen; denn da kann es auf Dauer doch nur um gesellschaftliche Festlegungen gehen, was die augenblickliche sogenannte Volksmeinung produziert haben will oder nicht. Wir haben hier ganz andere ordnungspolitische Ansichten. Wir halten die Kontrolle durch die Länder oder das Bundesgesundheitsamt für wünschenswert und aureichend. Andererseits habe ich aber gar kein Verständnis für die Vorbehalte der Industrie gegen eine Beteiligung der Öffentlichkeit beim Bau einer Anlage. Hier ist doch die Gelegenheit, sich, seine Arbeit, seine Mitarbeit und sein Vorhaben der Öffentlichkeit darzustellen, Einwände aufzugreifen, Verständnis und Akzeptanz zu gewinnen und schließlich auch Rechtssicherheit zu erhalten. Das Gentechnikgesetz geht hier nach unserer Auffassung den richtigen Weg. Die Antragsteller haben es im Grunde selbst in der Hand, wie lange ein Genehmigungsverfahren dauert. Im Gesetz und in den Rechtsverordnungen steht, welche Unterlagen beizubringen sind. Man sollte sich von vornherein daran halten. Es werden klare Verhältnisse geschaffen. Die EG-Richtlinien werden in deutsches Recht überführt. Es ist richtig, daß wir das so weit wie eben möglich im Rahmen dieses Gesetzes tun; denn es ist schon schlimm und ich halte es für nicht mehr tragbar, daß zwölf nationale Parlamente gezwungen sind, als geltendes Recht hinzunehmen, was eine Kommission, zwölf Regierungen und dreizehn Bürokratien sich ausdenken. Ich würde mich entschieden wohler fühlen, wenn das Europäische Parlament in seiner Gesetzgebungsarbeit endlich zu richtigen Kompetenzen käme. ({9}) In unser Gentechnikgesetz sind viele Vorgaben des neuen EG-Rechts eingeflossen. Es ist notwendig, die Einzelheiten des Gesetzes in Rechtsverordnungen zu regeln. Das gilt auch für Teile des EG-Rechts. In diesem Gesetz sind alle notwendigen Verordnungsermächtigungen enthalten. Der Bundestag behält sich vor, die Rechtsverordnungen zu § 6 a - das sind die Sicherheitsstufen und Sicherheitsmaßnahmen - und zu § 13 Abs. 4 - das ist das vereinfachte Genehmigungsverfahren bei der Freisetzung - zu beraten. Der Unterausschuß Gentechnikgesetz hat sich am 23. März 1990 mit der erstgennanten Rechtsverordnung befaßt. Die Beratung hat mich nicht zufriedengestellt. Es scheint mir notwendig zu sein, ein Verfahren zu entwickeln, wie der Bundestag diese sich selbst gestellte Aufgabe am besten löst. ({10}) Als letztes möchte ich noch die Frage der militärischen Nutzung der Gentechnik ansprechen. In der Bundesrepublik Deutschland ist am 21. Februar 1983 das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 10. April 1972 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer und biologischer Waffen und von toxinen Waffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen in Kraft getreten. Daran ist jeder gebunden. Die Frage ist, ob Defensiv- oder Schutzforschung betrieben werden soll. Gestattet ist sie nach dem genannten Übereinkommen. Bis zu einer endgültigen weltweiten Beendigung solcher Forschung werden möglicherweise auch gentechnische Arbeiten in diesem Bereich stattfinden. Wir wollen keinen geringeren Schutz unserer Soldaten und der ganzen Bevölkerung vor biologischen Waffen, als es bei anderen Armeen und in anderen Ländern als erforderlich angesehen wird. Aber ich bitte den Bundesverteidigungsminister nachdrücklich zu prüfen, ob nicht auf solche Entwicklungen in bundeswehreigenen Einrichtungen verzichtet und die Aufgabe anderen Institutionen übertragen werden kann, wenn sie überhaupt noch notwendig sind. ({11}) - Was du vorgeschlagen hast, ist etwas ganz anderes, mein Lieber. Wegen dieses Schutzgedankens müssen wir den Antrag der SPD auf ein totales Verbot der Nutzung der Gentechnik zu militärischen Zwecken zu diesem Zeitpunkt ablehnen; ({12}) denn damit würde der Schutz nicht nur der Soldaten, sondern auch der aller anderen Bürgerinnen und Bürger behindert, wenn nicht gar verhindert. Nur hinweisen möchte ich auf die Frage der Haftung von Betreibern einer gentechnischen Anlage. Sie ist umfassend nach den Vorstellungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages geregelt worden. Viele Menschen in unserem Lande glauben, das Problem Gentechnologie ganz einfach durch ein Verbot regeln zu können. Abgesehen davon, daß das EG-Recht eine solche Entscheidung kaum noch zulassen wird, muß man sich die Frage stellen, was ein Verzicht auf die Gentechnik allgemein oder ein Verzicht auf bestimmte Arbeiten für die Menschen bedeuten würde. Ich könnte einen solchen Verzicht mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Aber gerade deswegen dränge ich auf klare rechtliche Regelungen. Sie sind durch dieses Gesetz gegeben. Ich bitte alle, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({13})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hans Jonas hat in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels auch uns Parlamentarier angesprochen. Die parlamentarische Demokratie - so sagte er - als freiestes politisches System könnte auf Dauer grundsätzlich in Frage gestellt werden, wenn nicht das Parlament rechtzeitig Maßstäbe für einen verantwortlichen, zurückhaltenden Umgang mit der übergroßen Macht der Technik entwickelt. Dieses Wort von Hans Jonas traf natürlich in besonderer Weise die Fragen von Chancen und Risiken der Gentechnik. Er meinte die Gentechnik, die uns neue umfassende Möglichkeiten zur gezielten Beeinflussung des Lebens gibt. Wir wissen nach sechs Jahren Diskussion im Bundestag, daß mit der Nutzung der Gentechnik Chancen verbunden sind, etwa in der Grundlagenforschung in der Medizin, in der Entwicklung von Medikamenten; es kann aber auch um Risiken und Gefahren gehen, bei denen wir als Gesetzgeber zur vorbeugenden Risikoabwehr verpflichtet sind. Wir, das Parlament, setzen heute in einem wichtigen Bereich rechtsverbindliche Maßstäbe für einen verantwortlichen Umgang mit der Gentechnik. Über die Grundsätze und Maßstäbe für Verantwortung haben wir im Deutschen Bundestag sechs Jahre lang, ausgehend von der Einsetzung der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, mit Gewinn, so denke ich, diskutiert. Wir haben eines gemeinsam geschafft: mittlerweile wird der Anspruch der Politik, auf diesem Feld rechtsverbindliche Vorschriften zu erlassen, auch von der Wissenschaft und der Industrie nicht mehr grundsätzlich bestritten. 1984 waren wir Sozialdemokraten mit der Forderung nach einem Gentechnikgesetz einsame Rufer. Forschungsminister Riesenhuber stand damals noch mit an der Spitze derjenigen, die im Namen der Freiheit der Wissenschaft einen Gestaltungsanspruch des Gesetzgebers ablehnten. Da haben sich die Zeiten - ich begrüße das sehr - gründlich geändert. Daran, meine Damen und Herren, haben wir Sozialdemokraten sicherlich einen gewichtigen Anteil, aber auch die Gewerkschaften. Ich nenne dabei insbesondere die IG Chemie. Die pauschale Ablehnung von Rechtsvorschriften war damals und ist auch heute politisch naiv und kurzsichtig. In der Bundesrepublik Deutschland unterliegt der Umgang mit Technik seit langem einer hochdifferenzierten rechtlichen Rahmensetzung. Ich finde die Aussage von dem Technikjuristen Professor Nicklisch so schön, daß ich sie Ihnen heute noch einmal vortragen möchte. Er hat schon vor vier Jahren gesagt: „Ein moderner Industrie- und Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland, in dem selbst Teddybären und Aquariumleuchten durch Gesetz und Rechtsverordnung erfaßt werden, kann den wichtigen Bereich der Bio- und Gentechnologie auf Dauer nur durch rechtsverbindliche Normen regeln." Daß fehlende Rechtsvorschriften in diesem Bereich auch unkalkulierb are Bedingungen für Wissenschaft, Industrie und Öffentlichkeit bedeuten können, hat die deutsche Industrie, hat insbesondere die Firma Hoechst, in den letzten Jahren schmerzhaft erfahren müssen; denn das Genehmigungsverfahren für die Insulinproduktion in Höchst ist bis heute doch nicht an zu starker öffentlicher Diskussion gescheitert, an der Qualität der Einwände in Sachen Sicherheit, dieses Verfahren ist bis heute an fehlenden Rechtsvorschriften gescheitert. ({0}) Dies hat der Verwaltungsgerichtshof in Kassel, dessen Urteil ich mir im einzelnen nicht zu eigen machen möchte, nachdrücklich bestätigt. Kein Wunder, daß der Forschungschef der Bayer AG, Professor Büchel, im April 1988 mahnte, möglichst bald „geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen für den Umgang mit der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland" zu schaffen. Seit 1987 sind sich die Fraktionen von SPD, CDU/ CSU und FDP in der Forderung nach rechtsverbindlichen Vorschriften und, so denke ich, dann auch bald in der Forderung nach einem Gentechnikgesetz einig gewesen. Es ist für uns unverständlich, daß die Bundesregierung dennoch fast drei Jahre verstreichen ließ, bis es zur ersten Lesung eines solchen Gesetzentwurfs, Ende November, gekommen ist. Sie hat damit den Zeitdruck zu verantworten, unter den das Parlament bei seinen Beratungen gesetzt worden ist. Ich möchte der Legendenbildung von seiten der Bundesregierung energisch widersprechen. Interne Querelen und Konzeptionslosigkeit und nicht etwa die Rücksicht auf das Parlament haben das Gesetzgebungsvorhaben lange Zeit verschleppt. ({1}) Um eine kleine Kostprobe zu geben: Anfang 1988 gab es eine Ressortbesprechung in Sachen Gentechnikgesetz - man saß damals schon seit mehr als einem Jahr an dem Projekt -, und da kann man folgende fundamentale Einwendung im Protokoll nachlesen: Der Vertreter des Finanzministeriums erklärte, daß beim möglichen Vollzug des Gesetzes durch den Bund Planstellen entstehen könnten. Aus diesen Gründen lehne das Finanzministerium ein Gentechnikgesetz ab. - Der Bewußtseinsstand, denke ich, spricht doch Bände. ({2}) Kollege Kohn hat das Problem am 22. Juni 1989 hier im Bundestag sehr nett untertrieben. Er sagte damals: „Auch ich hätte mir vorstellen können, daß dies ein bißchen zügiger hätte vorangehen können." ({3}) Um der Bundesregierung etwas Entlastung zu geben, fügte Kollege Kohn hinzu: „Aber ich sage auch ganz klar: Ein sorgfältig und präzise erarbeiteter Gesetzentwurf als Vorlage für unsere parlamentarische Beratung ist mir wesentlich lieber als ein schludriger, hingeschlamperter Entwurf, der dann vom Parlament kassiert werden muß." ({4}) Nun haben Sie, Kollege Kohn, vereint mit dem Kollegen Seesing den Gesetzentwurf der Regierung mitten im Verfahren kassiert. Sie haben, eingekleidet in Änderungsanträge, faktisch einen neuen Entwurf vorgelegt. ({5}) Meine Damen und Herren, damit wird deutlich, daß unsere Einschätzung, daß die Vorlage der Bundesregierung hingeschlampert und schludrig war, auch vom Kollegen Kohn geteilt wird. ({6}) Daß dieser Gesetzentwurf den Rekord von 254 Änderungsanträgen im Bundesrat aufstellte, spricht auch für sich. ({7}) In einem dieser Beschlüsse hieß es - ich zitiere - : „Der vorgelegte Gesetzentwurf wird den Anforderungen nicht gerecht. Der Gesetzentwurf ist gesetzestechnisch unzureichend und inhaltlich unausgereift." - Das kam erschwerend hinzu: nicht nur der Zeitplan, der Zeitdruck, sondern die Tatsache, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung keine geeignete Beratungsgrundlage war und bis heute nicht ist. Ich habe für unsere Fraktion schon in der ersten Lesung auf die problematischen Umstände der anstehenden Gesetzesberatung aufmerksam gemacht. Die Bundesregierung hat die Chance verpaßt, auf der Basis der Vorarbeiten der Enquete-Kommission einen gründlich vorbereiteten Gesetzentwurf vorzulegen. Die Koalitionsfraktionen haben dem Bundesrat dennoch unverzagt den Termin 11. Mai für die Verabschiedung des Gentechnikgesetzes gesetzt. Damit sollte das Gesetz sogar ein halbes Jahr früher, als ursprünglich vorgesehen, nämlich zum 1. Juli 1990, in Kraft treten, ({8}) da zwischendurch das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel hereingehagelt war und damit alle Terminpläne über den Haufen geworfen wurden. ({9}) - Nein, aber ich sage Ihnen: Auf die Dauer ist ein gutes Gesetz besser als irgendeines. ({10}) Nach fast drei Jahren Verzögern und Verschlampern, um in der Sprache des Kollegen Kohn zu bleiben, soll nun das Parlament im Eiltempo retten, was zu retten war. Der Bundesrat hatte - ich denke, auch mit Blick auf den Bundestag - nur wenige Wochen vorher beschlossen: „Das Gesetzesvorhaben wirft eine Fülle von juristischen und naturwissenschaftlichen Fragen auf. Die einschlägigen Regelungen bedürfen deshalb besonders sorgfältiger, ihrer Komplexität und Tragweite gerecht werdender Prüfung." - Fürwahr ein hoher Anspruch; wir haben ihn ernstgenommen. Ich denke, auch die Kollegen Kohn und Seesing. Davon konnte aber, meine Damen und Herren, im Deutschen Bundestag während der Beratungen nur an einer Stelle in Ansätzen die Rede sein: im Unterausschuß Gentechnikgesetz, den wir als SPD-Fraktion durchgesetzt haben. Denn wir waren der Meinung: Nur auf dieser Grundlage kann überhaupt ein Versuch gemacht werden, eine sachgerechte Beratung dieses Gesetzentwurfes durchzuführen. Die Beratung des Gesetzes im Parlament insgesamt entspricht nicht unseren Vorstellungen von Beratungen, die die Glaubwürdigkeit der Rolle des Parlaments, in die Entwicklung der Gentechnik gestaltend einzugreifen, stärken. ({11}) Denn: 14 Tage nach den von der SPD durchgesetzten öffentlichen Anhörungen hat die Koalition den alten Gesetzentwurf der Bundesregierung stillschweigend einkassiert; dafür hatte ich vollstes Verständnis. ({12}) Damit, meine Damen und Herren, hätte aber eigentlich auch das Gesetzgebungsverfahren neu beginnen müssen. ({13}) Die Kollegen Kohn und Seesing haben es auf sich genommen - ich sage das so - , in ihrem Namen praktisch einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. ({14}) So wurde in formal geschickter, aber politischer bedenklicher Weise der Anspruch auf Durchführung neuer Anhörungen umgangen. Dann wurde mit der heißen Nadel weiter fieberhaft nachgebessert, häufig, Kollege Fellner, mit der Nadel, die vom Freistaat Bayern - ich muß sagen: kundig - geführt wurde. ({15}) Bis zur letzten - einzigen - Beratung im federführenden Ausschuß wurden Änderungsanträge hereingereicht. In der letzten Sitzung im federführenden Ausschuß waren dies die Änderungsanträge 87 a und 87b. Das spricht zwar für die Qualität der Kollegen. Aber es bleibt doch zu fragen, wie man in einem solchen Zeitraum eine sorgfältige Prüfung dieser Vorschläge durchführen kann, auch unter Einbeziehung von Sachverständigen außerhalb des Parlaments. Es ist klar, meine Damen und Herren - das hat Herr Kollege Seesing auch offen gesagt; das ist auch nicht ehrenrührig - : Man hatte einen festen Termin gewählt; er war von der Sache her nicht zwingend. Doch auch wir von der Sozialdemokratischen Partei waren und sind der Auffassung, daß wir ein solches Gesetz noch in diesem Jahr brauchen. ({16}) Die Beratungen im Unterausschuß haben - trotz dieser von mir aufgezeigten problematischen Umstände - zu einer Reihe von Verbesserungen geführt; das erkennen wir durchaus an. Ich nenne als Beispiel die von uns seit langem geforderte Einbeziehung des Betriebs- oder Personalrates bei der Bestellung des Beauftragten für die biologische Sicherheit. Ich nenne das mit unserer Zustimmung erfolgte Abgehen von dem irreführenden Begriff des geschlossenen Systems und die Aufnahme - Gott sei Dank - wichtiger Definitionen und Vorschriften der EG-Richtlinien. Ich nenne die neu eingeführte Zuständigkeit der Bundesländer für die Forschung, die auch nach unserer Überzeugung verfassungsrechtlich geboten war. Ich nenne den mit unserer Zustimmung gefaßten Beschluß, dem Parlament das Recht einzuräumen, zentrale Rechtsverordnungen, die auf der Grundlage dieses Gesetzes zu erlassen sind, an sich zu ziehen. - Wir können es im Bereich des Technikrechtes nicht zulassen, daß Regelungen immer stärker in Rechtsverordnungen verlagert werden, um der Entwicklung von Wissenschaft und Technik flexibel Rechnung tragen zu können, dabei aber gleichzeitig auch immer mehr das Parlament ausgeschaltet wird. ({17}) Wir haben hier einmal einen Versuch gemacht, diese Entwicklung zu kontrollieren und aufzuhalten. ({18}) Ich nenne die auf unseren Vorschlag hin im Gesetz eingefügte Ermächtigung, durch eine Rechtsverordnung einheitliche Rechtsvorschriften für den Arbeitsschutz im Bereich der Bio- und Gentechnologie zu erlassen; ich denke, das war eine gute Entscheidung. Wir werden deshalb auch einigen Einzelbestimmungen des Gesetzentwurfs zustimmen oder uns der Stimme enthalten. Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode ein Gentechnikgesetz, das im Einzelfall den jeweiligen notwendigen Schutz von Mensch und Umwelt gegenCatenhusen über möglichen Gefahren und Risiken der Gentechnik sicherstellt. ({19}) Wir brauchen bis zum Jahresende noch dringend Rechtssicherheit im Interesse der Öffentlichkeit, ({20}) im Interesse der Wissenschaft, im Interesse der Industrie und der dort Beschäftigten. ({21}) Die Bereitschaft, daran mitzuwirken, haben wir wiederholt erklärt. Wir haben auch die Regierung seit Jahren zum Handeln gedrängt. Nur, meine Damen und Herren, das kann doch nicht heißen: egal was für ein Gesetz, Hauptsache wir bekommen eines. ({22}) Wir haben unsere Bereitschaft von Anfang an mit Erwartungen an dieses Gesetz verknüpft, die niemandem ein Geheimnis waren und die wir deutlich und klar formuliert haben. Wir lehnen heute diesen Gesetzentwurf ab, weil der Entwurf ein schlechter Entwurf ist, ({23}) weil er an wichtigen Stellen mit der heißen Nadel gestrickt worden ist. ({24}) Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab, weil an zentralen Stellen die von der SPD-Fraktion gestellten Anforderungen an dieses Gesetz nicht erfüllt worden sind. ({25}) - Jetzt sage ich Ihnen einmal eines, Herr Hoffacker. Das mit den 50 % ist ja nun wirklich eine Milchmädchenrechnung. Wir haben wunderschöne Übergangs- und sonstige Vorschriften, Verfahrensregelungen usw. Aber wenn es um die Knackpunkte, wie Freisetzungsfragen, wie Öffentlichkeitsbeteiligung, geht, so können wir uns darüber gleich noch unterhalten. Das Gentechnikgesetz ist für uns nicht eindeutig ausschließlich am Ziel des Schutzes von Mensch und Umwelt orientiert. Das Gentechnikgesetz trägt insgesamt nicht zur Ausweitung von Informations- und Beteiligungsrechten der Bevölkerung bei. Das Gentechnikgesetz bringt ohne erkennbaren Grund Abschwächungen bei den Voraussetzungen für die Zulassung von gentechnischen Forschungsvorhab en mit sich. Das Gentechnikgesetz läßt keine besondere Vorsicht im Umgang mit Freisetzungsvorhaben erkennen. Das Gentechnikgesetz weist leider auch rechtstechnische Mängel auf. Die Regelung, die Sie im Bereich des Ausschlusses der militärischen Nutzung der Gentechnik treffen wollen, ist unzulänglich. Erstens. Ein Gentechnikgesetz muß sich nach unserer Auffassung ohne Abstriche am Ziel orientieren, den Schutz von Mensch und Umwelt vor möglichen Gefahren der Gentechnik sicherzustellen. Wir können es nicht akzeptieren, daß zum Schluß der Beratungen die Förderung der Gentechnik als Ziel des Gesetzes in § 1 festgeschrieben worden ist. Wir brauchen wirklich kein zweites Atomgesetz, in dem eine Technik im Gesetz den Stempel „förderungswürdig" erhält und so öffentlicher Kritik und Anfrage entzogen werden soll. ({26}) Die Gentechnik ist nicht pauschal und überall förderungswürdig. Wo sie sicher zu handhaben ist und Chancen bietet, wollen auch wir Sozialdemokraten sie fördern. Ich nannte die Beispiele der Grundlagenforschung und der Medizin. Zusammen mit einigen Technikjuristen befürchten wir aber zugleich, daß mit der Aufnahme dieser Bestimmung das Schutzziel des Gesetzes relativiert und aufgeweicht werden kann. Diesen Weg wollen wir nicht mitgehen. Zweitens. Ein Gentechnikgesetz muß nach unserer Überzeugung ein klares Verbot der militärischen Nutzung enthalten. ({27}) Wir haben dafür in der Öffentlichkeit und gerade auch bei vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Unterstützung erhalten. Die Koalitionsfraktionen - das muß man anerkennen - haben in den Gesetzesberatungen darauf einzugehen versucht, allerdings in einer rechtstechnisch schlechten und sachlich ungenügenden Weise. Es macht keinen Sinn, nur die Genehmigung einer Anlage, in der Genforschung stattfinden soll, an die Einhaltung der UN-Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer Waffen und von toxinen Waffen zu binden; denn entscheidend ist doch zu wissen, welche Versuche mit welcher Zielsetzung in solchen Anlagen durchgeführt werden und wer sie finanziert. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesjustizministeriums haben Sie die Genehmigung für gentechnische Arbeiten nicht an diese Bedingung geknüpft. Das können Sie doch niemandem erklären. Das ist auch widersinnig, rechtstechnisch schlampig und gefährlich zugleich. ({28}) Um übrigens einmal Realitäten aufzuzeigen, meine Damen und Herren: Im Auftrage der Bundeswehr sind bislang mindestens drei gentechnische Forschungsvorhaben bewilligt worden. Davon wußte der Vorsitzende der begutachtenden Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit nach Aussage in einer Anhörung bezeichnenderweise nichts. Er konnte es auch gar nicht wissen, weil als Antragsteller ein Universitätsinstitut, nicht aber der Finanzier Bundeswehr aufgeführt war. Wir Sozialdemokraten wollen ein klares Verbot im Gesetz. ({29}) Das mindeste, was Sie in Ihrer Absicht hätten tun müssen, wäre gewesen, Ihre Anforderung auch an die Zulassung gentechnischer Arbeiten zu binden. Wir wollen aber auch die Grauzone der defensiven oder Schutzforschung in das Verbot der militärischen Nutzung der Gentechnik einbeziehen. Wir sind der Meinung, daß es sinnvoll ist, die Entstehung von gentechnischem Know-how bei unseren Streitkräften grundsätzlich auszuschließen. ({30}) Wir werden deshalb unseren Antrag zum Verbot der militärischen Nutzung der Gentechnik heute zur Abstimmung stellen. ({31}) Drittens. Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, daß das Gentechnikgesetz nicht zum Abbau der heute geltenden Bestimmungen über die Beteiligung der Öffentlichkeit an Genehmigungsverfahren im Bereich der Industrie führen darf. Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf schränkt die Öffentlichkeitsbeteiligung in diesem Bereich ein. Sie soll künftig nur für die Anlagengenehmigung bei Produktionsanlagen der Sicherheitsstufen 2 bis 4 gelten. Damit wird aber die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der eigentlich spannenden Frage, nämlich der Bewertung der biologischen Risiken einzelner Vorhaben, zumindest bei Folgevorhaben ausgeschlossen. Das ist für uns ein nicht akzeptabler Rückschritt. Ich sage ganz deutlich: Das technische Gehäuse einer Anlage zu genehmigen, ist relativ unproblematisch. Da haben wir eine technische Liste: L 2 muß die und die Vorrichtungen enthalten. Dann wird nachgeprüft: Sind sie drin oder nicht? Aber die spannende Frage ist eigentlich, ob das Vorhaben, das dort durchgeführt wird, durch diese Anlage eigentlich ausreichend geschützt ist. ({32}) Und dabei die Öffentlichkeit auszuschließen, halte ich nicht für sachgerecht. ({33}) Es ist anzuerkennen, daß die vorgesehene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Freisetzungsvorhaben in-Teilen eingeführt worden ist. Dies war ja wohl auf Grund der EG-Richtlinien nicht zu vermeiden. Sie bleibt aber eingeschränkt. Wir möchten sie gern auf alle Freisetzungsvorhaben ausweiten. Die SPD hat von Anfang an - das ist mein vierter Punkt - eine beondere Zurückhaltung im Umgang mit Freisetzungsexperimenten gefordert. Von dieser Zurückhaltung ist im vorliegenden Gesetzentwurf nichts zu spüren ({34}) im Gegensatz zu den Empfehlungen der EnqueteKommission. Wir halten daran fest, daß durch ein Gentechnikgesetz vorläufig nicht rückholbare, nicht begrenzbare Freisetzungsexperimente untersagt werden müssen. ({35}) Es darf auch keinen Rechtsanspruch auf die Genehmigung eines Freisetzungsvorhabens geben. Fünftens. Die SPD hat in dem Gesetzgebungsverfahren an dem Ziel, Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen, festgehalten und ist sich bewußt, daß die Wissenschaft und die Industrie mit hohen Sicherheitsanforderungen nur dann leben können, wenn gleichzeitig die Genehmigungsverfahren zeitlich kalkulierbar bleiben. Deshalb finden die im Gesetz vorgesehenen Fristen von 60 oder 90 Tagen, innerhalb deren Genehmigungsentscheidungen zu treffen sind, unsere Billigung und Unterstützung. Es bleibt uns aber unerfindlich, warum in dieses Gesetz bei der Anlagengenehmigung die Möglichkeit einer Fristverlängerung und die Möglichkeit des Erlasses von Teilgenehmigungen vorgesehen sind. ({36}) Beides ist nach gutachterlicher Stellungnahme des Justizministeriums nicht mit dem EG-Recht vereinbar. Offensichtlich haben die Koalitionsfraktionen unter dem enormen Zeitdruck die umfangreiche Mängelliste, die die EG-Kommission zu diesem Gesetzentwurf anläßlich unserer Anhörung übergeben ließ, nicht gründlich aufgearbeitet. ({37}) Sie haben versucht, ein Dilemma mit einem falschen Schritt auszuräumen. Die Fristvorschriften, die hier aus dem EG-Recht übernommen worden sind, beziehen sich auf die Genehmigung von Vorhaben. Aber Sie wollen nun eine ganze Anlage mit Baurechtsfragen, mit Wasserrechtsfragen, mit der Einschaltung der kommunalen Behörden und alldem in den 90 Tagen durchführen. Das wird dieses Gesetz nicht hergeben. ({38}) Deshalb spiegeln Sie hier eine falsche Fristsicherheit durch das Gentechnikgesetz vor, weil das Gentechnikgesetz diese Fragen gar nicht entscheiden kann. Ich fürchte, die Industrie wird merken, daß das mit der 90-Tage-Frist hier in der Praxis weiße Salbe sein könnte. Es wäre Ihnen nach meiner Ansicht, wenn Sie diese Mängelliste der EG gründlich studiert hätten, auch nicht entgangen, daß auch die Freisetzungsbestimmungen zumindest an einer Stelle klar gegen die zu erwartenden EG-Richtlinien verstoßen. Es ist mit EG-Recht nicht vereinbar und es ist für uns auch politisch nicht akzeptabel, für Freisetzungsvorhaben vorzusehen, daß wir durch Rechtsverordnung vom Genehmigungsverfahren auf ein vereinfachtes Anwendeverfahren umschalten können. Es gibt für uns keine sachlichen Gründe, so etwas im Vorlauf schon jetzt in einem Gesetz zu verankern. Vielleicht kann man in fünf Jahren darüber reden. Aber heute sehen wir keine Grundlage dafür. ({39}) Sechstens. Seit 1978 gilt, wenn auch nur zum Teil auf freiwilliger Basis, daß in der Bundesrepublik Deutschland gentechnische Vorhaben jeder Sicherheitsstufe von der zuständigen Behörde genehmigt werden müssen. Ausgenommen waren bislang Vorhaben der untersten Sicherheitsstufe 1, weil hier nach menschlichem Ermessen von Gefahren für Mensch und Umwelt nicht die Rede sein konnte. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, auch nicht nach den AnmerCatenhusen kungen von Herrn Kollegen Seesing, wieso jetzt ohne Not, ohne daß irgendeine Kritik von der Wissenschaft an dem bisher gewählten Verfahen geäußert wurde, das bislang gültige Verfahren durch das vereinfachte Anmeldeverfahren generell für Forschungsvorhaben aller Sicherheitsstufen ersetzt werden soll. ({40}) Was das zum Erreichen des Schutzziels beitragen soll, ist uns nicht erklärlich. Die EG wird das Anmeldeverfahren als Mindeststandard für gentechnische Vorhaben jeder Art vorschreiben. Aber wir wollen doch nicht mit Hilfe dieses Gentechnikgesetzes deutsches Sicherheitsniveau aufgeben und von unserem bewährten Genehmigungsverfahren auf das vereinfachte EG-Mindeststandardverfahren übergehen. Das kann doch wohl nicht Sinn dieses Gesetzes sein. Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu rechtstechnischen Schwächen dieses Gesetzes und zu anderen Regelungen zu sagen, die auf Kritik unserer Fraktion stoßen und zu denen die folgenden Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion Stellung nehmen werden. Wir werden dieses Gesetz ablehnen. Die Devise „Hauptsache ein Gesetz, egal, wie" lassen wir für uns nicht gelten. ({41}) Es wäre sicherlich zu überlegen gewesen, da wir auch an dem Verabschiedungstermin 1. Januar 1991 interessiert sind, das Gesetzgebungsverfahren so anzulegen, daß man diese Zeit genutzt hätte, vielleicht in heute noch mangelhaft beantworteten Fragen zu vernünftigeren Lösungen zu kommen. Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir teilen nicht die Auffassung, der Bund habe keine Kompetenz zur Verabschiedung eines solchen Gesetzes. Wir teilen nicht die Auffassung, daß das Gesetz deshalb nicht verfassungsgemäß sei. Ein Bundesgesetz wird von allen Bundesländern, auch von den SPD-geführten, gefordert. Kein Bundesland hat bisher die Gesetzgebungskompetenz für die Bundesländer reklamiert. Angesichts des Trends zur Zentralisierung der Gesetzgebung auf diesem Gebiet auf die Europäische Gemeinschaft wäre ein Zustand unterschiedlicher Landesgesetzgebung für die Firmen Hoechst, Bayer und BASF, um nur diese als Beispiele zu nennen, in der Bundesrepublik sinnlos und meiner Ansicht nach auch ein Rückschritt. Wir wollen das nicht. Kritik an diesem Gesetz ist berechtigt und notwendig. Wir gehen davon aus, daß in dem sensiblen Feld hier ein modellhafter Versuch gemacht wird, vernünftige Regelungen, die auch Bestand haben, zu schaffen. Wir Sozialdemokraten legen heute mit unseren Änderungsanträgen dem Parlament und der Öffentlichkeit auf den Tisch, wie ein vernünftiges Gentechnikgesetz in seinen Eckpunkten aussehen sollte. Ich vermisse dies bei der Fraktion DIE GRÜNEN, die offensichtlich in Fragen der Gentechnik nur im entschiedenen Nein einig sind. Nach sechs Jahren Diskussion im Deutschen Bundestag einen Antrag vorzulegen, der heißt, die Gentechnik in Deutschland wird nach 15 Jahren erst einmal für fünf Jahre eingestellt, wir fangen erst an zu diskutieren, nach fünf Jahren sehen wir mal, was wir weiter machen. Ich verstehe, daß die GRÜNEN den Wunsch haben, die Diskussion, die andere in den letzten Jahren viel intensiver geführt haben, nachzuholen. Aber wir wollen ihnen diese fünf Jahre Denkpause nicht etwa auf Kosten der AIDS-Forschung oder anderer wichtiger Bereiche gönnen. Das möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen. ({42})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Catenhusen, wenn Sie so anfangen, dann möchte ich Sie gern fragen, wie Sie es denn bewerten, daß mir im Rechtsausschuß ein Kollege von Ihnen über den Mund fährt und meint, ich solle mich nicht an der Regierung abarbeiten, wenn ich im einzelnen - das haben wir in den Ausschüssen und auch in der Anhörung getan - an diesem Gesetzentwurf abarbeite. Ich finde, Sie sollten sich vorher mal genau erkundigen, ehe Sie solche Platitüden verbreiten. Das könnte auf Sie selber zurückfallen, wenn wir mal genau anfangen, im Detail diesen Prozeß, der hier in den letzten Monaten gelaufen ist, zu analysieren.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollegin Nickels, Sie haben, glaube ich, nicht richtig verstanden, was ich meinte. ({0}): Ich habe es genau verstanden!) Ich habe mich auf die Diskussion bezogen, die innerhalb der Partei der GRÜNEN seit dem Hagener Parteitagsbeschluß geführt oder nicht geführt wird; darauf bezog sich meine Bemerkung, nicht auf die Frage der Mitwirkung oder Nichtmitwirkung der GRÜNEN an diesem Gesetzgebungsverfahren, was sicherlich sehr problematisch war, wo ich den GRÜNEN gar keinen Vorwurf machen will. Meine Damen und Herren, der Kollege Kreuzeder hat noch am 22. Juni 1989 als Redner seiner Fraktion zu Protokoll gegeben: Wir, die GRÜNEN, lehnen die Gentechnologie aus tiefstem Herzen ab. Wir brauchen auch dieses Gesetz nicht. Die Kollegin Garbe erklärte als Fraktionssprecherin der GRÜNEN am 11. November 1988: Die GRÜNEN sind für ein klares Nein jeglicher Manipulation an lebenden Organismen, weder zu Forschungszwecken noch zur Produktion. Der Hagener Parteitagsbeschluß, das platte Nein ohne Wenn und Aber, scheint zumindest bei der Bundestagsfraktion der GRÜNEN noch virulent zu sein. Landesverbände der GRÜNEN haben sich von diesem Beschluß ja längst abgewandt, und zwar aus guten Gründen. ({1}) - Nein, nein, das ist nicht nur Baden-Württemberg. Das wissen Sie vielleicht auch. Die hessischen Beschlüsse kennen Sie wahrscheinlich auch. Die Kollegin Rust hat uns Sozialdemokraten mit ihrer Rede zur ersten Lesung des Gentechnikgesetzes neugierig gemacht. Sie hat damals erklärt: Wir sind nicht grundsätzlich gegen gesetzliche Regelungen; wir sind für Gesetze, die demokratische Entscheidungen erst ermöglichen. - Okay. Nach sieben Jahren Diskussion über Chancen und Risiken der Gentechnik werden aber auch immer mehr Ihrer Freunde es Ihnen von den GRÜNEN nicht durchgehen lassen, daß Sie nicht die Kraft haben, der Öffentlichkeit zu erklären, was eigentlich Ihre Ansätze eines demokratischen Konzepts für den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Technik sein könnten. ({2}) - Ja, entschuldigen Sie einmal. Da frage ich Sie, Frau Nickels: Warum haben Sie denn dann nicht das Minderheitsvotum bei den Ab schlußberatungen des Enqueteberichts im Deutschen Bundestag als Antrag eingebracht? Warum haben Sie gar nichts eingebracht, sondern nur zu allem, was vorlag, nein gesagt? Das ist doch wohl keine Politik. ({3}) Vielleicht waren Sie auch nicht in der Lage, in Ihrer Fraktion zu entscheiden, ob das Minderheitsvotum heute noch Ihre Politik ist. Ich hätte das gern gewußt. Meine Damen und Herren, ich glaube, Sie von der Fraktion DIE GRÜNEN machen es sich in dieser Frage wirklich zu einfach. Wir von der SPD vermissen heute Ihre Anträge, und die Umweltverbände werden das noch mehr vermissen, auch in dem Sinne vermissen, daß Politik erst dann trägt, wenn alle Seiten Ihre Position in diese Debatte einbringen und nicht in Moratoriumsforderungen - ich sage das einmal so - ausweichen. Die Diskussion über Chancen und Risiken der Gentechnik wird mit der heutigen Entscheidung nicht beendet sein. Wir sollten als Parlament weiter aktiv daran teilnehmen - auch mit unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen - und für den gesellschaftlichen Diskurs offen bleiben. Deshalb schlägt die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Entschließungsantrag die Errichtung eines parlamentarischen Beirats „Gentechnik" vor, der uns bei der Beantwortung der schwierigen Fragen nach der ökologischen, sozialen und ehtischen Verantwortbarkeit verschiedener Anwendungen dieser Technik helfen könnte. Diese Diskussion ist längst nicht beendet, und jeder von uns weiß, daß auch der Gesetzgebungsbedarf in diesem Bereich mit diesem Gesetz längst nicht abgedeckt ist. ({4}) Im Umgang mit biologischen Risiken verfügen wir in manchen Bereichen über nur vorläufiges Wissen. Das wird auch für die Tätigkeit der Genehmigungsbehörden, die auf der Grundlage dieses Gesetzes arbeiten werden, Schwierigkeiten bereiten. Jede Art von gesetzlicher Vorschrift in diesem Bereich ist dringend darauf angewiesen, daß mit dem raschen weiteren Wissenszuwachs in der Genforschung auch unser Wissen über biologische Prozesse, insbesondere über ökosystemare Wechselwirkungen zunimmt und daß auch unser Wissen über die Bewertung und Einschätzung möglicher Risiken und Gefahren der Gentechnik dem Fortschritt des Wissens in der Gentechnik standhält. Ich möchte deshalb zum Schluß meiner Rede die Bedeutung der Risiko- und Sicherheitsforschung für die Gentechnologie nachdrücklich unterstreichen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das weltweit erste besondere Programm dieser Art. Genehmigungsbehörden, die Öffentlichkeit und, wie ich denke, auch das gesamte Parlament erwarten vom Bundesforschungsminister eine Fortsetzung, kräftige Aufstockung und auch thematische Ausweitung dieses Programms. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Dies ist kein Tag wie jeder andere - jedenfalls nicht für mich. Zum einen: Das Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik ist zweifellos eines der wichtigsten Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode. Wenige andere Gesetze haben in den letzten Jahren so viel öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, so viele Emotionen freigesetzt, Hoffnungen und Ängste ausgelöst. Weiter: Die Art des Umgangs mit der Gentechnik muß erweisen, ob sich unsere Gesellschaft die Kraft zur Modernität, zur Zukunftsfähigkeit erhalten hat ({0}) oder ob wir zu jener Museumsgesellschaft degeneriert sind, von der ich im Jahr 1984 in diesem Haus gesprochen habe. Schließlich: Unsere Entscheidungen zur Gentechnologie sind darüber hinaus ein wichtiges Indiz für die Fähigkeit unseres politischen Systems, neue technologische Entwicklungslinien verantwortungsbewußt zu gestalten. Vor diesem Hintergrund, aber auch angesichts der Versuche zur Legendenbildung durch die rot-grüne Opposition ist es nötig, die Geschichte dieses Gentechnikgesetzes kurz nachzuzeichnen. Bereits Ende der 70er Jahre wurde in Bonn über ein Gentechnologiegesetz nachgedacht. Damals hatte man von diesem Vorhaben Abstand genommen, weil noch viel zuwenig konkrete Vorstellungen darüber bestanden, welche politisch-gesellschaftlichen Probleme im Zusammenhang mit dieser neuen Basistechnologie vom Gesetzgeber eigentlich zu lösen sein würden. Im September 1983 fand auf Einladung des Bundesministers für Forschung und Technologie ein FachgeKohn spräch über ethische und rechtliche Fragen der Anwendung zellbiologischer und gentechnischer Methoden am Menschen statt. Im Frühjahr 1984 setzten der Bundesjustizminister und der Bundesforschungsminister eine Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie" ein, um Empfehlungen erarbeiten zu lassen, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen zur Verhütung eines Mißbrauchs und zum Schutz der menschlichen Würde ergriffen werden müssen. Diese Benda-Kommission hatte im Jahre 1985 ihre Arbeitsergebnisse vorgelegt. Schließlich hat der Deutsche Bundestag am 29. Juni 1984 auf Wunsch aller Fraktionen dieses Hauses die Einsetzung einer Enquete-Kommission über „Chancen und Risiken der Gentechnologie" nach § 56 seiner Geschäftsordnung beschlossen. Der Arbeitsauftrag lautete - ich zitiere - : Die Kommission hat die Aufgabe, gentechnologische und damit im Zusammenhang stehende neue biotechnologische Forschungen in ihrer sich zur Zeit abzeichnenden schwerpunktmäßigen Anwendung vor allem in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Rohstoff-, Energiegewinnung und Umweltschutz in ihren Chancen und Risiken darzustellen. Dabei sollen ökonomische, ökologische, rechtliche und gesellschaftliche Auswirkungen und Sicherheitsgesichtspunkte im Vordergrund stehen. Auf besonderen Wunsch meiner Fraktion wurde noch hinzugefügt: Dem Grenzbereich der gentechnologischen Anwendung beim Menschen ist auch unter ethischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nach mehr als zwei Jahren intensiver Arbeit hat die Kommission im Januar 1987 ihren 400-Seiten-Bericht der Öffentlichkeit übergeben. Der neugewählte Bundestag hat dann in 13 Parlamentsausschüssen unter erneuter Einbeziehung parlamentsexternen Sachverstands die rund 180 Einzelempfehlungen der Enquete-Kommission eingehend beraten und im Oktober 1989 in der überarbeiteten Fassung beschlossen. Die Bundesregierung hat im Sommer des vergangenen Jahres auf der Grundlage dieser mehrjährigen parlamentarischen Beratung den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Fragen von Gentechnik vorgelegt, zu dem der Bundesrat im September Stellung nahm und der mit der Gegenäußerung der Bundesregierung Anfang November 1989 dem Deutschen Bundestag zugeleitet wurde. Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal betonen, daß das Argument, daß der Bundesrat diesen Gesetzgebungsentwurf der Bundesregierung mit über 250 Änderungswünschen quasi in der Luft zerrissen habe, in dieser Weise nicht zutreffend ist. Der Bundesrat hat in exakt sieben Punkten Veränderungswünsche, ({1}) die sich insbesondere auf Kompetenzen der Länder bezogen, angemahnt. Wir haben - länderfreundlich und freundlich gegenüber dem Föderalismus, wie wir nun einmal sind - dies auch akzeptiert, obwohl wir nicht immer davon überzeugt sind - auch das sage ich ganz offen - , daß in allen Fällen der Sachverstand bei den Bundesländern zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon ausreicht. Weiterhin hat der federführende Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit angesichts der besonderen Bedeutung dieses Gesetzes einen Unterausschuß Gentechnikgesetz gebildet, um dort eine sorgfältige und umfassende Beratung zu ermöglichen. Wir haben im Januar 1990 noch einmal eine dreitägige öffentliche Anhörung mit einer großen Zahl von Gegnern und Befürwortern gentechnologischer Methoden durchgeführt. Auf der Grundlage der Wünsche des Bundesrates und dieser Anhörung hat der Unterausschuß den Gesetzentwurf umfassend überarbeitet. Wir hatten dazu so viele Sitzungstermine innerhalb und außerhalb von Sitzungswochen eingeplant, daß - um es hier einmal ganz klar zu sagen - der Opposition die Luft ausgegangen ist. Vorgesehene Termine wurden abgesagt, weil den Oppositionsfraktionen offensichtlich keine Argumente - ich betone: Argumente - mehr gegen diesen Gesetzentwurf eingefallen sind. ({2}) Schließlich hat der federführende Ausschuß unter Berücksichtigung der Voten der mitberatenden Ausschüsse die heute zu verabschiedende Textfassung des Gesetzes erarbeitet. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in Anbetracht dieser über viele Jahre erfolgten überaus intensiven Beratungen über die Gentechnologie im Deutschen Bundestag den Bürgern die Legende andienen will, daß durch fieberhafte Flickschusterei ein Durchpeitschen des Gesetzentwurfs bewerkstelligt werde, der scheidet allerdings aus dem Kreis der seriösen und ernst zu nehmenden Gesprächspartner aus. ({4}) Von den GRÜNEN war leider, sage ich, nichts anderes zu erwarten; denn denen geht es - wie ihr Entschließungsantrag eindeutig zeigt - um die gezielte Zerschlagung der Gentechnologie in der Bundesrepublik Deutschland. Daß aber auch Sie, Herr Kollege Catenhusen, öffentlich so reden, ist, wie ich finde, unter dem Niveau, das man von Ihnen erwarten darf.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Bulmahn?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlich gerne.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kohn, wie würden Sie es denn sonst nennen, wenn während der letzten Unterausschußsitzung in unserer Schlußberatung von seiten der bayerischen Staatsregierung über den Abgeordneten Fellner ein Änderungsantrag vorgelegt wird, mit dem das gesamte Kapitel Straf- und Bußgeldvorschriften vollständig neugestaltet werden soll? Wie anders als Flickschusterei würden Sie ein derartiges Beratungsverfahren nennen?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir scheint dies eine hervorragende Zusammenarbeit zwischen der bayerischen Staatsregierung und dem CSU-Abgeordneten Fellner darzustellen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will an dieser Stelle noch eine Bemerkung machen, die mir wichtig ist, weil sie etwas auch von dem Parlamentsverständnis beinhaltet, von dem wir ausgehen sollten. Wenn hier von Herrn Catenhusen vorgetragen wurde, daß vom Kollegen Seesing und mir quasi ein neues Gesetz eingebracht worden sei, und er meint, das würde bedeuten, nun müsse man den Gesetzgebungsvorgang von neuem beginnen, dann frage ich mich: Was ist eigentlich die Funktion eines Bundestagsabgeordneten, eines Parlamentariers, wenn nicht Gesetzentwürfe, die z. B. von der Regierung kommen, auch wenn man diese Regierung trägt, kritisch daraufhin zu überprüfen, ob nicht Notwendigkeiten zu Verbesserungen bestehen? ({1}) Wir bekennen uns zu dieser kritischen Aufgabe des Parlamentarismus. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich lasse diese Zwischenfrage gerne zu, bitte aber um Verständnis, daß ich im Anschluß daran im Zusammenhang weitersprechen möchte.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Kohn, liegt unsere Differenz in der Sache vielleicht nur darin begründet, daß Ihre Erwartungen an die Qualität der Vorarbeiter in Ihrer Regierung so niedrig sind, wie sie bei uns nie gewesen sind?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muß Ihnen dazu sagen, daß ich mir immer vorstellen kann, daß die Dinge noch besser sein könnten. Aber der entscheidende Punkt ist, daß wir durch das Zusammenspiel von Regierung und Parlament einen Gesetzentwurf auf dem Tisch haben, dem man guten Gewissens zustimmen kann. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, da in der Öffentlichkeit noch immer viele Unsicherheiten darüber bestehen, was Gentechnologie eigentlich ist, erlauben Sie mir bitte einige Bemerkungen dazu. Im Bericht der Enquete-Kommission heißt es: Unter dem Begriff der Gentechnologie versteht man die Gesamtheit der Methoden zur Charakterisierung und Isolierung von genetischem Material, zur Bildung neuer Kombinationen genetischen Materials sowie zur Wiedereinführung und Vermehrung des neukombinierten Erbmaterials in anderer biologischer Umgebung. Genau betrachtet ist Gentechnologie als eine Methode zur Neukombination von Nukleinsäuren eine unverzichtbare Basistechnologie moderner biologischer Forschung schlechthin. Praktische Anwendungen dieser Technologie liegen auf dem Felde medizinischer Diagnostik und Therapie, auf dem Felde der Landwirtschaft, auf dem industriellen Sektor und auf dem Feld der Umwelt-Biotechnologie. Beispielhaft nenne ich das Projekt zur Entwicklung eines gentechnologischen Impfstoffs gegen Malaria, die Erforschung der Ursachen von Krebserkrankungen, die verschiedenen Forschungsprojekte zur biologischen Stickstoffixierung oder zur Erhöhung der Krankheitsresistenz bei Nutztieren, ich nenne schließlich den Abbau und die Umwandlung umweltbelastender Stoffe in Kläranlagen. Wir Liberalen sind daher der Meinung, daß die Gentechnologie Chancen zur Lösung zahlreicher Probleme einer wachsenden Menschheit und zur Erfüllung langgehegter Wünsche der Menschen eröffnet. ({1}) Wir sehen aber auch klar, Herr Kollege Zwischenrufer, daß sie Risiken neuer Dimension in sich birgt. Zum Beispiel könnte mit der Gentechnik eines Tages die Schreckensvision der Menschenzüchtung möglich werden. Vor diesem Hintergrund der Chancen und Risiken halten wir es für die Aufgabe der Politik, Nutzen und Gefahren der Gentechnologie sorgfältig abzuwägen und ihre weitere Entwicklung verantwortungsbewußt zu gestalten. Von allem Anfang an haben wir uns dabei von vier Grundsätzen leiten lassen: Erstens. Die Gentechnologie muß in vollem Umfang den ethischen Maßstäben unterworfen bleiben, die sich aus der Wertordnung unseres Grundgesetzes ergeben. Zweitens. Die Gentechnologie muß weiterhin strenge Sicherheitsanforderungen erfüllen, um eine mögliche Gefährdung von Mensch und Umwelt auszuschließen. Drittens. Die Gentechnologie muß sich ständig der Technikfolgenabschätzung auf ihre ethischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Konsequenzen hin stellen. Viertens. In diesem Rahmen muß die Gentechnologie mit dem Ziel der Förderung der Gesundheit, der Welternährung und des Umweltschutzes weiterentwickelt werden. Die ethischen Aspekte der Anwendung der Gentechnologie auf den Menschen werden in dem Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen behandelt, den die Bundesregierung auf der Grundlage der Empfehlungen der Enquete-Kommission im letzten Jahr vorgelegt hat. Im heute zu behandelnden Gesetzentwurf zur Regelung von Fragen der Gentechnik geht es um die Sicherheitsaspekte der Gentechnologie. Seit vielen Jahren haben sich in der Bundesrepublik die mehrfach aktualisierten Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nukleinsäuren bewährt. Diese von der Bundesregierung erlassene Verwaltungsvorschrift ist jedoch nur für alle mittel- und unmittelbar vom Bund geförderten Forschungs- und Entwickungsarbeiten verbindlich. Insbesondere im Bereich der industriellen Forschung konnte bisher nur auf dem Wege der freiwilligen Selbstbindung eine gewisse Wirksamkeit dieser Richtlinien erwartet werden. Diese Sicherheitslücke wollten wir schließen. Nach sorgfältiger rechtlicher Prüfung kam die EnqueteKommission zu dem Ergebnis, daß nur durch Schaffung einer gesetzlichen Grundlage die Verbindlichkeit der in den Richtlinien enthaltenen Sicherheitsanforderungen durchzusetzen war. Im Gesetz sollten der grundsätzliche Rahmen für die Gentechnik abgesteckt und Detailregelungen aus dem starren Prozeß der förmlichen Gesetzgebung herausgehalten werden, um eine rasche Anpassung an den jeweils aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu ermöglichen. Dieser Grundgedanke hat in der politischen Diskussion eine sehr „deutsche" Eigendynamik entfaltet. Herausgekommen dabei ist nämlich das umfangreiche Gesetzeswerk, über das wir heute zu entscheiden haben werden. Aus Sicht der FDP, und zwar in Übereinstimmung zwischen Partei, Fraktion und F-Ländern, sind die folgenden Aspekte des Gesetzes von besonderer Bedeutung. Das Gentechnikgesetz ist ein Stammgesetz, das alle Sicherheitsanforderungen an gentechnologische Forschung, Produktion und gezielte Freisetzung festlegt. Die im Gesetz enthaltenen Ermächtigungen der Bundesregierung zum Erlaß von Verordnungen sollen die rasche Anpassung an die wissenschaftliche Entwicklung ermöglichen. Um auch in Zukunft Einfluß auf die wichtigsten Verordnungen zu behalten, hat sich das Parlament mit § 33 a ein Instrument geschaffen, solche Verordnungen abzuändern oder abzulehnen. Ich will an dieser Stelle dem Kollegen Kleinert für sein persönliches Engagement in dieser Frage ganz herzlich danken; ({2}) denn es ist eine wichtige Funktion, die Stärkung der Rolle des Parlaments gegenüber der Exekutive auch in diesem Zusammenhang zu betreiben. Die Sicherheitsanforderungen an gentechnologische Forschung und Anwendung orientieren sich in abgestufter Weise an dem tatsächlichen Gefährdungspotential, das von ihnen ausgehen könnte. Damit sind objektive Kriterien für die Schärfe der Sicherheitsanforderungen herangezogen worden. Die Anlagenkonzeption des Gesetzes führt zu einer Konzentrationswirkung, die die praktische Anwendung des Gesetzes vereinfacht, ohne indes den Schutz- bzw. Vorsorgestandard zu beeinträchtigen. Dies gilt gerade auch für die wichtigen Umweltschutzstandards. Die Zentrale Kommission für die biologische Sicherheit, die ZKBS, wird zu einem noch effektiveren Instrument der Beurteilung aller relevanten gentechnologischen Sicherheitsprobleme ausgebaut. Deshalb werden neben zehn Sachverständigen, darunter mindestens zwei aus dem Bereich der Ökologie, auch fünf sachkundige Personen aus den Bereichen der Gewerkschaft, des Arbeitsschutzes, der Wirtschaft, des Umweltschutzes und der forschungsfördernden Organisationen dieser Kommission angehören. Die Transparenz der Gentechnologie wird durch breit angelegte Anhörungsverfahren sichergestellt. So ist vor der Entscheidung über die Errichtung einer gentechnischen Anlage, in der gentechnische Arbeiten der Sicherheitsstufen 2, 3 und 4 zu gewerblichen Zwecken durchgeführt werden sollen, sowie bei Entscheidungen über die Genehmigung über Freisetzungen von Organismen, deren Ausbreitung nicht begrenzbar ist, ein Anhörungsverfahren zwingend vorgeschrieben. Selbst für Anlagen, in denen lediglich Arbeiten der Sicherheitsstufe 1 zu gewerblichen Zwecken durchgeführt werden sollen, also - so die Definition des Gesetzes - Arbeiten, bei denen nach dem Stand der Wissenschaft nicht von einem Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt auszugehen ist, ({3}) ist ein Anhörungsverfahren durchzuführen, wenn ein Genehmigungsverfahren nach § 10 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erforderlich ist. ({4}) Zusätzlich haben wir eine Berichtspflicht der ZKBS über ihre Arbeit vorgesehen. Die Flexibilität gentechnologischer Forschung in der Bundesrepublik bleibt gewährleistet. Übrigens auch deshalb haben wir in § 1 ausdrücklich formuliert, daß es nach dem Schutzzweck des Gesetzes auch Aufgabe dieses Gesetzes sei, „den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen". ({5}) Ich halte es für ein besonders trauriges Kapitel sozialdemokratischer Forschungs- und Wirtschaftspolitik, daß die SPD-Fraktion einen Änderungsantrag vorgelegt hat, mit dem exakt diese Passage gestrichen werden soll. ({6}) Das Gesetz ist nicht nur voll vereinbar mit dem europäischen Regelwerk, es geht in einigen Details auch über die Sicherheitsanforderungen der EG hinaus. ({7}) Die Straf- und Bußgeldvorschriften des Gesetzes belegen klar, ({8}) daß Verstöße gegen das Gesetz nicht als Kavaliersdelikte betrachtet und geahndet werden. Schließlich sind ja bei bestimmten Verstößen gegen das Gesetz Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren vorgesehen. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik wird ein gewichtiger Teil der Empfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages umgesetzt. Weitere zentrale Aspekte wie vor allem die ethischen Probleme der Humangenetik müssen ebenfalls rasch gelöst werden. ({9}) Aber auch danach bleibt noch gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Ich denke dabei vor allem an die Fragen der Genomanalyse. Darüber hinaus ist das Parlament aufgefordert, sein Instrumentarium der Technikfolgenabschätzung kontinuierlich zur Begleitung der weiteren Entwicklung der Gentechnologie einzusetzen. Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, in die hier für meine Fraktion von mir vertretene Position ist die Arbeit von rund sieben Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Thema eingeflossen. Auch deshalb also ist dies für mich kein Tag wie jeder andere. Auch wenn sich ein von mir allein formuliertes Gesetz in mancher Hinsicht anders darstellen würde - ich denke hierbei an die Notwendigkeit der Sicherstellung einer bundeseinheitlichen Anwendung des Gesetzes -, kann man ihm in seiner jetzigen Fassung doch guten Gewissens zustimmen. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich dem Kollegen, der in der CDU/ CSU-Fraktion dies federführend mit mir zusammen gemacht hat; ich danke dem Kollegen Seesing für die gute Zusammenarbeit in diesem Jahr. ({10}) In dem Ringen zwischen Regierung und Parlament, zwischen Koalition und Opposition, zwischen Bund und Ländern ist ein Ergebnis zustande gekommen, das die Bundesrepublik - was den Schutz vor möglichen Sicherheitsrisiken der Gentechnologie angeht - international an die Spitze bringt. Die Bundestagsfraktion der FDP wird deshalb dem Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik in der Ausschußfassung zustimmen. Herr Kollege Catenhusen hat noch einmal auf die Notwendigkeit einer Begrenzung der Gentechnik im Zusammenhang mit militärischen Zwecken hingewiesen. Ich will hier deutlich machen, daß wir in § 12 des vorliegenden Gesetzes nicht nur die Errichtung, sondern auch den Betrieb einer solchen gentechnologischen Anlage Voraussetzungen unterworfen haben, die erfüllt sein müssen, wenn eine Genehmigung erteilt werden soll. Ich habe keine Probleme, in anderen Zusammenhängen - z. B. außen- und sicherheitspolitischen Zusammenhängen - noch einmal über die Frage nachzudenken, ({11}) wie wir die Verhinderung der Herstellung, der Lagerung, der Nutzung von biologischen Waffen unter Einschluß gentechnologischer Methoden noch wasserdichter als bisher machen können. ({12}) Lassen Sie mich zum Abschluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, sagen, daß es eine Vielzahl von weitergehenden Fragen gibt, die in diesem Gesetzentwurf nicht behandelt werden können. Ich denke hier z. B. an die Frage nach dem individuellen Weltbild, das uns leitet. Ich denke an die Frage nach der Stellung des Menschen in und gegenüber der Natur. Ich denke an die Fragen nach der Steuerungsfähigkeit parlamentarischer Demokratien gegenüber neuen wissenschaftlichen Entwicklungen. Ich denke schließlich an die Frage nach der Rolle des Staates im Zusammenhang mit wichtigen ethischen Entscheidungen. Ich glaube, daß wir hier in Grenzbereiche rechtlicher Regelungsmöglichkeiten vorstoßen. Deshalb plädiere ich dafür, daß wir den politischen Diskurs über die Gentechnik in all ihren Schattierungen fortsetzen und daß wir die Erfahrungen, die wir jetzt mit der Anwendung des Gentechnikgesetzes gewinnen werden, sorgfältig daraufhin prüfen, ob in Zukunft Veränderungen notwendig sind. Ich plädiere auch dafür, daß wir den erwähnten Handlungsbedarf, der noch besteht, ebenfalls in der parlamentarischen Arbeit zügig und konsequent zu Ende führen. Vor allem aber plädiere ich für eine neue Bescheidenheit im Umgang von Politikern mit Bürgern. ({13}) Ich plädiere dafür, daß Politiker in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck erwecken, daß alles hundertprozentig regelbar sei. ({14}) Ich plädiere dafür, daß die Bürger von Politikern nicht Dinge verlangen, die man als Politiker nicht realistischerweise und ernsthafterweise versprechen kann. ({15}) Kurz: Wir Liberalen wollen uns auch in Zukunft von kritischer Rationalität und praktischer Vernunft leiten lassen. ({16}) Vielen Dank. ({17})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rust.

Bärbel Rust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001908, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dem Parlament liegt heute ein Gesetzentwurf zur Verabschiedung vor, der uns alle noch lange beschäftigen wird. Das Gentechnikgesetz muß nicht nur heute beschlossen, sondern ab morgen auch öffentlich vertreten und verantwortet werden. All diejenigen, die heute ihre Hand für dieses Gesetz heben, werden ab morgen dafür geradestehen müssen. Zur Entscheidung steht an, ob die breitflächige Anwendung einer weiteren Hochrisikotechnologie heute gesetzlich abgesegnet wird. Nach den bitteren Erfahrungen mit Atomtechnik und chemischer Produktion erwartet die Öffentlichkeit mit Recht einen besonders sorgfältigen Umgang mit dieser hochbrisanten Materie von Parlament und Regierung. Dieser öffentlichen Erwartung spricht allerdings das gesamte parlamentarische Verfahren Hohn. Ausschlaggebend für den Zeitplan der Beratung war nicht etwa die Brisanz und Komplexität des Beratungsgegenstandes und die Verantwortung gegenüber der Bevölkerung, sondern die berechtigte Angst der Koalition, die Landtagswahl in Niedersachsen zu verlieren und damit ab 13. Mai dieses Jahres die Mehrheit im Bundesrat. ({0}) Ab 13. Mai könnte also das Vorhaben am Widerspruch der rot- und rot-grün-regierten Länder scheitern. ({1}) Im Interesse von Anwendern und Betreibern der Gentechnik hat die Regierung im Schnellverfahren ein Gesetz durch das Parlament gepeitscht, das das Gesicht der zukünftigen Gesellschaftsentwicklung wie kaum ein anderes prägen wird. ({2}) Die Berichte über die Ausschußberatungen muten dementsprechend oft wie Kabarettstückchen an. Der Haushaltsausschuß etwa fordert für die Mitberatung eine Stellungnahme des Finanzministeriums hinsichtlich der Folgekosten, bekommt aber nur eine Auflistung der Verwaltungsausgaben. Begründung: Folgekosten - etwa durch möglicherweise eintretende ökologische Katastrophen - seien noch nicht kalkulierbar, weil noch entsprechende Erfahrungen fehlten. Der Landwirtschaftsausschuß lehnt die Mitberatung gleich ganz ab, denn „der Ausschuß sieht sich außerstande, angesichts der späten Zuleitung und der Terminlage, eine sachgerechte Beratung durchzuführen". Der Rechtsausschuß regelt die verfassungsrechtlich hochbrisante Frage des Umgangs mit rund 40 Verordnungsermächtigungen durch Verabschiedung einer hurtig erstellten handschriftlichen Tischvorlage. Dem Unterausschuß Gentechnikgesetz werden überarbeitete Verordnungsentwürfe so kurzfristig vorgelegt, daß sie die meisten Mitglieder nicht einmal mehr lesen können. Trotzdem fällt den Abgeordneten nach oberflächlicher Durchsicht der Verordnungsentwürfe auf, daß das Ministerium in der gebotenen Eile schlechterdings vergessen hat, die Aufzeichnungspflichten der Betreiber bei Freisetzungen zu regeln. ({3}) Da die zuständigen Beamten diese peinliche Lücke auch durch heftiges Blättern in real existierenden Unterlagen nicht zu füllen vermochten, bleibt zu befürchten, daß für die gestern fällige Kabinettsvorlage mit der schon berüchtigten heißen Nadel nachgestrickt worden ist. Die Liste der kabarettreifen Darbietungen ließe sich beliebig verlängern. Wir könnten uns schmunzelnd zurücklehnen, wenn wir nur das Publikum für die dilettantischen Schaustückchen regierungsseitiger Kleinkünstler abgeben müßten. ({4}) Dem ist aber nicht so. Wir sind nicht Zuschauer, sondern die Legislative, und wir reden nicht über die letzte Ausgabe des „Scheibenwischers", sondern über Gentechnik. ({5}) Wir haben heute über eine Technik zu entscheiden, deren Anwendung wie die Anwendung der Atomtechnik mit einem hypothetischen Risiko verknüpft ist. Dieses spezifische Risiko wohnt jeder gentechnischen Manipulation inne, weil ihre langfristigen Folgen im voraus nicht exakt zu kalkulieren sind. Ein Genom ist kein statischer Zustand. Die Eigenschaften eines Organismus addieren sich nicht allein aus der Summe genetischer Einzelelemente, sondern sind abhängig von komplexen Nachbarschaftsbeziehungen im chromosomalen Zusammenhang, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Unser Wissen und Verständnis dieser komplizierten Zusammenhänge ist relativ gering. Wer auf dieser Basis gentechnische Manipulationen vornimmt, riskiert immer, das Ergebnis zwar im nachhinein erklären zu können, allerdings ohne es in seinen Einzelheiten im voraus prognostizieren zu können. Beispiele dafür hat die gentechnische Forschung selbst inzwischen in ausreichender Zahl geliefert. Es ist also davon auszugehen, daß gentechnisch veränderte Organismen unvorgesehene Wirkungen haben können, daß ihre Ausbreitung unkontrolliert verlaufen kann und daß somit auch die Gefahr katastrophaler Veränderungen vorhandener Ökosysteme nicht auszuschließen ist. Dieses Risiko kann nicht vorab im Experiment getestet, sondern muß ohne Netz und doppelten Boden eingegangen werden. Ein solches Risiko einzugehen, lehnen die GRÜNEN ab. ({6}) Die sträfliche Nichtbeachtung der komplexen Zusammenhänge in der Natur hat in der Technikentwicklung eine schmerzhafte Geschichte, aus der wir endlich die längst überfälligen Lehren ziehen sollten. Erinnern wir uns an die Entwicklung der chemischen Produktion. Lange Zeit orientierte sich der Maßstab, mit dem die Gefährlichkeit eines Stoffes abgeschätzt wurde, an der akuten Vergiftung. Das war ja seit alters her bekannt: blaue Lippen, Schaum vor dem Mund, Krämpfe - alles klare, eindeutige Symptome. Aber für die neuen Stoffe, mit denen in den Chemiefabriken umgegangen wurde, reichte das traditionelle Erfahrungswissen über die Giftigkeit nicht aus. Es dauerte unerträglich lange, bis etwa der Anilinkrebs der Farbenarbeiter endlich als Berufskrankheit anerkannt war. Nun wurden ganz allmählich auch die möglichen Folgen kleiner, jedoch über lange Zeiträume wirkender Schadstoffmengen registriert. Heute, wieder eine Stufe weiter, beginnen Toxikologen und Mediziner erst zu erahnen, daß und wie nachhaltig auch unser menschliches Immunsystem vom komplexen Zusammenwirken verschiedener Umweltchemikalien belastet wird. Das Gentechnikgesetz, das heute zur Abstimmung vorliegt, legalisiert wieder einmal auf der Basis lükkenhaften Wissens die großflächige industrielle Anwendung einer neuen Hochrisikotechnologie und forciert darüber hinaus noch ihre weitere Entwicklung. Wieder einmal wird die Anwendung einer neuen Technik künstlich beschleunigt und damit vorprogrammiert, daß sie dem Wissen um ihre Risiken uneinholbar enteilt. Im ersten Paragraphen des Gesetzes wird zwar vollmundig verkündet, es diene dem Schutz von Mensch und Natur. Im nächsten Absatz folgt dann jedoch auf dem Fuß und gleichberechtigt als zweiter Gesetzeszweck die Förderung der Gentechnik. Sollte dieses Beispiel Schule machen, müßte zukünftig etwa die Gefahrstoffverordnung auch der Förderung der Chemieindustrie dienen. Ein solches Unterfangen würde heute wohl kaum jemand mehr ernsthaft in Erwägung ziehen. Denn zu schmerzhaft sind die Erfahrungen mit hochgiftigen Altlasten, verseuchten Flüssen, neuen Krankheiten, toxischen Umweltchemikalien bis hin zur drohenden Zerstörung der Erdatmosphäre. ({7}) Am Beginn der Industriegeschichte der modernen Chemie, standen andere Bilder: die Hoffnung, natürlich vorkommende Stoffe in ihrem Molekülaufbau zu entschlüsseln und sie anschließend in großen Mengen synthetisch billig und besser als ihre natürlichen Vorbilder herzustellen, die Hoffnung auf Fortschritt, die Hoffnung auf besseres Leben. Wie gleichen sich die Bilder: Auch heute reden die Protagonisten der Gentechnik vorzugsweise von der glänzenden Zukunft. Jüngstes Beispiel ist die Erklärung der Vorsitzenden der großen Wissenschaftsorganisationen, in der die Lösung medizinischer Probleme, die Bewältigung „der Ernährungsprobleme der Menschheit" und gentechnische Abfallbeseitigung in Aussicht gestellt werden. ({8}) Gleichzeitig wird dort versichert, es gebe „keine neuartige Gefährdung von Mensch und Umwelt" durch Gentechnik, und die Gefährlichkeit eines Experiments werde vor allem durch „die bereits natürlich bestehende Gefährlichkeit" des benutzten Organismus bestimmt. Genau dieses simple Erklärungsmuster bietet den wissenschaftlichen Hintergrund des Gentechnikgesetzes, und die Koalition hat sich beeilt, ihm Paragraph um Paragraph Rechnung zu tragen. Während das Atomgesetz noch ein Versagungsermessen der Genehmigungsbehörde kennt, ist im Gentechnikgesetz der Rechtsanspruch auf Genehmigung gentechnischer Anlagen und Arbeiten festgeschrieben. Auch die vorgesehenen Fristen für Genehmigungen orientieren sich im Anwender- und Betreiberinteresse an „Rechtssicherheit" und zügiger Abwicklung. Innerhalb von drei Monaten ist in den meisten Fällen über Anträge zu entscheiden. Nicht nur bei gentechnischen Anlagen und Arbeiten räumt das Gesetz den Antragstellern ein Recht auf Genehmigung ein, sondern auch bei Freisetzungen bzw. dem Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen und Produkte. Auch hier muß über die eingereichten Anträge innerhalb von drei Monaten entschieden werden. In dieser Frist sind vom Bundesgesundheitsamt als zentraler Genehmigungsbehörde nicht nur die Stellungnahmen verschiedener Fachämter einzuholen, sondern es hat über alle sicherheitsrelevanten Aspekte etwa eines Freisetzungsvorhabens ab schließend zu befinden. Hier bleibt festzustellen, daß Genehmigungsgegenstand, nämlich Freisetzung, und Genehmigungsfrist miteinander überhaupt nicht zu vereinbaren sind. Ein besonders finsteres Kapitel des Gentechnikgesetzes ist der weitgehende Ausschluß der Öffentlichkeit aus dem Genehmigungsverfahren. Auch zu diesem Thema äußern sich die Vorsitzenden der großen Forschungseinrichtungen in dankenswerter Offenheit. Zuerst wird freundlich konstatiert: Die Öffentlichkeit muß über Nutzen und Gefahren neuer Techniken, mit denen sie konfrontiert ist, diskutieren. - Immerhin. Doch dann werden die Herren deutlicher: Wir bedauern es, daß diese Diskussion, soweit sie die Gentechnologie betrifft, von ihren Kritikern oft ohne den für eine Wertung erforderlichen Sachverstand geführt wird. Den Kritikern wohlgemerkt, wird der Sachverstand abgesprochen. ({9}) Die Befürworter der Gentechnik scheinen demgegenüber sozusagen naturgemäß mit hinreichendem Sachverstand ausgestattet zu sein. ({10}) Prost Mahlzeit! Das ist ein typisches Beispiel professoraler Arroganz, die auch nicht dadurch zu entschuldigen ist, daß sie in der unangemessenen Selbsteinschätzung konservativer Technikliebhaber ihre politische Entsprechung findet. Denn die Realität spricht eine ganz andere Sprache. In allen öffentlichen Genehmigungsverfahren stellte sich heraus, daß die zuständigen Genehmigungsbehörden mit der Beurteilung von gentechnischen Anlagen völlig überfordert sind. Erst nach hartnäckigen und sachkundigen Hinweisen der Einwenderinnen und Einwender konnte den Behördenvertretern einsichtig gemacht werden, welche Daten und Angaben im Detail notwendig sind, um auch nur annähernd zu einer Beurteilung der biologischen Sicherheit des Produktionsverfahrens zu kommen. Wer diese kritische Öffentlichkeit weitgehend ausschließt - und das tut die Koalition mit diesem Gesetz - , der muß sich vorwerfen lassen, ein Gesetz zum Schutz der Anwender und Betreiber vor der Öffentlichkeit verabschieden zu wollen. ({11}) Doch zurück zum Sachverstand, den die Vorsitzenden der Forschungseinrichtungen so unerbittlich einklagen. Die Bundesregierung hat mittlerweile einige der Verordnungen vorgelegt, in die nach dem Willen der Koalition wesentliche Regelungen ausgelagert werden sollen. Die dort vorgeschlagene Einteilung der Sicherheitsstufen hätte zur Folge, daß alle derzeit anhängigen Genehmigungsverfahren unter Stufe 1 einzugliedern wären, gleichzusetzen mit der Eingruppierung: völlig unbedenklich, kein Risiko. Aus dieser Eingruppierung folgt nun, daß die jeweiligen Betreiber keinerlei Abfall- oder Abwasserbehandlung durchführen müssen, von Abluftfiltern gar nicht erst zu reden. Die Anlagen wären also Quelle ständiger Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen. Dieses gigantische Freisetzungsexperiment kann nach dem Willen der Regierung immer dann stattfinden, wenn mit Organismen gearbeitet wird, die per Verordnung in Risikoklasse 1 das amtliche Siegel der Unbedenklichkeit erhalten haben. Nun findet sich in der Liste dieser angeblich so harmlosen Organismen allerdings der Kastanienrindenkrebs. Dieser Pilz, aus Asien eingeschleppt, hat in Nordamerika bereits fast den gesamten jahrhundertealten Kastanienbestand vernichtet. ({12}) Er breitet sich mittlerweile auch in Südeuropa aus und greift auch dort die Eßkastanienbestände an. Entweder ist hier der vielgelobte Sachverstand auf der Strecke geblieben, oder die Regierung will uns sehenden Auges in ein Freisetzungsexperiment manövrieren, dessen ökologischer Schaden schon im voraus abzusehen ist. ({13}) Beides ist im Ergebnis verantwortungslos. Gesetz und Gesetzgebungsverfahren sind durch himmelschreienden Dilettantismus und unverantwortliche Gedankenlosigkeit gegenüber den möglichen Gefahren der Gentechnik gekennzeichnet. Die GRÜNEN lehnen dieses Gesetzesmachwerk in seiner Gesamtheit ab. Darüber hinaus bleibt festzustellen: Selbst noch so hohe Sicherheitsanforderungen können das Gefahrenpotential der Gentechnik nur verringern, nicht aber beseitigen. ({14}) Ein Sicherheitsmodell, das dem spezifischen Risiko der Gentechnik gerecht werden könnte, gibt es nicht. Das Gentechnikgesetz der Koalition gaukelt Sicherheit vor, aber es bahnt den Weg für mögliche Katastrophen. ({15}) Die Koalition hat aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nichts, aber auch gar nichts gelernt. Sie will uns in die gleiche Fortschrittsfalle locken wie einst bei der synthetischen Chemie. Auch chemische Fabriken galten einmal als unbedenklich. Auch sie durften viel zu lange giftige Abwässer in Flüsse kippen, die Luft verpesten, irgendwo ihren Abfall auftürmen. Daß das heute nicht mehr so ist, ist einem schmerzhaften gesellschaftlichen Lernprozeß geschuldet, in dem ökologische Katastrophen, menschliches Leid und die bittere Erfahrung, das Lebensgrundlagen auch nachhaltig zerstört werden können, Meilensteine bilden. ({16}) Die Erkenntnis, daß technischer Fortschritt eben nicht gleichzusetzen ist, mit gesellschaftlichem Fortschritt, hat schon bisher einen viel zu hohen Preis gefordert. Der alte Fortschrittskonsens der Gesellschaft ist brüchig geworden. Doch weder die Politiker, noch die Industrie, noch die Interessenvertretungen der Forschungsorganisationen haben dabei eine führende Rolle gespielt. Im Gegenteil, gerade die Politik scheint dem Trägheitsgesetz am meisten verhaftet. Sie bewegt sich nur millimeterweise und auch nur dann, wenn dem Druck von unten nicht mehr anders zu begegnen ist. Es war die Umweltbewegung, die die Forderung nach Erhalt der Lebensgrundlagen bärbeißig bis in die politische Arena geschleppt hat, und es war die Frauenbewegung, die unüberhörbar darauf hinwies, daß ein patriarchalisches Weltbild eben nicht nur die Frau zum Verfügungsobjekt des Mannes degradiert, sondern auch die Natur ohne Skrupel ausbeutet, verbraucht und zerstört. ({17}) Das Katastrophenpotential, das der Anwendung der Gentechnik innewohnt, droht nicht nur die Natur, sondern auch die Idee der Demokratie zu zerstören; denn Demokratie ist an die Möglichkeit gebunden, Entscheidungen durch wechselnde Mehrheiten oder politische Lernprozesse zu verändern oder auch rückgäng zu machen. Welches Parlament der Welt kann die Katastrophe von Tschernobyl rückgängig machen? Welche Mehrheit in der Gesellschaft ist legitimiert, gegen eine Minderheit eine Entscheidung durchzusetzen, die möglicherweise nicht zu korrigieren ist? Selbst wenn eine Gesellschaft im Konsens entscheidet, sich auf ein Risko ohne Netz und doppelten Boden einzulassen, bleibt zu fragen, ob das angesichts zukünftiger Generationen legitim ist, die nicht gefragt werden können, den möglichen Schaden aber auszubaden haben. Genau das ist das politische Defizit der Risikodebatte. Es gibt keine demokratischen Methoden für den Umgang mit Techniken dieses Katastrophenpotentials. ({18}) Das Gesetz, das die Koaltion hier vorlegt, ist ein erneuter Versuch, die Defizite der Demokratie gegenüber neuen Techniken auszubauen in der Hoffnung, mit dem wachsenden Widerstand der Bevölkerung gegen blinden Technikglauben fertigzuwerden. Dieser Widerstand artikuliert sich schon längst nicht mehr in diffuser Angst, sondern in der handfesten Forderung, endlich demokratische Methoden zu entwikkeln, die der Komplexität der Natur und des Lebens in unserem Umgang mit ihnen gerecht werden. Dazu gehört auch, Natur und Leben als Eigenwert anzuerkennen. ({19}) Mehrheitsentscheidungen repräsentativer, aber auch direkter Demokratie sind keine ausreichende Antwort auf Techniken, deren Anwendung mit hypothetischen Risiken verknüpft ist. Der Charakter dieses Problems bleibt weitgehend unberührt von der Tatsache, welche Partei oder Meinung gerade über die Mehrheit verfügt. Denn selbst eine Entscheidung, von Hochrisikotechnologien die Finger zu lassen, kann so lange wieder rückgängig gemacht werden, wie es dieser Gesellschaft nicht gelungen ist, einen neuen ethischen Grundkonsens zu erarbeiten, der den Erhalt von Leben und Lebensgrundlagen zum Maßstab politischer, technischer und wirtschaftlicher Entwicklung macht. Eine Gesellschaft, die alte religiöse, moralische und ethische Maßstäbe weitgehend über Bord geworfen hat, wird an ihrer eigenen Maßlosigkeit zugrundegehen, wenn sie sich kein neues Maß schafft. ({20}) Das ist mühsam und geht nicht von heute auf morgen. Doch die Idee der festen Verknüpfung von demokratischen, ökologischen und sozial verträglichen Verfahren ist für Gegenwart und Zukunftsentwicklung von hoher Bedeutung. Die Frage, ob und, wenn ja, welches Risiko die ganze Gesellschaft im Zusammenhang mit der Gentechnik zu akzeptieren bereit ist, darf nicht vom Parlament allein entschieden werden. Wir fordern das Parlament auf, diese für alle nachfolgenden Generationen möglicherweise überlebenswichtige Frage an den Souverän zurückzugeben. ({21}) Neue ethische Grundkonsense können nur in einem breiten und offenen Diskurs mit möglichst vielen Menschen gefunden werden. Wir fordern den Deutschen Bundestag auf, eine Kommission zu bilden, die innerhalb von drei Monaten ein Konzept für die öffentliche Diskussion erarbeitet. ({22}) Dieses Konzept soll dem Parlament nach Ablauf der Frist unter Einschluß von Minderheitenvoten zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Die Verpflichtung des Parlaments, die Ergebnisse dieses Diskurses zwischen Bürgern und Bürgerinnen, Wissenschaft und Politik in spätere Entscheidungen einzubeziehen und den Prozeß neuer Konsensbildungen auch langfristig als legitimen Bestandteil demokratischer Willensbildung zu akzeptieren, wäre ein Meilenstein für die Weiterentwicklung der Demokratie. Der Vorschlag, öffentlichen Streit über das Modell zukünftiger Gesellschaftsentwicklung durch das Parlament zu initiieren, ist zugegebenermaßen ein Stück demokratisches Experiment. Aber dieser Versuch ist Korrekturen zugänglich und verträgt sich mit menschlicher Fehlerhaftigkeit. Er schließt politische Lernprozesse nicht aus, sondern beruht auf dem ausdrücklichen Wunsch, sie zu fördern. Die Risikocharakteristik dieses demokratischen Experimentes unterscheidet sich also grundsätzlich von der Risikocharakteristik der Gentechnik. Aber auch wer mehr Demokratie wagen will, braucht Mut. Doch der Entschluß, die möglichen Risiken bei der Beseitigung demokratiefreier Räume mutig in Kauf zu nehmen, ist allemal besser, als sich todesmutig dem Katastrophenpotential einer neuen Hochrisikotechnik auszuliefern. ({23}) Die Koalition wählt mit ihrem Gesetz den scheinbar leichten Weg des unbedingten Glaubens an Fortschritt durch Technik. Unsere Stimmen werden Sie dafür nicht bekommen. ({24})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Fellner.

Hermann Fellner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letzte Androhung der Kollegin Rust macht uns traurig. Aber wir werden dies verschmerzen. Meine Damen und Herren, wer die gentechnische Diskussion der letzten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam mit verfolgt hat, wird wissen, daß der Kollege Catenhusen sehr wohl in der Lage ist, Vernünftiges und Kluges über die GentechFellner nik zu sagen. Ich bedaure deshalb, daß diese Fraktion ihn dazu gezwungen hat, nahezu zu verkümmern in Verfahrenskritik, daß es ihm nicht möglich war, wirklich das darzustellen, war auch er über die Gentechnologie weiß, nämlich daß sie sehr viele positive Seiten hat. ({0}) - Ich sehe allerdings auch nicht ein, lieber Michael Catenhusen, daß wir uns dafür prügeln lassen müssen, daß die Zerrissenheit innerhalb der SPD-Fraktion dadurch verkleistert wird, daß Du hier nur Verfahrenskritik äußerst. Ich halte es auch für unredlich. Ich halte es auch für unredlich, einerseits eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Gentechnik zu fordern und dann auf der anderen Seite zu kritisieren, daß es eine Zeitlang gedauert hat bis die Bundesregierung überhaupt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({1}) Ich würde mich auch nicht daran stören, ich bin im Gegenteil sogar stolz darauf, daß wir als Parlamentarier an dem Gesetz relativ viel haben umformulieren müssen. ({2}) Ich bin stolz darauf. Das ist sicherlich unverständlich für Mitglieder einer Fraktion, die immer darauf warten, daß ihnen der Vorsitzende irgendwelche Vermerke und Anweisungen in Klarsichthüllen auf den Tisch legt. ({3}) Aber wir sind es nun einmal gewohnt, unsere Arbeit selber zu machen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Streit über den Zeitpunkt könnte man eigentlich als Mätzchen abtun, die wir immer machen. Wir werden ihn demnächst - ich kündige es schon an, weil ich dann wieder in den Innenausschuß zurück muß - erneut bei der Diskussion über das Ausländerrecht haben. Da haben wir die gleichen Spielchen. Ihr verweigert euch, richtig mitzuarbeiten, und hinterher jammert ihr, daß das Gesetz an euch vorbei gemacht werden muß, weil ihr einfach nicht da ward. ({4}) Über die Rolle der Frau Kollegin Rust kann man auch nicht allzuviel sagen, weil in den Protokollen nicht viel über ihre Mitwirkung drinsteht. ({5}) Wer sich verweigert, hat natürlich nicht das Recht, zu kritisieren. ({6}) Das wäre normalerweise auch nicht so sehr problematisch, wenn nicht gerade diese Kritik - mit den Stichworten: durchpeitschen und wenig sorgfältig beraten - doch auch dazu beitragen würde, daß die Bevölkerung verunsichert wird. Ich weiß, daß Sie das wollen. Ich halte es aber trotzdem für in schlimmster Weise unverantwortlich, denn es macht den Leuten natürlich Angst, wenn man meint, eine Materie wie die Gentechnik, von der leider immer noch viele wenig wissen, würde im Parlament wenig sorgfältig bearbeitet.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Weyel?

Hermann Fellner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte um Entschuldigung, aber ich möchte hier noch ein paar Sätze sagen, da ich schon sehr viel Zeit verliere, um der SPD das Notwendige zu der Art und Weise zu sagen, wie sie diese Materie behandelt. ({0}) Ich halte das, was Sie machen, deshalb für verwerflich, weil ich natürlich weiß, daß es vieles gibt, das einem im Zusammenhang mit der Gentechnik Sorgen machen kann. In der Hauptsache verunsichert die Menschen eines, nämlich daß das, was wir in der Gentechnik zulassen wollen, im Grunde genommen manches, was sonst in der Welt passiert, was im Zuge der Evolution passiert, was wir in der Menschheit schon immer gemacht haben, nämlich zu versuchen, durch Züchtungsfortschritte bei Tieren und Pflanzen voranzukommen, kalkulierbarer macht. Weil es für uns kalkulierbar ist, müssen wir es im Ergebnis auch verantworten. Es ist selbstverständlich eine sehr hohe Verantwortung, die wir in diesem Zusammenhang auf uns laden. Ich meine aber, daß selten ein Gesetz so sorgfältig vorbereitet und so intensiv diskutiert worden ist. ({1}) Ich bleibe bei dieser Einschätzung, auch wenn die Tatsache nicht zu leugnen ist, daß die SPD gelegentlich bei Beratungen einmal keine Frage und keine Anmerkungen mehr hatte und wir deshalb zwei Tage der Sitzungen streichen mußten. ({2}) Wir hätten es angeboten. Für die sorgfältige Beratung trägt sicherlich der Kollege Seesing die Hauptverantwortung. Deshalb gebührt ihm auch das Hauptlob. ({3}) Es ist schon ausgesprochen worden. Er hat die Beratungen sachverständig und unbeirrbar geleitet. Er hat zwar meine Vorurteile gegenüber Lehrern nicht ganz ausräumen können, ({4}) aber man glaubt gar nicht, was man aus einem Lehrer machen und herausholen kann, wenn die Schüler einigermaßen willig sind. ({5}) Ich möchte aber auch nicht versäumen, den Ministerien und den Mitarbeitern aus den Ministerien zu danken. Man hat ihnen die Schmerzen darüber zwar gelegentlich angemerkt, daß sie von der ursprünglichen Konzeption abweichen mußten, aber ich glaube, daß es dem Gesetz insgesamt gedient hat, daß wir das, was uns der Bundesrat an Anregungen mitgegeben hat, wirklich aufgegriffen haben, ({6}) daß wir das Gesetz umstrukuriert haben; dies in erster Linie deshalb, weil wir im Grundsatz zu einer Anlagengenehmigung gekommen sind und den Vollzug durch die Länder, wie von den Ländern gewünscht, im wesentlichen sichergestellt hab en. Natürlich danke ich auch den Ländern. ({7}) - Bayern ist wirklich, nicht nur, weil es immer richtig ist, sondern in diesem Falle ganz besonders an erster Stelle zu nennen. Ich bedanke mich bei Herrn Dr. Hirsch, der schon in den vergangenen Jahren die Diskussion um die Gentechnik in hervorragender Weise mitbestimmt hat. Ich bedanke mich auch bei der bayerischen Justizministerin, daß sie uns zwei tüchtige Mitarbeiterinnen geschickt hat, ({8}) die durch Charme und Sachverstand bestochen haben und uns deshalb nahezu vergessen ließen, daß es sich um Staatsanwältinnen handelte. ({9}) Liebe Frau Kollegin Bulmahn, wenn ich gewußt hätte, daß man Sie dadurch, daß man noch ein paar Strafbestimmungen sozusagen auf den letzten Drücker in die richtige Reihe bringt, daß man noch entscheidet, ob jemand ein, drei oder fünf Jahre eingesperrt wird, so beeindrucken kann, dann hätten wir vielleicht auch noch sieben und neun Jahre eingeführt. Ich meine, daß es wirklich keine großartige Aktion mehr ist, wenn man am Schluß dann auch noch dies in die Reihe bringt, je nach Schwere der Tat. Meine Damen und Herren, wir sind der Überzeugung - wir haben versucht, das in diesem Gesetzentwurf auch zum Ausdruck zu bringen - , daß die Gentechnik eine Lösung für existentielle Fragen der Menschheit ist, jedenfalls zu ihrer Lösung beitragen kann, z. B. im Bereich der Gesundheit. Wenn das so ist, dann sehe ich es einfach als verfassungsrechtlich geboten an, die darin liegenden Chancen wirklich zu nutzen. Natürlich hat auch die Gentechnik - wie jede Technik - einen moralischen Aspekt. Wir haben sicherlich im Vergleich zu unserem früheren Umgang mit Technik mehr gelernt, ({10}) daß wir etwas zur Erhaltung der eigenen Gesundheit und unserer Umwelt tun müssen ({11}) und daß wir um unserer eigenen Gesundheit und unserer Umwelt willen gezwungen sind, unseren Wirkungsmöglichkeiten ethische Grenzen zu setzen. ({12}) Die Gefahren neuer Technologien sind nach meiner Überzeugung im wesentlichen davon bestimmt, wie die Menschen diese neuen Technologien handhaben. Deshalb kann unsere Devise nur sein, richtiges Verhalten der Menschen zu bestimmen, statt Technologien zu verbieten. Ich bin zutiefst überzeugt, daß es die Menschheit in dieser Form nicht mehr gäbe, wenn wir uns zu irgendeiner Frühzeit hingestellt hätten und nichts Neues mehr hätten wissen wollen. Bisher, so kann man sagen, hat es der Menschheit einigermaßen gutgetan, daß sie sich durchaus auch von diesem Forscherdrang hat leiten lassen. ({13}) Meine Damen und Herren, ich meine also, daß es das richtige Verhalten gegenüber neuen Technologien ist, wenn wir Themen frühzeitig diskutieren, damit wir die notwendigen Weichenstellungen möglich machen und damit auch versuchen - wobei ich zugebe: Ihre Agitation macht uns das sehr schwer -, unbestimmten Ängsten und verschwommenen Gefühlen sachliche Informationen entgegenzusetzen, und damit dazu beitragen - ({14}) - Liebe gnädige Frau, ({15}) ich weiß zwar nicht, wie kleine Mädchen so giftig sein können, aber ich versuche, hier meine Position darzustellen. Ich versuche darzustellen, daß wir an die Gentechnik aufgeschlossen herangegangen sind, ({16}) ohne blind zu werden für mögliche Gefahren. Wir sind überzeugt, daß wir die notwendigen Rahmenbedingungen für den Umgang mit der Gentechnik sowohl für die Wirtschaft als auch für die Forschung mit diesem Gesetz herbeiführen werden. ({17}) Die Ausrede, daß die Bedingungen nicht stimmten, ist jetzt vom Tisch. Jetzt sind alle gefordert, gemäß diesem Gesetz verantwortungsvoll ihrer Pflicht nachzukommen. Ich bin stolz darauf, daß wir dieses Gesetz zustande gebracht haben und daß ich daran habe mitwirken können. Ich bin überzeugt, daß das nicht die letzte Debatte über Gentechnik in diesem Deutschen Bundestag war. - Ich bedanke mich. ({18})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Fellner, wer sich verweigert hat, das waren Sie. Sie als Parlamentarier haben sich verweigert mit Ihrem Tischvorlagensystem. ({0}) Wenn die Tischvorlage kam und wir Nachfragen dazu gestellt haben, dann war es ein hilfloses Hin-und-herSehen, ob die Regierung weiß, was damit gemeint ist, oder ob Sie das wissen. ({1}) Dann haben Sie sich zur Länderbank umgeguckt, und dann ist Ihnen etwas zugeflüstert worden. So war es! ({2}) Ich denke, das ist wirklich eine Verweigerung als Parlamentarier. Nach der heutigen abschließenden Beratung des Gentechnikgesetzes verabschieden wir eines der wichtigsten Gesetzgebungswerke dieser Legislaturperiode. Die Nutzung der Gentechnologie steht der Anwendung der Atomkraft mit allen ihren gesellschaftlichen Dimensionen in nichts nach. Hier wie dort werden wir die Auswirkungen und Folgen bestenfalls in Jahrzehnten annähernd beurteilen können. Ein Gesetz von einer solchen Brisanz und gesellschaftlichen Relevanz hätte man daher mit aller Sorgfalt und ohne jeden Zeitdruck beraten müssen, um sich mit den berechtigten Zweifeln und Bedenken sachlich auseinanderzusetzen und um ein Höchstmaß an öffentlicher Zustimmung zu erreichen. Genau dies ist nicht geschehen. Statt dessen wurde der Gesetzentwurf mit seiner kaum überschaubaren und bewertbaren Flut von Änderungsanträgen durch die Gremien gepeitscht. Wahrlich kein Ruhmesblatt für dieses Parlament! Diese Eile auf Biegen und Brechen rührt ja nicht etwa daher, daß der Gesetzesbedarf jetzt so außerordentlich dringlich wäre - auf einige Monate mehr oder weniger wäre es nun wirklich nicht mehr angekommen - , nein, diese unseriöse Hast erklärt sich allein mit der Wahl am 13. Mai in Niedersachsen, bei der die Regierungsparteien befürchten müssen, daß ihnen die Mehrheit im Bundesrat verlorengeht. ({3}) Solche unsachlichen Erwägungen schaffen kein Vertrauen, sondern nähren nur weiter das Mißtrauen in der Bevölkerung hinsichtlich des Gestaltungswillens und hinsichtlich der Gestaltungsbereitschaft der Politik. ({4}) Hier wurde einmal mehr die Chance zur Stärkung der Glaubwürdigkeit und des Ansehens dieses Parlaments aus partei- und machtegoistischen Gründen leichtfertig und in unverantwortlicher Weise verspielt. ({5}) Dabei wäre es gerade bei der gesetzlichen Regelung der Gentechnologie, die ganz neue Möglichkeiten der Beeinflussung der Natur und des Menschen schafft, angesichts der nicht zu leugnenden Gefahren und nicht abschätzbaren Risiken in besonderem Maße auf Glaubwürdigkeit angekommen. Wie, meinen Sie, wird die Bevölkerung dieses mit einer so heißen Nadel gestrickte Gesetz aufnehmen? Eine Bevölkerung, die es bislang schon immer wieder hinnehmen mußte, daß bei jedem Atomkraftunfall, bei jeder Umweltkatastrophe, ({6}) bei jedem Lebensmittelskandal von den Verantwortlichen beruhigend erklärt wurde, alles, aber auch alles sei ungefährlich und es bestehe kein Grund zur Aufregung, um dann später scheibchenweise die volle Wahrheit zu erfahren, nämlich: Wieder einmal - im besten Falle - Glück gehabt. ({7}) Diese Praktiken des Abwiegelns und Verharmlosens haben schon bislang kein großes Vertrauen schaffen können. Dies wird erst recht nicht in dem noch komplizierteren und für den einzelnen unüberschaubaren Technologiebereich wie der janusköpfigen Gentechnik gelingen. Die Erkenntnis, daß wir über die ökologischen Folgewirkungen nahezu nichts wissen, hat nun keineswegs dazu geführt, die wirtschaftlichen und technologischen Vorteile der Gentechnik kritisch zu hinterfragen und ihre Verträglichkeit für Mensch und Natur unvoreingenommen zu prüfen. Statt dessen wird - von den Fortschrittsfanatikern - entweder rückhaltlos ja gesagt, oder man verfällt in das andere Extrem und verweigert sich durch ein unreflektiertes Nein. ({8}) Ich halte beide Positionen für falsch, weil sie sich der Mühsal und der Notwendigkeit der Einzelbewertung, des Abwägens entziehen, ohne freilich auch so vor Irrtümern sicher zu sein. Gleichzeitig werden damit die Bereitschaft zur Einflußnahme, der Wille und die Fähigkeit, politisch gestaltend einzugreifen, preisgegeben um eine Entwicklung zu verhindern, bei der Mensch und Natur irreparablen Schaden nehmen können. Irreparable Schäden werden wir aber einkalkulieren müssen, wenn die im Gesetz für die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen vorgesehenen Regelungen in Kraft treten. Wir besitzen bislang keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die kurz- und langfristigen Auswirkungen dieser neuen Eingriffsmöglichkeit in den Naturhaushalt. Wohl aber verfügen wir über Erfahrungen mit der Freisetzung von Tieren und Pflanzen in einer für sie fremden Umgebung. Und da hat sich eben gezeigt, daß im Einzelfall erhebliche Störungen des ökologischen Gleichgewichts entstehen können, die entweder schwer oder gar nicht begrenzbar sind. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen halte ich es daher für unverantwortlich, daß bei der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen die Genehmigung schon erteilt werden soll, wenn „gewährleistet ist, daß alle nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen" worden sind. Welche sind diese Sicherheitsvorkehrungen, wo doch die Wissenschaft selbst nicht einmal in der Lage ist, die möglichen Risiken exakt abzuschätzen und zu bewerten? Noch fataler finde ich, wenn nicht einmal allein die vom Organismus ausgehenden Risiken bewertet werden sollen, sondern das Risiko - man höre und staune - in ein Verhältnis zum Zweck der Freisetzung gesetzt wird. Das kann doch nur bedeuten, daß ein höherer Zweck - was immer das auch sein mag - ein höheres Risiko rechtfertigt. Oder anders und einfacher ausgedrückt: Der Zweck heiligt eben die Mittel. ({9}) Dieses riskante Spiel mit dem Feuer machen wir nicht mit. Wir beharren auf dem grundsätzlichen Verbot der Freisetzung. Diese darf nur genehmigt werden, wenn die freigesetzten Organismen rückholbar sind und wenn zuvor ein Experiment in einem geschlossenen System und danach in einem Gewächshaus stattgefunden hat usw. ({10}) Nur so hat man überhaupt erst die Möglichkeit, über die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu gewinnen, die dann bei einem späteren Freilandversuch als Orientierung dienen können. Selbstverständlich müssen alle gentechnisch hergestellten Produkte oder Produkte, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten, unverwechselbar gekennzeichnet werden. Mit dem Gesetz in dieser Fassung wird die Chance vertan, die Gentechnik zu einer gestaltbaren Technologie werden zu lassen. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Akzeptanz dieser neuen Technologie aufs Spiel gesetzt. Ich wage daher die Prophezeiung, daß wir mit diesem Gesetz die gesellschaftliche Polarisierung - wie schon bei der Nutzung der Atomenergie - gewissermaßen vorprogrammieren. ({11})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das Gesetz, das wir heute beraten, ist in der Tat ein sehr grundlegendes Gesetz. Hier ist Kritik geäußert worden an der Frage der Zweckbestimmung des Gesetzes. Herr Catenhusen hat darauf hingewiesen - Frau Rust hat es aufgegriffen -, daß Zweck dieses Gesetzes die Förderung der Gentechnik ist. Frau Rust hat darüber hinaus gesagt, dann könnte und müßte man in Zukunft die Gefahrstoffverordnung in ein Gesetz zur Förderung der Chemie hineinschreiben. Jetzt lese ich einmal vor, was im Gesetzestext steht; denn der Blick ins Gesetz vereinfacht Debatten. Der erste Satz lautet: Zweck dieses Gesetzes ist, 1. Leben und Gesundheit ... zu schützen und ({0}) 2. den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen. ({1}) - Jawohl, den gesetzlichen Rahmen für die Förderung zu schaffen! Das ist der gesetzliche Rahmen. Was ist eigentlich die Aufgabe des Staates? Aufgabe des Staates ist es, für das, was neu entsteht, den gesetzlichen Rahmen zu schaffen. ({2}) Der gesetzliche Rahmen hat die Aufgabe, die Risiken und Probleme zu beherrschen. ({3}) Das Gesetz hat die Voraussetzung, die Bedingungen festzulegen, unter denen eine Technik genutzt werden darf, um Risiken zu vermeiden und Gefahren zu beherrschen. Genau das ist die Aufgabe des Gesetzes. ({4}) Insofern stellt dieses Gesetz fest, in welchem rechtlichen Rahmen die Förderung und die Nutzung fortgehen kann. Genau das ist der Zweck und die Aufgabe eines Rechtsstaates.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen? - Bitte schön! ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Und warum greifen Sie das dann an?

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister!

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Ich kann nur mit einem diskutieren. Sie haben Nachsicht, wenn ich nicht mit beiden zugleich diskutiere.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben aber zugestimmt, daß Herr Catenhusen fragen kann?

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Gern, ja.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, da wir beide nicht Juristen sind und jetzt über einen Paragraphen diskutieren, sind Sie vielleicht bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß Technikjuristen in der Anhörung gesagt haben, man schreibe nicht in ein Gesetz, daß es ein Gesetz sei; denn einen rechtlichen Rahmen zu setzen, heiße, ein Gesetz zu machen? Für uns ist eben nach wie vor die Frage, warum in letzter Minute der Begriff „Förderung" hineingenommen worden ist. ({0}) Das ist für uns etwas, bei dem wir Hintergedanken vermuten.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Herr Catenhusen, ich kann Ihnen den Hintergedanken genau aufklären. Hier haben wir einen Sachverhalt, bei dem wir Chancen und Risiken haben. Das Gesetz hat für beides Bedingungen zu schaffen. Das Gesetz ist ein Gesetz, das einerseits Gefahren beherrscht und andererseits Chancen eröffnet. ({0}) Weil dies gewollt ist, steht beides drin, und weil hier festgelegt worden ist, daß der rechtliche Rahmen das zu leisten hat, ist dies die Kernfrage, die im ersten Absatz des Gesetzes festgelegt werden muß. Genau das ist der Ausgangspunkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben also beides: Wir haben die Bedingungen, unter denen Risiken beherrscht werden, und wir haben die Bedingungen, unter denen Chancen ergriffen werden können. Ich möchte hinzufügen: Beides ist in einer klugen Strategie eingebettet in eine gemeinsame europäische Arbeit. Es kann kein vernünftiger Weg sein - darauf ist zu Recht hingewiesen worden -, wenn die unterschiedlichen Staaten mit unterschiedlichen Kriterien arbeiten. Ich möchte mich ausdrücklich denen anschließen, die sich hier bei der Enquete-Kommission des Parlaments bedankt haben. Dies ist wirklich eine einzigartige Zusammenarbeit gewesen. Ich halte ohnehin in dem Bereich der Technikfolgen-Abschätzung die Leistungen der Enquete-Kommission in den vergangenen Jahren für hervorragend. Was hier als Ergebnis herausgekommen ist, war in einem wesentlichen Bereich Grundlage für die Entscheidung, die wir heute zu fällen haben. Dabei möchte ich im gleichen Atemzug allerdings betonen, daß die Arbeit des Unterausschusses - Herr Seesing als Vorsitzender und Herr Kohn als einer der wichtigsten Partner sowie andere Abgeordnete - in einer ganz besonderen Weise die Fähigkeit des Parlaments bestätigt hat, komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge so aufzuarbeiten, daß sie politisch entschieden werden können. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Rust?

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Ja. Nur läuft meine Uhr ständig. Die lief auch vorhin weiter - Ja, Frau Kollegin.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die läuft nur so lange, wie Sie reden. Erst dann, wenn Sie gesagt haben: „Ja, ich stimme zu, daß eine Frage gestellt wird", stoppe ich, . . .

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Es liegt mir fern, den Präsidenten zu kritisieren.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

... obwohl das bei einer Vier-Stunden-Debatte sowieso problematisch ist; denn wir müssen ja bis nachts um 12 Uhr noch arbeiten.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Ich bin bereit, ohne Zwischenfragen zu diskutieren, so gern ich sie zulasse. - Frau Kollegin Rust.

Bärbel Rust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001908, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Herr Minister, Sie loben die Arbeit der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie". Gleichzeitig läßt dieses Gesetz eine der Empfehlungen dieser Kommission fallen, nämlich ein Moratorium für Freisetzungen zu erlassen. Welche wissenschaftlichen Ergebnisse haben dazu geführt, nun zu sagen: Heute können wir davon ausgehen, daß wir Freisetzungen erlauben können, ohne unkalkulierbare Risiken für Mensch und Natur in Kauf zu nehmen?

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Das erste ist: Die Bedingungen für Freisetzung waren in Deutschland immer extrem restriktiv gewesen. Herr Catenhusen hat zu Recht darauf hingewiesen, daß wir das erste Land sind, das eine entsprechende Sicherheitsforschung aufgebaut hat. Wir betreiben sie seit 1987 und haben sie so angelegt, um damit Erfahrungen nicht nur für einzelne Bereiche zu schaffen, sondern auch für komplexe ökologische Zusammenhänge. Das zweite ist dies: Während in Deutschland bis heute nicht eine einzige Freisetzung erlaubt worden ist - die erste Freisetzung wird im Mai dieses Jahres stattfinden; sie ist ein Projekt der Max-Planck-Gesellschaft - , sind in anderen Ländern der Erde 167 Freisetzungen durchgeführt worden. Diese 167 Freisetzungen beziehen sich auf Pflanzen, auf Mikroben. Sie sind in den allermeisten Fällen wissenschaftlich begleitet worden. Nach allen Berichten, die uns zugänglich sind, ist bei keinem dieser Fälle eine Freisetzung von Folgen begleitet gewesen, die als kritisch oder problematisch oder gefährlich angesehen worden sind. Der wissenschaftliche Hintergrund in der Diskussion ist dieser: Auch modifizierte Pflanzen sind nicht grundsätzlich neuartige Pflanzen. Sie sind Pflanzen, die anders, auch durch Züchtung, erreicht werden können. Die Bedingungen, unter denen freigesetzt worden ist, haben dies einbezogen. Im übrigen war die Strategie der Bundesregierung bisher so, daß wir von einem grundsätzlichen Verbot bei einer Erlaubnis im Einzelfall ausgegangen sind. Wir sind mit größter Vorsicht in der Vergangenheit vorgegangen. Auch diese Strategie war richtig und hat die Grundlage zur jetzigen Entscheidung gelegt. Jetzt habe ich ein bißchen gemogelt, weil ich einen Punkt hier eingeschmuggelt habe.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Na, den ziehen Sie nachher ab, Herr Minister.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Aber Sie haben mir vorhin schon eine Minute kassiert. Insofern darf ich das tun. Es ist hier gesagt worden, wir hätten hier eine Diskussion, die in der Aufarbeitung der Risiken nicht gut und nicht korrekt gelaufen sei. Ich bin im Gegensatz dazu der Ansicht, daß die Aufarbeitung einzigartig glücklich gelaufen ist. Die Wissenschaft selber hat 1973 die Frage gestellt, ob hier nicht Risiken entstehen können, die wir berücksichtigen müssen. Die Wissenschaft selber hat 1974 in einer Kommission der nationalen Akademie der Wissenschaften der Vereinigten Staaten empfohlen, daß die Wissenschaftler sich ein Moratorium auferlegen. Die Wissenschaft hat erst nach der Prüfung der einzelnen Möglichkeiten und nach der Empfehlung gezielter Sicherheitsmaßnahmen zugelassen, daß die Arbeit weitergeführt wird. Erst dann ist die Wissenschaft weitergegangen, hat allerdings gleichzeitig die Richtlinien zur Gefahrenbeherrschung vorgelegt. Was hier geschehen ist, hat sich ausgewirkt in den Richtlinien der Vereinigten Staaten, in den Richtlinien der Bundesrepublik, in einem intensiven Dialog mit allen Betroffenen. Ich freue mich insbesondere, daß hier die IG Chemie, die vorhin erwähnt worden ist - Kollege Rappe ist unter uns - , in ihrer Verantwortung für die Arbeiter, die Arbeitnehmer an den Arbeitsplätzen, in der Verantwortung für die Rolle einer neuen Wissenschaft bei ihrer Umsetzung in Technik mit großem Sachverstand und mit großem Verantwortungsbewußtsein diesen ganzen Prozeß mitgestaltet hat. ({0}) - Im Gegensatz zu wem bitte? ({1}) - Ah ja! Ich bedanke mich sehr für den Hinweis. Auch der Sachverstand der chemischen Industrie ist in einer ganz vorzüglichen kompetenten Weise unter Offenlegung der Probleme hier eingebracht worden. Ich bedanke mich, Frau Kollegin Bulmahn, für diesen Hinweis. ({2}) - Mein Redemanuskript ist dieses hier. Ich pflege nicht hier etwas abzulesen, was ich oder andere mir aufgeschrieben haben, gelt. Insofern erlauben Sie mir, daß ich die Debatte im Dialog mit dem Parlament führe und Ihnen nicht irgendwelche Schriftsätze um die Ohren knalle. ({3}) Es ist mir ein intellektuelles Vergnügen, mit Ihnen plaudern zu dürfen. Ich möchte dies tun dürfen. Die eine Seite ist die Beherrschung der Risiken. Es ist hier darüber diskutiert worden, daß und warum dieses Gesetz dies leistet. Ich weise hier insbesondere auf die umfassende Einführung des Kollegen Seesing hin. Aber die andere Seite ist: Wenn Frau Rust empfiehlt, auf die Technik schlechthin zu verzichten, dann muß man wissen, worauf man verzichtet in einer begrenzten Welt mit erkennbaren Schwierigkeiten. Was wir hier in der Medizintechnik erreichen können, sind Ansätze bei der Krebsbekämpfung, die wir sonst nicht kriegen. Die Interferone, die Interleukine sind Stoffe, die wir nur in winzigen Mengen in der Natur gewinnen können. Aber die Gentechnik erlaubt, sie zur Krebstherapie einzusetzen. Ich behaupte nicht, daß es hier eine direkte und schnelle Lösung für das Problem AIDS gibt, aber wenn wir nicht mit der Gentechnik an dieses Problem herangehen, halte ich eine Lösung des AIDS-Problems für schlechterdings unmöglich. Man kann nicht gleichzeitig von einer Wissenschaft die Früchte verlangen und sie verbieten. Sie können das genauso bei Umweltfragen anfangen. Es kam hier eine ironische Bemerkung, als - ich glaube, Kollege Kohn über die Möglichkeit von Umwelt sprach. Wir haben in vielen alten Deponien Dioxin. Wie können wir dieses Dioxin herausbringen? Doch nicht indem wir sie auskoffern, der Wind bläst drüber und das Dioxin verteilt sich. Aber die Chancen, Bakterien einzusetzen, sei es gentechnologisch geprüfte, sei es gentechnologisch modifizierte, eröffnet uns die Möglichkeit, mit Altlasten fertigzuwerden. Hinsichtlich der Pflanzenzüchtung kann man die gleiche Diskussion führen: Wenn früher eine PflanBundesminister Dr. Riesenhuber zenzüchtung 10, 20 oder 30 Jahre gedauert hat, so können Sie jetzt eine Pflanze, die unter den Bedingungen der versalzten Böden oder der Sahel-Zone existiert und Frucht trägt, innerhalb von wenigen Jahren erreichen. Auch dies scheint mir vernünftig zu sein, und dies müssen wir einbeziehen. Herr Catenhusen hat hier darüber diskutiert, daß wir in diesem ganzen Zusammenhang mit großer Behutsamkeit vorangehen müssen. Wir haben dies in den vergangenen Jahren umfassend getan. Kollege Kohn hat darauf hingewiesen, daß wir heute nur einen Bereich in einem sehr komplexen Feld diskutieren, daß die Frage der Anwendung von Gentechnik auf den Menschen eine der grundsätzlichen Fragen ist, an denen wir arbeiten. Aber auch hier gilt, daß die Bundesregierung, seit wir hier in dieser Verantwortung stehen, dieses Thema aufgegriffen hat. Die Diskussion über den Umgang mit menschlichem Erbgut war 1982/83 in Wissenschaft und Politik und übrigens auch in den Kirchen nicht da. Ich bin heute noch dankbar, daß wir damals nach einem Jahr im September 1983 das Gespräch zwischen Geisteswissenschaftlern, Naturwissenschaftlern und Politikern in einer sehr umfassenden Weise zusammen gefunden haben, die uns die Grenzen dessen gezeigt haben, was wir im Raum dessen, was wir können, dürfen. Daraus sind Gesetze entstanden, die jetzt anstehen, das Embryonenschutzgesetz und Diskussionen, die wir in dem Wissen weiter führen müssen, daß wir in Europa nicht alleinstehen, sondern in einer ganz schwierigen und grundsätzlichen Debatte auf Konsens hinarbeiten müssen. Deshalb habe ich die Forschungsminister der Gemeinschaft zu einer zweitägigen Klausurtagung vor 14 Tagen zusammengeführt, um diese Grundsatzfragen anzugehen. Ich sehe die Chance, daß wir die großen Möglichkeiten, die uns neue Wissenschaften geben, aus Verantwortung so gestalten, daß die Gefahren beherrscht werden, daß die Risiken gestaltet werden, daß die Chancen genutzt werden. Aber dies gelingt uns nur dann, wenn wir nicht in blinder Furcht und Ablehnung, sondern in der Bereitschaft zur konstruktiven Gestaltung der Möglichkeiten zwischen Wissenschaft und Politik die Chancen ergreifen. Das Gesetz, über das wir heute hier entscheiden, ist eine besonders geglückte Arbeit des Parlaments und ein vorzüglicher Beitrag dazu. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Herr Riesenhuber - ({0}) - Herr Minister Riesenhuber, ({1}) ich möchte zu Ihrer Rede sagen: Thema verpaßt, weil wir in dieser Debatte nicht darüber diskutieren, ob wir die Gentechnologie verbieten wollen oder nicht. Das steht nicht zur Debatte. ({2}) Sie haben das Thema verpaßt, weil wir in dieser Debatte darüber reden, unter welchen Bedingungen, in welchem gesetzlichen Rahmen in Zukunft die Gentechnologie in der Bundesrepublik angewandt wird. Die Notwendigkeit eindeutiger gesetzlicher Regelungen der Anwendung und der Nutzung der Gentechnologie wird in diesem Hause wohl von niemandem bestritten. Das wird auch von seiten der GRÜNEN nicht bestritten. Aber die Windeseile, mit der Sie von den Koalitionsparteien aus Angst vor den Wählerinnen und Wählern in Niedersachsen ({3}) ein Gesetz durch die parlamentarischen Gremien pauken, ist entlarvend. ({4}) Ihnen geht es nicht in erster Linie um einen umfassenden Schutz von Mensch und Umwelt vor den Gefahren gentechnischer Methoden, sondern um den Schutz von Anwendern und Nutzern der Gentechnologie vor der Öffentlichkeit. ({5}) Sie schüren mit Ihrer Art des Vorgehens - das muß ich Ihnen wirklich so deutlich sagen - Mißtrauen und Vorbehalte gegenüber der Politik und gegenüber dem Parlament insgesamt. ({6}) Sie provozierern geradezu Ängste und Verweigerungshaltungen. ({7}) Das Mißtrauen, mit dem die Regierungsparteien die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger betrachten, schlägt sich auch in dem Gesetzentwurf selbst und in den bisher vorgelegten Verordnungsentwürfen nieder. Sie, Herr Minister Riesenhuber, loben die Arbeit der Enquete-Kommission, und Sie loben das Gespräch, das zwischen Wissenschaft, Politik, Kirchen und Bürgern stattgefunden hat. ({8}) So weit, so gut. Dieses Lob würden wir unterstreichen. Nur, ich frage mich, warum Sie jetzt auf einmal mit diesem Gesetz dieses Gespräch abbrechen und verhindern wollen. ({9}) Das eigentliche Sicherheitsrisiko - das wird an diesem Gesetzentwurf deutlich - besteht für Sie nicht in der Anwendung der Gentechnologie, sondern das sind die Bürgerinnen und Bürger selbst. ({10}) - Das werde ich gleich belegen. In welchem Umfang Sie Transparenz, Diskussion und Erörterung scheuen und versuchen, Transparenz und Mitwirkung Betroffener zu verhindern, ({11}) möchte ich am Beispiel der ZKBS und der Regelungen zur Beteiligung der Öffentlichkeit bei den Genehmigungsverfahren näher ausführen. ({12}) Der Zentralen Kommission für biologische Sicherheit kommt in dem vorgelegten Gesetzentwurf eine Schlüsselstellung zu. Sie verfügt faktisch über ein Definitions-, Prüfungs- und Bewertungsmonopol. Sie berät die Bundesregierung und die Bundesländer in allen sicherheitsrelevanten Fragen der Gentechnik. Sie definiert das Risikopotential eines gentechnisch veränderten Organismus. Sie wird prüfend und bewertend in allen Anmelde-, Erlaubnis- und Genehmigungsverfahren tätig. Mit der Zuordnung von gentechnischen Arbeiten zu den einzelnen Sicherheitsstufen entscheidet sie zugleich über den Verfahrensablauf; denn ob eine bloße Anmeldung genügt oder ob ein Genehmigungsverfahren - mit oder ohne Öffentlichkeitsbeteiligung - durchzuführen ist, ist allein von der Zuordnung zu einer Sicherheitsstufe abhängig. ({13}) Die eigentliche Genehmigungsbehörde befindet sich demzufolge mehr oder minder in der Rolle des Vollstreckers des Kommissionsvotums, von dem sie nur abweichen kann, wenn sie dies schriftlich begründet, also faktisch ein Gegengutachten vorlegt. ({14}) Eine Kommission mit derart weitreichenden Befugnissen und einer derartigen Machtfülle muß verpflichtet werden, ihre Entscheidungen transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Zugleich ist durch eine entsprechende Zusammensetzung der Kommission sicherzustellen, daß alle für die Bewertung einer Anmeldung bzw. eines Genehmigungsantrages wesentlichen Gesichtspunkte in den Beratungsprozeß mit einfließen. ({15}) Dies ist weder in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch in den entsprechenden Änderungsanträgen der Koalitionsparteien der Fall. ({16}) Die von der Bundesregierung und von den Koalitionsparteien vorgesehene Zusammensetzung der Kommission ist einseitig. Sie gibt den Molekularbiologinnen und -biologen - also den potentiellen Nutznießern der Gentechnologie - ein Übergewicht unter den Fachleuten. Dagegen scheinen Ihnen Fachleute so wichtiger Disziplinen wie z. B. Boden-, Tier-, Pflanzenökologie, der Ökosystemforschung entbehrlich zu sein, obwohl gerade diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das nötige Fachwissen für die Bewertung des Gefährdungspotentials gentechnisch veränderter Organismen für Menschen, Tiere, Pflanzen und Umwelt bereitstellen. Die Bewertung des Risikopotentials darf nicht den Nutznießern und Anwendern ({17}) der Gentechnologie allein überlassen werden. Das ist unzumutbar.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kohn?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn es mir nicht von der Zeit abgezogen wird.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Kohn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut, wenn ich eine Minute dazukriege, ist das in Ordnung.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, können Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß der Zentralen Kommission für biologische Sicherheit mindestens zwei Wissenschaftler aus dem Bereich der Ökologie und mindestens ein weiterer Sachverständiger aus dem Bereich des Umweltschutzes als Mitglieder angehören werden?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es stimmt, daß bei der Zusammensetzung der Kommission zwei Ökologen vorgesehen sind. Aber Sie werden, wenn Sie sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen zusammenfassen, feststellen, daß es in der Kommission ein Übergewicht potentieller Nutznießer gibt. Wenn Sie einmal nach Fachbereichen gliedern, werden Sie das feststellen; Sie können das ohne weiteres auch selber nachprüfen. ({0}) Die Beratungs- und Bewertungstätigkeit der Kornmission läßt sich nicht auf eine reine Feststellung wissenschaftlicher und quasi objektiver Tatsachen beschränken. Sie beinhaltet neben Sachurteilen auch normative Festlegungen, da sie sich unweigerlich auch auf Fragen der Zumutbarkeit von Risiken für Mensch und Umwelt erstreckt. Über Fragen der Zumutbarkeit von Risiken kann aber schlechthin nicht wissenschaftlich entschieden werden, da sie nicht wissenschaftlicher, sondern politischer und gesellschaftlicher Natur sind. Der Kommission müssen deshalb neben Fachleuten aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auch Vertreter gesellschaftlicher Gruppen wie der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Naturschutz- und Umweltverbände und der Verbraucherorganisationen angehören. Darüber hinaus muß unseres Erachtens sichergestellt werden, daß Vertreter der Länder an den Sitzungen teilnehmen können. Problematisch sind nach unserer Ansicht die vorgesehenen Regelungen zur Beschlußfassung durch die Kommission. Wenn hier keine Präzisierung vorgenommen wird, können weitreichende EntscheidunFrau Bulmahn gen gefällt werden, ohne daß tatsächlich eine Mehrheit der Kommission die Stellungnahme unterstützt. Denkbar ist beispielsweise, daß zwei Mitglieder mit Ja stimmen, ein Mitglied mit Nein stimmt und sich neun Mitglieder der Stimme enthalten. ({1}) Nach den jetzigen Regelungen würde dieses Ergebnis als Zustimmung gewertet werden. Ich muß deutlich sagen: Das ist absurd. Eine klare Festlegung von Abstimmungsquoren ist dringend erforderlich. Gänzlich untragbar ist das Vorhaben der Regierungsparteien, die Entscheidungen der Kommission nur in Ausnahmefällen der Öffentlichkeit bekanntzugeben ({2}) und sich ansonsten mit der Veröffentlichung eines Jahresberichtes zufriedenzugeben. ({3}) Dies ist in höchstem Maße undemokratisch und vermittelt der Öffentlichkeit, aber auch der Fachwelt ein verzerrtes Bild der Diskussion in der ZKBS und der dort getroffenen Entscheidungen. ({4}) Eine wirksame und verantwortungsvolle Beteiligung der Öffentlichkeit an den entsprechenden Genehmigungsverfahren ist nur möglich, wenn die Entscheidungsgründe der Kommission in einem konkreten Fall auch bekannt sind. Die von den Koalitionsparteien und der Bundesregierung verfolgte Strategie der Geheimniskrämerei ist einer sachlichen Auseinandersetzung jedenfalls nicht förderlich. Im Gegenteil: Diese Strategie fördert Irrationalismen und undifferenzierte Verweigerungshaltungen. Ich möchte Sie aus den genannten Gründen ausdrücklich bitten, sich entsprechend des Änderungsantrages der SPD-Fraktion für die Veröffentlichung der Entscheidungen der Kommission mit Begründung in einem öffentlich zugänglichen Register auszusprechen. ({5}) Minderheitsvoten sind dabei mit zu veröffentlichen, auch wenn sie sich nur auf Teile der Entscheidung beziehen. Folgt man nämlich den Vorstellungen der Bundesregierung, dann sollen Einwände, die sich nur auf einen Teil des Gesamtvotums beziehen, nicht einmal zu Protokoll genommen werden. Minderheitenvoten sollen demnach nur zulässig sein, wenn sie sich auf das gesamte Votum beziehen. Dabei wäre aber gerade die Kenntnis dieser Teileinwände für die zuständigen Behörden sehr wichtig; denn sie könnten in Kenntnis dieser Einwände die Genehmigung mit bestimmten Auflagen versehen und damit zu einem höheren Sicherheitsstandard beitragen. ({6}) 1845, drei Jahre vor dem ersten Versuch, in Deutschland eine Demokratie zu begründen, schrieb der preußische Obrigkeitsstaat in der Gewerbeordnung die Beteiligung der Öffentlichkeit an Genehmigungsverfahren für industrielle Anlagen bindend vor. 145 Jahre später behält die konservativ-liberale Regierung in der Bundesrepublik die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Genehmigung von Fabriken zur Herstellung von Oberhemden und Röcken zwar bei, schließt die Öffentlichkeit bei der Genehmigung von gentechnischen Anlagen jedoch weitgehend aus. ({7}) - Das ist richtig. Wenn Sie sich die zur Zeit bestehenden gentechnischen Produktionsanlagen und Forschungsanlagen ansehen und sie nach den Kriterien, die Sie festgelegt haben, einmal untersuchen, stellen Sie fest, daß nach Ihrem Vorschlag 963 dieser Anlagen ohne Öffentlichkeitsbeteiligung genehmigt worden wären und 23 mit Öffentlichkeitsbeteiligung. Das ist wohl deutlich genug. In dem Entwurf der Regierung und den Änderungsanträgen der Regierungsparteien wird bei dem größten Teil der gentechnischen Anlagen und Arbeiten der Stufe 1 wie auch bei Genehmigungen der Freisetzung bestimmter Organismen sowie bei allen Forschungsanlagen und Forschungsarbeiten keine Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen. Dies ist nicht nur zutiefst undemokratisch, sondern auch von der Sache her überhaupt nicht gerechtfertigt. Der Ausschluß der Beteiligung der Öffentlichkeit bei Genehmigungsverfahren gentechnischer Forschungsanlagen und Forschungsarbeiten der Sicherheitsstufe 4 dürfte zudem schlicht verfassungswidrig sein. Wie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, wollen Sie es eigentlich verantworten und womit wollen Sie es rechtfertigen, daß Bürgerinnen und Bürger es hinnehmen müssen, daß in ihrer unmittelbaren Umgebung mit gefährlichen Krankheitserregern experimentiert wird, ohne daß sie hiervon informiert werden, ohne daß sie entsprechende Sicherheitsauflagen einklagen können? ({8}) - Für Forschungsanlagen und Forschungsarbeiten trifft das zu, weil Sie sogar vorschlagen, daß Forschungsarbeiten in der Sicherheitsstufe 4 in Zukunft, wenn eine Arbeit einmal durchgeführt ist, nur noch angemeldet, aber nicht mehr genehmigt werden müssen. ({9}) Was Sie hier vorschlagen, ist völlig verantwortungslos. Auch die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft und Forschung findet ihre Grenzen dort, wo die Grundrechte anderer wie etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bedroht oder verletzt werden. ({10}) Ob diese Gefährdung von einer Produktionsanlage oder von einer Forschungsanlage ausgeht, macht dabei keinen Unterschied, ({11}) und es darf auch keinen Unterschied machen. Wenn gerade von seiten der Regierungsparteien immer wieder vorgebracht wird, daß bei einer Beteiligung der Öffentlichkeit die Diskussion ohne den für die Bewertung notwendigen Sachverstand geführt und durch Irrationalität, Angst und Emotionen geprägt sei, so ist dies schlichtweg falsch. Sämtliche bisher durchgeführten öffentlichen Genehmigungsverfahren gentechnischer Anlagen mußten wieder abgebrochen werden, weil die Betreiber nur unvollständige Genehmigungsunterlagen eingereicht hatten. ({12}) Den Behörden war dies allerdings nicht aufgefallen, wohl aber den Bürgerinnen und Bürgern, die nach Ihrer These angeblich nicht über den nötigen Sachverstand verfügen. Selbst die ZKBS mußte sich in einem Fall vorhalten lassen, schlichtweg übersehen zu haben, daß ein für die Arbeiten vorgesehener Virus trotz seines unvollständigen Genoms noch die Fähigkeit besaß, infektiöse Partikel zu bilden. Ist es diese Sorgfalt und Sachkenntnis der Öffentlichkeit, die Sie fürchten? Ist es diese Sachkenntnis der Bürgerinnen und Bürger, die Sie bewogen hat, noch rechtzeitig vor der Verabschiedung des Gentechnikgesetzes mit dem UVP-Gesetz die Auslegungs- und Einwendungsfristen von acht auf vier bzw. von vier auf zwei Wochen zu halbieren? ({13}) - Das glaube ich allerdings wirklich. Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist nicht nur ein Gebot des unserer Verfassung zugrundeliegenden Partizipationsgedankens, trägt sie doch durch die Vermeidung verengter Problemwahrnehmungen entscheidend zu einer differenzierteren Betrachtung und Bewertung bei und erhöht damit letztendlich auch den Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum der Behörden im Interesse aller. Ich würde mir wünschen, daß auch Sie dies endlich einmal nachvollziehen. Ich komme zum Ende. Meine Fraktion fordert in ihrem Änderungsantrag deshalb - jetzt haben Sie die Möglichkeit, auch zu zeigen, daß Sie nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger entscheiden wollen - , daß entsprechend den heute gültigen Regelungen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz Genehmigungsverfahren für alle gentechnischen Arbeiten zu gewerblichen Zwecken und für Produktionsanlagen aller Gefahrenstufen mit öffentlicher Beteiligung durchgeführt werden. Darüber hinaus wollen wir, daß die Öffentlichkeitsbeteiligung auf Freisetzungsvorhaben, auf Forschungsanlagen der beiden höchsten Sicherheitsstufen sowie auf gentechnische Forschungsarbeiten der Sicherheitsstufe 4 ausgeweitet wird. ({14}) Sie können diesem zustimmen. Dann würden Sie tatsächlich beweisen, daß Sie ein Gentechnikgesetz im Interesse der Bevölkerung verabschieden. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Bulmahn, Sie haben mit so großem Geschick Ihr Manuskript auf die rote Lampe gelegt, so daß es für Sie nicht möglich war, die korrigierenden Eingriffe des Präsidenten im Hinblick auf die Zeit zu beachten. ({0}) Der nächste Redner ist der Abgeordnete Eimer ({1}).

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir ist keine Technik, die der Mensch eingeführt hat, bekannt, die vor der Einführung so intensiv, so kritisch und mit solcher Vorsicht begleitet wurde wie die Gentechnik. ({0}) Ich will gerade in Richtung der GRÜNEN sagen: Keine Technik ist nur gut, keine Technik ist nur schlecht. ({1}) Es hängt nur davon ab, wie der Mensch sie einsetzt. Die Beiträge der GRÜNEN haben uns deutlich gemacht, daß sie von einer abgrundtiefen Technikfeindlichkeit gekennzeichnet sind. ({2}) - Warum sind Sie so aufgeregt? ({3}) - Ich kann ja ein bißchen warten, bis Sie sich beruhigt haben. Wir Freien Demokraten schätzen die Chancen der Gentechnik hoch ein: in der Landwirtschaft, in der Rohstoffgewinnung, bei Arzneimitteln und beim Umweltschutz. ({4}) Viele neue Krankheiten werden billiger, besser, sicherer und viele auch erstmalig bekämpft werden können. Aber wir verkennen nicht die Gefahren dieser neuen Technik. Die FDP hat sich sehr früh damit beschäftigt. Wir haben Anhörungen in unserer Fraktion veranstaltet, als sich der Bundestag damit noch nicht beschäftigt hat. Der Bundestag selbst - daran kann man nur immer wieder erinnern - hat sich mit der Einsetzung der Enquete-Kommission „Gentechnik" von Anfang dieser Sache intensiv angenommen. Das Gesetz, das wir heute vor uns liegen haben, ist ein Schutzgesetz. Dieses Gesetz ist ein Ergebnis der Diskussionen in der Enquete-Kommission. Wenn die Gentechnik völlig ungefährlich wäre, bräuchten wir dieses Gesetz natürlich nicht. Eimer ({5}) Ich habe Verständnis für die Angst der Bevölkerung; denn dies ist eine neue Technik, die noch nicht lange erprobt ist und mit der die Bevölkerung noch keine Erfahrung hat. ({6}) Natürlich ist auch Mißbrauch denkbar. Das Gentechnikgesetz wird nicht das einzige Gesetz sein, das wir brauchen, um vor Mißbrauch dieser Technik zu schützen. Es ist schon einiges aufgeführt worden, vor allem die Fortpflanzungsmedizin und die Genomanalyse. Es werden weitere Gesetze folgen. Das Embryonenschutzgesetz ist bereits eingebracht, und darüber wird diskutiert. Seit 1984, der Einsetzung der Enquete-Kommission, wird über die Chancen, die Risiken und die Notwendigkeiten von Gesetzen beraten. Ich möchte an dieser Stelle meinem Kollegen Kohn für die regelmäßige Information der Fraktion ausdrücklich danken; denn nur wer informiert ist, kann auch diese Technik beurteilen. Herr Kollege Catenhusen hat selbst darauf hingewiesen, daß sich der Bundestag schon seit Jahren intensiv damit beschäftigt. ({7}) Insofern kann von Durchpeitschen keine Rede sein. Ich bin mit Herrn Kollegen Catenhusen einig, daß sich der Unterausschuß bewährt hat. Das Gesetz ist durch die Beratungen besser geworden. Herr Catenhusen, Ihre Rede war im Gegensatz zu denen Ihrer Kolleginnen sehr sachlich. ({8}) - Es ist ja wirklich entsetzlich! Man kann nicht in Ruhe sprechen, ohne daß irgendjemand dazwischen-gackert. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege, ich darf Sie für einen Moment unterbrechen. Dies gilt nach allen Seiten. Es kommt nicht auf die Menge der Zwischenrufe an, sondern auf die Treffsicherheit. ({0}) - Ja. - Die Zwischenrufe habe ich auch bei anderen beobachtet. Gerade gegenüber einer Rednerin ist es manchmal sogar notwendig, eher einzugreifen. Ich habe das nicht getan. Nun muß es auch Herr Eimer ertragen.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie werden von mir eine derartige Flut von Zwischenrufen bisher nicht erlebt haben. Meine Damen und Herren, ich bin mit Herrn Catenhusen auch über die Beurteilung der Rolle der GRÜNEN einig. Das Nein allein genügt nicht. Mit Technikfeindlichkeit ist diesem Problem nicht gerecht zu werden. ({0}) Die Umweltprobleme, die aufgezählt worden sind, haben zum größten Teil mit Gentechnik nichts zu tun, aber ein Teil dieser Probleme ist mit Hilfe der Gentechnik zu lösen. ({1}) Daß wir Probleme mit der Natur auch ohne Gentechnik bekommen können, kann man daran ersehen, daß wir in der Vergangenheit Unheil angerichtet haben, indem wir Tiere aus fremden Lebensräumen anderswo eingeführt haben, von wo sie auch nicht mehr zurückzuholen waren. ({2}) Das ist also kein spezifisches Problem der Gentechnik. ({3}) - Nein, es zeigt nur, daß man die Technik und das menschliche Handeln überall sorgfältig kontrollieren muß und daß man die Probleme nicht nur einseitig bei der Gentechnik sehen kann. Vielmehr kann unser ganzes Handeln als Menschen gefährlich sein. ({4}) Wenn die GRÜNEN so sehr gegen Gentechnik sind, dann möchte ich ihnen allerdings die Frage stellen: Warum haben Sie die Vorsitzende bei der Abstimmung im Ausschuß allein gelassen? ({5}) Und warum haben sich die GRÜNEN im Ausschuß bei den Abstimmungen zum Gentechnikgesetz permanent der Stimme enthalten? ({6}) Ich kann nur feststellen: Für uns sind die GRÜNEN in diesem Falle kein seriöser Partner; wir haben von ihnen keine guten Anregungen bekommen. Was die SPD angeht, so bedauere ich, daß bei ihr ein Sinneswandel stattgefunden hat. Aber ich stelle fest, daß dieser Sinneswandel nicht durch neue Argumente hervorgerufen worden ist, sondern durch neue Abgeordnete im Deutschen Bundestag. ({7}) Meine Damen und Herren, wir glauben, daß dieses Gesetz ein Schutzgesetz ist für eine Technik, die verantwortbar ist. Deswegen werden wir diesem Gesetz zustimmen. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen ... heute ... nicht nur über die Menschen und die Probleme der Rechtsorganisation ihrer Gesellschaft, sondern über ein größeres Ganzes, nämlich die Natur, in die sie eingebettet und von der sie ein Teil sind. Wir müssen uns darüber klar werden, daß wir, wenn wir die Grundlagen der lebenden Natur, nämlich die Erbanlagen der Lebewesen, angreifen, zerstören und neu kombinieren, damit auch unser Menschsein und unser Menschenbild zerstören und neu kombinieren ... Wissen Sie, was hinter der Artenvielfalt bei den uns überkommenen Lebewesen steckt, welcher Sinn und welcher Zweck? Sie wissen es nicht. Und nicht nur Sie: Auch die Wissenschaftler wissen es nicht. Dennoch zögern sie nicht, die Überschreitung der naturgegebenen Artenschranke als „Fortschritt" zu feiern, obwohl sie nicht einmal vorhersehen können, in welche Barbarei dies ein Fortschritt ist. ({0}) Ich zitiere meine Kollegin Erika Hickel, die das vor sechs Jahren zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Gentechnik" gesagt hat. ({1}) Sie hat damals bedauert, daß Herr Minister Riesenhuber offensichtlich nichts an Geldmitteln zur Erforschung der Alternativen zur Gentechnik zur Verfügung gestellt hat, ({2}) daß ohne Not Millionen in diese Technik investiert wurden, die jetzt für andere menschen- und umweltverträgliche Techniken fehlen. ({3}) Ich kann Ihnen dies zurückgeben, Herr Kohn: Sie haben in diesen sechs Jahren nichts gelernt. Heute legen Sie nämlich ein Gesetz vor, und Gesetze werden gemacht, um den Gegenstand zu regeln und zu legalisieren. Herr Kohn, das Gentechnikgesetz ist ja nicht deshalb Ende der siebziger Jahre nicht gemacht worden, weil das Parlament zu langsam gearbeitet hätte, sondern weil die Industrie kein Interesse daran hatte; denn damals konnte man - bis heute - über die Richtlinien der ZKBS wesentlich besser im Dunkeln munkeln und ohne öffentliche Kontrolle forschen. ({4}) Das ist erst zu Ende gegangen, als die Gerichte diesen Zustand - nachdem sich kritische Bürgerinnen und Bürger eingeschaltet hatten - nicht weiter geduldet haben. ({5}) Darum wollen Sie dieses Gesetz im Hauruck-Verfahren durchziehen. Was Sie eben erzählt haben, entspricht nicht den Tatsachen. ({6}) Es gibt für uns im Parlament einen unglaublichen Wust von Gesetzen, eine Gesetzesflut, die wir bearbeiten müssen. Aber es gibt immer einige Gesetze, an denen sehr klar wird, wie eigentlich die Wertsetzung in der Gesellschaft ist und wie Parteien gewichten. Das Wort Partei ist sprechend. Es bedeutet, daß man Partei ergreifen muß für etwas, daß man sich entscheiden muß, was einem mehr wert ist, daß man also parteilich ist. Sie haben mit diesem Gesetzesvorhaben gezeigt, daß Sie parteilich sind für Innovationsinteressen, für Wirtschaftsinteressen, für Profit und für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. ({7}) Der EG-Binnenmarkt ist bei Ihnen einer der treibenden Kräfte für dieses EG-Gesetz gewesen. Es ist Ausdruck eines überkommenen und zerstörerischen Bewußtseins und entspricht der Auffassung von Forschung und Technologie, die seit 300 Jahren bei uns vorherrscht und die danach handelt, daß das, was möglich ist, was voraussichtlich Profit bringt und nicht verboten ist, gemacht werden kann und soll. ({8}) Wir sind selbstverständlich auch parteilich - ich sage Ihnen da nichts Neues - , aber anders. Wir sagen zu Ihren Prioritäten nein. Für uns haben die natürlichen Lebensgrundlagen, Sozialität, humanes Miteinander und Demokratie Vorrang. ({9}) Wir werden keine Abstriche machen und uns ohne Not nicht auf Technologien einlassen, bei denen diese Risiken bestehen, die beschrieben worden sind und von Ihnen in dem jahrelangen Diskussionsprozeß nicht von der Hand gewiesen werden konnten. Wir werden ohne Not keinen Geleitschutz geben oder Verschärfungen in einem Gesetz, das die Grundlage der Legalisierung dieser zerstörerischen Technik ist, unterstützen. Wir werden keinen Geleitschutz bei einem neuen Angriff auf unsere Lebensgrundlagen geben, wo die gesamte Politik und Gesellschaft bis heute nicht fähig sind, das wiedergutzumachen oder auch nur annähernd zu erfassen, was bisher schon an Zerstörungspotentialen geschaffen worden ist. ({10}) Ich sage Ihnen: Das ist ein Nein, aber kein unreflektiertes Nein. Wir schlagen in unserem Entschließungsantrag ein Moratorium von fünf Jahren vor als Denkpause, wo bilanziert wird, was bisher zum großen Teil wildwüchsig gemacht worden ist, ({11}) wo man Schlußfolgerungen zieht, eine Demokratisierung der Debatte vorantreibt und Alternativen erforscht. Herr Catenhusen, das, was Sie gesagt haben, stimmt nicht. Wir haben in der Enquete-Kommission „Gentechnik" ein Minderheitenvotum erarbeitet. ({12}) - Ich weiß, was Sie fragen wollen. Sie können es sich sparen. ({13}) - Nein, das haben Sie eben schon einmal gesagt. Die Konsequenzen aus diesem Minderheitenvotum können Sie bei uns Punkt für Punkt da, wo wir politisch in der Verantwortung sind - in den Kommunen, in den Landtagen und hier -, finden. Wir nehmen die in den einzelnen Bereichen - in der Landwirtschaftspolitik, in der Forschungspolitik, in der Ernährungs- und Entwicklungspolitik - skizzierten Vorgaben als Leitbilder und maßgebliche Maximen unserer Politik. ({14}) Ich sage Ihnen: Furcht ist kein schlechter Berater in der Politik, wenn Sie nicht blind, sondern sehend ist und erkennt, welche Potentiale vorhanden sind. In dem Sinne sind wir hier die Anwältinnen und Anwälte einer berechtigten Furcht vor unabsehbaren Folgewirkungen, die Sie aus niederem Profitinteresse der Bevölkerung auferlegen. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Voigt ({0}).

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Nickels, ich würde Ihnen in einigen Punkten gerne folgen, wenn wir uns tatsächlich einig wären, was Furcht und was Angst ist. Ich hatte aber eigentlich in der Vergangenheit immer den Eindruck, daß aus Ihrer Fraktion heraus mehr die irrationale Angst geschürt wurde und die gezielte Furcht, über die man durchaus diskutieren kann, keine Rolle gespielt hat. Das Moratorium ist heute schon mehrfach erwähnt worden. ({0}) Seitdem sind dreieinhalb Jahre vergangen. Wie Minister Riesenhuber eben gesagt hat, wird in diesem Frühjahr das erste Freisetzungsexperiment erfolgen. Ich möchte noch einige andere Bemerkungen zu dem machen, was in den letzten Beiträgen gesagt worden ist. Herr Catenhusen, ich möchte noch einmal auf den korrekten Zeitpunkt eingehen. Wir waren uns doch eigentlich alle einig, daß wir mit der Arbeit der Enquete-Kommission zum richtigen Zeitpunkt begonnen haben. Wir waren uns alle einig, daß zu dem Zeitpunkt, als wir mit der Arbeit begonnen haben, ein Gentechnikgesetz sicherlich verfrüht gewesen wäre, weil wir die Grundkenntnisse einfach noch nicht hatten. ({1}) - Ja, Sie wollten es aber auch nicht. Die ersten Ansätze gab es ja unter einer anderen Regierung. Wir waren uns auch darüber im klaren, daß wir den Zeitpunkt sehr günstig gewählt hatten, weil es noch nicht zu viele Vorgaben gab, die wir durch ein Gentechnikgesetz hätten korrigieren müssen. Dann ist dieser Bericht in den Bundestag gegangen. Damals waren wir uns wiederum einig, daß wir diesen Bericht beraten und danach das Gesetz machen wollten. Nun kann man sich darüber streiten, wie intensiv die Regierung hätte vorarbeiten sollen. ({2}) Man kann sich auch darüber streiten, wann die beiden Koalitionsfraktionen hätten anfangen sollen, innerhalb ihrer eigenen Reihen zu einer einheitlichen Meinung zu kommen. Darüber kann man sich unterhalten. Jetzt haben wir das Gesetz auf dem Tisch, in das aus unserer Sicht die wesentlichen Merkmale, die in der Enquete-Kommission formuliert worden sind, übernommen worden sind. Das ist doch im Grunde genommen ein sehr positiver Vorgang, der einem demokratischen Entwicklungsprozeß im Parlament entspricht. Nun lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen - ich habe das schon bei der Einbringung gesagt -: Die ZKBS-Richtlinien haben in den vergangenen Jahren ihre Funktion erfüllt. Sie haben dazu geführt, daß ein hohes Maß an Vertrauen in die Wissenschaft, die sich diesen ZKBS-Richtlinien unterworfen hat, auch in der Bevölkerung gewachsen ist. Wer das negiert, geht an den Realitäten vorbei. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß wir mit diesen ZKBS-Richtlinien auch die nächsten Jahre hätten bestehen können. Ich plädiere trotzdem dafür, daß wir dieses Gesetz machen - ich habe das auch bei der Einbringung gesagt -, weil wir verpflichtet sind, eine Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu erreichen. Diese Akzeptanz ist nur zu erreichen, indem wir ganz bestimmte Regeln vorgeben, innerhalb derer Experimente im Bereich der gentechnischen Anwendung gemacht werden sollen. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Ich wollte nur noch einige Bemerkungen zu dem machen, was Frau Bulmahn erwähnt hat, und was auch Sie, Frau Nickels, eben so kämpferisch in den Raum gestellt haben. Können Sie sich nicht vorstellen, daß es in einer christlichen Partei auch Menschen gibt, die glauben, daß die positiven Auswirkungen und die positiven Möglichkeiten, die man mit der Gentechnik erreichen kann, auch dazu beflügeln können, ein vernünftiges Gesetz zu machen? Warum müssen Sie uns eigentlich immer unterstellen, daß wir nur dem Profit nachjagen? Es gibt bei uns durchaus Menschen - ich gehöre dazu -, die es in Anbetracht dessen, was sie in der Dr. Voigt ({3}) Welt sehen, für notwendig halten, daß wir mit dieser Technik umgehen, um vernünftige Dinge zu tun. ({4}) Ich wehre mich dagegen, daß wir immer in diese Ecke gestellt werden. ({5}) - Frau Bulmahn, Sie haben das genauso getan. ({6}) - Dann melden Sie sich. Ich versuche, auf das zu antworten, was Sie vorhin gesagt haben. Es läuft ja auf dasselbe hinaus. Also, ich wehre mich mit Nachdruck dagegen und weise das für meine Fraktion eindeutig zurück. ({7}) - Für die Koalition; vielen Dank, Herr Kohn. Jetzt bekomme ich auch den Applaus von der FDP. ({8}) - Ich glaube es schon. Ich habe bisher keinen Anlaß zu glauben, daß christliche Gedanken dort keine Rolle spielen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lippelt?

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Voigt, könnten Sie mir darin folgen, daß vor etwa 100 Jahren Christen, Politiker und Wissenschaftler über die segensreichen Wirkungen der Chemie so gesprochen haben wie Sie jetzt und daß wir trotzdem heute in der Muttermilch, und zwar weltweit, ohne daß wir es einholen können, PCBs haben? Könnten Sie mir darin folgen, daß sie möglicherweise, ganz ohne irgend etwas zu unterstellen, jetzt genauso über die Segen der Bio- und der Gentechnologie denken und daß wir trotzdem in 50 oder 60 Jahren eine biologische Umweltverschmutzung haben könnten, die gefährlicher sein könnte als die chemische Umweltverschmutzung, die wir haben und die schon schlimm genug ist? Könnten Sie mir darin folgen, daß sie möglicherweise noch weniger einholbar ist als bei den PCBs, wo es schon heute unmöglich ist, sie wieder einzusammeln?

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen darauf eine ganz simple Antwort geben. Ich glaube, daß auch wir - und nicht nur vielleicht Sie in Ihrem Selbstverständnis - eine ganz andere Bewertung in dieser Frage haben und daß wir heute mit einer ganz anderen Grundeinstellung, auch was die Abschätzung der Folgen angeht, an solche Fragen herangehen. Damit möchte ich diese Frage beantworten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme noch einmal auf einen Punkt zurück, der mir sehr am Herzen liegt. Frau Blunck, Sie haben das aufgegriffen, daß mit diesem Gesetz und auch mit anderen Gesetzen, die wir dann wahrscheinlich in diesem Zusammenhang noch machen wollen, die Polarisierung in der Bevölkerung zunehmen wird. Ich wage zu behaupten, das Gegenteil wird der Fall sein, wenn wir ganz bestimmte Dinge darüber hinaus einhalten. Wir alle haben in den letzten Tagen sehr intensive Briefe von Bürgern und von Gruppen, von Menschen aus der Bevölkerung, bekommen, die uns darauf aufmerksam gemacht haben, daß sie sich mit diesem Problem intensiv beschäftigt haben. Ich muß sagen, im Gegensatz zu anderen in der Öffentlichkeit sehr intensiv diskutierten Fragen waren diese Biefe eigentlich sehr häufig von sehr viel Sachkenntnis und auch von einem ehrlichen Engagement getragen. Es war also nicht nur so, daß man aus diesen Briefen rundweg eine Ablehnung entnehmen konnte, sondern daß man Sorgen entnehmen konnte, aber daß man auch akzeptieren konnte, daß hier ein intensiver Prozeß der Beschäftigung mit dieser Frage eingeleitet worden ist. Wenn wir unsere Aufgabe nach der Verabschiedung dieses Gesetzes und des Embryonenschutzgesetzes, das in meinen Augen dazu dient, die Akzeptanz in der Bevölkerung zu verbessern, darüber hinaus weiter wahrnehmen wollen, dann sind wir verpflichtet, denjenigen zur Verfügung zu stehen, die die Diskussion in Zukunft mit uns wollen. Es sind aber auch die anderen verpflichtet, in einen sehr intensiven Diskussionsprozeß einzutreten, die nämlich auch auf die Meinungsbildung Einfluß haben. Dazu rechne ich die Medien, und ich rechne auch die Wissenschaftler dazu. Wir haben durchaus positive Aspekte, die wir den Bürgern sehr gut klarmachen können. Aber in einem so komplexen Thema, das mit so hoher Sensibilität in der Bevölkerung diskutiert wird, geht es eben darum, daß möglichst viele, möglichst alle, die Verständnis und tiefen Einblick in die Gentechnologie haben, sich an diesem Diskussionsprozeß beteiligen. Es kann nicht so sein - das möchte ich mit Nachdruck betonen - , daß wir aus dem Parlament heraus diese Diskussion alleine führen, sondern wir brauchen die Partner der Wissenschaft, und wir brauchen die Partner in den Medien. In den Medien brauchen wir sie unter dem Gesichtspunkt, daß sie bereit sind, nicht nur dem einen oder anderen Wissenschaftler, der ihrer Couleur entspricht, zuzuhören, sondern daß sie mit denjenigen kritisch umgehen, die ihnen die Informationen zuspielen, daß sie kritisch bewerten und daß wir im Grunde genommen aus dem Halb- und Viertelwissen, das zum Teil die Meinungen beeinflußt, zu einem wesentlich höheren Prozentsatz an Wissen als Grundvoraussetzung für Informationsweitergabe kommen. Ich möchte darüber hinaus einen weiteren Punkt anschneiden. Dieser Diskussionsprozeß soll in einen Lernprozeß hineinführen, der dazu führen soll, daß die Akzeptanz erhöht wird. Ich glaube auch, wir müssen die Scientific Community, die Wissenschaftsgesellschaft, ermuntern und auffordern, auch in ihren Reihen dafür zu sorgen, daß die Attraktivität des Themas nicht dazu genutzt wird, in der Presse die eigene Eitelkeit befriedigen zu lassen. Sehr häufig sind Teilmeldungen, Überbewertungen von Einzelaussagen in der Öffentlichkeit weitergegeben worden. Sie haben ein völlig falsches Bild auf das Ergebnis selbst geworfen Dr. Voigt ({0}) und mithin die Glaubwürdigkeit des einen oder anderen Wissenschaftlers in der Folgezeit reduziert. Ich glaube, daß diese Punkte in dem zukünftigen Prozeß sehr wichtig sein werden. Wenn wir außerhalb des Parlaments - diese Dinge können wir nur mittelbar beeinflussen - dafür werben, daß diese Technik neben den von uns durchaus erkannten Gefahren, die wir mit diesem Gesetz und anderen Gesetzen zu verhindern versuchen wollen, unwahrscheinlich dazu beitragen kann, das Leben für die Zukunft vernünftig zu gestalten, und ein Zugewinn an Humanität ist, und wenn wir das gemeinsam tun, dann werden wir mit der Gentechnik innerhalb der Bevölkerung eine vernünftige Akzeptanz bekommen. Ich bedanke mich. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Stiegler.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Voigt hat eben sehr deutlich darauf abgehoben, daß es ihm um die Akzeptanz geht. Wenn man die jüngste Diskussion verfolgt und die Legitimation von Dingen durch das Verfahren sieht, dann haben Sie diese Legitimation in zweierlei Weise sehr gefährdet. Da ist einmal das Verfahren hier im Parlament - das hat der Kollege Catenhusen dargetan - , das mehr von der Furcht vor den Niedersachsen bestimmt war als von den Notwendigkeiten der Sache, was die Terminabläufe betrifft. ({0}) - Mit Nichtwissen. - Das zweite ist das Verfahren in dem Gesetz. Darauf hat Frau Bulmahn hingewiesen. Wenn man für so etwas eine Legitimation haben will, dann muß man die Verfahrensgestaltung so machen, daß niemand Angst haben muß, daß ihm in einem Arkanverfahren heimlich etwas aufgestülpt wird und heimlich etwas zugemutet wird, von dem er nichts weiß und das er nicht durchschauen kann. Deshalb werden Sie mit diesem Gesetz keine Akzeptanz erreichen, weder durch das Gesetzgebungsverfahren selbst noch durch das Verfahren, das Sie drinnen vorgesehen haben. Zum zweiten bin ich dem Bundesforschungsminister zunächst einmal dankbar, daß er deutlich gemacht hat - entgegen manchen Verlautbarungen, die im parlamentarischen Raum zu hören waren -, daß es sich eben nicht um ein Fördergesetz handelt - mir ist wichtig, daß das hier im Protokoll steht -, sondern daß es sich um ein Schutzgesetz handelt und daß die Regierung, wenn sie fördern will, dem Schutzzweck verpflichtet bleibt und verpflichtet ist und daß der Schutzzweck den Rahmen darstellt. Ich sage deutlich: Wir sollten nicht die falschen Stichworte aufgreifen, um zu verhindern, daß das Gesetz später verkehrt ausgelegt wird. Es handelt sich um ein Schutzgesetz. Wer fördern will, ist dem Schutzgesetz verpflichtet. Was mir besonders am Herzen liegt, ist die Frage der Haftung und der Regelung im Hinblick auf etwaige Schäden. Wir haben den Eindruck, daß Sie ein Gesetz geschaffen haben, das eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung für die Risiken der Gentechnologie begründen soll. Deshalb werden wir diesen Haftungsregelungen und diesem Gesetz nicht zustimmen. Der Ansatzpunkt, von der Gefährdungshaftung auszugehen, ist zwar richtig, aber das, was Sie hier als Minimalgefährdungshaftung vorgesehen haben, ist noch nicht das Haftungsrecht für die Risikogesellschaft, das wir gemeinsam entwickeln müssen. Wir haben in der Enquete-Kommission relativ sorgfältig zusammengearbeitet und waren uns bewußt, daß neuartige Gefahren bewältigt werden müssen. Wir alle sind uns auch bewußt, daß es sehr leichtfertig ist, hier von Verantwortung zu reden. Was kann ein Minister mit begrenzter Amtszeit - selbst wenn er lebenslang Minister wäre - überhaupt verantworten, wenn die Schäden vielleicht in 50, in 60, in 100 und mehr Jahren eintreten? Was will ein einzelnes Unternehmen verantworten, wenn die Schäden der Breite, der Tiefe nach überhaupt nicht übersehbar sind? Das ist so, als wenn jemand sagen würde: Ich fahre bei Nebel mit 200 Sachen und verantworte es, wenn mir etwas passiert. Es ist doch so, daß dem Problem mit dem Stichwort „Verantwortung" und mit den Grundsätzen des alten Haftungsrechts überhaupt nicht beizukommen ist. In der Risikogesellschaft funktioniert das alte Haftungsrecht, selbst das Recht der Gefährdungshaftung, so jedenfalls nicht mehr. Es ist in der Zeit der Industriegesellschaft im Hinblick auf den Autoverkehr, den Eisenbahnverkehr entstanden. Man hat gesehen: Auch wenn kein Schuldvorwurf zu erheben ist, wird es Schäden geben, wird es immer wieder Probleme geben. Aber all das waren Schäden, die überschaubar waren, die überblickbar waren, die sozusagen berechenbar waren. Demgegenüber können wir in dieser Zufallssituation, in der Situation, daß sich Schäden über Generationen hinweg akkumulieren können, daß Synergismen auftreten können, nicht mehr mit dem alten Haftungsrecht arbeiten. Wir hätten die Chance gehabt, für diese Technologie und für andere Technologien das Haftungsrecht der Risikogesellschaft, um einen Ausdruck von Böhm aufzugreifen, zu schaffen. Sie haben zunächst einmal mit einer Haftungsbegrenzung auf 160 Millionen DM angefangen. Das ist zwar viel Geld, aber 160 Millionen DM sind bei Massenschäden sehr schnell weg. Wir wissen, bei Pharmaschäden gibt es ganz andere Haftungshöchstgrenzen. Wir wissen, daß auf diese Art und Weise jedenfalls die potentiellen Schäden nicht abgedeckt werden. Sie haben praktisch eine Haftungsbeschränkung eingeführt. Ein großer Konzern, für den 160 Millionen DM nicht die Welt sind, kann Risiken auf Kosten der gesamten Gesellschaft eingehen, auch wenn sie wesentlich weiter reichen. Dies wird nicht zur Akzeptanz beitragen. Ein zweites. Sie haben Schmerzensgeld unter Hinweis darauf verweigert, das Recht der Gefährdungshaftung kenne normalerweise kein Schmerzensgeld. Es ist aber gerade so: Wenn wir Handlungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit so weit interpretieren, daß jemand unübersehbare Folgen induzieren kann, dann muß auf der Kompensationsseite wenigstens die Fort15982 entwicklung vorgenommen werden, daß der Geschädigte Schmerzensgeld bekommt und nicht parallel dazu die verschuldensabhängige Haftung weiter in Anspruch nehmen muß. Hier in der Bundesrepublik ist es wesentlich schwieriger, sein Recht zu verfolgen, als das in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Diese Spaltung gibt es ja in erster Linie bei uns. Es wäre gerade in diesem Bereich akzeptanzfördernd gewesen, wenn man das Schmerzensgeld gerade als Haftungsrecht der Risikogesellschaft eingeführt hätte. Wir als Gesetzgeber erlauben Wissenschaftlern und Gewerbebetrieben, Risiken einzugehen, wie sie in der bisherigen Technikgeschichte noch nicht eingegangen worden sind. Demgegenüber sehen wir eine Haftung vor, wie sie bisher für den Eisenbahnverkehr und für den Autoverkehr üblich war. Dieses paßt nicht zusammen, dieses ist ungleichgewichtig. Es fehlt ein drittes: Das ist eine vernünftige Beweislastregelung. Sie haben sich zwar dankenswerterweise einen Schritt nach vorne bewegt; aber angesichts einer Technik und einer Wissenschaft, die für die breiten Schichten kaum durchschaubar ist, die selbst für die Eingeweihten kaum durchschaubar ist, weitgehend dem Anspruchsteller die Beweislast aufzubürden, heißt auf deutsch, ihn weitgehend rechtlos zu machen. Deshalb ist der Schritt, den Sie getan haben, durchaus zu begrüßen, aber der Antrag, den die SPD-Fraktion eingebracht hat, geht wesentlich weiter und würde dem Geschädigten ein Stück Waffengleichheit geben. Hier haben wir doch das Problem, einerseits hochorganisierte Forschungskomplexe mit fast unendlichen Kapitalressourcen, mit fast unendlicher juristischer Beratung und auf der anderen Seite Betroffene, die vielleicht auf ein paar Bürgerinitiativen und Fachleute, die sich zur Mitarbeit dort bereit erklären, zurückgreifen können. Hier ist keine Waffengleichheit, weder durch den Auskunftsanspruch noch durch die Beweislastregelung, gewährleistet. ({1}) Die Beweislastregelung muß unbedingt nachgebessert werden. Daß Sie die nicht vorgesehen haben, zeigt, daß Sie im Grunde die Bürger rechtlos stellen wollen. Das ist noch begleitet von einer Verjährungsregelung. Während wir die Regelung nach dem BGB fordern, haben Sie eine dreijährige Verjährungsfrist vorgesehen. Das bedeutet eine zusätzliche Erschwerung der Rechtsverfolgung für den Bürger. Meine Damen und Herren, dieses Haftungsrecht ist völlig unzureichend. Der frühere Zustand - man muß sich das einmal vorstellen - kann gar nicht wiederhergestellt werden - wie es Grundlage dieses Haftungsrechts ist -, wenn die Dinge unwiederholbar sind. Und wenn es um materiellen Ersatz geht, haben Sie Obergrenzen eingezogen. Dieser Teil der Wiedergutmachung ist im Haftungsrecht nicht gewährleistet. Noch viel wichtiger ist, daß die Vorwirkung eines anständigen Haftungsrechts, die dazu führt, daß man Risikoforschung, Sicherheitsforschung aus der Sorge betreibt, hinterher haften zu müssen, durch dieses leichte Haftungsrecht eben nicht gewährleistet ist. Wer nicht damit rechnen muß, voll verantwortlich gemacht zu werden, der wird auch etwas lax sein, wenn es um die Sicherheitsvorschriften geht. Und diese Vorwirkung des Haftungsrechts ist doch das Entscheidende. Wir müssen demjenigen, der die Chancen realisieren will, durch das Haftungsrisiko ungeheuer viel Druck und Veranlassung geben, Risikovorsorge und Schutz für die anderen Betroffenen zu betreiben. Meine Damen und Herren, wir haben hier die Chance gehabt, unser Haftungsrecht fortzuentwikkeln, nicht um die Gentechnologie zu erdrosseln, sondern um ihre Akzeptanz zu verbreitern und eine Haftung zu schaffen, die wirklich der Risiko-Gesellschaft gerecht wird. Diese Chance zu nutzen, waren Sie leider nicht bereit. Statt dessen haben Sie eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung für die Risiken der Gentechnologie begründet. Dieser Gesellschaft werden wir nicht zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat Frau Professor Lehr, Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es sehr, daß heute über den Entwurf des Gentechnikgesetzes abschließend beraten werden kann. ({0}) Wir betreten mit diesem Entwurf Neuland. Wir haben es - und das wurde hier bisher ja sehr deutlich - mit einer sachlich und rechtlich schwierigen Materie zu tun, die öffentlich sehr kontrovers diskutiert worden ist. Die Diskussion in den Ausschüssen, insbesondere im Unterausschuß des Gesundheitsausschusses, wurde dabei engagiert, diszipliniert und auf hohem Niveau geführt. ({1}) Sie hat nicht nur der Streitkultur im Parlament ein gutes Zeugnis ausgestellt, sondern sie ist auch dem Gesetzentwurf zugute gekommen. Dafür verdienen alle Beteiligten Dank und Anerkennung, insbesondere die Mitglieder des Unterausschusses, dessen Vorsitzender und der Berichterstatter.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zander?

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Nein, ich möchte gern vortragen. Es ist jetzt viel über einzelne Aspekte des Gesetzentwurfs geredet worden. ({0}) Ich halte es für notwendig, noch einmal auf die Grundsätze zurückzukommen. Wir sollten über den Einzelheiten das Grundanliegen des Gesetzentwurfs nicht aus den Augen verlieren. ({1}) Die Gentechnik ist mit Chancen und mit Risiken verbunden. Beide Aspekte machen eine gesetzliche Regelung nötig. Mensch und Umwelt müssen vor möglichen Risiken beim Ungang mit der Gentechnik und mit gentechnisch veränderten Organismen geschützt werden. Zugleich aber ist ein verläßlicher, kalkulierbarer rechtlicher Rahmen Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Gentechnik in der Forschung und in der industriellen Produktion. Beide Zielsetzungen sind in der Zweckbestimmung des § 1 des Entwurfs aufgenommen. Ich bekenne mich als Gesundheitsministerin ganz ausdrücklich zu dieser doppelten Zielsetzung. Daß mir der Schutz von Mensch und Umwelt vor den Gefahren der Gentechnik ein wichtiges Anliegen ist, ist selbstverständlich. Doch gerade Gesundheitspolitiker müssen auch daran interessiert sein, daß die positiven Potentiale der Gentechnik weiterentwickelt werden können. ({2}) Die Gentechnik eröffnet uns neue Zugänge zum Verständnis von Krankheiten, zur Diagnose, zur Therapie. Wer sich der Gentechnik gegenüber nur in der Rolle des Verhinderers übt, wird deshalb seiner Verantwortung als Gesundheitspolitiker, ja generell als Politiker nicht gerecht. ({3}) Ziel des Gentechnikgesetzes muß es sein, Risiken für Mensch und Tier auszuschließen, zugleich aber die Chancen der Gentechnik zu bewahren. Damit verbieten sich pauschale, undifferenzierte Lösungen. Generelle Verbote, auch wenn sie mit dem Etikett „Moratorium" versehen sind, werden diesem Anspruch nicht gerecht. Sie sind gerade bei der Gentechnik ein viel zu grobschlächtiges Instrument. Gefordert ist eine differenzierte, präventive Kontrolle in jedem Einzelfall. Diese Kontrolle muß Schritt für Schritt den Nachweis erbringen, daß unvertretbare Risiken für den Menschen und die Umwelt nicht zu erwarten sind. Dann allerdings, wenn diese Gewähr gegeben ist, besteht ein Anspruch auf Genehmigung der gentechnischen Arbeit oder der Freisetzung. Die nötigen Einzelfallentscheidungen verlangen qualifizierten, breit angelegten Sachverstand. Deshalb sind mit den Entscheidungen sachkundig besetzte Behörden zu betrauen. Sie haben vor der Entscheidung den Rat eines mit bestens ausgewiesenen Experten besetzten Sachverständigengremiums einzuholen. Der Gesetzentwurf konstituiert deshalb die Zentrale Kommission für die biologische Sicherheit und schreibt ihre Beteiligung bei allen wesentlichen Entscheidungen vor. Meine Damen und Herren, das ist das Grundkonzept des Regierungsentwurfs zum Gentechnikgesetz, nämlich Schutz von Mensch und Umwelt durch präventive, differenzierende Kontrolle in jedem Einzelfall durch sachkundige Behörden mit Unterstützung externer Sachverständiger und großzügige Haftungsregelungen für den Schadensfall, alles noch abgesichert durch staatliche Überwachung und generalpräventive Straf- und Bußgeldvorschriften. Diese Grundkonzeption ist bereits in den vom Bundeskabinett 1988 verabschiedeten Eckwerten zur Gentechnik vorgezeichnet. Das Gesetzgebungsverfahren hat sie bestätigt und ausgebaut - zu Recht, denn es gibt dazu keine vernünftige Alternative. Unser Grundkonzept ist internationaler Standard. ({4}) Ihm lagen schon die bewährten Genrichtlinien des Forschungsministeriums zugrunde. Die EG-Richtlinien zur Gentechnik gehen von diesem Konzept aus, und auch die vom Gesundheitsausschuß durchgeführte Anhörung hat grundsätzlich andere Lösungsansätze nicht aufgezeigt. ({5}) Ich sage das so nachdrücklich, auch um dem hier verschiedentlich hervorgerufenen Eindruck entgegenzutreten, vom Entwurf der Bundesregierung sei im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Sicherlich: Es gibt eine große Zahl einzelner Änderungen, deswegen aber noch lange keinen neuen Gesetzentwurf, Herr Catenhusen. ({6}) Die Grundkonzeption des Regierungsentwurfs ist weder vom Bundesrat noch bei den Beratungen in den Ausschüssen ({7}) auch nur in einem einzigen wichtigen Punkt in Frage gestellt oder geändert worden. ({8}) Die Änderungen am Regierungsentwurf kommen im wesentlichen aus drei Richtungen. Sie betreffen erstens Angleichungen an den sich ändernden Beratungsstand der EG-Richtlinienvorschläge zur Gentechnik. Zweitens greifen sie Änderungswünsche der Länder auf. Drittens und nicht zuletzt kommen sie aus den Ausschußberatungen im Bundestag. Diese Änderungen sind auch aus Sicht der Bundesregierung als Verbesserungen anzusehen. ({9}) Das gilt beispielsweise für die maßvolle Erweiterung der ZKBS, die Konkretisierung ihrer Zusammensetzung und die Verbesserung der Transparenz ihrer Arbeit. Das gilt aber ebenso für die Haftungsvorschriften, bei denen zugunsten des Geschädigten eine Kausalitätsvermutung eingeführt wird, und für die Regelung, nach der der Haftungsausschluß für höhere Gewalt entfallen soll. Ich stimme auch damit überein, daß der Gesichtspunkt der Förderung der Gentechnik in den Wortlaut des § 1 des Gesetzentwurfs aufgenommen wird. Ich habe die positiven Aspekte der Gentechnik kurz angesprochen. Wegen dieses unleugbaren Nutzens der Gentechnik, ({10}) den Kollege Riesenhuber aufgezeigt hat, ist die Bundesregierung nicht nur zur Förderung berechtigt, sondern meines Erachtens in Einzelbereichen sogar dazu verpflichtet. Sie kommt dieser Verpflichtung auch nach. ({11}) Diese Förderung, die im übrigen auch die Sicherheitsforschung mit einschließt, gibt es in erheblichem Umfang auch im Ausland. Zudem wurde sie in der Bundesrepublik nicht erst von der gegenwärtigen Bundesregierung begonnen. Nun heißt es hier in der Diskussion, der Förderungsgedanke verwässere den Schutzzweck des Gesetzes. - Meine Damen und Herren, nach § 1 des Entwurfs ist neben dem Schutz von Mensch und Umwelt Zweck des Gesetzes - Herr Kollege Riesenhuber hat bereits darauf hingewiesen; ich zitiere - , „den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen". ({12}) Die Förderung der Gentechnik wird also als gegeben vorausgesetzt. Dieser bestehenden Förderung soll vom Gentechnikgesetz ein Rahmen gesetzt werden. ({13}) Ich kann wirklich nicht verstehen, was es dagegen einzuwenden gibt. ({14}) Der Regierungsentwurf knüpfte bei der präventiven Einzelfallkontrolle an der jeweiligen gentechnischen Arbeit an. Das ist sachgerecht; denn mögliche Risiken sind für jede einzelne Arbeit grundsätzlich erneut zu prüfen und zu bewerten. Dieser tätigkeitsbezogenen Kontrolle soll nun eine anlagenbezogene Kontrolle vorangestellt oder zur Seite gestellt werden. Gegen diese auf die Anlage bezogene Betrachtungsweise bestehen keine Bedenken, solange nicht ihretwegen die präventive Kontrolle der einzelnen Arbeiten vernachlässigt wird. Deshalb stellen die auf Antrag der Koalitionsfraktionen vom Ausschuß beschlossenen Änderungen eine in sich geschlossene Kombination von Anlagen- und Tätigkeitskonzept dar. In erster Linie verantwortlich für den Vollzug des Gesetzes in diesem Bereich sind die Länder. Das war nach dem Regierungsentwurf anders. Dafür gab es gute Gründe. Allerdings glauben wir, daß das Ziel einer einheitlichen Anwendung der Vorschriften des Gesetzes letztlich auch beim Vollzug durch die Länder erreicht werden kann. Voraussetzung ist allerdings, daß möglichst bald nach dem Gentechnikgesetz auch die wichtigsten konkretisierenden Rechtsverordnungen in Kraft treten. Das Bundeskabinett hat über diese Verordnung gestern beschlossen. Voraussetzung ist weiter, daß bald alle zuständigen Behörden der Länder über die erforderlichen sachkompetenten Mitarbeiter verfügen. Voraussetzung ist schließlich, daß sich die fachliche Autorität der ZKBS bei den zuständigen Behörden durchsetzt. Gestatten Sie mir zum Schluß noch einige Bernerkungen zum Entschließungsantrag und zu den Änderungsanträgen der SPD. Meine Damen und Herren von der SPD, mit Ihren Vorstellungen über die Ziele eines Gentechnikgesetzes, wie sie in Ihrem Entschließungsantrag und in Ihren Änderungsanträgen zum Ausdruck kommen, bin ich völlig einverstanden. ({15}) Dort heißt es nämlich: Schutz von Mensch und Umwelt; Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit; Rechtssicherheit für Wissenschaft und Industrie. Ich bin auch mit vielen inhaltlichen Forderungen einverstanden, die Sie aus dieser Zielsetzung ableiten, z. B. damit, daß das Genehmigungsverfahren für Freisetzungen als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet sein soll, ({16}) oder mit der Forderung nach Gefährdungshaftung mit Beweiserleichterung. ({17}) Doch das steht ja auch im Gesetzentwurf und braucht deshalb nicht mehr gefordert zu werden. ({18}) Es gibt allerdings auch unterschiedliche Auffassungen: ({19}) Wir wollen z. B. kein Versagungsermessen bei der Freisetzung. Im Genehmigungsverfahren soll mit aller Sorgfalt geprüft werden, ob Risiken für Mensch und Umwelt ausgeschlossen werden können. Wenn das aber feststeht, soll es auch einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung geben. Für uns ergibt sich das aus dem Ziel der Rechtssicherheit, das Sie ja auch verfolgen. Wir sind grundsätzlich für Öffentlichkeitsbeteiligung. Aber wir sehen keinen Sinn in diesem Verfahren bei jeder Arbeit der Sicherheitsstufe 1, die ja auch nach Ihren Anträgen gerade dadurch definiert ist, daß es hier Gefahren für Mensch und Umwelt gar nicht gibt. Das sind nur Beispiele, aber sie zeigen, daß wir im Streit um den richtigen Weg zum gemeinsam angestrebten Ziel so weit gar nicht auseinanderliegen. Und Ihr Abstimmungsverhalten im Ausschuß ({20}) ist ja auch durchaus differenziert zu sehen. ({21}) Ich kann nur sagen: Dieses Gesetz ist sorgfältig beraten worden, in seinen Ausformulierungen immer wieder überdacht und durch neue Formulierungen verbessert worden. Einen allgemeinen Konsens über alle Aspekte des Entwurfs herzustellen, dazu hätte allerdings wohl auch jede beliebige Verlängerung der Beratungszeit nicht ausgereicht. Das ist bei dem breiten Meinungsspektrum zur Gentechnik in diesem Hause einfach nicht möglich gewesen. Die unterschiedlichen Positionen sind zu deutlich, auch wenn man sich in einigen Punkten ein Stück nähergekommen ist. Die Zeit ist nun reif für eine Entscheidung. ({22}) Die Gentechnik wird sich weiterentwickeln, die Erfahrungen werden wachsen. Die rechtliche Grundlage dafür bietet dieses Gesetz. Es ist eine solide Grundlage für die weitere Entwicklung und Nutzung der Gentechnik in den Grenzen, die ihr zum Schutz von Mensch und Umwelt gezogen werden müssen. ({23})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Becker-Inglau.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion um das Durchpeitschen des Gentechnikgesetzentwurfs hat neben dem Aufzeigen der inhaltlichen Schwachpunkte und Unzulänglichkeiten auch die meines Erachtens positive Wirkung gehabt, daß eine Gott sei Dank breiter werdende Öffentlichkeit auf die Technologie aufmerksam wurde. Die Frage „Was steckt eigentlich dahinter, daß der Deutsche Bundestag ein Gesetz in einem solchen Schweinsgalopp verabschieden muß?" drängt sich auf, wenn man weiß, daß über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren über Gentechnologie nachgedacht und geforscht wurde. Eine Antwort konnte in der heutigen Debatte bisher nicht gegeben werden. Auch Frau Professor Lehr als für dieses schlampige Gesetz Verantwortliche hatte keine. Frau Ministerin, wir hätten im Ausschuß oder im Unterausschuß mit Ihnen gern - wenigstens einmal - über die Inhalte dieses Gesetzes diskutiert. ({0}) Aber dazu haben Sie uns leider überhaupt keine Gelegenheit gegeben. Na ja, wer weiß, wofür es denn gut war. ({1}) Frau Ministerin, es freut uns zu hören, daß das Kabinett gestern den Verordnungen zum Gesetz zugestimmt hat. Hoffentlich mußten Sie nicht wie wir - aber wir sind ja nur Parlamentarier - über eine Tischvorlage abstimmen und entscheiden. Wenn man vor allem bedenkt, daß selbst zwischen der Fertigstellung des Berichts der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" und der Einbringung eines - wie es in diesem Hohen Hause auch heute häufig unbestritten erschien - den Anforderungen einer solchen Technologie nicht gerecht werdenden Gesetzes drei Jahre gelegen haben, muß sich die Bundesregierung fragen lassen, warum sie ein Interesse daran hat, eine gründliche Beratung eines solch einschneidenden und weitgreifenden Gesetzes im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu verhindern. ({2}) - Die Tischvorlage mit den Veränderungen der Verordnungen. ({3}) - Nein, nicht unsere, sondern die Verordnungstischvorlage, die uns in der letzten Sitzung des Unterausschusses in völlig veränderter Fassung zugeleitet worden ist. Außerdem drängt sich dann die Frage auf, warum die Koalitionsfraktionen eigentlich die Glaubwürdigkeit des Parlaments auf diese Art und Weise verspielen, indem sie dieses Vorgehen der Bundesregierung bei der Verabschiedung des Gesetzes nicht nur unterstützen; nein, sie haben das Vorhaben sogar noch provoziert und gefördert. Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich bewußt geworden, daß Sie das in uns gesetzte Vertrauen mit Füßen treten, und sind Sie sich eigentlich bewußt, wie Sie - und nicht, wie Sie meinen, wir - mit einer solchen Vorgehensweise das Mißtrauen gegenüber der Gentechnologie geschürt haben? Es dürfte nicht an Ihnen vorbeigegangen sein, daß die Diskussion schon lange nicht mehr um ein „alles oder nichts" ging, sondern daß gerade wir Sozialdemokraten uns bemüht haben, eine Abwägung zwischen den Chancen und Risiken zu treffen, die zweifellos in dieser Technologie stecken. ({4}) Deshalb hätten wir eine behutsamere Diskussion um das Gesetz und die Einbeziehung allen möglichen vorhandenen Sachverstandes erwartet, um die Grat15986 wanderung zwischen den Befürwortern und den Kritikern abzusichern. Das hätten wir auch gerne nach dem fast neu formulierten Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen getan. ({5}) Während die einen in der Gentechnologie die Schlüsseltechnologie zur Bewältigung großer Probleme unserer und der zukünftigen Zeit sehen - ich nenne die Umweltverschmutzung, die Entdeckung und Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten und Erbkrankheiten und die Verringerung des Hungers in unserer Welt -, sehen die anderen in der Gentechnologie eine über die derzeit gültigen Wertvorstellungen hinausgehende Technologie, die das bisherige Bild der Schöpfung verändern muß. Wir müssen bereits der Forschung Grenzen auferlegen, ({6}) genauso wie denjenigen, die gentechnisch Erforschtes in Verkehr bringen wollen, ohne die Risikofolgen abschätzen zu können und ohne die Sicherheit zu gewährleisten, daß der Mensch und seine Umwelt nicht Schaden an Gesundheit und Leben nehmen. Deshalb muß es uns vor allem wichtig sein, daß die Gentechnologie zum Wohle der Menschen weiterentwickelt und genutzt wird. Dieses kann aber meines Erachtens nur geschehen, wenn man davon absieht, im stillen Kämmerlein nach Art des Hexenmeisters zu werkeln, und statt dessen mit einer größtmöglichen Offenheit und Öffentlichkeitsbeteiligung arbeitet. ({7}) Ich meine, wer Schaden minimieren oder abwenden will, der braucht die Öffentlichkeit nicht zu fürchten. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich den Ausführungen kompetenter Vertreter namhafter deutscher Arzneimittelfirmen Glauben schenken darf, so gewinne ich den Eindruck, als säße ich mit ihnen in einem Boot. Auch sie fordern für die Gentechnik einen gesellschaftlichen Konsens, und sie suchen sogar die Öffentlichkeit. Ich meine, sie fördern dies auch zu Recht; denn gerade im Bereich der Arzneimittelforschung und der Anwendung im Versuch scheint es Beispiele zu geben, die deutlich machen, daß Gentechnologie eben auch Chancen beinhaltet. Ich will hier an den für Bluter lebensnotwendigen Blutgerinnungsfaktor VIII erinnern, der inzwischen gentechnisch gewonnen werden kann. Vorteil der gentechnologischen Gewinnung ist: Man muß den Stoff nicht mehr aus dem Blutplasma von Blutspendern gewinnen und schaltet damit aus, daß sich Bluter beispielsweise an dem AIDS verursachenden HI-Virus infizieren, wie es in der Vergangenheit über 100 000mal geschehen ist. ({9}) Positiv ist auch zu verzeichnen, daß die 8 bis 10 Millionen Liter Blutplasma, die weltweit nötig waren, nicht mehr nötig sein werden. Bei Betrachtung der zeitlichen Dimensionen muß ich mich auf die Aussagen der Industrie verlassen, die bisher nur eine zeitlich gleich lange Entwicklungsphase sowohl bei der gentechnischen als auch bei der traditionellen Methode feststellen mußte. Wenn dann die zur Zeit noch sehr hohen Kosten betrachtet werden, die bei der Anwendung der gentechnischen Entwicklung des Arzneimittels hinzukommen, bleibt die Frage offen, ob es sich die Pharmaindustrie bei der derzeitigen Diskussion über die Auswirkungen der Gesundheitsreform bei der Festpreisregelung wirklich leistet, bei Gleichwertigkeit der Produkte einen solch teuren Weg zu gehen. Ähnlich ließen sich auch die gentechnisch gewonnenen Arzneimittel - Insulin gegen Diabetes, EPO bei Nierenerkrankungen oder Interferone - als Errungenschaften bezeichnen. Dies sind positive Beispiele für die Forschung im Bereich der Gentechnologie. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, warum die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, wenn sie die Gentechnologie zum Schutze und Wohle der Menschen betreiben wollen, nicht bei der Aufnahme anderer Forschungsarbeiten, auch wenn die Anlagen bereits genehmigt sind, aus einem eigenen Sicherheitsbedürfnis heraus nicht nur eine bloße Anmeldepflicht, sondern darüber hinaus wenigstens bei den Sicherheitsstufen 3 und 4 auch eine Genehmigungspflicht in das Gesetz schreiben. Warum verspielen Sie eigentlich diese Sicherheitsmöglichkeiten? Warum setzen Sie das Schutzziel des Gesetzes leichtfertig aufs Spiel? Ist es vielleicht sogar die Absicht, gar nicht die Sicherheit und den Schutz des Menschen in den Vordergrund zu stellen, sondern eher die Förderung der Forschung und der Produktion? ({10}) Auf diesen Gedanken kann man leicht kommen, wenn man sich ansieht, daß dieses Gesetz das erste Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik ist. Bisher sind alle Fragen, die die Regelung der Gentechnologie z. B. am Menschen betreffen, ausgespart, so die Fragen der Genomanalyse, die in vielen Bereichen bereits durchgeführt wird, ohne daß die Betroffenen davon wissen und ohne daß die Anwender bisher einer Kontrolle unterliegen, was sie denn mit den gewonnenen Daten machen. ({11}) - Ich wollte nur deutlich machen, daß es eine ganze Reihe von Notwendigkeiten gibt und daß dies erst das erste Gesetz ist. ({12}) Ich denke, der Zeitraum ist sicher sehr langfristig gewählt worden. Wenn man den Schutz des Menschen in den Vordergrund stellt, hätte parallel dazu in dieser Wahlperiode einiges mehr erreicht werden müssen. ({13}) Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß in dieser Wahlperiode insoweit außer diesem Gesetz überhaupt noch etwas geschieht. Ebenso gibt es keine Regelungen zur Gentherapie, wozu es in den USA bereits den zweiten genehmigten Versuch gibt. Wenn es der Regierung um den Schutz des Menschen und seiner Umwelt vor den Gefahren der Gentechnologie geht: Warum hat sie bisher gesetzliche Regelungen in diesen Verfahren nicht gefunden? Warum hat sie im Patent- und Sortenschutz bisher nichts vorbereitet? Ich kann also feststellen: Wesentliche Probleme der Gentechnologie sind mit diesem Gentechnikgesetz leider nicht geregelt worden. Die Koalitionsfraktionen kann ich nur bitten, unseren Änderungsanträgen zuzustimmen. Sie sind Verbesserungen. Sie würden an diesem Gesetz den Charakter eines Schutzgesetzes nicht völlig verändern. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hoffacker.

Dr. Paul Hoffacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird hier so viel vom „Durchpeitschen des Gesetzes" gesprochen. Ich meine, wir können dieses Kapitel jetzt abschließen, denn wir haben einen Gesetzentwurf, und wir sind sehr froh, daß wir diesen Gesetzentwurf haben, denn mit der Verweigerungshaltung der Opposition, mit der ständigen Verneinung können wir in der Tat gar nichts vorweisen. Wenn Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht zufrieden sind, na gut, dann ist das Ihre Sache. Nur muß ich feststellen, daß hier eine Alternative weder von den GRÜNEN noch von den Roten vorgelegt worden ist, so daß man sagen kann: Wenn wir dieses Gesetz, das Sie so sehr kritisieren, nicht hätten, dann stünden wir hier nicht nur mit einer Tischvorlage, sondern wir hätten gar nichts vorzuweisen. ({0}) - Frau Schmidt, was Ihnen nicht paßt, ist klar. Mir paßt das auch nicht, was Sie sagen. Nun müssen wir uns gegenseitig ertragen; so ist das mit den Fehlern dieser Schöpfung. ({1}) Da wir diese nicht ändern können, müssen wir uns beide halt respektieren und ertragen. Ich möchte sagen, da dieses Gesetz in der Tat die sensiblen Bereiche der Güterabwägung betrifft, sind hier heute natürlich sehr unterschiedliche Äußerungen und sehr unterschiedliche Bewertungen zutage gekommen. Nur meine ich, daß man mit dem Verurteilen, Frau Nickels, sehr schnell bei der Hand war. Sie sprachen von der sehenden Furcht, die uns vielleicht helfen kann, die Ängste der Menschen zu überwinden; aber das geht nicht mit dem blinden Eifer, mit dem Sie hier vorgetragen haben, ({2}) und nicht mit solchen Vokabeln, die Sie hier gebraucht haben, etwa mit der Aussage, daß wir die zerstörerische Technik legalisieren würden. Ich weise dies ausdrücklich zurück, ({3}) weil Sie uns in die Ecke derjenigen stellen wollen, die gewissenlos etwas beschließen wollen, obwohl wir uns - das müßten Sie eigentlich anerkennen - von den Gedanken leiten lassen, die Sie selber für sich in Anspruch nehmen. Ich bitte, daß Sie das genauso respektieren wie wir das, was Sie in ihrer eigenen Bewertung festhalten. Dieses Gesetz zeigt die Grenzen der Nutzung und der Förderung der Gentechnik. Wiewohl man verstehen kann, daß eine grenzenlose Nutzung sehr gefährlich wäre und auch Ängste schafft, so bin ich der Meinung, daß dieses Gesetz, das hier vorgelegt worden ist, die Wertordnung des Grundgesetzes beinhaltet, den Schutz der Menschen, der Umwelt und Natur berücksichtigt, die Technikfolgenabschätzung einkalkuliert und auch die Förderung von Gesundheit und die Bekämpfung von Krankheit deutlich in den Vordergrund stellt. Wenn man weiß, wie schwierig dieses Kapitel ist, dann muß man handeln und kann sich nicht verweigern, wie dies hier getan wird. Deshalb bin ich der Meinung, es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, als wenn die Gentechnik dazu dienen würde und dieses Gesetz dazu beitrüge, den Verlust menschlicher Individualität und Personalität zu betreiben, wie dies soeben dargetan worden ist. Dieses Gesetz stellt im Gegenteil sicher, daß die Integrität des menschlichen Lebens nicht angetastet wird. Es eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, im medizinischen Bereich, in der Versorgung der ständig wachsenden Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln sowie im Umweltschutz neue Erkenntnisse für den Menschen sinnvoll zu nutzen. ({4}) Wie sollte man z. B., wenn es um die Bekämpfung von AIDS geht, verantworten können, daß die vom Tod bedrohten Menschen darauf verzichten müßten, die gentechnischen Errungenschaften für eine Genesung und für eine Heilung in Anspruch zu nehmen? ({5}) Wer sagt uns, daß das Prinzip einer kausalen Behandlung beim Krebs nicht auf dem gentechnischen Wege zum Ziel führt? Wer will sich anmaßen, hier zu sagen, daß ein Mensch, der darunter leidet, lieber darunter leiden und darauf verzichten soll, daß ihm diese Heilungschancen möglicherweise doch dienen? Ich habe nicht den Mut, dies hier für die Menschen deutlich vorzuschreiben, sondern trage dazu bei, daß die gentechnischen Möglichkeiten für die Heilung des Menschen genutzt werden können. Im übrigen werden wir gedrängt, neue Wege zu beschreiten. Ich meine, daß hier ein Wort angebracht ist, sich dagegen zu wehren, was hier ausgesprochen worden ist, als würde nämlich dieses Gesetz im Dienste von Industrie und Kapital aus Profitgier gemacht. ({6}) - Frau Nickels, ich weiß, daß Sie das eben verantwortungslos hier hereingebracht haben. ({7}) Ich meine, daß derjenige, der so spricht, nicht weiß, was die Forschung und die Wissenschaft von diesem Gesetz halten. In einer gemeinsamen Erklärung haben sie dieses Gesetz als eine gute Grundlage für Ihre Arbeit bezeichnet. Einer, der nicht im Verdacht steht, dem Kapital zu dienen, nämlich unser Kollege Hermann Rappe, hat in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik bereits am 2. Februar dieses Jahres in einem Schreiben an den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herrn Dregger, mitgeteilt, daß er sehr dankbar wäre, wenn es bei dem Beratungsfahrplan bleiben könnte. So hat er uneingeschränkt den Beratungsgang unterstützt, daß am 29. oder 30. März, nämlich heute, dieser Gesetzentwurf verabschiedet werden soll, damit das Gesetz am 11. Mai im Bundesrat ebenfalls abschließend beraten werden kann. Wer hier dauernd erzählt, daß wir unter dem Druck einer Wahl am 13. Mai stünden, wird durch diesen Brief von Hermann Rappe eines Besseren belehrt. In seiner Eigenschaft als Vertreter der Interessen der Arbeitnehmer legt er nämlich großen Wert darauf, daß dieser Gesetzentwurf zur Gentechnik endgültig beraten wird und damit auch dem Bundesrat zugeleitet werden kann. Er betont weiterhin, daß die Verabschiedung des Gesetzentwurfs zur Gentechnik ein außerordentlich wirksamer Beitrag zur Sicherung des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland sei. Meine Damen und Herren, hier hat also nicht etwa ein Kapitalist gesprochen, sondern hier hat der Vorsitzende der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik gesprochen. Ich meine, das sollte auch diejenigen nachdenklich machen, die vielleicht heute in der SPD versucht haben, die innere Zerrissenheit der eigenen Fraktion zu überspielen; denn es ist ja im Grunde Tagesgespräch, daß es in der SPD mehrere Gruppen gibt, die sich zu diesem Gesetzentwurf sehr unterschiedlich verhalten. Da gibt es die Gruppe derjenigen, die sehr wohl ein solches Gesetz mittragen würden, und es gibt diejenigen, die diesen Gesetzentwurf ablehnen wollen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Hoffacker?

Dr. Paul Hoffacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Bitte schön.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hoffacker, können Sie sich vorstellen, daß man sich auch bei unterschiedlicher Einschätzung der Gentechnik doch ziemlich einig darin sein kann, daß die Qualität Ihres Gesetzentwurfs schlecht ist? Kann es nicht manchmal auch so einfach sein?

Dr. Paul Hoffacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann mir leider nicht vorstellen, daß im Ausschuß einem großen Teil unseres Gesetzentwurfs zugestimmt wird und daß Sie nachher durch die Verweigerungshaltung das, was Sie selber mitbestimmt haben, widersprüchlich verneinen. Dies kann ich mir allerdings so nicht vorstellen. Ich muß also Ihre Frage auch dahingehend beantworten. Meine Damen und Herren, wir sind gedrängt, ein solches Gesetz zu machen, und ich finde es richtig, daß wir die Beratungen heute abschließen. Die Europäische Gemeinschaft beschließt mit Mehrheit, und diese europäischen Regelungen, die dann für uns unausweichlich sind, lassen die Nutzung der Gentechnik zu, die durch unseren Gesetzentwurf wesentlich gesteuert und auch eingeschränkt wird. Deshalb bin ich dafür, daß die Richtlinien der EG möglichst bald auch für uns die Maßstäbe setzen, damit aus dem Industriestandort Bundesrepublik nicht das verlagert wird, was hier Anreize für die Industrie darstellt. Und hier soll nicht nur immer von den Großindustriellen die Rede sein, sondern denken Sie bitte an die vielen Mittelständler, für die dieses Gesetz eine notwendige Stütze und eine Sicherung der Arbeitsplätze bedeutet. ({0}) Wenn wir seit Ende der 70er Jahre über diesen Stoff des Gentechnikgesetzes diskutieren, dann wird es höchste Zeit, daß wir darunter einen Schlußstrich ziehen und diesen Gesetzentwurf heute verabschieden. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz ist eine gute Grundlage für eine Entscheidung geschaffen worden. Wir beschreiten mit dem Gesetzentwurf natürlich Neuland, und wir sind nicht so vermessen anzunehmen, daß ein solches Gesetz und auch die sich daraus ergebenden Verordnungen für die Ewigkeit ohne Änderungsmöglichkeiten geschrieben worden sind. Wir lassen uns natürlich von der Einsicht leiten, daß die Erkenntnisvorgänge, die sich positiv auf die weiteren Beratungen auswirken, mit in Überlegungen zu weiteren Novellierungen einbezogen werden, an denen wir sicherlich in den nächsten Jahren nicht vorbeikommen werden. Aber fest steht, daß dieser Gesetzentwurf in der Absicht entworfen worden ist - und er soll auch mit dieser Absicht heute beschlossen werden - , daß die Sicherheit, die wir brauchen, verstärkt wird, daß die Forschung für den Dienst an den Menschen nutzbar gemacht werden kann und daß die Gesunderhaltung und die Vorsorge im Umweltschutz eine bessere Basis erfahren. Meine Damen und Herren, wir dürfen die Chance, die die Gentechnik als neue Wissenschaft bietet, nicht ungenutzt lassen. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und um Ablehnung der Anträge der Opposition. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, hat Frau Abgeordnete Nickels um das Wort für eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 Abs. 2 der Geschäftsordnung gebeten.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erkläre für meine Person und für meine Kolleginnen und Kollegen der GRÜNEN-Fraktion, daß wir uns an der Abstimmung in der zweiten Lesung des Gesetzes nicht beteiligen werden, und zwar aus folgendem Grund: Selbst noch so hohe Sicherheitsanforderungen können das Gefahrenpotential der Gentechnik nur verringern, nicht aber beseitigen. - Das gilt auch für die Änderungsanträge der SPD. Wir stellen einen Entschließungsantrag zur Abstimmung, der unseres Erachtens eine Alternative aufzeigt. In dritter Lesung werden wir das Gesetz in namentlicher Abstimmung selbstverständlich ablehnen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung von Fragen der Gentechnik in der Ausschußfassung. Damit man jetzt richtig abstimmt, muß man, glaube ich, jetzt wirklich zuhören. Ich rufe den Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, die ich nach der Reihenfolge der Drucksachennummern zur Abstimmung aufrufe. Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 11/ 6813 auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/6814 auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/6815: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6816: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6817: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6818: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6819: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6820: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Änderungsantrag auf Drucksache 11/6821: Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer für den Art. 1 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Er ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe die Art. 2 bis 8, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist das mit Mehrheit angenommen. - Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Bevor wir in die dritte Lesung eintreten, ist von Frau Saibold um das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung gebeten worden. Bitte schön, Frau Saibold.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann diesem Gesetz nicht zustimmen; denn es ist ein Freibrief für eine Technik, die niemand innerhalb und außerhalb dieses Raumes verantworten kann. ({0}) Die Gentechnik ist die Fortsetzung und Steigerung des Machbarkeitswahns und bringt noch größere Gefahren als die ebenfalls nicht beherrschbare und deshalb unverantwortbare Atomenergie. ({1}) Gentechnik ist eine unmenschliche Technik; denn auch hier dürfen keine Fehler gemacht werden. ({2}) Die Folgen der Gentechnik sind nicht revidierbar. Niemand kann die eingetretene Chemisierung unserer Lebensbereiche rückgängig machen oder die künstlich erzeugte und freigesetzte Radioaktivität beseitigen. Diese Erfahrungen mit den Folgen des sogenannten wissenschaftlichen Fortschritts und die Verantwortung für die Zukunft zwingen mich dazu, diese Technik abzulehnen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, bitte keinen Debattenbeitrag. Das haben wir hinter uns.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe mir dies bestimmt nicht leichtgemacht. Ich muß doch begründen können, warum ich dies ablehne. Gentechnik lehne ich nicht nur aus moralischer Sicht, sondern wegen von niemandem wegzuleugnenden Gefahren ab. Konstruierte lebendige Mikroorganismen aus dem Genlabor können sich vermehren und mutieren.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, es tut mir leid, ich muß Sie unterbrechen. Sie machen einen Debattenbeitrag. Sie haben eben begründet, aus welchem Grund Sie nicht zustimmen wollen, und damit wäre die Begründung beendet. ({0})

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin aber noch nicht fertig. Ich kann hierzu fünf Minuten reden, und von diesem Recht mache ich Gebrauch. Der Philosoph Friedrich Nietzsche -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Schluß und sagen Sie in einem Satz, warum Sie nicht zustimmen können.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diesem Gesetz kann ich auch deshalb nicht zustimmen, weil es diese Technik noch fördert. Es gibt in diesem Gesetz ein Recht auf Genehmigung solcher Anlagen und Produkte. Das ist unfaßbar. Es ist ein Kniefall vor der chemischen Industrie und vor Wissenschaftlern, die von Allmachtsphantasien getrieben sind. ({0}) Ich kann dies mit meinem Gewissen nicht vereinbaren und werde diesem Gesetz deswegen nicht zustimmen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Wunderbar. Wir haben es noch geschafft. Meine Damen und Herren, wir treten nunmehr in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie die Fraktion DIE GRÜNEN haben zur Schlußabstimmung namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung. Meine Damen und Herren, sind alle Stimmkarten abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte um Auszählung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gebe jetzt das Ergebnis der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung von Fragen der Gentechnik - es handelt sich um die Drucksachen 11/5622 und 11/6778 - bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 349 ihre Stimme abgegeben: Mit Ja haben 201 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 146 Abgeordnete gestimmt. Es gab 2 Enhaltungen. 8 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben: Es gab keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 7 Abgeordnete gestimmt, mit Nein hat 1 Abgeordneter gestimmt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 348 und 8 Berliner Abgeordnete; davon ja: 201 und 7 Berliner Abgeordnete nein: 145 und 1 Berliner Abgeordneter enthalten: 2 Ja CDU/CSU Frau Augustin Austermann Bayha Dr. Becker ({0}) Biehle Dr. Blank Dr. Blens Böhm ({1}) Börnsen ({2}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Breuer Bühler ({3}) Carstens ({4}) Carstensen ({5}) Clemens Dr. Czaja Dr. Daniels ({6}) Daweke Frau Dempwolf Deres Dörflinger Dr. Dregger Ehrbar Eigen Eylmann Dr. Faltlhauser Dr. Fell Frau Fischer Fischer ({7}) Francke ({8}) Dr. Friedrich Fuchtel Ganz ({9}) Dr. Geißler Dr. von Geldern Gerster ({10}) Dr. Göhner Günther Dr. Häfele Harries Haungs Hauser ({11}) Hedrich Helmrich Dr. Hennig Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Frau Hoffmann ({12}) Dr. Hornhues Hornung Dr. Hüsch Graf Huyn Dr. Jahn ({13}) Dr. Jenninger Dr. Jobst Jung ({14}) Jung ({15}) Dr. Kappes Keller Dr. Köhler ({16}) Kolb Kossendey Kraus Kroll-Schlüter Dr. Kunz ({17}) Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Frau Limbach Link ({18}) Link ({19}) Dr. Lippold ({20}) Louven Maaß Frau Männle Magin Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Müller Müller ({21}) Nelle Neumann ({22}) Niegel Dr. Olderog Oswald Pfeifer Dr. Pohlmeier Dr. Probst Reddemann Regenspurger Dr. Riesenhuber Frau Rönsch ({23}) Dr. Rose Roth ({24}) Dr. Rüttgers Ruf Sauer ({25}) Sauer ({26}) Sauter ({27}) Frau Schätzle Scharrenbroich Schartz ({28}) Schemken Scheu Schmidbauer Frau Schmidt ({29}) Schmitz ({30}) von Schmude Dr. Schneider ({31}) Schneider ({32}) Freiherr von Schorlemer Schreiber Dr. Schroeder ({33}) Schulhoff Dr. Schulte ({34}) Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Seehofer Dr. Sprung Dr. Stark ({35}) Dr. Stavenhagen Dr. Stoltenberg Vizepräsidentin Renger Stücklen Susset Tillmann Dr. Uelhoff Uldall Vogel ({36}) Vogt ({37}) Dr. Voigt ({38}) Dr. Vondran Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke Dr. Warrikoff Werner ({39}) Wimmer ({40}) Windelen Frau Dr. Wisniewski Dr. Wittmann Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zink Berliner Abgeordnete Dewitz Feilcke Kalisch Kittelmann Dr. Mahlo Schulze ({41}) SPD Nagel Rappe ({42}) FDP Baum Beckmann Cronenberg ({43}) Eimer ({44}) Dr. Feldmann Frau Folz-Steinacker Funke Gallus Gattermann Genscher Gries Grünbeck Grüner Dr. Haussmann Dr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer Irmer Kleinert ({45}) Kohn Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Mischnick Neuhausen Paintner Rind Frau Dr. Segall Frau Seiler-Albring Dr. Sohns Dr. Thomae Timm Frau Walz Dr. Weng ({46}) Wolfgramm ({47}) Frau Würfel Zywietz Berliner Abgeordneter Hoppe Nein SPD Frau Adler Amling Bachmaier Becker ({48}) Frau Becker-Inglau Bernrath Bindig Dr. Böhme ({49}) Brandt Brück Büschler ({50}) Büschner ({51}) Buschfort Catenhusen Conradi Daubertshäuser Diller Dreßler Dr. Ehrenberg Erler Esters Ewen Frau Faße Fischer ({52}) Frau Fuchs ({53}) Frau Ganseforth Gilges Frau Dr. Götte Graf Großmann Grunenberg Haack ({54}) Haar Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Häuser Heistermann Heyenn Hiller ({55}) Jahn ({56}) Jaunich Jungmann ({57}) Frau Kastner Kiehm Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski Koschnick Kretkowski Dr. Kübler Kühbacher Lambinus Leidinger Leonhart Lutz Müller ({58}) Müller ({59}) Müller ({60}) Müntefering Nehm Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Oesinghaus Oostergetelo Opel Dr. Osswald Paterna Pauli Dr. Penner Pfuhl Porzner Purps Reimann Frau Renger Reschke Reuter Rixe Schluckebier Dr. Schmude Dr. Schöfberger Schreiner Sieler ({61}) Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling Dr. Struck Frau Terborg Vahlberg Verheugen Voigt ({62}) Waltemathe Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal Frau Weyel Wieczorek ({63}) Frau Wieczorek-Zeul von der Wiesche Wimmer ({64}) Wischnewski Dr. de With Wittich Zander Zeitler Berliner Abgeordneter Dr. Vogel FDP Frau Dr. Hamm-Brücher DIE GRÜNEN Frau Beer Brauer Frau Eid Frau Flinner Häfner Frau Hillerich Hoss Frau Kelly Dr. Knabe Kreuzeder Dr. Lippelt ({65}) Frau Nickels Frau Rock Frau Rust Frau Saibold Frau Schilling Frau Schmidt ({66}) Frau Schoppe Stratmann Such Frau Teubner Frau Trenz Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Weiss ({67}) Frau Wilms-Kegel Frau Wollny Fraktionslos Frau Unruh Enthalten SPD Dr. Gautier Stahl ({68}) Der Gesetzentwurf ist angenommen. Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6812. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der SPD mit großer Mehrheit abgelehnt. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6851 ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit großer Mehrheit abgelehnt. Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6824, Sammelübersicht 158 zu erweitern. - Kein Widerspruch des Hauses. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Renger Ich rufe jetzt diesen Zusatztagesordnungspunkt auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 148 zu Petitionen - Drucksache 11/6824 Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6824. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltungen der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes - Drucksachen 11/4310, 11/4311 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({69}) - Drucksache 11/6805 Berichterstatter: Abgeordnete Schröer ({70}) Meneses Vogl Clemens Lüder ({71}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind 30 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({72}).

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung überprüft ständig Bundesrecht auf Notwendigkeit, Wirksamkeit, Verwaltungsvereinfachung und Verständlichkeit. Der vorliegende Gesetzentwurf erfaßt auch Vorhaben, die sonst bis zu einer späteren Gelegenheit, also einer Novellierung von Fachgesetzen, hätten zurückgestellt werden müssen. Es liegt in der Natur der Sache, daß es unmöglich ist, hier in der Kürze der Zeit auch nur die wesentlichen im Rahmen des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes erfolgenden Rechtsänderungen umfassend darzustellen. Lassen Sie mich daher einige Punkte herausgreifen, die ich für besonders bedeutsam halte. Einmal gibt es die Anpassung sonderrechtlicher Verwaltungsverfahrensvorschriften an die Verwaltungsverfahrungsgesetze der Länder und des Bundes. Der Bürger, der sich mit einem Anliegen an die Verwaltung wendet, kann also von einer einheitlichen Verfahrensweise ausgehen und braucht nicht jeweils neu ihm vielfach unbekannte Verfahrensregeln in ihm meistens auch völlig unbekannten Spezialgesetzen zu überprüfen und sich damit herumzuschlagen. Wir werden außerdem mit dem vorliegenden Gesetzentwurf viele Rechtsvorschriften ersatzlos streichen, weil deren Zweck entweder verwirklicht oder entfallen ist. So sind beispielsweise durch die Umgestaltung des Postreisedienstes bzw. des Unternehmensbereiches Bahnbus der Deutschen Bundesbahn viele Vorschriften überflüssig geworden. Ich spreche hier deswegen als Verkehrspolitiker, weil in diesem Rechtsbereinigungsgesetz die Änderungen im Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr einen besonders großen Raum einnehmen. Ich möchte deswegen einige Dinge aus dem Bereich des Verkehrs hier erwähnen. Wir haben als Fraktionen von CDU/CSU und FDP mit vielen Änderungsanträgen den Entwurf der Bundesregierung angereichert und, wie ich glaube, auch verbessert. So haben wir Verbesserungen im Seehafenhinterlandverkehr, die für unsere deutschen Seehäfen sehr wichtig sind, beschlossen und legen sie hier auch dem Hohen Hause zur Abstimmung und Entscheidung vor. Das Ziel ist, die ordnungspolitische Benachteiligung unserer deutschen Häfen gegenüber den holländischen und belgischen Rheinmündungshäfen durch eine Verbesserung der Bedingungen für den Abschluß von Sonderabmachungen im Rahmen des § 22 a GüKG weiter abzubauen. Hier geht es um drei Elemente. Erstens. Nach § 22 a in der alten Fassung konnten Sonderabmachungen nur für drei Monate und bei einer Beförderungsmenge von 500 t abgeschlossen werden. Jetzt gibt es dazu noch die alternative Möglichkeit von 6 Monaten und 1 000 t oder, um dieses Instrument auch exportseitig zu stimulieren, von drei Monaten und 250 t bzw. von 6 Monaten und 500 t. Das bedeutet also eine Halbierung des Mengengerüstes. Zweitens kann nicht nur ein Unternehmer, sondern es können jetzt mehrere Verkehrsunternehmer, d. h. auch mehrere kleinere Verkehrsunternehmen in einer Bietergemeinschaft in der Weise kooperieren, daß sie gemeinsam mit einem Verlader eine Sonderabmachung vereinbaren können. Ich sage einmal etwas salopp: Die kleinen Trucker kommen dadurch besser ins Geschäft. Das ist eine ganz gezielte mittelstandspolitische Maßnahme. Ein drittes Element: Wir streichen die nachlaufende Publizitätsverpflichtung nach § 24 GüKG, wonach Sonderabmachungen veröffentlicht werden mußten. Damit wird nicht nur ein wesentlicher Beitrag zur Entbürokratisierung und zur Kostenverminderung, sondern auch zur Wettbewerbsgleichheit geleistet, denn diese Veröffentlichungen haben ja oftmals nur für den ausländischen Konkurrenten die Tabellen geliefert, nach denen er dann gezielt und systematisch die deutschen Unternehmen unterboten hat. Wir geben dem Bundesminister für Verkehr die gesetzliche Grundlage und die Ermächtigung zur Umsetzung der EG-Berufszugangsregelungen für den Güterkraftverkehrsunternehmer, also die drei wesentlichen Elemente Zuverlässigkeit der Person, fachliche Eignung und finanzielle Leistungsfähigkeit. Wir haben darüber hinaus eine Ermächtigungsnorm geschaffen, die es der Bundesregierung ermöglicht, die sognannte EG-Kabotage-Regelung umzusetzen, Fischer ({0}) die jetzt auf EG-Ebene zu einem vorläufigen Kompromiß gelangt ist und nach der der Gütertransport eines Fuhrunternehmers, der seinen Sitz im Ausland hat und der Güter zwischen zwei innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Orten transportiert, abgewickelt werden darf. Wir verschaffen den Güternahverkehrsunternehmen mit Betriebssitz im grenznahen Raum bzw. an der Westküste Schleswig-Holsteins einen größeren Aktionsradius, indem wir dort faktisch die Nahzone ausweiten. Über den Weg einer Freistellungsverordnung zum Güterkraftverkehrsgesetz wollen wir den bisher mit der sogenannten papiermäßigen Ablastung betriebenen Mißbrauch unterbinden, der darin besteht, daß erheblich schwerere Nutzfahrzeuge auf 750 kg künstlich abgelastet werden, mit der Folge, daß sie dann nicht mehr dem Güterkraftverkehrsgesetz unterliegen, was wiederum mit steuerlichen Vergünstigungen verbunden ist. Im Personenbeförderungsgesetz haben wir einem lange gehegten Wunsch des Omnibusgewerbes entsprochen, das Genehmigungsverfahren für die Zulassung zum Linien- oder Gelegenheitsverkehr von unnötigem bürokratischen Ballast zu befreien, den Schülerverkehr für andere Personen zu öffenen und Zusteigemöglichkeiten für den Gelegenheitsverkehr zuzulassen, was, wie ich glaube, insgesamt zu einer Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs beitragen wird. Im Bereich der deutschen Handelsflotte haben wir nach der Verlegung der Abteilung Seeverkehr aus Hamburg nach Bonn entschieden, daß alle in Hamburg verbliebenen Schiffahrtsbehörden zu einer einzigen Behörde unter dem Dach eines Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie zusammengefaßt werden sollen, was sicherlich die Effizienz dieses Dienstleistungsunternehmens für die Seeschiffahrt vergrößert. Auch nach der Verlegung der Abteilung Seeverkehr nach Bonn wird damit ganz klargemacht, daß Hamburg aus der Sicht des Bundes der zentrale Ort der deutschen Schiffahrtsverwaltung bleibt. Wir haben das Planungsrecht gestrafft. Wir geben dem Bürger die Sicherheit, daß von der öffentlichen Hand unter Bürgerbeteiligung beschlossene Planungen zügig in die Praxis umgesetzt werden können: durch eine klarere Formulierung im Bundesfernstraßengesetz, nach der die im Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen festgesetzten Ziele auch für die Gerichte verbindlich sind. Wir haben das Instrument der materiellen Präklusion im Bundesfernstraßengesetz, im Bundesbahngesetz und im Bundeswasserstraßengesetz eingeführt, wonach alle - oft böswillig - verspätet vorgebrachten Einwendungen abgewehrt werden können, damit nicht das Hinauszögern von Projekten durch formale Tricks möglich bleibt. Für den Umweltschutz haben wir einen Beitrag geleistet, indem wir die Aufsichtsbefugnis des Bundesministers für Verkehr im Bereich der Deutschen Bundesbahn um das Kriterium „Umweltschutz" erweitert haben und außerdem im Wasserstraßengesetz die „natürlichen Lebensgrundlagen" jetzt ausdrücklich als Schutzgut aufgeführt werden. Ich komme zum Schluß. All dies zeigt, wie ich glaube, daß der vorliegende Gesetzentwurf umfangreiche Änderungen von Fachgesetzen mit dem Ziel der Vereinfachung, Bereinigung, Re chtsklarheit und größeren Bürgerfreundlichkeit enthält, die ohne dieses Dritte Rechtsbereinigungsgesetz erst sehr viel später hätten erfolgen können oder vielleicht gar nicht möglich gewesen wären. Ich glaube, daß wir damit auch einen Beitrag dazu geleistet haben, unsere Gesetze handhabbarer, klarer und für den Bürger verständlicher zu machen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und würde mich freuen, wenn der Deutsche Bundestag der Vorlage zustimmen würde. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Niese.

Dr. Rolf Niese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001610, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Dritte Rechtsbereinigungsgesetz dient der Anpassung bestehenden Rechts an zwischenzeitliche Entwicklungen. Da der Verkehrsbereich einen großen Teil, nämlich etwa zwei Drittel, des gesamten Gesetzentwurfs umfaßt, werde auch ich ausschließlich zum Bereich der Verkehrspolitik sprechen, der durch das Dritte Rechtsbereinigungsgesetz tangiert wird. Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß in den Beratungen des Verkehrsausschusses die Mehrzahl der Einzelfragen zwischen den Fraktionen einvernehmlich geregelt werden konnte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die einheitliche Zuständigkeit bei der Verfolgung und Ahndung von Verstößen beim Transport von Containern durch ausländische Transporteure und die Freistellung des Schülerund Berufsverkehrs auch für Dritte. Weiterhin ist im Zusammenhang mit der Änderung des Personenbeförderungsgesetzes zu erwähnen, daß bei Anhörungen die Einbeziehung von Fachverbänden ermöglicht wird, die keine Unterorganisation im Einzugsbereich eines beantragten Vorhabens besitzen. Eine ganze Reihe weiterer verkehrspolitischer Verbesserungen haben das Ziel, die unternehmerische Stabilität von Transportunternehmen zu garantieren. Ich nenne z. B. die Zugangsbestimmungen zum Beruf des Güterverkehrsunternehmers. Auch ich möchte die Änderungen im Anwendungsbereich von Sonderabmachungen im Seehafenhinterlandverkehr aufführen. Sie haben die einzelnen Punkte genannt, Herr Fischer. Ganz entscheidend ist: Damit ist eine flexiblere Gestaltung der Beförderungsentgelte und -tarife möglich. Die Wettbewerbssituation der deutschen Seehäfen gegenüber den sogenannten ARA-Häfen wird nach langer Zeit verbessert. Hiermit sind wir den Forderungen der Küstenländer nach Einführung der Referenztarife einen Schritt näher gekommen. Aber, Herr Fischer, daß ausgerechnet Sie in Ihrem Beitrag die Verbesserung des Seehafenhinterlandverkehrs als Ihre Leistung hochgejubelt haben, finde ich doch ein bißchen erstaunlich. Im Endergebnis waren wir einvernehmlich für diese Lösung. Es ist vielmehr richtig, daß Ihre Fraktion sehr lange gezögert hat, um hier voranzukommen. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang vielmehr bei meinem Kollegen Manfred Richter aus Bremen dafür bedanken, daß er gemäß einer Absprache, die wir getroffen haben, diese Schritte in der Koalition unterstützt hat.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Fischer?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Niese, können Sie mir sagen, wer - außer meiner Person und meiner Fraktion - den Antrag formuliert hat, den wir beschlossen haben?

Dr. Rolf Niese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001610, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe ja zugestanden, daß wir im Verkehrsausschuß letztendlich einvernehmlich zu dieser Lösung gekommen sind. ({0}) - Aber, Herr Fischer, wir haben ja Vorgespräche geführt, und ich will jetzt nicht so weit gehen, aus diesen persönlichen Gesprächen hier zu zitieren. ({1}) Deswegen lassen Sie es bei dieser Aussage. ({2}) - Ja, es ist ja in Ordnung. Auch das Ergebnis ist in Ordnung. Aber da Herr Fischer das hier als seine Leistung hochgejubelt hat, wollte ich durchaus diese kleine Einschränkung machen. ({3}) Inwieweit die vorgenommene Änderung der Nahverkehrszone im Zonenrandgebiet für Unternehmer des Güternahverkehrsgewerbes auf Grund der zwischenzeitlich fortgeschrittenen deutsch-deutschen Entwicklung noch Sinn macht, müssen wir genauestens beobachten, um gegebenenfalls auch dort zu erneuten Änderungen zu kommen. Auch die Regelungen für den Bau von Schienenstrecken und Wasserstraßen unter stärkerer Einbeziehung umweltpolitischer Aspekte konnten im Ausschuß nahezu einvernehmlich geregelt werden. Als Hamburger Bundestagsabgeordneter freue ich mich natürlich auch darüber, daß das Bundesamt für Seeschiffahrt eine Namenserweiterung erfahren hat und zukünftig Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie heißen wird, womit dem Wunsch des traditionsreichen Deutschen Hydrographischen Instituts - in Hamburg ansässig - Rechnung getragen wurde. Als problematisch muß ich hingegen den Einsatz von Aushilfsfahrern auf Reisebussen bezeichnen, und zwar wegen des möglichen Mißbrauchs. Viele Aushilfskräfte, die beschäftigt werden, haben zusätzlich eine anderweitige feste Beschäftigung. Diese Art der Doppelbeschäftigung kann leicht zu Unfallrisiken und damit zu einer Gefährdung der Verkehrssicherheit führen. Hier eindeutigere Grenzen für die Tätigkeit von Aushilfsfahrern zu ziehen haben sich die Koalitionsfraktionen im Verkehrsausschuß jedoch widersetzt. Ebenso hätte ich mir und hätte sich meine Fraktion eine restriktivere Fassung beim Widerruf von Genehmigungen nach dem Personenförderungsgesetz gewünscht. Wenn wir die Verkehrssicherheit wirklich ernst nehmen, darf der jeweiligen Behörde kein Ermessensspielraum eingeräumt werden, wenn wiederholt schwerwiegende Verstöße gegen technische, arbeitsrechtliche, sozialrechtliche und/oder steuerrechtliche Vorschriften bei einem Transportunternehmen festgestellt werden. Ich denke, daß der bei der Koalition hier aufgetretene Mut zur Lücke unangebracht ist. Meine Damen und Herren, ich will meine Redezeit nicht voll ausschöpfen, ({4}) um hier ein bißchen zum Fortgang der Debatte beizutragen; denn es macht wenig Sinn, weitere verkehrspolitische Details des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes aufzuzählen. Das würde nur eine Wiederholung der detaillierten Debatte aus dem Verkehrsausschuß bedeuten. Insgesamt wird die SPD-Fraktion der Beschlußempfehlung des federführenden Rechtsausschusses zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Federführend ist der Innenausschuß. Die beteiligten Kollegen haben eine ungeheure Leistung dadurch erbracht, daß sie das, was hier bisher erörtert worden ist und was mit Rechtsbereinigung, ich sage einmal: vielleicht am Rande zu tun hat, in dieses Gesetz hineingepfriemelt haben. Was hier vorgetragen worden ist, ist die segensreiche Verfolgung wirtschaftlicher Interessen der Seehäfen, und zwar mit der sogenannten Korridorbildung. Da hat der Kollege Niese völlig recht - das muß ich nun einmal sagen; das weiß ich aus vielen Gesprächen mit den bei uns beteiligten Kollegen Funke und Richter -, daß Sie, Herr Kollege Fischer, bei diesem Kampf um die Verbesserung der Situation jedenfalls lange Zeit nicht gerade in erster Linie zu sehen waren. Da sollte man den Kollegen, die die Arbeit gemacht und das durchgesetzt haben, im wesentlichen aus meiner Fraktion, nicht nachträglich den Erfolg nehmen wollen. Ein Gesetz, zehn Fachbereiche, 50 unterschiedliche Gesetze völlig verschiedener Art. Es ist wirklich erstaunlich, mit welchem Firlefanz man sich dabei mit großem politischem Aufwand herumschlagen muß. Wir haben uns im Innenausschuß mit der Bestimmung herumgeschlagen, daß Fotos, die nicht aus Linienflugzeugen, sondern aus Charterflugzeugen gemacht werden, die Genehmigung der Regierungspräsidenten benötigen. ({0}) Dagegen, das abzuschaffen, waren die Verteidiger, weil sie meinten, die Spione könnten nun ohne den Stempel der Regierungspräsidenten die militärischen Anlagen fotografieren. Wir haben das also abgeschafft. Ich sehe nun reihenweise Spione fotografieren, weil sie nun endlich von der schrecklichen Drohung befreit sind, ihre Bilder nur benutzen zu können, wenn auf der Rückseite ein Stempel des Regierungspräsidenten angebracht worden ist. Daß man sich darum wochenlang streiten muß, dabei ganze Armeescharen auftreten, wirklich Armee im wahrsten Sinne des Wortes, ist schon toll. Wenn man sich das Gesetz ansieht, gilt das schöne Wort: „Habe die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistig Band." Das ist die Frage: Was wollen wir eigentlich mit der Rechtsbereinigung? Der Ansatz ist, muß ich sagen, eigentlich nicht mehr der, den wir haben wollten, nämlich Entbürokratisierung, nicht wie wir es hier zu einem erheblichen Teil gemacht haben, um der Verwaltung die Arbeit zu erleichtern, sondern um es für den Bürger leichter zu machen, mit der Verwaltung umzugehen, ihn weniger Schwierigkeiten und diffizile Einzelregelungen vorfinden zu lassen, je nachdem, in welchem Verwaltungsbereich er von der Verwaltung irgend etwas haben will oder muß. Dieses eigentliche politische Ziel ist in dem Wust von Einzelheiten, meinetwegen auch: Kleinigkeiten, verloren gegangen. Wenn wir diese segensreiche Arbeit Rechtsbereinigung in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen, Herr Kollege Waffenschmidt, dann müssen wir nach unserer Überzeugung den eigentlichen Ansatz der Arbeit wiederfinden und deutlicher machen und uns nicht nur auf das konzentrieren, was entweder von der Verwaltung selber gewünscht wird oder was wie in dem einen hier dargestellten Fall mit den Seehäfeninteressen bei dieser Gelegenheit bereinigt werden soll. Wir müssen zu dem Hauptziel zurückkehren: für den Bürger die Verwaltung bedienungsfreundlicher zu machen. Ich denke, daß wir uns in diesem Grundziel einig sind. Ich will mit der kritischen Bemerkung die Arbeit der Kollegen, die sich mühsam durch die vielen Paragraphen gefressen haben, in keiner Weise schmälern. Das ist schon ein Werk. Ich hoffe, daß es zu mehr dient, als nur den Verlagen zu neuen Ausgaben der Loseblattsammlungen zu verhelfen. Wir stimmen also der Vorlage zu. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsbereinigungen machen wir öfter. Es handelt sich dabei auch hier um ein Sammelsurium von Einzelgesetzen zu völlig verschiedenen Bereichen. Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf enthält allein 38 verschiedene Gesetze aus den Geschäftsbereichen von zehn Ministerien. Davon sind sehr viele so unbedeutend, daß ich sie hier besser verschweige, um Ihnen nicht mehr unserer gemeinsamen sehr wertvollen Zeit zu stehlen. Ich will nur zwei Dinge erwähnen. Dazu gehört ein Gesetzentwurf in eigener Sache. Wir alle wissen: Viele Politiker und gerade auch Mitglieder der Bundesregierung lieben die Jagd. Es scheint für sie nichts Schöneres zu geben, als in freier Wildbahn hinter Hasen herzuhoppeln, den von vorneherein ungleichen Kampf mit einem Hirschen oder einer Wildsau aufzunehmen oder mit der ganzen Würde ihres Amtes Böcke zu schießen. Übrigens werden sie diese Tätigkeit einschränken müssen, denn die großen Staatsjagden Ungarns, Polens, Bulgariens oder anderer Ostblockländer, deren Gästelisten sich in manchen Abschnitten wie ein „Who's who" der bundesdeutschen Politik lesen, werden hoffentlich bald schon nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann gibt es Schonzeit für Rehe, für Füchse und für Hirsche. ({0}) Trotzdem will die Bundesregierung nun noch das Bundesjagdgesetz ändern. Nach dem bisherigen Gesetz nämlich müssen Menschen, die wegen Steuerhinterziehung verurteilt sind, als unzuverlässig gelten und dürfen deshalb keinen Jagdschein und keine Waffen erwerben - zu Recht. Verurteilungen wegen Steuerhinterziehung aber sind in höheren Kreisen der Geschäftswelt und der Politik spätestens seit den Parteispendenverfahren so häufig geworden, daß die Bundesregierung sie offenbar schon als Kavaliersdelikt ansieht. Sie wollte ja schon einmal ein allen Rechtsgrundsätzen widersprechendes Amnestiegesetz einbringen. Dieser Anschlag auf die Rechtsgleichheit ging allerdings in die Leere. Nun will die Bundesregierung mit dem heutigen Gesetzentwurf dafür sorgen, daß die betreffenden Steuerhinterzieher wenigstens wieder einen Jagdschein bekommen, ({1}) damit sie wieder Böcke schießen können. Das scheint wichtig zu sein. Unsere Zustimmung werden Sie allerdings für diesen Gesetzentwurf nicht bekommen. ({2}) Wir halten schon die Jagd aus Vergnügen, wie sie von bestimmten Gesellschaftsschichten betrieben wird, für kein sehr förderungswürdiges Unterfangen. ({3}) - Wenn Sie die Lautstärke Ihrer Zwischenrufe ein bißchen reduzieren könnten; es ist schwierig, hier zu sprechen. Für noch folgenschwerer halte ich den Art. 26, in welchem § 17 des Bundesfernstraßengesetzes geändert werden soll. Bei größeren Bauvorhaben, so heißt es dort wörtlich, deren Durchführung sich wegen fehlender Haushaltsmittel oder aus anderen Gründen verzögert hat - ich könnte sofort eine Menge davon aufzählen - , soll die Durchführung eines Planes nach Ablauf von fünf Jahren nach Eintritt der Unanfechtbarkeit um weitere fünf Jahre verlängert werden, ({4}) ohne daß eine erneute Gesamtbeurteilung nötig ist. Was hier so trocken klingt, kann dramatische Auswirkungen für Menschen und die Umwelt haben. Denn inzwischen wird im Lande umgedacht. Schon heute sehen wir den Autobahnbau ganz anders als z. B. noch vor 15 Jahren, wo man glaubte, es könnte gar nicht genug Autobahnen geben. ({5}) Wir wissen, daß wir den Kraftfahrzeugverkehr eindämmen müssen, um den Wald, um unsere Gesundheit und den Lebensraum der Tiere und Pflanzen zu schonen. Trotzdem wird gegenwärtig - z. B. im Allgäu, woher ich komme - mit unglaublicher straßenplanerischer Brutalität eine völlig sinnlose Autobahn durch schönste, wertvollste Landschaften, durch Streuwiesen und Moorgebiete vorbei an einer großen Kurklinik und zwei herrlichen Seen gebaut. Vorhaben und Trassenführung, Sie kennen das Gesetz, ich habe es Ihnen zitiert - ({6}) - Nein, Sie wollen das hier ändern. Herr Kollege, lassen Sie uns doch nachher sprechen. Ich finde das dermaßen störend. Ich finde das auch ungehörig. Sie machen diesen Zwischenruf nun zum siebten- oder achtenmal. ({7}) - Ich bitte Sie, das einfach zu unterlassen. So kann ich schlecht reden. ({8}) - Dann bitte ich Sie, das Wort zu ergreifen. Frau Präsidentin, in dieser Form stört mich das über die Maßen. ({9}) - Ich finde das absolut unnötig. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Verehrter Herr Kollege Fischer, melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, und lassen Sie sie zu, Herr Häfner; das wäre dann die einfachste Lösung.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie wissen, daß ich, solange ich im Bundestag bin, noch jede Zwischenfrage zugelassen habe. Ich halte viel von Zwischenfragen. Ich halte auch viel von intelligenten Zwischenrufen. Aber einen Zwischenruf unzählige Male zu wiederholen, und nur, um den Redner zu irritieren, das liegt unterhalb dessen, was die Würde des Umgangs miteinander erfordert. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie die Zwischenfrage, Herr Kollege Häfner?

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr. Sehr gerne.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ist Ihnen aufgefallen, daß Sie dann, wenn Sie die Möglichkeit der Verlängerung um fünf Jahre ansprechen, die geltende Rechtslage kritisieren? Geändert werden soll jetzt lediglich, daß bei dem Verfahren, das der Verlängerung zugrunde gelegt wird, nur noch die Tatsachen zu behandeln sind, die in der Zwischenzeit neu aufgetreten sind. Das finde ich in der Tat eine sehr vernünftige Vereinfachung. ({0})

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da sehen Sie, verehrter Kollege, wie leicht man Mißverständnisse ausräumen kann. - Wenn Sie mir aufmerksam zugehört hätten - Sie können es übrigens gerne im Protokoll nachlesen - , dann hätten Sie gehört, daß ich genau dieses gesagt habe: Die Verlängerungsmöglichkeit um fünf Jahre besteht. Sie wollen dies heute dahin ändern, daß nicht noch einmal eine Gesamtbeurteilung nötig ist, sondern nur eine Bewertung der inzwischen veränderten ({0}) - richtig! -, der neuen Tatbestände. Ich wollte aus diesem Grunde darauf hinweisen - wenn Sie mir das ermöglicht hätten, wäre ich schon viel weiter - , daß wir gegenwärtig Planungen verwirklichen - im Allgäu etwa die A 7 -, ({1}) die 20 Jahre alt sind und die noch aus einer Zeit stammen, in der man geplant hat nach dem Motto: „Wo ist grüne Landschaft? Wo stehen die wenigsten Häuser? Wo ist das Land am billigsten, nämlich dort, wo es am wenigsten intensiv genutzt wird, also Moorgebiete, Streuwiesen usw.? - Dorthin kommt die Autobahn! " ({2}) Die Menschen haben inzwischen umgedacht. Deshalb meine ich, daß sie Gelegenheit haben müssen, auch die alten Planungen neu zu überprüfen, und zwar die ganzen Planungen, nicht nur die neuen Tatbestände. ({3}) - Entschuldigen Sie. Wir meinen, daß hierzu alles das notwendig ist, was das noch geltende Gesetz vorschreibt, einschließlich der entsprechenden Anhörungsrechte der Bürgerinnen und Bürger. ({4}) Sie haben in diesem Punkt wie auch in vielen anderen - Sie selbst haben davon gesprochen - die Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger deutlich eingeschränkt. Ich halte dies nicht für gut, erstens aus dem Gesichtspunkt der Demokratie heraus, ({5}) weil wir meinen, daß wir die Mitwirkungsmöglichkeiten eher noch stärken müssen, und zweitens aus dem Gesichtspunkt der Ökologie heraus; ({6}) denn gerade wenn es um Bundesfernstraßen und Autobahnen geht ({7}) - halten Sie doch einmal für einen Moment den Mund; es ist doch kaum zu fassen was Sie sich hier erlauben -, dann ist mir im Unterschied zu Ihnen - ({8}) - Das kann doch nicht sein! Der Kollege hat doch auch fünf Minuten gesprochen, ohne daß ich ein einzigesmal unterbrochen habe. ({9}) Also: Dann müssen wir im Unterschied zu Ihnen andere Prioritäten setzen, im Zweifel gebührt die Priorität der Ökologie. Wir wollen, daß dies auch in die Verfahren Eingang findet. Deshalb wollen wir, daß dann, wenn die Planung nicht zur Ausführung gekommen ist, nach fünf Jahren eine neue Gesamtbeurteilung notwendig ist, ({10}) wie es auch die geltende Rechtslage vorschreibt. Deshalb werden wir Ihren Entwurf ablehnen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Es ist gar nicht ganz einfach, der Debatte zu folgen. - Der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Innenministerium, Dr. Waffenschmidt, hat jetzt das Wort.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich ganz herzlich den Kollegen von CDU/CSU, SPD und FDP danken, die in den Ausschüssen des Parlaments sehr intensiv dazu beigetragen haben, daß aus diesem Dritten Rechtsbereinigungsgesetz ein guter Erfolg im Sinne der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung wird. ({0}) Ich darf hier noch einmal vortragen: Es geht um die vollständige Aufhebung von drei Gesetzen. In weiteren 40 Gesetzen werden 115 Einzelvorschriften gestrichen. Daneben werden rund 100 Vorschriften durch Neufassung oder durch Neugliederung oder Zusammenfassung wesentlich vereinfacht. ({1}) In der Wirkung geht es um Erleichterungen für die Bürger, um Erleichterungen für die Wirtschaft, um Erleichterungen auch für die Verwaltung, die ja im Interesse der Mitbürger arbeiten soll. Meine Damen und Herren, was mir wichtig ist, ist ein Blick nach vorn. Wir alle wissen, daß die Aufgaben der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung ungeheuer schwierig sind. Wir stellen uns sicherlich auch der Situation, daß zu einem Zeitpunkt, zu dem wir einige hundert Vorschriften abschaffen, wieder neue Vorschriften in großer Zahl entstehen - darüber muß man offen reden -, weil der moderne Rechtsstaat natürlich auch neue Schutzbestimmungen braucht. Denken wir nur an zwei Bereiche, den Umweltschutz und den Datenschutz, dann wird uns deutlich, wo neue Regelungsbedürfnisse entstehen. Gleichwohl dürfen wir nicht einhalten. Wir müssen uns verstärkt darum bemühen, überflüssige Vorschriften abzuschaffen oder Vorschriften zu vereinfachen. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Es hat sich bewährt, daß die gesamte Arbeit der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung von einer Unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung auf der Bundesebene begleitet wird. Darin sitzen Vertreter der Wirtschaft, darin sitzen Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, der Länderverwaltungen und Vertreter aus anderen Bereichen, und sie tragen ihre Praxis bei. Ich will an dieser Stelle einmal ausdrücklich diesen Mitgliedern der Unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung des Bundes herzlich danken, die sich in vielen Stunden ehrenamtlicher Arbeit dieser Aufgabe gewidmet haben, unsere Arbeit vorbereitet haben und unsere Arbeit weiter begleiten. Sie haben auch unseren Dank, den Dank des Parlaments, verdient, meine Damen und Herren. ({2}) Ich möchte nun noch ein paar Aufgabenstellungen aufnehmen. Das eine ist schon bei dem Kollegen Fischer, aber auch bei dem Kollegen Dr. Hirsch angeklungen, daß wir nämlich das Augenmerk noch mehr auf die Frage richten müssen "Was dient der Erleichterung des Bürgers? Was kommt beim Bürger an?", so daß er auch spürt: Hier bemüht sich der Staat um eine Vereinfachung des Rechts. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel vortragen, daß wir - dank der Mitarbeiter im Ministerium und auch dank der Unabhängigen Kommission - einen Weg gefunden haben: Wir schaffen kleine, aber sehr arbeitsintensive und sehr wirksame Kommissionen: mit Vertretern der Wirtschaft, mit Vertretern des Gewerbes, mit Vertretern der Praxis draußen. Ich will Ihnen heute hier sagen, daß wir z. B. eine Arbeitsgruppe mit Experten für das ganze Gebiet der Lohn- und Gehaltsabrechung eingerichtet haben. Das hört sich zunächst vielleicht nach wenig an, bringt aber für die betroffenen Arbeitnehmer, für Millionen Arbeitnehmer, insbesondere für Tausende kleine und mittlere Betriebe - auch für die größeren Betriebe, aber Verwaltungslasten beschweren ja gerade die mittelständischen Betriebe - , eine wesentliche Erleichterung. Ich darf im Zusammenhang mit diesem Gesetz dies vielleicht gerade noch nennen: die Abschaffung des aufwendigen Lohnzettelverfahrens ; die Einführung einer einheitlichen Regelung für die Steuerfreiheit bei Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit; die vorgesehene Zulassung EDV-ausgedruckter Steueranmeldungen und -erklärungen; die zeitliche Zusammenlegung der Abgabenprüfung; die Freistellung der Betriebe von der Vornahme eines notwendig werdenden Beitragsausgleichs bei Mehrfachbeschäftigten; die Beitragsfreiheit für bestimmte pauschal zu versteuernde Zuschüsse der Arbeitgeber und anderes. Hier gilt sicherlich auch der Satz: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Man muß viele, viele kleine Aufgabengebiete anleuchten. Ich möchte an dieser Stelle - ich denke, das darf man im Parlament bei einer solch intensiven Kleinarbeit auch einmal tun - den Mitarbeitern des Sekretariats der Unabhängigen Kommission - es ist hier durch seinen Leiter, Ministerialrat Dr. von Hammerstein, vertreten - danken, die in wochenlanger, in monatelanger Kleinarbeit Vorschläge gemacht haben. Ich möchte an dieser Stelle sagen - das sollte uns allen Freude machen - : Wir haben inzwischen eine ganze Reihe von Dankesbriefen aus der Wirtschaft und von betroffenen Betrieben, die gesagt haben: Hier ist wirklich eine Erleichterung geschaffen worden, die wir in unserer täglichen Arbeit in den Betrieben spüren. Meine Damen und Herren, so soll es weitergehen. Dem Dritten Rechtsbereinigungsgesetz soll ein Viertes Rechtsbereinigungsgesetz folgen. Wir haben im Dezember im Kabinett außerdem beschlossen, daß wir uns um eine Verbesserung der Rechtssetzung bei neuen Regelungen noch stärker bemühen wollen. Denn es geht ja auch hier darum, Obacht zu geben, daß bei neuer Rechtssetzung einfach, übersichtlich und anschaulich verfahren wird. Und so möchte ich Ihnen zusammenfassend sagen: Der Bundeskanzler hat bereits in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag gesagt, daß Rechts- und Verwaltungsvereinfachung eine Daueraufgabe sein wird. Wir werden uns dieser Aufgabe im Interesse der Bürger, im Interesse der Verwaltungen, im Interesse unseres Staates weiter widmen. Ich möchte Sie vor diesem Hohen Hause auch weiterhin um Mitarbeit bei dieser wichtigen Aufgabe bitten. Herzlichen Dank für die breite Unterstützung, die wir bei diesem Gesetz haben konnten. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes. Ich rufe die Art. 1 bis 42, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der GRÜNEN mit großer Mehrheit angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile - Drucksache 11/2344 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsauschusses ({0}) - Drucksache 11/6722 Berichterstatter: Abgeordnete Marschewski Dr. de With ({1}) Der Ältestenrat schlägt vor, für die Beratung 30 Minuten vorzusehen. ({2}) - Okay, Herr Kollege! - Das Haus ist einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Senator Curilla, Land Hamburg. Bitte! Senator Curilla ({3}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich ausdrücklich bei den Mitgliedern des Rechtsausschusses dafür bedanken, daß sie den Gesetzentwurf des Bundesrates so zügig beraten haben; denn auf diese Weise kann verhindert werden, daß dieser Entwurf wegen des Ablaufes der Legislaturperiode der Diskontinuität unterfällt. Die Verabschiedung des Entwurfs noch in dieser Legislaturperiode liegt insbesondere Hamburg sehr am Herzen. Das Gesetz wird in Hamburg dringend gebraucht. In Hamburg sind schwerwiegende Urteile aus der NS-Zeit bekannt, die nach der bisherigen Rechtslage nicht überprüft werden können. Die bisherige Rechtslage nämlich erlaubt es nicht, NS-Urteile zu überprüfen, wenn die ihnen zugrunde liegenden Taten vor dem 30. Januar 1933 begangen worden sind. Das betrifft z. B. Vorgänge um den sogenannten Altonaer Blutsonntag, auf Grund deren allein ca. 100 Personen von Gerichten des NS-Staates verurteilt worden sind. Entscheidend für die Frage, ob es sich um eine Unrechtsentscheidung handelt, kann es aber nicht auf den Tatzeitpunkt ankommen, sondern maßgeblich muß es auf den Zeitpunkt ankommen, zu dem das Urteil gefällt worden ist. Der Rechtsausschuß empfiehlt einstimmig, den Gesetzentwurf des Bundesrates in unveränderter FasSenator Curilla ({4}) sung zu beschließen. Dieses ist, wie ich ausdrücklich betonen möchte, erfreulich und sollte eigentlich kein Anlaß für kritische Bemerkungen sein, zumal nicht durch den vom Bundesrat offiziell benannten Vertreter, der hier spricht. Ich möchte mir gleichwohl einige wenige kritische Hinweise erlauben. Die Initiative für den Gesetzentwurf stammt, wie Sie wissen, aus Hamburg. Unser ursprünglicher Antrag ging weiter. Er ist dann im Laufe der Bundesratsberatungen im Hinblick auf die Mehrheitsfähigkeit eingegrenzt worden. Nunmehr wird nur noch partielles Bundesrecht geschaffen, nämlich für die britische Zone. Dieses ist zwar zulässig, aber es ist ungewöhnlich. Im Laufe der Beratungen im Rechtsausschuß des Bundestages hat es, wie wir alle wissen, eine Chance gegeben, dieses zu vermeiden. Deshalb ist es, wie ich finde, bedauerlich, daß die von der Bundesregierung und von weiten fraktionsübergreifenden Teilen des Bundestages oder vielleicht sogar von allen gewünschte bundeseinheitliche Lösung wegen des Widerstandes einzelner Länder nicht möglich gewesen ist. ({5}) Dieses ist für mich um so überraschender, als teilweise - jedenfalls für die ehemaligen Länder der früheren französischen Besatzungszone - dieselbe unzulängliche Rechtslage besteht wie in den Ländern der ehemaligen britischen Besatzungszone. Es ist für uns auch schwer verständlich, daß andere der Auffassung sind, keine vergleichbaren Probleme zu haben. Wir in Hamburg sind auf Grund unserer bei der Aufarbeitung der Geschichte der NS-Justiz gewonnenen Erkenntnisse davon überzeugt, daß nicht nur in Hamburg ein Teil der Justiz von Anfang an willfähriges Instrument des nationalsozialistischen Unrechtsstaates war und auch entsprechend urteilte. Unsere Ermittlungen sprechen dafür, daß der Grundsatz, würde man suchen, so würde man auch finden, auch in diesem Falle gilt. Hamburg teilt auch nicht die Befürchtung, daß dieses Gesetz zu Unrecht den Eindruck erwecken würde, daß dem Gesetzgeber bei der Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile Versäumnisse vorzuwerfen seien. Wichtig erscheint mir noch zu betonen, daß sich der Gesetzentwurf nicht nur auf Entscheidungen der Sondergerichte bezieht, sondern daß er auf alle Strafurteile anzuwenden ist. Die Entscheidung über die Aufhebung soll ein Gericht treffen, nicht die Staatsanwaltschaft, wie es noch die Militärverordnung der britischen Zone aus dem Jahre 1947 vorsah, die allerdings bekanntlich in den 60er Jahren aufgehoben worden ist, weil man keinen Bedarf mehr für sie sah. Eine umfassende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist erst in den letzten zehn Jahren auf breites gesellschaftliches Interesse gestoßen - wie ich meine, ein Versäumnis der Gesellschaft insgesamt, keineswegs nur des Gesetzgebers. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß auch die Justiz früher hätte aktiv werden sollen und müssen. Hier ist vor allem in den 50er und 60er Jahren viel versäumt worden. Diese Versäumnisse sind heute vielfach nicht mehr zu heilen, da die Opfer bzw. deren Angehörige meist nicht mehr leben. Aber auch die symbolische Rehabilitierung der Opfer ist ein wichtiges Moment bei der Aufarbeitung unserer Vergangenheit. Wir sind froh, daß heute ein gesellschaftliches Klima herrscht, in dem diese Fragen gerade bei der jungen Generation auf breites Interesse stoßen. Wenn dabei neue Probleme erkannt werden, sollte man sie nicht weiterhin unter den Tisch kehren, sondern nach dem Motto „Besser spät, als nie" angehen. Nur so kann gewährleistet werden, daß wirklich alle Opfer der NS-Unrechtsjustiz die ihnen zustehende justizförmige Rehabilitierung erfahren. Ich habe kritisch darauf hingewiesen, daß es sehr gut gewesen wäre, wenn man noch weitergehend, als hier empfohlen, hätte beschließen können. Das ist, wie Sie wissen, nicht möglich gewesen. Ich bin gleichwohl mit dem, was der Rechtsausschuß des Bundestages einstimmig empfiehlt, sehr zufrieden. Denn für Hamburg jedenfalls werden damit die Probleme gelöst werden können. Ich bedanke mich dafür noch einmal ausdrücklich und bitte den Bundestag, der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zuzustimmen. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr als 20 000 Menschen wurden durch den Volksgerichtshof und die Sondergerichte eingekerkert, ermordet, zu Tode geschändet: wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen, als sogenannter Volksschädling, wegen Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz von Parteiuniformen oder - ich zitiere - als „Schwätzer und Hetzer" oder wegen Verstoßes gegen die Polen-Strafrechtsverordnung. Oder als Defätist, wie der 28jährige Diplomingenieur aus Posen, der nach dem Sturz Mussolinis erklärte: „Bald seien wir auch den Führer los, und es werde zu einem anständigen Vergleichsfrieden kommen. Und das werde dann ein schönes Leben werden. " Und das Urteil des Volksgerichtshofs in dieser Sache vom 23. September 1943: „Er sei für immer ehrlos und werde mit dem Tode bestraft, denn er habe aus seiner gemeinschaftsfeindlichen Persönlichkeit heraus Äußerungen getan und damit den Kreigsfeinden geholfen." Es wurde somit schreckliche Wahrheit, was Goebbels bereits 1932 dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Heilmann zuschrie: Man werde ein Gesetz machen, nach dem man Herrn Heilmann durch einen deutschen Staatsgerichtshof als ersten in völlig legaler Weise aufhängen lassen werde. Und was später so ausgeführt wurde: Es sei nicht vom Gesetz auszugehen, sondern von dem Entschluß, der Mann müsse weg. Der Deutsche Bundestag hat sich bereits mehrmals mit den Urteilen des sogenannten Volksgerichtshofs und der Sondergerichte befaßt. Er hat festgestellt und klar zum Ausdruck gebracht, daß der Volksgerichtshof kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinn war, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung nationalsozialistischen Unrechts. Wir haben dies getan auf der Grundlage der Gesetze über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Danach waren diese sogenannten Urteile entweder kraft Gesetzes nichtig, oder sie konnten auf besonderen Antrag hin aufgehoben werden. Und diese vorkonstitutionellen Regelungen gelten heute noch. Gemäß Art. 125 unseres Grundgesetzes wurden sie gültiges partielles Bundesrecht. Diese Bestimmungen haben jedoch zumindest in der britischen Zone zur Voraussetzung, daß nicht nur die gerichtliche Entscheidung, sondern auch der von ihr erfaßte Sachverhalt in die Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten fiel. Deswegen war es nicht möglich, sich kraft Gesetzes, kraft Gerichts mit den Urteilen des sogenannten Altonaer Blutsonntags vom 17. Juli 1932 nach geltendem Recht zu befassen. Wir wollen, dem Antrag des Bundesrates entsprechend, diese Lücke schließen. Das zuständige Oberlandesgericht soll sich jetzt auf Antrag mit der Sache befassen können. Meine Damen und Herren, wenn wir uns 45 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches mit der Justiz im Nationalsozialismus beschäftigen, so wird mancher sagen, daß dies viel zu spät sei, denn man könne ja ohnehin nichts ändern, was aber mit einer Mentalität des Vergessens oder Verdrängens nichts zu tun habe. Der Kaiser geht, die Richter bleiben? Oder - was damals Recht war, kann heute doch nicht Unrecht sein? Ich teile diese Meinung nicht, wenn ich auch die Verstrickungen begreife. Verbrechen gegen Menschen, sie waren es, sie bleiben es, ob damals, ob jetzt, ob heute oder später; in welchem Land, wo auch immer. Ich bin überzeugt, daß eine würdige Gestaltung auch unserer gesamtdeutschen Zukunft - und da wird es justitielle Probleme geben - nur möglich ist, wenn wir schmerzliche Dinge klären und abklären, um aus ihnen zu lernen. Wir dürfen die Augen nicht verschließen, um die Netzhaut zu schonen, so Karl Haensel, Verteidiger in den Nürnberger Prozessen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat so, wie es hier Herr Justizsenator Curilla geschildert hat: Mit vorliegendem Gesetz - ich gehe davon aus, daß wir es einstimmig verabschieden werden - treffen wir eine Teilregelung; es wird nämlich nur die Länder der ehemaligen britischen Besatzungszone betreffen. Damit wird es dort möglich werden, wie das früher schon einmal möglich war, NS-Unrechtsurteile zu überprüfen, in diesen Fall auch, wenn die Tat vor dem 30. Januar 1933 lag. Das ist gut so. Dennoch wäre es besser gewesen, hätten wir eine für das ganze Bundesgebiet geltende Regelung getroffen. Wir Sozialdemokraten hatten einen diesbezüglichen Antrag gestellt, der überdies eine bessere Rechtsmittelmöglichkeit geschaffen haben würde und auch in einem Punkt ein kleines bißchen weiter gegangen wäre. Dies wäre nicht nur für das gesamte Bundesgebiet besser gewesen, ich glaube auch, damit hätten wir eher zum Ausdruck gebracht, welche Gedanken wir alle in der Bewältigung dessen haben, was in jenen unseligen zwölf Jahren geschehen ist. Sicher ist, daß auf jeden Fall in der vormals amerikanischen Besatzungszone die Überprüfung derartiger Urteile auf Grund des alten Besatzungsrechts noch heute möglich ist. Zweifel habe ich, was Teile des Landes Baden-Württemberg anlangt. Wir müssen damit leben, und wir Sozialdemokraten gehen davon aus, daß es sich im Grunde bei diesem Thema, bei dieser Materie - ich darf das so formulieren - nicht schickt, unziemlich um Wege zu streiten, wenn es wirklich um die Sache geht. Deswegen werden wir Sozialdemokraten hier heute zustimmen. Aber es lohnt sich die Frage: Was steckt eigentlich hinter all dem, was verbirgt sich hinter diesem Gesetzesvorhaben? Ganz einfach der Versuch, Unrecht wieder Recht werden zu lassen. Unrecht das vor mehr als einem halben Jahrhundert deutsche Richter gesprochen haben. Wer vor zehn, ja, zwanzig Jahren gedacht hatte, das sei doch alles geklärt, jetzt müsse endlich Gras darüber wachsen, sieht sich getäuscht, und ich sage: Gott sei Dank. Denn damals wurden Wunden eingebrannt, die nicht aufgehört haben zu schmerzen und die immer schmerzen werden. Das mindeste, was wir tun können, sind die Schaffung und die Aufrechterhaltung eines Instrumentariums, das es gestattet, jenen die Ehre wiederherzustellen, die Leib und Leben gegen den Nationalsozialismus riskiert haben oder sich dem Nationalsozialismus und deren Schergen nur entziehen wollten. Der Gesetzentwurf folgt damit dem Geist der einstimmig angenommenen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 25. Januar 1985 zur - wie es damals hieß - „Nichtigkeit der Entscheidungen der als ,Volksgerichtshof' und ,Sondergerichte bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes", um den dunkelsten Abschnitt deutscher Rechtsgeschichte weiter aufzuhellen. Diese Entschließung - das sei nicht verschwiegen - bezieht sich allerdings nur - das ist mit Sicherheit ein Manko - auf den Volksgerichtshof und dessen Entscheidungen, nicht auf die Sondergerichte. Der Gesetzentwurf heute bezieht sich auf alle Gerichtsentscheidungen, und das ist ein Fortschritt. Der tiefe Fall der Justiz in der Nazizeit ist erst jüngst, nämlich am 30. Januar 1990, aus Anlaß der Enthüllung einer Stele im Bundesgerichtshof in Karlsruhe als Mahnmal für die Justizopfer der Öffentlichkeit ins Bewußtsein gerückt worden. Dies kann nicht oft genug geschehen. Denn was entwurzelt die Kultur mehr als Ungerechtigkeit im Namen der Gerechtigkeit durch eine willfährige Justiz? Durch Maßnahmen und Dekrete der Besatzungsmächte unmittelbar nach 1945 und auch durch entsprechende Gerichtsurteile flammte die Debatte damals über das gesetzte Naziunrecht - das war wohl in der Tat so - , beschränkt nur auf die Fachblätter, auf, aber nur für kurze Zeit. Das Bewußtsein der Öffentlichkeit wurde wenig berührt. Die Debatte versiegte auch bald wieder. Das Problem wurde verdrängt. Erst mit der Rede des damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Gerd Pfeiffer anläßlich des 100. Geburtstages des Reichsgerichts im Oktober 1979 kam die Verstrickung der Justiz unter Hitler wieder in die fachöffentliche Diskussion. Der seinerzeitige Vorsitzende - er ist inzwischen verstorben - des Deutschen Richterbundes, Helmut Leonardy, hat mit seiner für viele überraschenden, schonungslosen Rede zur 75-Jahr-Feier des Richterbundes im April 1984 die Tür zur Vergangenheit weiter geöffnet. Seitdem wird mehr diskutiert. Gleichwohl wird immer noch verdrängt. Natürlich gab es auch damals Richter, die sich weder vereinnahmen noch das Kreuz brechen ließen. Erinnert sei hier an den Amtsrichter Lothar Kreyssig, der sich bewundernswert hartnäckig gegen die Tötung - wie es damals hieß - lebensunwerter Kinder wehrte - es waren die von ihm betreuten Mündel -, bis er schließlich zwangspensioniert wurde. Er gehörte übrigens nach 1945 zu den Mitbegründern der „Aktion Sühnezeichen". Erinnert sei auch an den Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi, der seinen Widerstand vor fast genau 45 Jahren am 7. oder 8. April 1945 - wir wissen es nicht genau - im Konzentrationslager Sachsenhausen mit dem Leben büßen mußte. Aber die Masse der Justiz ist, als es kritisch wurde, nicht der Stimme der Gerechtigkeit, sondern der des Führers gefolgt. „Gesetz ist Gesetz" hieß damals in vielen Fällen die Entschuldigung, und noch nach 1945 blieb mancher nach dieser Devise ungeschoren. Ich habe hier nicht zu richten, nicht zu verfolgen und erst recht nicht zu rechten. Aber immer und immer wieder muß an diese unselige deutsche Rechtstradition erinnert werden, die mit dem Wort Rechtspositivismus markiert wird und leider tiefe Wurzeln hat. Gustav Radbruch hat mit gutem Grund in seinem bekannten Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" in der „Süddeutschen Juristenzeitung" 1946 parabelhaft darauf hingewiesen, wie sich die Scharfrichter ihrer Verantwortung für etwaiges Unrecht zu entziehen suchten. Ich zitiere: Schon als der Scharfrichterberuf noch eine Art erblichen Handwerks war, pflegten sich die Inhaber dieses Gewerbes immer wieder damit zu entschuldigen, daß sie nur exequierten, zu judizieren aber die Aufgabe der Herren Richter sei. „Die Herren steuern dem Urteil, ich exequiere ihr Endurteil" - dieser Spruch von 1698 kommt so oder ähnlich immer wieder auf den Klingen von Richtschwertern vor. Auch in der DDR hat dieser verderbliche Rechtspositivismus, ohne daß er als solcher so bezeichnet wurde, bei der Exekution des Willens der SED durch Richter und Staatsanwälte Pate gestanden. Auch hier wollen wir nicht verurteilen. Aber wir haben dafür Sorge zu tragen, daß wenigstens über vergangenes Unrecht gerecht geurteilt werden kann. Recht steht über dem Gesetz. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 45 Jahre nach Kriegsende habe wir uns noch einmal mit der Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile zu beschäftigen. Zwar hatten die Alliierten die Aufhebung aller NS-Urteile, die aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen gefällt worden sind, angeordnet. Dies ist dann auch in die Tat umgesetzt worden. Dabei sind zumindest für das Gebiet der früheren britischen Besatzungszone die Sachverhalte nicht mit erfaßt worden, wo die angeblich strafbaren Handlungen vor der sogenannten Machtergreifung am 30. Januar 1933 begangen worden sind, aber die Verurteilung und die Vollstreckung nach dem 30. Januar 1933 erfolgt sind. Ein typisches Beispiel sind die NS-Todesurteile gegen August Lüttgens, Walter Möller, Bruno Tesch und Karl Wolf. Diese Männer waren gleich nach der Machtergreifung Hitlers und der Anschuldigung, beim sogenannten Altonaer Blutsonntag am 17. Juli 1932 zwei SA-Männer erschossen zu haben, von einem nationalsozialistischen Sondergericht unschuldig zum Tode verurteilt und am 1. August 1933 hingerichtet worden. Obwohl das Sondergerichtsurteil ein Unrechtsurteil gewesen ist, sind Lüttgens, Möller, Tesch und Wolf, juristisch betrachtet, weiterhin zum Tode verurteilte Mörder. Eine Rechtsgrundlage zur Aufhebung dieser NS-Urteile gibt es bis heute nicht. Schon an diesem Beispiel wird deutlich, daß ein Bedarf für das heute zur Entschließung vorliegende Gesetz besteht. Ungewöhnlich ist sicherlich, daß sich dieses Gesetz räumlich auf die Länder der früheren britischen Besatzungszone, also auf Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen beschränkt. Ich verhehle nicht, daß meine Partei eine Regelung bevorzugt hätte, in der diese räumliche Einschränkung nicht vorgesehen wäre. Dies war jedoch gegen den Widerstand vor allem der Länder Bayern, BadenWürttemberg und pikanterweise auch des Landes Bremen und trotz intensiver Bemühungen auch meines Parteifreundes Detlev Kleinert nicht möglich gewesen. Unter diesen Umständen haben wir diesen Gesetzentwurf, der auf den Antrag des sozialliberalen Senats der Freien und Hansestadt Hamburg zurückgeht, unterstützt, um auf diese Weise wenigstens zu erreichen, daß die NS-Unrechtsurteile gegen August Lüttgens, Walter Möller, Bruno Tesch und Karl Wolf, die ich hier beispielhaft nennen möchte, möglichst bald auf An16002 trag vom Hanseatischen Oberlandesgericht überprüft werden können. 45 Jahre nach Kriegsende und Beendigung der NS-Gewaltherrschaft muß endlich auch juristisch ein klarer Schlußstrich gezogen werden. Dies sind wir auch den zu Unrecht Verurteilten und ihren Angehörigen schuldig. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben das Wesentliche eigentlich schon gesagt. Ich möchte nur noch ein paar kleine Anmerkungen machen. Wir haben im Rechtsausschuß ziemlich lange gebraucht, bis wir die Vorlage nach der Überweisung beraten haben. Überwiesen worden ist schon im Herbst 1988. Zwischenzeitlich kam eine Petition der Bruno Tech AG aus Hamburg, und die hat uns noch einmal einen Schubs gegeben, die Beratungen in Angriff zu nehmen. Wir haben im Rechtsausschuß sehr viel Arbeit; die Regierung hält uns laufend auf Trab. Aber ich war sehr erstaunt, in welch ungewohnter Gründlichkeit und auch Würdigung dessen, was da vorgetragen worden ist, diese einzelne Gesetzesinitiative im Rechtsausschuß beraten worden ist. Ich habe das bei „kleineren" Vorhaben sonst eigentlich kaum erlebt. Es hat mich, muß ich sagen, auch sehr angerührt. Einerseits stehen, wie auch Sie gerade schon sagten, Herr Funke, so viele Jahre nach dem Krieg Menschen, die ermordet worden sind, rechtlich immer noch als Mörder da. Man kann es überhaupt nicht wiedergutmachen. Zum anderen hat man sich, als wir das berieten, auch gefragt: Woher nehmen diese Menschen, die so darauf bestehen und dafür kämpfen, eigentlich die Kraft, zu verlangen, daß hier, weil man nichts mehr wiedergutmachen kann, wenigstens vor dem Gesetz, von Rechts wegen Rehabilitation erfolgt? Da habe ich eigentlich ganz besonders gemerkt, wie wichtig es ist, daß auch von den jetzt zuständigen öffentlichen Stellen Recht und auch Unrecht beim Namen genannt und Unrecht zumindest eingestanden und zurückgenommen und die Wahrheit auch öffentlich ehrlich gesagt wird. Dies kann ein Stückweit ein Trost, wenngleich auch keine Wiedergutmachung sein und nichts von der Brutalität wegnehmen, die es gegeben hat. Das ist im Rechtsausschuß, glaube ich, vorbildlich geleistet worden. Ich möchte mich auch ausdrücklich beim Justizministerium bedanken. Herr Minister, Frau Adlerstein hat uns eine sehr gute Formulierungshilfe vorgelegt, die in einem Paragraphen weitergehend ist als das, was wir jetzt vorliegen haben, und eben auch eine bundeseinheitliche Regelung vorgesehen hätte. Für mich persönlich war ziemlich befremdlich, daß hier - ich weiß nicht was für Länderkompetenzen dazu herhalten mußten - , eine bundeseinheitliche Regelung am Widerstand einiger Bundesländer scheiterte. Es war für mich überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, in diesem Bereich auf Länderkompetenzen zu bestehen. Das habe ich persönlich sehr bedauert. Ich bin der Meinung, hier muß endlich eine Grundlage geschaffen werden. Es ist nicht mehr zumutbar, daß die Menschen, die dafür gestritten haben, noch länger hingehalten werden. Darum stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Juni des vergangenen Jahres habe ich in Berlin die Ausstellung „Im Namen des deutschen Volkes - Justiz und Nationalsozialismus" eröffnet, die bis 1993 in allen Bundesländern zu sehen sein wird. Diese Ausstellung setzt sich nicht nur mit der NS-Justiz selbst auseinander. Sie spart vielmehr die Zeit nach 1945 nicht aus. Mit ihr, aber auch mit einer Reihe anderer Initiativen möchte ich ein Zeichen setzen. Es geht mir um einen eigenen Beitrag der Justiz, in dem das von ihr begangene Unrecht beim Namen genannt und den Opfern der Justiz gegenüber eingestanden und offen bekannt wird. Ein solches Bekenntnis und Eingeständnis der eigenen Fehler kann das begangene Unrecht nicht wiedergutmachen. Es kann aber dazu beitragen, in der Trauer um die Opfer der NS-Justiz um so sensibler und entschiedener für den Rechtsstaat einzutreten. In guter Absicht ist nach dem Krieg versucht worden, durch sogenannte Wiedergutmachungsvorschriften das in der Strafrechtspflege begangene Unrecht zu beseitigen. Den Opfern der NS-Justiz wurde ein vereinfachtes Verfahren zur Überprüfung und Aufhebung von Strafurteilen zur Verfügung gestellt. Ob damit die beabsichtigte Rehabilitierung stets und in jedem Falle gelungen ist, wird uns wohl nur die historische und zeitgeschichtliche Forschung sagen können. Der vorliegende Bundesratsentwurf wird jetzt, so hoffe ich, eine - vermutlich im Zusammenhang mit der intensiveren Diskussion um die NS-Justiz - erstmals erkannte Lücke bei der Wiedergutmachung schließen. Als Stichwort nenne ich den bereits mehrfach erwähnten „Altonaer Blutsonntag". Ein weitergehender Handlungsbedarf wurde von den Rechtsanwendern nicht gesehen. Meine Damen und Herren, der Forderung, mit der Vergangenheit endlich Schluß zu machen, darf in einer Zeit, in der auch im politischen Raum das Vergessen des Schrecklichen noch und wieder zur Methode gemacht werden soll, nicht nachgegeben werden. Ich hoffe und wünsche, daß auch meine Initiativen einen Teil dazu beitragen, zu einer offenen Diskussion, zum Bekenntnis des Unrechts und zur AuseinanBundesminister Engelhard dersetzung mit der Vergangenheit wirklich zu kommen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den vorn Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf des Bundesrates unverändert anzunehmen. Ich rufe die §§ 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung beendet. Meine Damen und Herren, wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Scheer, Horn, Dr. Ehmke ({0}), Bahr, Dr. von Bülow, Fuchs ({1}), Büchner ({2}), Erler, Gansel, Heimann, Heistermann, Hiller ({3}), Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Opel, Dr. Soell, Stobbe, Verheugen, Voigt ({4}), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Abrüstung und Sicherheit 1990 - Drucksache 11/6309 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({5}) Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs ({6}).

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Die stürmische Entwicklung in Osteuropa und in Deutschland hat die Bedingungen und Chancen für Abrüstung in wenigen Monaten grundlegend verändert. Bisher war Abrüstung ein Hebel, um die politische Konfrontation zwischen den Blöcken langsam, Schritt für Schritt abzubauen, jeder Schritt abgestimmt, vereinbart und ausgehandelt. Heute hat sich die Dynamik umgekehrt. Die Politik vollzieht rasante Sprünge. Die Abrüstung hinkt hinterher. Militärische Strukturen veralten täglich mehr. Schon bisher galt, daß Sicherheit nur mit politischen Mitteln als gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten erreichbar war. Um wieviel mehr gilt das heute. Ich behaupte: Jede Milliarde, die weniger für Waffen ausgegeben wird und die wir statt dessen zur Zukunftssicherung in Deutschland, in Osteuropa und in der Dritten Welt investieren, bringt uns mehr Sicherheit, als militärische Mittel das je könnten. Weil die militärische Konfrontation in Europa zu Ende geht, verliert der militärische Faktor rasch an Gewicht, und das ist gut so. In Widerspruch dazu steht, daß noch immer fast 1,5 Millionen Soldaten in beiden Teilen Deutschlands stehen und Tausende von Atomwaffen auf deutschem Boden lagern. Dies sind die liegengebliebenen und funktionslos gewordenen Schreckensinstrumente einer Politik, die heute der Vergangenheit angehört. Auch das, was in Wien stattfindet und noch vor einem Jahr als großer Durchbruch gefeiert wurde, wird überholt, überholt in der konzeptionellen Grundlage, die noch immer von der Fiktion zweier gegnerischer Blöcke ausgeht, und überholt in den begrenzten Zielen. Die Völker Europas träumen heute keineswegs von einer Obergrenze von 40 000 Panzern, sondern sie fragen immer drängender, wozu Panzer in Europa überhaupt noch gebraucht werden. Wenn Abrüstung die Politik wieder einholen soll und den Erwartungen der Menschen entsprechen will, dann bedarf es sehr rasch neuer konzeptioneller Überlegungen, neuer Instrumente und neuer, viel radikalerer Ziele. Wer, bitte, bedroht uns heute noch? Das demokratische Polen mit dem katholischen Solidarnosc-Vertreter an der Spitze? Oder etwa die Tschechoslowakei eines Vaclav Havel? Oder Ungarn mit einer demnächst wohl konservativen Regierung? - Wohl kaum! Aus Ungarn und der Tschechoslowakei werden zudem in wenigen Monaten die sowjetischen Truppen verschwunden sein, und die Deutschen, die jahrzehntelang die Spaltung und Konfrontation Europas verkörperten, sind dabei, sich zu vereinigen. Der Warschauer Vertrag hat aufgehört, ein militärisch einsetzbares Instrument zu sein. Bleiben die sowjetische Militärmacht selbst und ihre Präsenz in Mitteleuropa! Auch von dieser werden nach der amerikanisch-sowjetischen Verständigung nur noch knapp 200 000 Mann übrig sein, und niemand glaubt ernsthaft, daß das so bleiben wird. Wenn man diese Entwicklung bilanziert, muß man zu dem Schluß kommen: Die Ost-West-Konfrontation hat aufgehört, das prägende Moment europäischer Politik zu sein. Das heißt dann allerdings auch, daß Sicherheitspolitik, Streitkräfteplanung und Abrüstung sich völlig neu orientieren müssen. Das gilt natürlich auch für die NATO. Es ist eine gefährliche Fehleinschätzung, so zu tun, als könne die NATO einfach weitermachen wie bisher, während das östliche Bündnis zumindest als Militärpakt zerfällt. Der gegenwärtige NATO-Generalsekretär entpuppt sich zunehmend als Belastung für den europäischen Einigungsprozeß, wenn er meint, daß die NATO im Kern an ihrer alten Rolle der flexiblen Antwort und der Abschreckung mit taktischen Atomwaffen festhalten müsse. Atomare Abschreckung und europäische Konföderation - das paßt nicht zusammen. Atomwaffen und deutsche Vereinigung - das ist ein unüberwindbarer Widerspruch. Wer die deutsche Vereinigung will, der darf keine Atomwaffe auf deut16004 Frau Fuchs ({0}) schem Boden dulden. Alle Atomwaffen - so möchte ich dem Herrn Verteidigungsminister sagen - müssen abgezogen werden und nicht nur die Artillerie, die er neuerdings nicht mehr tabuisiert. Auch Planspiele, die Zahl der Atomsprengköpfe zu halbieren und den Rest zu modernisieren, wirkungsvoller und einsatzfähiger zu machen, müssen aufhören. Mit einer solchen Politik gefährden und belasten Menschen wie der Verteidigungsminister, wie die Planer auf der Hardthöhe die deutsche Einigung. Und auch Sie - jetzt hätte ich beinahe gesagt „meine Herren und Damen von der FDP" ; ich sage jetzt aber „mein Herr Kollege von der FDP" , im Hinblick auf die Anwesenheit Ihrer Fraktion - werden sich einfach entscheiden müssen, Herr Kollege Ronneburger: Wann kommt eigentlich Ihr endgültiges Nein zu neuen Atomwaffen, gleichgültig, ob land- oder luftgestützt? ({1}) - Nein, ich meine das endgültige Nein zu land- und luftgestützten Atomwaffen. ({2}) Ich habe noch keine Auskunft von Ihnen darüber, ob Sie auch neue luftgestützte Atomraketen ablehnen. Ich hoffe, daß Sie das heute sagen werden. Wie soll das gehen, die NATO von ihrer militärischen zu einer politischen Funktion zu überführen, von der Herr Genscher und viele von Ihnen so oft sprechen? Sind Sie dann bereit, auf die atomare Abschreckung zu verzichten und die sogenannte „flexible Antwort" durch eine neue, politische Strategie zu ersetzen? Das wäre doch die Voraussetzung dafür, daß die NATO - und spiegelbildlich der Warschauer Vertrag - nicht mehr als Träger der Abschreckung wirken, sondern ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren können. Das ist die einzige Funktion, die die Bündnisse in der heutigen Lage noch wahrnehmen können und sollen: mithelfen, europäische Sicherheitsstrukturen zu erarbeiten, in die ein vereinigtes Deutschland integriert werden kann. Dann braucht sich niemand um ein ungebundenes, frei schwebendes Deutschland zu sorgen. Eines ist dabei allerdings klar: Eine militärische Stärke heutigen Zuschnitts ist mit einem vereinigten, in europäische Sicherheitsstrukturen eingebetteten Deutschland nicht zu vereinbaren. In anderen Worten: Die militärische Stärke der Deutschen muß erheblich geringer werden. Ich meine, das entscheidende Kriterium dafür müssen die Wünsche unserer Nachbarn sein und nicht die Stärke eines Warschauer Vertrages, den es als Militärpakt dann längst nicht mehr gibt. Unsere Nachbarn sollen uns sagen, was sie an deutscher militärischer Präsenz oder Potenz - wie immer Sie es ausdrücken wollen - aushalten und was nicht. Daß das weder der gegenwärtige Umfang noch die 400 000 Mann des Verteidigungsministers sein können, ist klar und eindeutig. Die Abrüstung der Bundeswehr kann sich auch nicht allein an Wien orientieren; das ist meine feste Überzeugung. Wir müssen darüber hinaus eigenständige Schritte tun, wenn wir die deutsche Vereinigung nicht gefährden wollen. Es ist doch kein Wunder, wenn in den Zeitungen zu lesen ist, daß die Verhandlungen in Wien stagnieren, weil die Sowjetunion in den Zweiplus-Vier-Verhandlungen erst den sicherheitspolitischen Status Deutschlands, einschließlich des Umfangs deutscher Streitkräfte, klären will. Das war für mich keine Überraschung. In unserem heute vorliegenden Antrag sagen wir: Die Bundeswehr soll in einem großen Zwischenschritt, der nicht das Ende aller Reduktionen bedeuten wird, auch nicht bei uns auf 240 000 Mann reduziert werden. Das soll im Zuge des Streitkräfteabbaus in Ost und West geschehen. Ich sage: Wenn die Vereinigung bis 1992 vollzogen sein soll, wie der Bundeskanzler erklärt, dann können wir auf Wien nicht mehr warten, sondern müssen sofort mit der Reduktion beginnen. Am harmonischsten geht das, wenn die Dauer des Grundwehrdienstes sofort auf 12 Monate abgesenkt wird. Ich fordere Sie, Herr Verteidigungsminister Stoltenberg, dringend auf, diese Reduktion auf 12 Monate bis zum nächsten Einberufungstermin zu vollziehen und die Wehrpflichtigen, die bereits 12 Monate gedient haben, sofort zu entlassen. ({3}) Ich meine, das wäre ein Signal, daß die Deutschen verstanden haben, daß die Chance der Einheit, die ihnen die Geschichte so unverhofft eröffnet hat, untrennbar mit der Abrüstung verbunden ist. - Ich meine das ernst, Herr Lamers. Ich mache keine Showgefechte. Ich meine, daß es geht. Es wäre allerdings das falsche Signal, wenn kleinere Streitkräfte hochmobil, hochtechnisiert und hochangriffsfähig ausgestattet würden. Neue Strukturen verlangen eindeutige Defensivität, die die Selbstverteidigung betont, ohne bedrohlich zu wirken. Ein positives Signal wäre auch, die Tiefflüge nun endgültig einzustellen. Es hat mich schon amüsiert, daß auch der Verteidigungsminister jetzt endlich geneigt scheint, die Abschaffung der Tiefflüge unter 75.Meter über der Bundesrepublik zumindest zu überprüfen. ({4}) - Zu bedenken? Ich habe in Erinnerung: zu prüfen. Das wird er aber vielleicht noch selber sagen. Seit zwei Jahren fordern wir den Stopp sämtlicher Tiefflüge. Daß wir mit dem Tiefflug gleich die gesamte Verteidigungsfähigkeit aufgeben wollten, war noch einer der harmloseren Vorwürfe, die wir von der Hardthöhe und vom Minister hören konnten. Jetzt, nach zwei Jahren, gibt er ein bißchen nach und will erst einmal prüfen lassen - oder überdenken - , was von einer Gruppe von Piloten längst geprüft ist mit dem Ergebnis: Unter 75 Metern ist Tiefflug sinnlos. Frau Fuchs ({5}) Es besteht wirklich kein Grund mehr, finde ich jedenfalls, sich bis in den Wahlkampf hinein hinter Gutachten und Prüfaufträgen zu verschanzen und dann womöglich kurz vor der Wahl zu verkünden, daß wir auch ohne Tiefflug unter 75 Metern sicherheitspolitisch noch überleben können. Der Tiefflug kann und muß vollständig abgeschafft werden, und zwar jetzt. Oder glauben Sie etwa, irgendein Bürger oder irgendeine Bürgerin nimmt Ihnen noch ab, daß Jagdbomber den Angriff in Baumgipfelhöhe über der DDR, Polen oder der Tschechoslowakei heute noch üben müssen? Prüfaufträge, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, scheinen bei Ihnen zur Zeit Hochkonjunktur zu haben. Leider ist zu vermuten, daß sich dahinter nur die Unfähigkeit verbirgt, aus einer neuen politischen Lage Konsequenzen zu ziehen und auch zu handeln. Beim Jäger 90 prüfen Sie, was jeder längst weiß. Geben Sie doch endlich zu, daß dieses Flugzeug überflüssig, unbezahlbar, sicherheitspolitisch nicht vertretbar und, wie Herr Lambsdorff richtig bemerkte, die größte Umwegfinanzierung aller Zeiten ist. Es wäre doch eine Absurdität ohnegleichen, wenn die Bundesregierung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem die europäische Einigung näherrückt, die in den Sonntagsreden auch ständig beschworen wird, das größte Rüstungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik in die Produktion gehen ließe. Das wäre auch ein Signal an Europa, aber eines, das wir unseren Nachbarn lieber ersparen sollten. Hier wende ich mich nun noch einmal an die FDP. Liebe Kollegen, ich kann verstehen, daß es schwierig ist und auch lange dauern kann, wenn man einmal gefaßte Beschlüsse revidieren will. Bitte verstehen aber auch Sie, daß wir Sie nach jahrelangem Austausch der Argumente, nach wiederholten Ankündigungen einiger FDP-Kollegen, sogar eines Ministers, aus dem Jäger-Projekt aussteigen zu wollen, nach Ihrem Vorstands- und Fraktionsbeschluß, der als „Nein zum Jäger" durch die Presse gegangen ist, nun noch einmal dringend auffordern, morgen in der namentlichen Abstimmung dieses Flugzeug endgültig abzulehnen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronneburger? - Bitte schön.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Sie eigentlich die Beschlüsse meiner Fraktion und des Bundesvorstandes meiner Partei genau gelesen haben, die nämlich exakt sagen, daß das, was dort beschlossen ist, nämlich keine Produktion des Jägers 90, die Verhandlungsrichtlinie für Wien II ist und nicht etwa eine Beschlußfassung, am heutigen Tage aus der Entwicklung auszusteigen, um es etwas deutlich zu sagen? ({0})

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ronneburger, das Problem ist, daß es alles andere als eine klare Position ist. Sie wissen genau, je länger Sie mit dem Nein zu dem Entwicklungsprojekt warten, desto teurer wird es. Ich denke, es ist eine kolossale Verschwendung öffentlicher Mittel, wenn wir dieses Projekt, das die meisten Menschen, die mit irgendeinem Verstand darangehen, ablehnen, auch auf der Hardthöhe, fortführen. Es gibt noch einen kleinen Kreis von Sicherheitspolitikern rund um den Verteidigungsminister und in der Luftwaffe, die das noch weiter verfolgen wollen; sonst will das niemand mehr. Was hindert Sie denn daran, morgen zu sagen: Nein, wir steigen aus, und wir ersparen dieser Bevölkerung Milliarden DM, die wir dringend brauchen, z. B. um die deutsche Einigung zu finanzieren, um die Beseitigung der sozialen Mißstände bei uns und in der dritten Welt zu finanzieren, ({0}) und um auch dafür zu sorgen, daß die Konversion, die ja im industriellen Sektor stattfinden muß, und die Standortveränderung, also die Auflösung von Standorten, von uns finanziell begleitet wird, damit die Regionen noch eine Zukunft haben und die Menschen, die die Arbeit dadurch verlieren, neue Arbeitsplätze gewinnen? Um all das finanzieren zu können, ist z. B. auch dieses Nein zum Jäger 90 nötig, und je eher, desto besser. Nun ringen Sie sich doch einmal durch und sagen Sie doch einmal nein! ({1}) Sie haben morgen dazu Gelegenheit. Ich sage Ihnen auch: Sonst setzen Sie sich neuerdings und wieder dem Verdacht aus, daß Sie mit forschen Interviews Wählerstimmen einkassieren wollen - bitte gucken Sie, was in der Presse herüberkommt -, aber immer dann, wenn es zur Sache geht, kneifen und hinter verschlossenen Türen einer Mittelzuweisung nach der anderen beim Jäger 90 zustimmen und in der Öffentlichkeit einen ganz anderen Eindruck vermitteln. ({2}) Das geht so nicht weiter. Bitte bekennen Sie doch morgen einmal Farbe; das wäre gut. Kollegen und Kolleginnen, ein Verteidigungsminister, der in der Perspektive der deutschen und europäischen Einigung denkt, muß neue Prioritäten setzen. Das heißt, er muß die Konsequenzen aus diesem friedlichen Prozeß ziehen, Konsequenzen für eine Reduzierung und Neuorganisation der Bundeswehr, aber auch und vor allem für den Umfang des Verteidigungshaushaltes. Nachdem er mitten in die friedliche Revolution in der DDR hinein bei uns den höchsten Verteidigungshaushalt aller Zeiten durchgesetzt hat, ist ihm im Nachtragshaushalt von der Koalition eine schlappe halbe Milliarde DM abgetrotzt worden. Das war nun wirklich keine Heldentat, muß ich einmal sagen. ({3}) - Ich weiß das ziemlich genau. Es waren nämlich knapp über 500 Millionen DM. Angesichts der Tatsache, daß wir die ganzen Verpflichtungen haben, die ich eben im Zusammenhang mit Herrn Ronneburgers Frau Fuchs ({4}) Frage aufgezählt habe und die ich jetzt nicht alle wiederholen will, ist das nicht zu vertreten. Wie zu hören war, fordert der Verteidigungsminister sogar noch einmal 1,4 Milliarden DM für 1991. Diese Entwicklung muß ein Ende haben. Die Sozialdemokraten wollen, daß der Verteidigungshaushalt noch in diesem Nachtragshaushalt um 4 Milliarden DM sinkt. Wir wissen, daß dies zu verantworten ist ({5}) und daß eine große Mehrheit der Bevölkerung so denkt wie wir. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung tut sich schwer, den Prozeß der deutschen Vereinigung sicherheits- und abrüstungspolitisch zu flankieren. Der Außenminister formuliert zwar richtige Erkenntnisse, wie bei der WEU, wo er sagte: Ohne entschlossene Schritte zur Abrüstung wird es keine Einheit Deutschlands und keine Einheit Europas geben. Um diese Erkenntnis wird niemand herumkommen. Das Entscheidende ist, daß dieses konkrete Konsequenzen haben muß, und diese hat der Außenminister in dieser Koalition nicht durchgesetzt oder nicht durchsetzen können. Der Verteidigungsminister laviert, zögert, reagiert nur auf Druck und dann auch nur halbherzig, wenn es gar nicht mehr anders geht, und überdies immer völlig unzureichend. Der Eindruck bleibt, daß die Bundesregierung, deren Kanzler gesamtdeutsche Wahlen schon für das kommende Jahr für möglich hält, weder bereit noch fähig ist, die in dieser Zeit notwendige Abrüstung zu vollziehen. Dies wird die deutsche Vereinigung und auch den europäischen Abrüstungsprozeß belasten. Meine Fraktion hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie der Übergang in eine neue Epoche europäischer Politik mit Abrüstung zu gestalten ist, zuletzt in dem Antrag, über den wir heute sprechen. Sie können diese Vorschläge mit Ihrer Mehrheit jetzt zurückweisen. Aber um das Thema, wie die Vereinigung Deutschlands in einen europäischen Verständigungsprozeß einzubetten ist, kommen Sie nicht herum. Daß das nur mit mutigen Abrüstungsschritten unsererseits gelingen kann, ist eine Tatsache. Damit trägt die Bundesregierung eine besondere Verantwortung. Ich wünschte, daß Sie der endlich gerecht werden. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Fuchs, wenn ich der sozialdemokratischen Fraktion angehörte, wäre ich mit Prognosen über den weiteren Fortgang der politischen Entwicklung und den Zusammenhang dieser politischen Entwicklung mit der Abrüstung außerordentlich vorsichtig. Denn bislang sind alle Ihre Prognosen widerlegt worden. ({0}) Das, was Sie eben prognostiziert haben, wird ebenfalls widerlegt werden. Zur Sache. Daß bei dem nächsten Abrüstungsschritt, der dem hoffentlich bald abschließbaren ersten Wiener Abkommen folgen wird, auch die Bundeswehr einbezogen werden muß, ist klar und unser aller Wille. Doch heute einseitige Entscheidungen über die Bundeswehr treffen zu wollen und für andere konventionelle Streitkräfte in Europa lediglich eine Zielvorgabe als deutschen Wunsch zu formulieren, wie es die SPD in ihrem Antrag tut, mutet, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, merkwürdig anachronistisch an. Denn heute geht es nicht um die Bundeswehr. Heute geht es um die Streitkräfte im wiedervereinigten Deutschland. Deren Umfang isoliert bestimmen zu wollen ist ausgeschlossen. Denn sie sollen ja nach unser aller Wille in europäische sicherheitspolitische Strukturen eingebunden werden. Deswegen - das sage ich auch im Blick auf heutige Pressemeldungen - dürfen Entscheidungen über den Umfang deutscher Streitkräfte auch nicht in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen erfolgen, sondern sie müssen im Rahmen der VKSE verbleiben. Allerdings ist der sowjetische Wunsch berechtigt, eine glaubhafte Zusicherung für den Fortgang der Abrüstung und den Einbezug der deutschen Streitkräfte in diese zu erhalten. ({1}) Solche Perspektiven müssen von den Zwei plus Vier entwickelt und könnten als Leitlinie für Wien II im Vertrag Wien I protokolliert werden. Jedenfalls bleibt die Aufgabe, die sicherheitspolitischen Strukturen in ganz Europa zu definieren. Der viel beschworene Wille zur europäischen Einbettung Deutschlands, vor allem seiner Streitkräfte, erfordert, auf einseitiges Vorgehen auch bei der Abrüstung zu verzichten. Öffentliche Festlegungen auf einseitige isolierte deutsche Abrüstungsmaßnahmen vor den unmittelbar bevorstehenden bzw. schon laufenden allianzinternen Gesprächen und den Zwei-plus-VierVerhandlungen sind durch nichts als durch den Wunsch, in der Öffentlichkeit aufzufallen, gerechtfertigt. Dabei nimmt die SPD auch in Kauf, diejenigen zu verärgern, deren Unterstützung die Bundesrepublik jetzt so dringend braucht wie nur irgend etwas: Großbritannien und Frankreich mit der Forderung, ihre Nuklearwaffen, die USA mit der Forderung, die Seestreitkräfte in den Abrüstungsprozeß einzubeziehen. Für ihre Forderungen und Zielvorgaben nennt die SPD weder militärische noch, was wichtiger ist, politische Kriterien. Es handelt sich sachlich um reine, den aktuellen Erfordernissen überhaupt nicht gerecht werdende Abrüstungstechnik und inhaltlich um Abrüstungspopulismus. Kurzum: Der Antrag ist unseriöser Aktionismus. ({2}) Zur Sache. Erstens. Ich werde mich meinerseits hüten, Zahlenangaben über den künftigen Umfang deutscher Streitkräfte zu machen. Sie werden jedenfalls deutlich unter den addierten Zahlen von Bundeswehr und NVA liegen. Die Rahmenbedingungen und damit die politischen Kriterien für Rolle, Umfang und Struktur künftiger deutscher Streitkräfte ergeben sich aus dem sicherheitspolitischen Status des wiedervereinigten Deutschlands. Dieser Status wird u. a. durch die NATO-Mitgliedschaft bestimmt sein. Denn alle nichtdeutschen Europäer außer der Sowjetunion sowie die USA und Kanada befürworten diese NATO-Mitgliedschaft. Der Grund ist neben dem nach wie vor für erforderlich gehaltenen Schutz vor dem sowjetischen Potential und den Ungewißheiten der sowjetischen Entwicklung die Beruhigungsfunktion der Allianz gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland. Die letztere Aufgabe nehmen konkret die Vereinigten Staaten mittels der militärischen Integration der deutschen Streitkräfte und des amerikanischen Oberbefehls wahr. Daher verkennen auch Vorschläge wie die des Kollegen Scheer und der Kollegin WieczorekZeul, die Streitkräfte des wiedervereinigten Deutschlands sollten aus der NATO-Integration ausscheiden, gewissermaßen die halbe Ratio der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der Allianz. ({3}) Zweitens. Entscheidend für die künftige Gestaltung der sicherheitspolitischen Strukturen auf dem Kontinent ist der Gedanke, das künftige ganze Deutschland in Europa einzubetten, einzugliedern, es zu integrieren. Das, meine Damen und Herren, wollen wir ohne jede Einschränkung und ohne jeden Hintergedanken. Dabei wissen wir: Deutschland muß seiner Geschichte Rechnung tragen. Aber Lösungen für Deutschland dürfen nicht auf der Furcht vor der Wiederholung der Vergangenheit beruhen, sondern sie müssen die Energien Deutschlands für die gemeinsame europäische Zukunft dienstbar machen. Wer sich von der Furcht vor der Wiederholung der Vergangenheit allzusehr leiten läßt, beschwört sie vielleicht eben dadurch mit herauf. Eine europäische Lösung für Deutschland kann es nur geben, wenn alle Europäer die gleichen Rechte und Pflichten übernehmen. Deutschland kann vorab Pflichten übernehmen, aber es muß gesichert sein, daß die anderen folgen. Was für Deutschland gilt, muß auch für alle anderen gelten. Besondere Regelungen für Deutschland müssen allein auf seiner besonderen Lage beruhen, d. h. sie müssen objektiv begründbar sein. Eine „normale" Behandlung Deutschlands ist die beste Garantie, daß es sich nicht wieder anormal benimmt. Eine besondere Behandlung Deutschlands hat leicht einen Sonderweg zur Folge. An uns selbst gerichtet füge ich hinzu: Noch wichtiger ist, daß wir auch in diesem Sinne normal sein wollen, denn damit erweisen wir uns selbst und allen unseren Nachbarn den größten Dienst. ({4}) Wir wollen Europa so gut wie Deutschland, denn wir wissen: Europa ist zwar kein Ersatz für Deutschland, wohl aber Bedingung für seine Zukunft. Daher gilt Europa so gut wie Deutschland unsere Zuneigung. Deshalb wollen wir ihm all unsere Kraft zuwenden. Die Bundesrepublik Deutschland darf sich einen entscheidenden Anteil am Aufbau Europas zuschreiben. Unseren bisherigen Partnern im Westen und unseren künftigen im Osten rufe ich zu: Gebt uns und gebt euch die Chance, zu erfahren, daß das ganze, daß das größere Deutschland einen auch noch größeren Anteil an dem Aufbau des noch größeren Europas leisten kann. Drittens. Als politisches Kriterium für den Umfang deutscher Streitkräfte ergibt sich daraus, daß dieser Umfang nicht wesentlich geringer als derjenige mit uns vergleichbarer Länder sein sollte. ({5}) Als Faustregel ließe sich vielleicht formulieren: Die Streitkräfte eines wiedervereinigten Deutschlands sollten ein wenig unter denen der nächstgrößten Armee außerhalb der Sowjetunion liegen, wobei ich selbstverständlich davon ausgehe, Frau Kollegin Beer, daß, wie ich soeben schon sagte, alle abrüsten werden. Viertens. Die militärische Integration von Streitkräften ist das wirkungsvollste Mittel, um ihren politischen wie militärischen Mißbrauch zu verhindern. Daher muß mit dem Aufbau einer europäischen militärischen Integration neben der atlantischen dort begonnen werden, wo dies politisch möglich ist; denn auf Dauer wird sich die oben erwähnte amerikanische Rolle unvermeidlich ändern. Es bietet sich an, daß diejenigen Mitgliedsländer der Atlantischen Allianz mit einer solchen Integration beginnen, die Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland stationiert haben. Integration kann nicht dem Zweck der Kontrolle eines einzelnen dienen, sondern muß eine allseitige, wechselseitige Kontrolle sein. Fünftens. Die militärische Integration muß natürlich Teil eines politischen Prozesses sein. Der politische Prozeß, den ich hier meine, ist die Entwicklung hin zur politischen Union der Staaten in Europa, die dazu willens und in der Lage sind. Das sind bislang die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Wenn Präsident Mitterrand jetzt ein Zeichen für den deutschen Willen erwartet, am Ziel der politischen Union festzuhalten: Voilà! Hier in der Sicherheitspolitik ist der entscheidende Punkt, noch wichtiger als bei der Währung. Wieso erfolgt hier eigentlich keine deutsch-französische Initiative, zumal die bisherigen westlichen Vorstellungen in ihrer Beschränkung auf die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinten Deutschlands nicht ausreichen? ({6}) Sie müssen vielmehr durch eine europäische Perspektive ergänzt werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, in diesem Sinne initiativ zu werden. ({7}) Ob es mit Blick auf die sowjetische Interessenlage und die der nichtsowjetischen Paktmitglieder erforderlich ist, den Weg über die WEU zu gehen, das sei dahingestellt. Entscheidend ist, daß die Einbeziehung des militärischen Teils der Sicherheitspolitik in den Prozeß der europäischen Integration dem Ziel der politischen Union dienen muß; denn eine europäische politische Union muß neben einer reformierten Sowjetunion und einer angepaßten Rolle der USA Kernelement einer neuen politischen Ordnung auf dem Kontinent sein. Daher darf es auch keine sicherheitspolitischen Auflagen für Deutschland geben, die seine Mitwirkung an dieser Art der militärischen Integration zum Aufbau einer eigenständigen europäischen Verteidigung erschwerten oder gar ausschlössen. Sechstens. Der Abrüstungsprozeß, wenn er so verläuft, wie wir ihn angelegt haben, bedeutet weit mehr als die Reduzierung von Streitkräften. Er wird vereinbarte Sicherheit zur Folge haben oder, wie der Bundeskanzler es nennt, bündnisübergreifende Strukturen hervorbringen oder, wie der Außenminister zu sagen pflegt, kooperative Sicherheit. Das alles bedeutet, daß es zwischen West und Ost, d. h. vor allem zwischen West und der Sowjetunion, ein Netz von Verflechtungen geben wird, also eine Art sicherheitspolitische Integration. Diese wird neben der hoffentlich zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung das entscheidende Mittel zur Kriegausschließung sein. Siebtens. Wenn sich die politische und militärische Lage weiterhin so grundlegend verändert wie in den vergangenen Jahren, werden die amerikanischen und die sowjetischen nuklearen Kurzstreckensysteme strategisch ihren Zweck und politisch ihre Legitimation verloren haben. Damit aber ist natürlich nicht die Frage nach der weiteren Zukunft des nuklearen Faktors und vor allem die Frage nach der nuklearen Rolle der Vereinigten Staaten in Europa beantwortet. Ich habe dazu kürzlich Vorstellungen entwickelt, die ich hier nicht wiederholen will. ({8}) - Weil die Zeit es nicht erlaubt, Herr Kollege Klejdzinski. ({9}) Ich bin fest davon überzeugt, daß wir auch in dieser Frage eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten wie mit der Sowjetunion werden erzielen können. Sie muß statt nuklearer Abschreckung nukleare Abratung zum Ergebnis haben. Sie muß als letzte Versicherung und Ausdruck gemeinsamer Sicherheit, als letzte Mahnung an den potentiellen Gegner so gut wie an sich selbst verstehbar sein. Meine Damen und Herren, wenn wir in den kommenden Wochen und Monaten ebenso entschlossen wie besonnen, wenn wir also mit äußerster Geistesgegenwart arbeiten, dann haben wir die in der Tat großartige Chance, mit der deutschen Einheit zugleich das Tor für eine friedliche und freiheitliche Ordnung auf dem ganzen Kontinent endgültig zu öffnen. Ich finde, daß ist eine großartige Chance. Wir sollten froh sein, daß wir in dieser Zeit an dieser Chance arbeiten können. Ich bedanke mich. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag „Abrüstung und Sicherheit 1990" hebt sich deutlich von bisherigen Initiativen der SPD-Fraktion ab. Sie bestätigen hiermit einmal mehr, daß Sie sich von der Aufrüstungspolitik der Regierung Schmidt verabschiedet haben. Sie haben sich dementsprechend harsche Kritik des Bundesverteidigungsministeriums zu den letzten vorgestellten Initiativen wie z. B. „Bundeswehr im Übergang" oder Abrüstungsforderungen aus dem Programm Fortschritt '90 eingehandelt. Die Vorwürfe machen aber auch deutlich, daß die so notwendige Debatte um die längst überfälligen abrüstungspolitischen Schritte in den bereits begonnenen Bundestagswahlkampf fällt und darunter leidet. Den Vorwurf des Bundesminsters der Verteidigung, Ihre Vorstellungen seien eine Gefährdung der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland, halte ich für maßlos übertrieben. Den vom Kollegen Wilz geäußerten Verdacht, daß es sich dabei vor allem um populistische Forderungen handelt, möchte ich im zweiten Teil meiner Rede etwas näher beleuchten. Ihr Antrag, auf den ersten Blick so erfreulich, hält dem zweiten Blick aus friedenspolitischer und friedensbewegter Sicht nicht stand. Bevor ich auf einzelne Punkte der heute zur Debatte stehenden Maßnahmen zur Rüstungsbeschränkung eingehe, will ich unsere grundsätzliche Analyse zur jetzigen Situation vorstellen. Die traditionellen friedenspolitischen Konfliktlinien innerhalb Europas, innerhalb der NATO und auch innerhalb der GRÜNEN sind durch die atemberaubende Entwicklung in Osteuropa und innerhalb des Warschauer Paktes überholt und zum guten Teil sinnlos geworden. Sowohl die offizielle „Sicherheitspolitik" als auch die friedenspolitischen Vorstellungen der GRÜNEN waren notwendigerweise auf die Existenz beider Blöcke bezogen. Die Frage der Nützlichkeit einseitiger Abrüstungsschritte ist inzwischen positiv von der Geschichte beantwortet: Das neu entspannte internationale Klima und der Abbau der militärischen Spannungen in Europa wären ohne die weitgreifende Serie einseitiger Abrüstungsmaßnahmen Gorbatschows undenkbar. Konzeptionell haben wir immer betont, daß eine Politik einseitiger Abrüstung nur als „einseitig mehrseitig" durchgeführte Politik zum Erfolg führen könne, daß einseitige Schritte von der jeweiligen Seite nur dann durchgehalten werden können, wenn irgendwann die „Gegenseite" ebenfalls mit solchen Maßnahmen reagieren würde. Es kann nun aber beim besten Willen nicht davon die Rede sein, die NATO würde sich einseitiger Abrüstungsschritte bedienen. Die Situation ist dadurch aus friedenspolitischer Sicht nicht ohne Gefahr für die Zukunft. Wir beobachten heute weder einen Prozeß, in dem funktionierende Blöcke stabilitäts- und friedensfördernde Kooperation entwickeln und im alten Gleichgewichtsdenken schrittweise deeskalieren, noch haben wir einen Prozeß wechselseitiger Blockauflösung, in dem die Militärblöcke durch ein System gemeinsamer und wechselseitiger Sicherheit abgelöst werden. Statt dessen erleben wir einen Prozeß, in dem einer der beiden Blöcke, nämlich der Warschauer Pakt, zunehmend auseinanderfällt und als militärische Einheit schon heute nicht mehr ernst zu nehmen ist, während der andere, die NATO, alles unternimmt, seine Fortexistenz zu sichern, neue Aufgaben zu suchen und zu übernehmen, neue und modernisierte Waffensysteme zu entwickeln und zu beschaffen, und sogar seine territoriale Ausdehnung durch die zumindest politische Einbeziehung der heutigen DDR betreibt. ({0}) Diese Konstellation ist destabil, sie schafft Versuchungen und Risiken, und sie ist friedenspolitisch bedenklich. Die Destabilisierung der Nachkriegsordnung ist allein und für sich genommen im gleichen Maße Chance wie auch Gefahr. Die neuen Konzepte müssen sich daran messen lassen, ob und wie sie diesen Zustand beenden wollen und vor allen Dingen beenden können. Das Konzept der Bundesregierung, die aktuellen Veränderungen in Osteuropa wie z. B. die der Demokratisierung, der Durchkapitalisierung und auch des Aufschwungs von Nationalismen verschiedenster Spielarten für die eigene Herrschaftspolitik zu nutzen, vergibt die historische Chance, die sich aus der Minderung des Systemgegensatzes als potentiell konfliktmindernd ergeben kann. Die Auflösung der alten Machtstrukturen in Osteuropa wird begleitet von der Herausbildung eines neuen alten Machtzentrums in Mitteleuropa, nämlich des neuen Deutschlands, eines Machtzentrums das zumindest ökonomisch auf dem Weg zur Dominanz sowohl West- als auch Osteuropas ist. Osteuropa hat diesem neuen Zentrum auf absehbare Zeit machtpolitisch und wahrscheinlich auch militärpolitisch nichts entgegenzusetzen. Die Integration des neuen Kolosses Deutschland in die westeuropäischen Strukturen wird den Koloß auf der einen Seite vielleicht zähmen können, auf der anderen Seite ihm jedoch neue Stärke und Legitimation geben. Aufgabe muß es heute sein, neue Elemente einer neuen Friedenspolitik zu fördern, die die einseitige Blockauflösung und die allgemeine Destabilisierung in eine funktionierende Sicherheitsstruktur für Europa überführen kann. Die Zukunft der Blöcke steht heute auf der Tagesordnung, und sie besteht in deren Auflösung. Sie kann nicht mit der Diskussion der Neutralität eines Gesamtdeutschlands oder einer weiteren Mitgliedschaft der Bundesrepublik, nun um die DDR erweitert, in der NATO erledigt sein. Beide Szenarien sind wenig verlockend. Welche Funktion soll ein Militärpakt noch haben, der sich seit seiner Gründung durch eine vorgebliche Bedrohung durch den Warschauer Pakt legitimiert hat, wenn es diesen Pakt oder eine solche Bedrohung heute nicht mehr gibt? Die Vorstellung eines neutralen Gesamtdeutschlands ist eine riskante und verwirrende Vorstellung. Neutral zwischen wem eigentlich? Bisher war Neutralität in Europa so definiert, daß man keinem der antagonistischen Paktsysteme angehört. Mit dem Wegfall des einen Blocks wird neu zu definieren sein, worin Neutralität eigentlich bestehen soll. Das berechtigte Mißtrauen gegen ein neutrales Deutschland als neues deutsches Machtzentrum, das ungehindert seine Macht sowohl nach Westen als auch nach Osten ausdehnen könnte, widerlegt diesen Gedanken von selbst. Wir lehnen ihn ab. Die Umwälzungen in den Staaten des RGW-Bereichs, der Wegfall des „Ostblocks" entziehen der westlichen Seite die Legitimation der Aufrechterhaltung von Streitkräften zum Schutz gegen die Bedrohung aus dem Osten. Die Unbeweglichkeit des Westblocks schafft neue Gefahren. Allerdings werden die umfassenden weiteren Abrüstungsmaßnahmen und Entmilitarisierungsansätze im Osten die Legitimationsprobleme im Westen weiter verschärfen und damit die Ausgangsbedingungen des Eintretens für Abrüstung und Entmilitarisierung auch hier verbessern.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte schön!

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie in Ihrer Rede im Grunde genommen ein Plädoyer für die Neutralität eines Deutschlands, wenn auch wiedervereinigt, halten und das als Grundlage konzipieren?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, jede Form einer Neutralität, die sich selbst aus der Definition nicht mehr begründen läßt, habe ich grundsätzlich abgelehnt, weil die Neutralität voraussetzt, daß zwei Blöcke weiterbestehen. Der eine - das erfahren wir täglich in Meldungen - ist in der Auflösung begriffen. Erstens läßt sich auf Grund der Blocksituation Neutralität nicht definieren, und zweitens ist jede Form auch dann stattfindender Neutralität eine noch größere Gefahr und widerspricht dem Sicherheitsinteresse gerade osteuropäischer Staaten, aber auch anderer europäischer Nachbarn, die die Wiedervereinigungseuphorie, die hier besteht, etwas kritisch betrachten. ({0}) Neutralität in jeder Form ist grundsätzlich abzulehnen. ({1}) Wir wollen allerdings - das möchte ich hier deutlich sagen - mit der Auflösung der Blöcke keinen Rückfall hinter die Blockordnung, nämlich in den nationalistischen Partikularismus des 19. Jahrhunderts, sondern wir wollen durch die Auflösung der Blöcke zu qualitativ neuen Strukturen internationaler Ordnung kommen. Nicht das Festhalten am Blocksystem, aber auch nicht die Renationalisierung von Sicherheitspolitik, sondern die Schaffung solcher neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen ist die angemessene friedenspolitische Antwort auf tiefgreifende Veränderungen in Europa. Diese erfordert die Intensivierung und Institutionalisierung des KSZE-Prozesses und parallel zur Desintegration und Abschaffung der noch bestehenden Blockstrukturen die Schaffung und Etablierung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit. Dieses System hätte auch die Funktion der Einbindung und Kontrolle des deutschen Machtpotentials. Hierzu ist eine Politik der Selbstbeschränkung, der einseitigen Abrüstung und Entmilitarisierung in beiden deutschen Staaten sowie die Form der freiwilligen Einbindung in internationale Zusammenhänge und die Unterwerfung unter internationale Kontrollen der einzige Weg für die Gewährleistung von Sicherheit für die europäischen Völker. Aufgabe der bundesdeutschen Friedensbewegung und damit auch der GRÜNEN ist es, dafür zu sorgen, daß die BRD am Ende dieses Jahrtausends als vollständig abgerüsteter und entmilitarisierter Staat Teil eines neuen gesamteuropäischen Friedenskonzepts sein kann. Die kurz bevorstehenden Ostermärsche setzen sich für eine Bundesrepublik ohne Armee ein. Die Abschlußerklärung der gemeinsamen Entmilitarisierungskonferenz der GRÜNEN aus der BRD und der grünen Partei in der DDR vom 14. März fordert: Entmilitarisierung beider deutscher Staaten jetzt beginnen - militärfrei 2000. Dies, verehrte Kollegen, sind die Maßstäbe, die wir zum einen an die praktizierte Politik der SPD und zum anderen an den heutigen SPD-Antrag legen. Beide entsprechen nicht den Anforderungen. Denn Ihre politische Praxis verwundert: Während in Bonn Abrüstungsprogramme der Presse vorgestellt werden, stimmen die Sozialdemokraten auf der Sondersitzung der Westeuropäischen Union am gleichen Tag einer Entschließung zu, die in dem Grundgedanken der Aufrechterhaltung der nuklearen Abschrekkung darauf basiert, ({2}) sich selber neue Werte zu geben und die zukünftige Blockstruktur innerhalb der WEU zu rechtfertigen. ({3}) Wir wollen die Abschaffung der Militärbündnisse, Herr Kollege. - Ich weiß, daß Sie das stört. Aber das ist der Anachronismus in der SPD; den müssen Sie bis zur Bundestagswahl beiseite legen. Sonst wird das nichts. ({4}) Zu Ihren Abrüstungsvorschlägen möchte ich im einzelnen konkret Stellung nehmen, wenn auch nur in Kürze: Als Ziel nennen Sie die Reduzierung der Bundeswehr auf 240 000 Mann. Dies ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung - sicher - , aber letztlich unterscheidet er sich vom Eiertanz und den Schwierigkeiten der Union und auch den Konzepten der FDP nur graduell. Die Legitimation der NATO und der Bundeswehr steht heute auf der Tagesordnung, und ich bin mir sicher: Die Option von Ihnen, der SPD, auf Reduzierung auf 240 000 Mann leistet den Bemühungen derjenigen Vorschub, die sich - um diese Zahl zu rechtfertigen - bemühen, ein neues Feindbild aufzubauen. Dies lehnen wir ab. Ein einmal entschwundes Feindbild braucht nicht ersetzt zu werden; Abrüstung ist die einzige Antwort. Die Angleichung des Zivildienstes an die Dauer des Grundwehrdienstes haben Sie in Ihrem Antrag vergessen; sie bleibt völlig unerwähnt. Bis zur vollständigen Abschaffung der Bundeswehr und damit der Wehrpflicht muß die Benachteiligung der Kriegsdienstverweigerer aufgehob en werden. Sie wollen Tiefflüge reduzieren. Die Einstellung von Tiefflügen nur über dem Gebiet der Bundesrepublik bedeutet, den Tiefflugexport nach Kanada, in die Türkei zu legitimieren. Es ist menschenverachtend, lediglich die Verlagerung des Tiefflugterrors zu wollen, ({5}) ungeachtet der Interessen der dort lebenden Menschen. ({6}) Wir wollen das sofortige Verbot sämtlicher Tiefflüge, da Tiefflug nicht nur laut ist, sondern militärisch offensive Konzepte vertritt. Sie wollen die „restriktive" Anwendung von Rüstungsexporten. Merken Sie überhaupt nicht, welche Auswirkungen die heutige Praxis restriktiver Rüstungsexporte hat? Wissen Sie nicht, daß in Ihrem NATO-Partnerland Türkei Sicherheitseinheiten in MBB-Hubschraubern tagtäglich nach Kurdistan geflogen werden und Zivilbevölkerung tagtäglich ermordet wird? ({7}) Wissen Sie nicht, daß die Lieferung von U-Boot-Blaupausen und U-Boot-Teilen nach Südafrika über die Türkei ermöglicht wurde? Das ist „restriktiver" Rüstungsexport. Wir wollen die vollständige Einstellung, das Verbot. Akzeptanz von Rüstungsexport heißt letztlich Akzeptanz von Rüstungsproduktion. Rüstungsproduktion und Entmilitarisierung sind unvereinbar, es sei denn, man will sich sein neues Feindbild selbst errüsten, das neue Feindbild im Süden, das Herr Wimmer schon entdeckt hat. Rüstungskonversion ist das Gegenkonzept; sie ist das Gebot der Stunde. Ihr Antrag geht an der Modernisierung und Aufrüstung der strategischen Nuklearwaffen vorbei, die nicht einmal Bestandteil in rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen sind. Er geht daran vorbei, weil Sie sich für die Stärkung des westeuropäischen militärischen Pfeilers in der WEU einsetzen. Er geht daran vorbei, weil Sie Großmachtoptionen Herrn Dreggers die Grundlage bieten, der sich dafür einsetzt, die französischen Nuklearwaffen auch in einer WesteuropäiFrau Beer schen Union allen verfügbar zu machen, somit auch den Deutschen. ({8}) Er geht daran vorbei, weil Sie nicht die Initiative der GRÜNEN mittragen, den Verzicht auf Atomwaffen im Grundgesetz festzuschreiben. ({9}) Und so sind auch die Punkte zur Reduzierung der konventionellen Waffen unzureichend. Ein wesentlicher Aspekt ist bei Ihnen überhaupt nicht beachtet. Die Clausewitzsche Formel, daß die Nutzung von Militär und die Auseinandersetzung in Kriegen die Fortsetzung von Politik sind, ist obsolet. Sie ist obsolet, weil ein Krieg in einem dicht besiedelten Europa mit einer großen Dichte von chemischer Industrie und Industrie überhaupt, selbst wenn er nur zur Verteidigung, zur Gewährleistung der Sicherheit gedacht ist, nicht mehr praktizierbar ist. Auch eine Verteidigung mit Waffen würde Selbstzerstörung bedeuten. Die Antwort hierauf lautet deutlich: Entmilitarisierung. Entmilitarisierung ist eine Verpflichtung in einem System kollektiver Sicherheit Europas, die hierdurch freiwerdenden Mittel einzusetzen, um auf globale Probleme, die überall bestehen, globale Antworten geben zu können. Diesem Anspruch werden Ihre zum Teil leider populistischen Vorschläge nicht gerecht. Das Programm „Fortschritt 90" ist bereits heute ein Stillstand, wenn nicht gar ein Rückschritt. Vielen Dank. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Beer, wenn ich im Moment versuche, zwischen Ihnen und mir eine Gemeinsamkeit herzustellen, so beschränkt sich diese Gemeinsamkeit allerdings im Augenblick auf die Tatsache, daß wir beide aus Schleswig-Holstein kommen, ({0}) obwohl die Schleswig-Holsteiner im allgemeinen als illusionsloser und realistischer gelten, als es eben aus Ihrer Rede herauszuhören war. Aber ich habe mich nicht mit dem auseinanderzusetzen, was Sie hier gesagt haben, sondern ich habe zu dem Stellung zu nehmen, was die Fraktion der SPD beantragt hat. Meine Damen und Herren, wir leben in einer Zeit rasanter Entwicklungen, in einer Zeit, in der Träume wahr werden, in einer Zeit, in der wir aber auch Wechselwirkungen zwischen dem allgemeinen Ost-WestVerhältnis und dem Verhältnis und der Entwicklung in Deutschland selbst zu beobachten haben. Ein grundlegender Wandel in beiden Bereichen zwingt uns - das ist die positive Feststellung an erster Stelle - zu einem entsprechend geänderten Handeln auch im Bereich der Verteidigung. Lassen Sie mich hinzufügen: Ich halte es auch für notwendig, bestimmte Begriffe zu ändern, die wir bisher immer wie selbstverständlich benutzt haben. Frau Kollegin Beer, das Feindbild gehört nicht zu dem, was ich meine; denn die Bundeswehr hat ihren Dienst bisher ohne ein Feindbild getan, und sie wird es auch in Zukunft nicht benötigen. ({1}) Vielleicht werden Sie mir aber bei meinem nächsten Satz zustimmen; ich befürchte es. Der Begriff „Abschreckung" - er ist im Antrag der Fraktion der SPD nicht enthalten - sollte wahrscheinlich aus unserem Vokabular entfernt und durch einen schlichten Begriff wie „Verteidigung" oder „Verteidigungsfähigkeit" ersetzt werden. ({2}) - Vielleicht sind Sie genauso geduldig mit mir, wie ich es mit Ihnen gewesen bin, ohne Zwischenrufe und ohne den Versuch, den Fluß der Gedanken zu stören, der bei Ihnen so flott dahinplätscherte. Ich glaube, daß Verteidigungsfähigkeit, rein defensive Veranlagung unserer Rüstung, unserer Truppenstärke, allerdings ein Begriff ist, der in die gegenwärtige Situation besser paßt als der Begriff der Abschreckung, des Schreckens, der damit immer verbunden ist. Aber wir haben auch in der Vergangenheit andere Begriffe benutzt, die wir heute anders zu interpretieren haben. Wir haben von Deutschland gesprochen und meinten die Bundesrepublik; ({3}) wir haben von Europa gesprochen und meinten nur Westeuropa. Ich glaube, eine der wesentlichen Änderungen in der gegenwärtigen Situation ist die Öffnung beider Begriffe, Deutschland und Europa, nach Osten hin. Aber an einer Stelle setzt meine Kritik sowohl an dem Antrag der Fraktion der SPD als auch an den Ausführungen von Frau Beer an, nämlich an dem Begriff der Militärblöcke, die hier schlicht und einfach gleich und gleich nebeneinandergesetzt werden. Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß NATO und Warschauer Pakt weder in der Vergangenheit noch heute vergleichbare Größenordnungen, aber auch vergleichbare Zielsetzungen zu nennen hatten. ({4}) - Ich bin gern bereit, Ihnen auch nach Ende meiner Rede noch Nachhilfeunterricht in den Begriffen zu geben, mit denen wir uns im Verteidigungsausschuß laufend zu beschäftigen haben. ({5}) Ich möchte vor allem mit Blick auf die SPD sagen, daß ich es durchaus anerkenne und würdige, daß der Antrag, den Sie vorgelegt haben, uns Veranlassung gibt, wenn auch zu sehr später Stunde und in kleinerem Kreis, uns mit den Fragen zu beschäftigen, die dringend gelöst werden müssen. Ich erkenne das in vollem Umfang an und tue das, auch wenn ich durchaus nicht mir allen Darstellungen und Intentionen Ihres Antrags und auch der Ausführungen der Kollegin Frau Fuchs übereinstimme. Ich halte es z. B. für eine bare Illusion und für eine Ungerechtigkeit gegenüber den Soldaten der Bundeswehr, wenn man davon ausgeht, man könne in einem laufenden Haushalt im Nachtragshaushalt 4 Milliarden DM einsparen, ohne negative soziale Rückwirkungen für die Soldaten in Kauf zu nehmen. Zu der Fiktion gegnerischer Blöcke habe ich bereits Stellung genommen. Gestatten Sie mir, meine Herren von der SPD, mit einigen Worten zu bestimmten Punkten Ihres Antrags Stellung zu nehmen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Ronneburger, würden Sie vorher eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski gestatten?

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja; gern.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, da wir beide im Verteidigungsausschuß sind und ich Ihnen unterstelle, daß Sie durchaus in der Lage sind, den Haushalt genauso gut zu lesen wie ich, wahrscheinlich noch besser, darf ich Sie fragen: Angesichts der Behauptung, die Sie soeben aufgestellt haben, daß die Kürzung um 4 Milliarden DM - 3,2 + 0,8 = 4 Milliarden - nur möglich ist, wenn man gleichzeitig in die sozialen Belange der Soldaten eingreift, darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen: Können Sie mir bitte eine einzige Maßnahme aufzeigen, bei der wir mit unseren Kürzungsanträgen in die soziale Lage der Soldaten hinein gekürzt haben?

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe Ihnen dafür keine Beispiele zu nennen, sondern ich habe Ihnen zu sagen, daß eine Kürzung von dieser Größenordnung in einem laufenden Haushalt nicht möglich und nicht durchführbar ist, ohne in den sozialen Status der Soldaten einzugreifen, ({0}) genauso wie ich es, Herr Kollege Klejdzinski, einfach für falsch halte, was die Kollegin Frau Fuchs vorhin hier gesagt hat: ({1}) man könne beim Jäger 90 mehrere Milliarden im Augenblick einsparen. Das ist eine bare Illusion angesichts der Situation der bereits vergebenen Aufträge für die Entwicklung, die hier nur am Rand erwähnt werden sollen. ({2}) - Doch; das hat sie gesagt, verehrter Herr Kollege. Ich bitte, das im Protokoll nachzulesen. Sie hat von der gegenwärtigen Situation und von der Einsparung mehrerer Milliarden gesprochen. ({3}) Daß wir uns über die Frage eines Übergangs von der Entwicklungsphase zu einer denkbaren und ursprünglich geplanten Produktionsphase noch zu unterhalten haben, steht auf einem völlig anderen Blatt. Ich bin gern bereit, Ihnen auch unsere Vorstellungen von Abrüstung und Reduzierung von Verteidigungshaushalten hier im einzelnen darzulegen. Es gibt einige Punkte, die ich aus Ihrem Antrag gern aufgreifen möchte, vor allem, meine Herren von der Opposition in der SPD, aus der Sicht der Dinge heraus, daß gerade an Ihrem Antrag, just zwei Monate alt, absehbar ist, mit welcher Rasanz sich die Entwicklung zwischen Ost und West vollzieht. Denn es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die bereits nach zwei Monaten überholt und realisiert sind. Denken Sie an die Forderung nach dem Abzug der in der Bundesrepublik Deutschland gelagerten amerikanischen Chemiewaffen. Denken Sie an den Stopp der Entwicklung aller neuen offensivfähigen Waffen. Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa müssen beschleunigt werden, heißt es. Wer tut wohl mehr als die deutsche Bundesregierung zur Beschleunigung dieser Verhandlungen? Der Atomwaffensperrvertrag ist zu verlängern; dies ist unsere Absicht. Wenn hier an einer Stelle steht, daß z. B. in Verbindung mit der zweiten Phase der Wiener Verhandlungen auch Verhandlungen über die Reduzierung der Seestreitkräfte aufzunehmen sind, dann kann ich Ihnen allerdings nur empfehlen, sich mit dem Kollegen Bahr über diese Frage vielleicht noch einmal zu unterhalten, der im Januar dieses Jahres in den „Flensburger Nachrichten" gesagt hat - ich zitiere - , es sei überhaupt keine Glaubwürdigkeit mehr vorhanden, wenn jahrzehntelang von Bedrohung aus dem Osten gesprochen werde und jetzt - so wörtlich - „ohne relevantes Argument die Bundesmarine einseitig reduziere " . ({4}) - Herr Bahr. ({5}) Das war wörtlich, und ich bin gern bereit, Ihnen dies zur Verfügung zu stellen. Es ist eine hochinteressante Lektüre. Meine Damen und Herren, ich möchte auf einen Punkt zurückkommen - leider leuchtet das gelbe Licht auf - , den Frau Fuchs vorhin hier genannt hat, nämlich auf unseren eigenen Antrag zur Abrüstung. Herr Präsident, wenn Sie mir noch einige wenige Sätze zu diesem Punkt gestatten, dann möchte ich dazu gern in aller Kürze Stellung nehmen. Wir haben einen Beschluß in unserer Bundestagsfraktion gefaßt, der sich auf die zweite Phase der Wiener Verhandlungen und auf die Verhandlungsrichtlinie bezieht, die wir dazu brauchen. Hier geht es uns für diese zweite Phase in Wien - meine Damen und Herren, damit Sie merken, daß Sie mit Abrüstung nicht alleine stehen - , erstens um die Begrenzung der Zahl präsenter Soldaten der Bundeswehr auf etwa 350 000, es geht um die Reduzierung des Grundwehrdienstes auf zwölf Monate, ergänzt um eine hinreichende Zahl von Wehrübungen, ({6}) es geht, Frau Kollegin Beer, um die Begrenzung des Zivildienstes, was Ihnen nicht ausreichen wird, auf fünfzehn Monate, es geht um die gleichgewichtige Beseitigung nuklearer Kurzstreckenraketen und atomarer Artillerie auf beiden Seiten und zuvor um einen Verzicht auf Modernisierung dieser Waffen, ({7}) und es geht um einen Verzicht - zweite Phase Wien - auf die Produktionsphase des Jägers 90 und Sicherung der Luftverteidigung durch kostengünstigere Alternativen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Würden Sie noch eine Zwischenfrage gestatten?

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie das gestatten, Herr Präsident.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie bringen mich gegenüber den Kollegen in Verlegenheit, aber ich habe noch ein bißchen was zugeschaltet, weil die Bilanz noch günstig aussieht. Machen Sie es also ruhig!

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank.

Hans Koschnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001185, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, würden Sie gestatten und akzeptieren, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, daß Sie zwar einige recht populäre Forderungen aufgenommen haben, aber um im wesentlichen nur Ihren Koalitionspartner zu ärgern, nicht aber um in der Sache bei entscheidenden Anträgen mitzustimmen, wenn es darum geht, konkrete Ergebnisse zu bringen?

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, jetzt muß ich Sie an das erinnern, was die Kollegin Frau Fuchs hier gesagt hat. Sie hat uns nämlich im Zusammenhang mit dem Jäger 90 vorgeworfen, wir bewilligten immer neue Finanzmittel für weitere Phasen der Entwicklung. Sie wissen wohl genausogut wie wir - Frau Fuchs müßte es eigentlich auch wissen -, daß wir die gesamte Entwicklungsphase unter völlig anderen Bedingungen, als wir sie heute haben, seinerzeit bewilligt haben und nicht etwa nachbewilligt haben. Aber ich sage Ihnen ebenso deutlich: Ein Aussteigen aus der Entwicklungsphase zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde nur unwesentliche Einsparungen herbeiführen, aber einen Verzicht auf die technischen Entwicklungen und Erkenntnisse bedeuten, die mit der bisherigen und vermutlich auch mit der weiteren Entwicklung verbunden sind. Nur, ob wir 1991 oder 1992 gezwungen sein werden, in die Produktionsphase einzutreten, in eine Frage, die für uns ebenso offen ist wie z. B. auch für unsere britischen Kooperationspartner. Ich hoffe, es ist mir gelungen, Ihre Frage einigermaßen ausreichend zu beantworten. ({0}) - Nach dem, was Ihre Kollegin gesagt hatte, war klar, daß sich Fragen aus Ihrer Fraktion auf den Jäger 90 konzentrieren würden, und deswegen lag mir daran, Ihnen die gesamte Palette unserer Absichten hier eindeutig darzustellen. ({1}) - Da haben Sie mich absolut richtig verstanden. Ich habe ganz eindeutig gesagt, Herr Kollege Klejdzinski, daß diese Frage völlig offen ist und daß sie 1991, 1992 im Rückblick auf die bis dahin erfolgten Entwicklungen betrachtet werden muß. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Meine persönliche Auffassung ist, daß die Entwicklungen über ein solches Projekt hinweggegangen sein werden, wenn wir auch nur einigermaßen in dem Abrüstungs- und Rüstungsreduzierungstempo bleiben, daß wir im Augenblick verfolgen und feststellen können. Deswegen sage ich noch einmal: Ich bedauere es nicht, daß die SPD-Fraktion diesen Antrag eingebracht hat. Ich stimme ihm durchaus nicht in allen Punkten zu. Aber es ist gut, daß wir an Hand dieses Antrages gezwungen waren, politisch, militärpolitsich und verteidigungspolitisch einmal Bilanz zu ziehen. Ich wäre sehr froh, wenn z. B. die Kollegin Frau Beer ein wenig von dem Engagement, das sie heute in ihrer Rede gezeigt hat, auch in die Mitarbeit im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages investieren würde, in dem sich ihre Fraktion nicht gerade durch besonderes Engagement und Beteiligung an der gemeinsamen Arbeit bemerkbar macht. Ich fände es gut, wenn wir die angeschnittenen Fragen in Zukunft auf einer sachlichen Basis behandeln könnten. Sie können sicher sein, meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion wird das Ihre dazu tun, um friedliche Entwicklungen zu ermöglichen, Abrüstung voranzutreiben und damit den Weg in eine Zukunft zu finden, in der die Frage der deutschen Einheit ebenso wie die Frage des Ost-WestVerhältnisses auch eine entscheidene Rolle spielen werden. Herzlichen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben und diskutieren in einer Zeit des Umbruchs. Es gibt überraschende Veränderungen, ({0}) auch in der politischen Einschätzung und Diskussion. Zu den wirklich bemerkenswerten Ereignissen gehörte die Konferenz der Außenminister des Warschauer Paktes vor 11 Tagen in Prag. Zum Schluß dieser Konferenz trat eine Reihe von Teilnehmern vor die Presse. Die Außenminister der jungen demokratischen Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns erklärten öffentlich, daß sie im Gegensatz zu ihrem sowjetischen Kollegen für die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands im Atlantischen Bündnis seien. ({1}) Sie haben das begründet. Wenn ich dann manches von den GRÜNEN, Frau Beer, ({2}) und auch einiges von der SPD - einiges; da gibt es Unterschiede - höre, muß ich Ihnen sagen: Sie sind in Ihrer politischen Urteilskraft weit hinter dem zurück, was die Repräsentanten der junge demokratischen Regierungen Osteuropas sagen. ({3}) Denn diese demokratischen Repräsentanten unserer östlichen Nachbarn - gerade auch Polens und der Tschechoslowakei - haben die Struktur, die Aufgabe und das Selbstverständnis des Atlantischen Bündnisses besser verstanden als diejenigen, die zwar - was richtig ist - militärische Feindbilder ablehnen, aber unverdrossen den alten politischen Feinbildern frönen. Natürlich ist die NATO für die grün-alternative Bewegung immer ein Feindbild gewesen. Natürlich galt dies auch für Teile der Sozialdemokratischen Partei. Ich nehme hier gewisse Differenzierungen vor. ({4}) - Ja, ich nehme hier gewisse Differenzierungen vor. Ich könnte Ihnen auch aus jüngster Zeit Äußerungen aus Ihrer Partei über die NATO sagen, die sehr wohl den Ausdruck Feindbild rechfertigen. Insofern gehen sie mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der SPD, der ja auch schon wieder einige Zeit zurückliegt, im Grunde auf einen Konfrontationskurs nicht nur zu unserer Sicherheitspolitik, zu unseren westlichen Bündnispartnern, sondern Sie setzen sich auch in einen Gegensatz zu den jungen demokratischen Regierungen Osteuropas. Dies beruht, wie ich glaube, auf einem fundamentalen Mißverständnis über die Aufgabe, die Zielsetzung und die außenpolitische Wirksamkeit der NATO, unseres Atlantischen Bündnisses. Die Einschätzung in Prag, in Warschau und in Budapest kommt nämlich aus der Überzeugung - darin haben wir Gemeinsamkeiten mit diesen Regierungen- , daß das Atlantische Bündnis gerade in dieser Zeit des Wandels und des Umbruchs ein Bündnis der Stabilität und der Berechenbarkeit ist. Sie kommt auch aus der Sorge - den Punkt haben Sie, Frau Beer, ebenfalls kurz angesprochen -, daß an seine Stelle in Europa eine Renationalisierung treten könnte, vielleicht sogar ein Nationalismus Zu den erschreckenden Fernsehbildern dieser Wochen gehört ja auch, daß unmittelbar nach der Befreiung von den kommunistischen Diktaturen in Ungarn und Rumänien jetzt wieder blutige Auseinandersetzungen in bestimmten Regionen stattfinden. ({5}) Wenn wir über die Perspektiven für Sicherheit, Frieden und Freiheit in Europa reden, dann müssen wir aus der Geschichte und aus solcher Anschauung wissen, daß die Zukunft Europas nicht darin liegen kann, daß mit Demokratie und Freiheit zugleich auch Renationalisierung oder gar Nationalismus verbunden sind. Das ist vielleicht ein Punkt, in dem wir bei allen Unterschieden Gemeinsamkeit finden können. Für mich aber, für die Bundesregierung ist das Atlantische Bündnis auch deshalb ein Element der Stabilität in einer neuen, veränderten Zeit, weil wir durch integrierte politische und auch militärische Strukturen eine wirksame Barriere aufgerichtet haben. Das ist auch der Grund, warum wir an den integrierten Strukturen festhalten möchten. Darin unterscheiden wir uns von manchen aus den Reihen der SPD. Ich habe einmal kurz zusammengestellt, was aus den Reihen der SPD zu dieser Frage des Atlantischen Bündnisses in letzter Zeit gesagt wurde. Da es keinen Sinn macht, zu dieser späten Stunde in diesem kleinen Kreis polemisch zu reden - das beeindruckt niemanden mehr innerhalb und außerhalb dieses Saales -, sage ich: Es sind außerordentlich widerspruchsvolle Äußerungen, meine Herren - muß ich zur Zeit sagen; es löst bei Ihnen vielleicht eine kritische Debatte aus, daß die Damen zur späten Stunde so unterrepräsentiert sind - der SPD. ({6}) Frau Wieczorek-Zeul hat am 20. Februar erklärt, Gesamtdeutschland müsse aus der militärischen Struktur der NATO ausscheiden, aber es sei eine weitere politische Zugehörigkeit zur Allianz vorstellbar. Herr Kollege Gerster hat am 6. März gesagt, ein geeintes Deutschland dürfe weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören; es dürfe nur noch eine symbolische Präsenz der Amerikaner und der Sowjetunion geben. Herr Bahr hat am 10. März erklärt, es gehe jetzt in einer Übergangszeit darum, eine europäische Sicherheitsstruktur zu entwickeln, die die Militärblöcke überwindet und das Bündnis auflöst. ({7}) - Da sind wohl gewisse Unterschiede erkennbar. Die Herren Stobbe und Ehmke - hier sieht man den Unterschied am deutlichsten - haben vor vier WoBundesminister Dr. Stoltenberg chen nach dreitägigen intensiven Gesprächen in Washington, vor allem auch mit Vertretern des amerikanischen Kongresses beider Parteien, in einer schriftlichen Erklärung gesagt, nach ihrer Überzeugung müsse auch ein vereintes Deutschland in der NATO bleiben; das sei keine „amtliche" Erklärung Ihrer Partei, aber sie glaubten, zumindest für die Mehrheit ihrer Fraktion zu sprechen. Ich bin sehr im Zweifel, ob sie das wirklich tun. Herr Lafontaine umgeht das ganze Thema dadurch, daß er von einem gesamteuropäischen Verteidigungssystem unter einem gemeinsamen Oberkommando spricht, was natürlich die Probleme Europas irgendwo ad absurdum führt. Diese Stichworte zeigen - mehr sage ich nicht -, daß Sie einen außerordentlich dringlichen Klärungsbedarf haben, ({8}) was die Position der Sozialdemokratischen Partei zur Zukunft des Bündnisses, zur Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands angeht. Dieser Klärungsbedarf wird nicht nur von uns, sondern von immer mehr Menschen in diesem Jahr angemahnt werden, wenn die Sozialdemokratische Partei innen- und außenpolitisch sowie sicherheitspolitisch ein Profil gewinnen will. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sind Sie bereit, Herr Minister, eine Zwischenfrage von Herrn Klejdzinski zu beantworten?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ja, gerne.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie anmahnen, daß wir einen politischen Klärungsbedarf haben. Aber darf ich Sie fragen, ob nicht auch Sie einen politischen Klärungsbedarf haben, insbesondere wenn Sie beispielsweise nicht die Frage stellen - die ich mir stelle - , inwieweit die operativen und taktischen Bedingungen, unter denen die NATO gegenwärtig operiert, Bedeutung haben, d. h. daß „preplanned targets", die gegenwärtig Gültigkeit haben, demnächst möglicherweise drüben im wiedervereinigten Deutschland liegen? Hat man nicht unter diesem Gesichtspunkt über diese Strukturen, die auch NATO darstellen, grundsätzlich nachzudenken?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ich gebe Ihnen in diesem Punkt im Grundsatz recht; wir wollen gar keine Scheingegensätze austragen. Wenn wir uns zum Bündnis, zu der Integration politisch und militärisch klar bekennen, dann ist es richtig, daß wir einmal im Hinblick auf die politischen Veränderungen in Europa und zum zweiten im Hinblick auf die bevorstehenden vertraglichen Regelungen in Wien konzeptionelle Veränderungen diskutieren. Das gilt auch für Vorwarnzeiten, für militärstrategische Verteidigungsüberlegungen bis hin zur Zielplanung; das ist überhaupt kein Streitpunkt. Auf der anderen Seite muß ich Ihnen für diesen Teil der Diskussion bei aller Bereitschaft, jetzt vorbereitende Debatten zu führen, auch sagen: Ich möchte nun auch, daß wir in absehbarer Zeit endlich ein Rüstungskontrollabkommen erhalten. ({0}) - Sie verstehen diesen Punkt doch, Herr Kollege. Wir wollen auch hier klar miteinander reden. Wir haben über eine Reihe von Änderungen entschieden, bis hin zu dem Kabinettsbeschluß einer deutlichen Verringerung der Stärke der Bundeswehr. ({1}) Wir waren überhaupt eines der ersten Länder im westlichen Bereich, das einen solchen Beschluß gefaßt hat. Wir bereiten andere Stukturveränderungen vor. Aber in Wahrheit ist dies alles doch noch ein Vorgriff auf das erste Rüstungskontrollabkommen, über das verhandelt wird und das wir in diesem Jahr erwarten. Wenn wir über Sicherheit und berechenbare Politik reden, dann muß den politischen Veränderungen nun auch noch in diesem Jahr das Abkommen mit der Überprüfbarkeit folgen; denn Absichten können sich ändern. Überprüfbare Abkommen sind jedoch eine stärkere Bindung und stellen ein größeres Maß an Sicherheit dar. Wenn es um Sicherheitsfragen eines Volkes geht, dann braucht man nicht nur Absichtserklärungen der anderen, sondern dann braucht man Vereinbarungen, die auch nachvollziehbar und überprüfbar sind. ({2}) Insofern besteht im Hinblick auf Ihre Fragestellung Einvernehmen, aber ich muß auf diesen Punkt hinweisen. Rüstungskontrolle und Abrüstung ja. Niemand kann der Bundesregierung vorwerfen, daß sie sich im Engagement für sachgerechte Lösungen in Wien von irgendeinem anderen Beteiligten in West oder Ost übertreffen läßt. ({3}) - Ich komme gleich auf diesen Punkt, Herr Koschnick, weil Sie das bezweifeln. - Dies gilt aber zugleich auch für die Notwendigkeit, am Bündnis festzuhalten, ({4}) es nicht nur als eine Übergangsinstitution darzustellen, sondern als die dauerhafte politische Zusammenarbeit und sicherheitspolitische Absicherung zwischen Westeuropa und unseren nordamerikanischen Partnern zu begreifen. ({5}) Die Alternative heißt nicht NATO oder gesamteuropäische Friedensordnung. Auf der Basis des Bündnisses mit Blick vor allen Dingen auf die Sowjetunion, die weiterhin eine europäische Großmacht und auch eine starke Militärmacht bleiben will, und die anderen, kleineren Staaten wollen wir gesamteuropäische Si16016 cherheitsstrukturen entwickeln. Über die Notwendigkeit, solche Strukturen zu entwickeln, sind wir, Bundesregierung und SPD, uns im Prinzip sicherlich einig, auch wenn wir im einzelnen noch manchen Diskussions- und Klärungsbedarf haben. ({6}) Aber wir müssen, wie gesagt, in diesem Jahr den Abrüstungsvertrag endlich auch erreichen. Es ist schon zu Recht erwähnt worden, daß die Sowjetunion in manchen Punkten im Moment eine eher unbewegliche Haltung einnimmt. Ich will in den wenigen Minuten, die ich noch zu sprechen habe, jetzt nicht auf Einzelheiten von Rüstungsprojekten eingehen und nur wenig zu der etwas merkwürdigen Debatte über den Jäger 90 sagen. ({7}) Ich will Sie auf eines aufmerksam machen. Der Verhandlungsstand in Wien ist zur Zeit, daß die Sowjetunion als Obergrenze 2 500 Jagdflugzeuge mehr fordert, als der Westen vorgeschlagen hat. Der Vorschlag des Westens für Kampfflugzeuge und Jagdflugzeuge liegt um 2 500 niedriger als das, was die Sowjetunion und der Warschauer Pakt verlangen. ({8}) - Ich beschreibe ja nur den Verhandlungsstand, Frau Beer; ({9}) nicht zwischen Ihnen und Ihrer Fraktion, sondern zwischen der NATO und der Sowjetunion. Das letzte ist für unsere Sicherheit wichtiger als Ihre internen Probleme. ({10}) Das ist der Stand. Wir müssen zunächst einmal eine große Anstrengung unternehmen, die Sowjetunion zu überzeugen, daß auch sie mit einem niedrigeren Stand moderner Kampfflugzeuge ihre Sicherheit garantieren kann. Zu dieser Debatte will ich nur folgendes sagen. Was die Sozialdemokraten hier öffentlich aufgeführt haben, ist zu später Stunde freundlich als ein Illusionstheater zu bezeichnen. In Wahrheit haben wir uns mit dem Regierungsabkommen vor zweieinhalb Jahren verpflichtet, eine gemeinsame Entwicklung mit Großbritannien, Italien und Spanien durchzuführen, die uns 6 bis 7 Milliarden DM in knapp zehn Jahren kostet. Nicht die 100 Milliarden DM, wie Sie wahrheitswidrig behaupten, stehen zur Diskussion, sondern die Erfüllung eingegangener Verpflichtungen in der genannten Größenordnung. ({11}) Das sollte man in einer redlichen Debatte auch sagen. Ich unterstreiche, was gesagt wurde: Die Entscheidung, ob wir beschaffen, ob wir in einer anderen Form beschaffen oder ob wir uns in einer anderen Weise für ein modernes Luftverteidigungssystem entscheiden, das wir nach dem übereinstimmend eingebrachten Antrag der Koalition zweifellos brauchen, fällt eher im Jahre 1993 als 1992. ({12}) - Das ist nicht zu spät. Man braucht zunächst die Vorklärungen, die Voraussetzungen dafür, eine Entscheidung zu treffen. Nur, wenn man wie Sie der Meinung ist, daß wir zur Verteidigung gar nichts mehr brauchen, dann ist es vielleicht zu spät. Dann würde ich sagen: Das ist falsch. Man soll das Falsche nicht zu früh und nicht zu spät tun, man soll es überhaupt nicht tun. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koschnick?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ja, bitte.

Hans Koschnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001185, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, würden Sie bei Ihren künftigen Redebeiträgen darauf achten, die Wendung „Wir haben beschlossen" wirklich auf die Regierungskoalition oder auf die CDU/CSU zu beziehen und uns in diesem Hohen Hause nicht einzuvernehmen? Wir haben das nicht mit beschlossen.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ich habe in der Tat für die Bundesregierung gesprochen und nehme Ihre Klarstellung gerne entgegen. Ich gebe Ihnen ausdrücklich recht: Sie haben das nicht mit beschlossen. Wenn ich „der Deutsche Bundestag" sagen würde, dann wäre das auch richtig, weil er eine Mehrheitsentscheidung getroffen hat. Aber wir brauchen uns nicht da über die Formulierungen zu streiten, wo wir keinen Streit haben. Wir werden über die Abenddebatte hinaus, die nun leider zu später Stunde in kleinem Kreis stattfindet, Anlaß haben - ({0}) - Ja, es ist angenehm hier. Ich gebe Ihnen ja recht. Ich habe das auch schon von der positiven Seite her gewürdigt und selbst ein bißchen benutzt. Wir werden Gelegenheit haben, diese großen Diskussionen weiterzuführen und die Chancen der Neugestaltung Europas wirklich zu nutzen: ein neues Europa, das aus der Teilung und der massiven Konfrontation herauswächst und das dennoch nicht ein konfliktfreies und risikofreies Europa sein wird; ein neues Europa, in dem wir Frieden und Freiheit mit weniger Streitkräften und mit mehr Kooperation sichern wollen, aber in dem wir auch weiterhin Streitkräfte, eine moderne, wenn auch kleinere Bundeswehr brauchen. ({1}) - Ja, kleiner und modern. Das können Sie formulieren, wie Sie wollen. Ich sage es in meiner Sprache: eine kleinere, aber moderne Bundeswehr, die wir für die Bündnisfähigkeit und die Sicherheit auch eines vereinten Deutschlands brauchen. Wir wollen im Bündnis bleiben und zugleich die übergreifenden Strukturen verstärken. Insofern glaube ich, vertreten wir ein Konzept, das auch den langfristigen Interessen unseres deutschen Volkes und Europas dient. Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesverteidigungsminister, ein Teil Ihrer kritischen Äußerungen war durchaus nicht nur an die SPD gerichtet, sondern auch, wenn man die Diskussion der letzten Tage verfolgt hat, an den Bundesaußenminister und, wenn man den Debattenbeitrag von Herrn Lamers gehört hat, zum Teil sogar kritisch gewendet gegen die eine oder andere Bemerkung von Herrn Lamers. Ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen. Ich möchte am Anfang feststellen, daß heute abend im Hause in einem Punkt bemerkenswerter Konsens herrscht, der in der Bevölkerung keineswegs herrscht und der am Anfang der Entwicklungen in der DDR auch nicht vorauszusehen war. Das ist nämlich die Tatsache, daß alle Fraktionen im Hause - einschließlich der GRÜNEN - ein neutrales Gesamtdeutschland ablehnen. Das ist so bemerkenswert, daß ich es für wichtig halte, dies am Anfang noch einmal festzustellen. ({0}) Denn tatsächlich ist ein neutrales Deutschland ein vor allen Dingen nationalstaatlich in seiner Sicherheitspolitik geprägtes Deutschland. So etwas kann weder im Interesse unserer östlichen noch unserer westlichen Nachbarn liegen. ({1}) Aber es bleibt die sinnvolle Vorstellung - und zwar übrigens nicht nur von Sozialdemokraten, sondern auch von Liberalen, soweit ich sie in diesem Punkte verstanden habe; damit komme ich jetzt auch auf meinen Hinweis auf den Bundesaußenminister zurück -, daß es Aufgabe deutscher Politik bleiben sollte, den Gegensatz der Bündnisse schrittweise in einer europäischen Friedensordnung zu überwinden, und daß man eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur anstreben sollte - das ist ein Begriff, der auch von Herrn Lamers benutzt wurde ({2}) - ja, europäisch ist gesamteuropäisch -, in der die Bündnisse in ihrer bisherigen Form ebenfalls überwunden werden. Ich sage vorweg, daß ein solches Ziel einer europäischen Friedensordnung - eines europäischen Sicherheitsvertrages oder einer europäischen Sicherheitsordnung - nur längerfristig erreichbar sein wird; denn sie müßte ja vorsehen - wenn es eine KSZE-Friedensordnung wäre - , daß es eine Friedenspflicht aller beteiligten Staaten gibt, daß die Streitkräftekontingente der einzelnen Staaten mit ihren Ober- und Untergrenzen festgelegt werden, daß die Steitkräftestrukturen in ihrer defensiven Ausrichtung definiert werden, daß die Nuklearwaffen dann auch, so meine ich, schrittweise abgezogen werden, zumindest aus den Staaten, die nicht selber über Nuklearwaffen verfügen, und daß die chemischen Waffen aus Europa verschwinden. Das würde dann bedeuten, daß einerseits die USA und Kanada und andererseits die Sowjetunion diese europäische Sicherheitsordnung garantieren müßten. Insofern wären sie auch Teil der europäischen Sicherheitsordnung. Sie wären auch durch Stationierung von Truppen in Europa in der einen oder anderen Form dabei. Es kann auch sein, daß diese Truppen in Friedenszeiten nicht unmittelbar in Europa stationiert sind, aber daß sie zumindest für Europa assigniert sind. Eine solche Sicherheitsordnung ist nicht in einem Jahr zu erreichen. Sie ist auch nicht in zwei Jahren zu erreichen. Und erst recht ist nicht in einem Jahr oder in zwei Jahren zu erreichen, daß einzelne Nationalstaaten einer solchen europäischen Sicherheitsordnung in einem Konfliktfall ihre Streitkräfte unterstellen. Aus diesem Grunde muß man, wenn man eine solche europäische Sicherheitsordnung will - und wir Sozialdemokraten wollen sie - , nüchtern sagen, daß sie nicht gleichzeitig mit der Herstellung der deutschen Einheit zu erzielen sein wird. Was wir erreichen können, sind Schritte in dieser Richtung. Die sollten wir bereits in diesem Jahr bei der KSZE-Folgekonferenz vereinbaren. Ich denke dabei nicht nur an ein Wiener Abkommen in bezug auf vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen wie in bezug auf die konventionelle Abrüstung. Ich denke auch daran, daß man dort gesamteuropäische Institutionen vereinbaren sollte, z. B. ein Verifikationszentrum, einen Rat der Außen- und Verteidigungsminister, vielleicht auch ein Organ für Umweltschutz, soweit man unter Umweltschutz auch ökologische Sicherheit versteht, und auch ein Organ zur friedlichen Streitschlichtung. Aber alle diese Organe sind selber erst Schritte in Richtung auf eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung; sie sind noch nicht die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung selbst, die die Bündnisse überwinden kann. Deshalb muß man nüchtern feststellen, daß auf dem Wege zu einer europäischen Friedensordnung und gleichzeitig zur Herstellung der deutschen Einheit die Bündnisse noch eine Funktion erfüllen und daß deshalb das westliche Bündnis bei einer Politik der gemeinsamen Sicherheit zur Überwindung des sicherheitspolitischen Antagonismus in Europa eine Funktion übernehmen sollte. Wir Sozialdemokraten zielen auf die vereinigten Staaten von Europa. Dazu sollte die Europäische Gemeinschaft weiterentwickelt werden, damit die osteuropäischen Staaten schon möglichst bald damit assoziiert werden können. Damit neutrale Staaten diesen künftigen vereinigten Staaten von Europa - also der Europäischen Gemeinschaft jetzt - beitreten können, darf die Europäische Gemeinschaft zumindest auf absehbare Zeit keine Kompetenz der Verteidigungspolitik im engeren Sinne haben. Die Kompetenz im Bereich der Sicherheitspolitik im allgemeinen Sinne hat sie. Aber sie sollte nicht die Kompetenz der Verteidigungspolitik im engeren Sinne haben; denn Voigt ({3}) das würde die Mitgliedschaft von neutralen und blockfreien Staaten zumindest in den nächsten Jahren erschweren. Es würde auf absehbare Zeit auch die Mitgliedschaft von Warschauer-Vertrags-Staaten erschweren. Ich schließe als Fernziel eine Zuordnung von verteidigungspolitischen Strukturen zu den vereinigten Staaten von Europa nicht aus. Für die nächste Zeit halte ich aber die Forderung, daß die Europäische Gemeinschaft über die Verteidigungspolitik mit verfügt, nicht für konstruktiv. Das lehne ich ab. Wie ich bereits gesagt habe, haben sich die Entwicklungen in der DDR derartig beschleunigt, daß eine staatliche Einheit der Deutschen verwirklicht sein wird, obwohl es noch keine gesamteuropäische Friedensordnung gibt. Deshalb werden Übergangslösungen erforderlich. Den Begriff der Übergangslösung möchte ich ausdrücklich aufgreifen, auch wenn ihn der Bundesverteidigungsminister zurückgewiesen hat. Otto Grotewohl hat bereits 1955 beim Beitritt der DDR zum Warschauer-Vertrag darauf hingewiesen, daß diese Vereinbarungen ein wiedervereinigtes Deutschland nicht binden würden. Dem ist voll zuzustimmen. Insofern stellt sich auch faktisch die Frage der Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands im Warschauer-Vertrag nicht. Davon bleibt die Frage der Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR, die auf anderen Rechtsvereinbarungen und Verträgen basiert, unberührt. Deshalb muß man jetzt in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen klären, wie lange, in welchem Umfang und in welcher Struktur sowjetische Truppen auf dem bisherigen Territorium der DDR stationiert sein sollen. Dabei muß man auch klären, wer dafür zahlt. Wenn die Sowjetunion an ihrer Forderung festhalten sollte, daß die Deutschen für diese Truppen auch noch zahlen sollten, dann limitiert das die Dauer ihrer Anwesenheit auf dem bisherigen Territorium der DDR - ich glaube, dann im Konsens aller Parteien im Bundestag - automatisch. Ich bin fest davon überzeugt, daß auf absehbare Zeit - solange es noch keine gesamteuropäische Friedensordnung gibt - eine Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in einer in seiner militärischen Strategie und seiner politischen Funktion veränderten NATO erforderlich ist. Dies ist nicht nur meine Meinung. Darüber ist in meiner Fraktion, auch unter den Außen- und Sicherheitspolitikern, diskutiert worden. Die Einwände, die es dagegen gibt, sind Einwände die sich auf die Furcht beziehen, daß das zu einer Dauerinstanz wird und daß der Weg zu einer europäischen Friedensordnung blockiert wird. Das ist auch ein ernsthaftes Problem; darüber muß man reden. Ich glaube aber, daß jetzt, beim Beginn der deutschen Einheit, erst einmal wichtig ist, daß Deutschland Mitglied der NATO sein wird, allerdings einer NATO, die in der Funktion und in der militärischen Strategie veränderte Aufgaben wahrnehmen soll. Dabei sollten meiner Meinung nach folgende Grundsätze berücksichtigt werden! Erstens. Deutsche und ausländische Truppen werden drastisch reduziert. Es ist schon gesagt worden, daß ein vereintes Deutschland weniger Truppen haben sollte als die Bundesrepublik Deutschland heute alleine. Zweitens. Das künftige, vereinte Deutschland sollte dauerhaft völkerrechtlich verbindlich auf ABC-Waffen verzichten. Ich bin der Meinung, daß ein solcher Verzicht auf ABC-Waffen über den NPT-Vertrag und auch über die Bindung in der WEU hinaus gegenüber der Sowjetunion erklärt werden muß. Ich wäre sehr froh, wenn alle Parteien im Parlament einig wären, daß in einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung der ABC-Waffen-Verzicht auch Teil einer gesamtdeutschen Verfassung würde. Drittens. Amerikanische Bündnistruppen bleiben auf dem Boden der bisherigen Bundesrepublik stationiert, sowjetische auf dem Boden der bisherigen DDR. Viertens. Es wird festgelegt, daß keine Stationierung und kein Einsatz von Einheiten der bisherigen Bundeswehr auf dem Gebiet der jetzigen DDR erfolgen darf. Auf diesem Gebiet werden Verbände einer defensiven deutschen Territorialverteidigung stationiert, die meiner Meinung nach anfangs aus Einheiten der bisherigen NVA und später aus Einheiten einer gesamtdeutschen Bundeswehr gebildet werden können. Natürlich ist es so, daß die auf dem Gebiet der bisherigen DDR stationierten deutschen Einheiten nicht der NATO unterstellt werden sollten. Fünftens. Das französische Beispiel einer nationalen Verfügung über militärische Potentiale ist für die Bundeswehr kein geeignetes Vorbild. Solchen Anregungen, wie sie nicht nur, aber auch aus der SPD stammen, möchte ich ausdrücklich widersprechen. Ich halte das für kein gutes Beispiel. Ich verstehe, daß dort solche Vorbilder akzentuiert werden. Aber was für Frankreich gut ist, würde, wenn es die Deutschen nachvollzögen, von unseren Nachbarn nicht als größere Sicherheit, sondern als ein Unsicherheitsfaktor empfunden werden. Die bisherige Bundeswehr muß weiter gleichberechtigt im Bündnis bleiben. Sie muß multilateral eingebettet bleiben, auch in die multilateralen Strukturen der NATO. Die multilaterale Einbettung der militärischen Potentiale der Deutschen ist ein historischer Fortschritt, der nicht durch das Streben nach sicherheitspolitischer Souveränität gefährdet werden darf. Sechstens. Die NATO verringert schrittweise ihre abwehrende Funktion gegenüber der Sowjetunion. Sie übernimmt neue kooperative Funktionen bei den Abrüstungs- und Verifikationsvereinbarungen und damit bei der Organisierung einer blockübergreifenden Sicherheit in Europa. Die bisherigen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages erhalten - das werde ich in der nächsten Woche anregen, und ich hoffe, daß ich mich damit auch durchsetze -, auf Wunsch einen Beobachterstatus bei der Nordatlantischen Versammlung. Die NATO und die Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages vereinbaren eine regelmäßige Konsultation und auch gemeinsame Verfahren zur friedlichen Krisenbewältigung. Voigt ({4}) Siebtens. Die NATO gibt ihre bisherige Strategie der „flexible response'' auf. Alle Nuklearwaffen werden vom Boden Deutschlands abgezogen. ({5}) Achtens. Zugleich wird ein Einstieg in ein europäisches Sicherheitssystem eingeleitet. Die KSZE-Teilnehmerstaaten bilden, wie gesagt, dann schon einen gemeinsamen Rat der Außen- und Verteidigungsminister. Diese Übergangslösungen stellen einen Fortschritt gegenüber der bisherigen sicherheitspolitischen Lage in Deutschland dar. Aber sie sind auch weiterhin unbefriedigend. Sie sind deshalb unbefriedigend, weil sie einen unterschiedlichen Status für unterschiedliche Regionen in Deutschland vorgesehen. Das muß man einfach nüchtern sehen. Das wird sich nicht auf einmal bewältigen und auf einmal beheben lassen. Man muß deshalb auch von Übergangslösungen sprechen. Auch aus diesem Grunde spreche ich von Übergangslösungen. Ich glaube, daß die europäischen Nachbarn - damit meine ich die westlichen und die östlichen Nachbarn Deutschlands - auf Dauer gesehen dazu bereit sein könnten, diese unterschiedlichen sicherheitspolitischen Regionen in Deutschland zu revidieren, wenn sie merken, daß sich Deutschland anders verhält als in der Vergangenheit. Insofern muß man noch an weitere Phasen denken. Das ist der Punkt, den ich auch in bezug auf die Vereinigten Staaten von Europa als weiteres Ziel dann sozusagen noch weiter im Auge habe. Aber wenn man die Einheit schnell will, dann kann man nicht gleichzeitig in bezug auf Sicherheitspolitik alles auf einmal wollen. Das heißt, man muß den unterschiedlichen sicherheitspolitischen Status unterschiedlicher Regionen in Deutschland dann noch mit hinnehmen. Zuletzt lassen Sie mich noch zwei Punkte hinzufügen. Der erste ist: Die große Chance, die sich jetzt auftut, ist - das haben eigentlich alle Redner in unterschiedlicher Tonlage gesagt - , daß sich mit dem Fall der Mauer und dem Weg zur deutschen Einheit gleichzeitig Chancen zur Abrüstung in Europa eröffnen, die wir bisher nie gesehen haben. ({6}) - Vielleicht nicht immer wahrgenommen haben; aber zum Teil waren sie auch nicht in diesem Umfang da. Denn die Demokratisierung in Osteuropa hat auch neue Abrüstungschancen hervorgerufen. Insofern sind auch erst neue Chancen entstanden, obwohl ich Ihnen zustimme, daß vorher nicht alle Chancen genutzt worden sind. Aber darüber hinaus gibt es jetzt die Chance zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Zum Schluß möchte ich einen Satz aus einem Papier von einem Mitarbeiter der GRÜNEN von dieser Woche zitieren, Frau Beer, weil Sie mich dazu geradezu provozieren. Da heißt es wörtlich wie folgt: Da ein aus dem KSZE-Prozeß zu entwickelndes supranationales kooperatives Sicherheitssystem in Europa noch einige Jahre auf sich warten lassen wird und ein neutrales Deutschland aus innen- wie außenpolitischen Gründen nicht wünschenswert sein kann, gibt es zu einer bündnispolitischen Integration in der Übergangszeit keine Alternative. Da ein Staat schon aus völkerrechtlichen Gründen nicht Mitglied zweier Militärbündnisse sein kann und eine Aufnahme in den Warschauer Vertrag noch nicht einmal eine Denkmöglichkeit darstellt, geht an der NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands kein Weg vorbei. So Herr Bruckmann, Mitarbeiter der grünen Fraktion in dieser Woche. ({7}) Wenn dies die Auffassung der GRÜNEN insgesamt wäre, dann gäbe es, um auf meinen Eingangssatz zurückzukommen, nicht nur in der Frage der Ablehnung einer Neutralität einen Konsens in diesem Hause, sondern auch in bezug auf die zumindest für eine Übergangszeit erforderliche Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschlands in einem in seiner militärischen Strategie und politischen Funktion veränderten westlichen Bündnis. Vielen Dank. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Wilz.

Bernd Wilz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002521, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt mir Gelegenheit zu fragen: Wo würden wir heute eigentlich stehen, wenn die Koalition im Jahre 1983 gegen den massiven Widerstand der Opposition den Stationierungsbeschluß nicht durchgesetzt hätte? ({0}) Damals haben wir uns gegen den Zeittrend und gegen die Politik von SPD und GRÜNEN mit Weitblick dafür entschieden, durch die Stationierung der Mittelstrekkenraketen die Sowjetunion an den Verhandlungstisch für Abrüstung und Rüstungskontrolle zu bewegen. Dieser Mut hat sich ausgezahlt. Auch diesmal lassen wir uns von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht drängen oder unter Zeitdruck stellen. Wir werden wiederum mit Weitblick einen Weg beschreiten, an dessen Ende weiterhin Sicherheit, Stabilität, Frieden in Freiheit und Wohlstand stehen werden. ({1}) Wir werden nicht aus wahltaktischen Gründen Forderungen nachgeben, die die Gefahr einer Instabilität unserer Sicherheit und einer Verunsicherung der Bevölkerung zur Folge haben. Der Umbruch im Osten bringt auch im Westen politische und strategische Dimensionen in Bewegung. ({2}) Es gilt nun, die großen Chancen mit den nicht zu unterschätzenden Risiken abzuwägen. Ohne den Gesprächen im Rahmen der 2 + 4, den Beratungen in der NATO und dem KSZE-Prozeß mit nicht realisierbaren Festlegungen vorzugreifen oder sie zu belasten, geht es heute um die Frage, wie man das Ziel einer europäischen Friedensordnung verwirklichen kann. Wie muß eine Sicherheitsstruktur aussehen, die allen Beteiligten gerecht wird? Unzweifelhaft dürfte sein, daß bewährte Strukturen und Foren der westlichen Staaten- und Wertegemeinschaft in die Überlegungen einzubeziehen sind. Zu denken wäre zunächst an eine Öffnung der NATO. Die NATO steht in ihrem Selbstverständnis als Wertegemeinschaft und Stabilitätsfaktor jedem europäischen Staat offen, der sich zur Freiheit, zum Selbstbestimmungsrecht, zu Menschenrechten und zur Demokratie bekennt, also im Prinzip auch osteuropäischen Demokratien. Voraussetzung ist, daß einerseits die Interessenlage der NATO mit der transatlantischen Anbindung Nordamerikas an Europa und andererseits die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion dieser Erweiterung nicht entgegenstehen. Ungarn hat bereits - darauf hat auch der Minister eben hingewiesen - über einen Beitritt nachgedacht. Unter Fortbestand der NATO in heutiger Form könnte man auch daran denken, die Westeuropäische Union zu erweitern. Die Westeuropäische Union als verteidigungspolitischer Pendant zur Europäischen Gemeinschaft könnte sich ebenfalls für demokratische Staaten Osteuropas öffnen. Einer Erweiterung der WEU zu einer Europäischen Sicherheitsunion bedeutet notwendigerweise die Übernahme einer aktiven Rolle und von mehr Verantwortung durch die beteiligten europäischen Staaten für ihre gemeinsame Sicherheit. Dazu müßte die WEU mit mehr Leben erfüllt und durch die Schaffung einer eigenen Kommandostruktur ergänzt werden. ({3}) Es ist völlig klar, daß der Beitritt eines demokratischen osteuropäischen Staates in die WEU die Zugehörigkeit zum WP ausschließt. ({4}) - Sie sollten genau zuhören. Sie werden dann darüber nachdenken können. Eine solche Sicherheitsstruktur setzt ebenfalls eine transatlantische Anbindung Nordamerikas sowie die Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion voraus. Denkbar ist schließlich auch, längerfristig betrachtet, zu einer Europäischen Sicherheitsunion unter dem Dach der KSZE zu gelangen. Grundvoraussetzung ist, daß sowohl die USA als auch Kanada auf der einen und die Sowjetunion auf der anderen Seite unmittelbar oder als Signatarstaaten mit Garantiefunktion beteiligt sind, und Voraussetzung bleibt in jedem Fall für jede Art einer neuen Sicherheitsstruktur in Europa, daß die westlichen Sicherheitsbündnisse weiter bestehenbleiben. ({5}) - Ich habe eben z. B. von NATO und WEU gesprochen, und ich habe dieses in der Gesamtheit betrachtet. Ein Aufgehen von NATO oder WEU in eine Europäische Sicherheitsunion könnte nur dann erfolgen, wenn eine entsprechende Interessenlage dies zuließe und wenn das auch politisch entsprechend gewollt wäre. In jedem Fall müßte eine künftige europäische Sicherheitsstruktur folgenden Aufgaben gerecht werden: Gewährleistung und Fortsetzung der Rüstungskontrolle und Abrüstung, Garantie für eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit auf der Grundlage der engen Zusammenarbeit mit den nordamerikanischen Staaten sowie des Dialogs mit der Sowjetunion, Schaffung und Bereitstellung einer hochbeweglichen strategischen Reserve Europas. Diese könnte zum einen der Friedenssicherung in Europa dienen, zum anderen böte sie die Möglichkeit, die Lebenslinien der europäischen Wirtschaft gemeinsam mit den nordamerikanischen Staaten zu sichern. ({6}) Ebenso käme eine Beteiligung an UNO-Friedensmissionen in Betracht. Bei all diesen Überlegungen kommt es darauf an, mehr als bisher multinationale Verbände zu bilden. Was bedeutet die weitere Entwicklung in Europa nun für die Bundeswehr? Wir hoffen, daß die Fortschritte bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte noch in diesem Jahr zu einem Abkommen führen. Das bedeutet, daß die im Dezember 1989 beschlossene Bundeswehrplanung mit einer 20 %igen Reduzierung auf 400 000 Soldaten greift. Wir streben baldige Folgeverhandlungen an und wollen in Verbindung mit zusätzlichen drastischen Truppenreduzierungen der sowjetischen Streitkräfte eine weitergehende Reduzierung des Bund eswehrumfanges ermöglichen. Eine solche Verminderung des Friedensumfanges würde sich konsequenterweise - auch aus Gründen der Wehrgerechtigkeit - auf die Dauer des Grundwehrdienstes auswirken. Die Beantwortung der Frage nach W 12 ist daher in Verbindung mit Folgeverhandlungen in Wien zu sehen. Die Frage nach W 12 ist also nicht willkürlich zu beantworten, sondern sie ist auch von internationalen Entwicklungen abhängig zu machen. Mit dem jetzt zu erwartenden Ergebnis von Wien und einer Reduzierung des Friedenumfanges ist auch eine Verminderung des Verteidigungsumfanges vorzusehen. Wir begrüßen außerordentlich, daß der Verteidigungsmini ster einen entsprechenden Prüfungsauftrag bereits erteilt hat und daß wir in den nächsten Wochen mit einem Ergebnis rechnen können. Eine solche Verminderung des V-Umfanges erfordert gleichzeitig ein modifiziertes Reservistenkonzept mit weniger Wehrübungen. Ein veränderter - geringerer - Streitkräfteumfang bedeutet jedoch nicht, daß es sinnvoll wäre, die Bundeswehr zu einer reinen Berufsarmee umzubilden. Wir wollen uneingeschränkt an dem bewährten Prinzip der Wehrpflichtarmee mit dem Staatsbürger in Uniform festhalten. ({7}) Wir haben unsere Geschichtslektion gelernt ({8}) und kennen die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik, in der die Armee ein Staat im Staate war. Wir wollen, daß die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft ein unverzichtbares demokratisches Element unseres Staates bleibt. ({9}) Die Bundeswehr ist eine Wehrpflicht- und Verteidigungsarmee zugleich. Wir müssen die Bundeswehr nicht erst im Sinne einer von der SPD gewünschten Struktur verändern, denn sie hat bereits die hinlängliche Verteidigungsfähigkeit und ist strukturell angriffsunfähig. Demgegenüber ist es gefährlich und unverantwortlich, die Bundeswehr durch willkürliche Einschnitte zu demontieren. Die Opposition läuft Gefahr, die Grundlage preiszugeben, auf die die Menschen in Osteuropa ihre Hoffnungen setzen, nämlich Stabilität und Absicherung des Wandels im Osten. Die veränderte militärpolitische Lage in Zentraleuropa hat natürlich auch Auswirkungen auf den Umfang der Nuklearwaffen in Europa. Ich unterstütze nachdrücklich die Forderung von Alfred Dregger, die nukleare Artillerie ganz abzuschaffen und möglichst bald mit Verhandlungen über eine drastische Verringerung der Atomwaffen in Europa zu beginnen. Wir wollen aber keine völlige Denuklearisierung Europas. Wir wünschen weiter eine weltweite Ächtung der chemischen Kampfstoffe. Es ist ein Riesenerfolg des Bundeskanzlers, daß die Bundesrepublik Deutschland mit gutem Beispiel vorangeht. Wie würden Sie sich heute feiern lassen, wenn Sie den ersatzlosen Abzug aller chemischen Kampfstoffe aus Deutschland verkünden könnten! ({10}) Streitkräftereduzierungen bedingen auch eine Überprüfung der Haushaltsplanung. Die CDU/CSU kann mit Geld umgehen. Wir haben das gemeinsam mit der FDP seit 1982 eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Wir werden kein Geld ausgeben, das nicht für einen sinnvollen Zweck bestimmt ist. So werden wir auch überall dort sparen, wo dies erforderlich und möglich ist. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, in welchen Bereichen bereits jetzt absehbare Mehraufwendungen erforderlich sind, z. B. für die zu erwartenden Besoldungserhöhungen im öffentlichen Dienst, zur Schaffung weiter verbesserter sozialer Rahmenbedingungen und Berufsförderungsmaßnahmen, für Maßnahmen im Bereich des Umweltschutzes und für die Verifikation bei der Umsetzung des VKSEAbkommens.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?

Bernd Wilz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002521, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn das nicht angerechnet wird, ja.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben gerade erklärt, die FDP und Sie könnten mit dem Geld umgehen, und Sie würden das auch immer sorgfältig tun. Gilt diese Aussage auf beide Fraktionen bezogen auch für den Jäger 90?

Bernd Wilz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002521, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was wir bisher beschlossen und umgesetzt haben, ist so sinnvoll, daß wir uns damit sehen lassen können. ({0}) Ich wäre glücklich, wenn Sie von 1969 bis 1982 halb so viel Verstand gezeigt hätten. ({1}) Wir wollen, meine Damen und Herren, daß die Soldaten der Bundeswehr im Vergleich zu anderen Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes in keiner Weise benachteiligt werden. Durch unser Engagement haben wir gestern im Nachtragshaushalt für 1990 zusammen mit den Kollegen des Haushaltsausschusses zusätzliche Möglichkeiten zur Lösung des Staus bei den Unteroffizieren mit Portepee geschaffen. Wir bieten den Soldaten die soziale Wärme, von der Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, immer nur reden. ({2}) In den nächsten Haushaltsjahren kommt es darauf an, die Prioritäten der Bundeswehrplanung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu bestimmen, um auch im Rüstungsbereich Einsparungen vornehmen zu können. Dies werden wir mit der gebührenden Sorgfalt tun. Für „Schnellschüsse" - auch im Hinblick auf Wahltermine - sind die äußere Sicherheit und Stabilität in Europa für uns ein zu hohes Gut. Insgesamt wollen wir eine kleinere Bundeswehr. Wir werden jedoch an gut ausgebildeten und modern ausgerüsteten Streitkräften festhalten. Diese müssen attraktiv auch für unsere Berufs- und Zeitsoldaten sein und bleiben. Meine Damen und Herren, wir lehnen Ihre Forderung, die Sie hier heute auf den Tisch gebracht haben, zur Bundeswehrplanung ab. Sie wollen offensichtlich den Austritt aus der NATO ({3}) und, wie aus Ihren Reihen hinlänglich und mehrfach formuliert, die Bundeswehr zu einem Auslaufmodell degradieren. Dies machen wir nicht mit. Wir bleiben auch in Zukunft der Garant für Frieden und Freiheit für Deutschland. Ich bedanke mich. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Professor Soell.

Prof. Dr. Hartmut Soell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002186, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verteidigungsminister hat vorhin davon gesprochen, daß es sehr unterschiedliche Meinungen auch innerhalb der Reihen der Opposition gebe. Sie haben ein paar Zitate gebracht. Schreiten Sie doch einmal die ganze Phalanx der Äußerungen, nicht nur hier in diesem Hause, sondern von Amerika angefangen, ab: Da gibt es den neuen Atlantizismus des amerikanischen Außenministers Baker, sehr vage Äußerungen. Oder nehmen Sie das, was der frühere britische Außenminister David Owen gesagt hat, der den Vorschlag gemacht hat, Deutschland solle aus der militärischen Integration der NATO ausscheiden, es solle einen zweiseitigen Vertrag geben zwischen den USA und der Bundesrepublik oder dem künftigen Deutschland über die amerikanische Präsenz hier, und es solle dann auch eine reziproke Verschränkung zwischen den Mitgliedern der Westeuropäischen Union und der Bundesrepublik über die Stationierung von Truppen jeweils auf den Territorien der anderen Länder geben. Wenn Sie solche Vorschläge betrachten oder das, was Sie selber zitiert haben, die Äußerungen des Außenministers aus Warschau oder des Außenministers aus Prag nach den Beratungen des Warschauer Pakts, dann sehen Sie: Wir sind noch in einer Situation, wo viele Dinge bedacht werden müssen, weil dieses zusammenwachsende Deutschland natürlich eine neue Größe ist und weil die militärische Währung, auch die nukleare Währung, in ihrem Wert abgenommen hat. Selbst auf sowjetischer Seite - wenn Sie Äußerungen von Mitgliedern des Beraterkreises von Gorbatschow hören - gibt es Zweifel, ob Frankreich und Großbritannien allein in der Lage wären, dieses zusammenwachsende Deutschland zu kontrollieren, und deswegen gibt es eine Bereitschaft, darüber nachzudenken, ob dieses Deutschland nicht wenigstens für eine Übergangszeit in der NATO bleiben solle und ob das nicht auch für die Sowjetunion akzeptabel wäre. Aber dieses Nachdenken ist von einer Forderung innerhalb der Sowjetunion begleitet, jetzt schon einen sichtbaren Einstieg in ein europäisches Sicherheitssystem zu machen. Davon werden auch die Wiener Verhandlungen und die Gespräche 2 + 4 beeinflußt. Darüber dürfen wir uns überhaupt keine Illusionen machen. Das gilt jedenfalls für die Substanz dessen, was sowohl in den Gesprächen 2 + 4 vereinbart werden soll als auch in den Wiener Verhandlungen und in deren Ergebnis. Wir wünschen ein schnelles Ergebnis, damit Wien II stattfinden kann. Dies wird alles von dem Wunsch der Sowjetunion begleitet sein, einen Einstieg in ein solches europäisches Sicherheitssystem zu machen. In der Sondersitzung der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union von letzter Woche hat es natürlich auch dieses Spektrum von Meinungen gegeben. Als Außenminister Genscher - das ist ein Punkt, wo wir ihm sehr zustimmen - ausgebreitet hat, wir haben zuerst eine kooperative Sicherheitsstruktur, eine erste Phase, und später dann vielleicht die Chance zum Übergang in eine zweite Phase der Kollektivität - diese Phase würde dann die Bündnisse ablösen - , wurde dies natürlich von unseren französischen Freunden, aber nicht nur von der konservativen Seite, sondern auch von Mitgliedern der sozialistischen Partei mit den Worten kommentiert, dies sei eine „douche froide", eine kalte Dusche, weil u. a. in dieser Rede nichts über die weitere Rolle der Westeuropäischen Union gesagt worden ist. Herr Lamers, wir kommen hier wirklich an eine schwierige Wegkreuzung. Ihr Vorschlag einer europäischen Sicherheitsunion, die sich ja wesentlich auf Westeuropa konzentriert, mit der Beitrittsmöglichkeit vielleicht in der Zukunft für Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn - ich denke, so haben Sie es konzipiert - , würde sicherlich von sowjetischer Seite als zweite europäische militärische Supermacht wahrgenommen ({0}) und deswegen - auch aus Gründen, die ich vorher schon kurz gestreift habe - nicht akzeptiert, weil sie wahrscheinlich Frankreich und Großbritannien und anderen westeuropäischen Ländern nicht mehr zutraut, daß diese Länder dieses neue deutsche Potential kontrollieren könnten. Das ist eines der Probleme, die damit zusammenhängen. Die Abrüstungs- und Rüstungskontrollprobleme würden zusätzlich mit einer auch nuklear bewaffneten europäischen Supermacht vergrößert. ({1}) - Doch, in einem Stadium, in dem über eine existentielle strategische Bewaffnung etwa auf der Basis von 2 000 Sprengköpfen in Amerika und in der Sowjetunion nachgedacht wird, also schon über START II, bildet natürlich ein aufwachsendes Potential der europäischen Nuklearmächte ein Rüstungskontrollproblem ersten Ranges. Das ist doch unbestreitbar. In dieser Diskussion wird doch völlig klar, daß wir mit solchen neuen Bündnisstrukturen in keiner Weise weiterkommen. Natürlich müssen wir für eine Übergangsperiode an dem Vorhandenen festhalten. Aber dann müssen sich diese Bündnisse in ihren militärischen Optionen, in ihrer strategischen Doktrin, in dem, was sie an offensiven Komponenten und offensiven Optionen haben, auch ändern, sonst ist das nicht vorstellbar, was hier an Kontrollmöglichkeiten gedacht worden ist. Herr Verteidigungsminister, wenn Sie von dem wiederentstehenden Nationalismus in bestimmten Teilen Osteuropas und Südosteuropas sprechen, so muß auch ich sagen, daß das in der Tat eine Gefahr ist. Es gibt auch weitere Gefahren am Südrand der Sowjetunion. Nachitschewan ist wenige Kilometer von dem Territorium eines NATO-Partners entfernt, nämlich der Türkei. ({2}) Da gibt es Forderungen an die türkische Regierung, die islamischen Brüder in Nachitschewan zu befreien. Alle diese Dinge spielen eine Rolle. Nur meine ich: In dieser Funktion, hochgerüstet, in diesem Hochreizungssystem, das wir seit Jahren haben, können die Bündnisse solche Fragen am allerwenigsten lösen. Da könnte schon im kooperativen Stadium eines europäischen Sicherheitssystems ein Zentrum für Konfliktregulierung mehr bewirken, als wenn solche Konflikte innerhalb von Bündnisterritorien von diesen Bündnissen selbst unter Kontrolle gehalten werden. Eines, Herr Kollege Lamers, dürfen Sie auf keinen Fall vergessen: Die Franzosen haben ihre Wahl schon vor dreieinhalb Jahrzehnten getroffen. Es war ihre Entscheidung, und sie ist durch de Gaulle zwölf Jahre später durch den Austritt aus der NATO-Integration noch einmal bekräftigt worden. Es war ihre Entscheidung 1954, sich nicht mit den Deutschen gemeinsam in eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu begeben, bei einem damals noch sehr viel besseren Machtgleichgewicht zugunsten Frankreichs. Sie sind heute natürlich an einer solchen Struktur noch viel weniger interessiert. Das ist einfach Ihr Problem, mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen. Hier sieht man, Herr Kollege Stoltenberg, wie auch in Ihrer eigenen Fraktion die Meinungen sehr weit auseinanderdriften. Sie sollten diese Auffassungen wirklich auf einen Nenner zu bringen versuchen, genau wie wir das auch versuchen. Wir sind in einem Stadium des Übergangs, in dem noch über neue Dinge nachgedacht werden muß. Es gibt bestimmte Basiselemente, die nicht vernachlässigt werden können - darüber haben wir heute gesprochen -, aber es ist sehr wohl möglich, daß wir in einer Reihe von Punkten - die haben wir in unserem Antrag angeführt - selbständig etwas vornehmen, in die Gespräche 2 + 4 einbringen und in die Verhandlungen über ein Mandat für Wien II einbringen. Die Helsinki-Konferenz am Jahresende oder hoffentlich ewas früher, die der sowjetische Staatspräsident vorgeschlagen hat, und die stattfinden wird, nachdem alle Mächte ringsum dieser Konferenz zugestimmt haben, wird sich mit einem solchen Mandat beschäftigen müssen. Nach unserem Willen soll sich eine solche Konferenz auch mit zwei weiteren Mandaten beschäftigen, nämlich mit einem Mandat über Verhandlungen, an deren Ende dann auch die Abschaffung aller Nuklearwaffen in der europäischen Zentralregion stehen soll, und einem weiteren Mandat, das eben zum Aufbau einer europäischen Sicherheitsstruktur in dieser kooperativen Phase dienen soll, mit den Einrichtungen: Ministerrat, Generalsekretär, Rüstungskontrollagenturen, Konfliktzentrum und Zentrum für Risikoreduzierung. Das sind unsere Wünsche, die wir hier mit dazugeben. Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Adam-Schwaetzer.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen natürlich auch die bewegenden Ereignisse in Osteuropa und das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten reflektieren. In der Sicherheitspolitik, in der gemeinsamen europäischen Sicherheit geht es um neue Konzepte. Es geht um Visionen für die von uns allen angestrebte europäische Friedensordnung. Die Debatte heute abend hat deutlich gemacht, denke ich, daß hier eine Vielfalt von neuen Ideen und Konzepten in den Raum gestellt wird, die der Auseinandersetzung harren. Die demokratischen Revolutionen in Osteuropa und die deutsche Einheit erfordern Abrüstungsschritte, und zwar schnell. Dabei muß die deutsche Einheit im Gleichklang mit den Entscheidungen zur künftigen Sicherheit in Europa vorangetrieben werden. Ungleichgewichte, Sicherheitsdefizite, seien sie real oder befürchtet, können die Dynamik des Zusammenwachsens Europas bremsen. Dies muß in jedem Fall vermieden werden. Gefragt ist deshalb ein Höchstmaß an Flexibiltät. Abrüstung - das sage ich auch im Hinblick auf den vorliegenden SPD-Antrag - ist sicherlich mehr als eine Fülle von Einzelmaßnahmen. Die Einzelmaßnahmen oder zumindest einige von ihnen, die hier genannt worden sind, müssen und können in den Abrüstungsprozeß eingebettet werden. Die demokratische Revolution in Mittel- und Osteuropa hat den Boden für eine neue Sicherheitspolitik bereitet. Sicherheit wird künftig nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander entstehen. Beide Bündnisse sind aufgerufen, ihre Rolle politisch zu definieren und sich langfristig zu Instrumenten sicherheitspolitischer Zusammenarbeit zu verbinden. Wenn auch die Definition dessen, was in Zukunft Aufgabe der Bündnisse sein wird, erst noch vor uns liegt, so läßt sich heute schon sagen, daß Verifikation und Vertrauensbildung die kooperativen Sicherheitsstrukturen begleiten müssen, wenn sie ein sinnvolles Netz der Sicherheit über Europa ausbreiten. Dies wird selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Bewaffnung der Armeen haben. Unser westliches Bündnis hat deshalb gerade in der gegenwärtigen Zeit wie auch für die Zukunft eine friedenssichernde und stabilisierende Funktion. Der Prozeß, zukünftige Sicherheitsstrukturen in Europa zu schaffen, muß parallel zur Umgestaltung der bestehenden Bündnisse verlaufen, wenn nicht Sicherheitsdefizite entstehen sollen. Wir wollen die Überwindung der Trennung Deutschlands in die Perspektive einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa einordnen, in der die Bündnisse ihren antagonistischen Charakter stetig verlieren. Abrüstung ist dabei entscheidend. Dies ist die Aufgabe der Abrüstungsverhandlungen über konventionelle Stabilität in Wien, die die Bundesregierung mit Anregungen immer wieder vorangetrieben hat. Zu klären ist daneben natürlich der Sicherheitsstatus eines zukünftigen Deutschland. Dies ist Aufgabe der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Abrüstung hingegen wird weiter Aufgabe in Wien bleiben. Grundlage der Gespräche, die im Kreise der zwei deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges begonnen worden sind, ist der Vorschlag von Bundesaußenminister Genscher, nach dem ein künftiges Deutschland Mitglied in der NATO bleibt, die NATO ihr Verteidigungsgebiet aber nicht über die Elbe ausdehnt. Ich denke, daß die Zustimmung, die dieser Vorschlag innerhalb der NATO am Rande der Konferenz in Ottawa gefunden hat, ein deutliches Signal auch an die Sowjetunion gewesen ist, daß ihre legitimen Sicherheitsinteressen beachtet werden. Daß dies die richtige Entscheidung war, zeigt auch die positive Reaktion der kleineren Staaten des Warschauer Paktes, wie sie in der Außenministerkonferenz der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag vor zehn Tagen - der Verteidigungsminister hat dies zitiert - zum Ausdruck gekommen ist. ({0}) Wir wollen schrittweise eine überwölbende, kooperative KSZE-Sicherheitsarchitektur in Europa aufbauen, die sich über die noch geraume Zeit bestehenden Bündnisse spannt und in der diese letztlich aufgehen können. Dieser Prozeß bildet den Stabilitätsrahmen für die von uns erstrebte Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Daran wird schon deutlich, daß die von uns gewünschte KSZE-Gipfelkonferenz im Spätherbst eine Schlüsselstellung für die zukünftige Gestaltung der Sicherheit in Europa einnehmen wird. Sie sollte sich nach unserer Auffassung auch mit der Einrichtung europäischer Institutionen befassen. Wer Sicherheit nicht nur als militärisches Potential, sondern als einen politischen Prozeß definiert, der wird sich dem Gedanken solcher Institutionen nicht verschließen können. Ich will nur einige der von uns für notwendig erachteten Institutionen nennen: eine Institution zur Koordinierung der wirtschaftlichen West-Ost-Zusammenarbeit, die reflektiert, daß die wirtschaftliche Kooperation in die Lage versetzt werden muß, die militärische Konfrontation im internationalen Kontext zu ersetzen; eine gesamteuropäische Institution für die Sicherung der Menschenrechte; eine europäische Umweltagentur, aber auch ein europäisches Verifikationszentrum und ein europäisches Konfliktzentrum. Regelmäßige Tagungen im Außenministerrat der KSZE-Staaten können der Verstetigung des KSZE-Prozesses dienen. Wir alle wollen, daß noch in diesem Jahr in Wien das erste Abrüstungsabkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa zum Abschluß gelangt. Bei allen Teilnehmern dieser Konferenz ist der politische und der praktische Wille vorhanden, die noch offenen Verhandlungsfragen bis zum Frühsommer zu lösen. Dieses erste Wiener Abkommen wird ein Schritt von historischer Tragweite, aber nur ein Anfang sein. Die politischen Veränderungen in Europa, die seit Beginn der Verhandlungen vor einem Jahr eingetreten sind, machen es unabdingbar, durch unverzügliche Weiterverhandlung die konventionelle Abrüstung grundlegend an die neue Lage anzupassen. Dazu hat Bundesaußenminister Genscher in Wien zu Beginn dieses Jahres bereits erklärt, daß nach unserer Vorstellung dabei auch die einheimischen Streitkräfte erfaßt werden müssen. Dies macht auch deutlich, daß die Vorstellungen der Sowjetunion, wie sie in der letzten Verhandlungsrunde in Wien zum Ausdruck gekommen sind, nämlich auch eine Höchststärke für Truppen der Teilnehmerstaaten in Zentraleuropa zu definieren, in unsere Richtung gehen. Wir wissen, daß die Wahrung der legitimen Sicherheitsinteressen auch der Sowjetunion, für die sich in dieser Zeit viel verändert, größte Bedeutung hat. ({1}) Es ist nicht unser Wille, daß der Wandel in Osteuropa so wie der deutsche Einigungsprozeß zu einer sicherheitspolitischen Kräfteverschiebung führen. Transparenz, Offenheit und die Fähigkeit, einander richtig einzuschätzen, sind ebenso wichtig wie die Reduzierung von Streitkräften. Deswegen wird Abrüstung nicht ohne Vertrauensbildung und Verifikation vonstatten gehen können. Es geht dabei nicht nur um den Umfang militärischer Potentiale, sondern auch um Regeln für den Umgang mit militärischer Macht. Deshalb sollten vertrauensbildende Maßnahmen mit besonderem Blick auf nachbarschaftliche Verhältnisse erarbeitet werden. Vertrauensbildung führt zu einer Kultur des Zusammenlebens zwischen den Staaten, in der für Vorherrschaft und Bedrohung, für Feindbilder und Mißtrauen kein Raum bleibt. ({2}) Die Bundesregierung wird sich für die baldige Aufnahme der im Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle und Abrüstung vorgesehenen Verhandlungen über nukleare Kurzstreckenraketen einsetzen. Aber auch die nukleare Artillerie muß in die Abrüstung einbezogen werden. Welchem vernünftigen militärischen Zweck können diese Systeme heute noch dienen? Meine Damen und Herren, vertraglich vereinbarte Sicherheit und Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau der Streitkräfte und Rüstungen sowie ein tragfähiges Netz vertrauensbildender Maßnahmen sind entscheidende Voraussetzungen für die endgültige Überwindung der unnatürlichen Trennung Europas und Deutschlands. Uns Deutschen, die unter dieser Trennung besonders gelitten haben, fällt heute eine besondere Verantwortung zu, die sicherheitspolitischen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent zu schaffen. Wir müssen diese Chance mit aller Kraft gemeinsam nutzen. - Ich danke Ihnen. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/6309 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Westphal Für heute haben wir noch einen Tagesordnungspunkt. Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Schmidt-Bott und der Fraktion DIE GRÜNEN Rosa Listen Beeinträchtigung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung von Homosexuellen durch den Homosexuellen-Sonderparagraphen ({0}) und die Sicherheitsrichtlinien ({1}) - Drucksachen 11/2586, 11/4299- b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN Zunehmende Gewalt gegen homosexuelle Männer und wirksame Wege ihrer Bekämpfung - Drucksachen 11/4910, 11/5783 Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6783, 11/6784 ({2}), 11/6785 und 11/6796 vor. Die genauen Titel dieser Vorlagen entnehmen Sie bitte den Drucksachen. Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Guten Abend! Es ist spät geworden. Nach dem Motto „Je später die Stunde, desto schwuler die Themen" debattieren wir heute zum zweiten Male innerhalb kurzer Zeit ein schwulenpolitisches Thema spät in der Nacht. Damit hat das Parlament die Chance vertan, mit dieser Debatte das gesellschaftliche Schweigen über die Gewalt gegen Schwule zu brechen und die Mißbilligung dieser Gewalt durch alle demokratischen Kräfte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die Tageszeit, zu der ein Thema hier im Bundestag behandelt wird, ist nicht unbedeutend. Sie ist Ausdruck für die Einstellung, die man in diesem Hause den Betroffenen gegenüber hat. Die Zunahme der antischwulen Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem sich die gesellschaftspolitische Situation der Schwulen im Umbruch befindet. Das gesellschaftliche Tabu Homosexualität ist weitgehend gebrochen, das parlamentarische vielleicht noch nicht ganz. Daß dieses Tabu gebrochen ist, ist zum Teil das Ergebnis des 20jährigen Wirkens der Schwulenbewegung, zum anderen ein Resultat der Debatte über AIDS. AIDS führte zu einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit von Schwulen. Die Forderung nach Gleichberechtigung für Schwule ist in bestimmten Bereichen gesellschaftlich mehrheitsfähig geworden. Gleichzeitig ist die Ablehnung der Schwulen durch ultrarechte Kräfte dieses Landes aggressiver geworden, was vermutlich ein Grund der Zunahme der Gewalt gegen Schwule ist. Wer Schwule als „naturwidrig", „abartig", „grundgesetzwidrig", wer Homosexualität als „Schweinerei" oder als „Perversion" bezeichnet - die Zitate sind allesamt Äußerungen, die von CDU-Politikern über Schwule gemacht wurden; es sind Zitate, die eifrigst in Neonazi-Blättern wie der Zeitschrift „Nation Europa", zum Teil unter Parolen wie „Bei Schweinepest opfert man die Schweine", kolportiert werden - , wer solchermaßen gegen Schwule hetzt, ist mitverantwortlich, wenn andere diese Worte in Taten umsetzen. Antischwule Gewalt hat verschiedene Erscheinungsformen. Zum einen ist es die direkte politisch motivierte Gewalt aus der neofaschistischen Szene. Sie richtet sich primär gegen subkulturelle Einrichtungen der Schwulen wie Zentren und Kneipen oder gegen Aktivisten der Schwulenbewegung. Zum anderen gibt es das sogenannte Schwulenklatschen in der Umgebung von Schwulentreffpunkten. Die Täter sind meist Jugendliche, die Schwule „just for fun" in Gruppen überfallen und berauben. Auffällig ist die extreme Brutalität bis hin zu Mord, mit der diese Raubüberfälle vor sich gehen. Befragungen der Täter haben ergeben, daß der Raub von 50 bis 200 DM eher ein Rationalisierung der Tat ist. In erster Linie geht es darum, Schwule zu schlagen, weil sie schwul sind. Es geht den Tätern um exemplarische Vernichtung alles Schwulen in sich selbst und in der Gesellschaft. Insgesamt weiß man über die Gründe und Umstände antischwuler Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland wenig. Es fehlen entsprechende Untersuchungen. Deswegen fordern wir eine forschungspolitische Initiative der Bundesregierung in dieser Richtung. Ein Unrechtsbewußtsein fehlt den Tätern meist völlig, und sie werden in dieser Haltung von der Propaganda von CSU und Neofaschisten auch noch bestärkt. Die Opfer antischwuler Gewalt können zumeist nicht mit gesellschaftlicher Solidarität rechnen. In Schlagzeilen wie „Liebesbedürftiger wurde verprügelt" oder „Kein guter Freund" tritt offen Häme zutage. Politik und Medien müssen dieser Tendenz ganz entschieden entgegentreten. Antischwule Gewalt muß als Verbrechen gesellschaftlich geächtet werden. Unterschiedliche schwule Lebensstile müssen anerkannt werden. Aufgabe der Polizei ist es nicht, Schwule aus Klappen und Parks zu vertreiben. Aufgabe der Polizei ist es vielmehr, Schwule gerade dort, an ihren Treffpunkten, zu beschützen und zu verteidigen. Ein großes Problem ist dabei das traditionell gespannte Verhältnis zwischen den Schwulen und der Polizei. Die Geschichte der Homosexuellenverfolgung des 19. und des 20. Jahrhunderts, der bestehende § 175 und die immer wieder aufgedeckten Rosa Listen stehen zwischen den Schwulen und der Polizei. Die strikte Durchsetzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts für Schwule, wie es unser Entschließungsantrag fordert, die ersatzlose Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch und eine Auseinandersetzung der Polizistinnen und Polizisten mit Schwulen und ihren Lebensstilen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung können ein neues Verhältnis von Schwulen und Polizei begründen. Erst wenn klar ist, daß schwule Gewaltopfer ohne Angst die Täter bei der Polizei anzeigen können, erst wenn klar ist, daß schwule Zeugen Beobachtungen der Polizei ohne Angst vor Rosa Listen mitteilen können, erst dann werden Schwule auch keine leichte Beute mehr für Gewalttäter sein. In einigen Städten gibt es dazu schon ganz positive Ansätze: Nach heftigen Auseinandersetzungen in den Medien zwischen Schwulen und Polizei im Stuttgarter Rosa-Listen-Skandal kam es zu Gesprächen zwischen Schwulenorganisationen und der Polizei. Die Polizei konnte davon überzeugt werden, daß Personenkontrollen und das Sammeln von Daten zu beschränken sind. Auf Grund gemeinsamer Fahndungsaufrufe von Kripo und Schwulenorganisationen und entsprechender Kooperation bei der Aufklärung konnten dann in verschiedenen Fällen die Täter gefaßt werden, was vorher mit der klassischen repressiven Strategie der „Durchleuchtung der gesamten Szene" nicht gelungen war. Diese Kooperation ist gut, stößt aber auf politische Hindernisse. Diese Hindernisse wollen wir beseitigen, und das ist der Inhalt unserer beiden zur Überweisung bestimmten Entschließungsanträge. Zum Schluß noch ein Wort zu der Abstimmung über die beiden Anträge von SPD und GRÜNEN am Ende der Debatte. Die strafrechtliche Sonderbehandlung der Homosexualität in § 175 StGB hat keine politische Mehrheit mehr hier im Haus. FDP und GRÜNE fordern seit 1980 die ersatzlose Streichung des *175. Die AIDS-Enquete-Kommission hat in ihrem Zwischenbericht, die SPD in ihrem heutigen Entschließungsantrag die Beseitigung der Diskriminierung von Schwulen im Strafrecht allerdings mit einer Strafausweitung verbunden, nämlich mit der Schaffung eines sogenannten verbesserten Jugendschutzes. Wir lehnen dies ab, und wir werden uns deswegen beim Antrag der SPD der Stimme enthalten. Wir meinen aber, unserem Antrag können Sie auch dann zustimmen, wenn Sie gerne einen neuen Jugendschutz im Sexualstrafrecht etablieren wollen. Nach Annahme unseres Antrages wäre es die Aufgabe der Bundesregierung, einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung vorzulegen, auf welchem Altersniveau auch immer: 14, 141/2, 15, 151/2, 16, wie Sie wollen. Über Ihren sogenannten verbesserten Jugendschutz brauchen wir daher heute gar nicht zu diskutieren. Wir lehnen ihn ab, weil er sich weder auf praktische Lebenserfahrungen noch auf sexualwissenschaftliche Erkenntnisse stützen kann. Die Jugend muß nicht vor ihrer eigenen Sexualität geschützt werden. Jugendschutz heißt verstärkte Aufklärung über Safer Sex und verstärkte Aufklärung über Schwangerschaftsverhütung. Ein anderer Jugendschutz ist nicht erforderlich. ({0}) Aber wie dem auch sei, wir werden darüber hoffentlich bald einmal zu früherer Stunde im Zusammenhang mit unserem Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des § 175 und im Zusammenhang mit unserem Programm zur Emanzipation und Gleichstellung und mit unserem Antidiskriminierungsgesetz diskutieren können. Heute geht es um die politische Mehrheit gegen den § 175 StGB, trotz der verschiedenen Ansätze. Heute geht es darum, aus dieser politischen Mehrheit eine parlamentarische Mehrheit zu machen. Wenn Sie unseren Antrag ablehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und SPD, dann werden Sie darzulegen haben, wie ernst es Ihnen mit der Beseitigung von Diskriminierung von Homosexuellen ist. Danke. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) - Herr Kollege Emmerlich, sie kommt deswegen, weil wir das verabredet haben. ({1}) - Ich habe das mit dem Kollegen Olderog verabredet. Wollen Sie zuerst sprechen? ({2}) Wir glauben nicht, daß Ort, Zeit und Anlaß dieser Debatte sie geeignet macht, hier grundsätzliche Ausführungen zur Homosexualität vorzutragen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die Liberalen einen wesentlichen Anteil daran haben, daß im Laufe der letzten Jahrzehnte die rechtliche und soziale Diskriminierung der Homosexuellen weitgehend aufgehört hat. Die Homosexualität zwischen erwachsenen Partnern ist nicht mehr strafbar. Im beruflichen und im gesellschaftlichen Leben wird die Frage, ob jemand homosexuell ist oder nicht, im wesentlichen als Privatsache betrachtet, die keinen anderen etwas angeht. Das ist nicht überall so, aber man wird bei aller gebotenen Zurückhaltung sagen können, daß sich diese Haltung weitgehend durchgesetzt hat. Es gibt rechtmäßig keine Dateien über Homosexuelle - also keine Rosa Listen -, und sie müssen da, wo welche festgestellt werden sollten, als eindeutig rechtswidrig gelöscht werden. Spätestens im Zusammenhang mit der Affäre Kießling ist auch klargestellt worden, daß Homosexualität allein kein Sicherheitsrisiko darstellt, es sei denn, daß sie aus irgendeinem besonderen Grund zur Erpreßbarkeit der betreffenen Person führen könnte. Das ist in den entsprechenden Richtlinien auch ausdrücklich klargestellt worden. Das alles sind keine Selbstverständlichkeiten gewesen, sondern ist in einem langen Prozeß der Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins erreicht worden. Man muß daran erinnern, daß die Homosexualität noch vor wenigen Jahrzehnten mit schwersten Strafen bedroht war und automatisch zur völligen gesellschaftlichen Isolierung mit allen sich daraus ergebenden Folgen führte. Der dargestellte Wandel der Auffassungen geschieht natürlich nicht automatisch, in einem Volk von 60 Millionen Menschen auch nicht bei allen und nicht überall in derselben Weise. Darum ist es sicherlich zutreffend, daß Homosexuelle auch zum Objekt von Anfeindungen werden und daß sie auch zu Opfern von Kriminalität werden - aus Umständen heraus, die mit ihrer Eigenheit zusammenhängen. Die Bekämpfung solcher Straftaten gehört zur allgemeinen Bekämpfung der Kriminalität. Wenn die Homosexuellen unter besondere staatliche Schutzmaßnahmen gestellt würden, dann würde das gerade voraussetzen, daß man sie namentlich kennt, daß man sie registriert, daß man sie polizeilich erfaßt, und das würde gerade dazu führen, sie wieder in eine isolierte, besondere Lage zu bringen. Das Problem ist nicht durch größere polizeiliche Macht oder größere polizeiliche Eingriffsmittel zu lösen, sondern durch mehr gesellschaftliche Tolerenz. Für sie werben wir, für sie treten wir ein - nicht nur auf diesem Gebiet, sondern als eine notwendige Grundstruktur einer friedlichen Gesellschaft. Wir stimmen also im wesentlichen mit der Tendenz der Antworten überein, die die Bundesregierung auf die Großen Anfragen gegeben hat. Auf einem ganz anderen Blatt steht für mich die Frage, ob diese parlamentarischen Anfragen und die Art, wie sie behandelt werden, einen vernünftigen politischen Sinn ergeben. Da habe ich einige Zweifel, die ich hier nicht näher ausführen will. Nun zu den Entschließungsanträgen, die vorgelegt worden sind. Soweit sie sich auf die Novellierung des Datenschutzgesetzes beziehen, muß ich Ihnen sagen, daß ja Neufassungen, Neuformulierungen der Gesetze im Bundestag anhängig sind. Es steht Ihnen also völlig frei und steht im Belieben jeder Fraktion, dazu in den Beratungen im Innenausschuß Anträge vorzulegen. Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß Ihre Fraktion davon bisher keinen Gebrauch gemacht hat, obwohl die Novellierung des Gesetzes seit einem Jahr im Deutschen Bundestag anhängig ist und obwohl wir in der Mitte des vergangenen Jahres dazu eine große öffentliche Anhörung gemacht haben. Mit keinem Wort ist das Problem, zudem Sie uns hier einen Entschließungsantrag vorlegen, angesprochen worden. Ich sage also noch einmal: Es hat überhaupt keinen Sinn, das hier aufzumotzen, sondern dann, wenn Sie da Probleme haben, stellen Sie einen Antrag bei der Beratung, die im Innnenausschuß in der nächsten Sitzung fortgesetzt werden wird. Ich sage Ihnen, es besteht eigentlich unter allen Fraktionen Einigkeit darin, daß sogenannte Rosa Listen, also gezielte Dateien zur Erfassung nicht strafbarer Homosexualität, unzulässig und rechtswidrig sind. Ich will Ihnen noch sagen: Den übrigen Anträgen Ihrer Fraktion können wir schon wegen der Sprache, die Sie dabei wählen, nicht zustimmen. - Ich nehme das jedenfalls für mich als überzeugenden Grund in Anspruch. ({3}) Es bleibt ein Antrag übrig, der darauf abzielt, die Bundesregierung aufzufordern, die übriggebliebene bestehende Strafbarkeit der Homosexualität aufzuheben. Es handelt sich dabei nur noch um den gleichgeschlechtlichen Umgang eines über 18jährigen mit einem Minderjährigen zwischen 16 und 18 Jahren; nur das ist strafbar. Sie wissen, daß der Justizminister über diese Frage eine lange Anhörung in seinem Hause durchgeführt hat. Sie wissen, daß darüber seit langer Zeit Diskussionen geführt werden, die sich nicht nur auf die Frage beziehen, welche Auswirkungen die Homosexualität in dieser Form auch auf den Jugendlichen hat; da gibt es unterschiedliche Meinungen. Vielmehr muß man bei dieser Frage auch das diffizile Problem berücksichtigen, daß sich das Recht natürlich nicht zu weit von der Überzeugung und dem Rechtsempfinden vieler Menschen wegbewegen darf. Diese Frage ist sehr schwierig zu beantworten, und ich glaube nicht, daß es Sinn hat, das hier in Form eines Entschließungsantrages durchzupauken. Dazu sind lange Diskussionen im Rechtsausschuß geführt worden. Wir wären gerne bereit, Ihren Antrag, der auf diese Frage zielt, an den Rechtsausschuß zu überweisen, wo er hingehört. Wenn Sie auf einer Abstimmung zu dieser Frage, also auf einer definitiven Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt hier und heute, bestehen, müssen wir Ihren Antrag ablehnen. Das bitte ich bei Ihren Entscheidungen zu berücksichtigen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das wäre eine Schlußfrage; aber bitte schön!

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hirsch, ich weiß nicht, auf welche Vokabeln in unserem Antrag Sie sich beziehen und welche Vokabeln Sie daran hindern, unserem Antrag zuzustimmen. Ich gehe davon aus, daß das Wort „schwul" Sie stört. Würden Sie denn dem Antrag zustimmen, wenn wir das Wort „schwul" durch „homosexuell" ersetzen würden?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muß Ihnen zunächst einmal sagen, daß ich in der Sprache, die hier gewählt wird, dem folge, was die Bundesregierung in der Antwort auf Ihre Anfrage einleitend gesagt hat, nämlich daß wir uns hier nicht eines Jargons befleißigen, sondern uns der Ausdrucksweise bedienen sollten, die dem Problem angemessen ist. Ich kann Ihre Frage für mich deswegen nicht ehrlich beantworten, weil mich die Sprache, die Sie bei der schriftlichen Form Ihres Antrages gewählt haben, so abgestoßen hat, daß ich ihn nicht weiter gelesen habe. ({0}) Ich werde ihn ablehnen, und ich denke, daß auch meine Fraktion das tun wird. Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Menschengedenken sind homosexuelle Männer verfolgt worden. Die Homosexualität wurde als Abnormität und als abartig bezeichnet, die Homosexuellen als Schädlinge und infolgedessen als Gefahr für das Zusammenleben und den Bestand der Gesellschaft. Die Folgen waren gesellschaftliche Ächtung und staatliche Sanktionen aller Art bis hin zu schwersten Kriminalstrafen. In unserem Kulturkreis ist es während der Nazizeit bei der Verfolgung der Homosexuellen zu einem grauenvollen Exzeß gekommen. Homosexuelle wurden zu Parias gemacht, gnadenlos bestraft und in Konzentrationslager geworfen. Dort sind sie wie kaum eine andere Gruppe entwürdigt, geschändet und gepeinigt worden. Viele wurden grausam zu Tode gequält. Unbegreiflich ist für mich, daß die Strafbarkeit der Homosexualität nach dem Ende der Nazizeit gleichwohl aufrechterhalten blieb. Erst seit 1969 ist die Homosexualität zwischen erwachsenen Männern straffrei. Jeder Mensch hat ein natürliches und unantastbares Recht auf Liebe. Dieses Recht haben nicht nur die Heterosexuellen, sondern in gleicher Weise wie sie auch die Homosexuellen. Homosexualität ist nicht widernatürlich oder krankhaft, sondern eine sexuelle Orientierung, die einer Minderheit so mitgegeben ist wie der Mehrheit die heterosexuelle Orientierung. Eine unterschiedliche Bewertung dieser beiden sexuellen Ausrichtungen ist nicht zu begründen. Das Verständnis für unsere homosexuellen Mitbürger ist zweifellos gewachsen. Dazu hat die bereits erwähnte Straffreiheit der Homosexualität zwischen Erwachsenen beigetragen. Die gesellschaftliche Diskriminierung der Homosexuellen ist aber nach wie vor nicht überwunden. Ein böses Beispiel dafür hat der frühere Verteidigungsminister Wörner gegeben, als er einen verdienten General auf den bloßen Verdacht der Homosexualität hin in den Ruhestand versetzt hat. Die Diskriminierung von Homosexuellen ist dadurch nicht vermindert, sondern wohl eher bestärkt worden, daß ein Geistlicher von einer unserer Kirchen wegen Homosexualität als nicht mehr tragbar angesehen worden ist. Der Antwort der Bundesregierung ist zu entnehmen, daß Homosexualität, sofern sie nicht öffentlich bekannt ist, als ein Sicherheitsrisiko angesehen wird, mit der Folge, daß der Betroffene seinen Arbeitsplatz verliert oder ihm eine Arbeitsstelle, die er sonst erhalten hätte, verwehrt bleibt. Erschreckend und beschämend zugleich ist, daß, wie sich aus der Antwort der Bundesregierung ergibt, die alten Vorurteile und auch der alte Haß gegen Homosexuelle nach wie vor vorhanden sind und daß das von rechtsextremistischen Gruppierungen erneut politisch mißbraucht wird. Neonazis führen eine Kampagne gegen Homosexuelle durch Agitation und auch durch Aktionen. Da wird wieder von „Abartigkeit" geredet, da werden Homosexuelle als „Sumpfblüten" bezeichnet, und Frau Oesterle-Schwerin hat noch Schlimmeres zu berichten gewußt. Neonazistische Computerspiele werden vertrieben, in denen die Gewalt und die Liquidierung von Homosexuellen durch die Nazis verherrlicht werden und dazu erneut aufgerufen wird. 1986 haben Neonazis Besucher eines Homosexuellenlokals mit Tränengasmunition beschossen, 1983 wurde ein Anhänger einer Neonazigruppierung u. a. deshalb Opfer eines Fememordes, weil ihm vorgeworfen wurde, homosexuell zu sein. In Anbetracht der gnadenlosen Ächtung und der brutalen Verfolgung von Homosexuellen in der Vergangenheit und angesichts dessen, was an Vorurteilen und auch an Aggressionen nach wie vor vorhanden ist, sind wir verpflichtet, alles uns Mögliche zu tun, um Homosexuelle vor Ressentiments und davor zu schützen, daß daraus Aggressivität und Gewalt erwächst. Die Antworten der Bundesregierung lassen nicht erkennen, daß sie sich dieser Verpflichtung bewußt ist. Die Bundesregierung müßte Hinweisen auf Diskriminierung, auf Benachteiligung und erst recht auf Gewalt bereitwillig und unter vollem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen und prüfen, was dagegen getan werden kann. Die vorliegenden Antworten vermitteln statt dessen den Eindruck, daß sich die Regierung wie die drei chinesischen Affen verhält, nämlich Augen, Ohren und Mund zuhält, um nichts sehen, nichts hören, nichts sagen und nichts tun zu müssen. ({0}) - Ich bin auch damit einverstanden. Die sexuelle Selbstbestimmung von Jugendlichen muß geschützt werden, solange deren Fähigkeit zur Eigenverantwortung noch nicht gegeben ist. Mädchen und Jungen sind in gleicher Weise schutzbedürftig. ({1}) Dem trägt das geltende Recht für Kinder, also bis zum 13. Lebensjahr, Rechnung, nicht dagegen das Recht für Jugendliche, also für 14- bis 17jährige. Jungen werden vom 14. bis zum 17. Lebensjahr gegen heterosexuelle Kontakte überhaupt nicht geschützt. Strafbar sind jedoch alle homosexuellen Handlungen Erwachsener mit ihnen. Bei Mädchen von 14 bis 17 Jahren gibt es dagegen überhaupt keinen Schutz gegen homosexuelle Kontakte und grundsätzlich auch nicht gegen heterosexuelle Handlungen Erwachsener, es sei denn, es liegt eine Verführung zum Geschlechtsverkehr vor. Diese unterschiedlichen Regelungen sind nicht zu rechtfertigen und müssen verändert werden. Nach nahezu einhelligem Erkenntnisstand der Sexualwissenschaft sind Schäden und Gefährdungen von homosexuellen Kontakten zwischen einem erwachsenen Mann und einem männlichen Jugendlichen von 16 oder 17 Jahren nicht zu erwarten. Im Gegenteil, alles spricht dafür, daß sich die Kriminalisierung solcher Kontakte psychisch negativ auf die betroffenen Jugendlichen auswirkt. § 175 StGB beruht letztlich auf der widerlegten Hypothese, daß Homosexualität als eine negativ zu beurteilende sexuelle Orientierung abzulehnen ist. Insofern wird auch durch den jetzigen § 175 die Diskriminierung der Homosexualität und der Homosexuellen aufrechterhalten. Meine Damen und Herren, wir halten es für richtig, die §§ 175 und 182 des Strafgesetzbuches im Interesse eines umfassenden und zeitgemäßen Jugendschutzes durch eine einheitliche Schutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche zu ersetzen. Eine generelle Herabsetzung des strafrechtlichen Jugendschutzes bis zum Ende des 13. Lebensjahres erscheint uns dagegen zu weitgehend. Wir wollen keine Verringerung des notwendigen Jugendschutzes, sondern seine Verbesserung. Deshalb können wir dem Antrag der GRÜNEN, der auf die ersatzlose Streichung der §§ 175 und 182 StGB hinausläuft und infolgedessen die Schutzaltersgrenze bis zur Vollendung des 13. Lebensjahres herabsetzt, nicht zustimmen. Es ist nicht richtig, Frau Oesterle-Schwerin, wenn Sie sagen, wir brauchten uns nur an dem Tenor Ihres Antrages zu orientieren. Der Tenor wird durch die Begründung in der Weise interpretiert, wie ich das eben vorgetragen habe. Das, was Sie als Ziel ansehen, ist nicht unser Ziel. Wir müssen deshalb Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie in der Antwort der Bundesregierung vom 5. April 1989 dargestellt, trifft es nicht zu, daß homosexuelle Personen im Bereich der Sicherheitsbehörden - einschließlich der Nachrichtendienste - systematisch erfaßt werden. Im Rahmen der Spionageabwehr sowie der Extremismus- und Terrorismusbeobachtung können Informationen über die sexuelle Veranlagung einer Person für den Verfassungsschutz zwar von Bedeutung sein; derartige Informationen werden aber nur dann personenbezogen verarbeitet, wenn dies zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz erforderlich ist. Eine bekanntgewordene homosexuelle Neigung begründet in keinem Fall die Aufnahme einer Person in Dateien, Listen oder sonstige Aufzeichnungen bei den Nachrichtendiensten des Bundes. Auch im Rahmen des personellen Geheimschutzes sind festgestellte homosexuelle Neigungen von Personen nur dann von Bedeutung, wenn sie im Einzelfall ein Sicherheitsrisiko darstellen können. Ein Sicherheitsrisiko ist nach den am 1. Mai 1988 in Kraft getretenen Sicherheitsrichtlinien, deren derzeitige Fassung auf einem Änderungsbeschluß der Bundesregierung vom 20. Dezember 1989 beruht, nur dann gegeben, wenn Umstände vorliegen, die eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsversuche gegnerischer Nachrichtendienste, insbesondere die Besorgnis der Erpressbarkeit begründen. Entscheidend sind somit die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Zusammenfassend läßt sich also für diesen Komplex feststellen, daß homosexuell veranlagte Personen auch im Rahmen der Tätigkeiten der Nachrichtendienste des Bundes keineswegs diskriminiert werden. Informationen über die sexuelle Veranlagung werden vielmehr wie alle anderen Erkenntnisse nur dann berücksichtigt und festgehalten, wenn dies zur gesetzlichen Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste erforderlich ist. Meine Damen und Herren, auch beim Bundeskriminalamt und bei den Behörden des Bundesgrenzschutzes werden keine sogenannten Rosa Listen geführt. Eine wie auch immer geartete systematische Erfassung von Homosexuellen findet nicht statt. Die bekanntgewordene homosexuelle Neigung einer Person begründet auch in diesem Bereich für sich allein in keinem Fall die Aufnahme dieser Person in Dateien, Listen oder sonstige Aufzeichnungen. Begeht eine Person mit homosexuellen Neigungen allerdings eine Straftat, so ist - wie auch bei allen anderen Beschuldigten - die Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten dieser Personen in kriminalpolizeilichen Sammlungen und Dateien zulässig. Hierzu zählen auch Hinweise auf eine homosexuelle Neigung des Beschuldigten, wenn diese in unmittelbarem Zusammenhang mit der Straftat steht. In Betracht kommen neben strafbaren homosexuellen Handlungen alle Straftaten, bei denen Homosexuelle als Täter oder Beteiligte in Erscheinung treten und die Tatsache der Homosexualität für die Ermittlungen von Bedeutung ist. Insoweit besteht überhaupt kein Grund, Homosexualität anders zu behandeln als sonstige für die Aufklärung einer Straftat bedeutsame Eigenschaften. Von Aufzeichnungen, die der Erfassung von Homosexuellen dienen, kann deshalb nicht die Rede sein. Die mit der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN suggerierten Unterstellungen weise ich zurück. Meine Damen und Herren, zur zweiten Großen Anfrage der GRÜNEN: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort vom 23. November 1989 darauf hingewiesen, daß ihr keine Erkenntnisse vorliegen, nach denen homosexuelle Männer in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend Opfer von Gewalttaten werden. Sie hat ferner darauf hingewiesen, daß eine statistische Erfassung Homosexueller bereits aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht erfolgt. Zur effektiven Bekämpfung von Gewaltdelikten gegen Homosexuelle stünden die allgemeinen Strafgesetze zur Verfügung. Diese Antwort, zu der im übrigen auch die Erkenntnisse der Länder beigezogen worden sind, beruht auf der richtigen Einsicht, daß keine Veranlassung besteht, Vorschriften des Sexualstrafrechts aufzuheben oder rechtspolitische Maßnahmen im Hinblick auf einen besonderen Schutz homosexueller Männer zu ergreifen. Es ist nicht zu erkennen, daß hierfür ein praktisches Bedürfnis besteht. Einzelne bislang bekanntgewordene, gegen Homosexuelle gerichtete Äußerungen oder gar Übergriffe, deren Grund in der gleichgeschlechtlichen Orientierung der Betroffenen zu suchen war, lehnt die CDU/CSU-Fraktion selbstverständlich und mit Entschiedenheit ab. Die Darstellung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als verachtenswert oder gar minderwertig wird von uns mit aller Schärfe verurteilt. Mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage hat die Bundesregierung zu Recht die Auffassung bekräftigen wollen, daß Vorurteilen und sich daraus ergebenden Verhaltensweisen gegenüber Homosexuellen durch geeignete Aufklärungsmaßnahmen entgegengetreten werden muß. Ziel unserer Politik ist es, jeder Diskriminierung und Verächtlichmachung zu begegnen. Meine Damen und Herren, zu den Anträgen lassen Sie mich kurz folgendes sagen. Wir werden die Anträge Drucksache 11/6784 ({0}) und Drucksache 11/6796 ablehnen; wir stimmen einer Überweisung der Anträge Drucksachen 11/6783 und 11/6785 zu. Herzlichen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung verweise ich auf die umfangreichen schriftlichen Antworten auf die beiden Großen Anfragen der GRÜNEN. Zwei Feststellungen will ich besonders hervorheben. Erstens. Von Aufzeichnungen, die der Erfassung von Homosexuellen dienen, sogenannten Rosa Listen, kann nicht die Rede sein. Was die GRÜNEN unterstellen, ist mit Nachdruck zurückzuweisen. Zweitens. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein - sie hat das ganz besonders in der Antwort auf die Große Anfrage betreffend zunehmende Gewalt gegen homosexuelle Männer deutlich gemacht - : Die Diskriminierung von Minderheiten jeder Art, die auch in der Sprache zum Ausdruck kommen kann, ist zu vermeiden, und ihr ist entgegenzuwirken. Ich glaube, wer aufrichtig und sachgerecht liest, was die Bundesregierung auf die Großen Anfragen hin deutlich gemacht hat, der wird darin klare FestBerichtigung 200. Sitzung, Seite 15462 D, Zeile 16: Statt „SED" ist „SPD" zu lesen. stellungen vor sich sehen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich denke, die überwiegende Mehrheit im Hause ist sich darin einig, daß hier eine klare Antwort auf die Fragen gegeben worden ist. Ich danke Ihnen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zu den vorliegenden Entschließungsanträgen, die ich in der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufe. Ich gehe davon aus, daß es eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen betreffend die Ausschußüberweisungen gibt. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6783 federführend an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sowie an den Rechtsausschuß zu überweisen. ({0}) Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann stelle ich fest: Die Überweisung ist so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6784 ({1}). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Ich bitte um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Fraktionen der Koalition und der SPD abgelehnt. Wir kommen zu einem weiteren Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/6785 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, den Verteidigungsausschuß und den Rechtsausschuß zu überweisen. Besteht Einverständnis? - Das stelle ich fest. Wir kommen dann zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6796. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Ich bitte um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 30. März 1990, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.