Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/31/1979

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich eine Erklärung abgeben. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem mich die Bundesversammlung am Mittwoch vergangener Woche zum Bundespräsidenten gewählt hat, möchte ich die erste Plenarsitzung des Deutschen Bundestages, die heutige Plenarsitzung, dazu benutzen, um das Amt des Bundestagspräsidenten, in das ich vor zweieinhalb Jahren durch Ihrer Vertrauen berufen worden bin, niederzulegen. Ich möchte dazu rückblickend einige Worte sagen. Beginnen möchte ich damit, daß ich Ihnen die zehn Namen der Kollegen in die Erinnerung zurückrufe, die in diesen zweieinhalb Jahren durch den Tod aus unserer Mitte gerissen wurden. ({0}) Es waren die Kollegen Ludwig Erhard, Alex Hösl, Bertram Blank, Egon Höhmann, Adolf Scheu, Wolfgang Schwabe, Hermann Spillecke, Reinhold Standt, Alfred Ollesch, Walter Peters. Wir haben des Todes dieser hochgeschätzten Kollegen gedacht. Ich wiederhole, was wir gesagt haben, als wir jeden einzelnen von ihnen zu Grabe trugen: Wir werden ihnen ein ehrendes Andenken in diesem Hause bewahren. - Sie haben sich zu ihren Ehren von den Plätzen erhoben. Ichdanke Ihnen. Ich möchte meinen Rückblick mit einigen Worten sehr herzlichen Dankes fortsetzen, herzlichen Dankes zunächst an meine Kolleginnen und Kollegen im Präsidium, mit denen ich in diesen zweieinhalb Jahren sehr gut zusammengearbeitet habe und denen ich für das Vertrauen, für das Verständnis und für die Unterstützung danke, die sie mir in dieser Zeit entgegengebracht haben. Es sind dies die Damen Frau Vizepräsident Renger und Frau Vizepräsident Funcke sowie die Herren Vizepräsidenten Stücklen und Dr. Schmitt-Vockenhausen. Weiter möchte ich den Kolleginnen und Kollegen im Ältestenrat sehr herzlich für die Zusammenarbeit danken und bei dieser Gelegenheit - auch für die Offentlichkeit - einmal sagen dürfen, daß der Ältestenrat des Deutschen Bundestages in stiller, unauffälliger Weise eine für das ganze Haus außerordentlich wichtige und vertrauensvolle Zusammenarbeit leistet, eine Zusammenarbeit, auf der das Funktionieren unseres parlamentarischen Systems zu einem nicht geringen Teil beruht. Ich möchte ferner den Damen und Herren Schriftführern für die Unterstützung, die sie mir und meinen Kollegen bei der Leitung der Sitzungen haben zuteil werden lassen, sehr herzlich danken. Ohne Sie, meine verehrten Damen und Herren Schriftführer, wären wir nicht in der Lage, unseren Aufgaben gerecht zu werden. Ich möchte auch dem 1. Ausschuß, dem Geschäftsordnungsausschuß unseres Hauses, der mich, das Präsidium und den Ältestenrat durch Gutachten in schwierigen Fragen der Auslegung der Geschäftsordnung mehrfach unterstützt hat, sehr herzlich danken. Und ich möchte den Fraktionsvorsitzenden für die Gespräche danken, die ich mit ihnen habe führen können. In einigen dieser Gespräche sind wichtige Entscheidungen vorbereitet worden für die Zusammenarbeit im Hause, für die Gestaltung unserer Debatten, für die künftige Gestaltung des Neubaus des Plenarsaals des Deutschen Bundestages. Ich möchte auch dem Bundeskanzler und dem stellvertretenden Bundeskanzler ebenso wie dem Bundesratspräsidenten dafür danken, daß sie sich an diesen Gesprächen beteiligt und an einer Lösung mitgewirkt haben, von der ich glaube, daß sie für das ganze Haus von Nutzen sein wird. Ich danke der Verwaltung, dem Direktor, den Hauptabteilungsleitern, den Abteilungsleitern, den Referenten und allen 1 500 Mitarbeitern für den Fleiß und die Hingabe, mit denen sie ihre manchmal schwierige Aufgabe erfüllt haben. Es ist nicht leicht, meine Damen und Herren, in der Verwaltung des Deutschen Bundestages zu arbeiten. Viele, manchmal entgegengesetzte Wünsche und Anforderungen treten an die Verwaltung heran. Ich meine, man kann sagen, daß unsere Verwaltung ihrer Aufgabe und ihren Pflichten gerecht wird. Mir liegt sehr daran, dies auch einmal an dieser Stelle hervorzuheben. ({1}) Präsident Carstens Ich möchte dem Personalrat für die gute Zusammenarbeit danken. Ich bin von jeher ein überzeugter Anhänger der Mitbestimmung auch im öffentlichen Dienst gewesen. ({2}) - Ich sage das im vollen Bewußtsein dessen, was ich sage, meine verehrten Damen und Herren, ({3}) und ich empfehle, daß Sie sich vielleicht in den Häusern erkundigen, in denen ich früher einmal tätig war. Ich glaube, da werden Sie finden, daß das, was ich sage, zutrifft. Ich danke dem Personalrat für das große Verständnis, das er bewiesen hat. Ich sehe die Aufgabe des Personalrats - wie er selbst - darin, die Interessen der Angehörigen des Hauses gegenüber der Leitung des Hauses zu wahren. Aber ich habe beim Personalrat auch immer Verständnis für übergeordnete Gesichtspunkte einer rationellen und effizienten Verwaltung gefunden. Kein Thema hat mich und uns alle, was die Arbeitsweise des Bundestages anlangt, so stark beschäftigt wie die Gestaltung unserer Plenarsitzungen. Aus der Bevölkerung wird mancherlei Kritik an uns geübt, übrigens, möchte ich sagen, durchweg Kritik, die aus einer positiven Grundeinstellung zum Deutschen Bundestag herrührt. Unsere Bürger identifizieren sich sehr wohl mit dem Deutschen Bundestag als ihrer Volksvertretung; aber sie üben Kritik an mancherlei Erscheinungsformen, die wir bieten. Sie meinen - und ich glaube, darin haben sie sogar recht -, daß viele unserer Sitzungen, auch unserer wichtigen Sitzungen, zu schwach von Kolleginnen und Kollegen des Hauses besucht sind. Sie meinen, daß die Reden, die hier gehalten werden, zu lang seien. ({4}) Sie meinen, daß zu viele Reden abgelesen werden. ({5}) Daß manche Reden zu schwer verständlich seien, sagen auch manche Bürger, ({6}) und schließlich - last not least - stört es manche Bürger, daß die Reden hier oft oder gelegentlich sehr scharf werden. Es ist sehr schwer, dieser zum Teil berechtigten Kritik abzuhelfen. Während meiner Amtszeit ist das Modell der Kurzdebatte eingeführt worden. Ich meine, daß es sich bewährt hat, ohne daß wir jedoch mit diesem Modell der Debattenführung an die eigentlichen Probleme herangekommen sind, von denen ich eben gesprochen habe. Ich möchte den Vorschlag wiederholen, den ich früher einmal gemacht habe, daß der Deutsche Bundestag einmal einen ganzen Tag über sich selbst debattieren möge. ({7}) Ich stelle mir vor, daß 30 oder 40 Redner zu Worte kommen könnten. Ich stelle mir vor, daß die Fraktionen nicht vorher die Marschroute festlegen sollten, ({8}) sondern daß jeder Redner das sagen sollte, was er glaubt zu diesem wichtigen Thema beitragen zu können. Ich meine, wir haben so viele schöpferische Kräfte in unserer Mitte, daß es vielleicht auf diese Weise möglich sein sollte, eine Lösung mindestens mancher der von mir aufgeworfenen Fragen zu finden. Wir alle beklagen die anhaltende und zunehmende Gesetzesflut. Sie kennen die Zahlen - ich brauche sie hier nicht zu wiederholen wie das Bundesgesetzblatt von Legislaturperiode zu Legislaturperiode umfangreicher geworden ist. Es gibt keine simplen Lösungen für dieses Problem. Die Lebensverhältnisse in unserem Lande, die wir regeln müssen, sind kompliziert, und das bedingt, bis zu einem gewissen Grade jedenfalls, komplizierte Gesetze. Ich möchte nur einen Gedanken zur Diskussion stellen, nämlich den, daß wir, bevor wir ein Gesetz verabschieden, uns vielleicht noch mehr als bisher darüber Rechenschaft geben sollten, welche Belastungen mit der. Ausführung dieses Gesetzes verbunden sind. ({9}) Dabei denke ich nicht nur an finanzielle Belastungen - die werden ja in der Regel abgeschätzt -, sondern ich denke auch an Arbeitsbelastung unserer Verwaltung und unserer einzelnen Bürger. Es ist schwer, darüber zuverlässige Schätzungen zu erhalten. Ich habe veranlaßt, daß die Verwaltung des Deutschen Bundestages sich dieses Problems angenommen hat. Es gibt dazu einige dankenswerte Ausarbeitungen, die aber noch nicht einen solchen Grad der Reife erreicht haben, daß ich sie Ihnen vorlegen könnte; ich darf sie meinem Nachfolger hinterlassen und seine Aufmerksamkeit darauf lenken. Häufig wird gesagt, daß der Deutsche Bundestag bei der Gesetzgebung ins Hintertreffen gerate, weil der Sachverstand überwiegend bei der Verwaltung und bei der Regierung konzentriert sei und die Abgeordneten mit diesem Sachverstand nicht Schritt halten könnten. Diese Behauptung halte ich für falsch. Ein Blick auf die 7. und diese Legislaturperiode zeigt deutlich, daß der Deutsche Bundestag große, wichtige Gesetzesvorlagen grundlegend verändert hat; ich könnte eine Reihe von Beispielen dafür nennen. Vor allen Dingen glaube ich, daß die Institution der Anhörungen von Sachverständigen, insbesondere der öffentlichen Anhörungen von Sachverständigen, den Bundestag und die zuständigen Ausschüsse des Bundestags in dem Augenblick, in dem diese Anhörungen stattfinden, mit einem Sachverständnis und einer Sachkunde ausstattet, wie sie wenige andere Stellen besitzen. Ich glaube daher, daß der Deutsche Bundestag sehr wohl in der Lage ist, seine Aufgabe der Gesetzgebung auch gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. Eine wichtige Rolle hat während dieser zweieinhalb Jahre die Pflege der Auslandsbeziehungen gePräsident Carstens spielt. Wir haben im Herbst des vorigen Jahres die Interparlamentarische Union bei uns zu Gast gehabt. Nach 50 Jahren war Deutschland zum erstenmal wieder der Gastgeber. Ich glaube, wir haben die Konferenz so gestalten können, daß unsere ausländischen Gäste einen guten Eindruck davon mitgenommen haben. Ich selbst bin mit Delegationen nach Israel, Ungarn, in die Schweiz, nach Spanien, Portugal und Japan gereist. Es liegen Einladungen des Obersten Sowjets und des brasilianischen Parlaments zum Besuch dieser beiden Länder vor. Ich möchte beide Einladungen meinem Nachfolger an das Herz legen. Ich glaube, beide Einladungen sollten im Herbst dieses Jahres angenommen und ausgeführt werden. Diese Auslandskontakte haben vielerlei nützliche Wirkungen. Sie dienen vor allen Dingen der Herstellung und Pflege persönlicher Beziehungen zwischen wichtigen Politikern aus den verschiedensten Ländern. Sie haben aber auch eine sehr schöne Wirkung - wenn ich das einmal sagen darf - auf den Bundestag selbst. Selten habe ich interfraktionell zusammengesetzte Gruppen in so schöner Harmonie zusammen gesehen wie auf diesen Auslandsreisen. Ich erinnere mich noch lebhaft einer mehrstündigen Busfahrt durch Portugal, bei der die Delegation unter meiner allerdings nur sehr schwachen Mitwirkung unter der kräftigen Stimmführung von Herrn Kollegen Walter Arendt deutsche Volkslieder gesungen hat. ({10}) Damit haben wir, glaube ich, bei unseren portugiesischen Freunden einen mindestens so großen Erfolg erzielt wie mit den Gesprächen, die wir mit ihnen geführt haben. Als meine schönste Aufgabe habe ich es angesehen, daß ich die Funktion des Hausherrn im Reichstagsgebäude ausüben durfte. ({11}) Ich bin jeden Monat einmal in Berlin gewesen. Es gibt kein Gebäude, welches die jüngere deutsche Geschichte so eindringlich symbolisiert wie das Reichstagsgebäude. Von hier wurde am 9. November 1918 die Republik ausgerufen, hier amtierte Paul Löbe zwölf Jahre als Reichstagspräsident, hier kämpften Ebert, Rathenau, Stresemann, Brüning ihren tapferen Kampf um die Erhaltung und Festigung der Republik und der Demokratie in Deutschland. Das Reichstagsgebäude ist zugleich ein Symbol für die Einheit Deutschlands. Die Worte „Dem deutschen Volke", die in großen Bronzebuchstaben an seiner Gipfelwand stehen, sind für uns alle Verpflichtung und Vermächtnis. ({12}) Ich trete nun als Präsident des Deutschen Bundestages ab. Ich danke Ihnen für die Geduld, mit der Sie meine Amtsführung zweieinhalb Jahre lang ertragen haben. Ich wünsche Ihnen persönlich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine glückliche Zukunft, Ihnen und dem Hohen Hause, dem frei gewählten deutschen Parlament zum Wohle unseres Vaterlandes, zum Wohle des deutschen Volkes. Ich bitte nunmehr Frau Vizepräsident Renger, die Leitung der Sitzung zu übernehmen. ({13})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Professor Carstens! Erlauben Sie mir, daß ich dennoch heute eine Vorlage für die Danksagung des ganzen Hauses zur Hand nehme, weil wir, wie so häufig, in die Gefahr geraten, daß die Presse vorher wissen möchte, was wir in diesem Hause zu sagen haben. ({0}) Verehrter Herr Professor Carstens, Sie sind von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Aus diesem Grunde haben Sie soeben das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages niedergelegt, das Sie am 14. Dezember 1976 übernommen hatten. Damit wechselten Sie aus der Rolle des Oppositionsführers, der die Regierung herausfordert, in die Rolle des Präsidenten, der sein Amt über den Parteien stehend ausübt. Diese nicht leichte neue Aufgabe haben Sie als Repräsentant des Deutschen Bundestages mit Erfolg wahrgenommen. ({1}) Dabei lag Ihnen immer die Souveränität jedes einzelnen Abgeordneten, wie es Art. 38 unseres Grundgesetzes vorschreibt, besonders am Herzen. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen im Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages für Ihre Amtsführung und Kollegialität den Dank des ganzen Hauses auszusprechen. ({2}) Besonders die Mitglieder des Präsidiums und des Ältestenrats haben Ihnen für die offene und kooperative Arbeit zu danken. Ihre Amtszeit, verehrter Herr Professor, war von dem Bemühen geprägt, die Arbeit des Deutschen Bundestages zu aktualisieren und das Wirken des Deutschen Parlaments den Bürgern unseres Landes nahezubringen. Sie haben sich häufig dafür ausgesprochen, daß wir der Parlamentsreform verstärkt unsere Aufmerksamkeit widmen müssen. Der erste Teil des Schlußberichts der Enquete-Kommission Verfassungsreform, in der Sie ja mitgewirkt haben und der sich mit dem Verhältnis von Parlament und Regierung befaßt, wird derzeit in den Ausschüssen beraten. Wir alle hoffen, auch auf diesem Felde in absehbarer Zeit endlich Beschlüsse fassen zu können. Wir Abgeordneten wissen aus unserer täglichen Arbeit, wie schwierig es ist, die Arbeit des Parlaments den Bürgern verständlich zu machen. Die Identifikation unserer Bürger mit ihrem Staat hängt auch davon ab, wie uns das gelingt. Vizepräsident Frau Renger Es genügt nicht, der Bevölkerung zu verdeutlichen, was im Bundestag an Gesetzgebungsarbeit geleistet worden ist. Die Bürger wollen vielmehr wissen, wie und warum das Parlament und seine streitenden Fraktionen so oder anders entscheiden. Diese Aufgabe muß uns immer wieder dazu veranlassen, nach Wegen zu suchen, die es ermöglichen, daß die Bürger die politischen Auseinandersetzungen im Parlament, die unterschiedlichen Argumente und die Entscheidungen verstehen. Verehrter Herr Professor Carstens, Sie haben sich dieser Aufgabe als Bundestagspräsident in vielen Veranstaltungen intensiv gewidmet. Dafür danken wir Ihnen und bitten Sie, uns auch in dem Amt des ersten Bürgers unseres Landes in diesem Sinne zu helfen. Für das verantwortungsvolle und schwere Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland dürfen wir Ihnen schon heute alles Gute und allen Segen wünschen. ({3}) Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat mit Schreiben vom 21. Mai 1979 im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Forschung und Technologie die Kleine Anfrage der Abgeordneten Rühe, Pfeifer, Frau Dr. Wisniewski, Frau Benedix, Daweke, Prangenberg, Dr. Hornhues, Dr. Hubrig, Dr. Müller, von der Heydt Freiherr von Massenbach, Voigt ({4}), Berger ({5}), Frau Dr. Wilms, Dr. Sprung, Kunz ({6}) und der Fraktion der CDU/CSU betr. Zeitbudget der Hochschullehrer - Drucksache 8/2803 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 8/2886 verteilt. Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat mit Schreiben vom 23. Mai 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Narjes, Kolb, Dr. Waigel, Dr. Dollinger, Lenzer, Ey, Engelsberger, Dr. Biedenkopf, Dr. Unland, Frau Fischer, Weiskirch ({7}), Dr. Jahn ({8}), Dr. Laufs, Metz, Dr. Hüsch, Zeyer, Dr. Riesenhuber, Dr. Hoffacker, Dr. Jenninger und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Rationellere Energieverwendung und wärmedämmende Maßnahmen bei Gebäuden der öffentlichen Hand - Drucksache 8/2820 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 8/2887 verteilt. Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 23. Mai 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Erhard ({9}), Spranger und der Fraktion der CDU/CSU betr. Verschärfung der Sicherheitsüberprüfung und Neufassung der Verschlußsachenanweisung - Drucksache 8/2741 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 8/2897 verteilt. Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat mit Schreiben vom 30. Mai 1979 im Einvernehmen mit dem Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Dr. Klein ({10}), Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Dr. Riesenhuber, Röhner, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Laufs, Pfeffermann, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz und der Fraktion der CDU/CSU betr. Entwicklung und Nutzung eines Direkt-Fernseh-Satelliten ({11}) - Drucksache 8/2842 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/2910 verteilt. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 29. Mai 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Dollinger, Dr. Biedenkopf, Dr. Narjes, Pfeifer, Dr. Waigel, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Lenzer, Dr. Probst, Dr. Riesenhuber, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Neuhaus, Kolb, Hauser ({12}), Dr. Laufs, Dr. Stavenhagen, Ey, Dr. Unland, Dr. Blüm, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch, Zeyer und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Situation und Zukunftsaussichten der Kraftwerksindustrie in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 8/2818 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/2911 verteilt. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 29. Mai 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Dollinger, Dr. Biedenkopf, Dr. Narjes, Pfeifer, Dr. Waigel, Benz, Engelsberger, Gerstein, Dr. Hubrig, Lenzer, Dr. Probst, Dr. Riesenhuber, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Kolb, Hauser ({13}), Ey, Dr. Laufs, Dr. Stavenhagen, Dr. Unland, Dr. Hüsch, Dr. Blüm, Zeyer, Dr. Hoffacker und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Situation und Zukunftsaussichten der mittelständischen Zulieferer der Kraftwerksindustrie in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 8/2819 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/2912 verteilt. Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt Punkt 1 der Tagesordnung auf: Wahl des Präsidenten Ich bitte um Vorschläge für diese Wahl. - Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Kohl.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU schlage ich für die Wahl des Amtes des Präsidenten des Deutschen Bundestages unseren Kollegen Richard Stücklen vor. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie haben den Wahlvorschlag seitens der CDU/CSU-Fraktion gehört, Herrn Stücklen zum Präsidenten des Deutschen Bundestages zu wählen. Gibt es weitere Vorschläge? -Das ist nicht der Fall. Somit steht nur Herr Abgeordneter Stücklen zur Wahl. Die Wahl wird nach § 2 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung mit verdeckten Stimmkarten, also geheim, durchgeführt. Es ist übrigens das gleiche Verfahren, das wir in der vorigen Woche in der Bundesversammlung praktiziert haben. Sie bekommen die Stimmkarten von den Schriftführern vor dem Betreten der links und rechts aufgestellten Wahlzellen - ich bitte um Entschuldigung, daß ich alles wiederholen muß -; ich erinnere noch einmal daran, daß Sie die Stimmkarte in der Wahlzelle kennzeichnen und dort auch in den Wahlumschlag legen müssen. Ein Wähler, der diese Regelung des § 54 a der Geschäftsordnung nicht beachtet, muß von den Schriftführern zurückgewiesen werden. Er kann die Wahl aber ordnungsgemäß wiederholen. Ungültig sind jedoch Stimmen auf nichtamtlichen Stimmkarten sowie die Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder sonstige Zusätze aufweisen. Wer sich der Stimme enthalten will, kann die Stimmkarte unverändert, also ohne ein Kreuz bei Ja oder Nein abgeben. Ich mache noch darauf aufmerksam, daß das Abhaken Ihres Namens auf der Namensliste durch die Schriftführer neben der Urne als Nachweis für Ihre Beteiligung an der Wahl gilt und eine Eintragung in die Anwesenheitsliste ersetzt. Ich bitte nun die eingeteilten Schriftführer, ihre Plätze an den beiden Tischen für die Ausgabe der Stimmkarten und an der Wahlurne einzunehmen. - Sind alle Plätze eingenommen? Die Abgeordneten werden nach dem Alphabet aufgerufen. Verfolgen Sie bitte den Namensaufruf auf der Ihnen vorliegenden Mitgliederliste, und kommen Sie bitte möglichst rechtzeitig zu einem der beiden Tische, an denen die Stimmkarten ausgegeben werden.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Zur Wahl des Präsidenten des Deutschen Bundestages steht also allein der Kollege Stücklen. Er ist gewählt, wenn er die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages, also mindestens 260 Stimmen, erhält. Meine Damen und Herren, ich eröffne nunmehr die Wahl und bitte, mit dem Namensaufruf zu beginnen. ({0}) ({1})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich frage, ob noch Mitglieder des Hohen Hauses ihre Stimme nicht abgegeben haben. - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Damen und Herren Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu beginnen. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist, daß die Sitzung bis 10.45 Uhr unterbrochen wird. - Es erhebt sich gegen eine Unterbrechung kein Widerspruch.' Ich darf noch bekanntgeben, daß die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP jeweils Fraktionssitzungen durchführen. Ich unterbreche die Plenarsitzung bis 10.45 Uhr. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich gebe das Abstimmungsergebnis für die Wahl des Bundestagspräsidenten bekannt. Abgegebene Stimmen insgesamt 469. Von diesen haben 410 Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit Ja gestimmt. ({0}) Mit Nein haben 40 Abgeordnete gestimmt. Die Zahl der Enthaltungen beträgt 19. Damit ist der Abgeordnete Stücklen zum Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt worden. Ich muß Sie, verehrter Herr Kollege, allerdings erst fragen: Nehmen Sie die Wahl an?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002281, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich nehme die Wahl an. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich denke, durch Ihren Beifall haben Sie schon Ihre Glückwünsche zum Ausdruck gebracht. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Deutschen Bundestags noch einmal alles Gute für Ihre Amtszeit wünschen, verehrter Herr Präsident, und darf Sie bitten, jetzt das Amt zu übernehmen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bedanke mich sehr herzlich für das übergroße Vertrauen, das Sie mir durch die Wahl zum Bundestagspräsidenten entgegengebracht haben. Ich bemühe mich, dieses Vertrauen dem ganzen Hause gegenüber zu rechtfertigen. Ich werde meines Amtes, so wie es unsere Geschäftsordnung vorsieht, unparteiisch und gerecht gegenüber jedermann walten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun ist eigentlich eine Antrittsrede vorgesehen; aber ich darf Ihnen ganz offen gestehen, daß ich seit der Zeit, als ich um die Hand meiner Frau angehalten habe, noch nie so nervös war wie heute hier. ({0}) Da ich vermute, daß Sie meine guten Absichten, die ich hier mitteilen wollte, ohnedies schon kennen, ({1}) möchte ich mich darauf beschränken, ({2}) - das war zu früh! -, der amtierenden Präsidentin, Frau Kollegin Renger, für die Durchführung der Wahl und für die Glückwünsche, die sie mir im Namen des Hauses ausgesprochen hat, recht herzlich zu danken. ({3}) Ich möchte mich natürlich auch bei meinem Amtsvorgänger bedanken - nicht, weil es Pflicht ist, sondern weil es mir ein Herzensbedürfnis ist, Herr Carstens. Ich sage bewußt nicht: Professor Karl Carstens, weil Sie mich gebeten hatten, den „Professor" wegzulassen und nur mit „Karl Carstens" angesprochen zu werden; ich tue das. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Amtsführung. Sie haben, wie Frau Kollegin Renger bereits ausgeführt hat, souverän, gerecht und unparteiisch dieses Amt mit großer Würde wahrgenommen. Sie sind als Präsident zum Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Ich möchte mich auch hier den Glückwünschen der Frau Kollegin Renger anschließen und Ihnen alles Gute für Ihre schwere, verantwortungsvolle Aufgabe wünschen. ({4}) Noch einen Dank. Dieser Dank geht nicht an die Mitglieder dieses Hauses, sondern nach Hause zu unseren Familien. Ich möchte gern einmal an dieser Stelle unseren Frauen, Müttern und Kindern draußen Dank sagen. ({5}) - Und Männern! ({6}) Das gehört zu den wenigen Lücken, die ich noch habe und noch aufholen muß. ({7}) Ich möchte also unseren Familien danken, und da sind nun also alle eingeschlossen, Frauen, Männer und Kinder jeden Geschlechts. ({8}) Präsident Stücklen Ich möchte hier einmal sagen, daß die Abgeordneten dieses Parlaments keine 40-Stunden-Woche haben, sondern im Schnitt 80 Stunden für die Politik, für die Durchsetzung ihrer Politik, jeder in seiner Art, aufwenden müssen - im Wahlkreis, bei Parteiveranstaltungen, bei Verbänden und Vereinen - und daß es nur ganz wenige Wochenenden gibt, an denen der Abgeordnete noch einige Stunden in der Familie verbringen kann. Dies ist nur möglich, weil unsere Familien bereit sind, dieses Opfer zu bringen. Dafür möchte ich ihnen heute vor dem Deutschen Bundestag meinen herzlichsten Dank aussprechen. ({9}) Ich erlaube mir, auch hier einen Vorschlag zu machen und eine Überlegung laut auszusprechen: ob nicht die Vorsitzenden aller Parteien sich einmal zusammensetzen und überlegen sollten, ob es nicht möglich ist, wenigstens ein Wochenende im Monat von politischen Veranstaltungen freizuhalten - für unsere Familien. ({10}) Ich habe noch vier Punkte, von denen ich glaube, daß sie noch während des Rests dieser Wahlperiode im Bundestag zur Beratung und nach Möglichkeit auch zur Verabschiedung kommen könnten. Wenn ich jetzt darauf verzichte, sie vorzutragen, dann deshalb, weil ich die Absicht habe, diese Frage ohnedies im Präsidium des Deutschen Bundestages, im Ältestenrat des Bundestages und vor allen Dingen in Besprechungen mit den Fraktionsvorsitzenden weiter zu erörtern. So möchte ich zum Abschluß nur noch eines feststellen: Ich bin davon überzeugt, daß alle Mitglieder dieses Hauses ihr Bestes zum Wohle unseres Volkes geben und daß alle mitwirken, um die Freiheit und den Frieden in Deutschland, in Europa und in der Welt zu sichern. In diesem Geiste fahren wir mit der Arbeit entsprechend der heutigen Tagesordnung fort. Ich danke Ihnen. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten Zur Geschäftsordnung hat sich Herr Abgeordneter Porzner gemeldet. Darf ich bitten, Herr Abgeordneter Porzner, das Wort zu nehmen.

Konrad Porzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Die bisherigen Erklärungen des von der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt des Stellvertreters des Präsidenten des Bundestages über seine Aufgaben und Ämter, die er in Berlin wahrnehmen möchte, sind widersprüchlich und deswegen unbefriedigend. Meine Fraktion hält deswegen die Voraussetzungen für eine Wahl von Herrn von Weizsäkker zum Vizepräsidenten für jetzt nicht gegeben. Wir halten es nicht für vereinbar, daß jemand auf Dauer Mitglied des Deutschen Bundestages und Vizepräsident des Deutschen Bundestages und zugleich Mitglied eines Landtages sein soll. ({0}) Beide Ämter sind nach meinem Parlamentsverständnis nicht miteinander vereinbar. Ich beantrage deswegen nach § 24 Abs. 2 letzter Satz unserer Geschäftsordnung, den Tagesordnungspunkt 2 „Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten" von der Tagesordnung abzusetzen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Spitzmüller. Bitte schön.

Kurt Spitzmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002202, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Namens der Fraktion der Freien Demokraten unterstütze ich diesen Antrag auf Absetzung des Punktes 2. Wir bedauern außerordentlich, daß die Wahl des Vizepräsidenten nicht so vorgenommen werden kann, wie wir uns das alle vorgestellt haben. Es gibt hier eine Fülle von unterschiedlichen Erklärungen. Durch die Absetzung dieses Punktes wollen wir erreichen, daß die Chance offenbleibt, klare Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Herr von Weizsäcker als Vizepräsident dieses Hauses ohne Wenn und Aber gewählt werden kann. Hier gibt es die unterschiedlichsten Erklärungen. Wir erwarten, daß eine klare Äußerung erfolgt. Auch wir Freien Demokraten sind der Meinung, wenn das Mandat eines Abgeordneten, wie Herr Präsident Stücklen eben gesagt hat, 80 Wochenstunden umfaßt, ({0}) dann ist jemand schon überfordert, wenn er in zwei Parlamenten als Abgeordneter Dienst tun muß. Um wieviel mehr muß er überfordert sein, wenn er dann in Bonn noch große Repräsentationspflichten auf sich zu nehmen hat! ({1}) Wenn wir wissen, daß Herr von Weizsäcker hier voll zur Verfügung steht, steht seiner Wahl nichts im Wege. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Jenninger.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001025, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich dem Antrag auf Absetzung dieses Punktes von der Tagesordnung widersprechen. ({0}) Wir haben den Punkt auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung heute auf die Tagesordnung gesetzt, und es gab dazu auch eine Vereinbarung der Vorsitzenden der Fraktionen dieses Hauses. Die Gründe, die soeben von den Kollegen der SPD und der FDP vorgetragen worden sind, sind nicht stichhaltig. ({1}) Es gibt weder rechtliche Einwände noch sonstige plausible Gründe gegen die Wahrnehmung eines Doppelmandates. In der Geschichte des Parlamentarismus ist ein solches Doppelmandat schon in verschiedenster Form und zu allen Zeiten wahrgenommen worden. Wir widersprechen auch der Behauptung, daß es Unklarheiten in der Aussage unseres Kandidaten gebe. Wir haben den Fraktionen dieses Hauses heute früh noch einmal Klarheit hinsichtlich dieser Frage gegeben. Dieser Sachverhalt und dieses Ihr Verhalten läßt den Schluß zu, daß offensichtlich andere Gründe ausschlaggebend sind, um die Wahl heute nicht vorzunehmen. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung entsprechend § 24 Abs. 2 der Geschäftsordnung. Der Antrag lautet: Absetzung des Punktes 2 der Tagesordnung, der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Dagegen? - Stimmenthaltungen? - Nach übereinstimmender Ansicht des Präsidiums war das erste die Mehrheit, so daß der Antrag an- genommen und Punkt 2 der Tagesordnung abgesetzt ist. Wir fahren in der Tagesordnung fort. Entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung wird Punkt 3 heute nachmittag aufgerufen. Ich rufe die Punkte 4 bis 7 auf: 4. Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Europapolitik - Drucksachen 8/2452, 8/2787 5. Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften ({0}) - Drucksache 8/ 2760 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Haushaltsausschuß 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Blumenfeld, Dr. van Aerssen und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU Beteiligungen der Europäischen Gemeinschaft an den Friedensbemühungen in Nahost -10-Punkte-Programm -- Drucksache 8/2817 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({2}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Verbesserung der Lage im Libanon - Drucksache 8/2321, 8/ 2837 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Corterier Es ist vereinbart, eine verbundene Debatte durchzuführen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Klepsch.

Dr. Egon Alfred Klepsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001127, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, eine kleine Vorbemerkung zu machen, die ich für wichtig halte. Die Anfrage, über die wir diese Debatte führen, datiert vom 3. Januar dieses Jahres und hat die Zeit der deutschen Präsidentschaft im Europäischen Rat in der zweiten Hälfte des Jahres 1978 zum Gegenstand. Heute haben wir den 31. Mai, und die halbjährige französische Präsidentschaft ist schon fast vorüber. Die Debatte hätte im Februar oder im März stattfinden müssen und hätte dann diesen Sinn gehabt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß. Sie diesen späten Termin gewählt haben, um die ernsthafte und detaillierte Debatte über die Präsidentschaft in eine andere Umwelt zu setzen. Wir haben uns diese Verspätung nicht gewünscht. Ich sage das nur vorab, weil man heute natürlich nicht mehr so tun kann, als ginge es allein um diese Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und die Antwort darauf. Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel, daß der europäische Einigungsprozeß, der nach dem Kriege von den sechs damals beteiligten christlich-demokratisch geführten Regierungen ins Werk gesetzt wurde, seit einem Jahrzehnt ins Stocken geraten ist. Die damals wie heute von allen Christdemokraten in Europa gewollte, ja ersehnte Einigung Europas ist bis heute nicht erreicht. Das Ziel einer europäischen Union, die bis 1980 vollendet sein sollte, ist in eine fernere Zukunft gerückt. Trotzdem halten wir Christlichen Demokraten an diesem Ziel fest; denn damals wie heute galten und gelten die gleichen politischen Gründe und Motive für die Einheit Europas. Die christlich-demokratischen Parteien, die überall auf dem europäischen Kontinent nach Ende des Zweiten Weltkriegs als eine Antwort auf die totalitären Systeme des Nationalsozialismus und des Marxismus-Leninismus gegründet wurden, traten, basierend auf dem christlichen Bild vom Menschen und seiner Würde, entschlossen, seine Grund- und Menschenrechte in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung zu sichern, mit dem Programm der Versöhnung zwischen den Völkern und den Menschen aller Schichten an. Wir erinnern uns dabei durchaus des Leidensweges unserer Partner in Ostmitteleuropa. Eine dauerhafte Friedensordnung war zu schaffen. Es war der Wille der Gründer der europäischen Einigungsbewegung, die Konfrontation der Völker Europas durch Zusammenarbeit zu ersetzen. Durch einen hohen Grad der Verflechtung wurden Kriege zwischen in einer Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten unmöglich. ({0}) Voraussetzung hierfür war die von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle weiter betriebene Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. ({1}) Die europäische Einigung hat bis heute bewiesen, daß Frieden in der Welt realisierbar ist und daß auch sogenannte Erbfeindschaften überwindbar sind, sofern die Beteiligten nur wollen. ({2}) Insofern gibt die Europäische Gemeinschaft ein Beispiel für ganz Europa und für die Welt. Dies ist zweifellos der größte Erfolg der europäischen Einigungsbewegung. Die Christlichen Demokraten sind stolz darauf, daß sie dies auch gegen den Willen anderer in Deutschland, den der SPD, ins Werk gesetzt haben. In bewußter Ablehnung von Kommunismus und Nationalsozialismus wurde Europa nicht auf deren Prinzipien, Vorherrschaft, Unterwerfung und Klassenkampf, sondern auf Partnerschaft gegründet. Wir sind dabei von der Einsicht Begleitet worden, daß die großen Probleme unserer Zeit nur auf der Grundlage einer geistig-sittlichen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gelöst werden können. Neben dem christlichen Bild vom Menschen und seiner Würde bildet für uns der Grundsatz der Solidarität die Basis. Die Familie ist für uns die Grundform menschlichen Zusammenlebens und deshalb zu schützen und zu fördern. Das Prinzip der europäischen Einigung ist gleichberechtigte Zusammenarbeit in gemeinsamen demokratisch legitimierten Institutionen mit für alle gleich verbindlichen Normen. Auf dieser Basis sind alle europäischen Staaten aufgerufen, eine umfassende Europäische Gemeinschaft zu bilden. Das offene Europa, das wir in den Verträgen fixiert haben, steht jedem europäischen Staat zum Beitritt frei, der bereit ist, die gleichen Rechte und Pflichten zu übernehmen und eine freiheitlich-demokratische Grundordnung in diese Gemeinschaft einzubringen. Es steht deshalb auch allen Ländern in Ostmitteleuropa offen, die zu der großen europäischen Kulturfamilie gehören und einen wertvollen, nicht wegdenkbaren Teil der europäischen Geschichte und Kulturgegemeinschaft darstellen. Auch diesen Ländern ist die Offerte des Zutritts zu dieser Gemeinschaft in gleicher Weise gemacht. Wir bedauern, daß etwa das große polnische Volk, das in seiner Geschichte und in seinem Beitrag zur europäischen Entwicklung so Bedeutsames geleistet hat, heute nicht in diese Gemeinschaft eintreten kann. ({3}) Diesen Völkern muß heute aber klar gesagt werden: Wir waren bei der Gründung der Gemeinschaft ebenso entschlossen, wie wir es heute sind, für sie den Weg unter diesen beiden Voraussetzungen, die ich genannt habe, jederzeit offenzuhalten. ({4}) Es ist für uns eine bedeutsame Entwicklung, wenn der Besuch von Papst Johannes Paul in Polen jetzt unterstreicht, wie eng diese Verflechtung mit dem polnischen Volk für die europäische Kulturgemeinschaft ist. Wir übersehen auch nicht, daß die Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa - so verfolgt und bekämpft sie auch werden - der Ausdruck eines großen Willens sind, Anschluß an die Tradition einer freiheitlich-rechtsstaatlichen europäischen Kulturgemeinschaft zu halten bzw. zu gewinnen. Wir sind eine Gemeinschaft, die allen demokratischen Staaten Europas offensteht. Daher begrüßen wir auch den jetzt vollzogenen Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft. Wir begrüßen ebenso die bevorstehende Mitgliedschaft Spaniens und Portugals. Vor wenigen Tagen hat der griechische Ministerpräsident Karamanlis mit der Gemeinschaft den Beitrittsvertrag unterzeichnet. Wir hoffen, daß er in der dafür vorgesehenen Frist in Kraft tritt. Wir verzeichnen aber auch, daß dieser Beitritt in Griechenland leider auf den erbitterten Widerstand der griechischen Sozialisten gestoßen ist. Sie haben dem Beitritt nicht zugestimmt. ({5}) Ich möchte aber ganz eindeutig hervorheben: Für uns ist es ein großer Schritt, daß Griechenland -die Wiege der Demokratie in Europa - in den europäischen Verbund eintritt. ({6}) Es war die feste Überzeugung Konrad Adenauers, daß angesichts der Machtverhältnisse, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben haben, und angesichts der massiven Präsenz der Sowjetunion in Osteuropa für die Bundesrepublik und die anderen europäischen Staaten keine Alternative zur politischen und wirtschaftlichen Einigung Westeuropas gegeben war, sofern sie Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in ihren Ländern sichern wollten. ({7}) Die seitherige Entwicklung hat ihm recht gegeben. Die Länder der Europäischen Gemeinschaft sind frei geblieben, und ihre Ordnung und ihre Freiheit sind die Hoffnung derer, die in Europa in Unfreiheit leben. ({8}) Gleichzeitig wurde der besonderen Situation Deutschlands und der Lage Berlins auch in den Römischen Verträgen mehrfach Rechnung getragen. Die deutsche Frage wurde offengehalten, und die Bundesrepublik findet in ihrem Bemühen um die Wiedervereinigung Unterstützung bei ihren westeuropäischen Partnern. So wurde in dem von allen europäischen Christlichen Demokraten getragenen Programm der Europäischen Volkspartei zur Frage Berlins festgestellt: Berlin ist ein Teil der Europäischen Gemeinschaft und bleibt ein Prüfstein für die wirkliche Entspannung in Europa. ({9}) Die Christlichen Demokraten in Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Irland tragen in gleicher Weise diese Position wie die deutschen Christlichen Demokraten. In dem Programm, was wir den Wählern zur europäischen Direktwahl vorlegen, ist klar ausgeführt: Das Recht auf Selbstbestimmung aller Völker einschließlich des deutschen bleibt für uns ein Grundsatz europäischer Politik. ({10}) Wir haben solche klaren Festlegungen in den Programmen der anderen Parteigruppierungen, die sich für die europäische Direktwahl bewerben, vermißt. ({11}) - Ich lasse mich gern berichtigen, wenn Sie es mir aus dem Programm vortragen. Ein weiteres Motiv der europäischen Einigung war und ist, daß die Grenzen der Völker nicht mehr abschließen und trennen sollen. Die Öffnung der Grenzen ist der Grund dafür, daß die Menschen in Europa leichter zueinanderfinden, aber auch dafür, daß die Europäische Gemeinschaft heute den größten Binnenmarkt der Welt darstellt. Dies hat zusammen mit einer freiheitlich angelegten Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung sowie dem Fleiß der Bürger zu einer ungeahnten Mehrung des Wohlstands für alle in Europa geführt. Daher ist die sozialistische Parole von einem angeblichen Europa der Konzerne und einem gegen die Interessen der Arbeitnehmer gerichteten Europa eine haltlose Unwahrheit. ({12}) Die wirtschaftliche Stärke hat Europa die Chance gegeben, auch in Zukunft einen angemessenen Platz in der Weltpolitik einzunehmen. Sie hat uns in den Stand gesetzt, die Verpflichtung der Solidarität mit jenen wahrzunehmen, die in der Entwicklung noch viel vor sich haben, den Ländern der Dritten und Vierten Welt. Solidarität und die aktive Hilfe für jene können ja nur auf der Basis dieser erfolgreichen Zusammenarbeit gedeihen. Nur so stehen uns die Möglichkeiten und die Mittel zur Verfügung, die es gestatten, dieser unserer Solidaritätsverpflichtung gerecht zu werden. Konsequent zu Ende gedacht, bedeuten die angeführten Motive für einen stärkeren Zusammenschluß der europäischen Staaten, daß am Ende dieses Prozesses ein europäischer Bundesstaat mit den zugehörigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen stehen muß. Aus diesem Grunde haben wir auch seit langem auf die Direktwahl zum Europäischen Parlament gedrungen. Unsere Konzeption zur Vollendung der Union in der Europäischen Volkspartei ist die der ChristlichDemokratischen Union in gleicher Weise. Die Europäische Volkspartei, der europäische Zusammenschluß der Christlichen Demokraten, hat in einem gemeinsamen Programm auch dieses gemeinsame Europakonzept für alle Wähler in gleicher Weise in jedem Land der Gemeinschaft zur Diskussion gestellt und festgelegt. Das Europa, das wir wollen, ist freiheitlich, demokratisch, pluralistisch, föderativ und garantiert die Vielfalt in Europa. ({13}) - Wir sind die letzten, Herr Kollege Corterier, die die Nationen in einem Einheitsbrei untergehen lassen wollen. Wir wissen sehr wohl, wie die europäische Kulturgemeinschaft dieser ihrer Aufgabe gerecht werden soll. Aber wenn Sie es sagen, daß die Aufzählung dieser fünf Grundpositionen das Paradies beschreibt, so glaube ich, daß Sie in diesem Fall ({14}) eigentlich nur bestreiten, was wir uns z. B. als Grundkonzept für die Gestaltung der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen haben. ({15}) Die Verwirklichung dieses Zieles geschieht nicht von selbst, sondern muß in einem politischen Prozeß mit gemeinsamer Anstrengung erkämpft werden. Daher bieten wir Ihnen wie auch schon in der Vergangenheit Zusammenarbeit und permanenten Informationsaustausch an, und zwar bei allen Initiativen, die der europäischen Einigung dienen. Wir sind gern bereit, mit Ihnen auf allen vorwärts führenden Feldern zusammenzuarbeiten, um das große Ziel, das wir uns alle gesetzt haben, so bald wie möglich näherzurücken. Aber dieses Angebot an Zusammenarbeit schließt auch die Kritik an Ihrer Europapolitik ein, wie sie von Ihnen bisher betrieben worden ist. Zwischen Ihren wohltönenden Ankündigungen nach Gipfelkonferenzen und Ihren tatsächlichen politischen Aktivitäten, Initiativen und dem Vollzug dieser Ankündigungen liegen Welten. Für Sie ist, so scheint es, die televisionsträchtige Form und Art der Ankündigung einer Initiative wichtiger als ihre Ausführung. ({16}) Sie sehen Fortschritte in der europäischen Integration und reklamieren sie für sich, während in Wirklichkeit in erster Linie nur Stagnation vorhanden ist. Die Diskrepanz zwischen Wort und Wirklichkeit ist vielleicht auch der Grund dafür, daß wir diese Debatte so spät führen. Nehmen wir als Maßstab zur Beurteilung Ihrer Europapolitik die Beschlüsse der Sitzungen der Regierungschefs im Oktober 1972 - da war noch der Kollege Brandt dafür zuständig - und im Dezember 1974 in Paris. Zumindest an der zweiten Konferenz war Bundeskanzler Schmidt als Regierungschef maßgeblich beteiligt und damit auch in vollem Umfang verantwortlich. Damals wurden in einem 37 Punkte umfassenden Schlußkommuniqué die Vorstellungen der Regierungschefs zur europäischen Einigung entwickelt. Der Zeitpunkt kam nicht von ungefähr; denn damals hatten wir die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um England, Dänemark und Irland. Alle Beteiligten waren sich darüber klar, daß es in der Gemeinschaft zu großen Schwierigkeiten führen müsse, wenn man die Gemeinschaft nur in der Zahl der Quadratkilometer vergrößerte. Alle waren sich darüber klar - deshalb kam es auch zu den von mir zitierten Beschlüssen -, daß die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, die weitere Einigung zur politischen Union erfolgen müßten. Man hat erst gesagt „vorher", dann hat man gesagt „gleichzeitig", und schließlich hieß es „kurz danach". Ich will gern einräumen: Kurz danach kamen auch diese Beschlüsse von 1974. Unter anderem wurde die Wirtschafts- und Währungsunion zum wiederholten Male angekündigt. Der Beginn der politischen Union wurde auf den 1. Januar 1980 festgelegt. In diesem zahlreiche, alle Fragen umfassenden, wirklich weiterführenden Programm haben wir eine Fülle von Punkten. Wenn wir jetzt den Strich ziehen und darunter nachsehen, was aus der Verwirklichung geworden ist, so bleiben eigentlich nur drei Sachen übrig: Erstens - das will ich nicht geringschätzen - haben wir die verspäteten Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Zweitens bleibt uns der Tindemans-Bericht übrig, den alle Regierungen grundsätzlich gebilligt haben, dessen einzige Konsequenz jedoch bis heute, fast vier Jahre nach seiner Vorlage, ist, daß jährlich bei den Gipfelgesprächen über die Ausführung berichtet wird und daß das, was an Ausführung zu vermelden ist, gemessen an dem Papier und an den Beschlüssen der Regierungschefs, kaum wahrnehmbar ist. Drittens bleiben uns die Sitzungen des Europäischen Rats übrig, der seine selbst gestellten Aufgaben bisher nicht erfüllt hat. Der Europäische Rat hatte sich die Aufgabe gestellt, der Initiator, der Weiterführer, derjenige Körper zu sein, der die Ideen in Beschlüsse faßt, die dann von den Regierungen ausgeführt werden sollen. In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage stellen Sie deshalb den Europäischen Rat auch als eine neue politische Autorität dar. Dies steht völlig im Gegensatz zu dem, was Bundeskanzler Schmidt erst kürzlich mit Blick auf die Erfolglosigkeit der bisherigen Gipfelkonferenzen und im Gegensatz zur bisherigen Praxis im März dieses Jahres meinte. Er sagte nämlich, daß der Europäische Rat nicht geschaffen wurde, um Absichtserklärungen zu äußern, auch nicht um Beschlüsse zu fassen, sondern daß es um eine Art Meinungsaustausch auf höchster Ebene gehe. Mit der Ankündigung und dem Anspruch, mit denen diese Institution antrat, und dem kläglichen Resümee, das Bundeskanzler Schmidt heute über dessen Wirken zieht, können wir nur feststellen: Auch auf diesen dritten übriggebliebenen Punkt kann man nicht rekurrieren, wenn man von Weiterführung der europäischen Einigungspolitik sprechen will. ({17}) Offenbar besteht in der Bundesregierung keine einheitliche Meinung über den Europäischen Rat. Aber das ist ja auch meines Erachtens gar kein Wunder, weil dieser Rat ein Fremdkörper im Gefüge der europäischen Institutionen geblieben ist. ({18}) - Selbstverständlich, gnädige Frau! Es gibt keine Institutionalisierung dieses Gremiums in Form von Verträgen, und es fehlt jede demokratische Kontrolle dieses Körpers. ({19}) - Sehr gut, gnädige Frau! Darauf kommen wir gleich zu sprechen. Darüber hinaus hat er das Initiativrecht der Kommission weiter ausgehöhlt und die Arbeit des Ministerrats in vielen Fällen paralysiert. Eigentlich wurden durch den Rat nur die Entscheidungsprozesse verlängert. Es gab noch eine Tafel mehr, über die die Berge von Papier geschoben wurden. ({20}) Die Stagnation in Europa heute ist in der Hauptsache eine Krankheit der Entscheidungsstrukturen und der Entscheidungsmechanismen. ({21}) Nehmen wir als ein weiteres Beispiel aus der Beantwortung der Großen Anfrage, wie Sie Initiativen für sich beanspruchen, die als solche keine von Ihnen sind, und wie Sie Fortschritte sehen, wo sie kaum vollziehbar sind. Sie reklamieren die Volkswahl, die Direktwahl des Europäischen Parlaments, als einen großen Erfolg, als Ihren Erfolg. Aber wenn man weiß, daß die Volkswahl von Anfang an in den Verträgen festgelegt war, ({22}) - richtig! -, dann haben wir eine sehr, sehr lange Zeit auf die Durchsetzung dieser Institution warten müssen. Wenn ich das in Bezug setze zu den 1974er Gipfelbeschlüssen und den genauen Daten, die damals gefaßt wurden, dann haben wir eine mehr als sehr große Verspätung. Aber ich habe ja gesagt - ich möchte auch etwas Gutes sagen -, das ist das, was von den 74er Beschlüssen übriggeblieben ist. Deshalb ist die europäische Direktwahl der einzige Hebel, der unsheute von diesen damaligen Beschlüssen verblieben ist, um die europäische Einigung voranzubringen. Ich sage das mit allem Ernst, weil es das völlige Desaster der Anstrengungen der Regierungschefs auch in anderen Feldern unterstreicht. Meine Damen und Herren, natürlich sind noch andere gute Vorsätze auf diesem Gipfel ausgesprochen worden, z. B. die Erweiterung der KontrollDr. Klepsch und der Kompetenzrechte des Europäischen Parlaments. 1974 haben Sie das - in wohltönende Worte gegossen - festgelegt. Ich glaube, daß wir heute auf einer ganz anderen Ebene über diese Fragen diskutieren. Aber lassen Sie mich zu zwei anderen Beispielen etwas sagen, die Ihnen ganz sicher Klarheit verschaffen. Bundeskanzler Schmidt beansprucht für sich das Europäische Währungssystem. In Beantwortung der Großen Anfrage behaupten Sie, das sei ein Beitrag zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion. ({23}) - Wir hoffen das. Bis jetzt ist es nicht der Fall, sondern es ist bis jetzt ein Ansatzpunkt zu einem Unternehmen, in dessen Konzipierung wir schon einmal sehr viel weiter waren. ({24}) - Richtig, es ist auch gehandelt worden - von den Leuten, die nachher nicht handelten. Ich beziehe mich ja gerade auf die Beschlüsse von 1972 und 1974, die diese Bundesregierung mitverantwortet hat, bei denen sie großartige Ankündigungen gemacht und dem deutschen Volk Klarheit darüber gegeben hat, wie sich die Wirtschafts- und Währungsunion nunmehr vollziehen werde. Das hat sie für sich reklamiert. Nur, daß wir heute, von einem sehr viel kleineren Ansatz ausgehend, wieder an derselben Stelle sind, berechtigt uns doch ein wenig, darauf hinzuweisen, daß das Vorhaben jetzt von sehr viel geringerem Gewicht ist, als es damals hatte. Heute ist das, was wir als Europäisches Währungssystem vor uns haben, vorläufig nur eine Art Währungsstützungssystem. Es ist noch lange keine Wirtschafts- und Währungsunion. Dazu bedarf es einer Abstimmung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aller Mitgliedstaaten; davon kann aber nicht die Rede sein. Entgegen Ihrer Einlassung in der Antwort auf die Große Anfrage fehlen nämlich die konkreten Stabilisierungsmaßnahmen in den europäischen Ländern. Im Anschluß an den Europäischen Rat in Bremen haben die europäischen Regierungen Stabilisierungsmaßnahmen ergriffen, die jedoch nicht abgestimmt waren; vielmehr erfolgen sie einzeln, in nationaler Verantwortung unkoordiniert. Meine Damen und Herren, ich möchte ganz klar sagen: Die Korrektur eines falschen Weges, den man vorher beschritten hatte, als man die Anstrengungen zur Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion aufgab, ist nicht Ihre Initiative. In Wirklichkeit waren es die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und nicht zuletzt eine Initiative der Christlich-Demokratischen Fraktion im Europäischen Parlament unter Federführung deutscher Abgeordneter, die Anfang des Jahres 1978 das Thema der Schaffung einer Zone fester Wechselkurse in Europa wieder in den Blickpunkt des politischen Interesses gerückt haben. ({25}) Ein weiteres Beispiel. Bei seiner Antrittsrede zur Übernahme der deuschen Präsidentenschaft erklärte der deutsche Außenminister vor dem Europäischen Parlament, die Bundesrepublik werde sich mit aller Kraft dafür einsetzen, bei der Erweiterung der Gemeinschaft um die drei südlichen Länder voranzukommen; noch bevor die Gemeinschaft größer werde, sollte damit begonnen werden, die institutionellen Möglichkeiten wahrzunehmen. Der Herr Bundesminister fragte in diesem Zusammenhang: Was hindert uns eigentlich daran, von den im Vertrag vorgesehenen Mehrheitsbeschlüssen Gebrauch zu machen, ({26}) um so die Beschlußfähigkeit des Rates zu sichern und zu erhöhen? - Auf diesem Wege haben Sie damals unsere volle und ohne Einschränkung gegebene Zustimmung gehabt. Die künftigen Mitglieder wollen nicht einer verwässerten, sondern einer starken und handlungsfähigen Gemeinschaft angehören. So haben wir diese Ankündigung begrüßt. Allerdings - das muß ich sagen - hat man sich dann bei den Beitrittsverhandlungen mit Griechenland auf die arithmetische Anpassung der Institutionen beschränkt und die Frage ihres guten Funktionierens völlig außer acht gelassen. Dieses Thema hätte aber ganz vordringlicher Behandlung zugeführt werden müssen. Jetzt sei noch ein letztes bezeichnendes Beispiel zitiert. In der Beantwortung unserer Großen Anfrage stellen Sie die Behauptung auf, daß verstärkt das Konzertierungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat angewandt worden sei. Ich will Ihnen sagen, wie die Konzertierung zwischen Parlament und Rat in Wirklichkeit ausgesehen hat. Im Juli 1978 hat das Europäische Parlament ein Konzertierungsverfahren für Verordnungen im Energieforschungsbereich eingeleitet. Im Oktober desselben Jahres antwortete der verantwortliche Minister, der deutsche Justizminister Vogel, die Verordnungen seien bereits offiziell angenommen und im Amtsblatt veröffentlicht worden. Das scheint mir eine merkwürdige Art zu sein, das Konzertierungsverfahren verstärkt anzuwenden. Vielleicht wollten Sie es nicht, vielleicht haben Sie es auch nur schlicht vergessen, es steht jedenfalls in einem erheblichen Gegensatz zur gegebenen Ankündigung. Dies sind nur wenige Beispiele, deren Zahl in vielfacher Hinsicht erhöht werden kann. Insgesamt muß man sagen: Große Ankündigungen und pressewirksame Gipfelkonferenzen - aber kreativ waren Sie nicht. ({27}) Sie haben nichts gewagt, und Sie haben die Integration nicht wirklich vorangetrieben. Sie werden antworten, daß es schwierig ist, Europa voranzubringen und daß sich stets neun Regierungen auf ein gemeinsames Vorgehen einigen müssen. ({28}) Das stimmt; und wir verkennen die Schwierigkeiten nicht. Aber in den 50er und 60er Jahren sind die CDU/ CSU-geführten Regierungen trotz großer Schwierigkeiten und Widerstände mit Motor der Einigungsbewegung gewesen. Sie sind kreativ und initiativ gegenüber ihren Partnern aufgetreten. Konrad Ade, nauer, Heinrich von Brentano, Gerhard Schröder, Walter Hallstein haben Europa bewegt und nicht nur in kleinkrämerischer Manier um den augenblicklichen nationalen Vorteil gefeilscht und sich mit Interessengerangel begnügt. ({29}) Diese Männer haben es auch verstanden - nicht zuletzt durch ihr Engagement -, den Gedanken der Einheit Europas in Deutschland wach und populär zu halten. Wenn man bedenkt, mit welchen Schwierigkeiten wir bezüglich des Interesses unserer Bürger zu tun haben, um bei diesen Direktwahlen ihre Informationslücke zu decken, und wie reserviert auch ein Teil der überregionalen deutschen Presse dem Europagedanken gegenübersteht, dann ist das nicht zwangsläufig, sondern hat auch politische Gründe. Wer will schon dem Bürger verdenken, wenn er den Begriff „Europa" zunächst mit Brüsseler Bürokratie, also für ihn scheinbar mit Leerlauf, Unwirtschaftlichkeit und Verschwendung verbindet! Wie soll es der Bürger verstehen, daß auf dem Gipfeltreffen im Jahre 1974 - das waren nicht mehr Sie, Herr Brandt, das war Herr Schmidt - ein einheitlicher europäischer Paß beschlossen wurde! Im Jahre 1975 hat man den europäischen Bürgern mitgeteilt, daß dieser Paß am 1. Januar 1978 überall eingeführt werde. ({30}) Man hat dann fast ein Jahr gebraucht, um sich über die Farbe und die Sprachen auf dem Umschlag des Passes zu einigen. - Da sind sie. Aber, meine Damen und Herren, wo ist denn am 1. Januar 1978 dieser Paß in die Hände der europäischen Bürger gelangt? Wir haben nichts mehr davon gehört. ({31}) In der Antwort auf unsere Große Anfrage vermeidet man sorgsam, die Daten darzulegen. Wir finden dort eine ganz kümmerliche Ausrede dafür. Aber ich sage Ihnen, das ist etwas gewesen, was die ganze europäische Bürgerschaft als ein sichtbares Zeichen der Anstrengungen nach weiteren europäischen Einigungsbemühungen angesehen hat. ({32}) Wer will dem Bürger seine Haltung in folgendem Fall verdenken? Der Rat hat im Frühjahr 1974 in Kopenhagen den Beschluß zur Errichtung einer Stiftung gefaßt, die Information über die Integration Europas verbreiten soll. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel hat er aber nicht bewilligt. Das ist einer dieser Als-ob-Beschlüsse, an denen die Praxis des Rats der Regierungschefs und des Rates reich ist. Man beschließt etwas, und nachher treten andere zusammen, die beschließen, es nicht auszuführen. Das eine wird groß in der Presse angekündigt, und das andere erscheint vielleicht auf Seite 7. Ähnlich ist es in der Regionalpolitik gewesen. Ständig hat man Beschlüsse gefaßt, aber niemals hat man wirklich die ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt. Das jetzige Europäische Parlament mußte es schließlich auf sich nehmen, in einer bitteren Auseinandersetzung mit dem Rat die notwendigen Mittel für die europäische Regionalpolitik durchzusetzen. Da sehen Sie die große Diskrepanz zwischen der Ankündigung und der Ausführung. ({33}) Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen, daß die fehlende Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Regionalpolitik, in der Wirtschafts- und vor allem in der Währungspolitik die Schwierigkeiten auf den schon integrierten Bereichen der europäischen Gemeinschaften erhöht hat. Die heutigen Schwierigkeiten im Falle des Agrarmarktes sind vor allen Dingen darauf zurückzuführen, daß diese Weiterentwicklung nicht erfolgt ist ({34}) und daß wir in der Integration hinterherhinken und unsere eigenen Probleme multiplizieren. Nehmen Sie sich die Beschlüsse der Regierungschefs aus dem Jahre 1974 vor: Sie haben damals all das, was an Problemen auf uns zukommt, schon ganz richtig gesehen. Sie haben - angefangen von der Energiepolitik bis hin zu den Problemen auf dem Arbeitssektor - alle möglichen Schwerpunkte angesprochen. Aber es ist nichts anderes geschehen als das Einsetzen von immer neuen Arbeitsgruppen, das Verabreden von Konventikeln und die Entgegennahme von Berichten. Konkrete Maßnahmen stehen auf allen diesen Feldern weitgehend aus. Deshalb sind alle diese Probleme wieder Thema jeweils auch der nächsten Gipfelkonferenz. Was soll denn der Bürger davon denken, wenn schon heute, vor der Wahl, prominente Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei verlauten lassen, daß sie im Europäischen Parlament nur ganz gelegentlich werden mitarbeiten können? Da sagt einer in einem Interview, er könne vielleicht zwei halbe Nachmittage pro Woche zur Verfügung stehen. So etwas sagt einer der Spitzenkandidaten. ({35}) - Herr Kollege Kohl, ich konnte nicht voraussehen, daß wir dieses exemplarische Beispiel vor Augen gehalten bekommen. Und wenn ich mir die Liste der Spitzenkandidaten ansehe, so ist diese Frage bei den meisten von ihnen zu stellen. ({36}) - Herr Kollege Seefeld, was immer Sie jetzt sagen, Sie können selber die Interviews der betreffenden Kollegen nachlesen, in denen sie diese Aussagen in Ihnen nahestehenden Blättern gemacht haben. Schöne Kandidaten, vor allen Dingen schöne Spitzenkandidaten, die die Arbeit gar nicht leisten wollen, für die sie gewählt zu werden wünschen! ({37}) Es ist deshalb verständlich, daß der Bürger der Art und Weise, wie Europapolitik bei uns betrieben wird, müde wird. Aber es ist wichtig, festzustellen, daß das nachlassende Interesse an Europa, gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland, Hand in Hand geht mit der Zeit, während der Sie Verantwortung als Regierung in diesem Lande tragen. ({38}) Woran soll sich denn der Bürger orientieren? ({39}) Gibt es seit der Regierungsübernahme von SPD und FDP ein regierungsamtliches Papier, eine programmatische Äußerung von Ihrer Seite, aus der sich ergibt, wie die Bundesregierung die zukünftige Gestalt Europas ansieht? Solch ein Konzept hat die Bundesregierung nicht vorgelegt. In einer doch sonst so programmwütigen Partei wie der Ihren, Herr Kollege Wehner, ist das erstaunlich. Alle wesentlichen europapolitischen Initiativen dieser Jahre stammen von Christdemokraten, ({40}) z. B. der Werner-Bericht. Er war die Grundlage des Beschlusses über die Einrichtung der Wirtschafts-und Währungsunion, die Sie dann nicht vollzogen haben. Oder nehmen Sie den Tindemans-Bericht. Es war doch eine Mehrzahl sozialdemokratischer und sozialistischer Regierungschefs, die einen christlichen Demokraten beauftragte, ({41}) einen Bericht über die weitere Möglichkeit der politischen Einigung Europas vorzulegen. Er hat das auch fristgerecht gemacht. ({42}) - Selbstverständlich, Herr Kollege Bangemann, er wurde als Regierungschef beauftragt. Er hat sich dieser Pflicht innerhalb eines Jahres entledigt und seinen Bericht fristgerecht vorgelegt. Die Regierungschefs haben ihn alle gut gefunden; sie haben ihn grundsätzlich gebilligt. Die Publizistik hat gesagt, man müsse diesem Bericht bescheinigen, daß er sowohl realistisch als auch realisierbar sei. ({43}) Aber damit war auch die ganze Kraft der Regierungschefs schon verbraucht. ({44}) - Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wer da in der Mehrzahl war. Sie treiben Ihre Europapolitik mit der linken Hand. Die beinahe dreimonatige Verspätung, mit der das Währungssystem, dieser Ansatz von Währungssystem in Kraft gesetzt wurde, das wir begrüßt haben, zeigt, mit welch geringer Aufmerksamkeit und welch geringer Sorgfalt die Europapolitik betrieben wird, welchen Stellenwert sie ganz offensichtlich hat. Ganz offenbar beruht die Verspätung des Inkraftsetzens des Währungssystems auf massiven Fehleinschätzungen des Bundeskanzlers hinsichtlich der Währungsprobleme in der Agrarwirtschaft und hinsichtlich der Bedeutung, die Frankreich ihnen beimißt; das ist doch ganz klar. ({45}) Wenn jemand sagt, er habe das Ganze gemacht, und vergißt eine so wichtige Sache, dann muß ich doch fragen, ob die nötige Sorgfalt aufgewandt wurde. ({46}) Fragt man, warum die europäische Einigung so wenig konsequent verfolgt wird, obwohl Sie doch bei jeder Festrede beteuern, ein wie klarer Verfechter Sie seien, so liegen einige der Gründe meines Erachtens klar zutage. Sie haben Ihre Kräfte vielleicht anders eingeteilt. Sie haben die Ostpolitik seit 1969 einseitig, ausschließlich bevorzugt. Ihr personeller und sachlicher Einsatz lag auf diesem Felde. Ich möchte an dieser Stelle diese Politik nicht nach Erfolg oder Mißerfolg bewerten; aber zweifellos hat die Integration Westeuropas, die Entwicklung und Festigung der Europäischen Gemeinschaft, darunter gelitten. Dieser Sachverhalt kann nicht bestritten werden. Man braucht nur entsprechende Äußerungen von Ihrer Seite heranzuziehen, etwa daß Herr Bahr 1972 klar gesagt hat, selbstverständlich entscheide er sich dafür; sie umfasse den ungeheuren Fortschritt nach Osteuropa und zu den osteuropäischen Völkern, während das andere - gemeint war die Westintegration - nur um den Preis der Abkehr zu haben sei. So steht es in einem Protokoll eines Gesprächs mit Günter Gaus. Er hat gesagt, er sei eher bereit, auf die Politische Union in Westeuropa zu verzichten, als auf bessere Beziehungen mit Osteuropa. Auch der Bürgermeister Koschnick hat noch im Herbst 1978 die Bundesregierung aufgefordert, die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Politischen Union nicht mehr zu betreiben, weil das zu einer entsprechenden Verhärtung im Ostblock führen würde. Aber nicht nur die Ostpolitik, sondern vor allen Dingen das Verhältnis zu Ihren europäischen sozialistischen Genossen, verbietet Ihnen eine aktive Integrationspolitik. In den letzten Wochen und Monaten, in denen im Vorfeld der Europawahl den Bürgern das Thema Europa seit langer Zeit wieder bewußt wird, stellen sie wie manche Politiker an Hand von Wahlprogrammen und Wahlaussagen mit Erstaunen fest, daß einflußreiche politische Kräfte in Europa ein vereinigtes Europa offensichtlich gar nicht wollen. Das gilt insbesondere für starke Teile der dänischen, der französischen und britischen Sozialisten. Das gilt auch für die Gaullisten und für die mit den französischen Sozialisten eng zusammenarbeitenden französischen Kommunisten. Diese ablehnende Haltung finden wir aber nicht nur bei den Sozialisten innerhalb der Gemeinschaft, wir finden sie auch bei den Sozialisten der beitrittswilligen Länder. Ich habe gerade vorhin darauf Bezug genommen, daß Griechenland gegen die Stirmmen der Sozialisten beigetreten ist. Die letzte gemeinsame Konferenz der sozialistischen Parteien dieser Länder in Athen hat zum Boykott der Europäischen Gemeinschaft aufgerufen. ({47}) Daß diese Differenzen in Ihrem Lager bestehen, sieht man konkret daran, daß in allen Parteiverlautbarungen grundsätzlich etwas anderes und Gegensätzliches steht, je nach dem, ob es die SPD allein oder im Verbund mit ihren Genossen äußert, daß es die Sozialisten im Gegensatz zu den Christdemokraten bisher nicht zu einer gemeinsamen Partei auf europäischer Ebene geschafft haben, ({48}) daß sie trotz propagandistischer Vorankündigung kein gemeinsames Wahlprogramm für die Europawahl vorgelegt haben, sondern eine ganze Reihe nationaler, einander sogar widersprechender Programme den Wählern zur Auswahl stellen. ({49}) Schaut man sich bestimmte sozialistische Parteien in Europa an, so werden diese Differenzen noch deutlicher. ({50}) Ich denke nur an die Labour Party. Ich könnte Ihnen sehr viele interessante Beispiele nennen, will das aber im Hinblick auf die mir zur Verfügung stehende Zeit unterlassen. So müssen wir heute von der Tatsache ausgehen, daß ein gewichtiger Teil der europäischen Sozialisten Europa nicht will und teilweise den derzeit erreichten Integrationsstand rückgängig machen will. Kann man da erwarten, daß Sie die nötige starke Initiative von der Bundesregierung entwickeln lassen können? Sie werden ja schon häufig genug von der Sozialistischen Internationale wegen Unzuverlässigkeit gescholten. So kann man vielleicht vermuten, daß Sie in vielen politischen Maßnahmen, die zu treffen waren, auch den Konflikt mit den Genossen gescheut haben. Vor diesem Hintergrund fragen wir uns: Wie wird die Zusammenarbeit im künftigen Europäischen Parlament aussehen? Der Wahlgang von 180 Millionen Bürgern gibt dem Europäischen Parlament ein neues und anderes Gewicht. Die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit, sich stärker zu profilieren, werden den Parteimeinungen im Parlament ein größeres Gewicht als bisher geben. Aber auch die Regierungsparteien der Mitgliedstaaten werden sich stärker an den Positionen ihrer nationalen Parteifamilien mes-lassen lassen müssen. Auf der einen Seite wird eine christlich-demokratische Fraktion stehen - mit einem einheitlichen Programm und mit dem einheitlichen Willen, die Einigung Europas weiter zu betreiben. ({51}) Auf der anderen Seite werden Sie in einem etwas zerstrittenen Haufen stehen, Herr Kollege Seefeld, der sich nicht darüber im klaren ist, ob er sich an Europa beteiligen will und, wenn ja, wie. ({52}) Sie werden mir entgegenhalten, daß die politische Auseinandersetzung und die Klärung der gegensätzlichen Positionen ein Hauptzweck des Parlaments sein müssen. Da gebe ich Ihnen recht. Aber es muß für eine erfolgreiche Parlamentsarbeit einen Grundkonsens zwischen den demokratischen und politischen Kräften über den Sinn und Zweck der Einigungsbewegung herrschen. Und da sehe ich große Schwierigkeiten vor uns. Diese Differenzen in der Sozialistischen Internationale zwingen Sie zu einem unehrlichen Spiel im Wahlkampf. Genau wie in anderen Bereichen der Politik verfolgen Sie eine Doppelstrategie. Innerhalb der Bundesrepublik bekräftigen Sie in Ihren Reden und in Ihrem Programm den uneingeschränkten Willen zur Schaffung eines einheitlichen Europas. Treffen Sie sich jedoch mit Ihren sozialistischen Genossen gemeinsam im Ausland, so hört sich das ganz anders an. Dort machen Sie deutliche Vorbehalte gegen die weitere Integration. Man darf ja mal fragen: Warum lassen Sie nicht den Herrn Mitterand hier auftreten und erläutern, wie er sein sozialistisches Europa meint? Warum bitten Sie nicht den Herrn den Uyl hierher, damit er uns sagt, was er von uns Deutschen hält? ({53}) Warum fragen Sie nicht Herrn Wedgewood Benn, ({54}) worum es denn nach seiner Auffassung bei der europäischen Einigung und der europäischen Wahl geht? Es hätte uns sehr interessiert. Wir haben unsere ausländischen Partner in dieser Wahlauseinandersetzung nicht zu verstecken brauchen. In Ihrem Europaprogramm von Köln haben Sie deutlich gemacht, daß Sie sich entweder auf Ihre sozialistischen Partner in Europa und deren marxistische Denkvorstellungen zubewegen wollen oder aber - wie es die künftige Kollegin Wiczorek-Zeul gesagt hat - daß Sie - das kann ja sein - dort Ihr wahres Programm und Ihre wahre politische Position ausgedrückt haben. Ich überlasse es Ihnen, uns darüber reinen Wein zu geben. Aber eines ist klar: daß wir in dieser europäischen Wahl eine Entscheidung zu treffen haben, welchen Weg die Bürger in Europa eingeschlagen wissen wollen. ({55}) Ich weiß nicht, wie Sie in Zukunft mit dem Widerspruch leben können, in dem Sie sich jetzt befinden. Aber es ist Ihre Aufgabe, ihn zu lösen. ({56}) Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Die politische Einigung Europas angesichts der europäischen Direktwahl mit neuen Initiativen weiterzuführen und das direkt gewählte Europäische Parlament in den Mittelpunkt bei der Lösung dieser für unsere Zukunft entscheidenden Aufgabe zu stellen, ist uns ein vorrangiges Ziel und keine Nebensache. Wir werden uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Die europäische Integration darf nicht zurückgeschraubt werden. Sie muß vielmehr weiterentwickelt werden. Gemeinsam werden wir, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, für diese Aufgabe, aber auch für die Aufgabe der demokratischen Kontrolle der Macht, die heute auf der europäischen Ebene noch nicht ausreichend etabliert ist, kämpfen müssen, damit die getroffenen Maßnahmen und die zu treffenden Entscheidungen für den Bürger transparent sind. Die Kommission muß sich wieder stärker auf ihre im Vertrag vorgezeichnete Funktion und Rolle konzentrieren. Gemeinsam mit Parlament und Ministerrat sollten wir uns dafür einsetzen, die Einigungspolitik voranzubringen. Lassen Sie mich mit einem Wort von Konrad Adenauer schließen: ({57}) Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele, aber sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle. ({58})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Ich darf zwei Vorbemerkungen machen. Die erste hätte ich gerne in Anwesenheit des neugewählten Präsidenten gemacht. Ich hätte ihm gerne auch von dieser Stelle aus meine guten Wünsche ausgesprochen und ihm auch gesagt, daß ich gerne mit Kollegen der anderen Parteien noch einmal darüber nachdenken möchte, ob es eine Möglichkeit gibt, den Vorschlag, den er gemacht hat, zu verwirklichen, daß es auch für Politiker zumindest einmal im Monat ein von der Politik freies Wochenende geben sollte. Wir sind uns sicher einig: bis zum 10. Juni läßt sich das nicht verwirklichen, wie wir gerade eben auch aus der Rede meines Herrn Vorredners haben entnehmen können. Die zweite Vorbemerkung ist folgende: Ich muß, ohne zuviel Zeit darauf zu verwenden, der willkürlichen Geschichtsdeutung meines Herrn Vorredners widersprechen. Ich will das härtere Wort „Geschichtsklitterung" vermeiden. ({0}) Ich sagte: willkürliche Deutung der Geschichte. Wissen Sie, wenn man in Sachen Europa so sehr das Erstgeburtsrecht für sich in Anspruch nimmt, dann muß man sich entgegenhalten lassen: Im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands stand nicht erst nach .dem Zweiten Weltkrieg, sondern stand bereits 1925 im Heidelberger Programm: „Wir sind für die Vereinigten Staaten von Europa." ({1}) Wenn man dem gefolgt wäre, wenn dieser Politik in Deutschland und anderswo gefolgt worden wäre, wäre Europa der Zweite Weltkrieg erspart geblieben. ({2}) Zum anderen: Nicht erst 1925, sondern 1871 ist der Mann, der damals an der Spitze der frühen, jungen kleinen Sozialdemokratie stand, August Bebel, ins Gefängnis gegangen, weil er gegen die Annektion Elsaß-Lothringens war. ({3}) Das war nicht nur der „Traum der wenigen", um auch von mir aus Konrad Adenauer zu zitieren, Herr Klepsch, sondern das war das Leiden der wenigen. Wenn man denen gefolgt wäre, die damals für ihre Überzeugung so eingetreten sind, dann wäre schon der Erste Weltkrieg vermieden worden. ({4}) Wenn es nun um die letzten Jahre geht, verehrter Herr Kollege Kohl, dann habe ich an der Rede des ersten Sprechers der Union in dieser Debatte vor allem folgendes auszusetzen: Er bringt die Bewertung von, wie er sagt, Gipfelkonferenzen - das heißt seit einigen Jahren „Europäischer Rat" -, die Bewertung der Konferenzen der Regierungschefs und des Ministerrats, der Außenminister also, durcheinander und stellt dem keine faire objektive Bewertung des eigenen deutschen Standpunktes in diesen Jahren entgegen. ({5}) Dies halte ich für nicht in Ordnung, zumal nicht, wenn man die Bürger orientieren will, um was es jetzt geht. Wir bestreiten doch nicht, Herr Klepsch, daß sich andere auf ihre Weise bemüht haben, aber die Erweiterung von sechs auf neun ist 1969 unter unserer Verantwortung und durch unser maßgebliches Mitwirken zustande gekommen. ({6}) Was die Bedeutung des 74er Gipfels angeht, den Sie erwähnt haben, so rechne ich es der Bundesregierung hoch an, so maßgeblich daran mitgewirkt zu haben, die Europäische Gemeinschaft nicht scheitern zu lassen; denn diese Gefahr bestand an12516 gesichts der weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich damals auftürmten. ({7}) Ich möchte - das werden Sie verstehen - mich nicht weiter so sehr an die Rede des Kollegen Klepsch anlehnen, sondern mich auf die beiden Drucksachen beziehen, die uns vorliegen. Das ist die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU, und es ist der Bericht der Bundesregierung vom 19. April 1979. In diesem Bericht heißt es in der linken Spalte der ersten Seite - ich zitiere, Herr Präsident, wenn ich das darf -: Die Direktwahlen werden zu der notwendigen Demokratisierung des Europäischen Einigungsprozesses und damit zu neuen Anstößen für das Einigungswerk über eine enge Beteiligung der Bürger führen. Also, ich weiß nicht recht. Wenn man einmal den Zwischenteil des Satzes herausläßt, heißt es: Die Direktwahlen werden zu der notwendigen Demokratisierung führen. Das ist mir zu optimistisch formuliert und zu sehr so, als ob man auf einen Automatismus setzt. Mir würde es schon reichen, wenn wir als Bundestag sagten: Hier geht es um eine neue Chance, nicht um etwas, das jetzt gewährleistet ist. Aber eine Chance ist auch schon etwas, und die darf man sich nicht entgehen lassen. Wenn ich aber den zweiten Teil des Satzes in den Bericht der Regierung einbeziehe, nämlich daß die Direktwahlen - wie es dort heißt - damit zu neuen Anstößen für das Einigungswerk über eine enge Beteiligung der Bürger führen werden, dann soll das wohl heißen: zu neuen Anstößen für das Einigungswerk, damit oder so daß oder indem - ich stelle anheim - die Bürger enger oder stärker beteiligt würden. Ich sage das deshalb, weil der Umgang mit der deutschen Sprache auch in europäischen Zusammenhängen von Belang bleibt. Ich bleibe im übrigen bei meiner Einschätzung - ich deutete es eben an -: Wir haben es mit einer neuen Chance zu tun, daß die Diskussion über die Zukunft Europas, des sich immer noch mühselig, mühsam genug zusammenfindenden Europas, ein Stück weitergeführt werden kann, daß das direkt gewählte Europäische Parlament „zum Sprachrohr für die Vereinigung Europas" werden kann, um aus einem Aufsatz des Fraktionsvorsitzenden der SPD von heute früh zurückzugreifen. Für meine politischen Freunde sage ich folgendes: Wir möchten alles tun, damit die gebotene Chance, die ich nicht überschätzen, aber auch nicht unterschätzen darf, genutzt wird. Wir wollen uns bitte nichts vormachen: Viele in der Bundesrepublik wissen nicht - jedenfalls noch nicht -, worum es am 10. Juni 1979 geht. Manche meinen, sagen einem, schreiben einem, da werde eine überflüssige Institution geschaffen. Manche wissen also gar nicht - woran Herr Klepsch in Übereinstimmung mit uns erinnert hat -, daß es schon ein Europäisches Parlament gibt, wenn auch der Zahl nach halb so groß wie das, was jetzt kommt, und nicht direkt gewählt. Viele unserer Bürger wissen also auch nicht, daß die direkte Wahl zu gegebener Zeit schon in den Römischen Verträgen vorgesehen war. Andere glauben demhingegen, sagen einem in Diskussionen oder schreiben einem, da werde wohl nun eine verfassunggebende Versammlung zusammentreten; die werde wohl nun endlich eine Verfassung für die Europäische Gemeinschaft machen und eine Regierung bilden. Da gebietet es die Ehrlichkeit zu sagen, daß es darum jetzt nicht geht. Darum geht es in der Tat nicht. Wieder andere verwechseln die Europäische Gemeinschaft mit anderen Einrichtungen, mit anderen Organisationen. Die schönen Plakate der CDU mit den Flaggen tragen leider auch nicht zur Aufklärung bei. Die sehen sehr schön aus, mit der deutschen Flagge und mit der blauen Flagge mit den gelben Sternen. Das hat bloß nichts mit der Europäischen Gemeinschaft zu tun, sondern das ist die Flagge des Europarates in Straßburg. ({8}) Bei den so gestalteten Plakaten handelt es sich also gewissermaßen um die Einladung zu einer Feier, die gar nicht stattfindet. ({9}) - Die hat überhaupt nichts mit dem zu tun, worum die Wähler am 10. Juni sich zu äußern gebeten werden. Das wissen Sie ganz genau. ({10}) Wenn Sie daran einen Zweifel aufkommen lassen, so kann ich das nicht ernst nehmen. ({11}) Vor die Alternative gestellt, dem Europäischen Parlament zunächst mehr Rechte zu geben und es in einem zweiten Schritt direkt wählen zu lassen oder erst die Direktwahl durchzuführen und später die Befugnisse zu erweitern, hätte ich mich, wie meine politischen Freunde wissen, wie auch der Bundeskanzler weiß, für die erste Möglichkeit entschieden. Und ich habe mich so verhalten, als ich Regierungsverantwortung trug - übrigens auch gegenüber dem gutgemeinten, aber unsinnigen Vorschlag, den mir das Auswärtige Amt vor knapp zehn Jahren machte, man sollte doch einen Einstieg machen, indem man die Hälfte der Abgeordneten direkt wähle und die andere Hälfte durch die nationalen Parlamente entsenden lasse. Das war gut gemeint, aber es war ein falsches Modell für kleine Schritte. ({12}) Es hat jetzt keinen Sinn, über das Thema, das ich eben anklingen ließ, zu diskutieren. Politik besteht nicht darin, überholten Alternativen nachzujagen, sondern jetzt geht es allenfalls darum, einzuordnen, wie es dazu gekommen ist, daß die ReBrandt gierungschefs im Europäischen Rat, die Vertreter der Regierungen im Europäischen Rat vor drei Jahren - ob sie sich dessen alle ganz bewußt waren oder nicht - gewissermaßen eine Art Flucht nach vorn angetreten haben. Jetzt gilt es - ich sage es als Abgeordneter genauso, wie ich es meine -, die Regierungen beim Wort zu nehmen und den in welchem Land auch immer unnötig Zögernden Beine zu machen. ({13}) Ich glaube, die europäisch Engagierten sollten sich darin einig sein. Dies wird leichter sein, wenn man sich auf ein durch Wahlen erteiltes europäisches Mandat berufen kann. Es geht um den jetzt möglichen Schritt. Es lohnt meiner Meinung nach nicht, darüber zu jammern, daß die europäische Entwicklung langsamer gegangen ist, als viele es sich wünschten und daß sie auch gerade bei uns in Deutschland Enttäuschung mit sich gebracht hat. Es geht jetzt darum, daß nicht wir, wir in der Bundesrepublik Deutschland, Europa enttäuschen, und zwar aus Mangel an Interesse oder aus Mangel aus Einsicht. ({14}) Es gilt, meiner Meinung nach, zu erkennen, daß es doch einen - darf man das große Wort in den Mund nehmen? - historischen Einschnitt bedeuten wird, ({15}) wenn zum erstenmal ein europäisches Organ unmittelbar aus dem souveränen Willen seiner Völker legitimiert wird. ({16}) Die Kraft dieses Organs wird von der Stärke der Legitimation abhängen. Wie groß die Chance der weiteren Entwicklung dieses Teils Europas ist, hängt also entscheidend davon ab, wie groß die Wahlbeteiligung am 10. Juni sein wird. ({17}) Niemand, der zu Hause bleibt, wird hinterher das Recht haben, sich darüber zu beklagen, daß es mit Europa nicht schnell und nicht gut genug vorangehe. Dieses Risiko es ist ein auf Europa bezogenes Risiko - gilt es sich bewußt zu machen, ebenso wie jenes, das sich aus einer bloßen Verlängerung des innenpolitischen Kampfes der Opposition kontra Koalition objektiv ergibt. In einigen europäischen Ländern besteht Wahlpflicht. Ich meine, unsere Bürger, die breiten Schichten unseres Volkes - die Arbeitnehmer, die Frauen, die Rentner, zumal aber die Jungen - sollten es nicht falsch verstehen, wenn ich sage: Es gibt, da es jetzt um Europa geht, bei uns zwar keine in der Verfassung und im Gesetz vorgeschriebene Wahlpflicht, wohl aber eine moralische Wahlpflicht. ({18}) Ich kann mir im übrigen zu eigen machen, was der CDU-Generalsekretär in der vorigen Woche an die Spitzen von ARD und ZDF geschrieben hat und was meiner Meinung nach auch für einen großen Teil der Presse gilt, die auch Herr Klepsch auf seine Art hier angesprochen hat. Ich stimme Herrn Geißler zu, wenn er sagt, daß die Europaberichtserstattung in Hörfunk und Fernsehen anläßlich der bevorstehenden Direktwahl nicht ausreichend sei. Ich stimme ihm zu, wenn er sagt, es bestehe die Gefahr, daß ein großer Teil der deutschen Bevölkerung - ich stelle anheim; Sie wissen, was gemeint ist - die Bedeutung dieser Wahl für die Zukunft unseres Landes noch nicht erkannt hat. Vergleiche, die ich selbst mit dem, wie man so sagt, staatlichen französischen Fernsehen angestellt habe, fallen auf diesem Gebiet nicht zu unseren Gunsten aus. Das staatliche französische Fernsehen tut mehr für eine lebendige Debatte und auch zur Darstellung dessen, was die einen und die zweiten und die dritten und dort auch die vierten zu diesem Vorgang zu sagen haben. Deshalb füge ich nur noch einen Satz hinzu, den hoffentlich die, die es angeht, richtig verstehen: Überheblichkeit ist weder überparteilich noch europäisch. ({19}) Ich sagte, es bedarf der Orientierung der Bürger. Was bedeutet das im Zusammenhang mit den Rechten und Arbeitsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments? Es bedeutet, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, kein Vakuum, keinen Leerraum entstehen zu lassen, sondern die schon durch die Römischen Verträge gegebenen Rechte voll auszuschöpfen und sie so auszubauen, wie es sachlich geboten ist und im wesentlichen einvernehmlich, d. h. nicht durch Kraftakte, erreicht werden kann. In dieser Phase - und ich glaube, dies gilt generell - läßt sich die europäische Einigung nicht durch Kraftakte bewerkstelligen. Es geht vielmehr darum, die parlamentarischen Kontrollrechte auszuschöpfen und verstärkt wahrzunehmen und auch die Haushaltsrechte auszuschöpfen. Darauf, daß das Europäische Parlament inzwischen echte, wenn auch begrenzte Haushaltsrechte hat, weist die Regierung in der Antwort auf die Große Anfrage, Drucksache 8/2787, zutreffend hin. Es bedeutet weiter, sich an deutlichere Initiativrechte heranzuarbeiten, vom Mittel der Hearings auf europäischer Ebene angemessen Gebrauch- zu machen und den Dialog im Rahmen des intergouvernementalen außenpolitischen Zusammenwirkens - die Fachleute nennen dies EPZ; ich sage gleich noch meine Meinung über all diese schrecklichen Abkürzungen - so weiterzuentwickeln und wohl auch zu formalisieren, wie es auf der letzten Seite - es ist die Seite 12 - der Antwort der Regierung auf die Große Anfrage angedeutet wird. Hier kritisiere ich die Regierung nicht, sondern möchte ihr eher Mut machen, sich auf diesem Wege weiter zu bemühen, auch wenn sie sich in einer späteren Debatte in unsachlichen Beiträgen vorhalten lassen muß, sie sei auf diesem Wege noch nicht weit genug gekommen. Wir müssen die Regierung bitten, sich unverdrossen weiter zu bemühen. Es liegt in der Logik der Dinge, daß im Laufe der Zeit - aber sicher noch nicht in den ersten fünf Jahren, für die jetzt gewählt wird - aus dem Europäischen Parlament eines der beiden Organe werden wird, in denen und zwischen denen über europäische gemeinschaftliche Gesetze entschieden werden wird. ({20}) Aber die Ehrlichkeit den Wählern gegenüber gebietet, gleich hinzuzufügen, daß dieses - ich sagte es eben - länger dauern wird als eine fünfjährige Amtsperiode. Es wird - ich habe selber mal früher etwas anderes geglaubt - noch keine Konstituante geben, keine verfassungshemmende Versammlung. Und es wird, wo es um für vital gehaltene Fragen geht, ob es uns paßt oder nicht, weiter nur durch Konsens durch das Sich-Herausarbeiten an gemeinschaftliche oder gemeinsame Standpunkte ernsthaft vorangehen. ({21}) Absurd muß es andererseits erscheinen, wenn man in einigen Kreisen von Regierenden - ich sage jetzt nicht die Länder - meint, ein direkt gewähltes Parlament könne von der Entscheidung über seine eigenen Arbeitsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Das ist grotesk. Das wird sich ein direkt gewähltes Parlament nicht gefallen lassen. ({22}) Aber auch hierbei darf niemand überfahren werden, und schon gar nicht der Kleinste und Schwächste. ({23}) Doch darf das Herumfahren nicht zu dem Mißverständnis führen, bei den Europa-Parlamentariern handle es sich um eine neue Art von Wanderarbeitern. Ich will den häßlicheren Ausdruck, der auch mit „Wander" beginnt, nicht in diese Debatte einführen. Besondere Bedeutung kann das Europäische Parlament schon in den nächsten Jahren dann erlangen, wenn es zum Forum für eine neue europäische Bewußtseinsbildung wird ({24}) und wenn über die gemeinsamen Aufgaben der vor uns liegenden Jahre, der 80er Jahre, so gesprochen und um sie so gerungen wird, daß es in der öffentlichen Meinung der europäischen Völker Spuren hinterläßt. Ich denke an den doch sehr nachdenklichen Satz, den der Bruder des Kollegen von Weizsäcker neulich in einem Brief festgehalten hat, der lautete: „Ich erwarte für die 80er Jahre schwere Krisen in der Welt und daher unserer Nation." Über mehrere Jahrzehnte sind die europäischen Einigungsbemühungen durch die fast ideologisch geführte Diskussion des Begriffs „Integration" belastet worden. Dabei hat es ein gerütteltes Maß von Wunschdenken gegeben und auch ein gerütteltes Maß an Unaufrichtigkeit, gerade auch in unserem Land. Denn hinter dem breiten Rücken des schon erwähnten französischen Staatspräsidenten General de Gaulle ließ sich trefflich über politische. Modellvorstellungen reden, deren Verwirklichungschancen gleich Null waren. Unsere Zeit ist nüchterner geworden. Nüchterheit, solange sie nicht in Resignation umschlägt, schadet der europäischen Sache nicht, sondern kann ihr nützen, kann ihr helfen. ({25}) Ich hielte es im übrigen für gut, wenn wir - dazu ist in der ersten Rede in dieser Debatte ja auch nicht eingeladen worden - auf neue Schlachten um den Begriff der Integration verzichteten. Überhaupt sollten wir uns bei der Benutzung einer Buchstaben- und Fachsprache, die für den Bürger immer weniger Sinn ergibt, mehr Zurückhaltung auferlegen. ({26}) EWS und EPZ, Lomé und UNCTAD, ({27}) MBFR und KSZE ({28}) - ich möchte das jetzt zu Ende führen -, viele Bürger können damit überhaupt nichts anfangen. ({29}) Wir Politiker sollten nicht den Eindruck aufkommen lassen, als bäten wir um Zustimmung zu etwas, zu dessen vernünftiger Erklärung und Erläuterung wir entweder nicht fähig oder nicht willens sind. ({30}) Wenn ich es richtig sehe, stimmen wir bei allen sonstigen Unterschieden in diesem Haus im wesentlichen darin überein, daß jeder Versuch, die spezifischen historischen Traditionen unserer europäischen Völker zu mißachten und ein Europa zu errichten, in dem die Nationen ihre Identität verlören, zum Scheitern verurteilt wäre. Wir wollen - man kennt mich in Amerika gut genug, daß ich dies sagen kann - aus Europa keine schlechte Kopie der Vereinigten Staaten von Amerika machen. ({31}) Nicht der große, alles vermengende Schmelztiegel kann unser Ziel sein, sondern unser Ziel sollte sein das enge Zusammenwirken der den Menschen vertrauten Kulturen, Nationen und Regionen. ({32}) Aber es wird sich meiner Meinung nach zunehmend zeigen, daß auch für Gigantomanie in Europa in Wirklichkeit nicht oder nicht mehr Platz ist, und daß es nicht der Europa gemäße Weg für die Zukunft sein kann, den USA, auf das Materielle konzentriert, bloß nachzueifern, wie das übrigens bei kommunistischen Staaten besonders ausgeprägt ist: auch so schöne große Häuser, auch so viele Autos, auch so viel Energievergeudung haben zu wollen. ({33}) Wir deutschen Sozialdemokraten verstehen unsere Mitarbeit im künftigen, direkt gewählten Europäischen Parlament selbstverständlich auch als Auftrag, dort die besonderen deutschen Interessen zu vertreten, wo wir dies für richtig halten, so wie wir deutsche Interessen verstehen und wie wir sie interpretieren. Die Repräsentanten unserer Nachbarn werden es daran ihrerseits nicht fehlen lass en. Die Dänen sind zitiert worden. Natürlich werden diese - das gilt für die Kleineren natürlich etwas stärker als für die Größeren, von den Konservativen bis zu den Sozis, und wenn ein Kommunist gewählt wird, gilt es für ihn auch - zusammenhocken, wenn sie bestimmte dänische Interessen wahrnehmen wollen. Die Franzosen hocken alle zusammen, wenn sie französische Landwirtschaftsinteressen wahrnehmen wollen. Wir wollen dem nicht einfach nacheifern. Aber es ist keine Sünde wider den europäischen Geist, berechtigte deutsche Interessen geltend zu machen. ({34}) Für mich versteht es sich dabei von selbst, daß wir uns immer zu bemühen haben, zu einem Ausgleich der Interessen zwischen den europäischen Nachbarn zu kommen, jedenfalls dazu beizutragen, soweit uns das möglich ist. So wird den spezifischen Problemen im leider immer noch ärmeren Süden Europas auch weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Übrigens bei der Gelegenheit: Europa beginnt jetzt zu Hause. Ich habe nicht ohne Grund in diesen Tagen, also soviel über das Grundgesetz gesprochen wurde, daran erinnert, daß mehr als ein Artikel aus dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes auch für die europäischen und überhaupt für die ausländischen Arbeitnehmer und für ihre Familien und ihre Kinder Geltung haben, die hier unter uns leben, ({35}) und daß man ihnen, den Ausländern, auch nicht zu nahe tritt, wenn man in aller Offenheit sagt: Freizügigkeit möchten wir in Zukunft gern noch mehr haben, im übrigen muß europäische Politik aber in den 80er Jahren bewußt dorthin gehen, daß Arbeit zu den Menschen kommt und nicht Menschen über einen Kontinent hinweg der Arbeit nachlaufen müssen. ({36}) Im Ineinandergreifen beider politischer Funktionen, also der Wahrnehmung eigener Interessen und des Arbeitens an gemeinsamen europäischen Interessen, liegt nach meinem Verständnis der spezifische Auftrag an den künftigen Europaparlamentarier, wenn wir jenseits von bürokratischen Langeweilern und angeblichen ökonomischen Sachzwängen ein Europa von Bürgern für Bürger, von Menschen für Menschen wollen. ({37}) Ein Europa der Zukunft muß natürlich auch ein soziales Europa sein. ({38}) Dieses Ziel lohnt sich zum Nachdenken und auch für die lebendige Auseinandersetzung zwischen uns dort und hier. Also, so meine ich, muß jeder nüchterne Beobachter der Vorgänge in unserem Lande manche jener Argumente als vordergründig empfinden, mit denen aus den Unionsparteien auf Stimmensuche im Europawahlkampf gegangen wird. Als ob das Aufwärmen der Parolen aus dem Jahre 1976, die schon damals ihre Wirkung - jedenfalls hinreichend - verfehlten, dem Charakter einer ersten europäischen Direktwahl gerecht werden könnte! ({39}) Ich empfehle den Kollegen das Buch eines der besten französischen Denker unserer Zeit; ich kann mich um so eher auf ihn berufen, als er kein Sozialist ist. Raymond Aron macht in seinem letzten Buch darauf aufmerksam, daß Wirklichkeitsverlust die eigentliche Krankheit Westeuropas sei. Dies gilt auch für manches, worum in der Bundesrepublik vordergründig gestritten wird. ({40}) Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen, verehrte Kollegen von der Union, Ihre Freunde z. B. in Belgien, in Holland oder auch in Italien wirklich glauben - uns sagen sie nämlich etwas anderes -, wenn Sie behaupten oder behaupten lassen, daß ausgerechnet die deutschen Sozialdemokraten Europa mit einem freiheitsfeindlichen Geist überziehen wollen. Das glauben sie doch alle nicht. ({41}) Die sagen uns dazu zu Recht etwas anderes. Die deutsche Geschichte zeugt, wie ich einleitend sagte, vom Gegenteil. Verfälschung von erwiesenem Freiheitswillen und Mißachtung der Opfer im Kampf gegen Unfreiheit sind der Sache nicht dienlich, unserem Land in Europa nicht würdig und im übrigen kein guter Dienst für diejenigen selbst, die entlang der aufgezeigten Linie argumentieren. Wer die programmatischen Aussagen der von Ihnen erwähnten sogenannten Europäischen Volkspartei nachliest - ich habe es natürlich getan, Herr Klepsch; Sie haben das hier eingeführt -, der sieht, daß es Ihren politischen Freunden um ganz andere, zum Teil durchaus vernünftige politische Ziele bei dieser Wahl geht. Hier ließe sich auch manches gemeinsam machen. Viele von Ihnen wissen das ganz genau und wollen es nur für den Hausgebrauch ein wenig verstecken, um ja nicht von dem Geist der Konfrontation herunter zu müssen, der inzwischen manchen - ich fürchte: allzu vielen - liebgeworden zu sein scheint. ({42}) Ich möchte unterstreichen: Die Vielfalt Europas, seiner Völker und ihrer Tradition, sein Reichtum an Ideen und Strömungen, dies alles muß zusammengeführt werden. Es ist kein europäisches, sondern ein chinesisches Wort, aber trotzdem ein auf Europa anzuwendendes: Laßt viele Blumen blühen! Dieses Wort gilt gerade für Europa. Unser Kontinent läßt sich nicht über einen Einheitsleisten schlagen - und wenn Sie es genau wissen wollen: weder über einen christdemokratischen noch über einen sozialistischen. Dies sage ich auch meinen Freunden in anderen Ländern und habe deswegen zuweilen Streit mit ihnen. ({43}) Wer Europa über einen Einheitsleisten schlagen will, der schadet der europäischen Idee. Und wer Spaltertendenzen aus der Bundesrepublik nach Europa tragen will - von uns aus -, der schadet nicht nur Europa, sondern auch dem deutschen Namen in Europa. ({44}) Auch wenn die Unionsparteien das nicht wollen - und ich unterstelle, sie wollen es nicht -: Die Resonanz ihres Europawahlkampfes ist nicht europäisch und dient auch nicht der deutschen Sache in Europa. ({45}) Im übrigen, wer sich nur noch im Kampf gegen die Koalition, die diese Regierung trägt, einig ist, der übertreibt ja auch ein bißchen, wenn er sich noch „Union" nennt. Für die Bundesrepublik mag das gerade noch ausreichen, für Europa ist es ungenügend. Ich habe eben auf dieses Programm der EVP Bezug genommen. Nun sagen Sie: Aber die Sozialisten, die bösen Sozialisten, was die in anderen Ländern machen! ({46}) - Gut, Sie haben nicht „die bösen" gesagt, sondern nur gemeint; ({47}) ich weiß das wohl zu schätzen. - Aber, Herr Kollege Klepsch, das verdiente doch - wenn ich die Zeit hätte, die ich jetzt nicht habe -, ernsthaft sehr differenziert zu werden. Sie können hier nicht guten Gewissens behaupten, daß Felipe Gonzalez in Spanien und der neue Oberbürgermeister von Madrid, Tierno Galvan, nicht überzeugte Europäer wären; die haben deswegen sogar schon gelitten, als noch andere an der Macht gewesen sind. ({48}) Das können Sie doch nicht bestreiten! Sie können mir doch andererseits nicht die PASOK in Griechenland anrechnen. Ich rechne Ihnen doch auch nicht eine Partei in einem südamerikanischen Land an, die dort für faschistisch gehalten wird und sich „christdemokratisch" nennt. ({49}) - Ich bleibe in Europa. Die PASOK ist Mitglied weder der Sozialistischen Internationale ({50}) noch des Bundes der Sozialdemokratischen Parteien in der Gemeinschaft. Im übrigen hat Herr Papandreou, an den Sie sich dann wenden müßten - aber er kann hier nicht antworten -, gesagt, er strebe für sein Land eine norwegische Lösung an. Das muß man als einen Standpunkt gelten lassen. ({51}) Oder nehmen Sie Frankreich. Was soll es denn, hier an diesem heutigen Tage ein völlig falsches Bild zu malen? In Wirklichkeit ist es so: Der große Teil der französischen Sozialisten steht in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten und verteidigt Deutschland gegen das Wiederaufleben antideutscher Ressentiments, ({52}) die dort durch Kommunisten und Gaullisten gleichermaßen gepflegt werden. Was in der Mitte die Giscardisten - mit einem kleinen Einsprengsel von Christdemokraten - tun, das tut der große Teil der demokratischen Sozialisten dieses unseres wichtigsten Nachbarlandes. Ich bin mit denen nicht in jeder Frage einer Meinung, die sind untereinander unterschiedlicher Meinung, aber was soll diese schematische, völlig fehlgezeichnete Darstellung der französischen Lage im Deutschen Bundestag? ({53})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Brandt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klepsch?

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Bitte sehr.

Dr. Egon Alfred Klepsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001127, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brandt, welche christdemokratische Schwesterpartei Lateinamerikas haben Sie denn vorhin mit Ihren Ausführungen gemeint?

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin durch die Zwischenrufe aus Ihren Reihen dahin belehrt worden, daß Sie nicht über anderes als Europa zu diskutieren wünschten; deshalb beantworte ich jetzt auch nicht diese Frage. ({0}) - Sie haben mir gesagt, ich soll bei Europa bleiben, und das habe ich dann getan. ({1}) Meine Damen und Herren, Sie haben dann die Frage eingeführt, was wohl Spitzenvertreter der Sozialdemokraten im Europaparlament machten. Verlassen Sie sich darauf: Von mir werden Sie dort noch hören. Fraktionsvorsitzende und Parteivorsitzende pflegen auch im Bundestag nicht, jedenfalls nicht regelmäßig, an Ausschußsitzungen teilzunehmen. Mich im Politischen Ausschuß zu beteiligen, wenn es erforderlich ist, behalte ich mir auch dort vor. Ansonsten werde ich im Plenum und in meiner Fraktion mitwirken. Wenn Sie die Gewerkschaftsführer gemeint haben, sage ich Ihnen hier in aller Deutlichkeit: Heinz-Oskar Vetter und Eugen Loderer für die Metaller und Karl Hauenschild für die Chemiearbeiter und -angestellten werden die Sache der breiten Schichten unseres Volkes im Europaparlament besser vertreten können als mancher, der stark in der Vergangenheit verhaftet ist. ({2}) Meine Damen und Herren, das Europäische Parlament muß vor allem anderen die Jugend unserer Länder für sich gewinnen. Es darf nicht zu einer weiteren versteiften Institution werden, von der diejenigen, um deren konkrete Zukunft es geht, den Eindruck haben, ihre Fragen fielen unter den Tisch und ihre Belange würden nicht berücksichtigt. Wir werden also - jeder auf seine Weise - uns alle Mühe geben müssen, die Jungen davon zu überzeugen, daß wir uns mit dem gebotenen Nachdruck um jene Probleme kümmern, die sie unmittelbar berühren und die Welt von morgen bestimmen werden. Ich weiß, es gibt viel Resignation unter den heute Jungen. Gestern hat mich der Ausdruck erschrocken, den ich in einem sehr ernsthaften Brief eines jungen Wählers aus der Frankfurter Gegend fand. Da stand das Wort von der Staatsangst. Das hat mich tief erschrocken. Aber es trifft sich dann mit dem Unbehagen, der Unsicherheit, der Angst über die stetig wachsenden Datenbanken. Darin steckt die Frage: Wird es menschlichen Fortschritt geben? Das sind doch alles europäische und nicht mehr nur deutsche Probleme. ({3}) Wir werden uns auch darum zu kümmern -haben, daß die Freizügigkeit dadurch weiter gestärkt werden kann, daß Ausbildungsgänge und Examina in unserem Europa einander rascher und effektiver angeglichen werden. ({4}) Der Schutz der Umwelt - das sage ich auch den Jungen - muß auf ein hohes gemeinsames Niveau gebracht werden. ({5}) Wir dürfen das unsere unter Berufung auf Europa nicht herunterdrücken lassen. Hier wie anderswo darf es nicht zu einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner kommen. Bei dieser Gelegenheit kann ich nur mit dem Blick auf den 10. Juni davor warnen, seine Stimme zu verschenken, indem man sie einer Grünen Liste gibt. ({6}) Man muß diejenigen stützen, die sich um diese Fragen auf jener europäischen Ebene wirklich werden kümmern können. Energiesicherung für Europa, ({7}) das gemeinsame Angehen der Sicherheitsprobleme, wo es um Energie geht, ({8}) und, meine Damen und Herren, den Jungen klarmachen: Wir wollen; daß Europa im guten Sinne des Wortes eine große Macht, ja ich sag das Wort - Großmacht des Friedens und des Ausgleichs in der Welt wird. ({9}) Das gilt nicht nur auf die erschreckende Rüstungsproblematik bezogen. Es gilt ebenso auf das NordSüd-Verhältnis bezogen und auf eine, auch wenn es noch so schwierig ist, künftige Verklammerung von Rüstungskontrollfragen und Ausgleichsfragen zwischen Nord und Süd. Die europäischen Gemeinschaften werden auch an der Rolle gemessen werden, die sie spielen, um in diesem Jahrhundert noch - das ist möglich - den Hunger auf der Welt zu besiegen ({10}) und durch raschere Entwicklung in anderen Teilen der Welt auch bei uns die Arbeitsplätze der heute Jungen und deren Kinder zu sichern. Diesen Themen gilt es in Wirklichkeit. Das neue Europäische Parlament wird daran gemessen werden, wie rasch es hierbei seine besondere Verantwortung erkennt und wie gut es im Laufe der Jahre gelingt, dieser Verantwortung gerecht zu werden. ({11})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Beratung der verbundenen Tagesordnungspunkte 4 bis 7. Wir treten in die Mittagspause ein. Wir beginnen wieder um 14 Uhr. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr - Drucksache 8/2899 Berichterstatter: Senator Willms. Das Wort hat Herr Senator Willms. Senator Willms ({1}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat am 29. März 1979 das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr beschlossen. Der Bundesrat hat Senator Willms ({2}) dazu am 11. Mai dieses Jahres die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt. Dieser hat sich dann am 28. Mai mit den einzelnen Anrufungsbegehren befaßt. Für den Vermittlungsausschuß erstatte ich Ihnen dazu folgenden Bericht: Der Bundesrat wünschte eine Gesetzesänderung zu drei Komplexen. Der erste Bereich betrifft die Definition des Nahverkehrs. In § 59 des Schwerbeschädigtengesetzes ist der Begriff des Nah- und Fernverkehrs neu definiert. Nahverkehr ist danach u. a. die Fahrt mit der Deutschen Bundesbahn in der zweiten Wagenklasse im Umkreis von 50 Kilometern vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Schwerbehinderten. Der Bundesrat hielt es für erforderlich, diese Beschränkung der unentgeltlichen Beförderung auf einen 50-Kilometer-Radius zu streichen, da sie zu einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand führt. In jedem Einzelfall wäre nämlich bei der Ausweisausstellung der Umkreis von 50 Kilometern um den Wohnort festzustellen und im Ausweis in geeigneter Form kenntlich zu machen. Der zweite und dritte Komplex der Anrufungsbegehren betreffen Kostenregelungen. Zum einen war vorgesehen, daß der Bund die Aufwendungen für die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr derjenigen Schwerbehinderten trägt, die wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 % Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach anderen Bundesgesetzen - in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes - haben. Für alle übrigen Personengruppen sollten die Länder die Aufwendungen tragen, auch dann, wenn die unentgeltliche Beförderung durch Bundesunternehmen wie Bundesbahn und Bundespost erfolgt. Der Bundesrat vertrat demgegenüber die Auffassung, daß Kosten, die den Unternehmen entstehen, die dem Bund gehören oder sich mehrheitlich in seiner Hand befinden, auch vom Bund zu tragen sind. Letztlich sollten die Länder nach dem Gesetzesbeschluß die Aufwendungen für die unentgeltliche Beförderung der nicht in § 63 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Schwerbeschädigtengesetz genannten Personen tragen. Für diesen Personenkreis wünschte der Bundesrat ein Kostensplitting. Nach seinen Vorstellungen sollten der Bund 40 % und die Länder 60 % der entstehenden Kosten übernehmen. Der Vermittlungsausschuß hat lediglich jenem Anrufungsbegehren des Bundesrats Rechnung getragen, das die Übernahme der Kosten durch den Bund für Unternehmen, die ihm gehören oder sich mehrheitlich in seiner Hand befinden, vorsieht. Hier ist der Vermittlungsausschuß den Vorstellungen des Bundesrats einmütig gefolgt. Die übrigen Begehren - von der Nahverkehrsgrenze bis zur Kostenteilung - sind vom Vermittlungsausschuß nicht aufgenommen worden. Das Ergebnis des Vermittlungsausschusses liegt Ihnen auf der Drucksache 8/2899 mit allen Folgeänderungen vor. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Vorschlag des Vermittlungsausschusses. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wird das Wort zur Abgabe von Erklärungen gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die vorliegenden Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf der Drucksache 8/2899 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Nun kommen wir zu der verbundenen Debatte über die Tagesordnungspunkte 4 bis 7 zurück. Das Wort wünscht der Herr Abgeordnete Dr. Bangemann.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sollten an den Anfang dieser Debatte etwas ganz Positives stellen: Diese Direktwahl ist ohne Wenn und Aber ein erheblicher Fortschritt in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft. ({0}) Sie mag spät kommen. Sie kommt nicht zu spät. Wir alle, die wir diesen Wahlkampf bisher bestritten haben, haben ja gemerkt, wie sehr die Möglichkeit gefehlt hat, sich über europäische Probleme mit den Wählern selbst ganz unmittelbar auseinanderzusetzen. Auch die Tatsache, daß alle Parteien die Notwendigkeit gesehen haben, sich europäisch zu organisieren und den Versuch zu machen, gemeinsame Plattformen zu erarbeiten, bedeutet einen solchen Schritt nach Europa. Daß, Herr Kollege Klepsch, diese Bundesregierung und vor allen Dingen der Ihnen gegenüber sitzende Außenminister dazu einen ganz erheblichen Teil beigetragen haben, haben Sie nur zart angedeutet - was ich Ihnen nicht übelnehme. Das möchte ich jetzt etwas dicker und breiter ausmalen, damit Sie die Gelegenheit haben, wenigstens durch Zustimmung zu dem, was ich sage, den Dank der Opposition an diese Bundesregierung abzustatten. ({1}) Der Außenminister hat sich in einer ganz entscheidenden Phase der Verhandlungen im Minsterrat, als es z. B. um die Zahl der Sitze ging, so intensiv und in einem so konstruktiven Sinn in die Verhandlungen eingeschaltet, daß man wirklich sagen kann: Ohne die Bemühungen des Außenministers und der Bundesregierung wären wir heute nicht da, wo wir sind. Das sollte man vielleicht zunächst einmal sagen. Ich gebe zu, daß es eine Reihe von Problemen gibt, die wir noch bewältigen müssen. Eines der Probleme ist die tiefe Unkenntnis über die Europäische Gemeinschaft. Ich denke mit Schrecken an eine Podiumsdiskussion, die ich vor wenigen Tagen unter großer Beteiligung der Bevölkerung mit drei Chefredakteuren von bedeutenden deutschen Zeitungen zu bestehen hatte, die ich hier nicht namentlich nennen will, um sie nicht nachträglich in Verlegenheit zu setzen. Das Maß der Unkenntnis bei mindestens zwei dieser Herren über die Europäische Gemeinschaft und über das Europäische Parlament und seine Kompetenzen war so groß, daß wir erst nach drei Stunden die Herren mühsam davon überzeugen konnten, daß wir ein Parlament wählen, das wenigstens schon Budgetrechte und einigermaßen Kontrollrechte hat. Das wußten die nicht. ({2}) Die glaubten das nicht mal, als wir ihnen das erzählt haben. Wie soll man da erwarten, daß der Bürger von den Vorurteilen loskommt, die ganz sicher uns allen zu schaffen gemacht haben? In diesem Wahlkampf könnte ich mir ein vernünftiges Argument für die Wahlbeteiligung nicht vorstellen, wenn man vor. den Bürger treten und ihm sagen müßte: Nun wählt mal das Parlament; es hat zwar nichts zu sagen; aber wenn wir gewählt sind, werden wir schon ein bißchen zu sagen bekommen. - Gott sei Dank ist es nicht so. Wir brauchen auch gar nicht die Debatte neu aufzunehmen, die der Kollege Brandt hier noch einmal zitiert hat: ob man erst dem Parlament Kompetenzen geben und es danach wählen soll, oder umgekehrt. Meine Damen und Herren! Dieses Parlament muß dringend gewählt werden. Es hat schon soviel Kompetenzen, daß ich mich als Demokrat in diesem Parlament unwohl fühle, wenn ich bedenke, was ich dort alles unkontrolliert durch die Öffentlichkeit machen kann. Wir sind weit über diese Debatte hinaus, und wir sollten uns deshalb bemühen, sicher mit Realismus, sicher nicht mit übertriebenen Hoffnungen, nicht mit Illusionen, die wir neu nähren, aber doch mit einem guten Schuß Optimismus an die Sachen heranzugehen. Es hat keinen Sinn, wenn wir selbst uns kleinmütig an die Aufgabe machen, die Vorurteile zu bekämpfen, die Unkenntnis zu beheben. Dann werden wir es nie schaffen. Es gibt ja auch bei uns eine Menge Vorurteile gegenüber der Gemeinschaft. Wie sieht der kleine deutsche Moritz die Europäische Gemeinschaft? Die Italiener tanzen und singen, die Franzosen essen gut und trinken auch nicht schlecht, die Engländer streiken dauernd und die Deutschen arbeiten sich zu Tode und bezahlen das alles. So ungefähr tönt es einem ja in diesem Wahlkampf entgegen. Die Wahrheit ist gerade umgekehrt. Ich meine, man sollte unseren Bürgern einmal sagen ({3}) - Herr Seefeld, ich will Sie nicht genau betrachten und will Sie jetzt nicht in die Kategorien des guten Essens, des Trinkens und Singens und des Streikens einordnen. Wenn ich mir Ihr Kölner Programm ansehe, dann werden Sie wahrscheinlich in die dritte Kategorie einzuordnen sein. ({4}) Ich möchte hier den Versuch machen, unserer deutschen Öffentlichkeit zu sagen, welchen wirtschaftlichen Vorteil diese Gemeinschaft für uns schon gebracht hat. Als wir 1958 anfingen, gingen 25 Prozent des deutschen Exports in die Länder der Gemeinschaft, heute sind es über 50 Prozent. Jeder achte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik hängt davon ab, daß wir diese wirtschaftliche Zusammenarbeit ausbauen. Wir sind das Land, das am stärksten von dieser Gemeinschaft profitiert. Man kann nicht nur die Kassenbewegungen anschauen. Gut, da zahlen wir pro Jahr mehr hinein, als wir herausbekommen. Aber der Saldo, der sich aus dieser Handelsbilanz ergibt, ist Jahr für Jahr beträchtlich größer als das, was wir an direkten Beiträgen in diese Kasse einzahlen. Ich meine, daß wir das zunächst einmal schlicht zur Kenntnis nehmen sollten. Das ist aber nicht alles, was man zu dieser Gemeinschaft sagen darf, denn ich bin mir völlig darüber im klaren, daß diese Gemeinschaft zum Teil auch darunter leidet, daß sie nur ein erfolgreiches wirtschaftliches Unternehmen ist. Es gibt ja sogar Kritiker, die ihr das vorwerfen. Sie sagen, das sei eine Gemeinschaft der Händler geworden, eine Gemeinschaft von Leuten, die nur an ihrem Profit orientiert seien. Das sei eine Gemeinschaft, die im Grunde genommen am Verbraucher und seinem Interesse vorübergehe. Deswegen brauchen wir zusätzliche Argumente. Diese Gemeinschaft muß eine Reihe von anderen Rechtfertigungen haben. Sie darf sich nicht nur darauf beschränken, wirtschaftlich dazu beizutragen, daß die Dinge besser laufen, als sie laufen würden, wenn jeder für sich allein wirtschaften würde. Ich möchte dazu noch einiges sagen. Aber lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung machen. Die eine bezieht sich auf die Wirtschafts- und Währungsunion, die andere auf den Agrarmarkt. - Ich wußte, daß Herr Kollege Früh jetzt umkehren und wieder zurückkommen würde. Deswegen habe ich das etwas lauter gesagt. ({5}) Die Wirtschafts- und Währungsunion, meine Damen und Herren, ist ganz sicher nicht zu erreichen, wenn man ein großes Gemälde malt, das ganz perfekt ist und Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund mit Nuancen hat und in jedem einzelnen Detail ausgearbeitet ist. So habe ich manchmal die Beiträge der Kollegen hier heute morgen verstanden. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich sie mißverstanden. Kollege Klepsch jedenfalls meinte, davon sei man ja noch weit entfernt. Das ist natürlich richtig. Aber wir werden ein solches Gemälde nicht fix und fertig auf den Tisch des Hauses geliefert bekommen, sondern wir müssen irgendwo anfangen. Ich empfehle dem Kollegen Klepsch, wenn er im Wahlkampf noch Zeit hat, einen Autor zu lesen, der Schweizer ist und deswegen vielleicht völlig unparteiisch etwas zu dieser Veranstaltung sagen kann. Außerdem hat er lange vor der Europäischen Gemeinschaft gelebt, nämlich Ludwig Hohl. Dieser Mann hat einen bemerkenswerten Satz unter vielen anderen geschrieben, der lautete: Es gibt gar keinen Anfang, man muß anfangen. -Und so ist es mit der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben angefangen. Schon allein die gemeinsame Wirtschaftsordnung, die wir durch den freien und ungehinderten Markt in der Gemeinschaft hergestellt haben, ist ein Moment der Dynamik. Alles was wir jetzt noch hinzugefügt haben - Verbraucherschutz, die Wettbewerbsregeln, eine Sozial- und Regionalpolitik und zunehmend auch die Steuerharmonisierung -, ergibt sich ja aus dem offenen System dieses freien Marktes. Weil die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen keine abgeschlossene Aufgabe ist, sondern im Grunde genommen ein Band, das sich immer ohne Ende durch alle Politiken hindurchzieht, haben wir schon einen Anfang gemacht, den wir nur noch fortsetzen müssen. Das gilt vor allen Dingen auch für das Europäische Währungssystem. Natürlich gehört eine gemeinsame Währung zu dieser Wirtschafts- und Währungsunion. Ich glaube, daß das Europäische Währungssystem, das übrigens seine ersten Monate erheblich besser überstanden hat, als das manche Kritiker angenommen haben, einen wichtigen ersten Schritt in diese Richtung darstellt. Das war eine Position, die die Bundesregierung beharrlich vertreten hat, und zwar nicht nur nach außen, sondern im wesentlichen auch gegen Kritiker nach innen. Ich kann mich an die Debatte erinnern, in der gerade aus der Fraktion der Christlichen Demokraten Bedenken laut wurden, es handle sich doch wohl um eine Regelung, die entweder nicht funktionieren könne, oder, wenn sie funktioniere, verhängnisvolle Folgen für die Währungsstabilität hätte. In diesen schwarzen Befürchtungen sind Sie, Gott sei Dank, enttäuscht worden. Sie müßten eigentlich sagen, daß sich das, was wir bisher erlebt haben, durchaus bewährt hat. Ich verstehe manchmal überhaupt nicht ganz, nach welchen Kriterien Sie Ihre Entscheidungen treffen. Beispielsweise hat sich der Kollege Klepsch mit den anderen Kollegen von der CD-Fraktion, die vor mir sitzen, immer vehement dafür eingesetzt, daß wir die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie verabschieden. Wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, haben Sie sogar die Bundesregierung im Europäischen Parlament dafür getadelt, daß sie da gesäumt hätte. Als wir vor kurzem im Plenum einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht hatten, waren Sie plötzlich gegen diese Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie und die sie begleitenden nationalen Rechtsvorschriften. Aber lassen wir das. Es geht, glaube ich, nicht um diese kleinen Dinge; es geht mehr um die großen Dinge. Damit bin ich bei den Agrarüberschüssen. Meine Damen und Herren, diese Agrarpolitik ist im Kern nicht falsch; ({6}) denn wir müssen eines sagen: Wir dürfen uns auf einem so wichtigen Gebiet wie dem der Ernährung nicht hundertprozentig auf Einfuhren verlassen. Es wäre verhängnisvoll, wenn sich die Gemeinschaft völlig dem Weltmarkt öffnete und wir auf diese Weise in sehr hohem Maße, vielleicht zu 100 %, von Einfuhren abhängig würden; denn das würde uns mit Sicherheit in Situationen führen, die wir politisch nicht bestehen könnten. Genauso sicher ist aber auch, daß eine Erzeugung, die über den Bedarf hinausgeht, unsinnig ist. Wir müssen deshalb einen entschiedenen Versuch machen, diese Agrarüberschüsse zu vermeiden; denn sie sind eines der großen Argumente der Bevölkerung gegen die Gemeinschaft. Niemand versteht, daß Obst oder Gemüse vernichtet werden müssen, niemand versteht, daß die Kosten für die Lagerung von Butter genauso hoch sind wie die Kosten für die europäische Forschungspolitik. Deswegen begrüße ich ganz ausdrücklich das, was das Ernährungsministerium für den Bereich des Milchmarktes vorgeschlagen hat. Die Kommission geht auch in diese Richtung. Man will durch eine Heranziehung der Erzeuger immer dann, wenn sie über diesen Bedarf hinaus produzieren, dazu beitragen, eine solche Überschußproduktion zu vermeiden. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Das liegt übrigens auch im Interesse der Landwirtschaft, weil wir im Grunde genommen an der Grenze des Finanzierbaren angekommen sind. Wie bekannt ist, gehen von den 40 Milliarden, die der Haushalt heute umfaßt, 70 % in den Bereich Landwirtschaftspolitik. ({7}) - Das ist ein falscher Vergleich - ich weiß -, weil sich die übrigen Politiken nicht so entwickelt haben. Dennoch: bis jetzt haben wir eine Finanzmarge von 1 % des Aufkommens der Mehrwertsteuer. Mit dem letztjährigen Haushalt haben wir bereits 0,7 % des Mehrwertsteueraufkommens erschöpft. Wenn wir das Abkommen von Lomé nur in dem Umfang budgetisieren, in dem wir bisher Zahlungen zugestanden haben, geraten wir nahe an die Grenze des einen Prozents. Schon mit der normalen Steigerung des Haushalts würden wir diese Grenze überschreiten. Deswegen müssen wir etwas machen. Wir müssen uns dieses Problems auch deswegen annehmen, weil es sonst in der Gemeinschaft zu einem Ungleichgewicht käme, das wir nicht hinnehmen können. Es ist einfach nicht gut, daß die reicheren Länder gegenüber den ärmeren Ländern im Zusammenhang mit den Mitteln für den Agrarmarkt bevorzugt werden. Das Ungleichgewicht wird noch dadurch größer, daß jetzt Spanien, Griechenland und Portugal hinzukommen. Wir können es doch nicht einfach so machen, daß wir versuchen, dieses Ungleichgewicht durch eine AufstokDeutscher Bundestag 8. Wahlperiode Dr. Bangemann kung der Zuwendungen aus dem Regionalfonds zu beheben. In Wahrheit müssen wir bei der Agrarpolitik selbst ansetzen. Wie kann man das erreichen? Kann man da dem Ministerrat, der Bundesregierung oder dem Europäischen Rat einen Vorwurf machen? Damit bin ich bei den institutionellen Problemen, die angesprochen worden sind. Der Europäische Rat war nicht vorgesehen, als die Verträge konzipiert worden sind. Ich würde ihn aber nicht, wie der Kollege Klepsch das genannt hat, als „Fremdkörper" bezeichnen. Die vernünftigste Entwicklung wäre, den Europäischen Rat in die Struktur der Gemeinschaft hineinzunehmen, ihn wie einen Ministerrat zu behandeln, ihm die gleichen Möglichkeiten, aber dann auch die gleichen Begrenzungen und den gleichen Dialog aufzuzwingen, den heute schon der Ministerrat mit dem Europäischen Parlament führen muß. Ich glaube, das wäre eine Möglichkeit, um auch die Diskrepanzen zu vermeiden, die ja schon bei der Regionalpolitik deutlich zum Ausdruck gekommen sind. Denn was das Parlament beschlossen hat - Erhöhung des Regionalfonds -, war ja im Grunde genommen eine Brüskierung der Beschlüsse des Europäischen Rats. Auch der Ministerrat konnte das letzten Endes nicht mehr halten. Wenn wir das vermeiden wollen, sollten wir versuchen, den Europäischen Rat in die Verfassungsstruktur der EG zu integrieren. Da ist auch das Element der Konzertierung durchaus nützlich. Ich beurteile das nicht ganz so kritisch wie Herr Kollege Klepsch. Ich glaube schon, daß wir mit dieser Konzertierung in den letzten Jahren einen erheblichen Fortschritt gemacht haben. Wir werden das nicht nur auf die Haushaltsprobleme beschränken. Wir haben uns ja schon in die Verabschiedung von Verordnungen hineinbegeben. Es gibt auch Beispiele einer funktionierenden und guten Konzertierung. Eines würde ich allerdings bei dieser institutionellen Entwicklung nicht empfehlen, nämlich: ein Modell nachzuahmen. Es gibt da die unterschiedlichsten Vorstellungen. Es gibt Leute, die Föderationen, Konföderationen wollen. Es gibt Nachahmungen des nationalen Modells der Bundesrepublik. Es gibt auch Hinweise auf die amerikanische konstitutionelle Entwicklung. Dies alles ist, glaube ich, nicht richtig. Die Europäische Gemeinschaft wird sich nach ihren eigenen Vorstellungen entwickeln. Sie hat auch schon Daten gesetzt, die sich mit historischen Beispielen nicht vergleichen lassen. Sie ist nicht einfach die Bundesrepublik 1948. Sie ist schon gar nicht die Vereinigten Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung. Vielmehr ist sie weitgehend bereits nach eigenen Vorstellungen gewachsen. Sie stellt Fakten und Daten zur Verfügung, die wir weiter entwickeln müssen, allerdings unter klarer Unterstreichung dessen, was wir wollen. Das ist nun das erste, was die Liberalen in ihrem Programm, das sie übrigens gemeinsam mit allen Liberalen der Europäischen Gemeinschaft beschlossen haben, ganz klar herausgestellt haben. - Ja, es wäre vielleicht ganz gut, wenn die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion das auch einmal zur Kenntnis nähmen. Ich habe heute eine Wahlzeitung von Ihnen in der Hand gehabt, die Sie verdienstvoller-weise verteilen. Ich sage „verdienstvollerweise", weil da immer noch einige Kandidaten aufgeführt werden, die inzwischen keinen Reklamewert für die Union mehr haben. ({8}) - Herr Kohl kommt z. B. dort mit breiten Ausführungen, zudem noch mit falschen Ausführungen, Herr Aigner, zu Wort, nämlich mit der Behauptung, die Europäische Volkspartei sei die einzige europäische Partei. Das ist einfach schlicht falsch. Die Liberalen haben sich schon im März 1976 in Stuttgart zu einer solchen europäischen Partei zusammengeschlossen. ({9}) - Als Partei! Denn die Frage, ob jemand Partei ist oder nicht, bemißt sich danach, ob man gemeinsam Beschlüsse faßt, die mehrheitlich gelten, auch dann, wenn eine Minderheit diesen Beschlüssen nicht zustimmt. Das ist z. B. der entscheidende Grund, warum ich glaube, daß der Bund der Sozialdemokraten keinen Parteicharakter hat; denn er erlaubt diese Mehrheitsbeschlüsse nicht. Er beruht nach wie vor auf dem Einstimmigkeitsprinzip. Das ist für mich der wesentliche Unterschied zwischen der Europäischen Volkspartei und den Europäischen Liberalen Demokraten einerseits und dem Bund der Sozialdemokraten andererseits. Das ist eine ganz wichtige Frage. Denn darüber müssen wir uns im klaren sein: wer diese Gemeinschaft einigen will, wer es aber nicht fertig bringt, sich in der eigenen Parteifamilie zu einigen, der wird nicht mit großem Erfolg bei dieser Aufgabe antreten können. ({10}) Der Kollege Brandt hat sich heute morgen mit Recht dagegen verwahrt, daß er von Herrn Klepsch in diesem Punkt allzu pauschal beurteilt worden ist. Aber richtig ist natürlich, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, daß Sie in den drei wesentlichen Fragen, um die es in dieser Gemeinschaft gehen wird, keine gemeinsamen Standpunkte im Bund der Sozialdemokraten erreicht haben. Deswegen haben Sie auch kein gemeinsames Wahlprogramm. Neulich hat mir in einer Podiumsdiskussion ein SPD-Vertreter vorgehalten, wir hätten gar kein Programm. Ich bin da erst etwas erschrocken, weil ich dachte, ich hätte das nicht mehr richtig in Erinnerung, bis ich dann merkte, er meinte: wir haben kein nationales Programm. Das ist wahr. Die FDP hat kein Programm für die Direktwahl aufstellen müssen; denn wir hatten bereits gemeinsam mit allen Liberalen der Europäischen Gemeinschaft eines aufgestellt. In diesen drei Fragen, nämlich in der Frage der zukünftigen Wirtschaftsordnung der Gemeinschaft, in der Frage des Verhältnisses zu Eurokommunisten und vor allen Dingen in der wichtigen Frage der Kompetenzen des Parlaments gibt es nun eben leider keine Einigung bei Sozialisten. Die LabourPartei will ja sogar die Gemeinschaft zurückdrängen. ({11}) Es sind doch keine Märchen, die wir hier erzählen. Callaghan hat ja kaum das Manifest der LabourPartei erklären können, weil es sogar ihm zuwider war, daß die Labour-Partei gesagt hat: Und nun werden Beschlüsse des Europäischen Parlaments nur dann anerkannt, wenn ihnen das Unterhaus zugestimmt hat. - Das ist das Ende der Europäischen Gemeinschaft. Da können wir aufhören, diese Veranstaltung zu betreiben. ({12}) Deswegen ist es einer der wichtigsten Punkte in unserem Programm, daß die Demokratisierung dieser Gemeinschaft durch eine Stärkung des Europäische Parlaments vorangebracht wird. Man kann sich lange darüber unterhalten, warum die Bundesrepublik von ihrer anfänglichen Europa-Begeisterung heute so weit entfernt ist. Aber einen Grund kann ich Ihnen mit Sicherheit nennen, den niemand bestreiten kann. Dieser Ministerrat hat es durch eine jahrzehntelange Obstruktionspolitik, ({13}) durch eine Boykottpolitik der europäischen Interessen, die praktisch nur dadurch erklärbar war, daß der Ministerrat eine Börse zur Verhandlung nationaler Interessen geworden ist, fertig gebracht, viele überzeugte Europäer zu enttäuschen und, was noch viel schlimmer war, die Schuld dafür auf die Falschen zu lenken. Es werden immer die Bürokraten in Brüssel zitiert, wenn es um die mangelnden Fortschritte in der Gemeinschaft geht. Die sind genauso frustriert wie alle überzeugten Europäer. Wir müssen dieses Parlament so stärken, daß es diesem Ministerrat Paroli bieten kann. Das ist der Weg zu Europa, der Erfolg verspricht und der zudem auch demokratisch ist. ({14}) Das verstehe ich unter Demokratisierung der Gemeinschaft. Deswegen möchte ich das gar nicht so hin und her wenden, wie der Kollege Brandt das gemacht hat. Ich bin auch dafür, daß man die deutsche Sprache klar verwendet. Aber in diesem Punkt muß man auch zu der klaren politischen Erkenntnis kommen: Das Parlament darf nicht einfach nur ein Debattierklub sein, es darf nicht nur, so wichtig das ist, der Ort der politischen Auseinandersetzung ein, sondern es muß das gesamteuropäische Interesse auch durchsetzen können. Das ist der entscheidende Fortschritt, den wir gemeinsam erreichen müssen, wenn wir nach fünf Jahren wieder antreten wollen; denn das Schwierigste wird noch kommen. Jetzt können alle Parteien sagen, wir haben das vor, wir haben jenes vor. Nach fünf Jahren werden wir gefragt werden: Was habt ihr denn eigentlich gemacht? ({15}) Das wird die Bewährungsprobe für dieses Parlament sein, und ich hoffe, daß wir diese Probe gemeinsam bestehen. Deswegen bin ich auch nicht so zurückhaltend, was die Frage der Konstituante, der verfassunggebenden Versammlung angeht. Es wäre sicher falsch, jetzt eine komplette Verfassung entwerfen und durchsetzen zu wollen; denn in ihrem institutionellen Teil beschriebe diese Verfassung einen Zustand, der nicht entwickelt ist. So wie jetzt die Kompetenzen verteilt sind, dürfen wir sie nicht festschreiben. Aber die Menschen-, Bürger- und Freiheitsrechte in einem ersten Teil einer europäischen Verfassung zu regeln, halte ich für machbar, halte ich für durchsetzbar. Das halte ich auch für einen Ausweis der politischen Existenz eines Parlaments, das, glaube ich, am meisten dazu beitragen kann, daß solche Rechte geachtet werden. Das ist, meine ich, eine neue Qualität europäischer Politik. Die Gemeinschaft hat die Qualität Demokratie bis jetzt zuwenig gehabt. Das ist der erste große Schritt, die erste große Veränderung, die mit dieser europäischen Wahl eingetreten ist. Der zweite Punkt - er wurde auch schon berührt -: Ich glaube, daß wir in dieser Gemeinschaft nicht vorankommen, wenn wir nicht auch eine kulturelle Dimension eröffnen. Warum haben wir denn zum Teil Schwierigkeiten, wenn wir uns mit anderen Ländern verständigen wollen? Auch Politiker haben diese Schwierigkeiten. Ich denke an einige Debatten zurück, die kürzlich vom Fernsehen übertragen worden sind. Sie haben ja deutlich gemacht, daß auf beiden Seiten noch Mißverständnisse bestehen. Diese Schwierigkeiten sind deswegen entstanden, weil wir uns bei der europäischen Einigung darauf beschränkt haben, eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zustande zu bringen, und uns zu wenig um das gegenseitige Verständnis gekümmert haben. Das gilt auch für uns selber; das gilt z. B. für die Schul- und Bildungspolitik aller deutschen Länder. Das ist zwar in unterschiedlichem Maße der Fall; aber ich sage das hier ganz deutlich. Es betrifft nicht die Bundesregierung; sie hat sich bemüht, im Rahmen der Kultusministerkonferenz einiges zu ändern, und einige Beschlüsse sind auch schon vorhanden. Aber die Wirklichkeit sieht traurig aus. Alle Fächer, in denen man lernen könnte, Europäer zu sein, werden bei sogenannten Schulreformen kontinuierlich zusammengestrichen. Ich bin kein Schul- und Bildungspolitiker, ich bin nur leidgeprüfter Vater von fünf schulpflichtigen Kindern. Das betrifft eigentlich nicht so sehr mich selber, sondern mehr meine Frau, die zu Hause ist und die Schulaufgaben machen muß. ({16}) In Geographie, in Geschichte und in Fremdsprachen kann man lernen, europäisch zu denken. Wenn man aber Geographie, Geschichte und Fremdsprachen - zunehmend sogar Deutsch - bei jeder sogenannten Schulreform streicht ({17}) - das ist auch in CDU/CSU-Ländern so -, dann soll man sich nicht wundern, daß wir inzwischen nicht nur Fachidioten, sondern sogar nationale Fachidioten erziehen. ({18}) Wir sollten versuchen, diese kulturelle Dimension ein wenig für Europa zu eröffnen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Dr. Bangemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Probst?

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nur wenn auch er Vater von schulpflichtigen Kindern ist. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wie ich ihn einschätze, ist das der Fall.

Dr. Albert Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001752, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht fünf, sondern nur vier Kinder!

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das reicht.

Dr. Albert Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001752, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bangemann, meinen Sie nicht, daß wir alles, was Sie hier beklagen, Ihren politischen Freunden verdanken? Sie reden hier an eine ganz falsche Adresse; denn es ist die Reformitis gewesen, die diese Schwierigkeiten gebracht hat.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muß Sie enttäuschen, Herr Kollege; denn ich kann mich nicht erinnern, daß wir in Bayern über lange Jahrzehnte hinweg maßgeblich Schulpolitik gemacht haben, ({0}) und in Bayern ist das genau das gleiche. ({1}) Deswegen habe ich hier nicht als FDP-Mann oder als Deutscher, sondern als Europäer gesprochen, der mit Ihnen bedauert, Herr Kollege, daß diese Entwicklung eingetreten ist. ({2}) - Vater kann man werden, ohne daß man liberal ist und ohne daß man der deutschen Bevölkerung angehört. Das spielt dabei keine Rolle, Herr Kollege. Das müßten Sie eigentlich wissen, wenn Sie vier Kinder haben. Diese kulturelle Dimension, dieses Verständnis füreinander fehlen uns in dieser Gemeinschaft. Das kann man nicht durch eine gemeinsame Luftfahrtindustrie ersetzen, obwohl auch das natürlich wichtig ist. Der Airbus ist zwar nicht ein Produkt einer europäischen Einrichtung in strengen Sinne der EG, aber er ist eines der wenigen Beispiele dafür, daß Menschen erkennen, daß wir diese Europäische Gemeinschaft brauchen. Wir brauchen aber auch Leute, die sich bei der Konstruktion und der Arbeit am Airbus verstehen, d. h., wir brauchen ein bißchen mehr Verständnis für diese europäischen Fächer in der Schul- und Bildungspolitik. Wir sind auch für ein Europa, das sich seine kulturelle Vielfalt erhält. Ich glaube, daß dies sogar einer der Punkte war, die die Liberalen in diese Debatte eingeführt haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß jemand eine besondere Attraktion in einer Gemeinschaft sehen könnte, die so aussieht, wie es in den großen zentralistischen Staaten beinahe schon der Fall ist, nämlich mit einer Einheitskultur, mit einem Einheitsbrei, mit Städten und Landschaften, die alle einheitlich aussehen. Für micht wäre es schrecklich, in einen Schlafwagen zu steigen und nach dem Aufwachen am anderen Morgen nicht erkennen zu können, ob ich in Kopenhagen, München, Düsseldorf oder in Marseille bin; mindestens München möchte ich noch erkennen können. ({3}) Deswegen brauchen wir natürlich auch eine Beteiligung der Bürger an dieser europäischen Einigung. Das ist am schwierigsten zu erreichen, und damit sollten wir uns in den nächsten fünf Jahren befassen. Wir haben ein Europa der Experten geschaffen. Wenn man heute ein Automobil konstruieren oder bauen will, weiß man, daß man zu 90 % auf europäische Vorschriften achten muß. Wenn man aber ein Automobil fährt und als Bürger immer noch an eine Grenze kommt, immer noch seinen nationalen Führerschein, seinen nationalen Ausweis vorzeigt, wenn man in den Ländern immer noch mit unterschiedlichen Währungen bezahlen muß, wenn man verschiedene Preise für Benzin, Ö1 und ähnliche Dinge zu bezahlen hat, dann merkt man nicht, daß dieses Europa existiert. Wir sollten dieses Europa des Alltags schaffen, damit uns nicht vorgeworfen wird, wir bauten Europa über die Köpfe der Menschen hinweg auf. Eine dritte und letzte Bemerkung, Herr Präsident. Ich weiß nicht, ob das etwas seltsam klingt, jedenfalls klingt es altertümlich, aber ich sage es trotzdem: Ich glaube, daß diese Gemeinschaft eine moralische Rechtfertigung braucht. Es geht nicht einfach nur, daß wir sagen, diese Gemeinschaft trägt dazu bei, daß die Menschen wohlhabender sind, daß sie reicher leben, als wir jeweils in unseren Ländern für uns gelebt haben. Diese Gemeinschaft muß ein Stück Moralität besser vertreten, als es die anderen Länder bisher getan haben. Für mich enthält das zwei wichtige Probleme. Das erste Problem stellt sich mit der Frage nach der Rolle, die diese Gemeinschaft nach außen hin übernehmen will. Es ist wohl wahr, wir können eine Großmacht werden. Diese Gemeinschaft hat jetzt schon 260 Millionen Einwohner. Zusammen mit Spanien, Griechenland und Portugal sind es über 300 Millionen Einwohner. Das sind mehr, als die Vereinigten Staaten oder die Sowjetunion an Einwohnern haben. Wir sind jetzt schon die erste Handelsmacht der Welt. Wir produzieren auf hohem technologischem Niveau. Wir hätten fast alles, was man braucht, um diese Großmachtpolitik auszuführen. Ich glaube aber, daß das ein schlechter Weg für die Gemeinschaft wäre. Lassen Sie uns doch das ganze wirtschaftliche und politische Gewicht, das diese Gemeinschaft heute schon repräsentiert, im Sinne einer neuen Definition internationaler Beziehungen einsetzen. Wir wollen nicht, daß wir mit wirtschaftlichen, militärischen oder anderen Mitteln künstlich Einflußsphären erhalten, sondern wollen in einer echten Partnerschaft mit den Ländern der Welt, mit den Ländern des Ostblocks, mit den Ländern der Dritten Welt eine internationale Beziehung aufbauen, die dem Frieden mehr dient, als es eine solche Großmachtposition jemals könnte. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist für mich auch der Grund, warum ich skeptisch bin, wenn ich Überlegungen höre - die allerdings mehr an bayerischen Kaminen geäußert werden -, man sollte doch dieses politische Gewicht der neuen Europäischen Gemeinschaft in der Weltpolitik in dem Sinne einsetzen, daß man jetzt beispielsweise die „chinesische Karte" spiele. Das ist eine Umschreibung eines höchstgefährlichen Vorgangs. Man kann lange darüber rätseln, ob die Sowjetunion aggressiv ist oder nicht: Eine Sowjetunion aber, die sich umzingelt fühlte, die sich einem solchen Bündnis ausgesetzt sähe, wie es der stellvertretende chinesische Ministerpräsident kürzlich bei seinem Amerikabesuch ganz offen propagiert hat, einem Bündnis von China, Japan, den Vereinigten Staaten und Europa, die kann gar nicht anders als aggressiv sein. In einer solchen Situation noch friedliche Entspannungspolitik betreiben zu wollen, das wäre eine Illusion. ({5}) - Es ist gut, daß Sie das einmal so deutlich äußern. Bis jetzt hatte ich immer noch den Eindruck, daß sich die offiziellen Vertreter Ihrer Fraktion zu dieser Entspannungspolitik bekannten, nur seien sie der Meinung - was man ihnen nicht übelnehmen kann -, daß die Bundesregierung sie schlecht betreibe. Wenn Sie jetzt ganz offen sagen, daß diese Entspannungspolitik tatsächlich nicht möglich ist, dann verstehe ich, daß an bayerischen Kaminen die chinesische Karte gespielt werden soll. ({6}) Dieses Element einer friedlichen Entwicklung ist natürlich nicht möglich, wenn wir es nicht auch mit einem Bekenntnis zur demokratischen Entwicklung in dieser Gemeinschaft begleiten. Wenn man schon von einer historischen Aufgabe sprechen will, dann liegt in dieser Festigung der demokratischen Entwicklung in der Gemeinschaft die historische Aufgabe für die Europäische Gemeinschaft. Unter den 155 selbständigen Staaten, die in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen sind, sind jetzt noch 29 oder 30 Demokratien. Man kann die Maßstäbe unterschiedlich anwenden. Selbst wenn man den Rahmen sehr weit setzt, sind es sicher nicht mehr als 30. 21 davon existieren hier in Europa. Wenn wir es nicht schaffen, diesen Gedanken der Demokratie in dieser Gemeinschaft zu leben, dann werden wir den Gedanken der Demokratie auf der ganzen Welt nicht mehr verteidigen können. Das ist auch der Grund, warum sich die Liberalen uneingeschränkt für den Beitritt von Spanien, Griechenland und Portugal eingesetzt haben. Wir wissen, daß da einige wirtschaftliche Probleme auf uns zukommen werden. Aber mit dem Beitritt von Spanien, Griechenland und Portugal wird nicht die Frage der Olivenproduktion, der Südfrüchte oder des Weins entschieden, sondern da geht es um die Festigung der Demokratie in Europa. Deswegen, so meine ich, sollte diese Gemeinschaft den Versuch machen, sich hier zu verteidigen und eine gemeinsame Position zu finden. Wir selbst werden dabei gar nicht einmal der Partner sein, der die wenigsten Probleme mitbringt. Manchmal hat man ja so den Eindruck, daß wir die Patentdemokraten sind und daß die anderen Mitgliedsländer um uns herum eigentlich die kranken Demokraten sind, die wir ein bißchen aufpäppeln müßten. Meine Damen und Herren, das ist nicht so. Die Demokratie in diesen anderen Ländern, auch beispielsweise in Großbritannien, das ja häufig Gegenstand von Kritik von unserer Seite ist, ist wahrscheinlich gefestigter, weil gelebter als die in manchem Land, das sich heute in einer sehr sicheren Bastion weiß. ({7}) Deswegen sollte man nicht anfangen, beckmesserisch über andere Leute zu urteilen, sondern versuchen, seinen Teil dazu beizutragen, daß diese Demokratie in Europa lebt. Darin besteht kein Gegensatz zur Deutschlandpolitik oder zur Entspannungspolitik. In einem Artikel der „Prawda" wird so ein bißchen der Eindruck erweckt, als ob die europäische Einigung im Gegensatz zur Entspannungspolitik stünde. Wenn man die Europäische Gemeinschaft selbst als Faktor in die Entspannungspolitik einführt, ist das kein Gegensatz, sondern eine erhebliche Verstärkung dieser Position. Es besteht auch kein Gegensatz zur Deutschlandpolitik. Zwar glaube ich nicht, daß man die europäische Einigung als einen leichten und sicheren Weg aus den deutschlandpolitischen Problemen heraus anbieten kann. Es gibt Leute, die ein bißchen den Eindruck erwecken, als ob die europäische Einigung uns einen unmittelbaren Zugang zu einer nationalstaatlichen Wiedervereinigung bringen könnte. Diese Illusion soll man nicht nähren. Aber es ist auch falsch, anzunehmen, es gäbe eine Alternative, entweder nur die europäische Einigung durchzuführen oder nur die WiedervereiniDr. Bangemann gung zu verfolgen. Auch das ist falsch. Daß wir uns nicht wiedervereinigt haben, daß wir noch unendliche Schwierigkeiten haben, dieses politische Ziel zu erreichen, liegt ja nicht an der europäischen Einigung, sondern an dem tiefen politischen Gegensatz, der mitten durch Europa verläuft und die beiden deutschen Staaten voneinander trennt. Die Europäische Gemeinschaft kann vieles tun, um diesen Gegensatz aufzuheben. Wir sollten dabei allerdings unseren eigenen Prinzipien auch fest und unbeirrbar treu bleiben. Das, was die Sowjetunion an Protesten gegen die Beteiligung von Berlin ({8}) an den europäischen Wahlen hat hören lassen, müssen wir mit aller Entschiedenheit zurückweisen. ({9}) Das ist keine Verletzung, sondern eine Anwendung der entsprechenden Vereinbarungen, und es ist in keiner Weise ein Akt, der von uns in aggressiver Absicht oder auch nur in der Absicht, die Verträge nicht einzuhalten, vorgeschlagen worden wäre. Um diese Fragen scheint es mir zu gehen. Sicher, es geht auch um ein paar Kandidaten. Auch das spielt eine Rolle. Ich persönlich habe mich dazu ja auch sehr deutlich geäußert, manchmal zum Mißvergnügen der Kollegen aus der SPD-Fraktion, was ich ja auch verstehen kann, aber ich habe ja nicht die Gewerkschaftsvorsitzenden auf die Liste der SPD gewählt. Ich weiß, man kann eine Menge anführen, man kann sicher sagen, das sind Leute, die haben sich doch nun in ihren Gewerkschaften dafür eingesetzt und vertreten bestimmte Interessen. Aber ich darf Sie wirklich bitten: Denken Sie einmal darüber nach, ob es nicht einer demokratischen Entwicklung viel besser ansteht, daß diese Verantwortungen klar und unmißverständlich auf die Gewerkschaften, auf die Verbände und auf die politischen Parteien verteilt sind. ({10}) Ich habe immer einen Horror davor, daß wir diese Verantwortungen vermischen. Das gilt übrigens auch für die Kandidaten mancher Verbandspräsidenten bei der CDU. ({11}) - Na ja, da können sie nicht klatschen; das ist klar, Herr Seefeld. Es wäre ein bißchen zu viel Selbstüberwindung, wenn sie jetzt klatschen würden. ({12}) Das Problem besteht einfach darin: Wer die Gewerkschaften zur Basis nur einer Partei macht, verletzt den Gedanken der Einheitsgewerkschaft und behindert die Gewerkschaften bei der Durchsetzung ihrer eigenen Ziele. ({13}) - Herr Wehner, ich will Sie nicht belehren, weil ich weiß, daß das völlig unmöglich ist. ({14}) Das, glaube ich, wird hier niemand schaffen. Aber eines müssen Sie mir schon zubilligen: Dann, wenn ich von einer demokratischen Entwicklung als Mitglied einer Partei spreche, die zu dieser demokratischen Entwicklung - genau wie Sie auch - beigetragen hat, können Sie mir dieses Recht nicht bestreiten. Ich halte z. B. das, was von der Volksfront gesagt wird, schlicht für Unsinn. ({15}) Das ist schlichter Unsinn! Das wissen auch die Leute, die im Europäischen Parlament sind. Weder haben die Kommunisten und die Sozialisten heute zusammen numerisch eine Mehrheit, noch werden sie die nach der Direktwahl haben, noch wird die SPD sich an einer solchen Volksfront beteiligen. ({16}) Das sage ich genauso klar und deutlich, wie ich andererseits kritisiere, Herr Wehner, daß Sie diese Kandidaturen so sehr begrüßen. Ich möchte nicht, daß eine Partei der parlamentarisch verlängerte Arm irgendeines Verbandes, einer Gewerkschaft oder auch einer Kirche wird. Das ist das Ende einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft. Ich finde es auch nicht gut, daß man einzelne soziale Gruppen für sich beansprucht und sagt: ich bin eine Partei der Arbeitnehmer, ich bin eine Partei der Selbständigen, ich bin eine Partei der Rentner, der Hausfrauen. Meine Damen und Herren, wenn wir es nicht fertigbringen, alle zusammen diese Parteien für jedermann offenzuhalten, wenn wir es nicht fertigbringen, in den Parteien die grundsätzlichen moralischen Wertvorstellungen zum Tragen zu bringen, auf denen diese europäische Gesellschaft beruht, nämlich den Sozialismus, den Konservativismus - wenn ich Sie mit einschließen darf - und den Liberalismus: dann werden wir in eine mittelalterliche Feudalgesellschaft zerfallen, wo einzelne soziale Gruppen im Verteilungskampf nur noch ihr Sonder- und egoistisches Interesse sehen. Das ist für mich ein Zerrbild der europäischen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft muß die Kraft aufbringen, ihre nationalen Egoismen zu überwinden. Sie muß wirklich europäisch werden. Sie muß auch die Kraft aufbringen, soziologische und soziale Barrieren zu überspringen, und muß den Bürger als das sehen, was er ist. Er ist ein Mensch, er ist ein Individuum, er ist Deutscher, Franzose, Engländer oder hat eine andere Nationalität. Er sollte in Zukunft auch Europäer sein. Darum geht es bei dieser Wahl. ({17})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her12530 ren! Der Kollege Willy Brandt hat heute vormittag gesagt, daß die ersten direkten europäischen Wahlen eine Chance seien. Ich sage, auch diese Aussprache des Deutschen Bundestages unmittelbar vor den Wahlen ist eine Chance für den Deutschen Bundestag und die hier vertretenen politischen Gruppierungen, ihre Vorstellungen von Europa zu artikulieren. Ich frage mich, Herr Kollege Klepsch, ob Sie für die Opposition als deren Hauptsprecher heute diese Chance wirklich optimal genutzt haben. Ich habe Sie oft im Europäischen Parlament, dem Sie jetzt schon angehören, mit sachlichen, konstruktiven Beiträgen zu Europa erlebt. Heute haben Sie ein bißchen versucht, europäischen Wahlkampf zu machen. Ist es eigentlich wirklich so schwer, Herr Kollege Dr. Klepsch, anzuerkennen, daß der deutsche Bundeskanzler einen ganz entscheidenden Beitrag zur Einführung des Europäischen Währungssystems geleistet hat? ({0}) Das muß ich einmal fragen. Ich will nicht bestreiten, daß es Papiere der Europäischen Volkspartei und der Christlichen Demokraten in Europa gibt, die sich auch zum Europäischen Währungssystem äußern. Aber genauso wenig können Sie bestreiten, daß aus Ihrer eigenen Partei, als wir um die Durchsetzung in Europa gerungen haben, heftige Warnrufe gekommen sind zu einem Zeitpunkt, als sich Kollege Müller-Hermann im Europäischen Parlament dankenswerterweise schon positiv geäußert hatte. Wenn ich Ihre Reden in Europa mit dem vergleiche, was Sie hier sagen, frage ich mich, ob entweder die Anwesenheit im Europäischen Parlament Sie zu einem höheren europäischen Bewußtsein bringt oder ob Sie hier Hinderungsgründe sehen, das zu sagen, was Sie dort verkünden. Ich will mich, Herr Kollege Klepsch, mit einer Ihrer Aussagen sofort am Anfang befassen, weil sie wichtig genug ist, damit sie entweder durch Sie selbst oder durch einen der nachfolgenden Redner klargestellt wird. Sie haben hier vom Europäischen Rat, also der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der neun Staaten der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Außenminister, als einem Fremdkörper in der Gemeinschaft gesprochen, der in den institutionellen Vereinbarungen der Europäischen Verträge nicht verankert sei. Meine Damen und Herren, wenn das heißen soll, daß die deutschen Christdemokraten etwa Zweifel daran haben, ob man den Europäischen Rat weiterarbeiten lassen soll oder ob man mit ihm das tun soll, was mit einem Fremdkörper normalerweise geschieht, nämlich daß man ihn beseitigt, dann - muß ich Ihnen sagen - würden Sie sich in eine schwerwiegende europäische Isolation begeben. ({1}) Ich halte es geradezu für einen Meilenstein in der europäischen Entwicklung, daß unter Beteiligung von neun europäischen Regierungen der unterschiedlichsten politischen Zusammensetzung, darunter auch zwei christlich demokratische Regierungschefs, auch der von Ihnen hier mit Recht als überzeugtes europäisches Vorbild gelobte Leo Tindemans aus Belgien, dieser Europäische Rat geschaffen worden ist. Er ist doch kein Fremdkörper, Herr Kollege Klepsch, wie Sie es formuliert haben. In Wahrheit ist der Europäische Rat ein Motor der europäischen Entwicklung geworden. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage - Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: Eine Sekunde noch, wenn ich diesen Gedankengang zu Ende führen darf, Herr Präsident. - Herr Kollege Reddemann, Ihr Zwischenruf „mit Rückwärtsgang" zeigt mir, daß das offenbar keine Einzelmeinung, sondern eine weit verbreitete Meinung ist. Wie Sie das zu einer Institution sagen können, die es z. B. ermöglicht hat, gegen schwerwiegende innere Widerstände in Frankreich und in Großbritannien die ersten europäischen Wahlen durchzusetzen, ist mir gänzlich unverständlich. Ohne den Europäischen Rat, ohne die Mitwirkung der Staats-und Regierungschefs hätten wir nicht diese erste direkte Wahl zum Europäischen Parlament am 10. Juni 1979. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klepsch?

Dr. Egon Alfred Klepsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001127, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Genscher, würden Sie mir darin beistimmen, daß eigentlich die Meinung des ganzen Europäischen Parlamentes ist, daß der Europäische Rat in die Verträge einbezogen werden, sollte? ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Verehrter Herr Kollege, Sie wissen schon heute, daß der Europäische Rat nach den geltenden Regelungen sich jederzeit als Rat konstituieren kann, wenn er verbindliche Beschlüsse fassen soll; denn es heißt ja nicht mehr als: In den Ministerräten sind die Staaten vertreten. Durch wen sie sich vertreten lassen, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Was ich für entscheidend halte, ist, daß diejenigen, die in besonderer Weise in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Verantwortung tragen, die also auch in besonderer Weise unabhängig von dem jeweiligen Ressort - ich will damit gar nicht die Bedeutung der Außenminister herabsetzen; wer könnte das, wenn er selbst Außenminister ist, oder als Wirtschaftsminister oder als Arbeitsminister - eine Gesamtverantwortung für die Regierung tragen, zusammenwirken. Daß sie sich viermal im Jahr treffen, das hätte vor zehn Jahren in Europa noch niemand für möglich gehalBundesminister Genscher ten. Ich halte das für einen wichtigen Fortschritt auf dem Wege zur europäischen Einigung. ({0}) Ich möchte wirklich bitten, daß von dieser Debatte nicht der Eindruck ausgeht, als ob eine Partei von dem Gewicht der deutschen Christdemokraten eine Änderung in Aussicht nehmen möchte. Nein, meine Damen und Herren, dieser Europäische Rat muß genutzt werden, damit wir weiter Fortschritte nach Europa mit aller Autorität der europäischen Regierungen durchsetzen können. Sie haben, Herr Kollege Klepsch, mit Recht auf verdiente Europäer aus Ihren Reihen hingewiesen. Wer wollte Konrad Adenauer, Ludwig Erhard ihren Rang für Europa bestreiten? Aber gleichwohl ist es auch in der Zeit, in der Ihre Partei den Kanzler gestellt hat, nicht möglich gewesen, eine Politik des leeren Stuhls zu vermeiden, ist es nicht möglich gewesen, meine verehrten Kollegen, zu vermeiden, daß der Fouché-Plan mit dem ersten Wollen zur politischen Union nicht verwirklicht werden konnte, konnte es nicht erreicht werden, daß damals schon Großbritannien Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wurde. Niemand von uns wird irgendeiner deutschen Regierung oder Partei daraus einen Vorwurf machen, daß in anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das europäische Bewußtsein und die innenpolitischen Möglichkeiten noch nicht so weit entwickelt waren. Was man vielleicht aus dieser Zeit Ihnen kritisch vorzuhalten hat, sind jene Jahre, die für die Europapolitik verloren gingen, in denen Sie gelähmt waren durch die Auseinandersetzungen von Gaullisten und Atlantikern in Ihrer Partei und damit Impulse für die europäische Einigung nicht gegeben werden konnten. ({1}) Gewiß, eine nationale Regierung wie die Bundesregierung muß sich in einer solchen Parlamentsdebatte zur Kritik stellen. Aber ich würde gerne hören, wenn man uns sagte, wo eine von den anderen Mitgliedstaaten gewünschte Einigung, wo ein von den anderen Mitgliedstaaten gewünschter Fortschritt für Europa am Widerstand der deutschen Bundesregierung gescheitert ist. Das könnte ein Thema für diese Debatte sein. ({2}) Sie können aber nicht der deutschen Bundesregierung anlasten, was sie noch nicht durchsetzen konnte, weil andere europäische Regierungen in diese oder jener Frage aus innenpolitischen Gründen einem solchen Fortschritt nicht zustimmen konnten. Ich denke, wir sind uns alle bewußt, daß die Europäische Gemeinschaft gerade für uns Deutsche eine Plattform für eine Politik ist, die wir verstehen als eine Politik der europäischen Einigung, als eine Politik der Friedenssicherung für uns als Mitglied am westlichen Verteidigungsbündnis und als Politik der Entspannung und des Ausgleichs auf der Grundlage der europäischen Einigung und auf der Grundlage des westlichen Bündnisses. Deshalb, meine Damen und Herren, war es nur logisch, daß die Regierung Brandt/Scheel im Jahre 1969 nicht nur mit unserer Entspannungspolitik einen neuen Weg in dem Versuch eingeschlagen hat, den Ausgleich und die Aussöhnung mit den Staaten Osteuropas herbeizuführen, sondern gleichzeitig ernsthafte Anstrengungen unternommen hat, die europäische Einigung voranzubringen. So ist nun einmal unbestreitbar die Gipfelkonferenz von Den Haag im Dezember 1969 zu einem Datum eines neuen europäischen Aufbruchs geworden. Die Beschlüsse der Gipfelkonferenz vom Dezember 1969 - damals die erste Konferenz, die die neue Regierung Brandt/Scheel für die Bundesrepublik wahrgenommen hat - machten den Weg für das größere Europa, für die Aufnahme der Verhandlungen über den Beitritt von Großbritannien, Dänemark, Irland und, Norwegen frei. Drei dieser vier Länder haben die Chance genutzt, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Wir haben damals beobachten können, daß die Bundesregierung die außenpolitische Zusammenarbeit, die heute von Herrn Kollegen Brandt erwähnte Europäische Politische Zusammenarbeit, zusammen mit den anderen - damals fünf - Staaten der Gemeinschaft vereinbaren konnte. Es ist ganz unbestritten, daß in den letzten zehn Jahren, in denen die sozialliberale Koalition die Verantwortung für die Außenpolitik trägt, mit der Schaffung einer großen Freihandelszone für das ganze demokratische Europa eine Spaltung zwischen Europäischer Gemeinschaft und EFTA vermieden wurde. Es ist möglich gewesen, zu verhindern, daß die Europäische Gemeinschaft unter dem Vorzeichen einer schwerwiegenden wirtschaftlichen Rezession auseinanderfiel, daß sie in nationalen Protektionismus zurückfiel. Vielmehr haben wir diese Krise gemeinsam überwinden können. Das alles sind Leistungen, die die Bundesregierung heute zur Diskussion stellt. Es sind Leistungen, die wir, da wir sie gemeinsam in dieser Richtung gewollt haben, auch gemeinsam zu begrüßen in der Lage sein sollten. Ich möchte einen besonderen Punkt hervorheben, der schon heute vormittag eine Rolle gespielt hat, nämlich die Frage: Welche Erwartungen setzen nun die Völker Europas und die Völker außerhalb Europas in die europäische Einigung? Herr Kollege Bangemann hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es ganz falsch wäre, die Europäische Gemeinschaft nur als einen Zusammenschluß zu verstehen, der auf einen gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet ist. Ich denke, die Europäische Gemeinschaft unterscheidet sich von vielen anderen Gruppierungen dadurch, daß sie sich auf gemeinsame Wertvorstellungen gründet, daß sie auf Friedenssicherung, die Sicherung der Freiheit, auf die Durchsetzung und Verwirklichung der Menschenwürde und des Selbstbestimmungsrechts angelegt ist. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, Herr Kollege Klepsch, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Rahmen des Europawahlkampfs nicht etwa nur, wie Sie hier eben glauben machen wollten, bei den Christlichen Demokraten erwähnt wird. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß sich genauso Liberale und Sozialdemokraten in ihren europäischen Wahlprogrammen zu diesem Selbstbestimmungsrecht bekennen und dafür eintreten. ({3}) Meine Damen und Herren, was bringt es Ihnen denn, wenn Sie hier für 50 Minuten den Eindruck erwecken können, daß wir nicht für das Selbstbestimmungsrecht auf europäischer Ebene seien? Irgendwann müssen Sie sich ja doch die Korrektur gefallen lassen! Es gibt so viele Möglichkeiten der sachlichen Auseinandersetzung, daß wir uns hier nicht gegenseitig in eine Ecke stellen sollten, in die keiner von uns gehört. Denn in diese Wertvorstellungen - Friedenssicherung, Sicherung der Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht - dürfte es hier in diesem Hause keine Meinungsverschiedenheiten geben. Meine Damen und Herren, die Menschen in unserem Lande und die Bürger Europas wollen von uns erfahren, was das bedeutet: Menschenwürde. Herr Kollege Brandt hat heute vormittag darauf verwiesen, daß wir auf diese Frage Antwort geben müssen, z. B. was das Schicksal der Gastarbeiter angeht. Und in der Tat, es ist nicht nur eine ökonomische Aufgabe, sondern in meiner Vorstellung auch eine moralische Aufgabe von hohem Rang, daß wir das verwirklichen: die Maschinen zu den Menschen zu bringen und sie nicht zu entwurzeln und ihnen sozusagen zwangsläufig die Pflicht aufzuerlegen, daß sie - ihrer Heimat entwurzelt - an die Maschinen gehen, weil sie dort, wo sie aufgewachsen sind, einen Arbeitsplatz nicht finden können. ({4}) Meine Damen und Herren, ist es nicht eine Frage an uns alle, ganz gleich, ob wir in den ersten Jahren der Europäischen Gemeinschaft Regierungsverantwortung getragen haben oder in der Opposition waren, warum wir so spät mit einer aktiven europäischen Regionalpolitik begonnen haben? ({5}) Wäre es nicht viel leichter gewesen, unter den wesentlich günstigeren Voraussetzungen der SechserGemeinschaft und auch unter den damals wesentlich günstigeren europäischen und weltwirtschaftlichen Bedingungen zunächst einmal in dieser Sechser-Gemeinschaft eine aktive Regionalpolitik zu beginnen, um zu verhindern, daß eben jene Bewegung in die Ballungsgebiete des Nordens erfolgt, die sowohl den einzelnen Menschen, die zu uns gekommen sind, viel Unrecht und viele Probleme bringt als auch uns selbst? Deshalb kann die Gastarbeiterfrage eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt diskutiert werden, wie wir hier menschenwürdige Verhältnisse für sie schaffen. Eine Antwort auf die Gastarbeiterfrage ist vielmehr auch, wie wir durch eine aktive Regionalpolitik dafür sorgen können, daß Menschen gar nicht mehr in die Versuchung kommen, ihre gewohnte und vertraute Heimat und Umgebung, ihre Familie zu verlassen, damit sie nur ihre Existenzbedingungen erfüllen können. ({6}) - Herr Kollege, da Sie den Zwischenruf machen: Hier darf man dann als Opposition ruhig einmal anerkennen, daß es die jetzige Bundesregierung war, die mit großen Anstrengungen - zusammen mit ihren Partnern - den Regionalfonds in der Gemeinschaft geschaffen hat, damit mit einer solchen Regionalpolitik endlich ein Anfang gemacht werden kann. Das ist ein Stück Verwirklichung der Menschenrechte, das ist ein Stück Stärkung der Menschenwürde in der Europäischen Gemeinschaft, meine Damen und Herren. Das setzt für uns noch große Ziele, wenn wir hier alle Anforderungen erfüllen wollen. Nun, meine Damen und Herren, die Erwartungen, die in die Europäische Gemeinschaft gesetzt werden, sind nicht nur Erwartungen der Bürger in dieser Europäischen Gemeinschaft; diese Erwartungen in die Europäische Gemeinschaft werden ganz stark von den anderen Staaten der Welt in uns gesetzt. Ich bin manchmal betroffen, wenn ich die Einschätzung, die die Europäische Gemeinschaft im Blick der Außenwelt erfährt, mit dem Gemeinschaftspessimismus vergleiche, den wir hier im eigenen Parlament und an anderer Stelle in Europa antreffen. ({7}) Meine Damen und Herren, diese Europäische Gemeinschaft wird ihr Eintreten für Menschenwürde und für Menschenrechte nur dann glaubhaft machen können, wenn sie ihre Verpflichtungen gegenüber der Dritten Welt voll erfüllt. ({8}) Deshalb war es ein großes Ereignis, daß die Gemeinschaft mit den Staaten Afrikas, des Pazifiks und der Karibik, den AKP-Staaten, das heute morgen schon apostrophierte Lomé-Abkommen beschlossen hat. Es ist ein Versuch, ,die Rohstoffprobleme dieser Länder in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zu lösen und ihnen gleichzeitig eine Perspektive für die wirtschaftliche Entwicklung unter den Voraussetzungen einer freien, einer liberalen Welthandelsordnung und Weltwirtschaftsordnung zu eröffnen. Täuschen wir uns nicht: Diese Europäische Gemeinschaft ist zunehmend gerade bei den Staaten der Dritten Welt ein Adressat erheblicher Erwartungen und Hoffnungen, weil man weiß, daß in dieser Europäischen Gemeinschaft etwas verwirklicht worden ist, worauf die Völker und Staaten dieser Erde Jahrhunderte gewartet haben, nämlich die Verwirklichung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, der Zusammenarbeit von größeren und kleineren Staaten, von Staaten des Gewichts Großbritanniens und Frankreichs, mit Staaten der Größe von Luxemburg oder Dänemark auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der gegenseitigen gleichen Anerkennung und Einstufung. Diese partnerschaftliBundesminister Genscher che Zusammenarbeit ist das Modell, das Europa der Welt gibt. Es ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, die eben nicht die Vorherrschaft des einen über den anderen statuiert, sondern vom Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit ausgeht. Dieses Modell macht unsere Zusicherung glaubwürdig, daß wir ohne Vormachtansprüche und ohne Einflußansprüche auch unser Verhältnis zu den anderen Staaten dieser Welt gestalten wollen, daß für uns wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt nicht mit dem geheimen oder vielleicht auch offenen Anspruch verbunden ist, dort unser politisches, unser gesellschaftliches Modell durchzusetzen, und daß diese Zusammenarbeit nicht mit der Vorstellung verbunden ist, dort Einfluß auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, oder gar eine Art Vormachtstellung zu begründen, die am Ende auch militärische Einflußmöglichkeiten eröffnet. Im Gegenteil, wir sind der Meinung, daß eine Ordnung, die Frieden für die Welt bringt, nur dann durchgesetzt werden kann, wenn wir den Grundsatz der Gleichberechtigung und der Partnerschaft wahren. Dieses Angebot ist das Angebot der Europäischen Gemeinschaft an die Staaten der Dritten Welt. Ich bin überzeugt, daß das Modell, das wir geben, das einzige ist, das sich im Blick auf die Zukunft durchsetzen wird. Ich halte es für eine reaktionäre Auffassung von der Zusammenarbeit von Staaten und Staatengruppen, zu meinen, jene, die dabei Hilfe und Unterstützung empfangen, hätten gefälligst das politische, das wirtschaftliche oder das gesellschaftliche System des Geberlandes zu übernehmen und sich seinem Einfluß zu unterwerfen. Ich glaube, hier liegt der historische Irrtum der Staatshandelsländer, der kommunistischen Länder, die diese Zusammenarbeit vornehmlich mit dem Ziel betreiben, Einflußzonen in der Dritten Welt zu errichten. Ich denke auch, bei einer Diskussion der Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft für die Staaten der Dritten Welt sollten wir offen aussprechen, daß für uns diese Zusammenarbeit mit diesen Ländern neben der Partnerschaft und der Gleichberechtigung bedeutet: öffentliche Hilfe, Öffnung unserer Märkte für die Fertigwaren dieser Staaten, Bereitschaft zu privaten Kapitalinvestitionen, für die dann auch die notwendige Investitionssicherheit geschaffen werden muß. Es darf deshalb auch an dieser Stelle wiederum erwähnt werden, daß in die marktwirtschaftlichen Länder, zu denen die Staaten der Europäischen Gemeinschaft gehören, immerhin etwa 75 % der Exporte der Staaten der Dritten Welt fließen - was einen wesentlichen Teil zur Entwicklung dieser Länder bedeutet. -, während aus den Ländern der Dritten Welt in die kommunistischen Staaten nicht einmal 4 % gehen. Daß die Bundesrepublik Deutschland allein mehr Entwicklungshilfe an öffentlichen Leistungen erbringt als alle kommunistischen Staaten zusammen, sollte eigentlich international die Frage nach der Bedeutung des Wortes „Solidarität" aufwerfen. Wo liegt die Solidarität der kommunistischen Länder, wenn sie hier alle zusammen hinter einem Land von der Größe der Bundesrepublik Deutschland zurückbleiben? Wir haben als Europäische Gemeinschaft, und zwar ganz wesentlich auf die Initiative der Bundesregierung hin, nicht nur die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten der Arabischen Liga, mit den afrikanischen Staaten gesucht, wir haben mit dem Modell einer anderen Form der Zusammenarbeit mit den ASEAN-Staaten das Gespräch, den Meinungsaustausch aufgenommen, weil wir in dem Zusammenschluß dieser Länder auch einen Beitrag zur Bewahrung ihrer Unabhängigkeit und ihrer Stärke sehen. Meine Damen und Herren, es wird notwendig sein, daß der Deutsche Bundestag und die hier vertretenen politischen Gruppierungen deutlich machen, wie sie zu einer solchen Aufgabenstellung der Europäischen Gemeinschaft stehen. Denn nur dann werden wir als Regierung glaubwürdig sprechen können, wenn nach Möglichkeit auch die Opposition uns in diesem Verständnis der Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft unterstützt. Diese Europäische Gemeinschaft - darauf habe ich hingewiesen - hat die Europäische Politische Zusammenarbeit, also die außenpolitische Zusammenarbeit, geschaffen. Wir als Deutsche sind uns sicher darüber im klaren, daß diese außenpolitische Zusammenarbeit der Staaten der Gemeinschaft ganz erhebliche Vorteile für uns gebracht hat. Wie hätten wir eigentlich die Politik der Entspannung und des Ausgleichs in Gang setzen können, wenn nicht in der Gemeinschaft unserer Partner innerhalb der Europäischen Gemeinschaft? Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie berufen sich im Wahlprogramm der Europäischen Volkspartei auf die Konferenzergebnisse von Helsinki und bezeichnen ihre Durchführung als eine Notwendigkeit im Interesse der Entspannungspolitik. ({9}) Es wird Ihnen sehr schwerfallen, Herr Kollege Jäger ({10}), bei dieser Forderung glaubwürdig zu sein, denn im Gegensatz zu allen Ihren Schwesterparteien in dieser Europäischen Volkspartei waren Sie doch die einzigen, die gegen die Unterzeichnung des Schlußdokuments von Helsinki waren. ({11}) Wenn ich heute durch einen Zwischenruf bei der Rede des Herrn Kollegen Bangemann hörte, daß jemand von Ihnen ersthaft daran zweifelt, ob es eine friedliche Entspannungspolitik geben kann, dann frage ich mich: Wie wollen Sie denn noch auf welchem Wege den Ausgleich mit dem Osten suchen, den Frieden sichern, wenn nicht durch das Bemühen um Entspannung und Ausgleich? ({12}) Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger? - Bitte, Herr Kollege.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, warum haben Sie dem Hohen Hause bei Ihrer Bemerkung über die KSZE-Schlußakte und die Haltung der CDU/CSU hierzu nicht ergänzend gesagt, wie es der historischen Richtigkeit und Wahrheit entspricht, daß die CDU/CSU nicht etwa die Ziele und Tendenzen dieser Vereinbarung abgelehnt hat, sondern die deutschlandpolitischen Mängel und die zu unklaren Vereinbarungen auf dem Gebiete der menschlichen Erleichterung, die sich ja leider in den letzten drei, vier Jahren als zu unzulänglich erwiesen haben? ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Kollege Jäger, ich denke, die historische Wahrheit ist doch die, daß hier ein Antrag von der Fraktion der CDU/CSU dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wurde, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, das Schlußdokument von Helsinki nicht zu unterzeichnen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich frage mich, wie die europäische Wirklichkeit ausgesehen hätte, wenn Sie für diesen Antrag eine Mehrheit bekommen hätten. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß heute morgen ein Redner von Ihnen sagte, man müsse einmal sehen, was sich in Osteuropa mit der Bürgerrechtsbewegung tue. Ja, meine Damen und Herren, glauben Sie denn wirklich, daß alle die Entwicklungen, die die Welt faszinieren, ohne die Unterzeichnung dieses Schlußdokuments denkbar gewesen wären? ({1}) Fühlen Sie nicht, was es bedeutete, daß in den Parteizeitungen der kommunistischen Staaten Osteuropas ein Dokument als Ergebnis der Vereinbarungen von Helsinki veröffentlich wurde, in dem Menschenrechte, Selbstbestimmung als Forderungen an die Staaten deklariert sind, ({2}) in dem die Frage der humanitären Erleichterungen des Korbs III erwähnt ist? Meine Damen und Herren, ich bitte Sie herzlich, wenn Sie schon nicht der Überzeugungskraft der Freien Demokraten und der Sozialdemokraten hier im Deutschen Bundestag glauben, doch einmal ihre Schwesterparteien in den anderen europäischen Staaten zu fragen, warum die, unabhängig davon, ob sie im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Dokuments von Helsinki in der Regierung oder in der Opposition waren, für die Teilnahme ihrer Länder an diesem Entspannungsprozeß eingetreten sind. ({3}) Ich erwähne das nur, weil die multilaterale Entspannungspolitik ein Teil europäischer Außenpolitik geworden ist und weil ich es gern sehen würde, wenn eine Oppositionspartei von dem Gewicht der CDU/CSU - oder vielleicht muß man jetzt besser sagen: der CSU/CDU - in dieser Frage vielleicht doch eine Veränderung ihrer Position vornehmen könnte. Es wäre gut, wenn wir die europäische Außenpolitik auch in diesem Bereich als ein Stück gemeinsamer Überzeugung tragen könnten, wie wir doch in den Fragen der Europapolitik im übrigen - bei aller Diskussion über das, was man besser machen könnte; das gehört immer dazu - eigentlich weitgehend übereinstimmen. Ich will Ihnen ganz offen sagen: Außenpolitik lebt davon, daß man die Gebiete, in denen man in der Sache übereinstimmt, nicht zuschüttet, sondern daß man alle Übereinstimmungen freilegt und sichtbar macht. Das Gewicht eines Landes in der internationalen Diskussion erhöht sich doch und schwächt sich nicht, wenn die Außenpolitik im eigenen Parlament eine möglichst breite Grundlage hat. Ich bin also der Überzeugung, daß es gut wäre, wenn Sie einmal die Herausforderungen sähen, die sich international für Europa stellen, und wenn Sie daraus Ihre Schlüsse zögen, damit Sie in Übereinstimmung mit Ihren Schwesterparteien, aber auch mit den die Bundesregierung tragenden Parteien dazu beitragen könnten, ({4}) eine gemeinsame Außenpolitik zu tragen; denn es ist doch eigentlich das Großartige, Herr Kollege Reddemann, daß sich in der europäischen Gemeinschaft, wo Regierungen ganz unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung vertreten sind - dort gibt es Regierungen, die nur von Sozialdemokraten gestellt sind, nur von Christdemokraten, es gibt Koalitionsregierungen aus Liberalen und Christdemokraten, aus Liberalen und Sozialdemokraten, aus Christdemokraten und Sozialdemokraten, also alle Gruppierungen, die überhaupt denkbar sind -, sich alle im Bereich der Entspannungspolitik gefunden haben. Sie haben sich auch für die AfrikaPolitik gefunden, sie haben sich gefunden für die Nahost-Politik. ({5}) Nun sollte es auch der CDU/CSU möglich sein, sich dieser europäischen Gemeinsamkeit anzuschließen. ({6}) Das wäre ein Gewinn für unser Land und für Europa. ({7}) - Herr Kollege Müller-Hermann, ich bin immer für ein Gespräch offen. Ich rede hier ganz unpolemisch, ({8}) ich ringe geradezu darum, Sie davon zu überzeugen, daß es nicht nur in Ihrem eigenen Interesse liegt, sondern im Interesse unseres Landes; denn diese Entspannungspolitik ist für uns auch eine der Voraussetzungen, um bei der Lösung der deutschen Frage voranzukommen. Sie haben erhebliche Anstände gegen die Entspannungspolitik und die Vertragspolitik der Bundesregierung erhoben. ({9}) Aber Sie haben doch einem zugestimmt, Sie konnten doch eines unterstreichen: den Brief zur deutschen Einheit. Und zwar haben sie ihn deshalb mit unterstützt, weil wir uns im Ziel einig sind. Aber ich glaube, sie haben ihn auch deshalb unterstützt, weil die Bundesregierung in diesem Brief zur Deutschen Einheit die Lösung der deutschen Frage, die Wiederherstellung der staatlichen Einheit in einen europäischen Rahmen gestellt hat. „Auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken", heißt es, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Das ist es: Selbstbestimmung, Einheit. Aber eben: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken. Und um diesen Zustand des Friedens in Europa zu erreichen, brauchen wir zunächst einmal die Gemeinsamkeit der Zielsetzung und die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft. Deshalb ist das für uns eine der beiden fundamentalen Voraussetzungen jeglicher Entspannungspolitik. Die Bundesregierung hat von Anfang an einen Alleingang in der Entspannungspolitik abgelehnt, weil sie wußte: ein Alleingang in dieser Frage muß zum Scheitern verurteilt sein. Aber in der Gemeinschaft unserer Partner, in der EG und im westlichen Verteidigungsbündnis, da haben wir die Voraussetzungen, um Fortschritte in der europäischen Entspannung, aber damit eben auch in der Entspannung im deutsch-deutschen Verhältnis zu erreichen und zu ermöglichen. ({10}) Deshalb gehört das in eine Europa-Debatte mit hinein: das Ziel der deutschen Einheit. So verstanden, kann man ganz unbefangen auch den Begriff „Wiedervereinigung" verwenden, wenn man darunter versteht: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken. ({11}) - „In dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung", heißt es, Herr Kollege Reddemann. Sie sollten den Brief zur deutschen Einheit kennen. Gibt es mehr als freie Selbstbestimmung für ein Volk? Ich wäre glücklich, wenn wir es hätten. Sie wollen uns sicher nicht unterstellen, wir wellten darauf verzichten. Wir haben es bei dem Abschluß der Verträge zum Ziel der deutschen Politik gemacht. Das ist auch eine europäische Aufgabe. ({12}) Deshalb ist es richtig, was Kollege Bangemann gesagt hat: daß nämlich Entspannungspolitik und die Durchsetzung des Zieles, das im Brief zur deutschen Einheit steht, keine Gegensätze sind. Ja, ich sage: ohne eine europäische Friedensordnung besteht nicht die geringste Hoffnung, Fortschritte in der deutschen Frage durchsetzen zu können. ({13}) Deshalb ist die europäische Einigung für uns eben auch eine der Voraussetzungen, mit denen wir unsere Ziele als unteilbare deutsche Nation verwirklichen können. So ist die Diskussion, die wir heute über das führen, was Europa für uns bedeutet, nicht nur auf die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung gerichtet, so wichtig diese für die wirtschaftliche Stabilität, für die soziale Gerechtigkeit in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft ist; wir wissen, daß soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Stabilität und politische Stabilität untrennbar zusammengehören. Die Diskussion über das, was Europa bedeutet, was die Menschen von Europa erwarten, geht darüber hinaus. Was hat dieses Europa für das ganze Europa zu erfüllen? Denn auch darauf wurde hier mit Recht hingewiesen - ich stimme da mit Herrn Kollegen Klepsch und meinen anderen Vorrednern überein -: die Europäische Gemeinschaft ist ein Teil Europas, nicht das ganze Europa. Dieses andere Europa nicht zu vergessen, sondern mit ihm zusammenzuarbeiten, welche staatliche und politische Ordnung dort immer jetzt vorherrschen mag, das ist die große Aufgabe. Unsere Verpflichtungen zu erfüllen in der Dritten Welt, das sind die Aufgaben nach außen. Nun ist es möglich gewesen, in diesen Jahren - hier sicherlich nicht ohne die ganz entschiedene Mitwirkung der Bundesregierung - die erste Direktwahl für ein europäisches Parlament durchzusetzen. Herr Kollege Brandt hat heute darauf hingewiesen, daß das Fernsehen in Frankreich viel stärker als die Medien bei uns von der Auseinandersetzung im Wahlkampf Notiz nimmt. Das liegt natürlich auch daran, daß schon die Tatsache der Wahlen in Frankreich ein Punkt des Streites ist. Das zeigt doch eigentlich, welcher Weg in manchen Ländern zurückgelegt werden mußte. Ich möchte nicht zögern, anzuerkennen, welcher Mut, welche europäische Verantwortung, welche europäische Weitsicht dazu gehörten, daß sich der Präsident der Republik Frankreich für die Durchführung dieser Wahlen entschieden hat. ({14}) Ich sage das genauso an diejenigen, die in Großbritannien für die Durchführung der Wahlen eingetreten sind. Auch dort gab es Vorbehalte, weil man fürchtete, daß darunter die Kompetenzen des britischen Unterhauses leiden könnten. Nun wird es darauf ankommen, daß wir als politische Parteien und diejenigen, die für uns in dieses Parlament einziehen, die Möglichkeiten des Europäischen Parlaments voll nutzen, daß sie sich nicht mit dem zufriedengeben, was heute ist, sondern daß sie selbst dazu beitragen, daß das Gewicht dieses Parlaments durch die Qualität seiner Arbeit, durch seine europäische Verantwortung, durch den Ideenreichtum seiner Mitglieder erhöht wird. Aber ich denke, daß wir auch die Pflicht haben, die Bürger unseres Landes darauf hinzuweisen, daß es jeder einzelne Bürger mit in der Hand hat, über die Autorität dieses Parlaments und seinen Einfluß zu entscheiden und zu bestimmen, nämlich dadurch, daß er zunächst einmal zur Wahl geht. Wir sollten durch eine hohe Wahlbeteiligung bei uns in der Bundesrepublik Deutschland, durch ein Plebiszit der wahlberechtigten Bürger als erstes noth einmal deutlich machen: Wir sagen ja zu diesem Europa. Zweitens sollten die Bürger durch diese hohe Wahlbeteiligung zum Ausdruck bringen, daß sie dieses Parlament ernst nehmen, daß sie wollen, daß es als ihre europäische Vertretung die europäischen Dinge voranbringt. Deshalb ist dieses Mal Wahlrecht wirklich Wahlpflicht im staatsbürgerlichen Sinne, in der staatsbürgerlichen Bedeutung des Wortes. Dieses Parlament und die Wahl zu diesem Parlament werden den demokratischen Charakter Europas ausweisen und die Anziehungskraft dieses Europas der Neun weiter erhöhen. Wir haben am letzten Montag das Abkommen über den Beitritt Griechenlands unterzeichnet. Es war keine leichte Sache, das bei den Interessen, die manche Mitgliedstaaten hatten, durchzusetzen. Es ist eine europäische Tat gewesen, daß man das erreichen konnte. Spanien und Portugal warten darauf, wohl wissend, daß für sie die Unterzeichnung eines Beitrittsvertrages nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine politische Perspektive darstellt. Wenn wir daran interessiert sind, daß diese südeuropäischen Demokratien weiter gefestigt werden, daß sie ihre Anlaufjahre erfolgreich überwinden, sollten wir alles tun, um diese Demokratien durch schnelle Verhandlungen und ein gutes Resultat zu ermutigen. Die Bundesregierung ist sich ihrer europäischen Verpflichtung für die innere Entwicklung, für die Stärkung der Gemeinschaftsorgane bewußt. Sie kennt aber auch die Verpflichtungen, die diese Europäische Gemeinschaft nach außen hat, im Verhältnis zu den Staaten Osteuropas, in bezug auf die Aufgaben, die auf uns zukommen. Wir müssen gemeinsam mit unseren Partnern darum" ringen, daß die Einheit unserer Nation gewahrt bleiben kann. Schließlich sind wir uns der Verpflichtungen gegenüber der Dritten Welt bewußt. So gesehen erbitten wir am 10. Juni 1979 eben nicht das Ja der Bürger unseres Landes zu einer Zollunion, sondern wir erbitten ihr Ja zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Völkern Europas, einer Zusammenarbeit, die darauf gerichtet ist, Menschenwürde zu garantieren, das Selbstbestimmungsrecht weltweit zu vertreten, die Menschenrechte, die bürgerlichen wie die sozialen und kulturellen Rechte durchzusetzen, eine Gemeinschaft der Freiheit als Beispiel zu geben, aber sie anderen nicht aufzudrängen. Jeder wird nach seinen eigenen Umständen seine staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu entscheiden haben. Dieses Europa, das über viele Jahrhunderte der Welt nicht nur gute Beispiele, sondern auch das böse Beispiel selbstzerfleischender Kriege gegeben hat, gibt mit dieser Europäischen Gemeinschaft ein Beispiel der friedlichen Zusammenarbeit. Wir Deutschen wollen am 10. Juni und danach zeigen, daß diese friedliche Zusammenarbeit in Europa, für Europa und Europas mit der Welt unser großes gemeinsames Ziel ist. ({15})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Hassel. von Hassel ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redner des Vormittags und der beiden Nachmittagsstunden haben allgemein beklagt, daß der Gedanke Europa in der Bevölkerung, beim Wähler noch nicht so verfestigt sei, daß mit einer überzeugenden Sicherheit in die Wahl vom 10. Juni eingetreten werden kann. Verehrter Herr Außenminister, ich kann mir vorstellen, daß die Reden des heutigen Tages, die wie ein Roter Faden die Notwendigkeit Europas zeigten, die sich darin unterschieden, wie es aussehen soll, aber einheitlich die Notwendigkeit Europas zeigten, drei Monate früher, vor der Osterpause, und nicht erst wenige Tage, eine Woche, vor der eigentlichen Wahl hier in diesem Hohen Hause gehalten, wahrscheinlich eine größere Wirkkraft gehabt hätten. ({1}) Ich meine, es wäre daher gut gewesen, wir hätten die Antwort der Regierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom Anfang dieses Jahres bereits vor einigen Monaten absolviert. ({2}) Verehrter Herr Außenminister, Sie haben Ihre Einlassungen mit einer Kritik an meinem Kollegen Egon Klepsch begonnen und gesagt, er schiene hier einen Wahlkampf inszenieren zu wollen und er habe Ihnen aufgezählt und aufgelistet, wo die Regierung oder andere Regierungen versagt hätten. Ich glaube, Herr Außenminister, es ist wichtig, einmal bei Ihnen im Haus durch andere, vielleicht auch durch Sie, sorgfältig nachzulesen, was Herr Klepsch gesagt hat. Dann werden Sie eine ganze Reihe von Betrachtungen finden, die möglicherweise auch für die Aufgaben, die Arbeit der Regierung von einem Vorteil sein könnten. Sie haben wohl ein bißchen überhört, daß Egon Klepsch das ausdrückliche Angebot der CDU/CSU-Fraktion gemacht hat, Ihnen in den europäischen Fragen zur Seite zu stehen, mit Ihnen gemeinsam diese europäische Aufgabe in die Hand zu nehmen. Ich meine, daß Sie darüber nachdenken sollten, ob das nicht ein Ansatzpunkt dafür wäre, in den bevorstehenden schwierigen Fragen Europas in einer solchen Form miteinander zu verkehren, und zwar nicht nur so, daß man entgegennimmt, was dort geschehen ist und praktisch nichts mehr ändern kann, sondern daß man diesen Dialog zwischen Ihnen und der Opposition regelmäßig in einer guten Form und nicht nur dann und wann einmal betreiben kann, wenn Sie durch eine Große Anfrage von uns gezwungen sind, in diese Debatte einzusteigen. Ich meine, daß Herr Dr. Klepsch deutlich gemacht hat, wie das gemeinsame Interesse an Europa durch solch eine gemeinsame Politik allgemein zugunsten Europas verstärkt werden könnte. Herr Außenminister, drittens haben Sie Herrn Klepsch kritisiert, daß er Bemerkungen zum Eurovon Hassel päischen Rat, also zu dem Gremium der Staatspräsidenten und Regierungschefs, gemacht hat. Sie fragten, ob er dieses Gremium beseitigen wolle, ja oder nein. Keine einzige Äußerung ging auch nur andeutungsweise in diese Richtung. Klepsch hat dargelegt, daß die Arbeit heute dadurch erschwert sei, daß sowohl der Ministerrat als auch der Europäische Rat darüber noch einmal zu befinden hätten, daß es eine Zeitvergeudung sei und daß eine Tendenz bestehe, daß der normale Ministerrat Dinge, die ein bißchen komplizierter seien, nach oben abgebe und sich so oben beim Europäischen Rat soviel aufhäufe, daß er in einem überschaubaren Zeitraum mit den Problemen nicht mehr fertig werden könne. Er hat zweitens kritisiert, daß man diesen Europäischen Rat jenseits der eigentlichen Tagesdinge, jenseits derer angesiedelt habe, die auch mit Europa zu tun haben, so daß kein Dialog zwischen dem Rat und beispielsweise dem Europäischen Parlament bestehe. Er hat also einen konstruktiven Vorschlag gemacht, wie man den Europäischen Rat so einbinden könne, daß er in seiner Gesamtheit gemeinsam - Europäischer Rat, Ministerrat und Parlament - mit der Kommission vorankommen kann. Herr Außenminister, Sie haben dann einen Vorwurf aufgegriffen, der Legendenbildung Vorschub leisten könnte. Sie haben darauf verwiesen, daß man sich zu der Zeit, als die Christlichen Demokraten die Regierung gebildet hätten, erst allein, später in der Großen Koalition, mit den Franzosen nicht habe verständigen können; auf der anderen Seite habe de Gaulle gestanden. Sie sagen, zu unserer Zeit sei der leere Stuhl in Luxemburg entstanden. Sie sollten noch einmal genau nachsehen. Dieser leere Stuhl ist entstanden, als der Außenminister in einer Großen Koalition nicht von uns gestellt wurde. Wenn Sie lobend herausstellen, daß auf der großen Gipfelkonferenz von Den Haag im Dezember 1969 wenige Monate nach dem Antritt der Regierung Brandt, in der Sie Innenminister und der heutige Bundespräsident Außenminister waren, diese Möglichkeiten des Neubeginns für Europa zu Ihrer Zeit, zwei Monate nach Ihrem Antritt, in Den Haag geschaffen worden seien, dann muß ich Ihnen sagen: Die Entwicklung für Den Haag hat lange vorher eingesetzt. Der damalige französische Staatspräsident Pompidou ist derjenige gewesen, der schon zur Zeit des Regierungschefs Kurt Georg Kiesinger die Rückkehr auf den Stuhl in Aussicht gestellt hat. Sie sagen dann fünftens bei der Frage der Entspannungspolitik, da seien wir offenbar - durch einen Zwischenruf sei das erhärtet worden - der Meinung, Entspannungspolitik gebe es nicht. Sie kritisieren im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik, daß wir als Christliche Demokraten uns gegen Helsinki ausgesprochen hätten. Ich möchte noch einmal die Zwischenfrage meines Kollegen Jäger und Ihre Antwort aufnehmen. Alle europäischen Christlichen Demokraten, die in einer Organisation der Europäischen Union Christlicher Demokraten zusammengeschlossen sind, haben sich in zwei großen Sonderkonferenzen mit der Vorbereitung für Helsinki beschäftigt, später mit der Vorbereitung für die Nachfolgekonferenz in Belgrad, und haben dabei klare Grundlagen erarbeitet und über ihre nationalen Regierungen, soweit sie sie stellen, eingespeist. Die Grundlagen drücken genau das aus, was der Kollege Jäger hier gesagt hat, daß man nämlich an den Rechten der Deutschen im anderen Deutschland nicht vorbeigehen dürfe und diese großzuschreiben habe. ({3}) Vor diesem Hintergrund haben wir uns damals auf die Konferenz von Helsinki vorbereitet. Wir waren bereit, in Helsinki die Fragen gemeinsam zu erörtern. Diese Prämisse aller Christlichen Demokraten ist in der Dokumentation, die Ihnen zur Verfügung gestellt werden könnte, dargestellt. Verehrter Herr Außenminister, Sie haben ganz zum Schluß einen Gedanken aufgegriffen, den ich in einer Rede gelesen habe, die Sie vor genau acht Tagen, am Donnerstag der vorigen Woche, bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen gehalten haben. In dieser Rede haben Sie zwei oder drei für mich ungemein bemerkenswerte Darstellungen gegeben. Ich gehe davon aus, daß diese in Aachen gehaltene Rede zwar außerhalb des Parlaments gehalten wurde, daß aber im Parlament eine gleichartige Rede gehalten werden könnte. Sie haben dort nämlich in einer sehr feinsinnigen Darstellung das Thema der Freiheit behandelt, der Freiheit des Individuums, des Menschen, der die Chance haben müsse, sich in diesem Europa, in der Welt zu entwickeln, zu entfalten. Sie haben das in einer Form dargestellt, daß es eigentlich die CDU im Wahlkampf verbreiten sollte, weil es genau unseren Thesen von dem freien sozialen Europa entspricht. Sie haben zweitens in Aachen, aber nicht hier gesagt - ich bedaure das vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Einlassungen des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei heute vormittag; ich bedaure, daß er nicht da ist, denn ich möchte ihm ebenfalls antworten - ({4}) - Das ist richtig. Ich mache ihm auch keinen Vorwurf. ({5}) - Ich habe gesagt, ich bedaure es, daß er nicht da ist, weil ich nämlich ganz gerne ihm und nicht seinem Substitut antworten möchte. ({6}) Ich werde es trotzdem tun, weil er ja verhindert ist. Sie, Herr Außenminister, haben bei dieser Gelegenheit - darauf komme ich nachher noch einmal zurück - die Rechte, die diesem Parlament gegeben werden müßten - ich darf sie nachher noch einmal aufzählen - in einer Form dargestellt, mit der Sie unsere volle Unterstützung finden. Ich darf mich in diesem Zusammenhang zunächst noch einmal dem Herrn Kollegen Brandt zuwenden, der sagte, wir hätten es - in der Rede von Herrn Klepsch heute morgen - so dargestellt, daß das von Hassel Erstgeburtsrecht für Europa von uns in Anspruch genommen würde. Sie verweisen dazu auf Ihr Heidelberger Programm des Jahres 1925, Sie verweisen auf Bebel. Niemand in diesem Hause will in der Geschichte zurückblättern. Wir sind vielmehr der Meinung, daß die Diskussion über Europa in diesem Hause dort anzufangen hat, wo die Parteien dieses Hauses mit ihrer Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. 1949 beginnen können. ({7}) Da besteht kein Zweifel, daß die Sozialdemokraten, von einzelnen abgesehen, bei den großen ersten Schritten für Europa weithin nein gesagt haben. Ich will darauf jetzt nicht zurückkommen, aber wenn Sie schon das Jahr 1925 nehmen, sollten Sie zumindest auch erwähnen, daß es ja zwei europäische Politiker von hohen Graden gegeben hat, die 1925 einen konkreten Versuch unternommen haben, die nicht ein Programm geschrieben, sondern einen konkreten Versuch unternommen haben, ({8}) nämlich Briand auf der einen Seite und Gustav Stresemann auf der anderen Seite. Das große Denkmal für Gustav Stresemann steht im von uns geführten Land Rheinland-Pfalz im Hause der Staatskanzlei. ({9}) Gustav Stresemann hat es versucht, und erst nachher, als Briand nicht mehr Außenminister war, ist das unterbrochen worden, und später ist er darüber hingestorben.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter von Hassel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? von Hassel ({0}) : Bitte schön, Herrn Wehner immer.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte schön.

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie bitte so freundlich sein, in den Sitzungsprotokollen des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1963 nachschlagen zu lassen, um zu sehen, wie der sicher von Ihnen und auch von mir hochgeschätzte Bundeskanzler Konrad Adenauer deutlich gesagt hat, was er zu den Männern, die Sie eben genannt haben, in bezug auf Europa zu sagen hatte, und wie er dann darauf zurückgegriffen hat, daß ja Jahrzehnte vorher die Sozialdemokraten, z. B. Bebel usw. Und dann hat er gesagt, es wäre uns der Weltkrieg erspart geblieben. Würden Sie das bitte einmal lesen lassen, damit wir uns hier nicht unnütz auseinandersetzen? von Hassel ({0}) : Eine Sekunde, verehrter Herr Wehner, wir setzen uns gar nicht auseinander, denn ich füge von mir aus hinzu, daß damals die Sozialdemokraten die Politik Stresemanns in dieser Richtung ausdrücklich unterstützt haben. Es ist aber sehr amüsant, daß Sie immer dann, wenn Sie einmal in Schwierigkeiten sind, Konrad Adenauer zitieren. ({1}) Mehrmals war auch ich drauf und dran, mich als einer der engeren Zeitgenossen Adenauers dazu zu äußern, z. B. bei der berühmten Geschichte, er hätte erklärt, die Sowjets wären nicht angriffslustig, sondern auf Frieden gestimmt. Aber diese Geschichte kennen wir; wir wollen sie jetzt nicht noch einmal aufrollen. Ich möchte Ihnen, Herr Wehner, nur sagen: Wenn man über das Heidelberger Programm spricht, muß man auch, weil das in dasselbe Jahr fällt, über Stresemann sprechen, den wir für uns in Anspruch nehmen. ({2}) Das zweite ist die Bemerkung von Herrn Brandt, man solle beim weiteren Gang der Dinge nicht zu optimistisch hinsichtlich der demokratischen Entwicklung sein, die die Direktwahl bringen würde. Er sagte, es gebe viele, die gar nicht wüßten, worum es eigentlich gehe. Er sagte, man müsse den Zögernden Beine machen. In der Tat, ich wiederhole es: Es wäre gut gewesen, wenn wir früher diskutiert hätten; dann würden heute mehr wissen, worum es in diesem Europa geht. „Beine machen" finde ich an sich sehr richtig. Da ist aber an die Sozialdemokraten die Frage zu stellen, inwieweit sie denn ihren eigenen Partnern im europäischen Geschehen Beine gemacht haben. Wo eigentlich ist sichtbar geworden, daß bei vielen Begegnungen sowohl der sozialdemokratischen Führung als auch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers etwa mit Callaghan, etwa mit Mitterrand, etwa mit Anker Jörgensen die Fragen Europas und die Rechte dieses Europäischen Parlaments so hätten behandelt werden können, daß aus den vielen intimen Begegnungen auch etwas Positives herausgekommen wäre, daß nämlich die Widerstände von dort her abgebaut worden wären? Sie sagen, man müsse dem Parlament die Rechte geben, die sachlich geboten sind, man müsse die Probleme einvernehmlich lösen, man müsse es durch Konsens schaffen, und man würde es sicher noch nicht in fünf Jahren zuwege bringen. Daß wir nur Rechte haben wollen, die sachlich geboten sind, brauchen wir wohl nicht zu erwähnen, auch nicht, daß wir es nur einvernehmlich machen müssen und nicht gegen die Gaullisten und nicht gegen die Labour Party und gegen Anker Jörgensen, sondern mit ihnen. Ich bin der Meinung, meine verehrten Kollegen von der sozialdemokratischen Seite, wenn Sie auch in den privaten Gesprächen etwa mit Callaghan oder mit Mitterrand vernünftige Darlegungen machen, können Sie ihnen klarmachen, daß es doch wohl eine Farce ist; daß man nur Mitglied der Gemeinschaft werden kann, wenn man als Land demokratisch verfaßt ist: Portugal, Spanien, Griechenland vorher nicht, danach ja; und kaum sind sie in der Gemeinschaft, dann finden sie, daß neun Minister das Recht setzen, neun Mivon Hassel nister es durchführen, neun Minister sich kontrollieren. Man wird das doch Herrn Callaghan, der Demokrat ist, klarmachen können, daß so etwas unmöglich ist und daß daher über die Frage der Rechte einvernehmlich ein Konsensus erreichbar sein müßte. Deshalb finde ich, daß es falsch ist, zu meinen, man könne nicht weiterkommen, weil der Konsensus noch nicht da ist. Man soll sich darum bemühen. ({3}) Wer die Zeitungen Frankreichs genau studiert, wird dabei feststellen, daß es bereits eine ganze Reihe Anhaltspunkte dafür gibt, daß man auch auf französischer Seite dort, wo man gegen Rechte gewesen ist, ein wenig nachzudenken beginnt und meint, daß es in der Tat ohne Rechte auf die Dauer nicht abgehen kann. Warum aber sagen Sie, in den ersten fünf Jahren werde es nicht möglich sein? Warum schiebt man das gleich auf die lange Bank? Warum sagt man nicht: „Wir fangen an, wir versuchen es, wir werden zäh und unverdrossen und mit vielen Freunden, die auch gerade wir Christlichen Demokraten im Europäischen Parlament haben, diese Rechte zu erörtern beginnen"? Da hinein gehörte - die Zeit reicht nicht, es vorzutragen - der ganze Katalog von Rechten, verehrter Herr Außenminister, den Sie vor acht Tagen in Aachen in einer großen Ansprache aus Anlaß der Ehrung des christlich-demokratischen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Colombo, gehalten haben. Man möge es nachlesen. Wir unterstreichen Satz für Satz, was Sie dort sagen. Wir unterstreichen auch, was Sie dort in Aachen gesagt haben, daß dieses Parlament eine Konstituante sei oder sein solle, Wir haben heute morgen von Herrn Brandt gehört, daß es keine Konstituante sei, sondern daß man sich darauf einstellen müsse, daß der Zeitraum größer sein werde, als zunächst einmal von uns angenommen. Das meine ich auch. Aber wenn wir gleich alles vorausschieben, dann werden wir ständig vor uns herschieben und uns in nichts mehr verständigen können. ({4}) Dann sagt Herr Brandt viertens, die Unaufrichtigkeit in unserem Land müsse er einfach einmal nennen. Er deutete an, daß man zur Zeit Adenauers und de Gaulles genau gewußt habe, daß Europa nicht weiterkomme und daß die Verträge von Rom nicht von der Stelle kämen. Herr Brandt ist nicht da. Aber vielleicht wird ihm Herr Friedrich berichten, und er wird es nachlesen. Bei den Gipfelbegegnungen zwischen Adenauer und de Gaulle sind zwei Angehörige dieses Hohen Hauses die ganze Zeit dabei gewesen. Der eine war der damalige Außenminister Gerhard Schröder. Glauben Sie, daß der nicht jede Gelegenheit genutzt hat, innerhalb des großen Kreises oder unter vier Augen mit seinem Kollegen Couve de Murville darzulegen: „Für uns ist in der europäischen Entwicklung die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich maßgebend. Aber die Grundlage sind außerdem die Römischen Verträge." Mein Partner, der dortige französische Verteidigungsminister Pierre Messmer, kannte von uns genau die Auffassung der Christlichen Demokraten, so daß das Wort „Unaufrichtigkeit", das Herr Brandt hier gebraucht hat, einfach nicht den Tatsachen entspricht. Mit dieser Legende möchte ich aufräumen. ({5}) Das fünfte, was er uns vorhält, ist die Frage nach dem Wunschdenken. Ich weiß sehr wohl, daß manches Wunschdenken sicher diesem oder jenem Redner eigen ist. Aber wie war es 1949, als Konrad Adenauer als Wunschdenken die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, als Wunschdenken ein vereinigtes Europa darlegte? Wie viele haben dort gelächelt und gemeint, das erleben wir, diese Generation, nicht mehr. Meinen Sie nicht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß auch Wunschdenken politische Richtungen mit befördern kann? Sollte man deshalb, weil es vielleicht als Wunschdenken abqualifiziert werden könnte, eventuell auf jede derartige Vision verzichten, wie sie Adenauer damals hatte, wie wir sie heute haben und wie Sie, Herr Außenminister, sie in Aachen sehr gut dargestellt haben, eine Vision, die wir mit Ihnen teilen? Die sechste Frage: Herr Brandt sagt: Wir sind kein Schmelztiegel. Wir wollen keine schlechte Kopie der Vereinigten Staaten sein. Wir wollen keine Gigantomanie. Wem eigentlich wirft er das vor? Die Auseinandersetzung ging einen Augenblick mit den Grünen, ansonsten doch nur mit uns. Ich verwahre mich dagegen, daß man uns vorhält, wir seien die Gigantomanen, wir seien diejenigen, die dieses Europa als Schmelztiegel betrachten, wir wollen deutsch bleiben, wir wollen Franzosen, wir wollen Engländer bleiben in der europäischen Einheit! Die schönste Darstellung aber müßte man zu der Verteidigung geben, daß man sozialistisch genannt sei. Die Sozialdemokraten dürfen sich nicht wundern, wenn man sagt, sie seien Sozialisten, und sie wollen ein sozialistisches Europa; denn sie sagen es selber. Wenn man ihre Freunde betrachtet - genannt wurde Felipe Gonzales -, so hat Gonzales versucht, das Wort „marxistisch" aus seinem Parteiprogramm herauszukriegen und ist mit zwei Dritteln zu einem Drittel gescheitert. Gonzales Freunde haben bei der Kommunalwahl in 2 000 Fällen auf kommunaler Ebene die Liaison mit den Kommunisten zustande gebracht. Wundern Sie sich, wenn man außerdem Craxi, wenn man Mitterrand kennt, wenn wir unsere Sorge um eine solche Entwicklung darstellen? ({6}) - Sie könnte ausgeräumt werden, verehrter Herr Wehner, wenn Sie nicht so häufig in den Osten führen, sondern dann und wann auch einmal nach Paris und Ihre Freunde dort zurecht brächten oder nach London oder nach Spanien. ({7}) In diesem Sinne, meine ich, daß wir unsere politische Arbeit in einer Form heute hier leisten können, in der wir dem kommenden 10. Juni mit Inter12540 von Hassel esse entgegensehen. Wir dürfen uns aber nicht darauf beschränken, das Europa der Gemeinschaft der Neun zu sehen, sondern wir müssen das ganze Europa, wir müssen aber auch unsere Aufgabe in Straßburg und in der Westeuropäischen Union sehen. Auch das gehört zu Europa! ({8})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, es liegt im Interesse einer Gestaltung der Debatte, wenn ich auf das entgegne oder dem zustimme, was Herr von Hassel hier gesagt hat. ({0}) Ich habe mich in Aachen dafür ausgesprochen, daß das direkt gewählte Europäische Parlament den Entwurf einer Verfassung für Europa ausarbeiten möge, der dann den Bürgern Europas und seinen Regierungen zur Annahme vorgelegt werden kann, weil das den Verträgen entspricht. Ich denke, daß Herr Kollege Brandt recht hat. Das Europäische Parlamenf kann nach den Verträgen keine verfassunggebende Versammlung in dem Sinne sein, daß es verbindlich für die Europäische Gemeinschaft eine Verfassung verabschiedet. Aber es kann aus meiner Sicht überhaupt kein Zweifel bestehen, daß das Parlament seine Aufgabe verfehlen würde, wenn es nicht im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten einen solchen Verfassungsentwurf erarbeitete, ({1}) der dann von den zuständigen Organen und von den Bürgern angenommen werden kann. Niemand in Europa wird sich einem Votum aller wahlberechtigten Bürger dieser Gemeinschaft entziehen können; deshalb auch das Votum der Bürger. Ich möchte das klarstellen. Das ist meine Überzeugung. Ich hoffe, sie wird Wirklichkeit. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Friedrich.

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute als Vorlage die Große Anfrage der Union. Wir haben den Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften, wobei ich nach dem Verlauf der Debatte und nach den Ausführungen vor allem des Kollegen Klepsch der Meinung bin, daß die Große Anfrage - da will ich durchaus einräumen, daß es nicht gut ist, wenn Große Anfragen zu spät behandelt werden - eher vom Thema der Direktwahl ablenkt, weil alle Bürger in diesem Lande erwarten, daß wir über die gegenwärtige Situation des Parlaments hinaus auf die europäische Zukunft blicken. Auf der anderen Seite wird von der Bundesregierung im Bericht der Abschnitt markiert, der in den letzten zehn, fünfzehn Jahren der entscheidende Fortschritt in der Europäischen Gemeinschaft ist. Wir machen Ihnen nicht den Vorwurf, daß Sie in den ersten 13 Jahren der Römischen Verträge unter Ihrer Regierungsverantwortung nicht die Direktwahl geschaffen haben. Aber dann sollten Sie dieser Regierung nach zehn Jahren nicht vorwerfen, es sei zu spät. Daß hier auch die Europäische Einigung so in den Parteienkonflikt einbezogen wird, ist bedauerlich. Dabei ist es allerdings - das räume ich ein - eine sehr, sehr milde Ausgabe, wenn man es mit dem vergleicht, was alltäglich in Inseraten zu lesen ist. Herr Kollege von Hassel, die Schiene, auf der Sie sich unbewußt bewegen, ist klar geworden, als Sie sagten, der Vorsitzende der SPD und Außenminister der Großen Koalition sei für die Politik des leeren Stuhls verantwortlich. Wenn ich ein Wort von Ihnen aufnehme - ich würde keinen Nachredner so bezeichnen -: Ich weiß nicht, wer das Substitut Ihrer Gedächtnislücke ist, da ich Sie dafür nicht verantwortlich machen möchte. Aber es hat viele Gespräche mit dem damaligen Außenminister Gerhard Schröder gegeben, der diese Situation in seiner außenpolitischen Verantwortung 1965 durchstehen mußte. Das Schlimme ist, daß diejenigen, die eigentlich am gleichen Strang ziehen, heute zunächst einmal nachkontrollieren: Wie kann ich dem innenpolitischen Gegner europäische Versäumnisse, die sich aus der europäischen Situation ergeben, anlasten?, ehe sie fragen, ob die Situation in anderen Ländern Ursache gewesen ist. ({0}) Bitte korrigieren Sie das, wenn ich nicht recht haben sollte. Aber es ist nicht gut, wenn wir so mit einander umgehen. Ich habe eine andere Meinung als Herr Kollege Klepsch. Wer in diesem Land weiß denn auch nach 14 Monaten, seitdem der Termin der Direktwahl bestimmt ist, wie es im europäischen Parteienspektrum aussieht? Es ist doch so leicht: Haust du meinen Mitterrand, haue ich deinen Chirac; haust du meinen Wedgewood Benn, hau ich deinen Andreotti. Das ist doch eine schlimme Situation, weil wir aus dem Blick verlieren, daß in den europäischen Ländern die politischen Bedingungen und die kulturelle, die geistige Tradition zu einer unterschiedlichen Einstellung zur europäischen Einigung geführt haben. Dann sehe ich, daß bei bestimmten Dingen Türken aufgebaut werden. Aber das kann man heute wegen der vielen türkischen Mitbürger auch schon nicht mehr sagen. Man kann auch „Potemkinsche Dörfer" sagen. Ich könnte es mir ganz einfach machen. Es gibt seit 1889 einen Zusammenschluß der europäischen sozialistischen Parteien. Weil sie sich damals unter dem Gedanken der von August Bebel vertretenen europäischen völkerversöhnenden Politik zusammengeschlossen haben, wurden sie „vaterlandslose Gesellen" genannt. Dies setzt sich leider fort. Ich lese z. B. in den „Lauenburgischen Nachrichten" - Herr von Hassel, aus Ihrem Bereich -: Alexander von Bismarck, Friedrich ({1}) stellvertretender Landesvorsitzender der Jungen Union Schleswig-Holsteins, bezeichnete Brandt und Wehner vor den etwa 200 Delegierten zunächst als „vaterlandslose Gesellen", dann sogar als „Landesverräter". - Da können Sie nicht mehr sagen, Sie wollten über die Gegenwart reden, wenn sogar die gleichen Namen der Vergangenheit die alten Übel der Vergangenheit auf ehrenwerte Demokraten übertragen, die wir heute in Europa brauchen, weil sie in der schlimmsten Zeit Deutschlands das bessere Deutschland in der Welt vertreten haben. ({2}) Wenn Sie schon die letzten 100 Jahre der deutschen Geschichte abstreichen wollen, wieso beanspruchen Sie dann ganz für sich allein die letzten 2000 Jahre europäischer Geschichte? Ich darf hier einmal vorlesen, worum es am 10. Juni angeblich geht: Von Grönland bis Sizilien wird entschieden, wie dieses Europa in der Zukunft gestaltet werden soll. Ob es, wie in den letzten zwei Jahrtausenden, christlich-abendländisch oder sozialistisch, marxistisch, kommunistisch sein oder werden soll; das ist die Entscheidung, die vor uns liegt. ({3}) Das erklärt ein Mann, zu dem in diesem Hause zumindest der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion oder der niedersächsische Landesvorsitzende, Herr Hasselmann, den ich heute früh gesehen habe, oder vielleicht der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht etwas sagen sollte: Herr Hans Edgar Jahn, den Sie als Kandidaten offensichtlich zurückgezogen haben. Wir haben angesichts der Tatsache, daß seine Kandidatur in den großen Zeitungen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft als eine Provokation für das demokratische Europa bezeichnet wird, zumindest das Recht, von Ihnen zu verlangen, daß Sie dazu eine Erklärung abgeben. ({4}) Ich würde auch davor warnen, einen Demokraten wie François Mitterrand zu einem Schreckgespenst aufzubauen. Wir sollten froh sein, daß dieser Francois Mitterrand dafür gesorgt hat, daß die stärkste Oppositionspartei in Frankreich nicht die kommunistische Partei ist. Dies ist das erste. Das zweite ist: Sie wissen sehr wohl - und die Bürger dieses Landes wissen es eben nicht -, daß es in Frankreich ein Wahlrecht gibt, das zu Koalitionen zwingt, zu widernatürlichen, wie zu Bismarcks Zeiten auch das Zentrum ab und zu mit der Sozialdemokratie - eben wegen der damaligen Wahlrechtsstruktur - zusammengearbeitet hat. ({5}) - Das ist eine Wahlkoalition. Man kann nicht an die Position unserer Nachbarn so herangehen, daß wir Ihnen z. B. vorhalten würden, daß Herr Andreotti in seiner schwierigen Situation im, wie es so schön heißt, „Parteienregenbogen" mit Kommunisten zusammenarbeitet. Herr Klepsch hätte sich einmal das durchlesen sollen - das ist überall zu bekommen; er als Spitzenmann, Spitzeneuropäer verfolgt das offensichtlich nicht -, was Francois Mitterrand ausgerechnet in seinem Landesverband, in Rheinland-Pfalz, auf einer gesamteuropäischen Konferenz in seinem Hauptreferat zum Thema „Europäische Humanität - kulturelle Demokratie" gesagt hat. Was versteht dieser Mitterrand unter einem sozialistischen Europa, unter einem, wie wir hier sagen würden, sozialdemokratischen? Er nannte als Wertvorstellungen Demokratie, Freiheit und etwas, was in Deutschland nicht so selbstverständlich folgt: Kultur. Bei uns wird an dieser Stelle immer die Soziale Marktwirtschaft genannt. Weiter sagte er: Wir wollen, daß die älteren Menschen in Europa nicht untergehen in der Einsamkeit der Massen und die jungen Menschen nicht deformiert werden in der Konsumgesellschaft. ({6}) Dieser Mitterrand sagte in Metz, also nicht nur in Deutschland, zweimal: Ich bin kein Marxist. In Frankreich braucht er das nicht aus opportunistischen Gründen zu sagen. Er sagte in Frankreich ferner: Wenn wir nach Deutschland blicken, sollten wir nicht vergessen: Die ersten Konzentrationslager sind nicht von den Deutschen gebaut worden, sondern sie sind von Hitler für Deutsche gebaut worden. Und es waren Deutsche, die als erste in die Konzentrationslager kamen. - Da müßten Sie sich schon anstrengen, daß Ihre Partner, die Sie als CDU nach Bonn einladen, z. B. Herrn Chirac im letzten Herbst, etwas Ähnliches sagen wie dieser François Mitterrand, der gemeinsam mit Giscard für Europa kämpft. Über das Europa-Parlament ist in Bonn im vorigen Jahr nichts so Verächtliches gesagt worden wie von Herrn Chirac. Und Herr Kohl hat dazu geschwiegen. ({7}) Das ist die Situation. Soweit es um Polen geht, würde ich es mir hier vor der Direktwahl nicht so einfach machen. Beim 2. Deutsch-Polnischen Forum haben sich Polen geäußert. Es waren Kommunisten. Das Wort „Kommunisten" muß man in Europa aussprechen. Die gehören zu Europa. Die Polen haben gesagt, sie befürchten eine verstärkte Trennung durch die Direktwahl. Wenn Sie hier so tun, als ob die Kommunisten die Polen hindern, Mitglied in der Gemeinschaft zu werden, muß ich sagen: So leicht kann man sich die Historie nicht machen. „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen" - das ist das Problem, das wir mit Polen zu bewältigen haben, ebenso, daß es ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hat. Wenn es um eine Aussöhnung in Europa geht und weiter gehen wird, dan geht es um diese Aussöhnungsachse mit Frankreich und mit Polen. Wenn am 10. Juni, am Tag der ersten europäischen Direktwahl, ein polnischer Papst in Polen sein kann, dann wäre dies ohne die Entspannungspolitik unmöglich. Aber die Christdemokraten der Bundes12542 Friedrich ({8}) republik Deutschland haben sich an dieser Aussöhnung mit Polen und dieser Entspannungspolitik nicht beteiligt. Das müssen wir betrauern. ({9}) Wann - ich muß immer wieder die Frage stellen - wird Herr Kohl seine 1975 angekündigte Reise nach Polen als Vorsitzender der CDU antreten, die er nach einem Brief des CSU-Vorsitzenden Strauß abgesagt hat? Dies sind die Realitäten. Wer ganz Europa sieht, muß natürlich auch die osteuropäischen Staaten sehen, freilich nicht unter dem Aspekt „Wir wollen befreien und entkolonialisieren", als ob es die Möglichkeit der Zusammenarbeit nur durch den Sturz dieser Regierungen gebe. Vor zwei Tagen habe ich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Kommuniqué gelesen, wo es heißt, Kardinal Stefan Wyszynski sei in Warschau mit Parteichef Gierek zusammengetroffen; beide Seiten seien sich darüber einig, daß dies ein historisch wichtiges Ereignis sei. Gierek habe sich zufrieden über die Haltung des Papstes geäußert und versichert, daß der Besuch der Einheit der Polen, der Stärkung des Ansehens Polens in der Welt und der weiteren Entwicklung guter Beziehungen zwischen Staat und Kirche dienen solle. Kardinal Wyszynski stellte dem von der amtlichen Nachrichtenagentur veröffentlichten gemeinsamen Kommuniqué zufolge fest, daß die Wichtigkeit der religiös-moralischen Arbeit der Kirche zunehmend anerkannt werde. Ein solches Kommuniqué war in der Zeit des Kalten Kriegs unmöglich. Um den Kampf, den Sie zur Zeit in sich austragen, beneiden wir Sie nicht. Es geht nicht um Personen, sondern um Richtungen. Dies ist klar. Die Frage ist, wie lange Sie Personenkämpfe in Ihrer Partei führen, um den Richtungsentscheidungen, die seit Jahren fällig sind, auszuweichen. Das ist Ihr Problem. Dies ist auch ein europäisches Problem, weil eine Partei der Bundesrepublik Deutschland mit 48 % der Wähler eine europäische Größe und zugleich ein Faktor der Instabilität ist, wenn sie die gesamteuropäische Politik aller europäischen Staaten nicht mitträgt. ({10}) Diese Frage sollten Sie auf sich nehmen. Was hier zu den Gewerkschaften gesagt wird, ist sehr widersprüchlich. Zuerst heißt es in Anzeigen „Freie Gewerkschaften für Europa - CDU"; dann werden Gewerkschafter abgebildet, und dann im anderen Inserat der sozialistische Gewerkschaftsstaat. Die anderen europäischen Staaten beneiden uns um die demokratische Verantwortungsbereitschaft und das demokratische Verantwortungsgefühl der deutschen Gewerkschaften. ({11}) Welcher Gewinn wäre es für Europa, wenn in diese gesamteuropäische Begegnung die Erfahrungen unserer Gewerkschaften einfließen könnten? Ich weiß nicht, wie Herr Kollege Bangemann zu den Freiburger Thesen seiner Partei steht, die damals in Freiburg wirklich ein neues Verhältnis zu den Gewerkschaften in ihrer ganzen Geschichte definiert hat, sogar in der ganzen Geschichte des Liberalismus. Nur: Man kann doch nicht den Präsidenten des Handwerks und andere Präsidenten in das Parlament schicken - ich halte es für richtig, daß sie hinfahren -, man kann doch heute nicht den Agrarmarkt mit 75 % im Haushalt, wenn ich richtig informiert bin, zur dominierenden Position machen, aber die Interessen der Arbeitnehmer dürfen nur der Wirtschaft, die sich längst in Europa vereinigt hat, dürfen nur den Banken - inzwischen sind es fast 140 Banken, die sich allein in Luxemburg ansiedeln - überlassen werden. Alle anderen dürfen nach Europa, nur die Arbeitnehmer nicht. Was ist das für ein pluralistisches Verständnis? ({12}) Wir sollten am heutigen Tage auf zwei Fragen eingehen. Ich habe das Empfinden, daß die Bürger in unserem Lande - ich bin einer, der diese Arbeit seit 14 Monaten macht, die vielleicht erst 10 oder 20 Jahre später Früchte tragen wird - spüren, daß diese Europawahl sie plötzlich mit der eigenen, der deutschen Situation konfrontiert. Es geht eben nicht nur um Kompetenzen, sondern es geht um den Sinn dieser Wahl. Der politisch historische Akt der ersten Europawahl geht weit über den Rang des Parlaments, wie es auch sein mag, hinaus. Ich darf ein Beispiel bringen: In diesem Jahrhundert - dieses Jahrhundert ist im letzten Viertel - haben die Bürger Europas von ihren Staaten nur dreimal gleichzeitig die Aufforderung erhalten, sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einzufinden. 1979 ist es die Aufforderung zur Direktwahl. 1914 und 1939 waren es die Gestellungsbefehle aus Anlaß der Mobilmachung. Das sind die drei Fälle. Die Mütter und die Frauen wären 1914 und 1939 mit ihren Männern und Söhnen sicher viel lieber zur Wahlurne einer Europawahl gegangen als zum Bahnhof, von dem viele nicht zurückkehrten. ({13}) - Das ist gar nicht zum Klatschen. - Am 10. Juni dieses Jahres werden die Mütter nicht auf den Bahnhöfen Europas stehen und weinen. Wem dies bewußt ist, für den ist das Wahlrecht eine moralische Wahlpflicht, es sei denn, er entledigt sich seiner eigenen Erfahrungen, die er doch nach 1945 nie vergessen wollte. ({14}) Deshalb bin ich auch nicht skeptisch. Ich selbst habe das Empfinden - die Wahlbeteiligung wird es beweisen -, daß in der Bundesrepublik Deutschland auch dann Bürger zur Wahl gehen werden, wenn sich die Parteien nicht hemmungslos und demagogisch beschimpfen. Deshalb haben wir uns in diesen Wochen und auf diesem Weg zu Europa auf einen konstruktiven Beitrag für das künftige Europa konzentriert und nicht auf das, was wir seit zehn Jahren in diesem Hause an Auseinandersetzungen erleben. Friedrich ({15}) Natürlich ist die zweite Frage die nach den Kompetenzen dieses Parlamentes. Hier habe ich Verständnis dafür - diese Frage wird ja auch von den Parlamentariern selbst immer wieder gestellt -, daß man dem Bürger keinen Vorwurf machen kann, wenn er diese Frage ständig neu stellt. Wir werden hier mit einem parlamentarischen Selbstverständnis Europas brechen müssen, das bisher das Denken bestimmt hat und das wahrscheinlich dazu führt, daß bei dieser ersten Wahl nicht die Spannung, wie man sie sonst gewohnt ist, in den Wahlkampf kommt. Nach europäischem parlamentarischen Verständnis ist es die Aufgabe von Parlamenten, Regierungen zu bilden oder zu stürzen. Da es aber auf lange Zeit keinen europäischen Zentralstaat geben wird - denn die Luxemburger, die Dänen, die Iren, die Holländer, die Belgier sagen: „Wir wollen unsere Identität bewahren und nicht in einem Einheitsbrei der Großen zwischen Deutschen, Briten und Franzosen verrührt werden" -, wird es auch keine europäische Zentralregierung geben. Deshalb wird es auch keine Zentralregierung zum Stürzen geben. Ist denn der amerikanische Senat ein machtloses Parlament, weil er nicht in der Lage ist, eine Regierung zu wählen oder zu stürzen? Wer sich diesen Senat ansieht und mit der Lage unseres Parlamentarismus vergleicht, wird feststellen müssen, daß hier ein neues Element in den europäischen Parlamentarismus kommen könnte. Dieses Europäische Parlament muß sich auf seine Kontrollfähigkeit, auf scharfe Kontrollen, möglicherweise auch in öffentlichen Ausschußsitzungen, wo zum Punkt kontrolliert werden kann, konzentrieren. Dieses Parlament ist außerdem gehalten, die Empfindungen und Strömungen der Bevölkerung aufzunehmen. Dieses Europäische Parlament wird nur ein Parlament sein, wenn es keine Parallelorganisation der Brüsseler Bürokratie wird. Hier gibt es klare Orientierungen. In diesen Tagen spürt man, daß der Satz „Deutsche, sagt ja zu Europa" viele Fragen auslöst, vor allem, wenn man es umkehrt: „Europäer, sagt ja zu den Deutschen!" Es gibt zwei deutsche Staaten, aber es gibt noch ein drittes Deutschland, das, was die Zürcher „Weltwoche" in der letzten Woche als „Schlemihls Republik" bezeichnete, ein Volk ohne Schatten. Das ist das, was wir bei dieser Sendung „Holocaust" gespürt haben. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Müssen wir das immer mit uns herumschleppen? Wer sich die Ergebnisse der deutsch-englischen Historiker-Konferenz vom Mai ansieht, dem wird bewußt werden, daß wir erst am Anfang der Diskussion über unsere jüngere Geschichte stehen. Aber hier sollten wir als Deutsche auch sehen, daß die anderen Völker ebenfalls ihre Probleme haben. Frankreich hat heute noch tiefe Narben wegen des Vietnam- und des Algerien-Krieges. Großbritannien hat - auch in seinem Verhältnis zu Europa - noch nicht überwunden, daß es keine Weltmacht mehr ist. Das kann man doch nicht so im Schlagabtausch zwischen den Parteien erledigen. Wichtig scheint mir, daß uns eines bewußt wird: Wir haben eine schwierige Situation im Verhältnis der anderen zu uns, weil wir in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine wichtige Frage als Deutsche nicht lösen konnten. Wir haben keinen Platz im europäischen Gleichgewicht gefunden. Wenn es um 1925 geht, dann müssen die beiden sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Breitscheid und Haubach genannt werden, die damals in Heidelberg nicht nur die Vereinigten Staaten von Europa forderten, sondern sogar die ersten Schritte aufgezeigt haben, indem sie sagten: Wir brauchen die Aussöhnung an der Westgrenze, die Aussöhnung mit Frankreich; wir möchten aber auch nicht die Einkreisung Rußlands. Beide wurden nach dem 20. Juli gehenkt. Wer Haubach und Breitscheid kennt, der würde sich eher die Zunge abbeißen, als in einem Europawahlkampf Ihre Slogans zu gebrauchen, die alltäglich veröffentlicht werden. ({16}) Dies ist eine Frage Ihrer moralischen Selbsteinschätzung als CDU und nicht die Frage, ob die Sozialdemokraten für Freiheit sind. Da haben wir kein schlechtes Gewissen; denn wir, die Sozialdemokratie ich kann das nicht für mich sagen , haben die Ehre des deutschen Parlamentarismus 1933 gerettet. ({17}) So kann man moralisch nicht miteinander umgehen, wenn man Europa frei bauen will. Heute sehen wir, warum die Europäer von den Deutschen einen konstruktiven Beitrag erwarten können. Dafür gibt es zwei Gründe: weil wir einen Beitrag dazu geleistet haben, daß Europa eine stabile Friedenszone hat. Diese stabile Friedenszone wird nur halten, wenn das Wort „Gewaltverzicht" auf allen Seiten in Europa das erste Wort aller Beteiligten ist. ({18}) Deshalb muß man dieses Wort „Gewaltverzicht" in der KSZE an den Anfang aller Begegnungen stellen. Franz Josef Strauß hat - ich will das hier gar nicht zitieren; es lohnt nicht - 1974 in seiner Sonthofener Rede ganz und gar auf die europäische Krise gesetzt. Damals sagte er: „Ich weiß schon gar nicht mehr, in welches Land man auswandern soll." Er hat noch drei Länder, wo man vielleicht hin könnte. - Die Bundesrepublik Deutschland aber ist heute ein so sozial fortentwickeltes und freies Land, daß, würden wir die Grenzen aufmachen, wir keinen Platz mehr in der Republik hätten. Es ist Ihr Problem, daß Sie an der Bewältigung der ersten Weltwirtschaftskrise in Europa keinen Anteil hatten. ({19}) Sie setzen dies fort. Ich habe mich heute über den Kollegen Klepsch gewundert. Er hat gesagt, das Europäische Währungssystem sei eine so ganz winzig kleine Sache. Da gibt es im Deutschland-UnionDienst vom 7. Juli 1978 eine Erklärung des potentiellen Kanzlerkandidaten - dessen aus dem Süden -, der sagte: „Zu dem von Schmidt und Giscard vorgelegten Plan und den danach gegebenenfalls zu beschließenden Gesetzen wird die CDU/ CSU-Fraktion im Bundestag ihre Zustimmung ver12544 Friedrich ({20}) weigern. Die CDU/CSU-Fraktion bekräftigt erneut ihre Auffassung, daß ein Währungsverbund nicht am Anfang, sondern nur am Ende der Entwicklung zu einer echten Wirtschaftsgemeinschaft stehen kann." Wer ist denn nun bei Ihnen in der Fraktion für Europa und das Währungssystem verbindlich? Ist das der Kollege Klepsch, oder ist der Kollege Strauß, der bis heute diese Aussage nicht korrigiert hat, der Stärkere, zumal er auch für Sie noch nach wie vor der Wirtschafts- und Finanzsprecher ist? Darauf sollten Sie vielleicht - ich will den Nachfeiger nicht „Substitut" nennen - eine Antwort geben. Was wir befürchten, ist, daß die jetzige Entwicklung in der Union, die dazu führt, daß der Verbund von Zentrum, Deutschnationalen und Bayerischer Volkspartei sich durch Abstoßen alles Geistigen, was aus dem Zentrum kam, zu einer Restposition von Bayerischer Volkspartei und Deutschnationalen reduziert, in Europa nicht verstanden wird und daß sie bei unseren Nachbarn Unruhe auslöst. Wir meinen, daß mit dem Denken eines Franz Josef Strauß, Alfred Dregger, Kurt Biedenkopf, Otto von Habsburg, Hans Edgar Jahn - in dieser Mischung - unmöglich die Tapeten und die Möbel und die Vorhänge in Europas neuer Wohnung ausgestattet werden können. Das ist unmöglich. ({21}) Darin will in Europa niemand wohnen. Wir hoffen, daß die junge Generation sich an dieser Wahl beteiligt, daß die Menschen spüren -vor allem die junge Generation engagiert sich hier stark -, daß wir Europa bauen müssen, um einen Beitrag für die künftige Weltordnung zu leisten. Aber die Länder der Dritten Welt werden uns die Worte Menschenwürde und Menschenrechte nicht abnehmen, wenn nicht soziale Verantwortung dahintersteht. Wir selbst sind davon überzeugt, daß wir Europa nicht mit den Kräften aufbauen können, die man wegen ihrer reaktionären Haltung schon im 19. Jahrhundert verachtet hat. Wir sind der Überzeugung, daß in dem neuen Parlament vor allem die junge Generation Europas - und auch dieses Landes - eine Chance haben wird. ({22})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als gemeinsame Erkenntnis der bisher geführten Debatte kann ich wohl feststellen, daß die erste Direktwahl des Europäischen Parlamentes eine neue politische Qualität schafft. Für sich allein genommen ist ihre Bedeutung gar nicht einmal so groß. Sie wird allerdings dann ein Ereignis von historischer Bedeutung sein, wenn sie als Initialzündung zur Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft wirkt. Die Notwendigkeiten einer Demokratisierung sind heute ja von allen Seiten immer wieder unterstrichen worden; aber wie soll sie nun konkret aussehen? Ich will versuchen, die Demokratisierung in vier Bereichen etwas zu verdeutlichen. Die Direktwahl ist die Chance, ist das Angebot an den europäischen Bürger, über seine Zukunft mitzubestimmen. Diese Chance muß von ihm genutzt werden. Dazu ist eine hohe Wahlbeteiligung notwendig, weil daraus ja auch erst die Legitimation für die direkt gewählten Abgeordneten hergeleitet wird. Bei dem sich heute schon abzeichnenden Konflikt zwischen dem ersten direkt gewählten Europäischen Parlament und dem Rat ist diese hohe Wahlbeteiligung als Legitimation erforderlich. Sie haben, meine Kollegen von der CDU/CSU, in den beiden ersten Punkten Ihrer Anfrage die Durchsichtigkeit der Entscheidungen und die Frage der Mehrheitsbeschlüsse angesprochen. Die Bundesregierung hat deutlich gemacht, daß sie bemüht war, diesen Forderungen nachzukommen. Das muß man ihr auch bescheinigen. Aber dennoch ist hier ein Bereich, der uns alle nicht zufriedenstellen kann und der zwangsläufig zu dem eben von mir angesprochenen Konflikt führt, weil nämlich alle Entscheidungen sehr viel transparenter gemacht werden müssen. Vor dem sich abzeichnenden Konflikt wird aber auch klar, daß die Direktwahl eine Chance und eine Aufgabe für die Parteien ist. Diese Aufgabe wird in der Offentlichkeit im Moment nur zu einem geringen Teil sichtbar; ein bißchen jetzt im Wahlkampf. Langfristig wird für die Qualität der Demokratie in der Gemeinschaft die Zusammenarbeit der Parteien auf der EG-Ebene von ganz entscheidender Bedeutung sein. Die transnationale Kooperation, die Parteienföderationen, die es in unterschiedlicher Ausprägung auf Gemeinschaftsebene gibt, sind keine Eintagsfliegen für den Europawahlkampf, sondern notwendige Instrumente einer demokratischen Willensbildung in der Gemeinschaft. Im Europa der Zukunft werden die nationalen Parteien die Aufgabe haben, Transmissionsriemen zu sein. Den Anforderungen, denen sich die Parteien stellen müssen, konnten sie im bisherigen Europawahlkampf nicht immer gerecht werden. Diejenigen, die die erste Direktwahl als Fortsetzung der Innenpolitik mit europäischen Mitteln betrachten, betreiben eine ebenso kurzsichtige wie verhängnisvolle Politik. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für andere Länder der Gemeinschaft. Parolen wie „Christlich wählen, damit das Abendland gegenüber dem Kommunismus verteidigt werden kann", „Die letzte freie Wahl Europas" oder „Europa wird sozialistisch sein oder es wird nicht sein" - um Mitterrand zu zitieren - sind unserer Meinung nach Scheinparolen und können die Gemeinschaft überhaupt nicht einen. Wer meint, auf der Europaflamme sein innenpolitisches Süppchen kochen zu müssen, wer meint, seinen unbefriedigten Neigungen zur innenpolitischen Auseinandersetzung gerade im Europawahlkampf nachkommen zu müssen, zeigt, daß er die Bedeutung und die Notwendigkeit des europäischen Einigungsprozesses nicht begriffen hat. Eine innenpolitische Polarisierung nützt niemandem. Sie verdeckt die in meinen Augen erfreuliche TatJung sache, daß sich die Parteien in der Bundesrepublik über wesentliche Bereiche der Europapolitik einig sind. Martin Bangemann hat heute nachmittag schon an einem Beispiel dargestellt, daß sogar in den Kreisen erhebliche Informationslücken bestehen, bei denen man eine große Information vermuten muß. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich gehe einen Schritt weiter. Dies ist nicht nur bei Journalisten, sondern sogar in den Parlamenten, bei uns selbst, festzustellen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß nicht so sehr die Brüsseler Bürokratie, von der wir oft sagen, daß sie viel kostet und wuchert, eine Gefahr bedeutet, sondern daß die nationalen Ministerialbürokratien in der Europapolitik Grauzonen entdeckt haben, in denen sie sich breitmachen und an den nationalen Parlamenten, an diesem Bundestag vorbei ({0}) Entscheidungen präjudizieren oder gar treffen, ohne daß diese parlamentarisch kontrolliert werden. Dies ist eine ganz große Gefahr, die Sie im Auge behalten sollten. Ich möchte mich auch hier an die Regierungsbank wenden und sagen, daß die Gefahr natürlich auch den Regierungen droht; denn so manche Entscheidung wird auf der Expertenebene, möglicherweise auch am politischen Willen des Ministers vorbei, getroffen oder zumindest präjudiziert. ({1}) Aus Anlaß der aktuellen Zeitungs- und Fernsehberichterstattung sei gesagt: Die Direktwahl und ihre mittelbaren und unmittelbaren Folgen sind auch eine Aufgabe für die Medien. Sie müssen die Europapolitik in Zukunft weitaus intensiver als bisher begleiten und eine kritische Öffentlichkeit für die Europapolitik schaffen. Dazu gehört auch das Verständnis gegenüber den Problemen unserer Partnerländer. Die deutsche Presse schneidet hierbei im Vergleich zur ausländischen nicht so sehr gut ab. Da es in der Bundesrepublik nicht die Auseinandersetzung wie in Frankreich, Großbritannien oder in Dänemark über die Grundfragen der Gemeinschaft gibt, mag vielleicht vielfach der Aufhänger fehlen. Dies darf aber kein Anlaß dafür sein, die Europapolitik zu negieren oder auf einzelne, möglicherweise auch spektakuläre Probleme zu reduzieren. Mit der Direktwahl kann die Europapolitik aus ihrem bisherigen Schattendasein heraustreten. Wir müssen deutlich machen, daß Europa nicht nur aus Butterbergen, Weinseen oder aus „Richtlinien für die Einfuhr linksseitig bespannter Tennisschläger aus Pakistan" und „für die Geräuschentwicklung landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge in Ohrhöhe" besteht. Die Aufgaben, die sich der Europapolitik stellen, sind nicht technokratisch zu lösen. Der Glaube, daß sich aus der Lösung technokratische Probleme automatisch eine politsche Integration ergibt, hat sich schon lange als Irrglaube erwiesen. Noch so starke Sachzwänge bedeuten noch lange keine politische Entscheidung für Europa. Bundesminister Genscher hat anläßlich der Verleihung des internationalen Karls-Preises, an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Colombo, gerichtet, gesagt: Wer die europäische Einigung versteht als Aufbau einer europäischen Technokratie zur Schaffung einer effizienten Großraumwirtschaft und zur Sicherung des materiellen Wohlstands, der verschüttet die Quelle, aus der die eigentliche Kraft für die europäische Einigung kommt, nämlich das Wissen um die Schicksalsgemeinschaft von Staaten, die gemeinsam für Freiheit und Würde der Menschen eintreten. In ähnlichem Sinne hat er sich heute hier noch einmal geäußert. Er hat weiter gesagt: Gestützt auf dieses europäische Bewußtsein, müssen die politisch Verantwortlichen die von ihnen für die Zukunft Europas als notwendig erkannten Entscheidungen auch treffen und durchzusetzen versuchen. Dies heißt aber, Herr Genscher, daß die Europapolitik für den einzelnen Bürger transparenter gemacht werden muß. Das bedeutet, daß in Zukunft keine Ratstagungen mehr hinter verschlossenen Türen stattfinden dürfen, bei denen auch die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Mehrheitsentscheidungen der Gemeinschaft müssen akzeptiert werden. Ich wehre mich dagegen, so zu tun, als ob das Prinzip der Einstimmigkeit des Rats in der heutigen Situation naturgegeben notwendig sei. Gerade wir, die Deutschen in Europa, haben in der Vergangenheit auch ein positives Beispiel gesetzt, indem wir die Entscheidung akzeptiert haben, JET in Culham anzusiedeln. Wenn ich sage, daß die Direktwahl nicht zuletzt eine Herausforderung an die Politik darstellt, meine ich, daß wir alle aufgerufen sind, unsere politischen Prioritäten neu zu überdenken. Wir müssen begreifen lernen, daß nationale Interessen nicht im Gegensatz zu europäischen Interessen stehen müssen. Eine gute Regionalpolitik z. B., die natürlich auch viel Geld kostet, ist nicht nur im Interesse des Landes, in dem sich die unterstützten Regionen befinden, sondern im Interesse der gesamten Gemeinschaft. Der Abbau des wirtschaftlichen Gefälles zwischen den reichen Kernregionen und den armen Randregionen liegt ebenfalls im Interesse aller. Hier wende ich mich noch einmal an die Regierung: Das muß natürlich auch dann zum Ausdruck kommen, wenn Vertreter dieser Regierung in Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament, z. B. beim Haushalt, vom Europäischen Parlament zur Regionalpolitik gefordert werden. Ich meine hier ganz konkret die Haltung des Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium zur Frage der Ausweitung des Haushaltes gerade für die Regionalpolitik. Lassen sie mich an dieser Stelle anmerken, weil in der Anfrage der CDU/CSU auch nach der Verwirklichung des Tindemans-Berichtes gefragt wird: Eine Aufspaltung, in ein Kerneuropa und den Rest, eine abgestufte Integration, eine Integration der zwei Geschwindigkeiten kommt für uns Liberale überhaupt nicht in Frage. Ich würde mich ganz gerne dem Tindemans-Bericht etwas mehr zuwenden - ich wollte über die EPZ, über die Außen- und Sicherheitspolitik, die Bestandteile dieses Berichts sind, über die Kooperation im Bereich der Rüstung, über die Rüstungskontrollpolitik, über die Entspannungspolitik sprechen -, aber ich habe soeben, meine Kollegen von der Opposition, mit Ihrem Geschäftsführer verabredet, daß ich mich kürzer fasse, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, darauf noch etwas länger eingehen zu können. Ich werde aber doch noch kurz etwas zur EPZ sagen, denn diese Europäische Politische Zusammenarbeit wird natürlich auch im wesentlichen durch liberale Außenminister getragen. Die Erfolge und Fortschritte in diesem Bereich sind ganz besonders durch zwei Namen gekennzeichnet, durch die Namen Hans Dietrich Genscher und Gaston Thorn, wenn ich an die Entwicklung in Helsinki denke. Das von uns allen gewollte Europa der Bürger muß für den eizelnen Bürger erlebbar, konkret erfahrbar sein. Wenn der Bürger Europas in der Gemeinschaft reist, hat er nach 30 Jahren Europäischer Gemeinschaft überhaupt kein Verständnis mehr für Grenzkontrollen. Er hat auch kein Verständnis dafür, daß es immer noch nicht gelungen ist, einen einheitlichen europäischen Paß und einen einheitlichen europäischen Führerschein zu schaffen. Ich komme damit auf die im Punkt 5 angesprochene gemeinsame Verkehrspolitik. Hier möchte ich eine konkrete Anregung geben, die etwas über die gemeinsame Verkehrspolitik hinausgreift, in der man sich bislang über Maße und Gewichte und sonstige Dinge noch nicht einigen konnte. Es ist nicht einsehbar, daß beispielsweise bei uns eine Bundesautobahn A 8, eine große europäische Transversale, gebaut wird, aber nicht, wie es aus topographischen Gründen sinnvoll wäre, über die Grenze hinweg geplant wird. Es darf doch nicht wahr sein, daß ein Strich auf der Landkarte das Hindernis ist, eine vernünftigere, eine bessere, eine kostengünstigere Lösung herbeizuführen, zumal damit auch die symbolische Bedeutung für Europa unterstrichen und gleichzeitig ein Erschließungseffekt für Räume beiderseits der Grenze, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte vernachlässigt wurden, erreicht werden könnte. Ein Europa des Bürgers, insbesondere des jungen Bürgers, erfordert auch im Bildungswesen weitaus mehr Koordination. Dies ist im übrigen ein Punkt, in dem gerade wir in der Bundesrepublik gegenüber unseren europäischen Nachbarn viel nachzuholen haben. Da müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Es ist jetzt elf Jahre her, daß ich von dieser Stelle aus erstmals als Vorstellung der Liberalen ein Bundeskultusministerium gefordert habe, Vorstellungen, die bei uns in der Bundesrepublik in der Kultur- und Bildungspolitik zu einer Überwindung der elf tiefen Gräben zwischen den Bundesländern führen sollten. Ich meine, die Überwindung der Gräben in der Bildungspolitik ist eine große Aufgabe für das erste direkt gewählte Europäische Parlament. Mir ist erst kürzlich wieder von einigen hundert deutschen und französischen Schülern gesagt worden, daß diese jungen Menschen erwarten, daß wir die Anerkennung ihrer Schulabschlußzeugnisse und ihrer Berufsabschlüsse in Europa - auch als Voraussetzung der Niederlassungsfreiheit später im Beruf - erzwingen. ({2}) Hier müssen wir unsere Kultusminister - und das meine ich mit dem „uns selber an die Nase packen" - zwingen, ihre Vorstellungen rückgängig zu machen, die z. B. dazu führten, daß beim Numerus clausus die Fremdsprache eben nicht den angemessenen Stellenwert hat, wodurch die Student gezwungen wird, auf ein naturwissenschaftliches Gebiet umzusteigen. Meine Damen und Herren, in der Zeit meines Studiums, eines naturwissenschaftlichen Studiums, hat es mir nicht geschadet, daß ich als erste Fremdsprache Französisch hatte. Ich glaube sogar, daß das sehr positiv war. Bei dem Blick über die Grenze mißfallen mir auch die Äußerungen des Staatssekretärs im französischen Kultusministerium, den Stellenwert des Fremdsprachenunterrichts, hier der deutschen Sprache, betreffend. Die artikulierten Sorgen französischer Schüler und französischer Professoren der Germanistik, mit denen zu sprechen ich vor wenigen Tagen Gelegenheit hatte, bestärken mich in meiner Forderung, dem Fremdsprachenunterricht wieder die ihm gebührende Stelle in unserem Bildungssystem einzuräumen. Meine Damen und Herren, um mein Versprechen wahrzumachen, möchte ich meine Redezeit nicht voll ausnutzen, aber ich möchte abschließend sagen: In entscheidendem Maße wird die Demokratisierung der Gemeinschaft nur durch die Parlamentarisierung ermöglicht. Dies bedeutet, daß die Fraktionen im Europaparlament nicht nur sich transnational bilden, sondern auch transnationale Politik machen müssen. Das haben wir, die Liberalen Deutschen, im Europäischen Parlament bisher schon praktiziert, und werden im künftigen Europa diese transnationale Politik verwirklichen, und ich meine, alle Kolleginnen und Kollegen aller Parteien aufrufen zu müssen, die nationalen Egoismen dadurch zu überwinden, daß wir gemeinsam eine europäische Politik, eine transnationale Politik betreiben. Nur sie kann auch den Frieden in Europa sichern. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgebrdnete Dr. Aigner.

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst ein paar Vorbemerkungen zu dem machen, was Herr Friedrich gesagt hat. Herr Friedrich, ich möchte nicht mit Ihnen in eine Geschichtsdiskussion eintreten; ich glaube, wir beide hätten hier Definitionsschwierigkeiten. Das, was Sie als „reaktionär" bezeichnen, würde ich bestimmt anders bezeichnen, und ich würde dabei auch andere Geschichtsbilder anwenden als Sie. Eine Bemerkung möchte ich aber zu dem machen, was Sie zu Herrn Mitterrand und zu Herrn Chirac gesagt haben. Herr Chirac - und das dürften Sie eigentlich wissen, auch wenn Sie nicht, noch nicht Mitglied des Europäischen Parlaments sind - vertritt eine eigene Fraktion; die Mitglieder seiner Partei sind nicht etwa Mitglieder der Europäischen Volkspartei und gehören nicht unserer Fraktion an. Ich selber habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich die Politik von Chirac als nicht nur antieuropäisch, sondern auch antifranzösisch bezeichne, ({0}) und ich bedaure eigentlich, daß diese Partei einen Kurs steuert, der für sie mit Sicherheit zum Verlust wesentlicher Wählerstimmen führt. ({1}) Erstaunt war ich aber darüber, daß Sie Herrn Mitterrand verteidigt haben. Sie bestreiten doch die Richtigkeit des Vorwurfs, Sie seien für die Volksfront. Aber die Volksfront ist nun einmal mit dem Namen „Mitterrand" verbunden, und infolgedessen müssen Sie es sich eben gefallen lassen, wenn wir sagen, wir hätten Sorge und Angst davor, daß Sie versuchen - und fast ist das logisch, wenn ich Ihre Gedankengänge analysiere -, zusammen mit den Kommunisten Machtpositionen zu erreichen; denn Sie wollen ja auch im Europäischen Parlament gestalten und müssen Mehrheiten dafür bekommen. Sie bekommen sie bestimmt nicht durch uns. Sie wollen sie mit Mitterrand und seiner Politik bekommen. Seine Politik ist ein Bekenntnis zur Volksfront. Herr Bangemann, ich war etwas über Ihre Auffassung erstaunt, die Gefahr der Volksfront sei nicht vorhanden, weil die beiden, Kommunisten und Sozialisten, keine Mehrheit bekommen werden. Ich meine auch: sie werden keine Mehrheit bekommen. Trotzdem ist die Gefahr der Volksfront da, die Gefahr, daß die beiden zusammenarbeiten und eben versuchen, allmählich Mehrheiten zu bekommen. Volksfronten bestehen nicht nur darin, daß sie Mehrheit in einem Parlament haben.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bangemann?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Aigner, Sie haben es bisher vergessen, aber ich habe auch hinzugefügt - wie stehen Sie dazu? -, daß unabhängig von der Frage einer Mehrheit die SPD ganz sicher eine solche Zusammenarbeit nicht akzeptieren würde - darauf habe ich abgehoben -, selbst wenn der eine oder andere Sozialist aus anderen Ländern mit einer solchen Zusammenarbeit liebäugelt. Unterstellen Sie auch der SPD Volksfrontneigungen?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bangemann, entschuldigen Sie, ich muß mich an die Worte halten, die in diesem Wahlkampf gesprochen worden sind. Zum Beispiel hat eine Kandidatin, die mit Sicherheit in das Europäische Parlament einzieht, Frau Wieczorek-Zeul, öfters erklärt, daß sie dort lieber mit den Kommunisten zusammenarbeite als mit den Christdemokraten. In meinem Wahlkreis hat sogar ein Landrat der SPD dasselbe erst vor ein paar Tagen gesagt. ({0}) Ich muß diese Äußerungen zugrunde legen und muß von dieser Gefahr sprechen. Wir haben Sorgen, daß diese Entwicklung einfach aus einer machtpolitischen Annäherung und aus dem machtpolitischen Zwang heraus zu einer Zusammenarbeit führt. Nun möchte ich noch eine Zwischenbemerkung zum Herrn Bundesaußenminister machen. Herr Bundesaußenminister, Herr Kollege Klepsch hat sich nicht gegen den Europäischen Rat gewandt oder gesagt, daß wir ihn etwa eliminieren möchten. Er hat ganz klar gesagt, der Europäische Rat sei nicht in den Verträgen verankert und unterliege deshalb nicht einmal der jetzt formulierten parlamentarischen Kontrolle. Sie haben dann noch etwas gesagt, was mich etwas erheitert hat, nämlich, der Europäische Rat sei, seit er bestehe, der Motor der europäischen Bewegung. Darf ich Ihnen folgendes sagen. Wir hatten das erste Mal die große Entscheidung des Europäischen Rats zur Regionalpolitik. Darf ich Ihnen als Insider einmal schildern, wie das vor sich gegangen ist? Wir hatten im Haushalt soundsoviel Mittel für die Regionalpolitik vorgeschlagen. Herr Bangemann kann das bestätigen. Herr Lange ist nicht da; er wird das sicher auch bestätigen. Der Ministerrat - d. h. die Finanzminister - hat erklärt, dem könne er nicht zustimmen. Daraufhin hat das Parlament erklärt, dann lehne es den Haushalt ab, dann gebe es keinen Haushalt. Daraufhin kam es fast zum Bruch. Dann hat der Europäische Rat - also die Staatschefs -, Herr Außenminister, die Bremse, die vorher in den Kabinetten angezogen worden war, so gelockert, daß ein Beschluß auf höchster Ebene zustande kam, aber wieder ein Beschluß, der die Finanzminister bzw. Staatssekretäre voll gebunden hat.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Genscher?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen? Dann paßt die Frage vielleicht besser hinein. Dann war das Parlament - vor allem die Kombination der Italiener, der Franzosen, der Iren und der Engländer - mit der Höhe nicht zufrieden. Es wäre fast wieder zum Bruch gekommen. Ich rate Ihnen, einmal die Änderungsanträge nachzulesen. Ich war damals Teilberichterstatter. Nach meiner Erinnerung habe ich über 20 Änderungsanträge eingereicht und habe mit Mühe und Not immer erst beim zweiten Mal wirklich erreicht, daß eine Einigung auf der Ebene der Staatschefs erfolgte und wir so überhaupt einen Haushalt bekamen. Herr Bundesaußenminister, wer vorher die Bremse anzieht und dann etwas lockert, der sollte nicht sagen, daß er zum Motor geworden ist ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Genscher?

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, nachdem unbestritten ist, daß der Europäische Rat nicht nur das Europäische Währungssystem durchgesetzt hat, sondern auch das, was wir allgemein in diesem Hause als historisches Ereignis empfinden, nämlich die ersten direkten europäischen Wahlen, andererseits aber Herr Kollege Klepsch von einem Fremdkörper sprach und auch Sie eben Kritik am Europäischen Rat übten, darf ich Sie fragen: Ist Ihre Fraktion für die Beibehaltung des Europäischen Rates, oder treten Sie für seine Abschaffung ein?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber natürlich, Herr Bundesaußenminister. Wir sind sogar froh, daß wir diesen Rat haben. Darüber gibt es keinen Zweifel. ({0}) Aber, Herr Bangemann, weil Sie gar so freundlich sind, darf ich ein bißchen aus dem Nähkästchen plaudern: Als es noch keinen Europäischen Rat gab, hatten wir im ganz kleinen Kreis eine interessante Unterhaltung mit dem früheren ersten Präsidenten der Kommission, Hallstein. Wir hatten uns darüber unterhalten: Wie bringen wir es fertig, zu politischen Entscheidungen im Ministerrat zu kommen, damit wir die Blockade der Kabinette beseitigen können? Herr Bangemann und Herr Bundesaußenminister, hören Sie jetzt gut zu! Ich hatte Herrn Hallstein vorgeschlagen, den Versuch zu machen, die Staatschefs selbst auf die europäische Ebene zu bringen, d. h. die menschliche Schwäche mit in seine Politik hineinzukomponieren. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß eine solche Wandlung auch beim Herrn Bundeskanzler eintreten mußte. Bevor es einen Europäischen Rat gab, wollte er am liebsten die Hälfte der Beamten in Brüssel - so wörtlich - totschlagen. In dem Augenblick, wo er selbst in der Rolle des großen Entscheidenden auf europäischer Ebene auftreten konnte, Herr Bundesaußenminister, da war plötzlich eine unwahrscheinliche Verständigungsbereitschaft und -fähigkeit für europäische Probleme vorhanden. Die menschliche Schwäche in den europäischen Integrationsprozeß mit einzubauen, ist also ein absolutes Muß. Deshalb freue ich mich, daß der Europäische Rat existiert. Nur, Herr Bundesaußenminister, zeigt sich hier eine gefährliche Entwicklung. Ich glaube, meine Kollegen stimmen mir darin zu; wir haben es bei der letzten Konzertierungsrunde erlebt; der Berichterstatter, Herr Bangemann, kann es bestätigen: Wenn der Europäische Rat, die Staatschefs etwas beschlossen haben, dann sind die Minister absolut gebunden. Was nützt dann eine Konzertierungsrunde mit dem Parlament? Da sind neun Parlamentarier und neun Finanzminister. Wir wollen versuchen, durch bessere Argumente die Uberzeugung der Finanzminister zu erreichen. Da kommt dann der deutsche Finanzminister oder sein Staatssekretär zu mir und sagt: Tut mir leid, hier ist der Beschluß der Staatschefs; darüber kann ich nicht hinaus. Das heißt, die gesamte Verfassungsstruktur der Verträge ist denaturiert. Wenn wir in die Wahl des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments eintreten, dann ist die Frage der parlamentarischen Kontrolle das Essential unseres Anliegens. Ich würde nicht allein wegen der Legitimation 180 Millionen Wähler an die Wahlurne bitten. Was ist denn das eigentliche parlamentarische Anliegen? Da kann man über parlamentarische Systeme diskutieren und kritisieren noch und noch. Bei der Kompliziertheit unseres gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Lebens ist es, wenn ich Freiheitsstrukturen erhalten will, völlig unmöglich, den Völkern nicht wenigstens alle vier, fünf Jahre die Möglichkeit zu geben, durch absolut freie Wahlen die Entscheidungsträger einzusetzen, zu kontrollieren und, wenn es sein muß, auch zum Teufel zu jagen. Wenn dieses Instrument nicht funktioniert, ist morgen die Freiheit verloren. Herr Bundesaußenminister, wenn ich eine Entscheidungsstruktur auf europäischer Ebene durch die Staatschefs bekomme, sie aber nicht dem politischen Willen der Völker durch die Wahlen unterwerfe, weil der „Transmissionsriemen" nicht mehr funktioniert, dann ist Gefahr für Fehlentwicklungen auf europäischer Ebene gegeben. Herr Bundesaußenminister, wären Sie bereit, wenigstens diese Gefahren mit uns zu sehen und mit uns zu diskutieren, wie man ihnen begegnen kann? - Ich sehe, wir nähern uns einer völlig neuen Anschauung in der Koalition. Ich freue mich darüber. Meine Damen und Herren, wer wie ich fast 18 Jahre im Europäischen Parlament war, ist weiß Gott nicht mehr euphorisch gestimmt und weiß, daß diese Wahlen kein Wunder wirken können. Trotzdem sage ich: Diese Wahlen werden eine Weichenstellung für eine Generation bedeuten, ob das einer wahrhaben will oder nicht. Völlig neue Dimensionen entstehen, und der Fuß wird in die Tür zur politischen Union gesteckt. Herr Bangemann hat hier ein Argument von mir übernommen; ich freue mich darüber. Die eigentliche große Entscheidung, ob die Völker Europa wollen, wird bei den zweiten Wahlen stattfinden, wenn dieses Parlament - es wird keine Wunder vollbringen können - zum Plebiszit aufruft, ob eine politische Union erreichbar ist oder nicht. Das wird spätestens 1984 der Fall sein. Aber die Weichen werden bei den jetzigen Wahlen gestellt. Deshalb sind diese so wichtig. Schade, daß Herr Brandt und Herr Wehner nicht da sind. ({1}) - Lieber Horst, sei doch ein bißchen friedlich; du bist doch auch sonst so friedlich. - Herr Brandt und auch Herr Wehner haben die Kontinuität der SPD beschworen und meinen Kollegen von Hassel gebeten, er möge einmal nachschlagen und sehen, wie es früher war. Herr Brandt hat gesagt: Es gab noch keine CDU/CSU, da war die SPD schon für Europa. Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß die Wähler allmählich erkennen: Je mehr unsere heutige SPD-Fraktion von der Vergangenheit redet und sie beschwört, um so mehr möchte sie die Gegenwart vertuschen. ({2}) - Ich weiß nicht, ob man oft in die Vergangenheit sehen sollte. Ich glaube, es war Herr Brandt, der Raymond Aron zitiert hat, und zwar in Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsverlust unserer Zeit. Ich möchte ihn und vor allem auch unsere Gewerkschaftsvertreter, die in Zukunft unsere Kollegen sein werden, ganz gern an ein Wort von George Meany erinnern, das er im Ausschuß des US-Senats gesagt hat. Er sagte gerade zu diesem Wirklichkeitsverlust unserer Zeit: Die Unfähigkeit, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und die Natur der Feinde der Freiheit zu erkennen, ist die größte Gefahr für den Frieden. Die Gefahr ist nirgends deutlicher verkörpert als in der Illusion, die wir „Entspannung" nennen. Sie werden bei George Meany sicher nicht annehmen wollen, daß er von uns beeinflußt sei, um etwa deutsche Innenpolitik zu machen. ({3}) - Meine Damen und Herren, ich würde hierüber ja ganz gern humorvoll diskutieren. Aber die Frage ist leider zu ernst in einer Zeit, in der ein Mann wie Wehner sagt, die Rüstung des Ostens, die für mich wahnsinnig ist, sei defensiv, obwohl alle NATO-Strategen sagen: Um Gottes willen, was braut sich hier zusammen! Sie gehen ja über solche Worte, wie ich sie von George Meany zitiert habe, zur Tagesordnung über oder machen sie lächerlich. Ich glaube, wir sollten über die Schicksalsfragen Europas - das sind in erster Linie politische Fragen - etwas stärker nachdenken. Meine Damen und Herren, obwohl ich also der Meinung bin, daß die europäischen Wahlen kein Wunder bedeuten, werden sie wahrscheinlich mit die wichtigsten Entscheidungen der Nachkriegszeit sein. Man mag viel kritisieren. Wer Vorsitzender des Kontrollausschusses in Brüssel ist, sich also in erster Linie mit den negativen Tatbeständen herumschlagen muß, könnte ein Referat über all das halten, was in Brüssel schiefgegangen ist und was wir kritisieren. Aber, meine Damen und Herren, eines ist für mich immer wieder faszinierend, daß sich nämlich hier zum ersten Mal neun Staaten vertraglich gebunden haben, und zwar zunächst in den drei Gemeinschaftsverträgen: Montanunion, Euratom, EWG. Dann erfolgte eine Ausweitung über die Assoziierungen; Sie wissen, wir handeln jetzt das Lomé-II-Abkommen mit 59 Staaten, den AKP-Staaten, aus. Dann haben wir diese Europäische Gemeinschaft zur Europäisch-Politischen Zusammenarbeit ausgeweitet. Es ist nicht selbstverständlich, daß ein deutscher oder italienischer Parlamentarier einen französischen Außenminister in der Fragestunde im Europäischen Parlament zur Rechenschaft ziehen kann, indem er fragt, warum er so und nicht anders abgestimmt, warum er so und so gehandelt und so und so die Weichen gestellt hat. Hier ist doch eine Dimension sichtbar, die wir bei der Gründung der Montanunion überhaupt noch nicht ahnen konnten. Das Faszinierende ist, daß hier neun Staaten erklärt haben: Dort, wo wir uns vertraglich gebunden haben, verzichten wir auf das Instrument der Machtauseinandersetzung. Das ist das Dilemma unserer Zeit: Wir haben zwar den Mond erobert, wir stoßen ins Weltall vor, wir greifen ins menschliche Leben ein - auf allen Gebieten haben wir Spitzenpositionen erreicht -, aber die Beziehungen der Völker zueinander regeln wir noch nach den Spielregeln der Steinzeit, nämlich nach dem Faustrecht. Das faszinierende Neue in Brüssel ist, daß neun Staaten erklärt haben: Wir verzichten auf Gewalt; für den Fall, daß wir Konflikte nicht lösen können, haben wir uns ein entsprechendes Instrument geschaffen, nämlich den Gerichtshof. Es kommt nun einmal vor - darüber sollte man nicht schimpfen -, daß Agrarminister, Finanzminister, Fischereiminister, Handelsminister nächtelang beisammensitzen und sich nicht einigen können. Der englische Handelsminister geht raus, haut die Tür zu. Ja, meine Damen und Herren, am nächsten Tag, wo sitzt er? Er sitzt am selben Tisch, weil er weiß, daß er kein anderes Instrument hat, als am Verhandlungstisch die Interessen seiner Nation, seiner Regionen, seines Volkes zu vertreten. Das ist das Neue. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, da ich leidenschaftlicher Europäer bin, jetzt ganz ernst werden: Ich habe Angst, daß in den letzten zehn Jahren eine Entwicklung eingetreten ist, die glaubt, Europapolitik so mit der linken Hand betreiben zu können. Ich bin kein Beckmesser und sage nicht: Das hätte man besser machen können, dort und dort hätte man mehr erreichen können. Nein, grundsätzlich sage ich - und das ist etwas, was ich unserer Bundesregierung ankreide -: Bei Adenauer war die Europapolitik der Fixstern. Alles andere war diesem Ziel, die Einheit dieses Kontinents zu erreichen, untergeordnet. Was uns angeht, so befürchte ich, daß dieser Fixstern verschwunden ist. Ich darf in diesem Zusammenhang einmal auf unsere Große Anfrage verweisen. Wegen der Kürze der Zeit beschränke ich mich auf drei Punkte. Wir haben in Ziffer 10 gefragt: Was sind die Ergebnisse der Bemühungen der Bundesregierung, um die Energieprogramme der einzelnen Mitgliedstaaten ... zu koordinieren? Wenn man nicht einmal mehr im eigenen Haus Ordnung hat, wie soll man denn dann auf europäischer Ebene koordinieren, noch dazu, wenn man Ratsmacht ist? Das ist doch unmöglich. ({4}) In Ziffer 2 haben wir gefragt: Was hat die Bundesregierung daran gehindert, von den im Vertrag vorgesehenen Mehrheitsbeschlüssen Gebrauch zu machen, ... Die Antwort auf diese Frage durchzulesen, meine Damen und Herren, ist eine Zumutung. Die Antwort ist hinsichtlich dieses kardinalen Punktes von großer Unverbindlichkeit. Herr Bundesaußenminister, glauben Sie, daß Sie, wenn wir jetzt die Erweiterung der Gemeinschaft um Griechenland - morgen um Portugal, Spanien usw. - bekommen, die Gemeinschaft mit den jetzt vorhandenen Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsinstrumenten überhaupt am Leben erhalten können? Wir strangulieren sie, wenn wir nicht neue Entscheidungsstrukturen durchsetzen. ({5}) Der Mehrheitsbeschluß im Rat ist nun einmal das Kardinalproblem.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Genscher?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Abgeordneter, würden Sie hier vor dem Parlament bitte einräumen, daß sich die Bundesregierung niemals gegen, wohl aber immer für Mehrheitsentscheidungen ausgesprochen hat?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, ich habe zwar das Gefühl, daß die Bundesregierung nie gegen etwas ist. Ich habe aber auch nie erlebt, daß sie wirklich für etwas kämpft. Und genau das mache ich ihr zum Vorwurf. ({0}) Daß sie nicht für Mehrheitsbeschlüsse war, habe ich nicht behauptet. Ich sage nur: Was unter Adenauer der Fixpunkt und die treibende Kraft war, Europa zu entwickeln, spüren wir nicht mehr. Das ist unsere Sorge und unsere Angst.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Genscher?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Würden Sie mir zustimmen, daß die Regierungen Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt gut beraten waren, als sie den Versuch gemacht haben, von der Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidungen zu überzeugen, daß sie aber nicht den untauglichen Versuch gemacht haben, Europa zu einem Propaganda- und Kommandoinstrument der Bundesrepublik Deutschland zu machen? ({0})

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, ich bin mit dem, was Sie sagen, einverstanden. Nur hätte ich gewünscht, daß das Bundespresseamt ein bißchen mehr wirkliche Aufklärung über die europäische Problematik gebracht hätte. Ich sehe, was an unmöglichen Papierfluten über unser Volk vergossen wird, während in den Schicksalsfragen fast nichts geschehen ist; ich glaube, hier stimmen alle europäischen Parlamentarier überein. Herr Bundesaußenminister, darf ich hierzu nur einen Satz sagen: Was hat die Bundesregierung zur Umsetzung des Tindemans-Berichts getan? Sie schreiben: Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum Tindemans-Bericht über die Europäische Union, die sie im März 1976 abgegeben hat, den Grundvorstellungen des Berichts zugestimmt. ({0}) Dann: Fehlanzeige. Herr Bundesaußenminister, ich will kein Beckmesser sein. Ich will nur noch einmal unterstreichen -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Dr. Aigner, ich muß Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen. Die Zeit, die Ihre Fraktion beantragt hat, ist mit Zugabe überschritten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Ende kommen würden.

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, es war so interessant, mit dem Bundesaußenminister zu diskutieren. ES tut mir leid, daß mir das auf meine Zeit angerechnet wurde.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Nein. Ich habe dafür ja etwas zugegeben.

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich schließen mit der - -({0}) - Die Höflichkeit ist natürlich eine besondere Zier! - Darf ich mit der Feststellung schließen: Ich bedaure, daß wir in diesem Haus so wenig Gelegenheit haben, über europäische Probleme zu sprechen. Ich weiß, daß wir viel über alle Fraktionen hinweg gemeinsam haben und daß viele von Ihnen auch von dieser Seite meine Sorge teilen, welche ungeheure Gefahr die wahnsinnige Rüstungspolitik und die Volksfrontbewegungen bedeuten. Meine Sorge ist nur, daß diese Meinung in Ihrer Fraktion und Ihrer Partei immer weniger zum Durchbruch kommt und daß die europäische Kandidatenliste und das europäische Programm eine klare Aussage zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten auf europäischer Ebene sind. Das ist unsere Sorge. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Bundesminister Matthöfer.

Hans Matthöfer (Minister:in)

Politiker ID: 11001439

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich einige Worte zu den Bemühungen von Abgeordneten der CDU/CSU sagen, hier eine Volksfront-Gefahr an die Wand zu malen. Herr von Hassel hat einige Bemerkungen über meinen Freund Felipe Gonzales gemacht: Er sei gescheitert. Es wird sich noch herausstellen, wer dort gescheitert ist. Die ungeheuren Schwierigkeiten, die eine demokratische und sozialistische Partei in Spanien nach 40 Jahren Diktatur zu bewältigen hat, haben sich in der Tat bei diesem Parteitag gezeigt. Sie ist innerhalb von zwei Jahren von 15 000 auf 200 000 Mitglieder angewachsen. Delegierte, die zum Teil erst einige Monate in der Partei sind, haben der im Kampf für das demokratische Spanien bewährten Parteiführung Schwierigkeiten gebracht. Falsch ist wahrscheinlich die Behauptung, in 2 000 Gemeinderäten seien Volksfrontbündnisse abgeschlossen worden. Wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, ist überhaupt nur in 2 000 Gemeinden gewählt worden. Vielleicht ist die propagandistische Übertreibung der Zahl der Bündnisse ein Indikator dafür, daß die Kräfte der CDU/CSU ihre eigene Spanien-Vergangenheit überhaupt noch nicht bewältigt haben. ({0}) Ich habe die Rede des jetzigen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß in Madrid vom 30. Oktober 1967 noch im Ohr, wo er die Zwei-Säulen-Theorie entwickelt hat, daß die Bundesrepublik Deutschland und Franco-Spanien die beiden europäischen Bollwerke gegen den Kommunismus seien. Ich habe das alles noch im Ohr. Ich habe hier auch zufällig einen Artikel aus dem „Bayernkurier" vom 22. Juni 1968 unter der Überschrift „Revolution für das Volk", der den griechischen Putsch der Obristen feiert. Es heißt - am 1. Jahrestag dieses Putsches -: Die Revolution hat es jedoch erreicht, die Nation vor dem Fall in den Abgrund zu retten und ihre Unterjochung unter den unmenschlichen roten Totalitarismus zu verhindern. Ein mühevoller Kampf, der aber erfolgreich durchgeführt wurde. Das ist der Grund, warum diese Tat - der Putsch gegen die Demokratie in Griechenland -als Markstein in der neueren politischen Geschichte des Landes gefeiert wird. „Bayernkurier" von 1968! Soll ich Ihnen die Reisen nach Spanien alle aufzählen, die ich sorgfältig beobachtet habe? Hier sind noch 25 Jahre Geschichte der CDU/CSU aufzuarbeiten. Hier ist auch zu verstehen, warum in Spanien bis zum Tag der ersten freien Gemeindewahl seit 40 Jahren eine zentralistische, francistische, falangistische Personalpolitik in den Gemeinderäten getrieben worden ist und daß es deshalb vereinter Anstrengung bedarf, hier wenigstens ein wenig Änderung zu schaffen. ({1}) Ein bißchen mehr Verständnis für die demokratischen Kräfte in Spanien wäre nach so vielen Jahren mindestens schweigender Toleranz des FrancoRegimes angebracht. Nun gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu den finanzpolitischen Aspekten der Europapolitik. In den Gesprächen, die wir jetzt in den laufenden Wahlkämpfen zu führen viel Gelegenheit haben, können wir die Erfahrung machen, daß in unserem Volk durchaus die Einsicht vorhanden ist, daß die europäische Einigung und der europäische Einigungsprozeß zwar ihren Preis haben, aber diesen Preis auch wert sind und daß auch ein finanzielles Engagement der Bundesrepublik in diesem gemeinsamen Prozeß nötig ist. Ich kann Herrn Bangemann nur zustimmen, daß das deutsche Volk durchaus auch Verständnis und eine Vorstellung von den Vorteilen hat, die wir aus diesem europäischen Einigungsprozeß z. B. für unsere Industrie gezogen haben. Europäische Integration ist neben ihrer großen außenpolitischen und friedenssichernden Bedeutung wichtig auch für die Sicherung der Wachstumschancen unserer Wirtschaft und für die Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze in unserem Land. Der Abbau von Handelshemmnissen ist ebenso von Bedeutung wie die Annäherung der Wirtschafts-und Finanzpolitiken. Innerhalb der Gemeinschaft hat die Bundesregierung mit ihrer Finanzpolitik und mit ihrer konjunktur- und strukturpolitisch orientierten Haushaltspolitik wesentlich dazu beigetragen, daß in der Bundesrepublik und weit über ihre Grenzen hinaus das Vertrauen in die wirtschaftlichen Aufschwungkräfte gewachsen ist und daß wir die künftige wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa mit Zuversicht beurteilen können. Ein wichtiger Beitrag zu größerer Übereinstimmung und zu größerer Annäherung und Konvergenz der Finanz- und Wirtschaftspolitiken ist das Europäische Währungssystem. Auch hier hat man von der Opposition in diesem Hause nichts als Warnungen vor diesem Europäischen Währungssystem gehört. Ich bitte Sie doch einmal, mir eine einzige Rede im Bundestag, einen einzigen Artikel eines CDU/CSU-Abgeordneten zu zeigen, der die Bundesregierung, insbesondere den Bundeskanzler, bei seinem Versuch unterstützt hätte, in Europa durch die Schaffung eines europäischen Währungssystems einen Schritt voranzukommen. ({2}) Die erweiterte Zone kursberuhigter Währungen trägt zum Abbau von Handelshemmnissen bei. Sie festigt die gemeinsame Überzeugung der beteiligten Regierungen von der Notwendigkeit einer gleichermaßen am Ziel der Geldwertstabilität und der Vollbeschäftigung orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Notwendigkeit hat auch in den Regeln des Systems ihren Niederschlag gefunden. Die Währungspolitik im Europäischen Währungssystem und die Währungsentwicklung verliefen seit dem Inkrafttreten - übrigens auch schon einige Monate vorher; die Währungen verhalten sich ja schon seit Mitte Dezember so, als sei das System in Kraft - in ruhigen Bahnen. Größere Spannungen sind bisher nicht aufgetreten. Die stärkste Währung war bis Ende April die Dänische Krone, während sich die Deutsche Mark, der Gulden und insbesondere der Belgische Franc in der unteren Hälfte der Währungsbandbreite bewegten. Als führendes Industrieland kann und will die Bundesrepublik nicht um ein substantielles finanzielles Engagement für die Gemeinschaft herumkommen. Unser Beitrag zur Europäischen Gemeinschaft zählt neben den Verteidigungsbeiträgen und der Entwicklungshilfe zu den Hauptausgabenblökken im internationalen Bereich. Man kann nicht einen Ausbau der Gemeinschaft wollen und gleichzeitig den Anstieg des finanziellen Aufwandes, der ihn widerspiegelt, ablehnen. Insofern ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß die Finanzpolitik der Europäischen Gemeinschaften durch ein Ansteigen des EG-Haushaltsvolumens gekennzeichnet ist. Aber hier gilt natürlich, daß Tempo und Ausmaß dieser Entwicklung von den finanziellen Möglichkeiten abhängen. Die deutsche Beteiligung an der Finanzierung des EG-Haushalts ist von 2,7 Milliarden DM im Jahre 1971 auf rund 10,9 Milliarden DM im Jahre 1979 angewachsen. Der deutsche Beitrag zum EG-Haushalt erreicht 1979 also bereits mehr als 5 % des Bundeshaushaltes. Die EG-Kommission rechnet auch unter der Voraussetzung, daß es gelingen wird, die Agrarmarktausgaben einzudämmen, mit einem weiteren Anstieg des Gemeinschaftshaushaltes um eine jährliche Steigerungsrate von 12,9 % bis 1982. Der derzeitige Rahmen für die eigenen Einnahmen der Gemeinschaft aus Zöllen, Agrarabschöpfung und Einnahmen aus der Mehrwertsteuer bis zu maximal 1 % der Bemessungsgrundlage dürften sich nach Vorstellungen der Kommission in absehbarer Zeit schon als zu eng erweisen. Die Kommission möchte deshalb die Möglichkeiten der Abführung eines Teils der Mehrwertsteuer von bisher maximal einem Prozentpunkt auf zwei Prozentpunkte erweitern. Das bedeutet nach unseren Schätzungen, daß sich im Jahre 1983 für Deutschland die Obergrenze für die abzuführende Mehrwertsteuer von 10 auf 20 Milliarden DM verdoppeln würde. Eine solche Erweiterung des Finanzierungsspielraums der Gemeinschaft müßte über eine Beschränkung des Bundeshaushalts in anderen Bereichen oder über eine Erhöhung der steuerlichen Belastung erfolgen. Ob dies wünschenswert ist, müßte hier in diesem Hause entschieden werden. Ich darf an eine Tatsache erinnern, die in dieser Finanzdiskussion oft zu kurz kommt. Die Finanzausstattung der Gemeinschaft ist nicht volumenmäßig festgeschrieben. Besonders durch die Anknüpfung an die Mehrwertsteuer hat sie vielmehr einen dynamischen Zuschnitt mit der Aussicht auf einen jährlichen Zuwachs von 6 bis 7 %. Es gibt immerhin ein Mehr von 2,5 Milliarden DM pro Jahr. Bevor man ernsthaft daran geht, diesen Rahmen auszuweiten, wird man zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme der Prioritäten und der Effizienz der Ausgaben der EG vornehmen. Eine solche Bestandsaufnahme wird auch deshalb unausweichlich sein, weil andere Partnerländer sich und ihre Bevölkerung davon überzeugen wollen, daß die finanziellen Lasten der europäischen Integration für sie nicht zu hart werden und daß die Mittel vor allen Dingen sachgerecht eingesetzt werden. Die Einbeziehung von Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal sollte ein Beispiel dafür geben, wie unterschiedlich entwickelte Volkswirtschaften miteinander kooperieren können. Diese Länder sind Gott sei Dank und insbesondere dank des opfervollen Kampfes auch der demokratischen Sozialisten in diesen Ländern über einige Jahrzehnte hinweg heute alle demokratisch. ({3}) Ich weise die Diffamierung, dies seien alles nur Leute, die in Wirklichkeit eine kommunistische Diktatur anstrebten, mit aller Entschiedenheit zurück, insbesondere wenn sie von denjenigen kommen sollte, die mit ihren Unterdrückern praktisch paktiert und diese propagandistisch unterstützt haben. ({4}) Eine enge wirtschaftliche Verflechtung kann hier gute Voraussetzungen bieten. Ein vergrößerter gemeinsamer Markt kann die Erschließung neuer und zusätzlicher Wachstumsmöglichkeiten bedeuten, die allen Beteiligten zugute kommen. Mit Sicherheit kann man aber davon ausgehen, daß auch diese Erweiterung und Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Wirtschaft wiederum zusätzlichen Umstellungs- und Anpassungsbedarf bedeuten wird. Von großer praktischer Bedeutung für die Beseitigung der Handelshemmnisse und für das Zusammenwachsen der Gemeinschaft ist die Steuerharmonisierung. Sie wird uns nach wie vor vor große Probleme stellen. Die Umsetzung der sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuer hat uns von der Arbeit, die zu bewältigen sein wird, einen Vorgeschmack gegeben. Auch hier haben wir Erfolge, die wir nicht verschweigen sollten. Dazu zähle ich insbesondere den Wegfall der Zollschranken, er hat unbestreitbar Erleichterungen gebracht. Der Grenzübertritt ist für die EG-Bürger weithin problemlos geworden. Natürlich gibt es andere Probleme. Solange die Verbrauchsteuern nicht harmonisiert sind, wird es die Notwendigkeit des Grenzausgleichs geben. Aber eine vollständige Steuerharmonisierung, die jeglichen Grenzausgleich entbehrlich machen würde, kann nicht kurzfristig erreicht werden. Die Kommission hat inzwischen eine Rahmenrichtlinie zur Harmonisierung der Verbrauchsteuern vorgeschlagen. Dieser Vorschlag bringt für jeden einzelnen Mitgliedstaat eine Reihe schwieriger Fragen mit sich, insbesondere für uns. Ich darf nur etwa an den Vorschlag erinnern, eine Weinsteuer einzuführen, was ich für ganz und gar unsinnig halte; das werden wir in der Bundesrepublik nicht machen. ({5}) Aus den Erfahrungen mit der Umsetzung der Sechsten EG-Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuer muß ich an den Willen und an die Bereitschaft appellieren, im Interesse europäischer Lösungen auch solche europäischen Kompromisse zu akzueptieren, die aus unserer nationalen Sicht und von unserem bisherigen Steuerrecht her nicht optimal erscheinen mögen. Ich möchte insbesondere an die engagierten europäischen Abgeordneten in der CDU/CSU appellieren, es nicht zuzulassen, daß die Komplizierungen unseres Steuersystems, die auf unser Bestreben zurückzuführen sind, ein vereinheitlichtes europäisches Steuersystem herbeizuführen, dann von anderen Abgeordneten auch in diesem Hause der Bundesregierung als bürokratische Bestrebungen angelastet werden. Hier muß man wirklich sagen, daß auch dies ein Preis ist, den wir für Europa haben zahlen müssen. ({6}) Wenn wir die europäische Integration wirklich wollen, müssen wir auch bereit sein, europäische Lösungen zu akzeptieren. Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Die Finanzpolitik der Bundesrepublik unterstützt den Prozeß der europäischen Integration. Mit der Schaffung eines Europäischen Währungssystems haben wir einen wesentlichen Schritt auf dem Wege zur Integration Europas getan. Wir bekunden unsere Bereitschaft, auch weiterhin für eine ausreichende Ausstattung des EG-Haushaltes zu sorgen. Mit anderthalb Milliarden DM waren wir auch 1978 der größte Nettozahler der Gemeinschaft. Im Interesse aller Steuerzahler der Gemeinschaft müssen wir aber darauf achten, daß die Haushaltsausweitungen in den Grenzen des Realisierbaren bleiben und daß auch auf europäischer Ebene haushälterisch gewirtschaftet wird. Wir sind insbesondere bereit, an Lösungen mitzuwirken, die eine Eindämmung der Ausgaben im Agrarbereich ermöglichen, der bereits 70 % des EG-Haushaltsvolumens beansprucht. Die Bundesregierung wird schließlich auch in der gemeinschaftlichen Steuerpolitik weiterhin eine konstruktive Rolle spielen. Sie bittet um Unterstützung des Deutschen Bundestages. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Frau Abgeordnete Walz.

Dr. Hanna Walz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, nachdem Herr Matthöfer die Finanzpolitik der EG dargestellt hat, einiges zur Energiepolitik der EG und der Bundesrepublik Deutschland zu sagen und einmal tatsächlich auf die Große Anfrage und die Antwort, die die Bundesregierung auf diese Große Anfrage gegeben hat, einzugehen. Die Antwort zur Bewertung und Koordinierung der Energiepolitik der Gemeinschaft ist enttäuschend. Sie verschleiert die wahren Sachverhalte etwa bezüglich der Kernenergie- und der Kohlepolitik und gibt gemeinsame Forschungsvorhaben schon als Erfolge aus, obwohl sie ja erst in Jahren Erfolge bringen können. ({0}) Wie hatte doch der Bremer Gipfel von 1978 gesagt? Wir waren ja vorhin bei den Gipfeln, und Sie haben sie so gelobt, Herr Bundesaußenminister. Der Bremer Gipfel hatte gesagt: „Die Energieminister werden angewiesen, eine globale Ernergiepolitik der Gemeinschaft zu verwirklichen." - Nichts ist bisher geschehen, ein Zeichen dafür, wie oft auch von großen Gipfelerklärungen sehr wenig Erfolge ausgehen und was trotz dessen was sie gesagt haben, manchmal von ihnen zu halten ist. Da wird der von der Bundesregierung eingesetzte Energiekommissar Guido Brunner schon wesentlich deutlicher als die Bundesregierung: Beim jetzigen Ölpreisstand wird sich die Ölrechnung für die EG 1979 um insgesamt 10 Milliarden Dollar erhöhen; es sei deshalb ein Wachstumsverlust bis zu 1 °/o ins Auge zu fassen mit allen negativen Folgen, z. B. auch für die Arbeitsplatzsicherung und -beschaffung, aber nicht nur ein Wachstumsverlust von ungefähr 1 5, sondern auch ein Inflationsschub bis zu 1 %. So der Herr Brunner, der, wie gesagt, etwas deutlicher war als der Herr Minister für Technologie. Wird aber auch nur das gemeinsam beschlossene Ziel einer Ölpreiseinsparung von 5 % etwa von uns eingehalten? Die Bundesregierung ist zwar noch so optimistisch, daß sie daran glaubt, es ist aber bei der EG-Kommission schon längst bekannt, daß dies nicht der Fall sein kann. Im übrigen hält die Bundesregierung die Fortschreibung ihres Energieprogramms, das ja auch immer europäisch abgestimmt sein muß, noch immer für richtig, obwohl die neuen Kohlekraftwerke nicht genügend vorankommen und sie auf dem I Kernenergiesektor weit hinter den gesteckten Zielen liegt, obgleich sie sich europäisch verpflichtet hat, diese Ziele einzuhalten. Gleichzeitig verkündet man auf Ratstagungen - dies war bei dem letzten Gipfel wiederum der Fall -, daß der Einsatz der Kernenergie verstärkt werden muß. Die Bundesregierung hat aber einen Technologieminister - den ich im Augenblick leider nicht sehe -, der für Parteitage Szenarien entwickelt, nach denen bis zum Jahre 2000 jährlich 100 Millionen Tonnen Steinkohle zusätzlich gefördert und importiert werden sollen, wenn man von der Kernenergie und weitgehend auch vom Ö1 loskommen will. Ich zitiere ihn: „Zur Zeit zwar sicherlich abenteuerlich und absolut unrealisierbar, aber keineswegs absolut unmöglich." Daß es hier nicht einen Aufschrei bei sämtlichen Umweltschützern und Grünen gegeben hat, ist mir vollkommen unverständlich. Herr Hauff meinte ja auch, daß man eine solche expansive Kohlepolitik seitens der Opposition mit unterstützen solle, wahrscheinlich deshalb, weil sich die Regierungsparteien bei der Kernenergie so verhalten haben, daß diese Politik fast nicht mehr durchgeführt werden kann. Nun etwa Herrn Albrecht die Schuld für die Verweigerung der Errichtung der Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben zuzuschieben, obwohl man mit Anti-Kernkraft Wahlen gewinnen wollte und der Bundeskanzler nicht rechtzeitig, nämlich erst drei Tage vor der letzten Wahl, seine Autorität und seinen angeblichen wittschaftlichen Vorausblick eingesetzt hat, das ist doch wahrlich der Heuchelei ein wenig zuviel. Aber natürlich brauchen wir die Wiederaufarbeitung und - gemeinsam getragen - die schnellen Brüter und den Hochtemperaturreaktor. Sie werden sich vielleicht eines Tages, wenn es fast gar kein Ö1 mehr gibt, auch noch dazu durchringen. Es ist zwar richtig, daß Energiepolitik eines der schwierigsten Felder der Politik überhaupt ist, denn ihre verhängnisvollen Folgen zeigen sich ja eigentlich immer erst in zehn bis fünfzehn Jahren. In der parlamentarischen Demokratie ist es deshalb sehr mühsam, die Engpässe von morgen schon zu Prioritäten von heute zu machen, zumal ungeheuer hohe Investitionen erforderlich sind. Allein dreißig Milliarden DM wollen die deutschen Energiekonzerne bis zum Jahr 2000 in die Gewinnung von Ö1 und Gas aus deutschen Vorkommen stecken. Für eine gewisse Zeit scheint ja auch noch genügend Energie vorhanden zu sein. Die Lage auf dem Weltmarkt ist auch noch nicht dramatisch, obwohl die Ölpreise in diesem Jahr vermutlich bis zu 30 % steigen werden. Was von den Industrieländern und der EG eventuell noch verkraftet werden kann - ich sage: eventuell -, ist für die Entwicklungsländer schlechthin eine Katstrophe. Die Entscheidungen müssen jedoch heute getroffen werden. Die Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Industrie- und Energiepolitik müssen dem Bürger in ihrer Bedeutung für die Arbeitsplätze deutlich gemacht werden. Die Regierung hat hier, ihre Aufklärungspflicht versäumt. Sie ist dem Glauben an die mögliche heile Welt in den sie tragenden Parteien nicht argumentativ begegnet. Der Glaube an die Alternativenergie - und hier insbesondere an die Sonnenenergie - hat mythische Formen angenommen. Dabei wird übersehen, daß Sonnenenergie als Hauptenergiequelle in Größenordnungen von Tera Watt maschinelle Großanlagen erfordert, die ihrerseits erst produziert werden müssen. Sie sind nicht nur sehr material- und kapitalintensiv, sondern setzen auch ein technisch weit fortgeschrittenes Wirtschaftssystem voraus. Atlernativenergien und verstärkte Forschungsförderung dafür werden bejaht, obwohl gerade die Sozialisten im Europäischen Parlament meinen Bericht über die Forschungsförderung, in dem für die Alternativenergien die gleiche Summe wie für die Kernenergie eingesetzt ist, abgelehnt haben. Ich frage mich noch heute, warum das geschah. ({1}) Sie haben sich enthalten, aber alle anderen haben es abgelehnt. ({2}) Da wird mit zweierlei Zungen gesprochen. Die Optionen müssen offengehalten werden. Nach der. Schätzung aller Experten können uns aber die Alternativenergien bis zum Jahr 2000 höchstens 5 % des Weltenergieverbrauchs liefern. Es führt nach unserer heutigen Erkenntnis - diese Meinung wird von allen europäischen Parteien im Parlament, vom Rat der Energieminister, vom Europäischen Rat und von allen internationalen Fachkonferenzen geteilt - an Kohle- und Kernenergie auch nach Harrisburg kein Weg vorbei. Die Sicherheitsforschung muß sicherlich noch intensiviert werden, es müssen für West und Ost gleiche Sicherheitsstandards geschaffen werden, und die allgemeinen Ausbildungs- und Bedienungsregeln müssen sicherlich verbessert und verschärft werden. Aber wir können im Hinblick auf die kommende Energieknappheit durch die Erschöpfung der fossilen Energien auf keine Erngiequelle verzichten. Das wird uns übrigens auch ständig von den OPEC-Ländern gesagt; denn sie wollen ihr Ö1 nicht so rasch erschöpfen, sie wollen, daß wir Alternativenergien, insbesondere Kernenergie, einsetzen. Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament haben seit vielen Jahren eine gemeinschaftliche Energiepolitik gefordert. Sie würde es erlauben, daß die Interessen der Gemeinschaft mit einer Stimme wahrgenommen würden, wie jetzt etwa gegenüber Amerika, das den Markt durch die Subventionen für die Oleinfuhren noch völlig in Unordnung bringt. Zur Energielage der Gemeinschaft wurde gefordert, daß wir 1985 mit 500 Millionen Tonnen Ö1 auskommen müssen. Energiesparprogramme wurden hier und in Europa ausgearbeitet und zum Teil aufeinander abgestimmt. Pilotvorhaben für rationellere Energienutzung wurden gestartet. Sie sollten gemeinsam beschlossen werden, damit es keine wettbewerbsverzerrende Wirkung gibt. Wir müssen unsere Energiequellen und insbesondere auch die Kohle voll nutzen, weil sie sich gegenseitig ergänzen. In Europa muß es nicht nur bei der Gewinnung, sondern auch in einer Versorgungskrise eine solidarische Haltung geben, und dafür haben wir den Energiekrisenplan. Die Erforschung und Entwicklung neuer Energiequellen, die übrigens immer erst nach 10, 15 oder 20 Jahren marktreif sind, erfordert so große Investitionen - etwa bei der Kernfusion -, daß wir sie nur gemeinschaftlich tätigen können. Investitionen dieser Art sollten deshalb koordiniert, überflüssige Doppelarbeit sollte vermieden werden. Das Parlament hat auch den Vorschlag der Kommission unterstützt, eine Konferenz der Energie-und der Verbraucherländer abzuhalten und ihr hier die Verhandlungsbefugnisse zu übertragen. Sie liegt im höchsten Interesse beider Gruppen. Die Erzeugerländer haben nichts von der Erschöpfung unserer Wirtschaftsordnung und Erschütterung unserer Wirtschaftsstruktur, denn wir müssen ihre Lieferungen bezahlen. Die Verbraucherländer müssen an erster Stelle Energie sparen und alternative Energien entwickeln. Dies muß um so mehr geschehen, da sich die Weltbevölkerung in 25 Jahren verdoppelt haben wird - 25 Jahre sind nicht eine so lange Zeit -, und damit wird sich auch der Energieverbrauch ungefähr wieder verdoppeln, weil die Entwicklungsländer erst nachziehen würden. Die Lösung dieses Problems kann nur von den Erzeugerländern, den Industrie- und Entwicklungsländern gleichzeitig in die Hand genommen werden. Aus der Antwort der Bundesregierung geht zwar hervor, daß sie den Dialog zwischen den Förder- und Verbraucherländern für sehr bedeutsamhält; aber wieder konnten sich die Energieminister nicht darauf einigen, eine solche Konferenz unter Federführung der Kommission einzuberufen. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß der Ministerrat nur einen Informationsaustausch bei der Standortwahl von Kernkraftwerken beschlossen hat. In meinem Bericht für das Europäische Parlament „Standortwahl in Grenzgebieten" hatte ich eine Informationspflicht gefordert. Sie müßte in einer Verordnung festgelegt werden, auf Grund deren dann geklagt werden kann, sonst werden die Grenzbewohner unzumutbar überrumpelt: Siehe den Fall Cattenom. Am merkwürdigsten aber ist es, daß die Antwort der Bundesregierung verschweigt, daß die seit 1977 blockierten Vorschläge zur Förderung der Kohleverstromung und des innergemeinschaftlichen Austausches von Kessel- und Kokskohle vom Rat immer noch nicht angenommen sind, obwohl hier die anderen einmal ihre Solidarität uns gegenüber beweisen müßten. Zwar hat die Internationale Energieagentur auf einer Konferenz in den letzten Tagen versucht, eine gemeinsame Kohlepolitik zu umreißen, aber das sind natürlich zunächst auch nur schöne Absichtserklärungen. Die Gemeinschaft darf einer ihrer wichtigsten Energiequellen nicht die solidarische Förderung versagen. Unser Wirtschaftsminister hat diese Förderung noch nicht durchgesetzt. Wir werden im Europäischen Parlament auch dafür kämpfen. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blumenfeld.

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Auch mich hätte es natürlich gereizt, auf ein paar Wahlreden wie Ihren Beitrag, Kollege Friedrich, jetzt einzusteigen. ({0}) Ich möchte das aber nicht tun, sondern mich an die Tagesordnung halten. Ich darf allerdings eine Vorbemerkung in Richtung auf die Rede des Kollegen Brandt vom heutigen Vormittag machen. Er hat gesagt, daß er heute, obwohl er früher anderer Auffassung gewesen sei, die Meinung vertrete, daß ein direkt gewähltes Europäisches Parlament sich in den kommenden Jahren nicht als verfassunggebende Versammlung verstehen dürfe. Ich habe den Eindruck, daß dieses etwas resignierend festgestellt wurde. Vielleicht hat Herr Brandt zu oft mit dem französischen Sozialistenführer Mitterrand oder seinem Labour-Kollegen in Großbritannien Gespräche geführt und von denen den Anstoß zur Änderung seiner Einstellung bekommen. Ich bin ganz anderer Meinung und stimme auch der von Herrn Kollegen Genscher hier geäußerten Meinung voll und ganz zu, daß nämlich das direkt gewählte Europäische Parlament in der Tat innerhalb seiner fünfjährigen Amtszeit einen Entwurf für eine Verfassung, ein Grundrecht für Europa erarbeitet wird, auch schon deswegen, weil Ministerrat und Regierungschefs die Römischen Verträge in den letzten Jahren wiederholt verletzt haben, ohne sie zu reparieren. Schon aus diesem Grunde muß sich etwas Neues ergeben. Es wäre gut gewesen, wenn Herr Brandt als der Listenführer der Sozialdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland hier erklärt hätte, daß es ihm bei der Direktwahl und bei der Verantwortung, die ein Abgeordneter wie er dann auch trägt, auf die Kontrolle der Bürokratie und der ausufernden ministeriellen Befugnisse in Europa ankommen werde, die uns tagtäglich berühren, und daß das ein ganz wesentliches Element der Verantwortung der kommenden europäischen Parlamentarier sein wird. Heute schon hat der Bundestag, hat jedes nationale Parlament einen großen Teil seiner Kompetenzen abgegeben. Wir können Brüssel nicht mehr kontrollieren. In Bonn wird es nicht kontrolliert. Dieses undemokratische, nicht den parlamentarischen Erfordernissen genügende Verfahren muß ein Ende haben. Das hätten wir gerne aus dem Munde von Herrn Brandt erfahren. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur Europapolitik ist zwar wortreich, Herr Bundesaußenminister, aber im Inhalt doch, wenn ich das kritisch bemerken darf, ein bißchen dürftig.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voigt?

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich, Herr Kollege Voigt.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Blumenfeld, nachdem Sie jetzt mehrfach auf Herrn Brandt Bezug genommen haben, bitte ich Sie, doch zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr Brandt eine realistische Beschreibung dessen, ({0}) was in den nächsten Jahren möglich ist, gegeben hat und nicht auf den Wunsch nach einer europäischen Verfassung verzichtet hat, und wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß gerade die Kontrolle derjenigen Kompetenzen, die bereits heute bei der EG liegen, von Herrn Brandt wiederholt als zukünftige Aufgabe eines Europäischen Parlaments gefordert worden ist?

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. Ich nehme auf Grund Ihrer Bemerkungen - nicht einer Frage - zur Kenntnis, daß der europäische Wille Ihres Kollegen Brandt eben nicht sehr stark entwickelt ist. ({0}) Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung entspricht ganz offensichtlich dem derzeitigen Zustand der Europäischen Gemeinschaft insgesamt. Insbesondere gilt das für die Europäische Politische Zusammenarbeit. Die Antwort der Bundesregierung zeigt, daß die EPZ in allen Fällen oder in den meisten Fällen wirklich wichtiger weltpolitischer oder außenpolitischer Problemstellungen leider nicht mit einer Stimme spricht, sondern, Herr Kollege Genscher, schweigt oder sich in wenig aussagende Kommuniqués flüchtet, so z. B. in so wichtigen Fällen wie bei den Friedensbemühungen im Nahen Osten durch die Vereinigten Staaten, Ägypten und Israel, oder auch bei den uns doch ungemein berührenden revolutionären Ereignissen im Iran. Wo, Herr Minister Genscher, bleibt eigentlich die Stimme der neun Außenminister oder der neun Regierungschefs zur Frage der Menschenrechte im Iran angesichts der barbarischen Hinrichtungsmethoden ({1}) der Revolutionsgerichte des Khomeini-Regimes, wo inzwischen Tausende von Menschen ohne Gerichtsverfahren niedergemäht worden sind? Wo bleibt eigentlich ein Wort des Ministerrats zu dem Vorgehen des Herrn Khomeini, Menschen für vogelfrei zu erklären? Ich frage das ganz abgesehen davon, wie man zu deren politischer Vergangenheit steht. Hier wäre doch der moralisch-politische Anspruch der Europäischen Gemeinschaft zu dokumentieren. Wir vermissen das wirklich außerordentlich und sind darüber besorgt und betrübt. In Einzelfällen, da, wo es leicht war und leicht ist, auf einen Dritten einen Knüppel niedersausen zu lassen, sei es in bezug auf die Südafrikanische Republik oder auch auf Israel, war allerdings Brüssel mit Erklärungen schnell bei der Hand, da haben Sie dann sehr schnell mit Ihren Kommuniqués einiges ausgesagt und haben versucht, eine politische Position zu beziehen. Was, Herr Minister Genscher, heißt es eigentlich, wenn in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Nahen Osten folgendes steht: „Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir die Friedensbemühungen im Nahen Osten." Was heißt das? ({2}) Bedeutet das nicht, daß Sie damit zugeben, daß es sich die Europäer, wie wir, die CDU/CSU, seit langer Zeit kritisch betont haben, im Nahen Osten in einer Zuschauerrolle bequem gemacht haben? Ich bitte Sie noch einmal, Herr Minister Genscher, den Bundeskanzler aufzufordern, nun endlich durch einen schon lange angekündigten, aber immer noch nicht vollzogenen Besuch in Israel und gleichzeitig in Ägypten unter Beweis zu stellen, daß er diese Friedensbemühungen tatkräftig unterstützt und daß das, was er vor anderthalb Jahren öffentlich erklärt hat, daß es nämlich ohne die Sowjetunion im Nahen Osten gar nicht ginge, von ihm nicht mehr aufrechterhalten wird, ({3}) daß es durch einen solchen Besuch berichtigt wird. Ich halte es für zwingend notwendig, daß die Bundesregierung in dieser Frage gemeinsam mit ihren europäischen Partnern eine deutliche Position bezieht. Wenn wir Deutschen gemeinsam mit unseren europäischen Partnern aus Furcht vor Erpressungen beim Ö1 oder in anderen politischen Bereichen nicht fähig sind, den politischen Willen und den Mut aufzubringen, denjenigen beizustehen, die den Weg des Friedens durch Verhandlungen beschritten haben, die beschlossen haben, aufeinander zuzugehen, Hindernisse und Jahrzehnte, ja Jahrhunderte von Haß- und Feindschaftsgefühlen zu überwinden, wenn wir als Europäer diesen nicht so, wie die Vereinigten Staaten von Amerika es tun, beistehen, wenn wir also Ägypten und Israel politisch, moralisch, wirtschaftlich und finanziell nicht beistehen und dabei gleichzeitig den anderen. arabischen Völkern die Hand bieten und ihnen sagen, sie sollten auf diesen Friedensweg einschwenken, verhandeln und nicht mehr auf Frauen und Kinder schießen, nicht mehr Terrorangriffe zulassen, wenn wir das nicht tun, Herr Minister Genscher, wir als Europäer gemeinsam, dann haben wir auch keinen Anspruch darauf, von der Welt ernst genommen zu werden, weder von der Sowjetunion noch z. B. vom Scheichtum Quatar. ({4}) Dann haben wir in der Tat als europäische Friedensmacht ausgespielt. Dann finde ich es besser, daß wir unsere Koffer in Brüssel oder in Straßburg packen und an den heimischen nationalen Herd zurückkehren. Das wäre billiger, und anderenfalls würde uns dort ein unrühmliches Schicksal erwarten. Ich glaube nicht, daß das unsere Zielvorstellung ist. In diesem Geist und diesem Sinne haben wir, die CDU/CSU-Fraktion, einen Antrag mit zehn Punkten eingebracht, in dem wir die Europäischen Gemeinschaften und die deutsche Bundesregierung auffordern, initiativ zu werden. Es gibt eine Fülle von Möglichkeiten. Ich will sie gar nicht im einzelnen begründen. Das wird mein Kollege van Aerssen tun. Ich meine, daß hier politisch ein Beispiel gesetzt werden muß. Wir können doch nicht immer irgendwo im Sessel sitzen, zuschauen und sagen: „Die Vereinigten Staaten machen das schon." Das amerikanische Repräsentantenhaus hat jetzt gerade gewaltige Summen für die Wirtschafts- und Dislozierungshilfe sowohl für Israel als auch für Ägypten bereitgestellt. Und wir Europäer? Herr Minister Genscher, ich meine, daß Sie uns eine Antwort schuldig sind. Sie sind uns auch eine Antwort im Hinblick auf das Versagen der EPZ in der Afrika-Politik, die von uns großgeschrieben wird, schuldig. Große Ankündigungen, und wenn es zum gemeinschaftlichen Handeln kommt, Unentschlossenheit und Verbeugungen vor den sich radikal aufführenden Frontstaaten, den Revolutionären und Terroristen! Warum, Herr Minister Genscher, wird der Revolutionär Nkomo empfangen, aber der schwarzafrikanische Führer Muzorewa, der jetzt über Verhandlungen eine Regierung gebildet hat, wird nicht empfangen? ({5}) Diese Frage muß sich auch der Bundeskanzler stellen lassen, der im vorigen Dezember Herrn Nkomo empfangen hat. Ich habe dann gefragt: „Wo bleibt Ihre sonst so beredte Ausgewogenheit? Wieso empfangen Sie Herrn Muzorewa und Herrn Sithole nicht, diejenigen, die den Weg der friedlichen Verhandlungen, der demokratischen Wahlen eingeschlagen haben, wohingegen Herr Nkomo sich offensichtlich den Weg zur Alleinherrschaft freischießen will?" Daraufhin habe ich leider Gottes vom Bundeskanzler keine Antwort bekommen. ({6}) Ich komme zum Schluß. Herr Außenminister, die Europäische Politische Zusammenarbeit bewegt sich - das möchte ich ganz grundsätzlich feststellen - in einem zunehmend unkontrollierten Freiraum der europäischen und nationalen Ministerialbürokratie sowie der Außenminister. Für sie ist das eine olympische Spielwiese. Ich kann das verstehen. Aber für uns, die Parlamentarier, die vom Volk gewählt worden sind, um die Arbeit der Regierungen zu prüfen und zu kontrollieren, ist das kein Spaß. Im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages werden die Abgeordneten unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der Verhandlungen in der NeunerEbene in der EG vertröstet. ({7}) Im Europäischen Parlament sagen - nicht Sie, aber die meisten anderen - Ratspräsidenten gerade das Allernotwendigste und versagen sich einer wirklichen Verhandlung. Meine verehrten Kollegen, dieses Verfahren ist undemokratisch und für die Zukunft unannehmbar. Auch darum geht es am 10. Juni bei der Wahl. ({8})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gruhl.

Dr. Herbert Gruhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000741, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aufmerksamkeit bei der heutigen Debatte korrespondiert in etwa mit der Aufmerksamkeit draußen in der Bevölkerung. ({0}) - Da ist das Interesse sehr groß, Herr Fuchs, wie ich Ihnen gleich sagen werde. Vielleicht kommt es auch daher, daß man in gewissen Parteien die Mandate schon sicher hat; denn die auch auf das Europawahlgesetz angewandte 5 %-Klausel hat ja wohl den Zweck, dafür zu sorgen, daß man unter sich bleibt, daß nicht etwa neue Ideen in das neugewählte Europaparlament Einzug halten. Wenn schon diese 5 %-Klausel im Bundesgebiet nicht vernünftig ist, für das Europawahlrecht ist sie allerdings absurd; denn dies würde im übertragenen Sinne heißen, daß in der Bundesrepublik eine Partei aus einem Bundesland nur dann Vertreter in den Bundestag entsenden dürfte, wenn sie in diesem Land 5 % überschritten hat. Nach den Ausführungen von Frau Dr. Walz vorhin sieht es ganz so aus, als wollten die Atomparteien des Europäischen Parlamentes unter sich bleiben. Ich will aber einiges über die allgemeine Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft sagen, die ja ihrem Ursprung nach ganz eindeutig eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Die Erhöhung des materiellen Lebensstandards, der Gemeinsame Markt, abgeschaffte Zölle und gleiche Belastungen überall sollten dafür sorgen, daß der freie Wettbewerb im klassischen ökonomischen Sinne das allgemeine wirtschaftliche Wachstum bewirkt. Dem gleichen Ziel dient auch die 1957 gegründete Europäische Atomgemeinschaft: Atomenergie als die Spitze des technischen Fortschritts. Im EG-Vertrag heißt es ausdrücklich, daß es die Aufgabe der Gemeinschaft sei, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung zu fördern. Niemand dachte in den 50er und 60er Jahren daran, daß bald andere Erfordernisse auftauchen würden, die mit den bisherigen Zielen in Widerspruch gerieten. Nun sprechen wir schon längere Zeit von der Umwelt und von der Notwendigkeit ihrer Erhaltung. Darum wird die Zukunft Europas nicht mehr in dem Maße von der Ökonomie bestimmt werden, sondern von der Ökologie; denn Europa hat die Grenzen seiner ökonomischen Expansion erreicht. Es gibt viele Gründe dafür, daß die rein ökonomische Wachstumspolitik am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt ist. Die weitere Erhöhung wird schon an der Unmöglichkeit scheitern, jährlich die entsprechend vervielfachten Mengen mineralischer Rohstoffe und Energieträger aus aller Welt herbeizuschaffen. Gelänge dies aber noch auf längere Zeit, dann würde die Umwelt Europas in einer verheerenden Weise davon betroffen werden. Schon die bisher bebaute oder besser gesagt betonierte Fläche dieses kleinsten aller Kontinente würde sich dann bald verdoppeln, und damit wäre nicht nur die Ernährungsbasis vermindert, sondern ebenso die Oberflächen- und Grundwasserkapazitäten, die Sauerstoffproduktion und anderes. Vermehrt wäre natürlich der Lärm, der Abfall und die Abwärmemenge, die Vergiftung durch Chemikalien in allen Lebensbereichen. Wo könnte zum Beispiel der Mensch in Europa dann noch Ruhe und Erholung finden, wenn der ganze Kontinent einschließlich der Alpen eine Art Ruhrgebiet wäre? Darum ergibt sich unsere Vorstellung vom zukünftigen Europa weniger aus dem, was wir wollen, als aus dem, was wir in Europa noch dürfen. Die primäre Aufgabe ist nicht mehr die Förderung der Wirtschaft auf Kosten der Natur zugunsten blindwütiger ökonomischer Interessen. Die Probleme wären dann nicht mehr allein mit technischem Umweltschutz zu bewältigen. Dieser bewirkt lediglich ein Kurieren an Symptomen. Hier müssen die Grundsätze der Politik, besonders der Wirtschaftspolitik, geändert werden. Darum ist Umweltpolitik eine Gesamtpolitik unter langfristigen Zukunftsaspekten. Das Hauptziel kann darum auch nicht sein, die Lebensbedingungen in allen Regionen Europas gleichzuschalten, sondern, die Vielfalt der einzelnen Regionen - nicht nur der einzelnen Länder - zu erhalten. Dies bedeutet Dezentralisierung der Wirtschaft und der Verwaltung aus Gründen der Ökologie, der Rohstoffersparnis und der Energieersparnis. Als besonders gutes Beispiel kann der Güterund Personenverkehr dienen. Da die Energie für diesen Massenverkehr immer teurer werden wird, gelten für diesen Verkehr künftig auch andere Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Es wäre eine wichtige europäische Aufgabe, die öffentlichen Verkehrsnetze aufeinander abzustimmen und auf einen hohen Leistungsgrad zu bringen, und zwar besonders in bezug auf das Schienennetz als das energiesparsamste Verkehrsnetz, das wir haben, ({1}) was zugleich eine Verbesserung der Luft in bezug auf Abgase und eine Verminderung der Lärmbelastung der Bevölkerung bedeuten würde. Das Ziel der Halbierung des Primärenergieeinsatzes bei gleichbleibendem Lebensstandard - laut verschiedener Gutachten durchaus erreichbar - muß angestrebt werden. Es wird nicht verwirklicht, indem man z. B. am Rhein eine Kette von Atomkraftwerken baut, die u. a. die Folge haben, daß das Wasser immer stärker aufgeheizt wird, wodurch die Funktionsfähigkeit dieses Flusses bekanntlich beeinträchtigt wird. Hier fehlt weiterhin leider eine abgestimmte Planung. Frankreich nimmt keine Rücksicht auf die deutschen Bedürfnisse; teilweise ist das auch umgekehrt der Fall. Nach wie vor werden Tausende von Tonnen an Kalisalzen im Elsaß eingeleitet. Trotz des Vertrages ist die Angelegenheit immer noch nicht zu einem Abschluß gekommen. Diese und die durch andere am Rhein angesiedelte Industrie verursachten Belastungen führen dazu, daß die Meldungen, der Rhein sei nun endlich sauberer geworden, nicht stimmen. Jährlich werden 150 bis 220 neue Chemikalien in den Fluß geleitet, wie vor einigen Monaten Professor Borneff feststellte. Die Belastung durch das Salz erreicht zum Teil 354 mg/l. An Schwermetallen werden in den Rhein nach wie vor jährlich eingeleitet: 3 150 t Chrom, 1 520 t Kupfer, 12 300 t Zink, 120 t des gefährlichen Giftes Kadmium, 70 t Quecksilber, 1 900 t Blei. Außerdem werden jährlich 350 t Arsen eingeleitet. Man sieht daran, welch große Aufgaben hier für Europa noch vorhanden sind und bewältigt werden müssen. ({2}) Ein anderes Kapitel bei den Gewässern ist bekanntlich das Mittelmeer. Die Anliegerstaaten konnten sich immer noch nicht bequemen, durchgreifende Maßnahmen für die Verbesserung des Mittelmeeres zu treffen, durch die die eingeleiteten Schmutzfluten einer Klärung zugeführt würden. So gibt es natürlich viele Umweltprobleme grenzüberschreitender Art. Dazu gehört die Luftverunreinigung, die sich bekanntlich ohnehin über alle Grenzen hinweg erstreckt. Wenn wir auch Lärm, Abfälle und die unsichtbare, aber alles durchdringende Wirkung der Chemikalien berücksichtigen, dann steht die Auswirkung auf die Gesundheit der Menschen in Europa außer Frage. Dies wirkt sich ja inzwischen auch dahin gehend aus, daß die Lebenserwartung der Europäer in den letzten Jahren nicht mehr zunimmt; sie nimmt zum Teil ab, zum Teil ist sie konstant geblieben. So wie die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Staaten nach wie vor beherrschend sind, so wird auch die Umwelt in den einzelnen Staaten unterschiedlich bewertet. Die Wirtschaftsinteressen haben immer noch den Ausschlag gegeben, und die Mächtigeren sind in der Vorhand. Harald Bungarten sagt dazu: Seit ihren Anfängen stehen die umweltpolitischen Bemühungen der EG unter dem Primat der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik. Solange es der Umweltpolitik nicht gelingt, sich aus dieser Vorherrschaft zu befreien, ist eine originäre und eigenständige, an ökologischen Zielen orientierte Politik nicht zu verwirklichen. Die Wettbewerbsparagraphen der EG verhindern auf verschiedenen Gebieten nationale VerbesserunDr. Gruhl gen sogar, weil damit der Gleichheitsgrundsatz beeinträchtigt wäre. Ich kann hier wegen der Kürze der Zeit nur einige wenige Punkte einer künftigen europäischen Politik herausgreifen. Dazu gehört, daß wir in Europa künftig nicht nur in bezug auf Umwelt-, Energie- und Wirtschaftspolitik insgesamt, sondern vor allen Dingen auch in der Landwirtschaft eine andere Richtung einschlagen müssen, die nicht darin bestehen kann, zu Lasten der langfristigen Ergiebigkeit der Böden kurzfristig hohe Erträge zu erzielen, auch unter Inkaufnahme verschiedener chemischer Belastungen der Nahrungsmittelverzehrer. Es sollte darüber hinaus ein großzügiges Netz von Reservaten erhaltener Natur geschaffen werden, in denen bedrohte Arten ein Rückzugsgebiet haben, ({3}) auch über die Grenzen hinweg. Denn Europa ist zu klein, als daß die einzelnen Nationen das für sich bewältigen könnten. Denn auch der Schutz der Arten - Tiere und Pflanzen - dient dem Überleben des Menschen auf dieser Erde. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen, nämlich die Wertvorstellung eines künftigen Europas. Dieser Kontinent ist die Wiege des technisch-ökonomischen Zeitalters gewesen. Hier wurde in den letzten Jahrhunderten die gesamte Umwelt - ob tot oder lebend - nur noch unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutbarkeit für den Menschen betrachtet, wobei unterstellt wurde, daß mit der Menge der verfügbaren materiellen Güter ein Maßstab gefunden worden sei, an dem dann das Lebensglück der Menschen abgelesen werden könnte; somit sei dies auch ein Maßstab für erfolgreiche Politik. Europa wird aber nur noch eine Zukunft haben, wenn sich die Wertvorstellungen der Europäer ändern, wenn auch die immateriellen Werte des Lebens wieder als entscheidend für den Menschen berücksichtigt werden. Hier ist eine Höherentwicklung auch dann noch möglich, wenn die materiellen Chancen Europas erschöpft sind. Das bedeutet also: Erhaltung der Natur und Pflege der Kultur statt Weiterführung der europäischen Politik unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten. Ich wundere mich eigentlich, daß gerade die Kollegen der CDU/CSU nicht auf so wichtige Stellungnahmen wie die des Kardinals Ratzingers wenigstens kurz hingewiesen haben, der in „Thesen zu einem künftigen Europa" sagt: Eine bloße Zentralisation wirtschaftlicher oder legislativer Kompetenzen kann auch zu einem beschleunigten Abbau Europas führen, wenn sie etwa auf eine Technokratie hinausliefe, deren einziger Maßstab in der Konsumsteigerung läge. Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Die Konferenz der europäischen katholischen Bischöfe stellte fest: Die wirtschaftliche Krise, die wir momentan erleben, mit all ihren Konsequenzen, insbesondere auf dem Gebiet der Arbeitslosigkeit, zwingt uns, unseren westlichen Lebensstil neu zu überdenken. Viele sind heutzutage empfänglich dafür und glauben, daß eine bescheidenere Lebensführung unaufhaltsam ist. Ein anderer Satz: Wir dürfen uns nicht zufriedengeben mit einem Europa, das nur auf wirtschaftlichen und politischen Interessen seiner Mitglieder beruht. Wir müssen die anderen neuen Erkenntnisse, die wir haben - von denen ich einige kurz anschnitt -, auch in die künftige Europapolitik als eine der obersten Zielsetzungen mit aufnehmen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seefeld.

Horst Seefeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002138, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich zu einigen Kollegen rede, die wie ich dem Europäischen Parlament angehören und die im Verlauf dieser Debatte eine Reihe von Ausführungen gemacht haben, die, wie ich meine, einer gewissen Kommentierung bedürfen. Zunächst hat der Kollege Blumenfeld offensichtlich völlig mißverstanden, was Willy Brandt heute vormittag hier gesagt hat. Brandts Worte waren eine Beschreibung einer Einschätzung, wie andere zur Zeit bestimmte Vorgänge in der Europäischen Gemeinschaft sehen oder sehen könnten. Er hat damit nicht - das hätte Herr Blumenfeld bei gutem Zuhören merken können - seine eigene Beurteilung abgegeben. Für Willy Brandt steht genauso wie für meine Freunde und für die Sozialdemokraten überhaupt das, was wir in dem Programm der SPD zur ersten Direktwahl in dieser Frage festgehalten haben, außer Frage, nämlich - ich darf zitieren -: Wir setzen uns für eine europäische Föderation mit demokratischer Verfassung ein. Sie ist der geeignete politische Rahmen für die Selbstbestimmung der europäischen Völker und ihrer Bürger. Ich glaube, daran kann keiner deuteln. Damit ist klar und deutlich gesagt, was wir wollen. Man kann hier nicht falsch interpretieren. Das zweite in diesem Zusammenhang. Herr Kollege Aigner hat es noch einmal als notwendig befunden, sich darüber zu äußern, wie es mit der Sozialdemokratischen Partei und ihrem Europaverständnis ist. Ich will das hier noch einmal ganz deutlich herausstellen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Der Friedenswille hat die deutsche Arbeiterbewegung über ein Jahrhundert tief beseelt. Immer sind Vertreter der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei für eine enge internationale Zusammenarbeit eingetreten. Sie können nicht so tun, als wüßten Sie nicht, daß z. B. schon im vergangenen Jahrhundert zum Ausdruck gebracht worden ist, daß wir einen „solidarischen europäischen Staat", wie es damals hieß, wollen. Was heute früh hier zitiert worden ist, ist völlig richtig. In dem Heidelberger Programm der SPD - vor mehr als 50 Jahren - steht: Sie - die SPD tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit. Das könnte heute geschrieben sein. Und es steht drin: Sie tritt ein für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen. Das kann man kommentieren, wie man will und wie man es braucht. Aber wahr ist, daß schon damals, vor dem Dritten Reich, deutsche Sozialdemokraten sich für die europäische Einigung eingesetzt haben, zu einem Zeitpunkt, als andere uns deswegen „vaterlandslose Gesellen" genannt haben. Das wollte ich hier sehr deutlich noch einmal unterstreichen: daß an unserem Friedenswillen und unserem Einigungswillen nicht zu zweifeln ist. ({0}) Der Herr Kollege Aigner hat dann hier immer mit Blick auf die Bundesregierung gesagt, hier werde Europapolitik mit der linken Hand betrieben. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich vielleicht an eine Debatte erinnern wollen, die in diesem Hause einmal zur europäischen Verkehrspolitik geführt worden ist: Da hat Herr Kollege Wehner, der Vorsitzende meiner Fraktion, sehr richtig gesagt, daß es eine Reihe von Themen gibt, die in diesem Hause mehr, als das bisher der Fall ist, behandelt werden sollten, die deutlicher dargestellt werden sollten, viele kleine Dinge, die den Bürger interessieren würden. Hätten wir dies getan, dann müßten wir jetzt nicht alle in der Öffentlichkeit darüber klagen, daß zuwenig Interesse für Europafragen besteht. Hätten wir hier manches Mal eine Reihe der Vorlagen, die der Deutsche Bundestag passieren läßt, sehr sorgfältig auch vor dem deutschen Volk in diesem Hause behandelt, dann wäre manches leichter gewesen. Der Vorwurf trifft also nicht die Bundesregierung. Wir sollten uns in diesem Hause darüber unterhalten, in welcher Weise wir künftig unsere europäischen Themen abhandeln, verehrte Kollegen. ({1}) Schließlich eine dritte Anmerkung, auch zu Herrn Aigner. Es macht sich natürlich immer gut, wenn man sich hinstellt und so tut, als sei in Europa eine enge Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Kommunisten vorhanden. Das ist ja das Thema, mit dem Sie zum Teil den ganzen Wahlkampf zu bestreiten versuchen. Offensichtlich fällt Ihnen nichts anderes ein als dieses. Aber wahr ist, daß ich hier nicht zulassen kann, wie eine Legende gewoben wird, wie das im Europäischen Parlament und wie das mit dem Abstimmungsverhalten ist. Meine Damen und Herren, Sie sollten wissen - und vielleicht sagen Ihnen das die Kollegen aus dem Europäischen Parlament nicht -, daß es bisweilen Anträge gibt, die von allen sechs Fraktionen des Europäischen Parlaments gemeinsam eingebracht werden, wo Kommunisten, Christdemokraten, Liberale und Sozialisten gemeinsam unterschreiben. Darüber wird in diesem Wahlkampf nicht geredet. Es wird so getan, als wäre die Volksfront auch bei Wahlen von Persönlichkeiten im Europaparlament in einer bestimmten Weise dagewesen. Wahr ist-und das will ich hier auch erklären-, daß der jetzige Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Colombo, gewählt worden ist, weil die französischen Sozialisten mit ihrem Kandidaten George Spénale durch die französischen Kommunisten nicht unterstützt worden sind und weil sich bei der entscheidenden Abstimmung die italienischen Kommunisten vornehm der Stimme enthalten haben, damit es für Herrn Colombo gereicht hat. So sieht das mit der Volksfront aus, meine Damen und Herren, und so wird im Europäischen Parlament Politik gemacht und nicht so, wie Sie das in aller Öffentlichkeit immer darzustellen versuchen. ({2}) Ich füge hinzu, meine verehrten Kollegen: Heute früh begann das schon, daß Herr Kollege Klepsch in seinen Worten uns, der Bundesregierung und den Parteien, die sie tragen, unterstellte, daß wir einseitig und ausschließlich die Ostpolitik seit 1969 bevorzugt hätten. Die Ostpolitik ist bei allen christdemokratischen Parteien in Europa außerordentlich gut angekommen. Deutsche Christdemokraten sollten in aller Offenheit in diesem Lande erklären, daß ihre Freunde in Belgien, in den Niederlanden, in Luxemburg und in Italien dazu ihr Ja gesagt haben, daß christdemokratisch geführte Regierungen dazu ja gesagt haben und daß die deutschen Christdemokraten in dieser Frage, jedenfalls innerhalb Ihrer eigenen Fraktion, die von Herrn Klepsch angeführt wird, isoliert sind. Dies muß hier erklärt werden, damit Sie wissen, meine Damen und Herren, daß man nicht hier so reden kann, wie man es hier braucht, ({3}) und sich im Europäischen Parlament vornehm benimmt, wie man es da für notwendig erachtet.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. van Aerssen?

Horst Seefeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002138, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Seefeld, würden Sie dem Hohen Hause auch mitteilen, daß als einzige Partei in der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Volkspartei das Wiedervereinigungsgebot als ihre eigene europäische programmatische Aussage aufgenommen hat?

Horst Seefeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002138, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich teile Ihnen mit, daß die Europäische Volkspartei dieses Problem aufgenommen hat, und ich sage Ihnen, daß in der Erklärung der Vorsitzenden der sozialistischen und der sozialdemokratischen Parteien in der EG die Berlin-Frage sehr wohl angeschnitten ist. Ich bin bereit, Ihnen das entsprechende Exemplar sofort, nachdem ich hier fertig bin, zu geben. ({0}) - Nein, es ist erklärt worden, daß wir in dieser Berlin-Frage keinerlei unterschiedliche Beurteilung haben. Das können Sie sehen, damit können Sie sich befassen; ich hoffe, Sie tun es. Es ist so, wie ich es Ihnen sage. ({1}) Schließlich sage ich Ihnen aber auch, daß im EVP-Programm steht, wie sehr man z. B. dafür ist, daß die Bemühungen um die KSZE und deren Fortführung begrüßt werden, und einiges mehr, zu dem Sie heute früh schon von anderen Rednern einiges gesagt bekommen haben. Ich will den Vorwurf zurückweisen, daß wir einseitig gewesen wären. In die Zeit, die Sie angesprochen haben und für die Sie uns vorwerfen wollen, insbesondere der Regierung, ausschließlich die Ostpolitik bevorzugt zu haben, fallen z. B. die Bemühungen der Bundesregierung, um Spanien, um Griechenland und um Portugal aus den faschistischen und obristischen Systemen zu befreien und die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich daraus ergeben haben. Der Weg zum Westen ist für diese Länder durch unsere Politik in den Jahren genauso gefördert worden, wie wir in der Ostpolitik versucht haben, neue Zeichen zu setzen. Ich hoffe, Sie haben dies begriffen, meine Damen und Herren. ({2}) Bleibt noch eine Anmerkung, die ich zu dem, was der Herr Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im Europäischen Parlament gesagt hat, machen möchte. Hier ist über die Bundesregierung geredet worden: sie sei in der Europafrage nicht schnell genug, sie verzögere, sie sei langsam. Dabei wurde so getan, als sei einzig und allein die Bundesregierung diejenige, die das tue. Ich hätte hier wenigstens ein allgemeines Wort erwartet - wenn man objektiv sein will -, daß dies eine Frage ist, die nicht nur die Regierung der Bundesrepublik Deutschland angeht, und daß man in wichtigen Fragen nur entscheiden kann, wenn Übereinstimmung mit allen anderen Regierungen herbeigeführt ist. Man muß wissen, daß in dieser Neunergemeinschaft neun nationale Regierungen im Ministerrat vertreten sind, die neunmal nationale Politik zu vertreten haben. Der Weg zu einem europäischen Kompromiß ist schwieriger, als manch einer meint. Der Herr Kollege Klepsch weiß das. Trotzdem redet er so, als wäre dies alles ein Versagen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. ({3}) Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wird mit unterschiedlichen Stimmen geredet. Hier wird so geredet, 'wie man das für den Wahlkampf braucht. Im Europäischen Parlament ist man vornehmer. Da ist man zurückhaltender. Da ist man mit der Sache vertrauter, weil man sich blamiert, wenn man mit den ausländischen Kollegen zusammensitzt und z. B. die Schauermärchen über die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik Deutschland verbreitet. Das kann man anderen nicht erzählen. Dann sind sogar deutsche Christdemokraten bereit zu sagen: Die Lage der Bundesrepublik Deutschland ist innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sehr gut. ({4}) Das sagen die da, weil man sich nicht blamieren will und andere Ihnen und uns erklären: Eure Sorgen müßten wir haben, dann ginge es uns in unseren Ländern gut. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit enden, daß ich sage: Ich wäre froh darüber, wenn die Gemeinsamkeiten, die in der europäischen Politik in weiten Bereichen in der Bundesrepublik Deutschland bestehen und bestanden haben, auch künftig Bestand haben könnten. Wir brauchen sie bei der Ausweitung der Kompetenzen des Parlamentes. Wir brauchen bei der Lösung der Schwierigkeiten, die durch die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten entstehen, einen so engen Zusammenhalt wie möglich. Ich wäre dankbar, wenn Sie im Wahlkampf nicht alles zerschlügen, was bisher in diesem Bereich vorhanden war. Es ist auch für die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland gut, wenn die großen Parteien in unserem Lande in diesen Fragen eng miteinander arbeiten. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kunz ({0}).

Gerhard Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Seefeld, ich gehe zunächst auf das ein, was Sie an Widersprüchlichkeiten bezüglich des Stils im Europäischen Parlament und des Stils hier gerügt haben. Ich muß sagen, daß Ihre Rede ein beredtes Beispiel dafür war, daß auch Sie heute einen solchen Stil, den auch ich selbst dort in der Tat oft festgestellt habe, heute gewählt haben. Ich habe manche Ihrer Reden im Europäischen Parlament gut in Erinnerung. Aber wenn wir schon beim Stil sind, dann sollte endlich einmal eines festgestellt werden: Warum ist bisher nichts dagegen getan worden, daß viele Debatten in Europa, die großartig waren, die substantiell waren, gegenüber den Debatten und Aussprachen über Tomatenkonzentrat, über Butterberge und ähnliches so in den Hintergrund getreten sind? Wir alle zusammen haben es nicht fertiggebracht, die wirklichen Gewichte, die in Europa zu bewegen sind, der Offentlichkeit hinreichend zu verdeutlichen. ({0}) Kunz ({1}) Dies ist eines der größten Probleme, die wir in der nächsten Zeit zu lösen haben. ({2}) Damit hängt natürlich auch zusammen, daß es so schwierig ist, bei der jungen Generation wieder jenes hohe Maß an Faszination zu erwecken, das es wohl in den 50er Jahren und bis in die 60er Jahre hinein gegeben hat. Ich glaube, daß die Faszination damals ein so hohes Maß erreicht hatte, daß man nicht davon ausgehen konnte, daß das immer so bleiben würde. Aber es ist nun sehr, sehr nüchtern geworden. Ich finde, es ist teilweise so nüchtern geworden, daß vor uns gemeinsam die Aufgabe steht, die Faszination für Europa zu erhöhen. Dazu wird das Europäische Parlament selbst am meisten beizutragen haben. Ich muß mich hier aber auch kritisch mit einer Passage auseinandersetzen, die der Herr Kollege Brandt öfter gebraucht hat. Er hat sie heute nicht gebraucht, aber er hat sie öfters gebraucht und bis heute nicht revidiert. Es ist jene Passage, wo er gesagt hat, daß die Bildung eines politischen Europas Aufgabe künftiger Generationen sei. Dem können wir weder zustimmen, noch können wir etwa die Meinung vertreten - ({3}) - Künftiger. Er hat „künftiger" gesagt. Ich habe die Stelle nachgelesen. Wenn man für Europa Faszination erwecken will, muß und soll, dann kann man nicht zu dieser Generation sagen: „Kommt später, künftig!" Nein, es muß heute angefangen werden. Es ist im Grunde die allerallerhöchste Zeit. Damit bin ich bei dem Problem: Wie soll sich denn dieses Europäische Parlament in seinen Kompetenzen verstehen? Dieses Europäische Parlament wird eine ganz hervorragende Qualität haben - das kann man ihm uneingeschränkt schon jetzt bescheinigen -, nämlich die Qualität, das erste europäische Parlament für Europa aus dem Willen der europäischen Völker zu sein. Diese Qualität gibt dem Parlament das Recht, Aufgaben zu mehren, verstärkt Kompetenzen in Anspruch zu nehmen. Dabei wissen wir alle, wie schwierig das sein wird. Aber warum denn hier schon wieder der resignative Ansatz? Warum muß denn immerzu gesagt werden, dieses Parlament sei keine Konstituante, es sei so schwierig? Vor lauter Schwierigkeiten, die man da aufzählt, wird jeder positive Elan wieder weggezogen. Auch dies ist ein Problem, vor dem wir gemeinsam stehen sollten. Ich bin der Meinung, daß die junge Generation die Aufgabe Europa auch in dem Sinne sehen sollte und muß, daß sie erwartet, erbittet und verlangt, daß die Männer und Frauen, die die ersten europäischen Abgeordneten eines direkt gewählten Parlaments sein werden, um wirkliche Kompetenzen mit Mut und Entschlossenheit stark ringen, in dem Wissen, daß es schwierig ist. Aber man sollte nicht immer nur die Schwierigkeiten betonen, sondern auch den Weg und die Gestaltung, die vor uns liegen. Schließlich möchte ich sagen, daß gerade in der jungen Generation eine hohe Bewußtheit dafür vorhanden ist, daß sich europäische Zielsetzung und die Zielsetzung unserer Wiedervereinigung keineswegs ausschließen. Wir alle wissen - auch und gerade die junge Generation -, daß unsere Einheit nur in einem europäischen Rahmen zu erlangen ist. Wir wissen, daß nur so auch unsere westlichen Nachbarn dann für das Problem stärker zu interessieren sind. Wir wissen, daß die deutsche Teilung auch die europäische Teilung ist und daß die europäische Teilung auch die deutsche Teilung ist. Hier liegt wieder eine gemeinsame Aufgabe, die die Abgeordneten des ersten direkt gewählten Parlaments haben werden, nämlich die Aufgabe, deutlich zu machen, daß unser deutsches Problem, das Problem der Wiedererlangung unserer staatlichen Einheit, ein gemeinsames Problem ist. Das können wir allen dadurch deutlich machen, daß wir auch die Anliegen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unterstützen und daß wir darum bitten, daß auch unser großes Anliegen, nämlich das Selbstbestimmungsrecht unseres deutschen Volkes, unterstützt wird. Wir sollten uns darin üben, uns darin nicht auseinanderzudividieren, sondern gemeinsam diesen Weg in Europa zu verfolgen, und zwar ernsthaft. Ich möchte zum Schluß ein Wort zu Berlin sagen. Berlin ist integraler Bestandteil der Europäischen Gemeinschaft. Noch viel besser hat es Emilio Colombo ausgedrückt, als er bei einem Besuch in Berlin vor einiger Zeit sagte, Berlin gehöre zur Europäischen Gemeinschaft wie Paris, Rom und London. So gehört es dazu. Es darf daran kein Deuten geben, und es darf keinen Keil geben. Ich bin hochbefriedigt, wie das im Rahmen der EVP einheitlich genauso gesehen wird. Herr Kollege Seefeld, es gibt in Ihren Reihen leider dort Schwierigkeiten. Leugnen Sie das nicht! Leider gibt es die. Niemand freut sich doch darüber, daß es diese Schwierigkeiten gibt. Dort haben Sie eine besondere Aufgabe, die unvollendet und bisher nicht erfüllt ist. Aber es gibt diese Schwierigkeiten. Für uns ist klar, daß Berlin dazugehört. Berlin ist längst eine europäische Metropole, und zwar von beachtlichem Rang. Berlin gehört auch in seiner integralen Bezogenheit in Europa zu den Realitäten, die von allen Seiten akzeptiert werden müssen. ({4}) Diese Realität bedeutet selbstverständlich auch, daß es keinen Sinn hat, immer noch zu bestreiten - wie das die Sowjetunion jüngst wieder getan hat, sei es offiziell, sei es inoffiziell -, daß dem nicht so sei. Die Sowjetunion hat so lange, wie sie Europa nicht ernst genommen hat, gemeint, sie brauche sich um dieses Problem nicht zu kümmern. Erst als sie merkte, daß die Europäische Gemeinschaft etwas Ernstes ist, fing sie an, das, was sie bis dahin hingenommen hatte, in Frage zu stellen. Das ist eine Inkonsequenz, die nicht hingenommen werden kann. Es bleibt dabei: Berlin gehört zu Europa wie Rom, London und Paris. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Staatsminister von Dohnanyi.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich nicht mehr zu Wort gemeldet, wenn der Kollege Blumenfeld, der im Augenblick wohl nicht anwesend ist, nicht eine Reihe von Feststellungen getroffen hätte, denen man begegnen muß. Zunächst: Bei aller Kritik an der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, also an dem, was wir mit dem Kürzel EPZ bezeichnen, muß man natürlich auch immer bedenken, auf welcher Grundlage die politische Zusammenarbeit möglich ist. Sie ist nicht unmittelbar im Vertrag verankert, und das, was heute an politischer Koordinierung und Zusammenarbeit möglich ist, war vor einem Jahrzehnt noch fast unvorstellbar. Die Europäische Politische Zusammenarbeit gehört ganz bestimmt zu den wesentlichen Fortschritten, die wir in dem vergangenen Jahrzehnt erreicht haben. Ich möchte ein Wort zu der Bemerkung von Herrn Blumenfeld sagen, die Neun, die EPZ seien in eine Zuschauerrolle gegenüber den Entwicklungen im Nahen Osten geraten. ({0}) Das ist sicherlich nicht richtig. Insbesondere muß man das Zitat, das der Kollege Blumenfeld vorgetragen hat, natürlich vervollständigen. Er hat gefragt: Was heißt denn „mit größter Aufmerksamkeit verfolgen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Verhandlungen"? Es geht in diesem Text ja weiter. Es heißt dann: Sie würdigen in vollem Umfang den Friedenswillen, der Präsident Carter zu seinem persönlichen Engagement veranlaßt hat, sowie die von Präsident Sadat und Ministerpräsident Begin unternommenen Anstrengungen. Obgleich bis zur Verwirklichung der Sicherheitsrats-Entschließung 242 in allen ihren Teilen und an allen Fronten noch ein schwieriger Weg bevorsteht, stellen sie fest, daß der Vertrag eine korrekte Anwendung der Prinzipien dieser Entschließung auf die ägyptisch-israelischen Beziehungen darstellt. In einem weiteren, späteren Teil heißt es dann - ich zitiere wieder -: Ihr Wunsch ist, daß dieser Wille, dem sie besondere Bedeutung beimessen, sich bald in einem umfassenden Abkommen konkretisiert, an dem alle betroffenen Parteien, einschließlich der Vertreter des palästinensischen Volks, teilnehmen sollten und das die internationale Gemeinschaft gutheißen könnte. Es ist also unrichtig, wenn man sagt, wir seien hier in einer Zuschauerrolle. Das Gegenteil ist richtig. Die neun Mitgliedstaaten unterstützen eine Entwicklung, die den Frieden im Nahen Osten auf breiter Grundlage sicherer machen kann. ({1}) Ein zweites Wort zum südlichen Afrika. Der Kollege Blumenfeld hat gemeint, er müsse unsere Aktivität insoweit ebenfalls kritisieren. Ich will dazu bemerken: Erstens. Die Initiative der Fünf in Namibia, so schwierig sie war, hat die ständige Unterstützung der Neun gehabt. Zweitens. Die Mitgliedstaaten in der Gemeinschaft haben z. B. durch den Verhaltenskodex für die Tochterfirmen in der Republik Südafrika einen klaren Beitrag zur Entwicklung geleistet. Schließlich ist zu der Frage „Warum hat man Herrn Nkomo empfangen und Herrn Muzorewa nicht?" folgendes festzustellen. Die Bundesregierung verfolgt eine Politik der Offenheit für Gespräche mit allen Beteiligten im südlichen Afrika. Deshalb war es selbstverständlich, daß man Herrn Muzorewa einen Gesprächstermin anbot, als er um ein Gespräch in Bonn nachsuchte. Zu dem Zeitpunkt, zu dem er nach Bonn kommen konnte, konnte der Bundesaußenminister nicht, weil er nicht da war. Zu dem Zeitpunkt, den man ihm dann angeboten hatte, konnte Herr Muzorewa nicht. Er war zu diesem Zeitpunkt abgereist. Ich will hier unterstreichen, daß es nicht gut ist, wenn Mitglieder dieses Hauses eine von der Bundesregierung eindeutig festgestellte Politik, die Politik der Offenheit des Gesprächs mit allen Beteiligten, hier in Frage stellen. ({2}) Die EPZ, also die Mitgliedstaaten in der politischen Zusammenarbeit, haben eine enge Koordinierung z. B. im Zusammenhang mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie laben ihre Fähigkeit, gemeinsam politisch zu handeln, auch in der Ministerkonferenz mit den asiatischen Staaten im Zusammenhang mit ASEAN unter Beweis gestellt. Die Zusammenarbeit der Neun in den Vereinten Nationen ist heute sicherlich in einem Maße fortgeschritten, wie man sich das wiederum vor einem Jahrzehnt kaum vorgestellt hat. Ich hätte dem Kollegen Blumenfeld, wenn er noch hier wäre, gern gesagt: Was wir in Europa brauchen, ist eine Politik des Realismus und nicht eine Politik der Illusionen. Hier ist heute morgen von Mehrheitsentscheidungen gesprochen worden. Natürlich können wir auf den Mehrheitsentscheidungen beharren. Aber nicht erst seit wir die Bundesregierung führen, bestehen die Probleme, die solchen Entscheidungen gelegentlich doch entgegenstehen. Was die Konstituante angeht, so ist hier nicht nur die Frage aufzuwerfen, ob man eventuell mit Herrn Mitterrand zu sprechen hätte. Ich würde jedem der Kollegen aus der Opposition anraten, über dieses Problem einmal mit den Regierungsparteien in Frankreich zu sprechen. Dort bekäme man wohl Antworten zu dieser Frage, die dann mindestens auf dem Hintergrund, der hier heute deutlich geworden ist, mehr als enttäuschend wirken würden. Also: eine Politik des Realismus und nicht der Illusionen; eine Politik der großen Anstrengungen und nicht der großen Worte. Ich würde Sie bitten, meine Damen und Herren von der Opposition, die Bundesregierung an dem zu messen, was in dem Jahrzehnt von 1969 bis 1979 tatsächlich erreicht worden ist. Ich bitte Sie, sich einmal die Erklärung vom Haag aus dem Dezember 1969 vorzunehmen und daran zu messen, was bis heute durchgesetzt wurde. ({3}) Wir alle wissen, daß die Fortschritte nur schrittweise gemacht werden können. Europa bleibt eine schwierige Aufgabe. Aber, meine Damen und Herren, wir werden diese Aufgabe nicht leichter bewältigen können, wenn wir, wie dies heute leider wieder der Fall war, innenpolitische Polarisierung auf die europäischen Aufgaben zu übertragen versuchen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete van Aerssen.

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kollege Brandt hat heute morgen gesagt, daß er sich zusammen mit seinen Parteifreunden für ein pluralistisches Europa einsetze. Was ein pluralistisches Europa ist, hat der Karlspreisträger, der griechische Ministerpräsident Karamanlis, vor einem Jahr bei der Karlspreisverleihung in Aachen deutlich gesagt. Er sagte: Wir müssen allen Skeptikern der Europäischen Gemeinschaft ins Stammbuch schreiben, daß die europäische Zivilisation aus folgenden Elementen besteht. Es ist die Synthese des griechischen, des römischen und des christlichen Geistes; eine Synthese, zu der der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen hat, der römische Geist die Idee des Staates und des Rechtes und das Christentum den Glauben und die Liebe. Wenn Pluralismus so aufgefaßt wird, dann stimmen wir Christdemokraten zu. Aber wir warnen vor Beispielen anderer Art. Drei darf ich nennen. Der französische Sozialistenführer - das ist heute schon angeklungen - hat gesagt: Entweder gibt es ein sozialistisches Europa, oder es gibt kein Europa. Der angesehene sozialistische frühere Kommissar Mansholt aus den Niederlanden hat gesagt: Wenn es kein sozialistisches Europa im Augenblick geben kann, dann müssen wir die europäische Einigung hinausschieben. ({0}) Ein drittes Beispiel. Es ist der sozialistische Führer Craxi in Italien, der die Christdemokraten in Italien, unsere Freunde in der Europäischen Volkspartei, daran hindert, eine gemäßigte Regierung gegen die Kommunisten mit 60 bis 65 % der italienischen Stimmen aufzubauen, und statt dessen die Aufnahme der Kommunisten in die italienische Regierung verlangt. Die Sozialisten sind es, die in Italien verhindern, daß eine gemäßigte Regierung an die Macht kommt und von dort aus einen Kurs für Europa steuern kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden es verstehen, daß wir Christdemokraten auf diesem Hintergrund unsere Bürger außerordentlich warnen und hier Skepsis ausstreuen müssen, wenn Willy Brandt von diesem pluralistischen Europa spricht. ({1}) Zweitens. Uns paßt es nicht, wenn hier vom Außenminister und von seinem Staatssekretär das Bild einer heilen außenpolitischen Welt gemalt wird. Wir wollen die Schwierigkeiten in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit nicht leugnen; die kennen wir. Aber wir bleiben dabei - und ich nehme das noch einmal auf, was der Kollege Blumenfeld hier gesagt hat -, die Europäische Gemeinschaft ist über eine Zuschauerrolle im Nahen Osten nicht hinausgekommen. Die mühevolle, komplizierte und aktive Suche nach einem Frieden zwischen Israel und Ägypten hat die Europäische Gemeinschaft dem amerikanischen Präsidenten überlassen. Ich frage Sie, Herr von Dohnanyi: Wo sind die Beweise Ihrer Regierung, wo sind die Beweise des Ministerrates, daß sie an irgendeiner Stelle durch eine dramatische Initiative, durch das volle Engagement der Bürger der Europäischen Gemeinschaft signalisiert hätten, daß diese 260 Millionen Bürger der Europäischen Gemeinschaft hinter diesem Friedenswerk stehen, weil sie genau wissen, daß von diesem Frieden auch die Zukunft unserer Generation, die Sicherheit unserer Arbeitsplätze und die Sicherheit des Friedens in Europa abhängen, was hier in diesem kundigen Hause nicht näher dargetan zu werden braucht? Und ich frage Sie, Herr von Dohnanyi: Was hat denn die Bundesrepublik Deutschland, was hat der Europäische Rat getan, um in Südafrika, in Namibia, in Rhodesien entsprechend zu handeln? Gut, Sie haben gesagt, es sind Terminschwierigkeiten. Aber die ersten, die Herrn Sithole und Herrn Muzorewa eingeladen haben, waren die Christdemokraten im Europäischen Parlament. Herr Seefeld, ich nehme Sie zum Zeugen und Sie, Herr Kollege Adam: Wer hat die Aufnahme verweigert? Es war Ihre Fraktion im Europäischen Parlament. Sie haben nicht dieses Gespräch gesucht; nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktion. Sie haben den Dialog nicht gesucht, während wir ihn als Christdemokraten angeboten haben, getreu der von ihnen vorgetragenen offensiven Haltung, daß man mit allen Kräften diesen Dialog suchen müsse. Nachdem jetzt in Namibia und Rhodesien Entscheidungen gefallen sind, wäre es, meine ich, höchste Zeit, daß die Europäische Gemeinschaft zu einer konstruktiven und offensiven Strategie kommt, weil auch das Schicksal Europas von dieser südlichen Flanke auf dem afrikanischen Kontinent abhängig ist. Herr von Dohnanyi, ich darf Sie noch einmal fragen. Wir haben doch vor einem halben Jahr mit China einen großen Vertrag abgeschlossen. Das war ein völkerrechtlicher Durchbruch für die Europäische Gemeinschaft. China hat als erstes kommunistisches Land die Europäische Gemeinschaft als ein Völkerrechtssubjekt anerkannt. Das ist ein Durchbruch, das ist ein geschichtlicher Meilenstein in dieser Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft. ({2}) Und was erleben wir? Wir erleben einen kleinkarierten Wettlauf nationaler Regierungen um entsprechende Darlehen, um entsprechende Zinskonditionen und was alles damit zusammenhängt, statt daß das getan wird, was in Europa eigentlich längst beschlossen ist, nämlich die Kompetenzen in der Außenwirtschaftspolitik unter der Obhut des Europäischen Parlaments wahrzunehmen und zu einer gemeinsamen Strategie gegenüber China zu kommen. Statt dessen gehen wir einen Weg der nationalen Wettläufe. Ich meine, es sei höchste Zeit, daß wir das abändern. Ich bitte Sie sehr herzlich, Herr von Dohnanyi, Ihrem Außenminister auch zu sagen, daß wir in einem direkt gewählten Europäischen Parlament großen Wert darauf legen werden - wir als direkt gewählte Abgeordnete -, daß diese Außenwirtschaftskompetenz bei uns bleibt und daß sie nicht durch solche nationalen Alleingänge unterlaufen wird. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es paßt uns Christdemokraten auch überhaupt nicht, daß der Vorsitzende der Sozialistischen Internationalen Willy Brandt heute kein einziges Wort zur atlantischen Partnerschaft gesagt hat. Wir haben Verständnis für die Entspannungspolitik. Wir haben uns dahintergestellt. Wir haben heute im Rahmen der Diskussion um die Europäische Volkspartei das alles diskutiert. Das brauche ich hier nicht zu vertiefen. Aber ich möchte noch einmal sagen, für uns Christdemokraten ist das entscheidend, was wir das Bild der Ellipse nennen. Eine Ellipse hat zwei Brennpunkte. Der eine Brennpunkt sind die Vereinigten Staaten von Amerika, und der andere Brennpunkt sind die Vereinigten Staaten von Europa, die zu schaffen wir uns anschicken, das, was wir in unserer Diskussion die Europäische Union nennen; beide zusammengehalten durch das Band der Ellipse, das ist die atlantische Partnerschaft, nicht als ein defensives Bündnis, wenn wir herausgefordert werden, sondern als ein offensives Bündnis zur Durchsetzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in dieser Welt. Denn das ist der einzige Schild, der zwischen Freiheit und Unfreiheit aufgebaut worden ist. Uns ist es lieber, daß wir einem solchen klaren Ziel nachfolgen, als daß wir Gespräche und Diskussionen einleiten mit Diskussionspartnern, mit anderen Mächten dieser Welt, von denen bis heute nicht feststeht, ob sie in allen Punkten das wollen, was wir wollen. Die Sowjetunion hat die Schlußakte von Helsinki unterschrieben, aber ich frage Sie: Hat sie diese vertraglichen Verpflichtungen Jota für Jota erfüllt? ({4}) Solange dieser Beweis nicht erbracht ist, müssen wir unseren Bürgern Klarheit in dieser Frage verschaffen. Es paßt uns auch nicht - der Kollege Kunz hat das schon gesagt -, wenn hier kleinmütig diskutiert wird, wenn hier gefragt wird, welche Kompetenzen das direkt gewählte Europäische Parlament haben wird. Es war bezeichnend für mich, daß der Kollege Willy Brandt gesagt hat, ihm wäre es lieber gewesen, dem Europäischen Parlament erst die Kompetenzen zuzuweisen und dann direkt zu wählen. Wer die europäische Wirklichkeit kennt, weiß, daß wir dann bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf die Direktwahlen hätten warten können. Oder glaubt hier jemand im Saal, daß die nationalen Regierungen - im Rat versammelt - uns sozusagen als Morgengabe auf einem silbernen Teller die Kompetenzen abstrakt zuweisen werden? Das können Sie doch wohl ernsthaft gar nicht glauben. Europa lebt von der Bewegung. Europa lebt von der Dynamik. Europa lebt davon, daß man einen Anfang macht und handelt. Ich sage hier noch einmal mit aller Deutlichkeit: Für uns ist das direkt gewählte Europäische Parlament eine verfassungsentwickelnde und verfassunggebende Versammlung für Europa. Wir werden dem Europäischen Parlament einen Grundrechtskatalog vorschlagen. Wir werden dem direkt gewählten Europäischen Parlament sagen, daß wir das Konzertierungsverfahren, welches der Kollege Bangemann heute morgen positiv hervorgehoben hat - ich kann seiner Analyse hier nur zustimmen -, auf alle Fragen des Streites zwischen Parlament und Rat ausdehnen wollen, um somit auf einem praktischen institutionellen Weg, ohne großes Aufheben zu machen, als weiterer Meilenstein auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung. Das Motto „Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren" ist nicht das Motto, das wir Christdemokraten in Europa vertreten. ({5}) Es paßt uns auch nicht, wenn hier vom Europa des Alltages geredet wird, aber nicht gehandelt wird. Natürlich wollen auch wir das Europa des Alltages. Ich lebe in einem Grenzkreis, und ich frage Sie: Was hat der Europäische Rat dafür getan, damit die grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit zwischen Niederländern und Bundesrepublikanern in einem abgesicherten Verfahren durchgeführt werden kann? Wo gibt es den grenzüberschreitenden europäischen kommunalen Zweckverband, wo man die gemeinsamen Aufgaben angehen und lösen kann? Das Europäische Parlament hat immer und immer wieder Vorschläge gemacht. Was hat der Europäische Rat getan, um so etwas durchzusetzen? Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Wenn die Bundesregierung schon hinter dem Tindemans-Bericht steht und seine Konsequenzen anerkennt, frage ich die Bundesregierung als Mitglied des Europäischen Rates allerdings, warum sie nicht vorschlägt, daß die von Tindemans festgelegten sechs Leitlinien in einem verbindlichen Beschluß des Europäischen Rates dem Europäischen Parlament als Marschrichtung für die erste Legislaturperiode nach den Direktwahlen, also sozusagen als Meilenstein des Rates für ein direkt gewähltes Europäisches Parlament mitgegeben werden. Warum tun Sie das nicht, Herr von Dohnanyi? Warum schlagen Sie das nicht vor? Wenn Herr Außenminister Genscher sagt: Wir möchten uns als Deutsche zunächst ein wenig zurückhalten, und wir möchten uns nicht gleich nach vorn drängen und sagen, wir wollten Mehrheitsentscheidungen im Rat haben, so kann man dies psychologisch verstehen. Eines kann man aber nicht verstehen. Man kann nicht verstehen, daß Ihr Außenminister nicht hingeht und sagt: wir stellen ein verbindliches Junktim zwischen der Neuaufnahme der uns befreundeten Staaten und der institutionellen Absicherung der europäischen Einrichtungen auf. Eine Europäische Gemeinschaft kann auf lange Sicht nur funktionieren, wenn wir zu dem Mehrheitsprinzip zurückkommen. Wie sollen sich denn zwölf Minister, die an einem Tisch sitzen, über einen Einigungsprozeß verständigen können, wenn ein einziger alles dadurch abblocken kann, daß er nein sagt? Mit anderen Worten: Die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips ist an den weiteren Fortgang der europäischen Einigung gekoppelt. Die Europäische Gemeinschaft wird im Zustand einer Freihandelszone stagnieren, sie wird eingefroren werden, wenn es uns nicht gelingt, uns in dieser Frage - und sei es auch nur ein technisches Modell wie dieses Mehrheitsprinzip - durchzusetzen und weiter voranzukommen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Genscher?

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicher, selbstverständlich.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Fraktion der CDU/CSU die Aufnahme Portugals und Spaniens tatsächlich davon abhängig machen will, daß es vorher zu einer Vereinbarung von Mehrheitsentscheidungen kommt?

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie kennen unseren Fraktionsstandpunkt und wissen genau, daß wir uns aus folgenden Gründen für die Aufnahme Griechenlands, Portugals und Spaniens in die Europäische Gemeinschaft eingesetzt haben: a) um diese Länder in ihrer Demokratie zu stabilisieren, b) um einen weiteren Bereich der Freiheit in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Herausforderung zu schaffen, c) um im Sinne der von Ihrem Kollegen Bangemann skizzierten Regionalpolitik einen neuen Ausgleich in Europa herbeizuführen. Sie werden mich also so nicht mißverstehen können. Ich bitte Sie nur ernstlich zu sagen, Herr Außenminister, daß der Fortschritt zu einer Europäischen Union, d. h., daß wir ein europäischer Bundesstaat werden, der mit einer Stimme in den wesentlichen Fragen spricht, daß, was Leo Tindemans das Entscheidungszentrum Europas nennt und was Sie anerkannt haben, nur möglich ist, wenn wir es lernen, in der Europäischen Gemeinschaft durch Mehrheitsentscheidungen voranzukommen, weil alles andere sonst zur Stagnation und zum Einfrieren unserer bisherigen Entwicklung führt. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich glaube, daß es für unsere Mitgliedstaaten und vor allen Dingen für die Demokraten in Portugal und Spanien sehr wichtig ist: Es ist also tatsächlich so, daß Sie entgegen Ihrer ursprünglichen Kritik an der Regierung jetzt auch die Auffassung der Regierung vertreten, daß man zwar die Mehrheitsentscheidungen mit allen Kräften innerhalb der bestehenden Neun anstreben soll, daß man aber nicht die Aufnahme Portugals und Spaniens von der Durchsetzung dieses berechtigten Anliegens aller Parteien des Deutschen Bundestages abhängig machen darf? ({0})

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Außenminister, ich vertrete den Standpunkt, man soll nie eine Versammlung schließen, ohne eine konkrete Entscheidung getroffen zu haben. Wenn Sie mir zustimmen und unterstützen, was Ihr liberaler Ministerpräsident und Kollege Ihrer liberalen Partei Gaston Thorn immer wieder sagt, daß das Vetorecht im Ministerrat nur noch auf vitale nationale Interessen beschränkt werden kann, sind wir wohl einer Meinung. ({0})

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie werden mir sicher gern bestätigen, daß die Bundesregierung sogar bereit wäre, sich auch in den vitalen Fragen der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen, daß wir aber nicht von Fortschritten in dieser Frage den Beitritt von Ländern abhängig machen dürfen, die noch gar nicht Mitglied sind, deren demokratische Stabilität aber vom Beitritt abhängig ist? ({0}) Dr. van Aerssen ({1}) Herr Außenminister, nach dem, was ich zuerst auf Ihre Frage geantwortet habe, und nachdem ich deutlich gemacht habe, wie ich denke, ist wohl klar, daß es sich hier um ein Junktim im klassischen juristischen Sinne handelt, sondern um ein politisches Junktim, das wir als Politiker im Herzen tragen müssen. Darauf bitte ich großen Wert zu legen. ({2}) Ich komme auf den Kernpunkt zurück. Die Europäische Gemeinschaft wird auf lange Sicht nur als ein Bundesstaat funktionieren können, wenn wir uns dazu entschließen, den Einstimmigkeitsgrundsatz aufzugeben und zu den 1957 geschlossenen Verträgen von Rom zurückzukehren, wo das qualifizierte Mehrheitsprinzip schon vertraglich festgelegt ist. ({3}) - Ich habe auch gar nicht gesagt, daß wir das allein bestimmen. ({4}) Ich bitte Sie nur, sich dafür einzusetzen. Je mehr so etwas politisch gefordert wird, verehrter Kollege, je mehr Dynamik dahintersteht, desto leichter ist so etwas nachher auch politisch durchzusetzen, weil Politik von der Veränderung auch des Bewußtseins in diesen Fragen lebt. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen. Ich danke ganz herzlich für die freundlichen Zwischenfragen, die vielleicht doch zur Klärung der Position beigetragen haben. Ich darf Ihnen für meine Generation nur sagen: Wir haben zu dieser europäischen Politik keine Alternative mehr. Wir wissen, daß diese Europäische Gemeinschaft zu einem wirtschaftlichen ganten herangewachsen ist. Ein Viertel des Weltbruttosozialprodukts wird von uns erstellt, und 40 % des Welthandels gehen durch unsere Hände. Wir sind aber in mancher Beziehung ein politischer Zwerg geblieben. Wir werden alles verhindern, damit das nicht Wirklichkeit wird, was im 17. Jahrhundert einmal ein französischer Admiral über die spanische Flotte sagte: „Sie ist ein Ringkämpfer mit riesigen Muskeln, aber das Herz ist schwach geworden." Das Anliegen von uns Christdemokraten ist es, daß von dieser heutigen Debatte im Vorfeld der Direktwahlen zum Europäischen Parlament wichtige Impulse zur Bewußtseinsbildung und zu einem ständigen Dialog zwischen diesem Parlament und unseren europäisch bewußten Mitbürgern ausgehen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.

Dr. Ernst Müller-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte bei meinen kurzen Anmerkungen an einen Gedanken anknüpfen, den Kollege van Aerssen schon eben vorgebracht hat und von dem ich meine, daß es darüber keine Meinungsverschiedenheiten gibt. Es gibt zur Europäischen Gemeinschaft und ihrer Weiterentwicklung keine Alternative. Wir können nur eine Vorwärtsstrategie betreiben. Alle neuen Mitgliedstaaten profitieren von dieser politischen Gemeinschaft, von dem wirtschaftlichen Zusammenschluß, von dem Markt der 240 Millionen Bürger. Deswegen ist es so bedauerlich, daß ein flapsiges und dummes Wort eines amtierenden deutschen Ministers, wir seien nur die Zahlmeister Europas, leider sehr tiefe Wurzeln in der deutschen öffentlichen Meinung geschlagen hat, was uns heute sehr im Wege steht. ({0}) Ich glaube, daß alle neuen Mitgliedstaaten eine Reihe von positiven Erfahrungen und Werten in diese Gemeinschaft einbringen. Unter denen, die wir Deutschen einbringen, möchte ich zwei besonders hervorheben: unsere positiven Erfahrungen mit sozialer Partnerschaft und die bewährten Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland die gewaltigen Strukturprobleme dieser Zeit relativ besser bewältigt haben als andere Mitgliedstaaten, dann meines Erachtens aus drei Gründen. Einmal konnten wir nach 1945, nach einer totalen Zerstörung aus dem Nichts völlig neu anfangen. Zum zweiten hat sich das Prinzip der sozialen Partnerschaft bewährt ({1}) - dazu gehören auch die Gewerkschaften - und dazu geführt, daß wir einen ungewöhnlich hohen Lebensstandard für alle Bürger und insbesondere für die Arbeitnehmerschaft erreicht haben. Zum dritten haben wir den Glücksfall Ludwig Erhard gehabt, der unsere Wirtschaft von vornherein unter den Druck des Wettbewerbs und einer weltoffenen Handelspolitik gestellt hat und der sie damit, zum Teil sehr gegen ihren Widerstand, dazu gezwungen hat, sich frühzeitig und rechtzeitig an die Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Daten anzupassen. Andere Mitgliedstaaten müssen das heute unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen nachholen. ({2}) Nun hat der Kollege Seefeld von dem europäischen Selbstbewußtsein der Sozialdemokraten gesprochen. Ich habe dem nichts hinzuzufügen; ich beanstande da auch gar nichts. Aber mit dem europäischen Selbstverständnis der Sozialisten in Europa gibt es große Schwierigkeiten. Sie selbst sind ja da in einem Dilemma; denn die europäischen Sozialisten haben es ja nicht ohne Grund nicht fertig gebracht, ein gemeinsames Programm zu entwickeln, weil in ihren Reihen ausgesprochene europäische Befürworter und ausgesprochene europäische Gegner vorhanden sind und weil in ihren Reihen Sozialdemokraten, Sozialisten aller Schattierungen und Marxisten bis zum äußersten linken Flügel in diesem Verband zusammengefaßt sind. Da gibt es natürlich diametrale Meinungsunterscheide. Ich meine es nicht polemisch, wenn ich sage, das einigende Band der europäischen Sozialisten ist der Versuch, möglichst viele Machtpositionen in Europa zu erringen, und der durch nichts gerechtfertigte Glaube an die Machbarkeit ökonomischer Vorgänge und die Unfehlbarkeit staatlicher Planung und Lenkung. Das, was Sie in Ihrem europäischen Angebot an Programmen der deutschen Öffentlichkeit vorlegen, läßt erkennen, daß Sie sehr große Erwartungen in Planungs- und Strukturräte, in Investitionslenkung setzen. All das halten wir für genauso gefährlich wie Ihr Patentrezept von der 35-Stunden-Woche, mit der Sie die Probleme der Arbeitslosigkeit in Europa bewältigen wollen. Es ist eine Scheinlösung, auf dem Papier vielleicht, die im Grunde aus einer Resignationsstimmung geboren ist. Der Kollege Brandt hat heute, wie ich meine, mit Recht, auf den Ausspruch von Karl Friedrich von Weizsäcker hingewiesen, daß uns in den 80er Jahren gewaltige Probleme bevorstehen, Probleme, auf die wir gar keinen Einfluß haben, die wir hinnehmen, denen wir uns stellen müssen, weil sie uns zum großen Teil von außen aufgedrückt werden. In den Konsequenzen sehe ich - das müssen wir alle erkennen -, daß wir von unserem Wirtschaftswachstum, vielleicht auch von unserem Wohlstand mehr werden abgeben müssen für Dritte, sei es in Form. von Entwicklungshilfe und Ressourcentransfer, sei es durch die Bezahlung teurer Rohstoffe, und daß die Manövriermasse enger werden wird, die für den privaten Konsum und für die Staatsausgaben zur Verfügung stehen wird, wenn wir wirklich in die Probleme der Zukunftssicherung einsteigen. Da sehe ich eine ganz große Gefahr, wenn die Sozialisten meinen, ihr Heil in der gerechteren Verteilung des Mangels sehen zu müssen. Meine Damen und Herren, wir Christlichen Demokraten in der Europäischen Volkspartei setzen auf die Überwindung des Mangels. Wir wollen die Vielfalt der geistigen und kreativen Kräfte in Europa mobilisiert wissen mit dem Ansprechen von Eigenverantwortung, Leistungsdenken, Initiative, Qualität, Spezialisierung, alles verbunden mit einer ungeheuren und betonten sozialen Verantwortung. Deshalb wenden wir uns auch in den programmatischen Aussagen gegen jede Form sozialistischer Gleichmacherei, gegen Klassenkampf und Bürokratisierung der Wirtschaft. ({3}) Lassen Sie mich noch eine abschließende Bernerkung machen. Europa ist nach meiner Überzeugung weiter, als die Bürger im allgemeinen wissen. Aber es ist nicht so weit, wie wir es brauchen und wünschen. ({4}) Hier ist heute vom Europäischen Währungssystem gesprochen worden. Herr Kollege Genscher hat mich dabei lobend hervorgehoben, weil ich im Europäischen Parlament für meine Freunde eine sehr abgewogene Haltung eingenommen habe. Was wir an dem Europäischen Währungssystem, wie es zustande gekommen ist, beanstanden, ist, daß es nicht im Sinne der Vorschläge des Werner-Berichts und des Tindemans-Berichts das Endergebnis paralleler organischer Bemühungen auf dem Gebiet der Wirtschafts-, der Finanz-, der Gesellschafts- und der Währungspolitik, sondern eher ein Akt von oben aufgestülpter Manipulation geworden ist. Das sind die Tatsachen. Die Bewährungsprobe des Europäischen Währungssystems steht erst noch bevor. Unsere Unterstützung ist immer wieder davon abhängig gemacht worden - das möchte ich auch hier noch einmal unterstreichen -, daß sich die europäischen Regierungen und die Kommission mit der Zielsetzung größtmöglicher Stabilität bemühen, zu einer Harmonisierung auf den Gebieten der Wirtschafts-, der Gesellschafts-, der Finanz- und der Währungspolitik zu kommen, natürlich entsprechend den unterschiedlichen Ausgangspositionen in den neun Mitgliedstaaten, aber mit der gleichgerichteten Zielsetzung. Nur wenn wir dies energisch betreiben, wird das Europäische Währungssystem durchhalten und letztlich zu dem Ergebnis führen können, das uns allen vor Augen steht. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoffmann ({0}).

Hans Joachim Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000937, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu meinem eigenen Thema komme, gestatten Sie mir bitte, daß ich meinen beiden Vorrednern ein paar Worte widme. Was hier Herr Müller-Hermann gerade gesagt hat, kommt mir ein bißchen so vor, wie wenn man mit dem Lasso auf Fischfang geht. Da wird alles mögliche in einen Satz hineingepackt. Ich darf einmal zitieren, was Sie gesagt haben: Das einigende Band der europäischen Sozialisten ist der Versuch, möglichst viele Machtpositionen in Europa zu erringen und der durch nichts gerechtfertigte Glaube an die ... Unfehlbarkeit staatlicher Planung und, Lenkung. Können Sie mir einmal irgendeine Stelle nennen, wo dies programmatisch oder von einem Redner der SPD jemals behauptet worden ist? Das ist in dieser Zusammenballung von Worten schlichter Unsinn. ({0}) - Das kenne ich sehr gut. Ich gehe deshalb auch gern auf die nächste Passage ein; die ist nämlich noch um einen Ton besser. Ich zitiere nochmals: Die Planungs- und Strukturräte im SPD-Programm und die Forderung nach Investitionslenkung sind ebenso gefährlich wie das Patentrezept, mit der Einführung der 35-StundenWoche das Problem der Arbeitslosigkeit meistern zu können. - Ich warte nur noch darauf, daß Sie da noch Beifall klatschen. Auch dort ist nämlich wieder sozusagen das Lasso angewandt worden. Sie haben nicht einmal begriffen, in welchem Zusammenhang die gesamte Diskussion über die 35Stunden-Woche gelaufen ist. ({1}) Deshalb möchte ich Ihnen nur ganz kurz folgendes sagen. Vielleicht interessiert Sie das im Zusammenhang mit der vielbeschworenen christlich-demokratischen Fraktion. Ich zitiere einmal die Meldung von vwd vom 5. April 1979: Die Verringerung der Arbeitszeit bis Ende Mai 1981 auf 36 Stunden also eine Stunde mehr soll in Belgien durch Konzentration der Sozialpartner erreicht werden, heißt es in einer vom Regierungschef Wilfried Martens verlesenen Regierungserklärung. Hoffmann ({2}) Wie Sie wissen, ist Herr Martens Mitglied der CD-Fraktion gewesen; er ist Christdemokrat. Vielleicht wenden Sie sich mit Ihren bemerkenswerten Ausführungen über die 35-Stunden-Woche einmal nach Belgien. ({3}) Noch ein paar kurze Bemerkungen zu dem, was Herr Kollege van Aerssen gesagt hat. Es würde sich lohnen, jeden einzelnen Punkt aufzunehmen, weil es sich eigentlich um einen sehr wirren Katalog sich widersprechender Äußerungen handelt. Ich gestatte mir, nur zwei, drei herauszugreifen. Wenn man die italienische Situation so beschreibt, man müßte den Sozialisten vorwerfen, sie würden die DC, die Christdemokraten dort, daran hindern, die Mehrheit für sich zu beanspruchen, dann stellt man die historischen Entwicklungen Italiens doch wohl absolut auf den Kopf. ({4}) Realität ist doch vielmehr, daß es die Christdemokraten über Jahrzehnte nicht fertig gebracht haben, das, was in der Bundesrepublik durch Sozialpartnerschaft einigermaßen gut gelungen ist, ({5}) dort so zu vollziehen, daß es praktisch gar nicht notwendig gewesen wäre, daß die Christdemokratie heute sozusagen augenzwinkernd zu den Kommunisten hinüberschielt. Ich möchte Sie, die Damen und Herren, die mit mir zusammen im Europäischen Parlament sind, doch einmal fragen: Merken Sie denn eigentlich nicht, daß bei vielen sachlichen Abstimmungen im Europäischen Parlament ein Augenzwinkern zwischen den italienischen Christdemokraten und den Kommunisten besteht ({6}) und daß diese Abstimmungen von ihnen meist entweder stillschweigend mitgetragen oder - was weiß ich - mit einer gewissen Sympathie verfolgt werden?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. van Aerssen?

Hans Joachim Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000937, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Jochen Aerssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000012, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hoffmann, als Kollege und Freund aus dem europäischen Parlament: Teilen Sie die Ansicht, daß - wie in den Niederlanden und Belgien - auf Grund des italienischen Wahlsystems so oder so immer eine Koalitionsregierung zustande kommen muß, was bei anderen Wahlsystemen in der Europäischen Gemeinschaft nicht immer der Fall ist, und daß es die Sozialisten unter Herrn Craxi sind, die die letzte Regierung mit ihrer Forderung haben scheitern lassen, die Kommunisten als vollberechtigte Mitglieder in die Regierung aufzunehmen, ({0}) und daß sie noch weiter gegangen sind und gesagt haben, sie würden einen solchen Schritt einer Koalitionsregierung mit Christdemokraten und Kommunisten nur tragen, wenn sie gleichzeitig auch den Ministerpräsidenten des Landes stellen dürften?

Hans Joachim Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000937, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Ihre Frage freut mich deshalb so besonders, weil sie eine Antwort auf die Frage gibt, die von einem anderen Ihrer Kollegen an uns gestellt worden ist, nämlich auf die Frage, wie es sich mit den Koalitionszwängen in Frankreich verhält. Vielleicht überlegen Sie sich in diesem Zusammenhang, was das für die dortigen Koalitionen heißt. Dann werden Sie vielleicht ein bißchen ehrlicher mit Vorwürfen in punkto Volksfront umgehen können. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ({0})? ({1}) - Okay, danke sehr.

Hans Joachim Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000937, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr van Aerssen, ich will Ihnen gern noch eine Antwort auf Ihre Frage geben: Wenn Sie die Entwicklung der italienischen Situation ernsthaft verfolgen, wenn Sie sich ansehen, was dort an sozialer Unruhe vorhanden ist, wenn Sie sich ansehen, wie die wirtschaftliche Situation dort ist und dabei gleichzeitig berücksichtigen, daß die Christdemokraten dort zwar sagen, sie akzeptieren keine kommunistischen Minister, wohl aber eine inhaltliche Absprache mit den Kommunisten über die wichtigsten Probleme der Innenpolitik, der Außenpolitik und der Sicherheitspolitik Italiens wollten, dann möchte ich einmal wissen, was eine solche kleinkrämerhafte Aufrechnung noch helfen soll, die Sie hier in Ihrer Frage vorgenommen haben. Meine Damen und Herren, ich komme noch auf eine weitere Bemerkung von Herrn van Aerssen zu sprechen. Sie haben über das Verhältnis zu den USA und zur UdSSR gesprochen und sozusagen den Vorwurf erhoben, man führe zu viele Gespräche in Richtung Osten. Sie haben gesagt - ich konnte das fast nicht glauben -: Wir suchen nicht das Gespräch mit denen, die nicht unserer Meinung sind. Wie soll man denn das eigentlich noch kommentieren? Vielleicht lesen Sie das noch einmal nach und korrigieren es entsprechend. Lassen Sie mich nun kurz auf das Thema eingehen, das mir gestellt ist, um eine andere Facette in die Diskussion einzubringen. Wir haben bisher im wesentlichen darüber diskutiert, warum es notwendig ist, die Europäische Gemeinschaft - auch durch die Direktwahlen des Europäischen Parlaments - im Hinblick auf all das zu stärken, was Hoffmann ({0}) positiv erreicht worden ist und fortgesetzt werden soll: Friedenssicherung usw. Ich brauche auf diese ernsten Probleme nicht weiter einzugehen, weil sie ausreichend klar dargestellt worden sind. Für mich gibt es von einer ganz anderen Seite her eine wesentliche Begründung dafür, warum es notwendig ist, hier Optimismus zu zeigen, nämlich die schlichte Tatsache, daß wir die Krisensituationen, die wir heute erleben - sei das auf dem Stahlmarkt, sei das beim Schiffsbau, sei das bei der Energiepolitik oder zukünftig in anderen Bereichen -, eben nicht mehr regional und national lösen können. Daraus ergibt sich als Schlußfolgerung mit europäischer Dimension der Zwang, gemeinsam dafür zu sorgen, daß wir diesen Problemen mit politischen Kompromissen begegnen können. Wir haben in der Europäischen Gemeinschaft mehr als sechs Millionen Arbeitslose. Wer versuchen wollte, dieses zentrale Problem der Europäischen Gemeinschaft regional zu lösen, würde in jedem Falle scheitern müssen. Wenn wir feststellen, daß diese strukturellen Probleme heute nicht mehr im nationalen Rahmen lösbar sind, dann ergibt sich hier auch ein logischer Prozeß: die ständige Verlagerung von Macht an übergeordnete Ebenen, in diesem Fall an die internationale Ebene. Ich möchte hier eine sicher nicht an die Bundesregierung, sondern an alle Regierungen, die daran beteiligt sind, gerichtete Bemerkung machen. Wir könnten der Gefahr erliegen, daß der Ministerrat sich sozusagen zum Kartell gegen eine demokratische Kontrolle auf der entsprechenden Ebene entwickelt. Ich will versuchen, das kurz deutlich zu machen. Was über Verhandlungen auf der Neuner-Ebene der unmittelbaren Kontrolle durch die jeweiligen nationalen Parlamente entzogen ist, ist bis heute dem demokratisch zu wählenden Europäischen Parlament nicht gegeben worden. Das bedeutet, daß es hier nicht um die vordergründige Frage geht: „Verlagern wir Kompetenzen von der nationalen zur internationalen Ebene?", sondern daß die Frage lautet: „Wo sollen die verlagerten Kompetenzen denn demokratisch kontrollierbar eingesetzt werden?" Das ist für mich die Schlüsselfrage. Hier liegt bis heute eine der gewichtigen Schwächen der Europäischen Gemeinschaft. Der zweite Schwachpunkt liegt in der Feststellung, daß trotz aller gemeinsam betriebenen Anstrengungen die Europäische Gemeinschaft bis heute leider Gottes immer noch zu sehr eine Gemeinschaft der wirtschaftlich Starken geblieben ist. Daß sie das ist, möchte ich an zwei Beispielen belegen. Das erste Beispiel ist die Agrarpolitik. Für die Agrarpolitik verwenden wir heute 75 % aller Ausgaben auf der europäischen Ebene. Das ist nicht allein den Landwirten anzulasten; das weiß ich. Aber es ist in jedem Fall klar, daß hier ein Ungleichgewicht entstanden ist, das aufzurollen ist. Wenn man weiß, daß die Gelder, die dort an den Agrarsektor gehen, zu über zwei Dritteln in die nördlichen Länder fließen, weiß man auch, vor welchem Problem wir heute stehen, wenn die zukünftigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und Italien und Frankreich dahin kommen, zu sagen, sie wollen praktisch ein Äquivalent dafür haben. Wenn wir an dieser Stelle nicht merken, daß unsere Uberschußprobleme verlängert werden, indem wir dieses System einfach auf diese Staaten weiterziehen, und wenn wir nur versuchen, das mit Garantiepreisen zu machen, dann wird das, was wir heute schon als beklagenswerte Umstände haben, sich innerhalb der Agrarpolitik so vervielfältigen, daß wir es nicht mehr in den Griff bekommen werden. Da die Zeit sehr knapp ist, möchte ich Ihnen dazu nur sagen, daß Sie auch in dieser Frage sehr deutlich Koalitionen im Europäischen Parlament ausmachen können. Hier hat nämlich beispielsweise die italienische Christdemokratie eine fast identische Position mit den italienischen Kommunisten. Ich möchte Ihnen das nur nochmals nahelegen, um zu zeigen, daß diese Klischees von Volksfront einfach der Realität entbehren. Dieses Problem der Landwirtschaft führt uns zwingend zu dem zweiten Problem, das ich ansprechen möchte, nämlich dem der regionalen Unterschiede. All das, was sich dort an strukturellen Veränderungen vollzieht, nämlich die ständige Abwanderung aus dem landwirtschaftlichen Bereich, ohne daß wir alternative Arbeitsplätze anbieten können, zeigt ganz deutlich, daß unsere Regionalprobleme immer weiter wachsen werden. Da die Zeit jetzt nicht weiter ausreicht, möchte ich Ihnen dazu nur eine Zahl nennen. Als die Europäische Gemeinschaft anfing, war das Lebensstandard-Verhältnis zwischen der ärmsten und der reichsten Region 1 : 4. Heute ist es 1 : 6 bis 1 : 7. Wenn Portugal, Griechenland, Spanien dabei sind, ist es 1 : 11 bis 1 : 12. Mit diesen Zahlen ist belegt, daß unser Grundziel, das wir gemeinsam in den europäischen Verträgen festgelegt haben, nicht erreicht worden ist, nämlich die Unterschiede anzugleichen. Deshalb möchte ich hier nur sagen: Wenn wir über alternative Lösungen in Europa wirklich ernsthaft diskutieren, müßten wir hier anfangen, und dann müßte beispielweise die CDU/CSU hier erklären, wie sie denn alternative Politik verstehen würde, um diese Ungleichgewichte auszugleichen. Dazu hat es überhaupt keine perspektivische Äußerung der CDU/ CSU hier gegeben. Ich möchte das in einem abgewandelten Dichterwort zusammenfassen. Wo sitzt die Union bei diesem Problem? Die Union sitzt zwischen zwei Stühlen auf einem Sessel. Exakt so haben Sie das bei dieser Frage gemacht. Den einen Stuhl haben Sie so benannt: Für das, was heute bei diesen Ungleichgewichten Realität ist, können wir nichts. Der andere Stuhl heißt: Was Sozialisten und Sozialdemokraten vorschlagen, ist ganz schlimmes Zeug. Dann haben Sie Ihren Sessel geholt und sich dazwischengesetzt. Und Sie sind bis heute nicht imstande, in irgendeiner Weise mal zu zeigen, wie Sie denn diese Ungleichgewichte beseitigen wollen. Ich darf Ihnen einen Tip dazu geben: Lesen Sie es mal bei uns in den Programmen nach. Wir haben uns da einige Mühe gegeben. Hoffmann ({1}) Zum Schluß möchte ich Sie nur bitten, daß der nächste Redner der CDU/CSU-Fraktion uns eine Möglichkeit gibt, in den restlichen Tagen, die wir leider Gottes noch in sehr harter Auseinandersetzung verbringen werden, darauf einzugehen, wie wir uns der Frage stellen sollen, die Sie bisher nicht gelöst haben, nämlich: „Wie sähe es im Europäischen Parlament fraktionell und bündnismäßig aus, wenn CDU und CSU sich in Bonn trennen würden?" Die zweite Frage: Wie ist das mit den Aussagen von Otto von Habsburg? Bestätigen Sie diese - Sie wissen, um welche Zitate es geht - oder distanzieren Sie sich davon? Es würde uns viel ersparen, wenn wir hier einmal ein klares Dementi sehen würden. ({2}) Dann könnten wir nämlich mit diesen Fragen etwas klarer umgehen. Schließlich eine Frage, die ich nicht mit dem Namen bezeichnen möchte; ich möchte Sie nur bitten, uns eine klare Aussage zu geben, was mit dem Spitzenkandidaten in Niedersachsen ist. Wir könnten uns, glaube ich, viele Auseinandersetzungen ersparen, wenn Sie auch dazu von diesem Podium aus ein klares Wort finden würden. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr. Abgeordneter Dr. Früh.

Dr. Isidor Früh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf nach diesen Höhenflügen, die heute über Europa - sicherlich zu Recht - gesprochen worden und auch notwendig sind, doch einmal in den Alltag zurückkehren und dort ansetzen, daß vieles in diesem Europa am Bürger vorbei gesprochen wird und der Bürger sich nicht mehr auskennt und nicht mehr weiß, was er denn von diesem Europa zu erwarten hat. Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich gerade dort ansetze, wo wir seit Jahren in dieser Europäischen Gemeinschaft reale Probleme zu lösen haben, nämlich in der Agrarpolitik. Draußen in unseren Versammlungen wird immer wieder von den Bürgern gefragt, weshalb denn diese Agrarpolitik zu einer solchen - leider verzerrt dargestellten - Fehlentwicklung geführt habe. Ist das denn so? Oder hat man die Zusammenhänge nicht völlig falsch dargestellt? So werden wir unsere Bürger keinesfalls für Europa gewinnen können, eher noch abschrecken. Wenn ständig von großen Kosten gesprochen wird, dann liegt doch eines auf der Hand: Wenn es eine Politik gibt, die allein europäisiert und integriert ist und ihre Kosten deshalb über das europäische Konto abgerechnet werden, dann darf man das sicher nicht so darstellen, als ob sie 70 % des europäischen Haushalts verschlinge! Das kann gar nicht anders sein, wenn alle anderen Politiken nicht in dem Maße realisiert werden, wie es dringend notwendig wäre. ({0}) Herr Hoffmann hat das Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd dargestellt, aber dabei deutlich gemacht, daß das Übel dieses Ungleichgewichts gerade darin liegt, daß es uns leider nicht gelungen ist, neben dieser Agrarpolitik zusätzliche Politiken, insbesondere die Regionalpolitik, die das Ungleichgewicht verbessern würde, im südlichen Europa durchzusetzen. Sie wissen, wie sehr wir im Europäischen Parlament in dieser Frage Jahr für Jahr bei der Festlegung des Haushaltsplans im Kampf mit dem Ministerrat liegen. Am Ende ist es dann einfach nicht möglich, den Regionalfonds zu erhöhen, weil der Ministerrat blockiert. Dies ist doch einer der entscheidenden Punkte. Wir wissen aus unserem eigenen Land, daß Agrarpolitik kein Einzelgänger mehr ist, sondern daß sie flankiert werden muß von der Regionalpolitik, von der Sozialpolitik, von der Wirtschafts-, und Währungspolitik, von all diesen flankierenden Maßnahmen, ohne die sie überhaupt nicht entwickelt werden kann. Genau das fehlt uns in Europa. Genau das bringt uns in so große Schwierigkeiten. Die Isolierung der Agrarpolitik und ihre Überfrachtung muß aus der Welt geschafft werden. Hier müssen für die Agrarpolitik flankierend all die übrigen Maßnahmen entwickelt werden, Schritt für Schritt. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber ohne diese Ergänzung kann die Agrarpolitik die Lasten nicht tragen, erst recht nicht bei den bevorstehenden Erweiterungen. ({1}) Lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen, der natürlich auch diese europäische Agrarpolitik und damit die Europapolitik überhaupt beim Bürger, beim Verbraucher in Mißkredit bringt. Man macht ihm klar - meist wider besseres Wissen , daß er vom Weltmarktpreis her gesehen durch diese Agrarpolitik entscheidend gebeutelt würde. Ist das denn so? Oder hat nicht ein ganz andere Entwicklung stattgefunden? Hat nicht die Entwicklung stattgefunden, daß der Verbraucher bei uns ständig fallende Ausgaben für seine Nahrungsmittel anlegen muß? Wir sind nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes für die Durchschnittsfamilie bei 20 %. 80 % des Einkommens können zur Befriedigung anderer Bedürfnisse ausgegeben werden. Davon geht ein entscheidender wirtschaftlicher Impuls aus. ({2}) Ich darf auf eine weitere wichtige Angelegenheit hinweisen. Wenn wir von Überschüssen reden - die im Endeffekt für den Verbraucher immer billiger sind als Mangel -, dann sollten wir nicht vergessen, daß es dafür einen ganz entscheidenden Grund gibt. Auch Sie wissen das, Herr Hoffmann, denn wir alle haben uns immer wieder damit auseinanderzusetzen, daß im Rahmen von Beitrittsverhandlungen - das hat mit England begonnen ({3}) stets Zusagen gegeben werden. 125 000 t Butter, die danach jährlich eingeführt werden müssen, sind doch nicht einfach zu übersehen. Aus den Entwicklungsländern werden - niemand beklagt das, wenn es notwendig ist - 1,5 Millionen t Zucker eingeführt. Aber dann dürfen doch Lager- oder Erstattungskosten nicht einfach zu Lasten der Agrarpolitik verrechnet werden. ({4}) Das Entscheidende ist aber - und das wissen Sie alle -, daß wir langsam von einer Grundvoraussetzung dieser europäischen Agrarpolitik abkommen, nämlich dem Vorrang der Eigenproduktion. ({5}) Aus der ganzen Welt strömen ungehindert Substitute in diese Europäische Gemeinschaft hinein. Das ist für die gesamte europäische Landwirtschaft sehr ernst. Sie wird einen falschen Weg gehen - ich sage das hier klipp und klar -, wenn sie weiterhin so verfährt, diese Substitute zu veredeln. Mit diesen Veredelungsprodukten können wir doch nicht wieder zurück auf den Weltmarkt, weil dort die notwendige Kaufkraft nicht vorhanden ist. Die Länder, die sie hätten, die Vereinigten Staaten und Japan, sperren sich, diese Produkte aufzunehmen. Das ist das eine. Zum anderen wird sich diese Landwirtschaft von der bäuerlichen Landwirtschaft mehr und mehr entfernen, wenn sie losgelöst von ihrer eigenen Fläche praktisch in der ganzen Welt Flächen pachtet, nicht zuletzt wegen der günstigen Parität der europäischen Währungen zum Dollar. Das ist eine Fehlentwicklung, die wir bremsen müssen. ({6}) Hier appelliere ich an alle in diesem Hause und auch im Europäischen Parlament, zu erkennen, daß dies der schlechteste Weg ist, den wir in dieser schwierigen Situation gehen können. Aber es kommt hinzu, daß die nationalen Landwirtschaften versuchen, sich gegenseitig unlautere Konkurrenz zu machen. Es muß uns gelingen - und das ist ein schweres Stück Arbeit, die im Ministerrat, in der Kommission und im Parlament geleistet werden muß -, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle zu schaffen. Es darf doch nicht sein, daß durch die angespannte Energiesituation im Gartenbau in Holland Wettbewerbsvorteile entstehen, die sich bei freien Grenzen auf die Betriebe in den Nachbarländern existenzgefährdend auswirken. Es geht weiterhin nicht an, daß in einem einzigen Land 75 % der Aufträge und 55 % aller Kühe zur prämienbegünstigten Abschlachtung angemeldet werden, während man in einem anderen Land, wo man diese Agrarpolitik, insbesondere die Milchpolitik, schärfstens kritisiert - ich erinnere an die Beiträge der Mitglieder der englischen Labour-Party im Europäischen Parlament -, die Milchproduktion um das Doppelte des europäischen Durchschnitts erhöht. Es darf wirklich nicht sein, daß wir mit so verschiedenen Maßstäben arbeiten. Man darf doch nicht fordern, die Agrarpreise müßten wegen der Überschüsse eingefroren werden und die Beträge für den Währungsausgleich müßten abgebaut werden, wenn man dann im nationalen Interesse darangeht, die grüne Parität dazu zu benutzen, sich lustig Preiserhöhungen zuzugestehen. ({7}) Diese Methoden müssen aus der europäischen Agrarpolitik verschwinden. Ich weiß, daß das ein Stück harter Arbeit ist, die noch geleistet werden muß. Das sind die Realitäten, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert werden und in denen wir uns bewähren müssen. Eine letzte Feststellung: Eines sollten wir nicht außer acht lassen. Der mühselige, schwere Weg der europäischen Agrarpolitik, der oft verteufelt wird, hat diese Beurteilung nicht verdient. Er ist eine Glanzleistung europäischer Zusammenarbeit unter Bewältigung vieler Schwierigkeiten, ({8}) besonders auch im Hinblick auf den Währungssektor. Eines ist dabei erreicht worden, und das sollte gerade die künftige europäische Entwicklung und auch andere gemeinsame Politiken ermutigen. Diese europäische Region, eines der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt, das immer auf Nahrungsmittelzufuhren angewiesen war, hat sich durch die europäische Agrarpolitik freigeschwommen. Hier sind wir nicht, wie auf vielen anderen Gebieten, erpreßbar. ({9}) Das ist, davon bin ich überzeugt, eine der entscheidenden Voraussetzungen, um Frieden und Freiheit in Europa zu erhalten. Wir sollten auf diesem Weg fortschreiten, und zwar in Partnerschaft mit allen Schichten unseres Volkes, mit allen Wirtschaftsgruppen, aber nicht mit klassenkämpferischen Parolen, wie sie da und dort versucht werden. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schwencke.

Dr. Olaf Schwencke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gegen Ende einer solchen Debatte ist es vielleicht sinnvoll, sich selber und den Vorrednern ein wenig den europäischen Spiegel vorzuhalten. Wenn wir das lesen, was vor 30 Jahren in öffentlicher Diskussion zum Thema Europa gesagt wurde, und wenn wir dann heute auf unsere Debatte zurückblicken, werden wir bei einem Vergleich feststellen, daß wir von dem geistigen und politischen Niveau weit entfernt sind, auf dem die Europadiskussion vor mehr als 30 Jahren geführt wurde. Warum? Einer der wesentlichen Gründe ist, daß in jenen Jahren - ganz anders als heute - Europa und Jugend beinahe identisch waren. Das war die Zeit des großen Aufbruches, des großen Suchens und der großen Hoffnungen. Man muß es doch als eine politische Tat ansehen, daß die Schlagbäume eingerissen wurden, jedenfalls wenn es von beiden Seiten geschah; das war eine politische Tat, also ein Anfang, dem die meisten beabsichtigten Folgen versagt blieben. Sicher, sehr viel und vielleicht allzuviel an Emotionen ist damals dabei gewesen. Aber die Erkenntnis, daß der Fortschritt eine Schnecke ist, haben ja auch wir erst lernen müssen. Allerdings war trotz aller Emotion doch mehr Vernunft dabei: nach so viel Unvernunft der GeneDr. Schwencke ({0}) ration, die uns einen Hitler und der Welt ein großes Völkermorden beschert hatte. Die ungeheure Emotionalisierung der Themen Europa, Versöhnung und Frieden, die sich in immer neuen symbolischen Akten insbesondere Jugendlicher ausdrückte, zeigte damals deutlich auch das Ziel, das anzustreben war: ein Vereinigtes Europa! Die junge Generation suchte nach neuen Identitäten. Die junge deutsche Generation hatte ja auch keine andere Chance - auch heute nicht - als „Europa". Die rechte Zeit, der Kairos, wie die Griechen zu sagen pflegen, ist vorüber. Wir liegen nicht mehr in dem „rechten Moment". Wir sind in einer nüchternen Phase; sie hätte einen neuen Schwung, wenn wir die Fragen von damals neu aufgriffen. ({1}) - Ich glaube, daß die Nüchternheit heute durch mehr Realitäten gestützt ist als damals. Vielleicht können wir uns darauf einigen, Herr Mertes. Ich glaube, daß das Wort, das Kurt Schumacher 1947 zur Europabewegung sagte, ein wichtiges Wort war. Er hat gesagt: Das Suchen nach Europa ist in Wahrheit das Suchen nach einer Sinngebung des Lebens. Das würde ich als Theologe zwar heute ein bißchen mehr differenzieren - aber es war ein gutes Wort! Aber unsere Situation ist die - und das macht unsere Debatte und die Diskussion draußen so schwer -, daß wir keinen großen Widerhall bei der Jugend finden, in einigen Teilen sogar überhaupt keinen. Ich stelle mich jetzt nicht hier hin und sage - ich hoffe, daß wir uns darin einig sind; es wäre nämlich töricht, das zu sagen -: die Jungen, die diese Frage nicht begreifen, sind schuld daran. Ich würde eher sagen: wir, die Politiker, sind schuld daran, daß die Europa-Hoffnung so dünn geworden ist; daher rührt die magere politische als auch geistige Substanz. ({2}) Herr Mertes, ich komme jetzt noch zu einem Punkt Ihrer Großen Anfrage. Ich glaube nämlich, daß Ihre Große Anfrage den Jugendlichen, deren Fragen an Europa und an die Politiker nur wenige Hinweise gibt. Die junge Generation kommt in der CDU/CSU-Anfrage kaum vor, nur ganz am Rande, ja eigentlich nur in einem einzigen Punkt, und da auch mehr oder minder indirekt. ({3}) Sie erkundigen sich in der Frage 6 - ich will das gerne erwähnen - nach der Bildungspolitik der Gemeinschaft. Die Bundesregierung gibt Ihnen in ihrem Bericht über die Integration unter Ziffer 90 einige Hinweise. Im übrigen tut sie das - bedauerlicherweise -, ohne dabei auch nur mit einem Wort auf das Europäische Parlament einzugehen oder die Querverbindungen zu der, wie ich meine, sehr erfolgreichen Arbeit der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und den Beschlüssen, die die UNESCO gefaßt hat, herzustellen. Das alles kommt in Ihrem Bericht leider nicht vor, Herr Außenminister. Ich glaube, das Ganze hätte erst ein volles Spektrum ergeben. Damit wäre deutlich gemacht worden, daß auch im Bereich der Bildungspolitik auf europäischem Gebiet einiges in den Berichtsjahren in Bewegung geraten ist. Die Bundesregierung schreibt - Zitat -: Es gelang, zu folgenden Themen konkrete Vorlagen vorzubereiten: - Verbesserung des Unterrichts über die Europäische Gemeinschaft und Europa - Verbesserung des Fremdsprachenunterrichts in der Gemeinschaft - Erleichterung der Zulassung von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten zu den Hochschulen. Das ist zwar noch recht wenig, aber immerhin etwas. Aber wie soll gerade im Blick auf unser föderales System dieses Wenige konkret werden, wenn beispielsweise der bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus, Herr Maier, eine Diskussionsveranstaltung zur Direktwahl mit Gymnasiasten in Neubiberg bei München - als Ausdruck der „Verbesserung des Unterrichts über die Europäische Gemeinschaft und Europa" gedacht - ganz schlicht untersagt? An dem Trauma der CSU der Unausgewogenheit kann das schwerlich gelegen haben; denn neben einem Kollegen der FDP und mir war auch ein Paneuropa-Funktionär der CSU als Diskussionsredner vorgesehen. Ich glaube, das ist eine unsinnige Entscheidung, eher bürokratistisch. Ich fürchte allerdings: dahinter steckt die Angst der Konservativen, Schüler als politische Gesprächspartner ernst zu nehmen. ({4}) Einen anderen Reim kann man sich darauf nicht machen, zumal wir uns über das Ziel dieses größeren Europas einig sind. Ich denke, an diesem Punkt sollte ich als niedersächsischer Abgeordneter auch noch einmal die Frage aufnehmen, wie Sie es denn nun mit Ihrem niedersächsischen Spitzenkandidaten halten, ({5}) nachdem bekannt geworden ist, was er 1943 geschrieben hat. Das ist bisher nirgends dementiert worden. Ich halte es für eine Unmöglichkeit, daß Sie den Wählern jemanden als Spitzenkandidaten zumuten, der das, unter welchen Umständen auch immer, in der nationalsozialistischen Zeit geschrieben hat. Wenn Sie diese Frage nicht bald zufriedenstellend beantworten, werden wir erneut einen Beitrag dazu leisten, daß der jungen Generation dieses Europa durch einen seiner Repräsentanten verargt wird. Sie täten gut daran, diese Sache in Ordnung zu bringen. Dies sage ich immerhin einer CDU, die Herrn Blumenfeld von Platz fünf der Landesliste Niedersachsen gestrichen hat. Das darf nicht so bleiben: Herr Jahn bleibt, und Herr Blumenfeld ist gestrichen worden. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?

Dr. Olaf Schwencke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schwencke, Sie betonen immer wieder Ihren theologischen Background. Darf ich Sie fragen, ob Ihnen das Wort der Schrift bekannt ist: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet?

Dr. Olaf Schwencke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich bin erstaunt über eine solche Frage, die für Sie und für mich persönlich sicherlich von Bedeutung ist. Aber wir befinden uns hier in einer politischen Auseinandersetzung. Meine Begründung ist: Wir können unseren Wählern einen solchen Kandidaten als Demokraten nicht bieten. Sie können das auch nicht, und zwar insbesondere nicht als eine christliche Partei. ({0}) Ich komme zu einem weiteren Zitat, an dessen Erwähnung mir liegt, um einen engeren Bezug zwischen der Diskussion von vor 30 Jahren und der heutigen herzustellen, um damit deutlich zu machen, daß die wichtigsten europapolitischen Fragen geblieben sind. Unter dem Titel „Die Zweite Republik" hat der Publizist Walter Dirks in den „Frankfurter Heften" 1946, im ersten Heft, u. a. geschrieben: Wir proklamieren das Ende des souveränen Nationalstaates. Wir können es um so mehr, als wir es sind, dieses Ende. Nur müssen wir es auch wollen, um aus der Not der Stunde wahrhaftig eine Tugend zu machen. Wir steuern die europäische Konföderation an, nicht gegen andere außereuropäische Mächte, sondern gerade für sie, wenn auch zunächst einmal für uns, für diesen in Krieg und Krise zerrütteten Kontinent. Wir suchen Verbindung und Austausch mit der ganzen Welt, vor allem mit den Vereinigten Staaten, ferner mit unserem mächtigen Nachbarn im Osten. Die europäische Stufe darf dabei nicht übersprungen werden. Ein letztes Wort aus dem gleichen Aufsatz: Europa, der arme Kontinent, kann nur gelten und bestehen, wenn er sich zusammenrafft . . . Das bedeutet das Ende der europäischen Idylle. Ich habe bewußt zum Schluß dieses Wort gesetzt, weil ich glaubte, daß hier die Gemeinsamkeit des europäischen parlamentarischen Demokratismus liegt: Wenn wir diese Substanz aufgreifen und mit soviel Substanz wie möglich darangehen, diesen Anspruch zu verwirklichen, wenn die junge Generation diesen Dialog aufnimmt und wenn wir dazu beitragen, daß die junge Generation auch die Chance dazu bekommt, glaube ich, daß wir kräftig an diesem Europa der Nicht-Idylle weiter bauen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gradl.

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Bemerkung machen, die nicht voll in den Rahmen der Auseinandersetzung paßt, die wir soeben geführt haben, die aber doch für das Thema Europa und für die deutsche Europapolitik von Bedeutung ist. Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament macht die demokratische Gemeinschaft der Europäer einen wesentlichen Schritt vorwärts; aber ein Teil Deutschlands bleibt draußen. Um so wichtiger - darin stimmen wir sicher überein - ist für uns Deutsche das Verhältnis, das dieses werdende Europa zur Wiederherstellung unserer nationalen Einheit gewinnt. Ich drücke das jetzt alles sehr vorsichtig aus. Es kommt nicht darauf an, zu erzürnen und Schwierigkeiten zu schaffen. Ich denke an bestimmte Diskussionen in den letzten Wochen und sage es zurückhaltend. Bei manchen unserer europäischen Partner gilt es - dies muß man aus jüngster deutscher Vergangenheit wohl auch verstehen - Vorbehalte in bezug auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit. In der politischen Publizistik zeichnen sich diese Vorbehalte sogar recht deutlich ab. Auch ist festzustellen, daß zuweilen unserem Beharren auf nationaler Einheit und auf freier Selbstbestimmung mehr taktisch-verbale als reale Bedeutung beigemessen wird. Diese Sachverhalte widersprechen unserem menschlichen und unserem nationalen Interesse. Um so mehr werden wir unseren Partnern darzustellen haben, daß für uns Deutsche die deutsche Frage jedenfalls ungelöst ist. ({0}) Vielleicht darf man auch hinzufügen: Keiner unserer Nachbarn würde stille sein und sich damit abfinden, wenn sein Volk, wenn sein Land, wenn seine Hauptstadt durch eine blutige Grenze zerrissen wäre. ({1}) Wir Deutsche beweisen aus Überzeugung und aus Einsicht seit Jahrzehnten Geduld. Aber wir können und wir dürfen nicht hinnehmen, wenn unsere Geduld als ein Sichabfinden mit der Teilung und Spaltung unseres Volkes und unseres Landes mißdeutet wird. Es ist dabei wichtig, in der Argumentation klarzuhalten, daß es bei der deutschen Frage nicht nur um deutsches, sondern sehr wohl auch um europäisches Interesse geht. Dies könnte man mannigfach darstellen, aber dazu reicht die Zeit jetzt nicht. Ich will nur zwei Gesichtspunkte nennen. Einer ist heute mehrfach angesprochen worden: Die Teilung Deutschlands ist auch die Teilung Europas. Europa endet eben nicht an Elbe oder Oder. Weit bis in die herrschenden Schichten hinein fühlen sich z. B. die Polen und die Ungarn, die Tschechen und Slowaken, die Rumänen - um nur diese zu nennen - Europa zugehörig, nicht nur geographisch, sondern in einem sehr tiefen und zugleich lebendigen Sinne. Ein anderer Gesichtspunkt -- auch diesen muß man unseren europäischen Partnern immer wieder deutlich machen: Mit ihrer menschlichen und nationalen Not ist die Teilung ein Spannungsherd und ein Risiko für den Frieden. Sie ist im übrigen die Basis der militärischen Konfrontation quer durch Europa. Dies alles heißt Teilung, und dies alles ist zu bedenken, wenn wir daran interessiert sind und sagen, es sei auch europäisches Interesse, wenn wir bemüht sind, die Spannungen abzubauen und die Teilung zu überwinden. Kürzlich - dies ist der eigentliche Grund, weshalb ich hier das Wort erbeten habe - wurde beim Herrn Bundespräsidenten in einer Sitzung des Präsidiums des Kuratoriums Unteilbares Deutschland das Thema europäische Wahlen und deutsche Frage erörtert. Alle Parteien und Fraktionen des Bundestages waren vertreten. Man war sich in dieser langen und gründlichen Aussprache einig, daß sich aktive Europapolitik und besonnene, aber zielbewußte Deutschlandpolitik gegenseitig ergänzen. Man wünschte und wünscht und hoffte und hofft - dies ist das Petitum -, daß die deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments in ihren verschiedenen europäischen Fraktionen und im Parlament selbst das menschliche und nationale Interesse der Bundesrepublik verständlich machen. ({2}) Es würde sicher hilfreich und förderlich sein, wenn unsere Kollegen im Europäischen Parlament in allem, was die deutsche Frage angeht, miteinander Kontakt halten und sich abstimmen. ({3}) Keiner denkt daran, daß das Europäische Parlament mit den „querelles allemandes" gelangweilt werden sollte. Aber einem passenden und vielleicht notwendigen Wort bei gegebenem Anlaß darf auch nicht ausgewichen werden. ({4}) Darf ich zum Schluß noch dies sagen: Dieses Fühlunghalten miteinander und das Suchen nach gemeinsamen Aussagen im Europäischen Parlament - wenn es notwendig sein sollte - sollte uns allen, unseren Kollegen, aus welcher Fraktion auch immer, nicht schwerfallen, denn zwar haben wir ernste und unvermeidliche Meinungsverschiedenheiten in der deutschlandpolitischen Auseinandersetzung - dies wird auch immer so sein -, aber wir sollten nie vergessen: Es gibt ja zwischen uns Gott sei Dank auch einen Konsens, es gibt zwischen uns auch eine Grundübereinstimmung, und die läßt uns, etwa im Gespräch mit unseren europäischen Partnern, so argumentieren: Wir alle, ohne Unterschied unserer parteipolitischen Couleur, wollen die Teilung Deutschlands und damit die Spaltung Europas überwinden, und wir alle sind zutiefst davon überzeugt, daß es dem Frieden auf unserem Kontinent diente, wenn das gelänge. Das, was wir - menschlich und national - erstreben, wollen wir nur mit den friedlichen Mitteln der Politik erreichen - besonnen, aber entschieden. Und wir erstreben keine deutsche Sonderrolle, sondern sind - und darin stimmen wir doch auch überein - fest gewillt, uns heute als Bundesrepublik Deutschland und später, was wir ersehnen, als geeintes Deutschland in Europa einzufügen. Dies ist der Grundkonsens, den wir haben, und auf den können wir auch in unseren Gesprächen mit unseren europäischen Partnern bauen. In diesem Sinne darf ich alle unsere Kollegen im Europäischen Parlament bitten, auf dem europäischen Feld Hilfe für die Deutschlandpolitik zu leisten, Hilfe also für eine Politik, die Deutschland als Ganzes und die Deutschen insgesamt im Sinn hat. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen in der verbundenen Debatte zu den Tagesordnungspunkten 4 bis 7 nicht vor. Wir haben über Überweisungsvorschläge des Altestenrates zu befinden. Vorgeschlagen ist für die Vorlage unter Punkt 5 - Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften, Drucksache 8/2760 - Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß - federführend - und an den Haushaltsausschuß. Die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 6 - Beratung des Antrags der Abgeordneten Blumenfeld, Dr. van Aerssen und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU: Beteiligungen der Europäischen Gemeinschaft an den Friedensbemühungen in Nahost, Drucksache 8/2817 - soll an den Auswärtigen Ausschuß - federführend - und mitberatend an den Ausschuß für Wirtschaft, an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch; dann ist es so beschlossen. Abzustimmen haben wir noch über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/ 2837: Verbesserung der Lage im Libanon. Hier geht es um Punkt 7 der Tagesordnung. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 8/2837 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren und zur Erleichterung von Investitionsvorhaben im Städtebaurecht - Drucksache 8/2451 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0}) - Drucksache 8/2885 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Möller, Waltemathe ({1}) Vizepräsident Frau Renger b) Zweite Beratung des von den Abgeordneten Dr. Möller, Nordlohne, Niegel, Dr. Dollinger, Dr. Jahn ({2}), Dr. Schneider, Dr. Waffenschmidt, Link, Metz, Sauter ({3}), Dr. Jenninger, Rawe, Dr. Kunz ({4}), Tillmann, Carstens ({5}) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbaugesetzes - Drucksache 8/1970 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({6}) - Drucksache 8/2885 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Möller, Waltemathe ({7}) Wünschen die Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat hat eine verbundene Debatte von 60 Minuten Dauer vereinbart. - Ich stelle Einverständnis fest und eröffne die Debatte. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Möller.

Dr. Franz Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001522, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz, das wir nun verabschieden, ist ein Torso, ein Gesetz, das nicht vollendet worden ist, aber hätte vollendet werden können, wenn wir uns ein wenig mehr Zeit genommen hätten und wenn wichtige Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion mit eingearbeitet worden wären, ({0}) Es waren Vorschläge, die in ihrer Zielsetzung unbestritten waren. Gleichwohl stimmt die CDU/CSU-Fraktion der Vorlage zu, weil mit dieser sogenannten Beschleunigungsnovelle in einigen wenigen Punkten immerhin Verbesserungen und Erleichterungen im Planungsrecht geschaffen werden, auf die die kommunale Praxis, aber auch viele Bürger zu Recht warten und die wir ihnen nicht länger vorenthalten dürfen. Diese Verbesserungen beruhen auch auf vielen Vorschlägen, die die CDU/CSU-Fraktion während der Ausschußberatung unterbreitet hat. Das gilt sowohl für das Verfahrensrecht als auch insbesondere für das sogenannte Bauen im Außenbereich. Wir dürfen aber nicht allzu große Erwartungen mit ' diesem Gesetz verknüpfen, weil erstens der Bundesgesetzgeber nur für das Planungsrecht und das Planungsinstrumentarium zuständig ist - für das Baugenehmigungsverfahren müssen die Länder Erleichterungen schaffen - und weil zweitens wichtige Bereiche ausgeklammert worden sind, die sinnvollerweise hier und heute hätten mitgeregelt werden müssen. Die Verbesserungen aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die mit diesem Gesetz verbunden sind, sind folgende. Erstens. Das Verfahren zur Aufstellung von Bauleitplänen wird vereinfacht und erleichtert. Den bei der Aufstellung von Bauleitplänen Beteiligten wird künftig eine angemessene Frist gesetzt werden können. Zweitens. Durch die Möglichkeit, künftig gleichzeitig neben dem Flächennutzungsplan Bebauungspläne zu entwickeln und in Kraft zu setzen - dem sogenannten Parallelverfahren -, und durch den sogenannten vorzeitigen Bebauungsplan werden Baugebiete schneller für Bauwillige bereitgestellt werden können. Drittens. Auch die Erleichterungen im Bodenverkehr dienen diesem Ziel. Künftig sollen nämlich nur noch Teilungen von Grundstücken genehmigungspflichtig sein. Damit wird eine alte Forderung der CDU/CSU-Fraktion endlich realisiert. Viertens. Sehr gründlich hat der Ausschuß die Möglichkeiten und Verbesserungen zur Heilung von Verfahrens- und Formvorschriften beraten und, wie mir scheint, zu einem guten Ergebnis gebracht. Insbesondere von § 155 b Abs. 2 erwarten wir Erleichterungen für den Bestand von Bauleitplänen. Fünftens. Im Städtebauförderungsgesetz werden die Vorschriften geändert, die sich für die Durchführung eines Sanierungsvorhabens als hinderlich erwiesen haben. Diese und weitere Änderungen des Bundesbaugesetzes und des Städtebauförderungsgesetzes begrüßt die CDU/CSU-Fraktion, weil sie geeignet sind, bürokratische Hemmnisse abzubauen und Erleichterungen für Bürger und Verwaltungen zu bringen. Meine Damen und Herren, wir stimmen der Beschleunigungsnovelle aber auch deshalb zu, weil sie wenigstens einige Verbesserungen für das sogenannte Bauen im Außenbereich bringt. Um diese Verbesserungen und Erleichterungen für den ländlichen Bereich haben wir sehr hart kämpfen müssen. Ohne unsere Initiative und ohne unsere Beharrlichkeit wären diese Verbesserungen nicht möglich geworden. Das Ergebnis entspricht nicht in allen Punkten den berechtigten Wünschen und Vorstellungen vieler Bürger, die in ländlichen Bereichen wohnen bleiben möchten, aber nach der Gesetzeslage keine Baugenehmigung bekommen können. Wenn man bedenkt, daß die Koalition zunächst gegen jegliche Verbesserung für das Bauen im Außenbereich eingetreten war und nichts auf diesem Gebiet tun wollte, halten wir das jetzt erreichte Ergebnis für vertretbar. Daß die Ideologen in der SPD kein Herz für die Bevölkerung auf dem Lande haben, verwundert nicht. Daß aber die FDP-Vertreter im Ausschuß wider besseres Wissen und wider ihre eigene Überzeugung sinnvolle Verbesserungen für das Bauen im Außenbereich nicht mitgetragen haben, zeigt, wie weit sich die Ideologen innerhalb der Koalition auch hier bereits durchgesetzt haben. ({1}) Obwohl die Bundesregierung schon im Herbst 1977 Schwierigkeiten bei der Anwendung der §§ 34 und 35 zugegeben und später selbst Änderungen dieser Paragraphen vorgeschlagen hat, obwohl der niedersächsische Landtag einstimmig, also auch mit der Stimme des früheren Bundesbauministers Ravens, eine Verbesserung für das Bauen im Außenbereich gefordert hatte, obwohl der Wirtschaftsausschuß des Bundestages einstimmig ebenso wie der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Erleichterungen für den ländlichen Bereich gefordert hatte und obwohl der Bundesbauminister solchen weitergehenden Änderungen im Ausschuß zugestimmt hatte, hat sich eine kleine Gruppe innerhalb der SPD durchgesetzt und weitere wirkliche Verbesserungen für die Bürger im ländlichen Bereich verhindert, die dort seit vielen Jahren wohnen und im Wege der sogenannten Baulückenschließung zu einem Wohnhaus kommen möchten. Die Ideologie hat hier die praktische Vernunft besiegt. ({2}) - Trotzdem bringt die Novelle für den ländlichen Bereich greifbare Verbesserungen, Herr Kollege Waltemathe; dafür sind wir dankbar. Erstens. Die bauliche Erweiterung zulässigerweise errichteter Wohngebäude wird künftig zur angemessenen Wohnraumversorgung des Eigentümers und seiner Familienangehörigen genehmigt werden können. Zweitens. Die angemessene Erweiterung zulässigerweise errichteter gewerblicher Betriebe wird ermöglicht, wenn die Erweiterung notwendig ist, um die Fortführung des Betriebes zu sichern. ({3}) Drittens. Die Modernisierung von Wohnungen im ländlichen Bereich wird neu und besser geregelt. Meine Damen und Herren, leider ist eine neue Regelung unterblieben, die die sogenannte Lückenbebauung im ländlichen Bereich für diejenigen Bürger ermöglicht hätte, die dort schon seit längerer Zeit wohnen. Die CDU/CSU-Fraktion wollte gerade und nur für diese Bürger die Möglichkeit schaffen, in ihrer angestammten Heimat wohnen zu bleiben. Für ein solches Heimatprivileg fand sich jedoch leider keine Mehrheit. Durch Änderung und Ergänzung des § 34 ist aber den Gemeinden eine Möglichkeit eingeräumt worden, durch Satzung festzulegen, auch Gemeindeteile weiterzuentwickeln, um dadurch die Möglichkeit der Bebauung zu schaffen. Das gilt insbesondere für Gemeinden mit besonderer Wohnsiedlungsstruktur, insbesondere mit historisch entstandener Streu- und Bandbebauung. Wenn diese Bestimmung von den Gemeinden sachgerecht, weitblickend und bürgerfreundlich angewendet wird, kann es für viele Bürger in diesen Gemeinden zu Erleichterungen kommen. Ich möchte auf den sehr ausführlichen Schriftlichen Bericht des Ausschusses auch zu diesem Punkt verweisen. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion bedauert ferner, daß keine hinreichende Zeit zur Verfügung stand, um auch das Problem des Bauens in sogenannten Gemengelagen zu lösen. Auch hierzu hatte die CDU/CSU-Fraktion konkrete Vorschläge und Formulierungen unterbreitet. Wir wollten hier in dem Bereich der industriellen Ballungszonen Investitionshemmnisse beseitigen. Leider ist auch dazu keine Mehrheit im - Ausschuß gefunden worden. Wir mußten uns deshalb mit dem Resolutionsentwurf bescheiden. Ähnliches gilt für einen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuß eingebrachten Antrag, das Städtebauförderungsgesetz in einem Gang so zu ändern, daß auch für das sogenannte einfache Sanierungsverfahren Neuregelungen in das Gesetz aufgenommen würden. Gerade durch eine solche Neuregelung wären zusätzliche Investitionsimpulse gegeben worden. Wir haben mit unserem Antrag, der innerhalb der ARGEBAU erarbeitet worden war, das Ziel verfolgt, zwischen einfachen Modernisierungen von Wohnungen und der sehr verfahrens- und zeitaufwendigen Sanierung im Städtebau ein einfacheres Verfahren einzuführen, um den Gemeinden ein leichteres und besseres Instrumentarium für kleinere Sanierungen an die Hand zu geben. Auch hier sind wir auf Widerstand gestoßen mit dem Ergebnis, daß wir nur eine Entschließung vorlegen können. Sowohl bei den Problemen des Bauens in Gemengelagen als auch bei dieser vereinfachten Sanierungsmaßnahme müssen wir also mit weiteren Gesetzen rechnen. Der Gesetzesperfektionismus ist schon wieder in Gang gesetzt worden. Das hat die Koalition zu verantworten. ({4}) Meine Damen und Herren, am Schluß dieser Beratung möchte ich appellieren erstens an die Landesplanung, dem Willen des Bundesgesetzgebers nach Schaffung erweiterter Baumöglichkeiten auf dem Lande Rechnung zu tragen, zweitens an die Fachplanung des Bundes und der Länder, den Willen des Bundesgesetzgebers nicht durch erhöhte Anforderungen an Bauvorhaben zu unterlaufen; das gilt besonders für den Bereich der Abwasserbeseitigung. Drittens appelliere ich an die Genehmigungsbehörden in den Ländern, den Willen des Bundesgesetzgebers zu erkennen und die Freiheitsräume der Bürger und der Gemeinden im Baurecht zu achten, viertens an die Bundesregierung, künftig auf kleinere Teilnovellierungen des Städtebaurechts zu verzichten. Die Union wird die in Mode gekommenen immer kleineren Novellierungsschritte auf dem Gebiete des Städtebaurechts nicht mehr mittragen. Eine künftige Novellierung muß alle änderungs- und ergänzungsbedürftigen Bereiche des Städtebaurechts erfassen. ({5}) Das sind wir nicht nur unseren Bürgern, sondern das sind wir auch den Verwaltungen in den Gemeinden schuldig. Wenn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gleichwohl diesem Gesetz jetzt zustimmt, dann tut sie das, um erleichterte Baumöglichkeiten auf dem Lande zu schaffen und vor allem, um den Rechtsnotstand bei den Gemeinden auf dem Gebiet der Bestands12578 kraft von Flächennutzungsplänen, Bebauungsplänen und anderen Satzungen des Städtebaurechts zu beenden. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion bedankt sich am Ende dieser Beratung auch beim Bundesbauministerium, insbesondere bei den Ländern und bei den kommunalen Spitzenverbänden, aber nicht zuletzt beim Ausschußsekretariat für die gute Zusammenarbeit bei der Beratung dieser Gesetze. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waltemathe.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es konnte nicht ausbleiben, daß nun doch noch der Versuch unternommen wurde, wenn man schon einvernehmlich dem Bundestag die Annahme eines Entwurfs empfiehlt und auch entschlossen ist, zuzustimmen, so zu tun, als wenn hier sogar ganz große ideologische Auseinandersetzungen im Gange seien. Der Kollege Dr. Möller hat zunächst gesagt, das Gesetz sei ein Torso. Nun bin ich nicht der Auffassung, daß es die Aufgabe des Bundestages ist, wenn er ein Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet, das ja für die Bürger und für diejenigen gemacht wird, die mit dem Gesetz umzugehen haben, zur Verwirrung beizutragen, sondern darzustellen, was sich im Bauplanungsrecht der Gemeinden mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes insgesamt ändern wird. Daher will ich folgende Feststellungen treffen. Erstens. Eine geordnete städtebauliche Entwicklung von Städten und Gemeinden setzt - jedenfalls im Regelfall - Planung voraus. Es gibt den Primat für Bauleitpläne. Andere Bestimmungen, die §§ 34, 35, sind Ausnahmen von dieser Regel. Zweitens. Planung ist Abwägung von unterschiedlichen Interessen, unterschiedlichen Zielen und unterschiedlichen Belangen. Planung greift ein in die Natur, in die Umwelt, in menschliche Beziehungen, in soziale Verhältnisse, in Entfaltungs-, in Erwerbsmöglichkeiten, in Erholungs- und Freizeitentwicklungen. Damit ist Planung aber nicht etwa eine Schikane, sondern eine soziale Zukunftsvorsorge. ({0}) Drittens. Moderne Planung setzt Diskussion mit den Bürgern voraus. Die Planung ist zu wichtig, als daß man sie einigen hochgelehrten Experten überlassen dürfte. Bürgerbeteiligung ist unabdingbar, ferner die Wahrnehmung eines besonderen Rechts und der besonderen Verantwortung der kommunalen Vertretungen als Ausdruck ihrer Planungshoheit. Diese Planungshoheit der Gemeinden muß erhalten und gestärkt werden. Wenn man dies anerkennt, kann Planung von der Sache her kein besonders schneller Vorgang sein, denn Diskussion und Abwägung brauchen Zeit. Schließlich geht es ja in den meisten Fällen darum, die bauliche Entwicklung eines Gebietes für Jahrzehnte vorweg zu bestimmen. Deshalb kann Beschleunigung nur heißen, unsinnige und unnötige Zeitverluste zu verhindern, künftig Fristen zu setzen und manche Stufen auch zeitgleich zusammenzuführen. Beschleunigung darf aber nicht heißen: keine Sorgfalt anwenden, die Bürger nicht beteiligen, keine ordentliche Abwägung vornehmen und auf Planung ganz verzichten. Demnach leisten wir unseren Beitrag als Bundesgesetzgeber dazu, eine Entbürokratisierung dort zu versuchen, wo die Qualität der städtebaulichen Ordnung keinen Schaden nimmt. Wir sagen auch den Behörden und den Gerichten: Nehmt unsere Vorschriften ernst, aber benutzt sie nicht, um gewollte und auf ordentliche Weise zustande gekommene Bauvorstellungen zu verzögern oder rückgängig zu machen. Wir sehen z. B. die Probleme, die sich dann ergeben, wenn Formfehler entstanden sind, die aber auf das Ergebnis keinen Einfluß gehabt haben. Was soll da künftig geschehen? Sollen die Gerichte reihenweise Bebauungspläne aufheben, oder soll der Bürger Vertrauen in das haben können, was nach langen Diskussionen und Beschlüssen seines Gemeinderates dann endlich als planerische Vorstellung zustande gekommen ist? Auch der Bundesgesetzgeber hat abzuwägen. Meint er es mit einer transparenten, dem Bürger zugänglichen und einsichtigen planerischen Gestaltungsmöglichkeit in den Kommunen ernst, oder soll etwa grundsätzlich dort gebaut werden dürfen, wo jemand zufällig sein Grundstück hat oder weil er zufällig das Geld hat, um ein Grundstück zu bebauen? ({1}) Diese Problematik führt zu den Ausnahmen von der Regel. Es handelt sich nämlich um Ausnahmen, wenn im sogenannten Innenbereich einzelne Bauwünsche erfüllt werden, die sich in die Umgebung einfügen, wenn also Baulücken geschlossen werden sollen, wenn das, was vorhanden ist, im zusammenhängenden Ortsteil ergänzt werden soll. Wir halten es - das ist ein Kompromiß - für noch vertretbar, in Orten oder Ortsteilen mit besonders gewachsener Siedlungsstruktur auch größere Baulücken - es ist manchmal schon etwas sehr gewagt, da vor einer Baulücke zu sprechen - dann zu schließen, wenn der Gemeinderat, also wieder die Kommunalvertretung, dies durch Satzung beschließt und - einschließlich Bürgerbeteiligung - ein gewisses Maß an städtebaulicher Planung vorhanden ist. Also, wir sind für diese Erweiterung der Satzung. Denn wir sehen ein, ({2}) daß nicht überall und auch nicht in jedem Fall erst ein Bebauungsplan abgewartet werden muß. Aber einer Zersiedlung weiter Bereiche der Bundesrepublik darf die Tür nicht aufgestoßen werden. ({3}) Deshalb also eine Ausnahme für besondere Gemeindestrukturen in besonderen Fällen, deshalb also auch - damit das verstanden wird, erläutere ich das ja - das Vorhandensein eines Flächennutzungsplanes, zumindest eines Entwurfs, der die städtebauliche Entwicklung erkennen läßt. Hinsichtlich des § 35 muß ich um der geschichtlichen Wahrheit willen zumindest eines richtigstellen. ({4}) - Ja, da können Sie auch sehr gespannt sein. - Das Bundesbaugesetz und sein § 35 existieren seit 1960. Es geht mir hier nicht darum, dem damaligen Bundestag und dem damaligen Bundeswohnungsbauminister vorzuwerfen, sie hätten aus ideologischen Gründen kein Herz für Leute auf dem Lande gezeigt. ({5}) Damals ist § 35 geschaffen worden, der beinhaltet: Im Außenbereich besteht ein Bauverbot, es sei denn, es handelt sich um ein Vorhaben, das einem landwirtschaftlichen Betrieb dient; das war der § 35. ({6}) Wir sind es gewesen, die zum Jahre 1977 - angefangen vom damaligen Wohnungsbauminister Ravens, dem jetzigen Oppositionsführer in Niedersachsen ({7}) Ergänzungen vorgenommen haben. Herr Minister Ravens hat gar nicht so viel vorgeschlagen, wie das Parlament damals dann auch einvernehmlich durchgesetzt hat. Es kann gar keinen Zweifel daran geben, daß wir geglaubt haben, wir hätten manche Fälle, die in der Praxis noch immer nicht gelöst worden sind, auf dem Gesetzgebungswege gelöst. Aber ich darf wenigstens daran erinnern, daß wir damals folgendes eingeführt haben: Das Altenteilerhaus darf auch dann gebaut werden, wenn die Landwirtschaft aufgegeben worden ist; ({8}) die Modernisierungsbauerlaubnis kann gegeben werden; gewisse Erweiterungen können vorgenommen werden; Wiederaufbauten zerstörter Gebäude im Außenbereich können vorgenommen werden. Dies war ein erheblicher Katalog. Wir hatten geglaubt, daß wir dies gesetzlich so klar gefaßt hätten, daß sämtliche Verwaltungen, auch die in Niedersachsen, damit etwas hätten anfangen können. ({9}) Nun, wir haben uns belehren lassen müssen, daß unser Gesetz erstens vielleicht nicht klar genug war und daß zweitens einige Fälle damit noch immer nicht zu lösen waren. Auch dem abzuhelfen, haben wir uns bereit gefunden. Aber um auch hier keine Irrtümer entstehen zu lassen: Es geht uns darum, daß das, was im Außenbereich schon zulässigerweise gebaut ist, auch künftig vernünftig genutzt werden kann. ({10}) Das heißt: Die Familie, die dort wohnt, soll ihr Wohnhaus so erweitern können, daß sie für die Personen, die zur Familie gehören, Platz hat. ({11}) Das gleiche gilt für die Fortführung eines Gewerbebetriebes.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn?

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern, Herrn Dr. Jahn immer.

Dr. Friedrich Adolf Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Waltemathe, nach dieser Einlassung frage ich Sie: Gestehen Sie zu, daß zu §§ 34, 35 von Ihrer Seite keine Änderung vorgenommen worden wäre, wenn die Fraktion der CDU/CSU hierzu nicht die Initiative ergriffen hätte?

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Jahn, das kann ich Ihnen nicht zugestehen. Ich gestehe Ihnen aber gern zu, daß Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt haben und daß der Bundesrat in der Gegenäußerung zur Beschleunigungsnovelle Anregungen gegeben hat. Wir haben immer - angefangen bei der Bereisung in Niedersachsen - betont: Wir wollen wissen: Liegt das am Gesetz, oder liegt das an einer unzureichenden Verwaltungspraxis in einigen Ländern? Wir sind nach wie vor nicht überzeugt, daß nur eine gesetzliche Änderung hier weiterhilft. Aber wir wollen natürlich, da auch wir für die Leute, die da draußen wohnen, ein Herz haben, das, was uns möglich ist, jetzt verankern. ({0}) Ich hielt es für meine Aufgabe, insgesamt darzustellen, wie der § 35 jetzt wohl anzusehen ist. ({1}) Ich muß zum Schluß kommen. Das Bundesbaugegesetz und das Städtebauförderungsgesetz haben sich, was das Planungsrecht anlangt, im großen und ganzen bewährt. Das sollten wir doch sagen. Insofern handelt es sich bei dem, was wir jetzt beschließen, nicht um einen Torso, sondern um die Ergänzung eines sehr vernünftigen städtebaulichen Instrumentariums. Es sind gute Instrumente vorhanden, ({2}) die städtebauliche Gestaltung so zu steuern, daß abgewogene Entscheidungen vor Ort getroffen werden können. Die richtige Anwendung der Instrumente ist Aufgabe der Gemeinden, ihrer Bürger und ihrer Vertretungen. Fazit: Wir behalten die tragenden Grundsätze für eine geordnete, demokratisch bestimmte städtebauliche Entwicklung im Städtebaurecht bei, stärken die kommunale Planungshoheit und entrümpeln Bundes12580 Baugesetz und Städtebauförderungsgesetz von zeitverzögernden Vorschriften. ({3}) Wir bieten für Gemeinden mit besonderer Siedlungsstruktur und für Einzelfälle im Baubestand im Außenbereich handhabbare Möglichkeiten, den Bürgern zu helfen. Der Bodenverkehr kann nun zügiger abgewickelt werden. Die Bürger können sich künftig besser darauf verlassen, daß erzielte Planungsergebnisse Bestand haben und nicht wegen Formalien, die mit dem Ergebnis nichts zu tun haben, außer Kraft gesetzt werden. Wir wissen, daß mit dieser Novelle nicht alle Probleme des Planungs- und Städtebaurechts gelöst sind. ({4}) Wir sind aber bereit, zu den in der Entschließung angesprochenen Fragen der Ergänzung des Instrumentariums für die Verbesserung des Wohnumfelds sowie der Mischungsprobleme von Wohnungen und Gewerbe konstruktive Mitarbeit zu leisten, sobald uns die erbetenen Vorschläge der Bundesregierung, die durchdacht und auch finanzierbar sein müssen, vorliegen. ({5}) Zum Schluß möchte ich mich dem Dank anschließen, den mein Mitberichterstatter, der Kollege Dr. Möller, schon ausgesprochen hat: an die Mitarbeiter des Bundesbauministeriums, an die Vertreter der Länder und der kommunalen Spitzenverbände und selbstverständlich an unsere Mitarbeiter im Ausschußsekretariat. ({6})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kolb.

Elmar Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Hoffnung, mit dieser Arbeit der Beschleunigungsnovelle etwas Wesentliches geleistet zu haben, mutet genauso an, wie wenn man an der Spitze eines Eisbergs ein paar Brocken wegharkt. Viel kleiner ist der Eisberg dei Bürokratie, Gesetze und Verordnungen nicht geworden, so daß weiterhin gelten wird: Ein wesentlicher Punkt der Kostenexplosion beim Bau ist in den zu beachtenden Gesetzen und Verordnungen zu suchen; so lautete die Feststellung jetzt in Göteborg beim Kongreß „Bauen in den 80er Jahren". Ich erinnere nur an jene ominöse Baustatistik, wo es heißt: Kosten 2 Millionen. Was sie woanders an Kosten und Ärger verursacht, ist uninteressant. Dieser Bastard läuft weiter wie viele seiner Vorgänger. Forscht man nach den Ursachen solchen politischen Fehlverhaltens, so findet man den Wunsch, alles abzufragen und danach zu handeln. Merkt man dabei schon gar nicht mehr, daß man nicht mehr politisch führt, sondern daß, um es sarkastisch zu sagen, der Schwanz mit dem Hund wedelt? ({0}) Ebenso nehmen wir nicht mehr zur Kenntnis, in welche Oberschiedsrichterrolle wir hineinschlüpfen. Bei manchen ist es gar keine Absicht. Dafür ist bei den anderen um so mehr Methode dabei. Daß zwei Voten von den Landtagen vorlagen - eines davon pikanterweise von Ihrem Vorgänger, Herr Minister, mitgetragen -, zeigt, daß das Kochbuch unserer Gesetze und Verordnungen draußen nicht immer brauchbar ist. Es ist an der Zeit, einmal in uns zu gehen, bevor der Bürger uns in berechtigtem Überdruß dieses Kochbuch um die Ohren haut. Gerade beim § 137 haben wir diese Schiedsrichterrolle wieder bestens praktiziert. Die Verwaltungsreform mit den gestärkten kommunalen Einrichtungen bleibt unberücksichtigt. Weshalb eigentlich auch? Diese Zwerge sollen sich gefälligst mit den gnädigst überlassenen Brosamen zufriedengeben. Hauptsache ist, man ist einheitlich. Ob die Sache, wie in Baden-Württemberg, vorher funktioniert hat, interessiert nicht. Das uniformierte Denken ist wichtiger. Gott sei Dank haben wir in der Bundesrepublik Freizügigkeit im Reiseverkehr; manch einer müßte sonst um sein Visum bangen. Herr Minister, wir vernehmen mit Freude von Ihnen außerhalb der Mauern, ({1}) welche Töne, ja, welch wahre Schalmeien anklingen, wenn Sie sagen, welche Dinge verbessert werden müssen. Aber innerhalb der Mauern herrscht Funkstille. Leider wird, wenn sich heute Unzufriedenheit einstellt, erst geforscht, welche Gesetze und Verordnungen noch wasserdichter, welche Bürokratien noch verstärkt werden sollen. Nur die eigentliche Ursache, daß alles bei zuviel Bürokratie, zu vielen Gesetzen und Verordnungen liegt, will man nicht zur Kenntnis nehmen. Man ist überzeugt, daß der Plan eigentlich gut wäre, nur der Mensch, der ihn ausführe, funktioniere nicht, bloß, weil er zu wenig geführt sei. Lassen Sie mich als Techniker an den Wärmetod in der theoretischen Physik erinnern. Mit dem Wärmetod bezeichnet man einen hypothetischen Endzustand des Weltalls, der sich aus dem zweiten Prinzip der Thermodynamik ableiten läßt. Dieses Naturgesetz sagt aus, daß bei einer Energieumwandlung ({2}) - es ist möglich, daß Sie es nicht verstehen, aber das macht auch nichts - z. B. von mechanischer Energie in elektrische Energie immer auch Wärme entsteht. Wärme läßt sich nicht vollständig in andere Energie überführen, so daß bei jeder Energieumwandlung Wärme entsteht bzw. übrigbleibt. Daher kann man sich vorstellen, daß irgendwann nur noch eine einzige Energieform vorhanden ist, nämlich die Wärme. Mit unseren Gesetzen und Verordnungen sind wir von diesem Phänomen nicht mehr sehr weit entfernt. Wir müssen nur so weitermachen, dann haben wir nur noch Gesetze und Verordnungen. ({3}) - Das ist ein Lehrsatz der Physik, lieber Herr Conradi, das wissen Sie genau. Aber wir sollten uns daran halten, daß wir mit unseren Gesetzen und Verordnungen nicht dahin kommen. ({4}) - Ich habe gesagt, daß Sie Schwierigkeiten haben, das zu verstehen, aber ich kann das nicht ändern. Interessant war auch die Haltung der Verbände in der Frage der §§ 34 und 35 Bundesbaugesetz. Ich komme nicht umhin, dem Deutschen Städtetag ein sehr arrogantes Verhalten zu bescheinigen. ({5}) Wenn diese Haltung aus der Position des Einsichtigen käme, der wohl in den 60er Jahren und zu Beginn der 70er Jahre kräftig an den Sünden teilgehabt hat, ({6}) jetzt aber als reuiger Sünder ein leuchtendes Beispiel gäbe, würde ich vor ihm hochachtend den Hut ziehen. Aber wie selbst jüngste Beispiele zeigen, denkt er gar nicht daran, seine Haltung zu ändern. Planerischer Unverstand und Egoismus feiern fröhliche Urständ, wie dies z. B. in Bonn-Tannenbusch oder auch in Stuttgart-Bottnang der Fall ist. ({7}) - Sie sehen, die Neue Heimat darf alles, aber, lieber Herr Conradi, Stuttgart-Bottnang liegt in Ihrem Wahlkreis, das haben Sie mit zu vertreten, nicht wir. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem, was heute in den Städten geschieht, werden die Gettos von morgen programmiert. Die Lastesel aber auch! Die Lastesel werden das flache Land, wie es in jenem Bericht der Bundesregierung über die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland heißt, der wohl diskutiert, aber leider nicht veröffentlicht wurde. Dort heißt es interessanterweise am Schluß: Bei auf diese Weise verstärkter infrastruktureller Unterversorgung könnte sich die Abwanderung aus den dünner besiedelten Gebieten schon vor 1990/2000 beschleunigen. Dies wäre für die dann noch verbleibende Bevölkerung mit weiteren Nachteilen verbunden. Die regionalen Strukturprobleme würden anwachsen. Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, vielleicht noch zu verhindern, war der Grund, weshalb sich die Fraktion der CDU/CSU so engagiert für die §§ 34, 35 eingesetzt hat. Niemand von uns denkt daran, dem unkontrollierten Bauen und der Zersiedlung der Landschaft das Wort zu reden. ({8}) Im Gegensatz zur Bundesregierung sehen wir aber über den Tag hinaus, weshalb wir alles unterstützen, wenn bodenständige Mitbürger bodenständig bleiben wollen. ({9}) - Was wir aber nicht wollen, lieber Kollege Waltemathe, ist jener Bebauungsplan, der gerade den anderen Gruppen Tür und Tor öffnet, dort ihr Zweithaus bauen zu können. Hier ist die Planeritis im Außenbereich, des Flächennutzungsplanes und vor allem des Bebauungsplanes, zu Ende. Hier sind Logik und Fingerspitzengefühl mehr gefragt. Lassen Sie mich noch einmal deutlich die Frage stellen: Welche Repräsentation hat eigentlich noch die Gemeindevertretung? Ist sie eigentlich vom Bürger gewählt oder nicht? Bei jeder Gelegenheit wird die Entscheidung von Ihnen in Frage gestellt. Wie ist das denn im Außenbereich, wenn hier der Bürger mitentscheiden soll? Ich kann Ihnen nur sagen, daß dies nach dem Motto geht: Was dir gehört, geht mich etwas an, von meinem aber laß gefälligst die Finger. So äußert sich auch der Bund Naturschutz in Bayern e. V., wo sich Herr Heinzirl sehr dezidiert - meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben dieses Schreiben gekriegt - sagt: ... indem die Erweiterung privater Wohngebäude bereits dann gestattet wird, wenn dies „der angemessenen Wohnraumversorgung des Eigentümers und seiner zum Haushalt gehörenden Familienangehörigen" dient und indem die Erweiterung gewerblicher Betriebe gestattet wird, wenn dies notwendig ist, um die Fortführung des Betriebs zu sichern. Eine Frage: Sind wir denn im Außenbereich schon so weit, daß andere bestimmen können, wer dort noch leben darf oder nicht oder ob dort die ganze Substanz zugrunde gehen soll? Sie, Herr Kollege Waltemathe, haben gerade gesagt: Wir wollen, daß dies draußen bleibt. Dann müssen wir uns auch hier gemeinsam gegen solche Forderungen wehren. Ich stimme nicht damit überein, daß diejenigen, die in den Ballungszentren wohnen, draußen bestimmen können sollen, was dort zu geschehen hat, nur weil das zu ihren Gunsten ist. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einmal den Dank an jene Mitbürger aussprechen, die - von Ostfriesland bis zum Bayerischen Wald - die Landschaft pflegen, was wir wohlgefälligst zur Kenntnis und auch in Anspruch nehmen. Ihre Schwierigkeiten aber wollen wir tabuisieren. Meine Fraktion ist stolz darauf, daß es durch unseren Gesetzesantrag gelungen ist, wenigstens etwas aufzuweichen, auch wenn wir unsere Vorstellungen nicht ganz durchsetzen konnten. Lassen Sie mich hier vor allem für das Protokoll vermerken, daß § 35 Abs. 5 Nr. 5 für uns wesent12582 lich war. Wir wollen nicht, daß sich draußen aus einem Kleinbetrieb ein Mammutbetrieb entwickelt, der dann 2 000 oder mehr Beschäftigte hat. In dieser Größenordnung hätte der dann garantiert Narrenfreiheit und könnte sich über jede Planung hinwegsetzen. Wir wollen vielmehr den gesicherten Fortbestand von kleinen und kleinsten Betrieben im sogenannten Augenbereich. Zwei Dinge bleiben hier für uns maßgebend. Erstens. Diese Betriebe dürfen nicht von der technischen Fortentwicklung ausgeschlossen werden, deren Berücksichtigung zu ihrer Fortführung notwendig ist. Wenn z. B. neue Maschinen, die mehr Raum benötigen - möglicherweise sogar völlige Neuentwicklungen -, in der entsprechenden Sparte verwendet werden sollen und dafür eine bauliche Erweiterung notwendig ist, ist sie zu genehmigen. Ebenso ist dem technischen Wandel und dem Umschwung in den einzelnen Sparten Rechnung zu tragen. Ich sage dies nur deshalb, falls demnächst ein Verwaltungsgericht einmal wieder nachlesen muß, was gemeint war; so langsam wird man in diesen Dingen vorsichtig. Zweitens. Viele kleine und kleinste Betriebe bilden die wirtschaftliche Voraussetzung für viele BeWohner des flachen Landes, noch dort zu wohnen. Entfielen diese Voraussetzungen, wären die Folgen - nach dem Bericht der Bundesregierung - unabänderlich. Diese Novelle, meine sehr verehrten Damen und Herren, beinhaltet mehr als das jetzige Bundesbaugesetz, aber weniger, als notwendig ist. Leider wird uns erst die Summation weiterer Fehler und Fehlentwicklungen zu neuen Einsichten - manchmal sogar quer durch die Parteien - verhelfen. So, wie wir zur Zeit handeln, werden wir unseren Arbeitsplatz hier im Plenum und die Arbeitsplätze der Ministerialbürokratie nicht gefährden, da wir durch neue Gesetze und Verordnungen stets für neue Beschäftigung sorgen. ({10})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bedaure es eigentlich schon, daß ich Wert darauf gelegt habe, als letzter Redner sprechen zu dürfen, weil ich auf die Beiträge von Ihnen, Herr Dr. Möller, und von Ihnen, Herr Kolb, eingehen wollte. ({0}) - Ich werde darauf verzichten, Herr Kolb, weil ich mich nicht als Generalist betätigen kann, der hier die Bürokratiedebatte oder die Debatte über den Zusammenhang zwischen Landflucht und Energieproblemen fortführt. Wir sind in der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs. Daran will ich mich halten. Herr Dr. Möller, wenn Sie auch einige unfreundliche Worte an mich gerichtet haben, so wird mich das nicht davon abhalten, umgekehrt einige freundliche Worte, wirklich freundliche Worte, zur Opposition zu sagen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sind befriedigt darüber, daß es uns gelungen ist, gemäß unserem Versprechen in der ersten Lesung diesen Gesetzentwurf so zügig zu beraten, daß wir heute, knapp fünf Monate nach der Einbringung, ihn in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschieden können. ({2}) Dies hebe ich für meine Fraktion deshalb besonders hervor, weil es zugleich - entgegen der Ankündigung in der ersten Lesung - gelungen ist, den Oppositionsentwurf auf Drucksache 8/1970 mitzuerledigen. Dies wiederum war in der Tat nur deshalb möglich, weil alle drei Fraktionen des Hauses durch ihre Bereitschaft zur Kooperation und durch ihren Willen zum Kompromiß - im guten Wortsinne - das ihre dazu beigetragen haben. ({3}) Dies verdient besonders hervorgehoben zu werden angesichts des doch immer wieder erhobenen Vorwurfs von der uneingeschränkten Polarisierung im Deutschen Bundestag. Das Ihnen vorliegende Beratungsergebnis ist nach meiner Wertung ein Beweisstück zur Widerlegung der These von der totalen Konfrontation. Dies wollte ich hier einmal gesagt haben. ({4}) Die Beratungen im Ausschuß haben gezeigt, daß die Novellen der letzten Legislaturperiode zum Bundesbaugesetz und zum Städtebauförderungsgesetz im Kern gut und richtig waren. Das schließt nicht aus, daß es im Verfahrensbereich unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung nicht Verbesserungsmöglichkeiten gegeben hätte. Das schließt auch nicht aus, daß sich unter dem Gesichtspunkt der Erleichterung von Investitionsvorhaben einige Regelungen, insbesondere in der Interpretation der Rechtsprechung, als zu stringent herausgestellt haben. Lassen Sie mich an dieser Stelle folgendes anmerken. Auch jetzt noch sind zwei Problembereiche offen geblieben, für die nach einer Lösung gesucht werden muß. Das bedarf allerdings sehr sorgfältiger Vorklärungen. Aber darauf komme ich noch gesondert zu sprechen. Aus der Fülle der verbesserten Einzelregelungen im Verfahrensbereich möchte ich zwei hervorheben. Die strenge planungsrechtliche Vorschrift, nach der ein Bebauungsplan in aller Regel nur aus einem rechtskräftigen Flächennutzungsplan heraus entwickelt werden darf, hat in der Praxis im Zusammenhang mit den in vielen Ländern durchgeführten Gebietsreformen häufig zu Unzuträglichkeiten deshalb geführt, weil Flächennutzungspläne nicht vorhanden oder obsolet geworden sind. Die Erarbeitung eines Flächennutzungsplanes bis hin zur Rechtskraft ist aber ein ungewöhnlich zeitaufwendiger Vorgang. Jetzt ist die Möglichkeit eröffnet worden, die Verfahrensaufstellung von Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen parallel zu fahren. Es ist die Möglichkeit geschaffen worden, in dringlichen Fällen auch ohne Flächennutzungsplan einen Bebauungsplan aufzustellen. Damit ist insbesondere in den neu geordneten Gemeinden gewährleistet, daß das Fehlen eines Flächennutzungsplanes nicht mit einem totalen Baustopp gleichbedeutend ist. Der zweite Punkt, den ich aus diesem Bereich hervorheben möchte, ist folgender. Die Vielzahl materieller und formeller Bestimmungen, die bei der Aufstellung von Bauleitplänen zu beachten sind, hat in der retrospektiven Betrachtungsweise der Gerichte häufig - zuweilen nach vielen Jahren - dazu geführt, daß immer wieder Bauleitpläne insgesamt für rechtsunwirksam erklärt worden sind, selbst wenn die einzelne nicht oder nicht korrekt beachtete Bestimmung am Ende das richtige und politisch gewollte Planungsergebnis überhaupt nicht beeinflußt hatte. Mit dem neuen § 155 b soll nun klargestellt werden, daß einerseits essentielle Vorschriften bei der Bauleitplanung nach wie vor strikt beachtet werden müssen, andererseits aber diverse Verstöße gegen Regeln der Aufstellung von Bauleitplänen dann unschädlich sind, wenn die Mängel nicht offensichtlich sind und auch das Abwägungsergebnis nicht beeinflußt haben. Hierdurch wird nach unserer Wertung ein beachtliches Stück Rechtssicherheit ebenso verwirklicht, wie Bebauungsverzögerungen infolge unwesentlicher formeller Verfahrensverletzungen vermieden werden. Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu den hier schon mehrfach genannten §§ 34 und 35 des Bundesbaugesetzes machen. Denn bei den Rechtsgrundlagen für das Bauen im sogenannten nichtbeplanten Innenbereich und im Außenbereich war und ist die Kritik in der Öffentlichkeit am lautesten. Die Kritik an den genannten Bestimmungen war und ist aber nicht durchgängig. Sie ist auch nicht einheitlich. Offenkundig sind Maß und Umfang der Kritik wie der Wunsch nach Gesetzesnovellierungen überhaupt davon abhängig, daß die Interessenlage in Ballungsgebieten und Ballungsrandgebieten anders liegt als im ländlichen Raum, ferner daß historisch gewachsene Siedlungsstrukturen höchst unterschiedliche Aufgabenstellungen für die planenden Gemeinden bewirken und nicht zuletzt Verwaltungspraxis und Rechtsprechung durch extensive oder restriktive Handhabung der geltenden Bestimmungen höchst unterschiedliche Ergebnisse bringen. Es ist deshalb deutlich, wie behutsam man bei einer solchen Ausgangslage an eine Änderung dieser Bestimmungen herangehen muß, um nicht in bester Absicht die tragenden Ziele des Bundesbaugesetzes zu verwässern oder gar zu konterkarieren. Die FDP-Fraktion ist der Auffassung, daß der gefundene Kompromiß die notwendigen Verbesserungen bringt, ohne die übergeordneten Ziele zu verletzen. So wird in § 34 - das ist schon ausgeführt worden - die Möglichkeit eröffnet, durch bekundeten Planungswillen Gebiete zu im Zusammenhang bebauten Ortsteilen zu erklären, die es nach den geltenden Kriterien eigentlich noch nicht sind. In diesem Zusammenhang hat die Frage der Anbindung einer solchen Satzung an den Flächennutzungsplan in den Ausschußberatungen eine hervorragende Rolle gespielt. Gänzlich ohne Anbindung an den Flächennutzungsplan ließ sich dieses Vorhaben nicht verwirklichen, um wenigstens in etwa die Träger öffentlicher Belange an diesem Bauplanungsprozeß zu beteiligen. Andererseits durfte man hier keine stringente Anbindung vornehmen, weil das bedeutet hätte, Steine statt Brot zu geben. Durch die weitgehende Anwendungsmöglichkeit des Parallelverfahrens und des vorzeitigen Bebauungsplanverfahrens ist hier der vernünftige Kompromiß gefunden;worden. Im Außenbereich haben wir uns auf Regelungen für einen sinnvoll erweiterten Bestandsschutz konzentriert. Danach ist nun kein Wohnungseigentümer und kein Gewerbetreibender, der im Außenbereich ansässig ist, mehr daran gehindert, die Baumaßnahmen durchzuführen, die im Zuge angemessener Wohnungsversorgung, gebotener Modernisierung oder zur rentablen Fortführung des Betriebes notwendig sind. Lassen Sie mich abschließend zu den beiden Problemkreisen einige Bemerkungen machen, die nach unserer Einschätzung offengeblieben sind oder möglicherweise offengeblieben sind. Die Lösung dieser beiden Probleme liegt uns am Herzen, aber wir konnten das nicht ohne sorgfältige Prüfungen sozusagen im Schnellschußverfahren in die Gesetzgebung einbringen. Das eine Problem ist: Im Außenbereich, besonders im ländlichen Raum, wird es möglicherweise weiterhin Fälle sinnvoller Lückenbebauung geben, die mit den erweiterten Satzungsmöglichkeiten aus § 34 nicht lösbar sind. Das ist möglich, aber es ist nicht sicher. Bei dem dann fehlenden Baurecht bedeutet das eine erhebliche Härte für den betroffenen Bauwilligen. Einerseits haben wir aus systematischen Gründen Bedenken dagegen, solche möglichen Problemfälle über ein subjektives Baurecht zu lösen. Andererseits aber ist eine generalisierende Öffnung zur Genehmigung von Einzelvorhaben im Außenbereich geeignet, Dämme zu öffnen. Wir wollen zunächst einmal zuwarten, inwieweit die Gemeinden mit Hilfe der erweiterten Satzung diese Problemfälle in den Griff bekommen. Wir werden das sehr sorgfältig beobachten und, falls erforderlich, die Diskussion schnell fortsetzen, die unter dem Stichwort „Heimatklausel" geführt worden ist. Zu dem zweiten offengebliebenen Fall folgende kurze Anmerkungen: Für den Außenbereich haben wir das Problem betriebswirtschaftlich notwendiger Folgegenehmigungen für ansässige Gewerbebetriebe gelöst. Für den nicht beplanten Innenbereich, in I den sogenannten Gemengelagen insbesondere des Ruhrgebiets, war das bei der begrenzten Zielsetzung der Beschleunigungsnovelle nicht möglich. Hier möchte ich unseren klaren und unmißverständlichen Willen bekunden, dieses Problem, das insbesondere im Ruhrgebiet unter den Nägeln brennt, so schnell wie möglich zu lösen. ({5}) Dieses politische Versprechen hat, glaube ich, Relevanz insofern, als alle Fraktionen dieses Hauses dieselbe Auffassung haben, wie das in dem Entschließungsantrag zum Ausdruck kommt. ({6}) Das Bundesbaugesetz ist eine verhältnismäßig trockene Materie, die scheinbar oder tatsächlich nur die Spezialisten interessiert. Aber dieses Gesetz hat so unmittelbare und so essentielle Auswirkungen für jeden einzelnen Bürger, insbesondere jeden bauwilligen Bürger, daß ich schließen möchte mit der Hoffnung, daß wir dem Bürger mit dieser Novelle gedient haben; denn das war unsere Absicht. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Bundesminister Haack.

Dr. Dieter Haack (Minister:in)

Politiker ID: 11000757

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes, der sogenannten Beschleunigungsnovelle, habe ich darauf hingewiesen, daß die Probleme der Vereinfachung und Beschleunigung im Baubereich in einem engen Zusammenhang mit Fragen des Verhältnisses zwischen dem Bürger und seinem Staat, mit Fragen der Bürgernähe und der Bürgerfreundlichkeit stehen. Der Gesetzentwurf wurde bereits in der Vorbereitungsphase von einer breiten Zustimmung getragen. Das hat sich im Deutschen Bundestag fortgesetzt. Alle sind sich darin einig, daß die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen des Bundesbaugesetzes und des Städtebauförderungsgesetzes notwendig sind und neben den von den Ländern und Gemeinden zu ergreifenden Maßnahmen insgesamt zu einer Entbürokratisierung und Vereinfachung von Verfahren im Städtebaurecht beitragen werden. Das gilt insbesondere für die parallele Aufstellung von Bebauungsplan und Flächennutzungsplan, die Schaffung baureifer Grundstücke, die Heilung von Formmängeln, die Verkürzung von Genehmigungsfristen, die erleichterte Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes und die beschleunigte Durchführung von Sanierungsmaßnahmen nach dem Städtebauförderungsgesetz. Die Übereinstimmung aller Beteiligten hat wesentlich dazu beigetragen, daßd er Entwurf im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zügig und - das möchte ich auch noch feststellen - mit Engagement und einem hohen Maß an Sachlichkeit beraten worden ist. Dafür danke ich für die Bundesregierung allen Fraktionen des Hauses, besonders aber den Mitgliedern des zuständigen 15. Bundestagsausschusses und der von diesem Ausschuß während der Beratung eingesetzten Arbeitsgruppe mit ihrem Vorsitzenden, dem Herrn Kollegen Dr. Möller. ({0}) Mein Dank gilt aber auch den Mitgliedern der von unserem Ministerium bereits im Herbst 1977 eingerichteten Studiengruppe zur Beschleunigung der Baugenehmigungsverfahren, an der sich die Bundesländer tatkräftig beteiligt haben. Inzwischen - auch darauf sollte bei der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs im Bundestag hingewiesen werden - haben die Bundesländer im Bereich des Bauordnungsrechts ebenfalls Verbesserungen erzielt. Dies hat dazu geführt, daß Ende 1978 für einen Bauantrag im Ein- und Zweifamilienhausbau im Durchschnitt nur noch etwa zwei Monate Arbeitszeit benötigt wurden, während es zu Beginn des Jahres 1978 im Durchschnitt noch fünf Monate gewesen sind. ({1}) Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf der Beschleunigungsnovelle enthielt keine Änderungen der Vorschriften über das Bauen in den im Zusamenhang bebauten Ortsteilen und im Außenbereich. Die am 1. Januar 1977 in Kraft getretene Novelle zum Bundesbaugesetz erleichterte bereits das Bauen im Außenbereich. Nutzungsänderungen, Ersatzbauten und geringfügige Erweiterungen im Zusammenhang mit der Modernisierung sind unter erleichterten Voraussetzungen zulässig. In der Praxis haben sich aber - das kann überhaupt nicht bestritten werden - immer noch Schwierigkeiten, wenn auch regional unterschiedlich, ergeben. ({2}) Dies hat auch die auf Anregung des Bundesbauministeriums von den kommunalen Spitzenverbänden durchgeführte Befragung bestätigt. Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Gegenäußerung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates erklärt, daß sie eine Änderung dieser Vorschriften befürworten werde, wenn sich nach eingehender Prüfung die Notwendigkeit eine Änderung erweisen sollte. Die Bundesregierung begrüßt daher die vom Ausschuß beschlossenen Änderungen und Ergänzungen der Vorschriften über die Zulässigkeit des Bauens im nicht beplanten Innenbereich und im Außenbereich. Die Gemeinden erhalten damit die Möglichkeit, Gebiete mit besonderer Wohnsiedlungsstruktur, insbesondere mit historisch entstandener Streuoder Bandbebauung, als im Zusammenhang bebaute Ortsteile festzulegen. Wesentliche Schwierigkeiten - ich will nicht sagen: alle Schwierigkeiten -, die bisher in der Praxis aufgetreten sind, können durch diese Regelung gelöst werden. Das gilt auch für die Erweiterung des Katalogs von nicht privilegierten Vorhaben, die unter erleichterten Voraussetzungen zulässig sind. So werden die bauliche Erweiterung von Wohngebäuden zur angemessenen Wohnraumversorgung des Eigentümers und seiner zum Haushalt gehörenden Familienangehörigen, die angemessene bauliche Erweiterung von gewerblichen Betrieben unter der Einschränkung, daß die zur Fortführung des Betriebes existenznotwendig ist, dazu beitragen ({3}) - ich sage das positiv, Herr Kolb -, daß bisher aufgetretene Härtefälle künftig bei entsprechender Handhabung dieser Vorschriften vermieden werden können.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Waffenschmidt?

Dr. Horst Waffenschmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002403, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister Haack, sind Sie, nachdem wir heute diese Änderungen des Bundesbaugesetzes verabschieden, bereit, auf Ihre zuständigen Kollegen im Bund und insbesondere in den Ländern hinzuwirken, daß mit dieser Absicht auch die Anforderungen bei den Abwrasserbeseitigungsvorschriften koordiniert werden? Wie Sie wissen, ist das eine ganz wichtige Sache, um dem Gesetz zum Erfolg zu verhelfen.

Dr. Dieter Haack (Minister:in)

Politiker ID: 11000757

Dazu bin ich selbstverständlich in den Gesprächen gerne bereit, weil das natürlich im weiteren Zusammenhang zu sehen ist. Allerdings sind die Probleme der Abwasserbeseitigung nicht nur im Rahmen der engen Themenstellung, die wir hier diskutieren, zu sehen. Ich möchte abschließend zu diesem Bereich sagen, daß nach meiner Einschätzung die Änderungen der §§ 34 und 35 des Bundesbaugesetzes letzten Endes - anders ist es in der Gesetzgebung nicht möglich - einen Kompromiß zwischen den berechtigten individuellen Bedürfnissen der Bürger und der Sicherung einer geordneten Siedlungsentwicklung auf der anderen Seite beinhalten.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Jahn?

Dr. Dieter Haack (Minister:in)

Politiker ID: 11000757

Ja.

Dr. Friedrich Adolf Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, Sie haben soeben das endgültige Beratungsergebnis begrüßt. Da Sie auch das Beratungsergebnis der Ad-hoc-Kommission begrüßt haben, frage ich Sie: Welches der beiden nicht übereinstimmenden Ergebnisse halten Sie für sachgerechter?

Dr. Dieter Haack (Minister:in)

Politiker ID: 11000757

Ich begrüße das Ergebnis, das schließlich im Ausschuß herausgekommen ist. ({0}) Wir haben seitens der Bundesregierung gesagt: Wir halten uns zunächst zurück, geben Formulierungshilfe und überlassen es der Entscheidung dieses Ausschusses. Der Ausschuß hat so entschieden, und das ist heute die Beratungsgrundlage. Dieses Ergebnis habe ich hier befürwortet. Ich möchte noch eine Bemerkung zum Problem der Gemengelage machen. Auch der Kollege Gattermann hat das mit Recht aufgegriffen. Es kann gar kein Zweifel geben, daß wir auch die schwierigen städtebaulichen Probleme in den Gebieten mit Gemengelagen von Industrie- und Wohnungsnutzung lösen müssen, die vor allem in den historisch entstandenen Revieren und hier vor allem im Ruhrgebiet deutlich geworden sind. ({1}) Regelungen zur Lösung dieser Probleme sind bei der Vorbereitung des Regierungsentwurfs - Sie wissen das, Herr Kollege Möller - in Übereinstimmung mit den Ländern und auch mit den kommunalen Spitzenverbänden nicht in die Beschleunigungsnovelle aufgenommen worden. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß sie das geltende Städtebaurecht in wesentlichen Punkten berühren und daher noch gründliche Untersuchungen und Abstimmungen notwendig sind. Weil ich aber weiß, daß diese Dinge geregelt werden müssen und wir auch daran arbeiten, begrüße ich die beabsichtigte Entschließung des Bundestages, die mich darin bekräftigt, die bereits seit einiger Zeit eingeleiteten Untersuchungen fortzuführen, alsbald zum Abschluß zu bringen und dann Vorschläge zur Lösung dieser Probleme zu unterbreiten. Es wird darauf ankommen, Lösungen zu finden, die einerseits sichere Grundlagen für Investitionsvorhaben schaffen, damit auch zur Arbeitsplatzsicherung beitragen, andererseits aber auch im Interesse des Wohnwerts für unsere Bürger in den Städten und Gemeinden vertretbar sind. Hier geht es letzten Endes um eine Abwägung und damit darum, einen vernünftigen Kompromiß unter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen zu finden. Eine letzte Bemerkung noch zu einer Frage, die auf Grund einer Anregung des Bundesrates auch im Ausschuß in der Diskussion war: Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP zur Städtebaupolitik im Herbst vergangenen Jahres darauf hingewiesen, daß sogenannte Maßnahmen mittlerer Intensität, d. h. Maßnahmen zwischen der städtbaulichen Sanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz und der Modernisierung nach dem Modernisierungs- und Energieeinsparungsgesetz, erforderlich sind. Ich habe wiederholt auch in der Öffentlichkeit betont, daß diese Lücke durch Wohnumfeldverbesserung ausgefüllt werden muß, d. h. durch Verkehrsberuhigung, durch Schaffung von Grün- und Freiflächen, Blockentkernung, Straßenraumgestaltung, Intensivmodernisierung in den schlechten Wohnvierteln durch Erneuerung auch kleinerer Stadtgebiete und von Wohnblöcken durch Wohnungszusammenlegung, Umbau, Ausbau und ähnliche Maßnahmen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möller?

Dr. Franz Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001522, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, können wir damit rechnen, daß die Bundesregierung eine Novelle zum Städtebauförderungsgesetz, die diese Wohnumfeldverbesserung aufgreift, noch in dieser Legislaturperiode vorlegen wird?

Dr. Dieter Haack (Minister:in)

Politiker ID: 11000757

Wenn Sie mich meinen Gedankengang zu Ende führen lassen, Herr Dr. Möller, werden Sie die Antwort auf diese Frage finden. Ich bin gerade dabei, darzulegen, daß es notwendig ist. Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen. Es handelt sich ohne Zweifel um eine der zentralen Aufgaben der Städtebaupolitik der Zukunft. Wir haben bisher noch nicht die zur Bewältigung dieser wichtigen Probleme notwendigen Instrumentarien. In einem Teilbereich, nämlich bei der Schaffung verkehrsberuhigter Zonen, wird es, so meine ich, wichtige Fortschritte durch den Entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes geben. Ich möchte auch hier zum Ausdruck bringen, daß ich den vorbereiteten Entschließungsantrag zur vereinfachten städtebaulichen Erneuerung begrüße. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist bei uns im Ministerium in Vorbereitung. Er bedarf aber wegen der Schwierigkeit der Probleme einer eingehenden Beratung und Abstimmung mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden sowie den interessierten Fachverbänden und konnte wegen dieser Schwierigkeiten nicht in die Beschleunigungsnovelle aufgenommen werden, die eine ganz andere Zielsetzung hatte, denn die Befrachtung dieser Beschleunigungsnovelle mit den wichtigen Fragen der sogenannten einfachen Sanierung hätte dieses Gesetzgebungsverfahren in nicht vertretbarer Weise belastet und damit erheblich verzögert. Das wäre nach meiner Auffassung nicht im Interesse einer vereinfachten Stadterneuerung gewesen, die ja ein ganz anderes Thema ist als das, um das es hier heute abend bei diesem Gesetzentwurf geht. ({0}) - Herr Jahn, etwas Geduld! Es kommt immer wieder etwas Interessantes, mit dem Sie sich dann befassen können. Wir können auch nicht alles auf einmal machen. ({1}) Wir machen eine Politik Schritt für Schritt, und die wird desto erfolgreicher sein, je vernünftiger sie vorbereitet ist. ({2}) Es darf überhaupt nichts überstürzt werden, weil es hier um wichtige Probleme geht. Abschließend möchte ich sagen: Wenn diese Beschleunigungsnovelle heute abend in zweiter und dritter Lesung verabschiedet wird, hat sie schon wegen der schnellen Beratung im Bundestag ihren Namen „Beschleunigungsnovelle" verdient. Ich hoffe auch auf die Zustimmung des Bundesrates und dann auf eine konsequente Anwendung des neuen Gesetzes durch die Gemeinden, auf eine Anwendung des Gesetzes im Interesse unserer Bürger. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache. Wir kommen zur Einzelabstimmung in zweiter Beratung über die Vorlage unter Punkt 8 a) der Tagesordnung. Wer den Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe!. - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Wir kommen zur dritten Beratung. Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Gesetzentwurf in dritter Beratung die Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Mit Nr. 2 der Beschlußempfehlung liegt uns der Vorschlag vor, den unter Punkt 8 b) der Tagesordnung aufgeführten Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU - Drucksache 8/1970 - für erledigt zu erklären. Ich muß das Haus fragen, ob eine gesonderte zweite Beratung gewünscht wird. - Das ist nicht der Fall. Dann frage ich, wer Nr. 2 der Beschlußempfehlung zustimmen möchte. Ich bitte um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit großer Mehrheit angenommen. Ich rufe nun noch Nr. 3 der Beschlußempfehlung auf, die eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Unter Nr. 4 der Beschlußempfehlung liegt ein Entschließungsantrag vor. Wer ihm zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einigen Stimmenthaltungen angenommen. Meine Damen und Herren, damit kommen wir zu Punkt 9 der Tagesordnung: a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. Dezember 1975 über das europäische Patent für den Gemeinsamen Markt - aus Drucksache 8/2087 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2825 - Berichterstatter: Abgeordneter Westphal Vizepräsident Frau Funcke bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 8/2799 ({2}) Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Wittmann ({3}), Dr. Schöfberger ({4}) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Gemeinschaftspatent und zur Änderung patentrechtlicher Vorschriften ({5}) - aus Drucksache 8/2087 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2825 - Berichterstatter: Abgeordneter Westphal bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 8/2799 ({8}) Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Wittmann ({9}), Dr. Schöfberger ({10}) Der Ältestenrat empfiehlt verbundene Debatte. Die Herren Berichterstatter wünschen nicht das Wort. - Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Einzelberatung in zweiter Lesung und Schlußabstimmung über die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 9 a. Wer den Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift die Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Dann kommen wir zur Abstimmung über die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 9 b in zweiter Beratung. Ich rufe auf die Kapitel 1 bis 3, Einleitung und Überschrift. Wer zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Ich rufe die dritte Beratung auf. Wer dem Gesetz als Ganzem seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Nunmehr stimmen wir noch über Nr. 3 der Beschlußempfehlung ab, die zu diesem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes - Drucksache 8/2356 - a) Bericht des Haushaltsausschusses ({11}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Druckache 8/2703 - Berichterstatter: Abgeordneter Hauser ({12}) b) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({13}) - Drucksache 8/2684 - Berichterstatter: Abgeordnete Gerstl ({14}), Löher ({15}) Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht. Ich rufe in zweiter Beratung Art. 1 und Art. 2 Nr. 1 auf. - Wer die Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Zu Art. 2 Nr. 2 und 3 liegt auf Drucksache 8/2901 ein interfraktioneller Änderungsantrag vor. Das Wort dazu wird nicht gewünscht. Wer diesen Änderungen zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich bitte um Abstimmung über Art. 2 Nr. 2 und 3 in der nunmehr geänderten Fassung. Wer zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich rufe nun auf Art. 2 Nr. 4, Art. 3, 4 und 5 sowie Einleitung und Überschrift. - Wer die Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr die dritte Beratung auf. Wer in der dritten Beratung die Zustimmung geben möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Nach Nr. 2 der Beschlußempfehlung sollen die Eingaben für erledigt erklärt werden. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. - Es ist so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 11 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksachen 8/2682, 8/2757, 8/2806, 8/2306 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({16}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2909 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Riedl ({17}) Vizepräsident Frau Funcke bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18}) - Drucksache 8/2881 - Berichterstatter: Abgeordnete Krey, Wittmann ({19}) Dr. Wendig ({20}) b) Zweite Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 8/1716 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({21}) - Drucksache 8/2881 - Berichterstatter: Abgeordnete Krey, Wittmann ({22}), Dr. Wendig ({23}) Im Ältestenrat ist verbundene Debatte vereinbart worden. Wird von den Herrn Berichterstattern das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die allgemeine Aussprache auf. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krey.

Franz Heinrich Krey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001214, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spät, aber noch nicht zu spät können wir heute über ein wichtiges Gesetz zur Vorbereitung der - ich hoffe jedenfalls - nächsten Bundestagswahlen beschließen. Ich möchte mich kurz fassen, aber dennoch einige grundsätzliche Bemerkungen an den Anfang stellen. 30 Jahre Grundgesetz und fast 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland sind Anlaß genug zu der grundsätzlichen Frage, ob sich unser Wahlsystem, ein Eckpfeiler unserer parlamentarischen Demokratie, bewährt hat. Hierzu von mir aus zwei kurze Feststellungen: Erstens. Das parlamentarische System hat sich ohne Zweifel bewährt. Wir haben alles in allem eine stabile Demokratie bewahrt. Dies ist angesichts der Erfahrungen unseres Volkes in seiner Vergangenheit eine erfreuliche Tatsache. Die Bürger bejahen unsere Staatsform. ({0}) Bedenklich ist jedoch, daß in zunehmendem Maße eine Entfremdung zwischen Bürgern einerseits und Regierung, Parlament und Parteien andererseits festzustellen ist. Hierfür sind sicherlich mehrere Faktoren entscheidend. Es ist zu Recht gefragt worden, inwieweit die Politik dieser Regierung an der Entfremdung von Bürger und Staat mit Schuld hat. ({1}) Hat bei dem Rentendebakel z. B. des Jahres 1976 dem Staatsbürger diese Regierung nicht überdeutlich klargemacht, daß „die da oben" sich an gegebene Versprechen nicht halten und letztlich doch machen, was sie wollen? ({2}) - Das ist eine Feststellung, ({3}) die auch führende Vertreter dieser Bundesregierung in diesen Tagen in die Debatte eingeführt haben. Ein weiterer Faktor ist jedoch das geltende Wahlsystem. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat in ihrem Schlußbericht vom 2. Dezember 1976 Vorschläge für ein bürgernahes Wahlrecht gemacht. Die Diskussion darüber ist nicht abgeschlossen. Außerdem sind ja auch schon früher, insbesondere in den 60er Jahren, beachtenswerte Gedanken über mögliche und notwendige Änderungen unseres Wahlgesetzes angestellt worden, ({4}) die nach meiner Meinung auch heute noch von großer Bedeutung sind, obwohl zugegeben werden muß, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt an eine Realisierung nicht gedacht werden kann; ich will nur mit dazu beitragen, daß sie nicht in Vergessenheit geraten. ({5}) Gemessen an diesen grundsätzlichen Überlegungen zur Reform des Wahlrechts verdient der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf sicherlich nicht die Überschrift „Wahlrechtsreform". Mit ihm wird das geltende Wahlrecht in einigen, allerdings nicht unbedeutenden Teilbereichen fortentwickelt; sie sind einer Würdigung wert. Lassen Sie mich die Haltung meiner Fraktion zu den einzelnen Gesetzentwürfen kurz erläutern. Kernpunkt des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes ist die Aktualisierung der Wahlkreiseinteilung. Sie war durch die Verschiebung der Bevölkerungszahlen im Bundesgebiet notwendig geworden. So mußten NordrheinWestfalen zwei und Hamburg einen Wahlkreis an die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen abgeben. Die CDU/CSU war von Anfang an zu einer einvernehmlichen Regelung der Wahlkreiseinteilung bereit, wie dies auch bei früheren Beratungen guter Brauch war. In diesem Jahr konnte leider diese Tradition nicht fortgesetzt werden, ({6}) weil die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und SPD und FDP in Düsseldorf wieder einmal ein leuchtendes Beispiel ihrer Harmonie und Entscheidungsfreude erbracht haben. ({7}) Sie waren in der Frage der abzugebenden Wahlkreise nicht in der Lage, einen Vorschlag zu unterbreiten. ({8}) Dies wirft auch ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Zustände in der Koalition in Düsseldorf und auf die Führungsqualitäten von Herrn Rau. ({9}) So mußte buchstäblich - das ist unbestreitbar - in letzter Minute die Neueinteilung für dieses Bundesland im einzelnen vom Innenausschuß des Bundestages entschieden werden. Die CDU/CSU-Fraktion trägt das Ergebnis mit. Ich möchte hier ausdrücklich den Dank wiederholen, den ich gestern im Innenausschuß an meine Berichterstatterkollegen, die Mitarbeiter des Innenministeriums und an die Mitarbeiter des Statistischen Bundesamtes ausgesprochen habe. Die von der Bundesregierung für die beiden Wahlkreise zur Lösung der nordrhein-westfälischen Probleme gemachten Vorschläge konnten wir jedoch nicht akzeptieren. Im wesentlichen haben wir auf den Entwurf zurückgegriffen, den der Landeswahlleiter von Nordrhein-Westfalen vorgelegt hatte, dem ich hier, wie auch allen seinen Kollegen in den übrigen Ländern, besonders danke. Sie alle haben dazu beigetragen, ein weiteres Mal im Wahlrechtsbereich durch Kompromiß zum Konsens zu gelangen. Die übrigen Neuregelungen sind zwar weniger spektakulär, für Teilbereiche jedoch von großer Bedeutung. Die wichtigsten seien kurz skizziert. Die mit ihrer Einwilligung unter Pflegschaft stehenden geistig Gebrechlichen erhalten das aktive Wahlrecht, wenn sie eine entsprechende Bescheinigung des Vormundschaftsgerichts vorlegen. Die sonstigen mit der Pflegschaft im Zusammenhang stehenden Fragen des Wahlrechtes müssen im Rahmen der Gesamtreform des Pflegschaftsrechtes geprüft werden. Der Termin für die innerparteiliche Kandidatenaufstellung wird erweitert. Damit werden die erheblichen Belastungen der Parteien durch die Vielzahl der Nominierungen von Wahl zu Wahl erleichtert. Die Ermittlung und Feststellung des Briefwahlergebnisses kann auch auf Kreis- und Gemeindeebene erfolgen. Wichtige Vorschläge des Bundesrates wurden übernommen. Der Innen- und der Rechtsausschuß haben einstimmig zugestimmt. Auch namens der Fraktion der CDU/CSU empfehle ich Zustimmung. Gleichfalls einstimmig wurde vom Innen- und Rechtsausschuß der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Ergänzung des Bundeswahlgesetzes und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in der Ihnen vorliegenden Fassung gebilligt. Mit diesem Gesetz wird ein wichtiges Instrument zum Schutze der Bürger vor Wahlbeeinflussung geschaffen. Gerade wegen der großen Verläßlichkeit demoskopischer Methoden muß die Gefahr gebannt werden, daß sogenannte Nachfrageergebnisse vom Wahltag noch vor Schließung der Wahllokale veröffentlicht werden und damit spätere Wähler beeinflussen. ({10}) Der gleichfalls zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf meiner Fraktion zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 8/1716 hat in den Ausschüssen leider nicht die Zustimmung von SPD und FDP gefunden. Mit diesem Gesetzentwurf sollte das aktive Wahlrecht auch auf die deutschen Staatsbürger ausgedehnt werden, die ihren Wohnsitz in den Gebieten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Die ablehnende Haltung von SPD und FDP ist meinen Kollegen und mir nach wie vor unverständlich. ({11}) - Herr Wehner, ich lasse mich nicht provozieren. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß die ablehnende Haltung auch von den deutschen Landsleuten in der Europäischen Gemeinschaft nicht verstanden wird, die sich zu Recht diskriminiert fühlen. ({12}) - Es ist kein stichhaltiger Grund vorgetragen worden, weshalb die Deutschen in der EG, obwohl sie am 10. Juni an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen dürfen, zu den Bundestagswahlen nicht zugelassen werden. ({13}) - Mir ist kein ausreichender Grund vorgetragen worden. Deshalb frage ich mich, ob es hier statt der eben angeschnittenen Fragen nicht vielmehr um die Erkenntnis geht, daß möglicherweise der größere Teil der in Frage kommenden Personen nicht zu den Stammwählern Ihrer Partei, Herr Wehner, gehört. ({14}) Fast noch trauriger ist, daß die FDP trotz vielfacher gegenteiliger Beteuerungen mit der SPD marschiert und sich gegen das Wahlrecht für die Auslandsdeutschen ausgesprochen hat. ({15}) Die FDP hat wieder einmal gezeigt, daß sie nicht in der Lage ist, in dieser Koalition liberale Politik durchzusetzen. ({16}) Das ist in dem vorliegenden Fall um so bemerkenswerter, als sich doch gerade die FDP auf ihren Bundesparteitagen ausdrücklich für das Wahlrecht der Auslandsdeutschen ausgesprochen hat. ({17}) Ich richte an dieser Stelle nochmals den Appell an SPD und FDP: Stellen Sie Ihre Erwägungen zurück! Denken Sie daran, daß unsere deutschen Mitbürger in der EG einen berechtigten Anspruch haben, an unseren nationalen Parlamentswahlen teilzunehmen. ({18}) Eine Ablehnung würde mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der deutschen Wähler nicht im Einklang stehen. ({19}) Ich bitte Sie daher, dem Gesetzentwurf auf Drucksache 8/1716 Ihre Zustimmung zu geben. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Wittmann.

Otto Wittmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002542, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde dem Kollegen Krey gern einiges erwidern, wenn die Zeit nicht schon so sehr fortgeschritten wäre. Wenn er meint, in der Wahlgesetzberatung sagen zu sollen, die öffentliche Meinung über das Parlament sei von der Regierung geprägt, dann meine ich; Sie ist geprägt von dem Konfrontationskurs aus der Schwäche des Oppositionsführers heraus, ({0}) der gelegentlich versucht, sich vor Franz Josef Strauß darzustellen. Genauso schauen die Dinge in der Praxis doch aus. ({1}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte nur festhalten, daß wir Sozialdemokraten hier mit den Freien Demokraten die Mehrheit haben. Das ist gut so, und es wird dabei bleiben. ({2}) Ich darf für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion daran erinnern, daß wir am 26. April die erste Lesung der Novelle zum Bundeswahlgesetz hatten. Wenn wir heute, 5 Wochen später, das Gesetz in 2. und 3. Lesung verabschieden können, dann deshalb, weil alle mithalfen, eine Lösung zu finden, die von allen Parteien mitgetragen wird und mitgetragen werden kann. Ich meine, gerade bei der Wahlkreiseinteilung war es immer guter Brauch, daß einvernehmliche Lösungen gefunden werden. Ich verstehe gar nicht, Kollege Krey, wie Sie sich hier hinstellen und den Eindruck erwecken können, in Nordrhein-Westfalen habe die Regierung versagt und die Opposition einen besseren Vorschlag gehabt. Tatsache ist, daß gerade Sie als Berichterstatter und Verhandlungspartner in Nordrhein-Westfalen die Ursache waren, warum man sich nicht verständigen konnte, weil Sie nämlich den Westfalen zwei Wahlkreise wegnehmen wollten, den Rheinländern aber, woher Sie selbst kommen, keinen. Das ist doch der Ausgangspunkt der Situation. ({3}) Ich möchte Sie doch an die Beratungen im Innenausschuß erinnern. Wir mußten Sie in der Frage der Aufteilung der wegfallenden Wahlkreise erst überstimmen, bevor eine einvernehmliche Lösung möglich war. Das ist doch die Ausgangsposition im Deutschen Bundestag.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Berger?

Ulrich Berger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000151, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Ihnen, Herr Kollege Wittmann, denn nicht bekannt, daß die Schwierigkeiten in Nordrhein-Westfalen im wesentlichen zwischen der SPD und der FDP, dokumentiert in dem Schreiben des Ministerpräsidenten an den Innenminister Hirsch, zum Ausdruck kamen? ({0})

Otto Wittmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002542, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Berger, wenn ich von einvernehmlichen Regelungen zwischen den Parteien rede, dann müssen sich die drei Parteien an einen Tisch setzen und zu einer gemeinsamen Lösung kommen. ({0}) Tatsache ist, daß die CDU in Nordrhein-Westfalen einen Parteibeschluß hatte, nach dem Westfalen zwei Wahlkreise abzugeben hat, Rheinland keinen. Die SPD und die FDP hatten Beschlüsse, wonach sowohl Rheinland als auch Westfalen je einen Wahlkreis abzugeben hatten. Man soll hier jetzt doch nicht so tun, als sei es anders gewesen. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist doch gar nicht mehr wert, darüber zu streiten. Wir haben den gordischen Knoten durchschlagen und wollen heute ein einvernehmliches Gesetz. ({2}) Herr Kollege Krey, man soll nicht alleweil über andere schimpfen, sondern gelegentlich einsehen, daß man seinen eigenen Beitrag nicht geleistet hat, um das Problem in Nordrhein-Westfalen zu lösen. Wittmann ({3}) Lassen Sie mich aber von dieser Stelle aus meinen Kollegen Mitberichterstattern, dem Kollegen Krey und dem Kollegen Dr. Wendig, für die gute Zusammenarbeit und die notwendige Kompromißbereitschaft recht herzlich danken; denn ohne Kompromiß wäre hier nichts gegangen. Das muß ich ganz deutlich sagen. Mein Dank gilt aber auch den Herren des Innenministeriums und des Statistischen Bundesamtes, das uns in der Endphase gut betreut hat. Sie schufen durch die Zuarbeit die Voraussetzungen für die rasche Verabschiedung des Gesetzes. Die frühzeitige Verabschiedung der Novelle zum Bundeswahlgesetz ermöglicht es nun den Parteien, die Bundestagswahl 1980 sorgfältig vorzubereiten. Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß durch die Neufassung des § 21, der die Aufstellung der Parteibewerber regelt, nun die Möglichkeit besteht, die Delegierten für die Vertreterversammlung schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zu wählen. Wir hoffen, daß der Bundesrat dieses Gesetz sehr schnell verabschiedet und der Bundespräsident es unterzeichnet. Dann können die Delegiertenwahlen schon im Sommer erfolgen. Mit der Kandidatenaufstellung kann dann frühestens am 15. August 1979 begonnen werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den materiellen und rechtlichen Änderungen machen. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, daß Briefwahlvorstände auch auf Kreis- und Gemeindeebene eingesetzt werden können. Wir haben ih das Gesetz neu aufgenommen, daß eine Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählernachfragen vor Beendigung der Wahlzeit nicht zulässig ist. In den letzten Wochen gab es ein hartes Ringen um die Wahlkreisneueinteilung, weil dem Land Nordrhein-Westfalen - das ist der Ausgangspunkt für die Schwierigkeiten - zwei Wahlkreise weggenommen wurden. In Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, denen man Wahlkreise zuteilte, ist es natürlich um so leichter gegangen. Wo etwas mehr zu bekommen ist, ist eine Einigung schneller zu erzielen. Die Schwierigkeiten der Neueinteilung in Nordrhein-Westfalen hingen auch damit zusammen, daß man nicht wahrhaben wollte, daß der Bevölkerungsschwund im Landesteil Westfalen und im Landesteil Rheinland in etwa gleich stark war. Die Bevölkerungsentwicklung ließ eben nur zu, daß sich für den Landesteil Westfalen 33 Wahlkreise und für den Landesteil Rheinland 38 Wahlkreise ergaben. Das heißt, jeder Landesteil mußte einen Wahlkreis abgeben. Bei der Neueinteilung kam es darauf an, entsprechend der Empfehlung des Bundestages vom 5. Oktober 1978 eine Neuabgrenzung vorzunehmen, bei der die Grenzen der Gemeinden und gemeindlichen Gebietskörperschaften und nach Möglichkeit auch die Kreisgrenzen eingehalten sind. Wir bemühten uns des weiteren darum, auch die Landtagswahlkreisgrenzen zu beachten und damit für die Parteiorganisationen draußen die Voraussetzung für eine ordentliche Durchführung von Wahlkämpfen zu schaffen. Den Forderungen und Wünschen konnte bei der Wahlkreisneueinteilung fast durchgängig Rechnung getragen werden. Ich meine, daß diese Neueinteilung gerade in Nordrhein-Westfalen von längerem Bestand sein wird. Es ist ja unser aller Wunsch, daß die Bindung zu einem Abgeordneten über einen längeren Zeitraum besteht. Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zur Frage des Wahlrechts der Deutschen im Ausland machen. Kollege Krey, Sie haben wieder den Eindruck erweckt, daß es der Weisheit letzter Schluß wäre, den Deutschen im EG-Bereich das Wahlrecht zuzubilligen, aber alle anderen Deutschen, etwa im Nachbarland Österreich, davon auszuschließen. ({4}) Wir haben uns entschieden, das Wahlrecht jeweils auf das Wahlgebiet zu begrenzen, das Wahlrecht für die Europawahl auf das Wahlgebiet der EG - da dürfen die Deutschen in diesem Raum wählen -, bei der Bundestagswahl auf das Wahlgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Ich meine, wir ersparen uns damit viel Ärger, insbesondere bei den Deutschen, die dann nicht wählen dürften, wenn wir es auf den Raum der EG begrenzen würden. ({5}) Die Koalitionsfraktionen hielten es deshalb für sinnvoll, die Erfahrungen der ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament abzuwarten. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 8/2881 zustimmen und den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 8/1716 ablehnen. ({6})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wendig.

Dr. Friedrich Wendig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002477, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Krey, Sie haben mich eigentlich ein wenig enttäuscht. Nach einer Beratung der Berichterstatter, die sehr schwierig war, gerade was Nordrhein-Westfalen angeht, in den entscheidenden Fragen letztlich aber zu einer Einstimmigkeit geführt hat - bis auf den einen Punkt, auf den ich noch zu sprechen kommen werde -, hätte ich nicht erwartet, daß Sie nun das Ganze an dem Problem des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat, wobei das Wahlrecht vielleicht zwar auch ein Grund, aber nicht der entscheidende Grund für ein Mißverständnis sein mag, und vor allen Dingen dann an einem angeblichen Fehlverhalten der Bundesregierung meinten aufhängen zu müssen. Ich glaube, das hat nicht hierher gepaßt. Wir haben dieses Gesetz - ich möchte dies trotz allem allen sagen, die hieran mitgewirkt haben - erst vor gut einem Monat hier in erster Lesung beraten. Ich will mir deswegen grundsätzliche Ausführungen zu dieser späten Stunde ersparen. Jedoch will ich nicht versäumen, meine Genugtuung darüber zum Ausdruck zu bringen, daß dieses Gesetz in so kurzer Frist abstimmungsreif gemacht werden konnte. Das lag sicher an den eingehenden Vorarbeiten, die im Innenausschuß von den Berichterstattern unter Mitwirkung des Bundesinnenministers und seiner Beamten und des Statistischen Bundesamtes geleistet worden sind, wofür ich mich für meine Fraktion herzlich bei allen bedanke, die an der schwierigen Lösung der Frage der Wahlkreiseinteilung mitgewirkt haben. Es ist zu erwarten, daß dieses Gesetz nach dem notwendigen Durchlauf im Bundesrat so rechtzeitig in Kraft treten kann, daß nach der neuen Fristenregelung mit der Aufstellung der Wahlkreiskandidaten am 14. August dieses Jahres begonnen werden kann. Wohl das schwierigste Problem - davon haben die beiden Kollegen ja eben schon gesprochen - war die Neugliederung der Wahlkreise. Ich erinnere an die Notwendigkeit, die Wahlkreise auf Grund der Bevölkerungsverhältnisse nach dem Stand vom 1. April 1978 zwischen den einzelnen Ländern neu zu verteilen. So kam es zu der Abgabe von zwei Wahlkreisen in Nordrhein-Westfalen und einem Wahlkreis in Hamburg. Ich erinnere weiter an den vom Deutschen Bundestag schon am 19. Oktober des vergangenen Jahres beschlossenen Grundsatz, eine Neugliederung bei denjenigen Wahlkreisen vorzusehen, bei denen eine Bevölkerungsentwicklung von ± 29 Prozent - gerade über diese Zahl sind sehr eingehende Überlegungen angestellt worden - gegenüber dem Bundesdurchschnitt zu verzeichnen war. Schließlich kam es auf die Berücksichtigung der Gemeindegrenzen, möglichst auch der Kreisgrenzen an, die sich durch die Gebietsreformen in den einzelnen Ländern zum Teil recht erheblich verändert hatten. Der Ihnen, meine Damen und Herren, heute zur Verabschiedung vorliegende Entwurf trägt diesen Forderungen so weit wie nur möglich Rechnung. Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich auf Landesebene - bis auf das Land Nordrhein-Westfalen - über die Neugliederungsvorschläge geeinigt. In Nordrhein-Westfalen war es nicht eine Frage der Regierung oder des Ministerpräsidenten oder irgendeines Ministers, sondern es war eine Frage der Landesparteien, die zu einer solchen Einigung nicht gekommen sind. Ich glaube, das muß man festhalten. Deswegen haben wir die schwierige Aufgabe gehabt, hier qua Bundestag, qua Innenausschuß in einem Bereich, in dem jedenfalls der Kollege Wittmann und ich nicht beheimatet sind, auch materiell Entscheidungen zu treffen - mit den entsprechenden Unterstützungen der Herren des Innenministeriums und des Statistischen Bundesamtes. Dabei haben wir uns grundsätzlich sehr weitgehend an die Empfehlungen der Wahlkreiskommission gehalten. In einer grundsätzlichen Frage haben wir geglaubt, von der Regierungsvorlage abweichen zu müssen. Nach sehr sorgfältigen Überlegungen und Beratungen haben wir uns im Ergebnis dafür entschieden, die zwei von Nordrhein-Westfalen abzugebenden Wahlkreise im Verhältnis von 1 : 1 auf die Landesteile Westfalen und Rheinland zu verteilen. Nach dieser Entscheidung war alles andere einverständlich. Ich möchte das noch einmal hervorheben. Ich halte diese Grundsatzentscheidung der Verteilung im Verhältnis von 1 : 1, die uns sicher nicht ganz leichtgefallen ist, für die beste Lösung. In ihrer Folge muß aus dem Landesteil Rheinland ein Wahlkreis abgegeben und dem Landesteil Westfalen ein Wahlkreis zugefügt werden. Dabei lag uns auch bei dieser Operation daran, Kreisgrenzen nicht zu durchschneiden. Wir haben deshalb gemeint, die Verminderung der Zahl der Wahlkreise im Rheinland durch eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise in Düsseldorf von drei auf zwei erreichen zu sollen. Dafür ist in Westfalen im märkischen Bereich ein zusätzlicher Wahlkreis geschaffen worden. Ich bin mir darüber im klaren, meine Damen und Herren, daß jede Wahlkreiseinteilung bei den Betroffenen nicht immer Zustimmung finden mag. Sie dürfen aber versichert sein, daß wir in den Beratungen des Innenausschusses allein nach objektiven, jederzeit nachprüfbaren Kriterien entschieden haben. In diesem Zusammenhang will ich, wie schon bei der ersten Lesung, meiner Erwartung Ausdruck geben, daß die Ihnen heute vom Innenausschuß vorgeschlagene Regelung die Aussicht bietet, bei einer sich ständig bewegenden Bevölkerungsstruktur auf eine längere Frist in Kraft bleiben zu können. Zum materiellen Teil nur einige kurze Bernerkungen: Wir sind unverändert der Ansicht, daß auch unter Rücksichtnahme auf den hohen verfassungsrechtlichen Rang des Wahlrechts ein Abbau der Diskriminierung psychisch Kranker in einem zumutbaren Rahmen möglich sein muß. Darüber waren wir uns auch einig. Hier haben wir uns unter Zurückstellung einiger Bedenken den Vorschlägen des Bundesrates und des Rechtsausschusses angeschlossen, daß in Fällen der Bewilligung des Wahlrechts durch einen schriftlichen Bescheid des Vormundschaftsgerichts nachgewiesen werden muß, daß die Pflegschaft mit Einwilligung des Wahlberechtigten angeordnet worden ist. Wir haben ferner in § 21 festgelegt, daß die Wahl für die Vertreterversammlungen zur Wahl der Wahlkreisbewerber frühestens 23 Monate nach Beginn des Deutschen Bundestages stattfinden kann. Diese Erleichterung - ich halte es für eine Erleichterung - soll insbesondere den organisatorischen Schwierigkeiten größerer Parteiverbände entgegenkommen. Schließlich haben wir uns dem Antrag der Opposition angeschlossen, die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen nach Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit zu verbieten, mit rechtlichen Konsequenzen bei Verstoß gegen diese Vorschrift. Nun komme ich zu dem einzigen Punkt, wo wir differieren und wo ich dem Kollegen Krey doch noch einiges sagen muß: Wir, die Freien Demokraten, haben uns nach sehr reiflicher Überlegung dazu entscheiden müssen, im gegenwärtigen Zeitpunkt Ihrer Vorlage auf Drucksache 8/1716 nicht zu folDr. Wendig gen. Dabei geht es um das Wahlrecht deutscher Staatsbürger, die ihren Wohnsitz im Gebiet eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft haben. Ich bekenne Ihnen hier ganz offen, daß uns diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist. Ich sage aber gleichzeitig - und ich will Ihnen auch die Gründe nennen; Sie mögen sie dann als nicht ausreichend bezeichnen -, daß dies keineswegs die Aufgabe liberaler Überzeugungen oder Auffassungen, wie Sie gesagt haben, in sich birgt. Es gab für uns vorwiegend zwei Gründe für diese Entscheidung. Für uns gab es die Überlegung, daß sich das Wahlrecht bei einer solchen Regelung angesichts der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit, die wir bejahen, zwangsläufig auch auf Bürger der DDR erstrecken würde. Jede auch noch so bescheidene Abgrenzung im Verfahren nach dem Bundeswahlgesetz könnte geeignet sein, bei der gegenwärtigen deutschlandpolitischen Situation in der Tendenz den Eindruck zu erwecken, wir sähen die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit doch etwas anders, als wir es offiziell immer verkünden. ({0}) Zum zweiten erscheint es mit Blick auf Art. 3 des Grundgesetzes außerordentlich schwierig - ich möchte sagen: vielleicht sogar fragwürdig -, eine solche Regelung nicht auch auf deutsche Staatsangehörige außerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu erstrecken. ({1}) - Ich komme darauf. - Dies wäre ein Ergebnis, das nicht überall ohne politische Probleme bliebe. Hier eine rechtlich einwandfreie Lösung zu finden erschien uns im gegenwärtigen Zeitpunkt - ich sage: im gegenwärtigen Zeitpunkt - nicht möglich. Mit dieser unserer Ablehnung möchte ich allerdings die Erklärung verbinden, daß wir gleichzeitig weiterhin bemüht sein werden, eine Lösung für das Wahlrecht deutscher Staatsangehöriger in Europa zu finden, die sich ohne politische Nachteile und ohne rechtliche und verfassungsrechtliche Schwierigkeiten verwirklichen läßt. ({2}) - Darüber wird man reden müssen. Deswegen sehen wir uns in der gegenwärtigen Situation nicht in der Lage, Ihrer Vorlage 8/1716 zuzustimmen. Nun noch ein Blick in die Zukunft, den ich mir gestatten möchte und womit ich an das anknüpfen möchte, was der Herr Kollege Krey gesagt hat: Die Neuregelung der Wahlkreiseinteilung stand bei diesem Entwurf aus zwingenden verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Gründen ganz eindeutig im Vordergrund. Deswegen mußten weitergehende wünschbare und vielleicht notwendige Reformen des Wahlrechts in dieser Situation vor den Bundestagswahlen 1980 zurückgestellt werden. Auf längere Sicht gesehen, bedarf es jedoch weiterer eingehender Überlegungen, vor allen Dingen mit dem Ziel, die Ausgestaltung des Wahlrechts stärker an den wahlberechtigten Bürger zu binden. Wir haben den Schlußbericht der Enquete-Kommission zur Verfassungsreform bisher nur zu einem kleinen Teil im Bundestag diskutiert. Nach meiner Auffassung sollte man - um ein Beispiel zu nennen - in den künftigen Debatten auf das Problem der Einführung begrenzt offener Listen für die Abgabe der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl - ich denke hier an das bayerische Modell - zu sprechen kommen. Hierbei erlaube ich mir den Hinweis, daß ein solches Wahlrecht die Bindung des Bürgers an seinen Bundestagskandidaten nur verstärken kann. Dies wäre, wie ich meine, ein weiterer Schritt zu einer lebendigeren Demokratie. Damit möchte ich schließen. Ich beantrage für meine Fraktion die Zustimmung zu dem Entwurf in der vom Innenausschuß vorgeschlagenen Fassung. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2881 unter Einschluß des Nachtrages auf Drucksache 8/2903. Wer den Art. 1, 1 a, 2, 3, der Einleitung und der Überschrift die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen eine Stimme und bei einer Enthaltung angenommen. Ich rufe die dritte Beratung auf. Wer dem Gesetz in dritter Beratung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei zwei Enthaltungen angenommen. Nun rufe ich den unter Tagesordnungspunkt 11 b, Drucksache 8/1716, aufgeführten Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Abstimmung in zweiter Beratung auf. Wer den Art. 1 bis 4, der Einleitung und der Überschrift seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit; ({0}) der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt, Danach entfällt nach § 84 Abs. 3 der Geschäftsordnung die weitere Beratung und Abstimmung. Nunmehr ist noch über die Beschlußempfehlung unter Ziffer 3 der Drucksache 8/2881 abzustimmen, die Eingaben für erledigt zu erklären. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 12 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften - Drucksache 8/2710 - Vizepräsident Frau Funcke aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2908 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Riedl ({2}) bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3}) - Drucksache 8/2888 - Berichterstatter: Abgeordnete Berger ({4}), Brandt ({5}) ({6}) b) Zweite Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des vorzeitigen Ruhestandseintritts von schwerbehinderten Beamten und Richtern - Drucksache 8/2656 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2908 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Riedl ({8}) bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9}) - Drucksache 8/2888 -Berichterstatter: Abgeordnete Berger ({10}), Brandt ({11}) ({12}) Der Ältestenrat empfiehlt verbundene Debatte mit Kurzbeiträgen. Ich frage zunächst, ob einer der Berichterstatter das Wort wünscht. - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Berger.

Ulrich Berger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000151, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute zur Verabschiedung stehende Gesetzentwurf zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften soll es den Beamten und Richtern, die als Schwerbehinderte nach § 1 des Schwerbehindertengesetzes anerkannt sind, ebenso wie den schwerbehinderten Arbeitnehmern ermöglichen, vorzeitig in den Ruhestand zu treten. Meine Fraktion begrüßt dieses Ziel und weist darauf hin, daß die halbjährige Verzögerung dieser Gleichstellung nicht von ihr zu vertreten ist. Nach dem Scheitern der vom Innenausschuß einstimmig vorgeschlagenen Lösung durch den Mehrheitsbeschluß der Koalition zum Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetz und seine Abtrennung im Vermittlungsausschuß am 7. März 1979 - aus den hier im Hause wohl jedermann bekannten Gründen - hatte unsere Fraktion schon am 14. März 1979, also eine Woche später, ihren Gesetzentwurf eingebracht. Der Gesetzentwurf der Koalition, dessen unveränderte Annahme Ihnen jetzt vom Innenausschuß empfohlen wird, wurde am 29. März 1979 eingebracht. Trotzdem erfolgte die erste Beratung der beiden Gesetzentwürfe erst am 10. Mai 1979. So verstrichen weitere acht Wochen zum Nachteil der schwerbehinderten Beamten und Richter. Meine Fraktion begrüßt das gesetzgeberische Ziel, wie ich schon sagte, aber sie hält den eingeschlagenen Weg für verfehlt. Ich darf kurz begründen, warum die Fraktion der CDU/CSU dieser Ansicht ist. Bei der Verabschiedung des Fünften Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes im Oktober 1978 hat der Bundestag die Bundesregierung ersucht - ich möchte mit der Erlaubnis der Frau Präsident zitieren -, einen Vorschlag zu machen, der die verschiedenen Grenzen für einen möglichen Hinzuverdienst von Rentenempfängern für Zeiten vom 60. bis zum vollendeten 65. Lebensjahr in der gesetzlichen Rentenversicherung von 1982 an - ich wiederhole: von 1982 an vereinheitlicht und gleiche Hinzuverdienstgrenzen für Bezieher von beamtenrechtlichen Versorgungsbezügen oder entsprechenden Versorgungsleistungen im öffentlichen Dienst einführt. Mir ist und bleibt es unverständlich, wieso die Koalition schon wenige Wochen später beim Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetz und auch jetzt wieder für eine einzelne Gruppe von Beamten und Richtern, und zwar ausgerechnet für die schwerbehinderten, eine vorgezogene Regelung dieser Art durchsetzen will, statt der Bundesregierung die Zeit zu lassen, ausgereifte Vorschläge zu der gesamten Hinzuverdienstproblematik zu machen. Schon bei der Beratung des Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes und der ersten Beratung dieser Gesetzentwürfe haben die Sprecher meiner Fraktion auf die systemwidrige Betrachtung des Problems durch die Koalition hingewiesen. Auch der Bundesrat hat diese Bedenken geltend gemacht. Das Beamtenversorgungsrecht läßt sich mit dem Rentenrecht nicht vergleichen oder gar identifizieren. Man kann vielmehr lediglich sagen, daß es sich in beiden Fällen um Versorgungssysteme handelt. Die Unterschiede zwischen den Rechtsgrundlagen sind aber so bedeutsam, daß eine Identifikation auf einem einzelnen Sektor beider Bereiche zwangsläufig zu Ergebnissen führt, die mit der Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen sind. Hier sei z. B. nur an den Status der Beamten, die Beitragszahlung der Arbeitnehmer, die steuerliche Verschiedenbehandlung von Pensionen und Renten erinnert, die bereits deutlich machen, daß eine einheitliche Zuverdienstgrenze im Versorgungs- und Rentenrecht vom Gleichheitsgebot des Art. 3 des Grundgesetzes nicht gedeckt werden kann, weil die zu beurteilenden Tatbestände zu ungleich sind. Der Vorschlag der Koalition führt zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß bei Schwerbehinderten eine Hinzuverdienstgrenze eingeführt wird, die bisher im Beamtenrecht unbekannt ist. Außerhalb des öffentlichen Dienstes erarbeitete Zuverdienste führBerger ({0}) ten bisher nicht zu einer Gehalts- oder Pensionskürzung. Das bedeutet, daß politische Beamte im einstweiligen Ruhestand außerhalb des öffentlichen Dienstes ohne Folgen hinzuverdienen können, soviel sie wollen. Das gilt selbst dann, wenn sie während der ersten fünf Jahre des einstweiligen Ruhestandes - übrigens gegen den Willen der CDU/CSU - 75 % ihrer letzten Dienstbezüge erhalten. Während die Koalition der Meinung ist, daß diese Problematik bis 1982 nicht in Angriff genommen werden muß, will sie ausgerechnet den vom Schicksal schwer gezeichneten Beamten und Richtern, die wegen ihrer Leiden mit 61 oder 60 Jahren in Pension gehen wollen, eine solche Zuverdienstgrenze zumuten. Das ist fürwahr keine soziale Lösung. Hinzu kommt, daß als Dienstvergehen geahndet werden soll, wenn die eingegangene Verpflichtung nicht eingehalten wird, nicht mehr als 425 DM im Monat hinzuzuverdienen. Dieses Dienstvergehen eines Ruhestandsbeamten ist im Disziplinarrecht systemfremd, weil gegen einen Beamten im Ruhestand nur unter eng und im Gesetz geregelten Voraussetzungen ein Disziplinarverfahren durchgeführt werden kann. Der Verstoß gegen die Hinzuverdienstbeschränkung soll also einen genauso schweren Unrechtsgehalt wie die Betätigung gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung im Sinne des Grundgesetzes bekommen. ({1}) In diesem Sinne bitte ich auch die Ausführungen meines Kollegen Regenspurger anläßlich der ersten Beratung am 10. Mai 1979 zu verstehen. Meine sehr. verehrten Damen und Herren von der Koalition, Sie können sich doch nicht wundern, wenn eine solche gesetzgeberische Maßnahme draußen im Lande nicht verstanden wird und zu Mißdeutungen Anlaß gibt. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß die Koalitionsfraktionen auch unter Inkaufnahme der dargelegten gravierenden rechtlichen Bedenken mit aller Gewalt die Gleichschaltung von schwerbehinderten Beamten und Richtern mit den Arbeitnehmern offenbar aus ideologischen Gründen erzwingen wollen. ({2}) Es ist ja nichts Neues, daß in den Reihen der SPD und auch der FDP utopische Vorstellungen entwickelt werden, - ({3}) - Ich habe Ihre Zwischenrufe leider nicht verstehen können, Herr Wehner. ({4}) - Hier geht es der SPD wohl um die Gleichbehandlung von schwerbehinderten Beamten und Richtern mit den Arbeitnehmern, und man kann das aus ideologischen Gründen wohl auch als Gleichschaltung bezeichnen, ohne daß man damit an Dinge erinnert wird, mit denen es nun weiß Gott nichts zu tun hat und mit denen ich nichts zu tun habe. ({5}) - Es ist interessant, daß Sie Gott anrufen, Herr Wehner. Das wundert mich. ({6}) - Wenn Sie kein Heuchler sind, Herr Wehner, dann - ({7}) - Ich habe Ihnen das nicht vorgeworfen. Sie haben festgestellt, daß Sie kein Heuchler sind; ich habe dazu überhaupt keine Erklärung abgegeben. ({8}) Es ist ja nichts Neues, daß in den Reihen der SPD und auch teilweise der FDP utopische Vorstellungen entwickelt werden, wonach Beamte, Angestellte und Arbeiter in allen Bereichen völlig gleichgestellt werden sollen. Herr Wehner, gegen das Wort „gleichgestellt" werden Sie wohl nichts sagen, auch wenn Ihnen das Wort „gleichgeschaltet" nicht gefällt. ({9}) Ich weise nochmals mit allem Nachdruck darauf hin, daß dieses Ziel nicht erreicht werden kann, weil zwischen den einzelnen Bereichen fundamentale Unterschiede bestehen. Die vorgesehene Neufassung von § 26 Absatz 3 des Beamtenrechtsrahmengesetzes muß von den Ländern noch in ihre Beamtengesetze umgesetzt werden. Das sollte in einem beschleunigten Verfahren erfolgen, weil sonst die Gefahr besteht, daß die 61jährigen schwerbehinderten Beamten und Richter der Länder nicht mehr in den Genuß der vorgesehenen Neuregelung kommen. Die Ihnen zur Beschlußfassung vorgelegte Neufassung von § 42 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes könnte zu Mißdeutungen Anlaß geben. Spätere Leser des Gesetzes könnten nämlich meinen, daß der Zeitraum, während dessen die Zuverdienstbeschränkung gilt, auch für schwerbehinderte Beamte den Zeitraum vom vollendeten 60. bis zum vollendeten 63. Lebensjahr umfaßt. Deswegen kam auch vom mitberatenden Rechtsauschuß der entsprechende Hinweis. Der Beauftragte der Bundesregierung hat in der Ausschußsitzung auf meine Frage hin erklärt, die Bundesregierung gehe davon aus, daß dies nicht beabsichtigt sei, sondern daß es insoweit eine Verschlechterung gegenüber dem bisher geltenden Recht nicht geben sollte, weil schwerbehinderte Beamte und Richter schon nach geltendem Recht mit vollendetem 62. Lebensjahr ohne eine Zuverdienst12596 Berger ({10}) grenze in den Ruhestand treten können. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß die Koalition ebenfalls dieser Auffassung ist. Wir bedauern in diesem Zusammenhang, daß es nicht möglich gewesen ist, die durch das Haushaltsstrukturgesetz von 1975 heraufgesetzte Antragsaltersgrenze im Bundesbeamtengesetz wieder auf das 62. Lebensjahr herabzusetzen. Dies tun wir vor allen Dingen deshalb, weil es nur noch ein Land in der Bundesrepublik Deutschland gibt, das die Bundesregelung übernommen und beibehalten hat. Das Land Bremen hat bekanntlich im Dezember letzten Jahres die Antragsgrenze wieder auf das 62. Lebensjahr gesenkt. Hier hätte die Koalition eine Chance gehabt, eine arbeitsmarktpolitisch sinnvolle Maßnahme zu beschließen. Lassen Sie mich zum Schluß hier auch noch darauf hinweisen, daß für Beamtinnen und Arbeitnehmerinnen hinsichtlich der Möglichkeit, das Arbeitsleben auf eigenen Antrag ohne Nachweis der Dienstunfähigkeit oder der Berufsunfähigkeit zu beenden, nach wie vor ein gravierender Unterschied besteht und daß wir auf das Ergebnis der Prüfung warten, um die die Bundesregierung vom Innenausschuß anläßlich der Beratung des 7. Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes zu dieser Frage gebeten worden ist. Eine letzte Bemerkung: Im Gegensatz zu den Fraktionen der SPD und der FDP hält meine Fraktion das Gesetz im Bundesrat für zustimmungsbedürftig. Auch deshalb hegt meine Fraktion stärkste Bedenken gegen den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form. Wenn meine Fraktion dem Gesetz in der Schlußabstimmung trotzdem zustimmt, so nur deshalb, weil es nicht länger vertretbar ist, den Schwerbehinderten Beamten und Richtern den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand zu verwehren. Sie sind bereits lange genug hingehalten worden. ({11})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Brandt.

Hugo Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000245, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Ziel sind wir uns einig, Herr Berger, daß wir die Beamten und Richter ebenfalls in die Lage versetzen, wenn sie schwerbehindert sind, mit dem 61. Lebensjahr und ab dem 1. Januar 1980 mit dem 60. Lebensjahr in Pension zu gehen. Wir haben, soweit es an uns liegt, diesen Gesetzentwurf sehr schnell bearbeitet. Sie wissen, daß wir die erste Lesung am 10. Mai hier hatten, am 16. Mai haben wir im Innenausschuß beraten und beschlossen, und jetzt haben wir hier die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfs. Auch wir sind der Meinung, daß dies keine Verzögerung mehr verträgt, denn die Gleichstellung von Beamten und Richtern mit Arbeitern und Angestellten in diesem Bereich und in diesem sozialpolitischen Fortschritt ist dringend notwendig. Wir bedauern ebenfalls, daß es zu dieser Verzögerung gekommen ist, nur sehen wir die Ursachen etwas anders, als Sie sie hier dargestellt haben. Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, daß uns eine Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten, wie sie das Fünfte Rentenversicherungsänderungsgesetz festgelegt hat, mit Beamten und Richtern, wie sie jetzt festgelegt wird, dringend notwendig erscheint. Der Zielpunkt ergibt sich nicht aus der Tatsache, daß die einen Angestellte und Arbeiter sind und die anderen Beamte und Richter, sondern daß beide großen Gruppen Schwerbehinderte sind und deshalb der Gleichbehandlung bedürfen. ({0}) Dies ist der Zielpunkt. Wir verstehen nicht recht, wenn von Systemwidrigkeiten gesprochen wird. Sie haben sicherlich recht, wenn Sie uns vorhalten - wir bestreiten dies überhaupt nicht -, daß wir uns in mancher Beziehung mehr Gleichstellung von Arbeitern, Angestellten und Beamten wünschen, denn manche Unterschiede dort sind veraltet und unserer Zeit nicht mehr angemessen. ({1}) Hier wird auch vieles aus Tradition übernommen, was Sie dann systemgerecht nennen. Jedes System hat einmal seine Berechtigung zum Zeitpunkt seiner Entstehung gehabt und verliert seine Berechtigung zumindest in Teilen in Zeiten, in denen andere Verhältnisse da sind. Das hat alles sehr wenig mit diesem Gesetzentwurf zu tun. Wir haben die Zuverdienstgrenze, die wir Arbeitern und Angestellten zumuten, bei gleichem Tatbestand auch für Beamte und Richter für zumutbar gehalten. Ich glaube, diejenigen, die davon betroffen sind, empfinden es auch so, daß es Ihnen zugemutet werden kann. ({2}) Wir haben diese Zuverdienstgrenze in der Tat an eine disziplinarrechtliche Maßnahme angebunden. Man muß aber dazusagen - Sie haben es getan, und ich stelle es in einen anderen Zusammenhang -, daß dies auf einer Freiwilligkeitserklärung desjenigen beruht, der davon Gebrauch machen will, und daß er diese Erklärung im klaren Bewußtsein dessen, was darauf folgen kann, abgibt, daß er weiß, worum es sich handelt, und daß er es einsieht. Ich bin sicher, daß die Beamten selbst mehr Einsicht haben als etwa der Beamtenbund. ({3}) Ich glaube, daß dieses Gesetz, das einen sozialpolitischen Fortschritt bringt, draußen auch mit diesen Klauseln versehen als ein sozialpolitischer Fortschritt verstanden wird. Deshalb stimmen wir für dieses Gesetz und bitten um eine sehr rasche Umsetzung nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern. ({4})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Wendig.

Dr. Friedrich Wendig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002477, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich kann mich nach der vorangegangenen Debatte ganz kurz fassen. Beide Gesetzentwürfe haben das gleiche Ziel, nämlich die vorzeitige Zurruhesetzung schwerbeschädigter Beamter und Richter stufenweise mit dem 61. bzw. 60. Jahr zu erreichen. Das ist eine sozialpolitische Entwicklung, die wir in der Tendenz seit langem verfolgt haben. Wir würden es sehr begrüßen, wenn es sehr bald gelänge, dies nun in die Wirklichkeit umzusetzen. Herr Kollege Berger, ich habe kein Verständnis für Ihre Klage darüber, daß dies verzögerlich behandelt worden sei. Wir haben das, gerade wenn man die Belastung des Innenausschusses insgesamt mit Gesetzgebungsvorhaben berücksichtigt, außerordentlich zügig behandelt. Die unterschiedlichen Auffassungen bestehen im Grunde darin - ich kann mich da ganz kurz fassen, es ist schon dargelegt -, inwieweit bei der Inanspruchnahme der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand zusätzliche Einschränkungen erfolgen sollen. Es geht also um die Frage der Zuverdienstgrenze. Wir haben dies schon beim letzten Besoldungserhöhungsgesetz bejaht und haben das mit dem, so will ich einmal vorsichtig formulieren, vielleicht ein wenig unglücklichen Sanktionsmodell einer Reaktivierung bei Verstoß verbunden; da räume ich ein, daß das keine sehr glückliche Lösung war. Aber im Prinzip halten wir an der Festlegung einer Hinzuverdienstgrenze fest. Man meine nicht, daß dies eine Systemwidrigkeit wäre. Ich will hier zu grundsätzlichen Fragen des Beamtenrechts auf der einen und des Tarifrechts auf der anderen Seite gar nicht Stellung nehmen. Von utopischen Vorstellungen, von denen Sie, Herr Kollege Berger, sprachen, kann in diesem Zusammenhang, glaube ich, nicht die Rede sein. Wir halten an dieser Auffassung fest, weil wir meinen, daß von einem Beamten, der wegen seiner Schwerbehinderung und damit wegen seiner eingeschränkten Arbeitsfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand geht, mit Recht erwartet werden kann, daß er keine neue Tätigkeit erheblichen Umfangs aufnimmt, und wir halten es vor allem aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nicht für wünschenswert, daß gerade dieser Personenkreis bei voller sozialer Absicherung erneut in erheblichem Umfange dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Das war dabei unser Gedankengang. Meine Damen und Herren, wir haben heute als anderes Modell die Einfügung eines Tatbestandes eingeführt, der einen Verstoß gegen die Hinzuverdienstgrenze als ein Disziplinarvergehen ansieht. Mein Kollege Wolfgramm hat schon bei der ersten Lesung zum Ausdruck gebracht, daß wir sicher auch noch andere Modelle hätten überlegen können, die vielleicht wirksamer wären, aber wir haben keines gefunden. Es ist richtig, daß das geltende Disziplinarrecht für Ruhestandsbeamte im Grunde genommen sehr viel stärkere Tatbestände vor Augen hat. Aber so etwas läßt sich ja abstufen, und dies ist ein im Sinne einer Abstufung schwächer zu bewertendes Dienstvergehen. So etwas ist durchaus möglich. Wir werden allerdings bei der Ausführung des Gesetzes sehr sorgfältig beobachten, ob das Instrument, das wir mit dieser Regelung einführen wollen, wirklich so wirksam ist, wie wir es erwarten. Im übrigen halten auch wir dieses Gesetz nicht für zustimmungsbedürftig. Wir wünschen sehr, daß es sehr bald in Kraft tritt, damit diejenigen, denen es zugute kommen soll, bald an den Vorteilen und den Vorzügen dieses Gesetzes teilhaben können. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache. Ich rufe die Bestimmungen des Entwurfs auf Drucksache 8/2710 zur Abstimmung in zweiter Beratung auf. Wer den §§ 1 bis 5, Einleitung und Überschrift die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen. Wir kommen zur dritten Beratung. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Soll der Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2656 jetzt noch in Einzelberatung aufgerufen werden? ({0}) - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zu Nr. 2 der Beschlußempfehlung. Wer die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke schön. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen. Unter Nr. 3 der Beschlußempfehlung wird empfohlen, die eingegangenen Petitionen und Eingaben für erledigt zu erklären. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Punkt 13 der Tagesordnung auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 9. Juni 1978 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Autobahnzusammenschluß im Raum Basel und Weil am Rhein - Drucksache 8/2592 - a) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 8/2865 Berichterstatter: Abgeordneter Müller ({2}) Vizepräsident Frau Funcke b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen ({3}) - Drucksache 8/2836 Berichterstatter: Abgeordneter Bindig ({4}) Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Auch das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht. Wir kommen in zweiter Beratung zur Abstimmung über die Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift. Die Abstimmung hierüber verbinde ich mit der Schlußabstimmung. Wer insgesamt seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen. Es ist vereinbart, Punkt 14 der Tagesordnung - Sammelübersicht 47 über Anträge zu Petitionen - morgen früh nach der Fragestunde aufzurufen. Ich rufe nunmehr die Punkte 15 und 16 der Tagesordnung auf: 15. Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs ({6}) - Drucksachen 8/2537, 8/2852 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Ahrens 16. Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Siebzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 8/2564, 8/2853 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Ahrens Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Es handelt sich hierbei um Berichte des Ausschusses für Wirtschaft, von denen das Haus nur Kenntnis zu nehmen braucht, soweit nicht Anträge aus der Mitte des Hauses vorliegen. Es liegen keine Anträge vor. Ich stelle damit fest, daß das Haus von den Berichten des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 8/2852 und 8/2853 Kenntnis genommen hat. Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe das Haus auf morgen, Freitag, den 1. Juni, 8 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.