Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/13/2022

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat sich mit der Einführung des Bürgergeldes zwei zentrale Ziele gesetzt. Erstens. Wir wollen Menschen verlässlich absichern, die in existenzielle Not geraten sind. Wie schnell das geht, haben wir in den letzten zwei Jahren der Coronapandemie erlebt. Wir haben erlebt, dass Soloselbstständige, die nie gedacht haben, dass sie mal auf ergänzende Grundsicherung angewiesen sind, darauf zurückgreifen mussten. Wir haben auch erlebt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die geringe Löhne hatten und die in Kurzarbeit gekommen sind, ergänzende Grundsicherung brauchten. Deshalb, meine Damen und Herren: Eine verlässliche Absicherung, so unbürokratisch wie möglich, ist das Ziel dieser Reform. Es geht auch darum, dass wir dafür sorgen, dass Menschen, die in existenzielle Not geraten sind, sich nicht Sorgen machen müssen, dass sie auch noch ihre Wohnung verlieren. Wir wollen auch – das ist eine Frage des Respekts vor Lebensleistung –, dass kleines Erspartes nicht angetastet werden muss. Hinzu kommt auch, dass wir dafür sorgen werden, dass die Regelsätze gerade in dieser Zeit angemessen angepasst werden. Die Regelsätze beim Bürgergeld werden nicht mehr der Inflation hinterherlaufen. ({0}) Meine Damen und Herren, das erste Ziel der Koalition beim Bürgergeld ist also, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die Hilfe benötigen, die auf existenzielle Leistungen angewiesen sind, diese auch bekommen. Das ist ein Sozialstaatsgebot, ein Schutzversprechen unseres Sozialstaates, das wir mit dem Bürgergeld erneuern. ({1}) Zweitens. Ziel ist auch – das ist mir noch wichtiger –, dass wir nicht nur existenzielle Not absichern, sondern auch dafür sorgen, dass Menschen dauerhaft aus der Not wieder herauskommen. Wir haben eine Situation am Arbeitsmarkt, die nicht vergleichbar ist mit der von vor 20 Jahren. Als die Hartz-IV-Regeln eingeführt wurden, hatten wir Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Heute haben wir in vielen Bereichen Arbeits- und Fachkräftemangel. Ja, wir haben immer noch einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit. Aber wenn man sich anschaut, woran das liegt, sieht man, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das bisherige System führt dazu, dass diese Menschen dann hin und wieder mal in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, das Jobcenter sie aber oft erst nach einigen Monaten oder Jahren wiedersieht. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit schaffen, einen Berufsabschluss nachzuholen. Wir sorgen dafür, dass das auch unterstützt und angereizt wird. Es geht um dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt. Es geht um gute Arbeit statt Hilfsjobs, meine Damen und Herren. ({2}) Wir haben uns dafür ganz lange damit beschäftigt, wie wir das System besser machen können. Wir haben mit den betroffenen Menschen gesprochen. Wir haben mit den Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern gesprochen, die übrigens eine großartige Arbeit machen. ({3}) Wir haben mit der Wissenschaft gesprochen. Wir haben uns Systeme in anderen Ländern angeguckt. Und wir sind der festen Überzeugung, dass Ausbildung statt Aushilfsjobs, dass die Einführung des Weiterbildungsgeldes der richtige Weg ist und dass die Integration in den Arbeitsmarkt übrigens auch dafür sorgen wird, dass wir einen Beitrag zur Fachkräftesicherung in Deutschland leisten. Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen im Vorfeld dieser ersten Lesung ist schon sehr intensiv diskutiert worden. Das ist in der Demokratie auch vollkommen in Ordnung. Aber lassen Sie mich eines ganz deutlich sagen: In diesen Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt bedroht ist, finde ich persönlich es unanständig, dass es einige politische Kräfte selbst im demokratischen Spektrum gibt, die versuchen, Geringverdiener gegen Bedürftige und Bedürftige gegen Flüchtlinge auszuspielen. Das gehört sich nicht, meine Damen und Herren. Wir müssen die Gesellschaft doch zusammenhalten. ({4}) Das sage ich auch an die Adresse der CDU/CSU: Wir als Koalition, als Ampelkoalition wollen, dass Arbeit sich lohnt, dass Arbeit einen Unterschied macht. ({5}) Das ist der Grund, warum wir dafür gesorgt haben, dass der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wird. Sie haben da nicht mitgemacht. ({6}) Das ist der Grund, warum diese Koalition Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener gesenkt hat. Das ist der Grund, warum wir das Kindergeld erhöhen. Das ist der Grund, warum wir die Gaspreise runterbringen, den Kinderzuschlag erhöht haben und den steuerlichen Grundfreibetrag angehoben haben. Arbeit muss sich lohnen. Wer Vollzeit arbeitet, muss von der Arbeit leben können. Aber bedürftige Menschen gegen Menschen mit geringem Einkommen auszuspielen, das ist kein Beitrag für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das gehört sich nicht in diesem Land, meine Damen und Herren. ({7}) Wir müssen in dieser gesellschaftlichen Lage die gesamte Gesellschaft im Blick haben und dürfen nicht Gruppen gegeneinander ausspielen. Deshalb noch mal: Das Bürgergeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen. Das Bürgergeld ist eine existenzielle Sicherung für Menschen in Not. Ich will übrigens sagen, dass die Debatte auch nicht dazu führen darf, dass Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, sich schämen, diese auch in Anspruch zu nehmen; das dürfen wir in Deutschland nicht zulassen. ({8}) Es wird ja einiges verbreitet. Ich habe gelesen, es sei ein bedingungsloses Grundeinkommen, das wir einführen. Nein, das ist es nicht. Es gibt einige, die sich das in Deutschland wünschen. Die Koalition geht bewusst einen anderen Weg. Wir haben entschieden, dass wir einen Weg gehen, bei dem wir nicht alle Menschen, die in Not geraten sind, unter Generalverdacht stellen wollen, zu faul zu sein, zu arbeiten. Das ist übrigens nicht die Realität. Es gibt sehr, sehr viele Menschen – ich habe mit vielen gesprochen –, die unverschuldet in Not geraten sind, weil ihnen beispielsweise ein Schicksalsschlag dazwischengekommen ist. Es gibt hartnäckige Fälle; in denen es Mitwirkungspflichten und übrigens dann auch Leistungsminderungen braucht – die sind übrigens im Gesetz vorgesehen –, bei akuten und wiederholten Meldeversäumnissen und Pflichtverletzungen. Aber ich sage auch: Wir konzentrieren das Thema Sanktionen auf die hartnäckigen Fälle, bei denen es angebracht ist. Der Geist des Bürgergelds, meine Damen und Herren, ist ein anderer: Es ist der Geist der Ermutigung und der Befähigung. Und auch das leistet einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt. ({9}) Deshalb abschließend: Die Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar wird eine der größeren Sozialreformen seit 20 Jahren sein. Ich bitte Sie, mitzuhelfen, dass wir das auch schaffen. Denn es geht nicht nur um die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind und denen wir damit das Leben ein Stück leichter machen, sondern es geht um den sozialen Zusammenhalt. Deshalb sage ich: Das Bürgergeld bedeutet Grundsicherheit für unser ganzes Land. Und deshalb bitte ich Sie um Unterstützung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Stracke. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland sucht händeringend nach Arbeitskräften. Die Zahl der offenen Stellen befindet sich auf einem Rekordhoch; bundesweit sind über 1,9 Millionen Stellen unbesetzt, egal wohin man blickt: in der Gastronomie, im Einzelhandel, im Handwerk, in der Industrie. Gleichzeitig suchen 2,4 Millionen Arbeitslose eine Stelle, 930 000 davon bereits seit Jahren. Aufgabe muss es jetzt sein, die Arbeitslosen deutlich besser als bisher zu den offenen Stellen zu bringen. Wir müssen alles dafür tun, möglichst viele Menschen dauerhaft in Arbeit zu bringen. Das Bürgergeld wird dieser Aufgabe nicht gerecht; es ist eine verpasste Chance, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Wir als Union wollen arbeitslose Menschen möglichst rasch und dauerhaft in Arbeit bringen. Dabei wollen wir das Fordern bewahren und das Fördern deutlich besser machen. ({1}) Die links-gelbe Koalition will die Grundsicherung vor allem besser ausstatten. Sie will mehr Leistung, deutlich weniger Mitwirkungspflichten und weniger Vermittlung in Arbeit. Das geht vollkommen in die falsche Richtung. ({2}) Wir als Union wollen, dass die Hilfe des Sozialstaats denen zuteilwird, die sich selbst nicht helfen können. Das ist auch ein Gebot der Fairness gegenüber den Steuerzahlern; ({3}) denn diese sind es ja, die mit ihren Steuermitteln die Leistungen erst möglich machen. Gleichzeitig wollen wir die Grundsicherung so weiterentwickeln, dass Leistung und Lebensleistung der Hilfebedürftigen besser berücksichtigt werden. Arbeit muss sich auch in der Grundsicherung lohnen. ({4}) Die links-gelbe Koalition blendet demgegenüber durch eine zweijährige Karenzzeit die Erwerbsbiografie und die Lebensleistung von Menschen aus: beim Vermögen und beim Wohnen. Das ist eine eklatante Gerechtigkeitslücke. Auch da geht das Bürgergeld in die falsche Richtung. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen, dass Arbeitslose nicht zu Langzeitarbeitslosen werden. Deshalb müssen wir ab dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit alles dafür tun, dass die Hilfe überflüssig wird, dass Arbeitsaufnahme gelingt. ({6}) Und dazu braucht es eine intensive Betreuung und Beratung und eine passgenaue Unterstützung. Wir wollen dazu ermutigen, dass sich die Potenziale entwickeln, dass neue Chancen mutig ergriffen werden, dass jeder und jedem geholfen wird, einen Platz in der Arbeitsgesellschaft zu finden, damit beruflicher Aufstieg und auch gesellschaftliche Teilhabe besser gelingen. Dazu braucht es Hilfe, nicht nur für den Betroffenen, sondern für die gesamte Familie. ({7}) Hilfe aus einer Hand zusammen mit den Kommunen sorgt für größere und nachhaltigere Erfolge. ({8}) Und die Jobcentermitarbeiter brauchen endlich auch mehr Zeit, um sich um den Einzelnen verstärkt kümmern zu können. ({9}) Dies würde am besten gelingen, wenn man den Betreuungsschlüssel verändert. Nichts von alldem – nichts von alldem! – ist im Bürgergeld-Gesetz enthalten und wird aufgegriffen. ({10}) Das Bürgergeld ist hier eine verpasste Chance bei der Integration in Arbeit. ({11}) Schlimmer noch: Alle Erfahrung zeigt, dass es besonders auf die ersten Monate in Arbeitslosigkeit ankommt. Es sind die wichtigsten Monate, wenn man aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit kommen will. Und anstatt besonders in den ersten Monaten alles daranzusetzen, um zu aktivieren, zu mobilisieren, zu motivieren, ja notfalls bei Pflichtverstößen auch mit Leistungskürzungen zu antworten, setzen Sie bei der Ampel mit einer sechsmonatigen Schonzeit – Sie nennen das witzigerweise „Vertrauenszeit“ – genau das entgegengesetzte Signal. ({12}) Statt auf Motivation setzen Sie auf unverbindliche Kooperation. So kann der Weg aus Arbeitslosigkeit nicht gelingen. Der Weg zurück in Arbeit wird deshalb schwieriger, weil die Ampel die Vermittlung in Arbeit nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert. Sie kürzen – nach dem Haushaltsentwurf – die Mittel der Eingliederung um 600 Millionen Euro. Das bedeutet weniger Möglichkeiten, weniger Chancen für Arbeitslose, Fuß zu fassen in Arbeit. ({13}) Das ist schlicht fatal, was Sie an dieser Stelle machen. ({14}) Anstatt zu kürzen, wäre es viel wichtiger, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen; denn die Flüchtlinge aus der Ukraine brauchen jetzt unsere Unterstützung. ({15}) Die Mittelkürzungen der Ampel sind arbeitsmarktpolitisch falsch und integrationsfeindlich noch dazu. ({16}) – Sie sind die Regierung; Sie müssen Ihre eigenen Kürzungen verantworten, Herr Kollege, und dürfen hier nicht auf die Opposition verweisen. ({17}) Wir wollen beim Fördern deutlich besser werden und auf das Fordern nicht verzichten. Zur Wahrheit gehört ja, dass über 95 Prozent derer, die sich in Arbeitslosigkeit befinden, mit Pflichtverstößen, mit Sanktionen nichts zu tun haben, weil sie sich wie selbstverständlich an die Regeln halten. ({18}) Die links-gelbe Koalition hat ja aktuell dafür gesorgt, dass wir im Kern ein bedingungsloses Grundeinkommen haben, und zwar bis Mitte nächsten Jahres. ({19}) – Ja, hören Sie nur zu! – Das bedeutet, dass Hartz-IV-Empfänger nach der aktuellen Rechtslage jedes Arbeitsangebot, jeden Integrationskurs, jeden Deutschkurs, jede Weiterbildung folgenlos ablehnen können. ({20}) – Ja, schreien Sie nur! – Es ist erstaunlich, dass die Arbeiterpartei SPD einem solchen Gesetzentwurf zustimmt, und es ist noch erstaunlicher, dass die FDP diesem Sanktionsmoratorium zugestimmt hat. ({21}) Wird jetzt mit dem Bürgergeld eigentlich alles besser? ({22}) Ich darf hier mal aus einem Interview mit Johannes Vogel vom 22. Juli im Deutschlandfunk zitieren: Es muss, wie vor dem Bürgergeld, die Möglichkeit der Sanktion geben in dem Ausmaß, wie das Verfassungsgericht das zulässt. Alles andere ist unfair. – Zitat Ende. ({23}) Genau das ist es nicht, was Sie in diesem Gesetzentwurf machen. Sie bleiben weit hinter dem zurück, was das Verfassungsgericht in diesem Bereich zulässt. ({24}) Das zeigt auch einmal: Sie bellen, und am Ende nicken Sie ab. ({25}) Sie als FDP sind der Wackeldackel dieser Koalition, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({26}) Das Bürgergeld geht komplett in die falsche Richtung. Es fordert nicht, es fördert nicht in dem Maße, wie es notwendig ist. ({27}) Ich freue mich auf die weiteren Beratungen, weil ich glaube: Dieses Gesetz kann nur besser werden, am besten mit einer Ablehnung und einer vollkommenen Neuaufsetzung dieses Gesetzentwurfs. ({28})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Vor drei Jahren habe ich hier gestanden und darüber geredet, was sich bei Hartz IV und bei der Arbeitsförderung alles ändern muss. Jetzt ist es so weit: Das Bürgergeld kommt. Es ist gut, dass wir Hartz IV endlich überwinden. ({0}) Die Menschen brauchen natürlich soziale Sicherheit. Wichtig ist vor allem aber, dass wir die Menschen, die lange arbeitslos sind, unterstützen und stärken. Sie brauchen neue Chancen und Perspektiven. Deshalb werden wir die Beratungen und die Arbeitsförderung anders gestalten, und genau dieser Perspektivwechsel ist für uns beim Bürgergeld besonders wichtig. ({1}) Menschen sind aus ganz unterschiedlichen Gründen langzeitarbeitslos. Manche haben keine Ausbildung, andere haben gesundheitliche Probleme, und manchmal ist es einfach nur das Alter. Auf diese unterschiedlichen Problemlagen aber hat Hartz IV heute immer die gleiche Antwort, und zwar lautet sie: Aktivierung. Genau diese verfehlte Logik werden wir mit dem Bürgergeld verändern. ({2}) Diesen Perspektivwechsel möchte ich mit drei Punkten ganz kurz verdeutlichen: Erstens. Wir schaffen Augenhöhe und Vertrauen. Vertrauen entsteht, wenn die Zusammenarbeit in den Jobcentern gut funktioniert, und zwar ohne dass in jedem Brief gleich mit Sanktionen gedroht wird. ({3}) Deshalb ersetzen wir die Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan. Er wird gemeinsam erarbeitet, er ist niederschwellig, er ist verständlich. Er nimmt Rücksicht auf die Vorstellungen der Menschen; denn nur wenn die Erwerbslosen die Integrationsschritte nachvollziehen können, wenn die Angebote für die Menschen Sinn machen, kann der Weg zurück in den Arbeitsmarkt gelingen. ({4}) Zweitens. Wir stellen Qualifizierung, Weiterbildung, Ausbildung in den Mittelpunkt und werden das auch attraktiv machen, und zwar mit einem Bürgergeldbonus und mit einem zusätzlichen Weiterbildungsgeld in Höhe von monatlich 150 Euro. Das ist uns ein besonderes Anliegen; denn Qualifizierung ist Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in Arbeit. ({5}) Drittens. Die Arbeitsförderung muss tatsächlich zu den Menschen passen. Bei manchen Langzeitarbeitslosen funktioniert Vermittlung. Andere brauchen zunächst Qualifizierung und Weiterbildung, und wieder andere brauchen erst einmal geschützte Räume und soziale Teilhabe. Dieser Unterschiedlichkeit müssen wir gerecht werden, und zwar mit individuellen Angeboten. Deshalb werden wir den Vermittlungsvorrang abschaffen. Und wir werden den sozialen Arbeitsmarkt entfristen; denn Arbeit bedeutet soziale Kontakte, Wertschätzung, Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Das ist wichtig; denn hier geht es um die Würde der Menschen. ({6}) Langzeitarbeitslose Menschen sind lange arbeitslos, weil die Arbeitswelt nicht inklusiv ist. Wenn die Menschen nicht hundertprozentig passen oder Unterstützung benötigen, dann haben sie häufig keine Chance. Deswegen hilft Aktivierung eben nicht. Dabei geht es nicht um Kritik an der Arbeit und am Engagement der Beschäftigten in den Jobcentern, sondern es geht um die gesetzlichen Grundlagen, und die werden wir mit dem Bürgergeld-Gesetz verändern. Davon werden die Langzeitarbeitslosen profitieren. ({7}) Davon bin ich zutiefst überzeugt; denn das Bürgergeld hat einen anderen, einen wertschätzenden Blick. Vielen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Gerrit Huy. ({0})

Gerrit Huy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005091, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion setzt dem Bürgergeld einen eigenen Antrag entgegen, weil wir nicht glauben, dass das Bürgergeld funktionieren wird. Es ist nichts anderes als ein aufgeweichtes Hartz IV, und das hat schon nicht funktioniert. So war es beispielsweise nicht möglich, aus dem Millionenheer der Hartz‑IV-Leistungsbezieher auch nur 100 oder 200 Personen für den Koffertransport an deutschen Flughäfen zu rekrutieren. Dabei sind – hören Sie gut zu! – gut 8 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter bei uns im Land Hartz‑IV-Empfänger. Das ist ein sehr großer Anteil Menschen, die von der Arbeit der Steuerzahler leben. Allein die Krankenkosten für diese Gruppe einschließlich ihrer Familien betragen über 20 Milliarden Euro im Jahr. In Dänemark, Schweden oder Belgien hingegen liegt der vergleichbare Anteil bei gerade mal 2 Prozent, also bei einem Viertel. Da muss man sich schon fragen, was diese Länder besser machen. ({0}) Deswegen möchte ich mit Ihnen kurz dorthin schauen: Allen Ländern ist gemein, dass vor dem Schonvermögen das eigene Kapital aufgebraucht werden muss. Diese Schonvermögen liegen in der Regel unter 5 000 Euro, in jedem Fall deutlich unter den deutschen 60 000 Euro. Und eine angebotene Arbeit muss im Grundsatz auch angenommen werden. ({1}) In den Niederlanden muss man zudem aktiv in der eigenen Wohngemeinde selbst Arbeit suchen, andernfalls bis zu drei Stunden Fahrzeit pro Tag in Kauf nehmen, oder man muss umziehen. Sonst wird die Sozialhilfe gekürzt. In Italien gibt es das Bürgereinkommen für Erwerbsfähige nur, wenn man in den letzten zwölf Monaten seine Stelle nicht gekündigt hat und auch kein anderes Familienmitglied dies getan hat; sonst wird die Sozialhilfe gekürzt. In Frankreich werden beim Bezug der Mindestsicherung Wohnungen, Autos und Schmuck gegengerechnet. In Österreich muss man sein Auto gleich verkaufen, wenn es nicht für den Beruf benötigt wird; ein Arbeitsweg von insgesamt zwei Stunden ist zumutbar. Wer Schulungen nicht besucht, eine Wiedereingliederungsmaßnahme ablehnt oder zu wenig Eigeninitiative zeigt, riskiert zwei Drittel der Leistungen. Asylberechtigte müssen zudem innerhalb enger Fristen den Besuch eines Wertekurses und Sprachkenntnisse auf A2‑Niveau nachweisen. Und in der Schweiz schließlich muss sich jeder Leistungsempfänger zügig nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen und ausreichend Bewerbungen verschicken. Wer Arbeit gefunden hat, muss die Sozialhilfe wieder zurückzahlen. ({2}) Unsere Nachbarn achten also streng darauf, dass ihre Mindestsicherung nur als vorübergehende Hilfe genutzt werden kann. ({3}) Dadurch sind sie wesentlich erfolgreicher bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt. Nicht so bei uns: In mehr als der Hälfte der Fälle schaffen es die Jobcenter nicht, ({4}) die Arbeitschancen der Arbeitslosen zu erhöhen, sagt die interne Revision. Es mangelt ihnen an Zeit und Kontaktmöglichkeiten und nicht selten auch an der Motivation der Leistungsempfänger. So sagt der Sozialexperte Professor Raffelhüschen – ({5}) – so wird er genannt; aber rechnen kann er –: Für Hartz‑IV-Bezieher mit Familie ist die Stütze zu hoch. Sie haben „mit Hartz IV deutlich mehr, als wenn sie Einkommen aufgrund ihrer Qualifikation beziehen würden“. ({6}) Und auch Handwerkspräsident Wollseifer fürchtet: Wer arbeitet, ist zukünftig der Dumme, meine Damen und Herren. Wir wollen nicht, dass er recht behält. ({7}) Deshalb stellen wir einen Antrag für eine aktivierende Grundsicherung, die Leistungsempfänger zügig wieder in Arbeit vermittelt. Danke schön. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Jens Teutrine. ({0})

Jens Teutrine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005238, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Versprechen unseres Sozialstaates ist, diejenigen mit einem sozialen Sicherungsnetz aufzufangen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst sorgen zu können. Dabei liegt die Betonung bewusst auf „können“. Ein Sozialstaat, dem es aber nur darum geht, finanzielle Bedürftigkeit zu fördern, ist nicht an sich sozial. Sozial ist er erst, wenn er auch Menschen dabei unterstützt, sich durch eigene Arbeit aus der sozialen Bedürftigkeit zu befreien. Das ist aber kein Widerspruch. Solidarität und der Ansatz, Menschen in Arbeit zu integrieren, ist kein Widerspruch, sondern beides gehört zu den Grundsäulen des Sozialstaates. ({0}) Gucken wir doch mal ins Gesetz. Sie haben gesagt, den Arbeits- und Fachkräftemangel werde das Bürgergeld nicht vollkommen beseitigen können; wir hätten so viele offene Stellen auf der einen und so viele Menschen in Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite. – Hartz IV hat das auch nicht geschafft. ({1}) Ihr System, das Sie heute verteidigen und das Sie so beibehalten wollen, das Sie nicht verändern wollen, hat dieses Problem auch nicht gelöst. ({2}) Ein Beispiel, wieso das nie gelöst wurde, sind die absurden Hinzuverdienstregelungen im Hartz‑IV-System. Wenn Menschen anfangen, mehr zu arbeiten, die Motivation haben, sich Stück für Stück mit einem Job herauszuarbeiten, dann sind die Regelungen so, dass Menschen zum Teil weniger haben, wenn sie mehr arbeiten gehen und aufstocken. Der Anreiz ist genau falsch gesetzt. ({3}) Der Anreiz muss so sein: Menschen, die mehr arbeiten, haben auch immer mehr in der Tasche. Deswegen passen wir die Hinzuverdienstregelungen – ich weiß, dass Sie im Kern die Reform der Hinzuverdienstregelungen teilen – in einem ersten Schritt an, und zwar oberhalb der Minijobs. Wir wollen nicht, dass Menschen in Minijobs gefangen sind, sondern, dass sie sich mithilfe sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen herausarbeiten. Deshalb werden wir die Hinzuverdienstregelungen entsprechend anpassen. Das ist ein Schritt der Leistungsgerechtigkeit für unser Land. ({4}) Die jungen Menschen, die in einer Bedarfsgemeinschaft aufwachsen, dürfen in Zukunft, wenn sie eine Ausbildung machen, wenn sie zur Schule gehen, die Einkünfte aus ihrem Nebenjob behalten. Es ist eine Absurdität des Leistungsprinzips, dass junge Menschen, die sich etwas hinzuverdienen, davon nichts haben dürfen. Hartz IV vermittelt diesen jungen Menschen: Geh nicht arbeiten! Bleib im System! Streng dich nicht an! Diese Botschaft kehren wir um; denn das setzt sich im Kopf von jungen Menschen fest. Das ist eine weitere wichtige Änderung beim Bürgergeld. ({5}) Ich möchte noch etwas sagen. Sie haben uns für unseren Haushalt kritisiert. Ich habe mir noch mal die Anträge angeguckt, die Sie bei den letzten Haushaltsberatungen zum Haushalt des BMAS vorgelegt haben. Sie haben gefordert, die Mittel für die Jugendberufsagenturen zu halbieren. Den jungen Menschen, die in Arbeitslosigkeit sind, wollten Sie die Mittel weghalbieren. Sie haben gefordert, die Mittel für die berufliche Integration und die Beratung von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt zu halbieren. Sie wollten nicht die ukrainischen Geflüchteten in den Arbeitsmarkt bringen, Sie wollten die Mittel halbieren. ({6}) Die Mittel für die Fachkräfteoffensive im Bundeshaushalt wollten Sie ebenfalls halbieren. Tun Sie nicht so, als wenn Sie Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren wollten, wenn das Ihre Haushaltspolitik ist! ({7}) Das sind die Fakten. Das waren Ihre Anträge. Das sind nicht unsere Anträge. Herr Stracke, wir teilen doch das Gebot – und ich finde das wichtig –, dass derjenige, der arbeiten geht, stets mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet. Da sind wir uns einig. Sind Sie aber im Kern wirklich gegen die Regelsatzerhöhung? Herr Stracke, Sie haben auch gesagt, dass die Mehrleistungen vollkommen an der Realität vorbeigehen. Herr Whittaker, Ihr CDU-Kollege, der gleich sprechen wird, hat bei Twitter nach der Sitzung des Koalitionsausschusses, in der das beschlossen wurde, kommentiert: „Richtiger Impuls, Regelleistungen zu erhöhen, wenn die Inflation massiv steigt“. Das müsse gemacht werden. Ich war mit Julia Klöckner bei „Unter den Linden“, wo sie gesagt hat – Sie können sich vielleicht erinnern –: Wir sind nicht gegen eine Regelsatzerhöhung. Davon gehe ich aus, dass die Regelsatzerhöhung auf rund 500 Euro kommen wird. Oder wenn man sich den Hartz‑IV-Warenkorb anschaut: Wenn Lebensmittel um 17 Prozent teurer geworden sind, dann ist es richtig, den Regelsatz zu erhöhen. ({8}) Es ist unredlich, auf der einen Seite in der Öffentlichkeit zu sagen: „Wir wollen die Regelsätze erhöhen“, und auf der anderen Seite mit den Ängsten der Menschen in der Energiekrise zu spielen. Das ist der Grund, wieso Menschen, die vorher auf der Stelle gestanden haben, momentan das Gefühl haben, jetzt zurückzufallen. Mit diesem Gefühl zu spielen, das ist das Geschäft von Populisten. ({9}) Es ist eine Frage der Redlichkeit, in dieser Debatte bei den Fakten zu bleiben. Die Fakten sind – das wissen Sie –, dass es eine Inflationsanpassung geben muss. Sonst sagen Sie öffentlich, dass Sie dagegen sind, dass Sie den Regelsatz bei 450 Euro belassen wollen. ({10}) Zu den Fakten gehört auch: Die Sanktionen werden zum allergrößten Teil beibehalten. Bis zu 30 Prozent kann bei Meldeversäumnissen sanktioniert werden. Das ist bei Pflichtverletzung das Maximum, das das Bundesverfassungsgericht zulässt. ({11}) Dann kritisieren Sie die Vertrauenszeit. In der Vertrauenszeit können Meldeversäumnisse, wenn jemand nicht zu einem Termin kommt, ebenfalls sanktioniert werden. ({12}) Das sind 75 Prozent aller Sanktionen, das ist der Großteil der Sanktionen, die weiterhin auch in der Vertrauenszeit ausgesprochen werden. ({13}) Kritisieren Sie uns dafür, was wir machen, kritisieren Sie das Bürgergeld, aber hören Sie auf, auf Grundlage falscher Fakten in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen! Das ist brandgefährlich. ({14}) Sie haben in Niedersachsen das Ergebnis gesehen. Es braucht eine Oppositionspartei, die die Regierung treibt. Es braucht eine Oppositionspartei in der Mitte, die uns kritisiert. ({15}) Aber kritisieren Sie uns für das, was wir wirklich machen, und erfinden Sie keine Fake News! Das ist gefährlich, ob bei Regelsatzerhöhung oder Sanktionen. Hören Sie auf mit diesem Geschäft! Hören Sie auf, von Sozialtourismus zu sprechen! Das ist ein gefährliches Geschäft, was Sie machen. ({16})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Jessica Tatti. ({0})

Jessica Tatti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004911, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Heil, eines muss man Ihnen lassen: Das ist das erste Gesetz zur Änderung von Hartz IV, das nicht alles noch schlimmer macht, sondern einige Verbesserungen auf den Weg bringt. ({0}) Dass alle Leute, die neu Leistungen beziehen, eine zweijährige Karenzzeit haben, in der die Kosten für Wohnung und Heizung voll übernommen werden, das unterstützen wir. ({1}) Das hilft aber all denen nicht, die jetzt schon in Hartz IV sind und die aus dem Regelsatz Monat für Monat bei den Mietkosten draufzahlen müssen – eines der größten Probleme in Hartz IV. Diese Menschen lassen Sie weiter im Regen stehen. Das müssen Sie jetzt ändern. ({2}) Gut ist, dass Schüler, Auszubildende und Studenten zukünftig mehr vom selbstverdienten Geld behalten dürfen. Endlich setzen Sie damit die langjährige Forderung von Sozialverbänden, Betroffenen und auch der Linken um. ({3}) Aber dieses Gesetz ist keine Überwindung von Hartz IV, wie es hier permanent behauptet wird. ({4}) Eine Überwindung von Hartz IV würde zwingend mindestens drei Dinge erfordern: eine Geldleistung, die für ein bescheidenes, aber angstfreies Leben ausreicht, das Recht auf Aus- und Weiterbildung, um damit wieder am ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können, und den Ausbau des sozialen Arbeitsmarkts für diejenigen, die ohne ihn keine Arbeit finden können. ({5}) Passiert das mit Ihrem Gesetz? Sorgen die 50 Euro mehr für ein angstfreies Leben? Nein! Sie fummeln einfach so lange am Regelsatz herum, bis das rauskommt, was der Minister wollte. ({6}) Das ist keine echte Erhöhung des Regelsatzes, sondern ein reiner Inflationsausgleich. Der ist absolut notwendig, aber damit kommen Sie bestenfalls Ihrer Pflicht nach, dass die Leute noch Essen kaufen können, dass ihnen der Strom nicht abgedreht wird und dass sie im Winter nicht in einer dunklen Wohnung sitzen müssen. Reichen 50 Euro mehr? Die Wahrheit ist: Die Leute bleiben genauso arm wie vorher. Denn das, was Sie nicht angehen, ist das jahrelange Kleintricksen der Regelsätze. Die Leute standen doch schon vor den krassen Preissteigerungen mit dem Rücken zur Wand. Deshalb fordern wir Sie auf: Berechnen Sie die Regelsätze binnen eines Jahres neu! ({7}) Beteiligen Sie die Betroffenen! Beteiligen Sie die Arbeitsloseninitiativen, die Wohlfahrtsverbände und die Tarifpartner! Und bis das passiert ist, braucht es einen Zuschlag. Wir sagen: monatlich 200 Euro mehr – gegen die Inflation, gegen Armut und soziale Notlagen. ({8}) Jetzt zur Weiterbildung von Menschen in Hartz IV. Sie reden ja sehr viel darüber, vor allem, wie unfassbar wichtig Ihnen das sei. Und was machen Sie dann? Sie kürzen eiskalt die Mittel dafür im Bundeshaushalt. Was nutzen all Ihre schönen Worte, wenn es kein Geld für die Umsetzung gibt? ({9}) Menschen in Hartz IV nehmen am allerwenigsten an Weiterbildungen teil. Das wissen Sie, und trotzdem kürzen Sie einfach immer weiter. Wenn wir schon beim Kürzen sind: Alle in der Ampel reden so stolz vom sozialen Arbeitsmarkt, wie unverzichtbar, wie erfolgreich und wie großartig er doch sei. ({10}) Und das stimmt auch. Die geförderten Arbeitsplätze bringen Menschen in Lohn und Brot: mit Arbeitgeber, mit Arbeitsvertrag und mit selbstverdientem Geld. Sie wollen den sozialen Arbeitsmarkt mit diesem Gesetz auf Dauer fortführen. Super Sache, wir unterstützen das. Bloß blöd, dass auch dafür real fast keine Mittel mehr im Haushalt sind und Sie den sozialen Arbeitsmarkt de facto kaputtsparen. Korrigieren Sie das! Ansonsten ist das die größte Verarsche – sorry, Frau Präsidentin – auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen. ({11}) Herr Minister, dann müssen Sie auch den Schneid haben. Sagen Sie hier klipp und klar, dass Langzeitarbeitslose keine Priorität mehr für diese Bundesregierung haben! Wir fordern 150 000 Jobs im sozialen Arbeitsmarkt und die Finanzmittel, die dafür notwendig sind. ({12}) Es sind im Übrigen die 150 000 Jobs, die Sie in der letzten Legislatur versprochen haben, Minister Heil. Unterm Strich: Mit diesem Gesetzentwurf bleiben die Betroffenen so arm und genauso im Abseits wie zuvor. Minister Heil, damit bleibt Ihr Bürgergeld nach wie vor Hartz IV. ({13})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dagmar Schmidt. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind schwierige Zeiten, in denen wir im Moment Verantwortung tragen: hohe Energiepreise, Inflation, Sorgen um die Zukunft. Der Krieg Putins gegen die Ukraine macht uns Angst. Die Auswirkungen spüren wir alle, wir spüren sie aber unterschiedlich hart. Die einen nutzen diese Zeiten, um unsere Gesellschaft zu spalten, um die einen gegen die anderen auf den Platz zu führen und um aus den berechtigten Sorgen der Menschen ein populistisches Süppchen zu kochen. Die anderen übernehmen in dieser Zeit Verantwortung für das ganze Land: Wir kümmern uns um diejenigen, die Arbeit haben, ({0}) und um diejenigen, die keine haben. Wir kümmern uns gerade um diejenigen, die arbeiten und trotzdem ein geringes Einkommen haben. Wir haben deshalb den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Wer Vollzeit arbeitet, hat 280 Euro brutto mehr. ({1}) Wir haben deshalb den Übergangsbereich auf 2 000 Euro angehoben. Wer 1 250 Euro verdient, hat 50 Euro mehr. Deshalb haben wir das Kindergeld um 18 Euro und den Kinderzuschlag um 21 Euro erhöht. ({2}) Deswegen werden wir auch das „Wohngeld Plus“ erhöhen und das Wohngeld damit für 1,4 Millionen Menschen mehr um durchschnittlich 190 Euro im Monat deutlich erhöhen. ({3}) Wir werden mit der Gas- und Wärmepreisbremse Last und Sorgen von den Schultern nehmen. Wir schützen in diesen schwierigen Zeiten diejenigen, die keine großen Reserven auf ihren Konten haben, die nicht jeden Monat etwas für die schlechten Zeiten zurücklegen konnten, die sich anstrengen und für die es oft trotzdem nicht reicht. Und wir stützen diejenigen, die keine Arbeit haben, indem wir Hartz IV überwinden und das Bürgergeld schaffen. Man kann der Ansicht sein, dass es einen niemals trifft, dass man die beste Geschäftsidee, den sichersten Job hat, dass man selber resilient gegen alle Schicksalsschläge ist, dass man eine Gesundheit hat wie Karl Lauterbach, ({4}) dass man auf alle Lebensrisiken vorbereitet ist. In der echten Welt gilt das aber für die allermeisten nicht. Das haben wir besonders in der Pandemie gesehen – gerade bei den Soloselbstständigen –, das gab es aber auch schon vorher: den spezialisierten Akademiker, dessen Spezialisierung nicht mehr gefragt ist, die Fachkraft mit Krebs, die Alleinerziehende mit Burn-out. Deswegen ist es richtig, dass wir Respekt vor der Lebensleistung dieser Menschen haben, dass sie keine Angst haben sollen, gleich alles zu verlieren, ({5}) dass sie sich darauf konzentrieren können, sich neu zu orientieren, zu qualifizieren, einen Job statt einer Wohnung zu suchen, damit sie schnell wieder Anschluss und einen guten Job finden. ({6}) Wir wollen auch eine echte Perspektive für diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite großgeworden sind, für diejenigen, die es aus der Bahn geworfen hat, die mit verschiedenen Problemen gleichzeitig kämpfen, die nicht die Chance hatten, eine gute Arbeit zu finden, und denen das Leben nicht so leichtfällt wie anderen. Es ist eine Frage des Respekts, und das machen wir: Wir unterstützen nicht von der Stange, sondern individuell, je nach persönlicher Lage; wir setzen bei den Stärken, Möglichkeiten und Vorstellungen der Arbeitslosen an, damit es am Ende Erfolg hat. Es ist auch eine Frage des Respekts, etwas von den Menschen zu erwarten – dass sie mithelfen, dass sie mitwirken –, ihnen etwas zuzutrauen und ihnen als Partner auf dem Weg zur Seite zu stehen. Deswegen ist es nicht weniger als ein Paradigmenwechsel, den wir mit dem Bürgergeld einleiten. Es geht nicht um die schnelle Vermittlung in irgendeine Arbeit. Eine nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit steht im Vordergrund, wenn nötig durch Qualifizierung, Ausbildung, Coaching; wenn nötig, sollen gesundheitliche und persönliche Probleme weggeräumt werden, damit eine echte Perspektive für die Menschen gelingt. ({7}) Das ist nicht nur für den Einzelnen richtig, lieber Stephan Stracke, das ist auch für die Gesellschaft insgesamt richtig; denn auch wenn Sie es den arbeitslosen Menschen nicht gönnen: ({8}) Für unsere Wirtschaft, die dringend nicht nur nach Fach-, sondern auch nach Arbeitskräften sucht, ist es richtig. Für sie ist es nämlich wichtig, dass wir Menschen befähigen, langfristig ihren Job zu machen. Nicht Verbandsfunktionäre, aber echte Unternehmer wollen keine unmotivierte, durch Sanktionsandrohung erfolgte Bewerbung auf dem Tisch haben. ({9}) Sie wollen, dass die Menschen, die sich bewerben, die zu ihnen kommen, qualifiziert und motiviert sind, ({10}) dass sie Lesen und Schreiben gelernt haben, dass sie, wo die Schule versagt hat, eine Ausbildung nachgeholt haben, dass sie Mut gefasst haben und am Abend stolz auf das sind, was sie leisten. ({11}) Der soziale Arbeitsmarkt, den wir entfristen, hat uns gezeigt, dass es genau so gehen kann. ({12}) Ich bin stolz, dass wir heute das Bürgergeld in erster Lesung in das Parlament einbringen, darauf, dass wir in der Ampelkoalition gemeinsam schaffen, was vorher nicht möglich war: eine Grundsicherung, die kein Stigma, sondern Schutz und Hilfe für ein selbstbestimmtes Leben sein wird. Ich freue mich auf die Diskussion. ({13})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Kai Whittaker. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Stracke hat ja recht, wenn er sagt: Auf der einen Seite haben wir fast 2 Millionen offene Stellen und auf der anderen Seite über 2 Millionen Menschen ohne Job. – Wann also, wenn nicht jetzt, wäre der beste Moment, um möglichst viele Arbeitsuchende wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen? Denn, Herr Teutrine, in unseren 16 Jahren haben wir es geschafft, mit Hartz IV die Anzahl der Arbeitslosen zu halbieren. Das ist die Benchmark, an der Sie sich messen lassen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({0}) Genau diese Chance lässt das Bürgergeld im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Man erkennt es schon an Ihrem Gesetzestitel: Es geht Ihnen fast ausschließlich ums Geld, und, Herr Teutrine, wenn Sie nicht wollen, dass Fake News verbreitet werden, dann tun Sie das bitte auch nicht. ({1}) Wir haben überhaupt kein Problem damit, wenn die Hartz-IV-Sätze sich in der Inflation um 50 Euro erhöhen. Aber es geht um das, was Sie drum herum machen. ({2}) Denn Sie wollen nämlich nicht mehr prüfen, ob jemand die Leistung überhaupt noch wirklich braucht. ({3}) Es interessiert Sie nicht mehr, ob jemand noch angemessen heizt. Es ist Ihnen egal, ob es Leute gibt, die hartnäckig gegen alle Regeln verstoßen. Das ist respektlos. ({4}) Es ist respektlos gegenüber der überwältigenden Mehrheit von Arbeitsuchenden, die sich an die Regeln halten und alles dafür tun, wieder in Arbeit zu kommen. Es ist auch respektlos gegenüber allen, die mit ihren Steuern unseren Sozialstaat finanzieren. Die SPD nannte sich einst Arbeiterpartei. Aber mit diesem Gesetz geben Sie gerade die Leute auf, die etwas mehr als Hartz IV verdienen und mit ihren Steuern auch unseren Sozialstaat finanzieren. ({5}) Angesichts der steigenden Energiepreise werden die Menschen mit sehr kleinen Einkommen ganz genau rechnen, ob sie nicht besser damit fahren, ihren Job an den Nagel zu hängen und stattdessen Bürgergeld zu beantragen. ({6}) Arbeit muss sich immer lohnen. Wenn das nicht mehr gilt, gefährden Sie den sozialen Frieden in unserem Land. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Whittaker, Entschuldigung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? Herr Audretsch, glaube ich; ist das richtig?

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Audretsch hat das Wort. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, wenn ich Ihnen antworten soll, muss es ein bisschen leiser sein!)

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann den Ärger verstehen, man muss Ihnen aber, glaube ich, eine konkrete Frage stellen: Das, was Sie hier offensichtlich tun, ist, erneut die Schiene zu fahren, wie wir es in den letzten Wochen und Monaten gesehen haben: dass Sie Fake News verbreiten, dass Sie einfach Lügen in die Welt setzen. ({0}) Das ist das, was wir beim Thema „bedingungsloses Grundeinkommen“ gesehen haben; das ist das, was Sie gerade wieder insinuiert haben. Es ist kein bedingungsloses Grundeinkommen. ({1}) Das Gleiche trifft auf den „Sozialtourismus“-Vorwurf zu: Das ist Rechtspopulismus in reinster Form, der da vorgebracht wird. ({2}) Da kegeln Sie sich aus der Debatte und biedern sich ganz rechts bei der AfD an. Das ist es, was Sie machen. ({3}) Deswegen möchte ich Sie fragen: Warum haben Sie im Ausschuss ganz dezidiert gefordert, dass eine Inflationsanpassung geschehen muss? Warum haben Sie gefordert, dass mehr Anpassung geschehen muss? Warum sieht man das in Tweets von Ihnen? Warum kommt all das und gleichzeitig, auf der anderen Seite, die Hetze, die Sie verbreiten? ({4}) Warum sagen Sie auf der einen Seite, das sei ein bedingungsloses Grundeinkommen? Woher kommt das? Es gibt keinen Punkt, an dem man festmachen kann, dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen ist. Sie tun das. ({5}) Noch einmal zum Regelsatz: Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 gesagt, dass man auch unterjährig anpassen muss.

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Audretsch, kommen Sie zum Punkt.

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Warum stellen Sie sich gegen das Bundesverfassungsgericht? Auch das ist eine Frage, die Sie beantworten müssen. Zuletzt – letzte Frage –: ({0}) Wenn Ihnen die Menschen, die im Niedriglohnsektor unterwegs sind, wirklich von Wert sind, warum hat Ihre ganze Fraktion sich beim Mindestlohn enthalten?

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Audretsch.

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Warum haben Sie sich nicht klar bekennen können? ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Audretsch, kommen Sie bitte zum Schluss!

Andreas Audretsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005011, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nichts kam von Ihnen an der Stelle. Enthalten haben Sie sich, weil Sie keine Position haben und nur eins tun: Fake News und Hetze verbreiten. Das ist das, was Sie tun. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Whittaker, Sie dürfen antworten. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, es ist ja interessant, zu sehen, was passiert, wenn man keine Redezeit von seiner Fraktion zugestanden bekommt. ({0}) Herr Audretsch, nur weil Ihnen Kritik unlieb ist, ({1}) ist das noch lange keine Hetze. ({2}) Und ich finde es gefährlich unter Demokratinnen und Demokraten – und wir als Christdemokraten und Christsoziale sind stolze Demokratinnen und Demokraten, die dieses Land 70 Jahre lang geprägt haben –, ({3}) uns in eine Ecke zu stellen, wo Sie wissen, dass wir definitiv nicht dorthin gehören, ({4}) und damit zu versuchen, sich leidiger Kritik zu entledigen; das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, nicht bei diesem Gesetz und bei allen anderen Debatten auch nicht. ({5}) Das ist ein gefährliches Spiel, das Sie da treiben. Herr Minister, ich möchte auch auf Ihren Verweis, man dürfe Arbeitslose nicht gegen Niedrigverdiener ausspielen, zurückkommen. Das ist vollkommen richtig. Aber man kann, wie ich gerade gesagt habe, berechtigte Kritik nicht einfach vom Tisch wischen, nur weil sie Ihnen unangenehm ist. Sie müssen schon dafür sorgen, dass auch die Niedrigverdiener etwas haben. ({6}) Sie könnten ja mal anfangen, dafür zu sorgen, dass mehr Netto vom Brutto übrigbleibt. ({7}) Stattdessen erhöhen Sie jetzt die Krankenkassenbeiträge, und das in Zeiten, in denen der Staat an steigenden Preisen sowieso mitverdient. Das ist ungehörig. Das Allerwichtigste wäre doch jetzt, die Menschen in Arbeit zu vermitteln, anstatt sie im System zu verwalten. Und dazu fällt Ihnen ja fast nichts ein. Wir wissen aus der Forschung: Je besser Sie sich um die Menschen kümmern, je schneller Sie sich kümmern, desto eher gelingt der Sprung in Arbeit. Das heißt, mehr Personal, bessere Betreuung – das wäre jetzt wichtig. ({8}) Nur, dieser Erkenntnis folgen keine Taten. Stattdessen streichen Sie 600 Millionen Euro für den Eingliederungstitel. Sie kürzen noch einmal bei der Verwaltung, um 50 Millionen Euro. Letztes Mal haben Sie es schon um 750 Millionen Euro gestrichen. Sie machen das glatte Gegenteil. ({9}) Und es ist sogar noch schlimmer. In Zukunft wollen Sie sich in den ersten sechs Monaten gar nicht mehr um die arbeitsuchenden Menschen kümmern. ({10}) Dabei wissen wir: Je länger die Menschen ohne Arbeit sind, desto schwerer wird es, aus dieser Situation wieder herauszukommen. Und ich weiß, dass Sie den Menschen etwas Gutes tun wollen; aber in Wahrheit schaden Sie ihnen. ({11}) Das ist respektlos gegenüber den Menschen, die schon zu lange ohne Arbeit sind. ({12}) Und es ist auch respektlos gegenüber den Mitarbeitern in den Jobcentern. Sie versprechen den Menschen ab jetzt eine Behandlung auf Augenhöhe. Das war schon immer richtig. Das wird jetzt aber noch schwieriger, wenn Sie den Jobcenter-Mitarbeitern gleichzeitig die Mittel kürzen. ({13}) Was mich an dem Begriff „Augenhöhe“ besonders stört, ist Folgendes: Sie unterstellen, dass in den Jobcentern die Würde der Menschen missachtet wird. ({14}) Das tun Sie, und das kann man in Ihrem Gesetzentwurf auch lesen. Sie legen minutiös fest, was der Jobcenter-Mitarbeiter während der Vertrauens- und Kooperationszeit alles nicht darf. In Zukunft müssen sich die Mitarbeiter mehr um Paragrafen als um die Menschen kümmern. ({15})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Whittaker, Entschuldigung, dass ich Sie noch mal unterbrechen muss. Aber es gibt noch eine Zwischenfrage von Frau Müller-Gemmeke aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde vorschlagen, dass Kolleginnen und Kollegen, die schon geredet haben, nicht unbedingt noch eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Gut.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Bürgergeld stehen nicht die Menschen im Mittelpunkt, sondern die Hartz-IV-Vergangenheitsbewältigung der SPD. Sie wollen die Menschen ruhigstellen, anstatt sie zu aktivieren, um Ihr Gewissen zu beruhigen. ({0}) Das hat kein Arbeitsloser verdient. ({1}) Wir als Union sagen stattdessen: Wir halten am Fordern fest und müssen beim Fördern noch besser werden: durch weniger Bürokratie, damit die Mitarbeiter mehr Zeit für die arbeitsuchenden Menschen haben. Denn Hartz IV überwindet man nicht durch einen neuen Namen. Hartz IV überwindet man durch Taten, indem man die Menschen in Arbeit bringt. Fangen Sie endlich damit an! ({2})

Stephanie Aeffner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005004, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich möchte in der Debatte gern zu den Menschen zurückkehren, um die es hier geht: die arbeitslosen Menschen in diesem Land, aber auch all die Menschen, die heute Arbeit haben und denen es genauso passieren kann, ihre Arbeit zu verlieren. Als Hartz IV eingeführt wurde, war ich in den Endzügen meines Studiums der sozialen Arbeit. Ich habe mich auch für den Weg in die Berufspolitik entschieden, weil ich in der Beratung immer wieder Situationen erlebt habe, wo ich mit der bestehenden Rechtslage Menschen nicht helfen konnte. Umso mehr freue ich mich, dass wir mit der Einbringung des Bürgergeldgesetzes eine der größten sozialpolitischen Reformen seit 20 Jahren auf den Weg bringen. ({0}) Wir sind mit dem Versprechen angetreten, Hartz IV zu überwinden. Und ich finde, wir sind auf einem guten Weg dahin. Wir läuten eine neue Zeit ein, wir schaffen die Voraussetzung für eine Kommunikation auf Augenhöhe in den Jobcentern und sorgen für ein Ende der Stigmatisierung von bedürftigen Menschen. Wir geben Menschen wieder mehr Vertrauen in unseren Sozialstaat. In der zweijährigen Karenzzeit werden die Kosten für Wohnung und Unterkunft in tatsächlicher Höhe übernommen. Deutlich mehr Erspartes darf behalten werden. Damit nehmen wir den Menschen in dieser ohnehin schwierigen Situation die Angst, nicht nur ihren Job, sondern auch noch ihr Zuhause und ihre kompletten Rücklagen zu verlieren. ({1}) Sie können sich dadurch auf eine Weiterbildung oder die Suche nach einer neuen Arbeit konzentrieren. Und die Jobcenter entlasten wir so auch. Sie können sich nämlich um Unterstützung kümmern anstatt um Verwaltung und Bürokratie. ({2}) Wir Grünen haben lange für die Abschaffung von Sanktionen gekämpft. Sie werden nun deutlich entschärft. Leistungen können maximal um 30 Prozent gekürzt werden. Härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden abgeschafft, und vor allem entfallen die anlasslosen Sanktionsandrohungen in jedem Schreiben. Die allermeisten Menschen – 97 Prozent – kooperieren völlig problemlos, und genau die werden damit nicht mehr mit Sanktionen bedroht. ({3}) Das ist ein Gewinn; denn es ist wissenschaftlich belegt, dass Sanktionen nicht dazu führen, dass Menschen schneller eine Arbeit aufnehmen – im Gegenteil: Langfristig schaden sie einer dauerhaften Arbeitsmarktintegration. ({4}) Sie sorgen nur für kurzfristige Arbeitsaufnahme. Und was hier geschieht, ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Anerkennung, Zutrauen und Befähigung. ({5}) Auch bei jungen Menschen sorgen wir für mehr Chancengerechtigkeit, indem wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Schüler/-innen und Studierende anheben. Damit können sie endlich selber etwas ansparen. Das sorgt für bessere Startbedingungen in das Berufsleben und Erfolgserlebnisse. ({6}) Wir machen Schluss mit der Zwangsverrentung, durch die ältere Arbeitnehmer/-innen bisher viel zu oft aus dem Berufsleben gedrängt wurden. ({7}) Sie müssen nicht mehr im gesamten Rentenbezug mit den finanziellen Einbußen leben. Sie verdienen ebenso Chancen und Anerkennung. Wir alle können gerade in Zeiten des Fachkräftemangels nicht auf ihre Fähigkeiten verzichten. ({8}) Mit einem zusätzlichen Rechenschritt passen wir den Regelsatz deutlich besser an die Inflation an und erhöhen ihn stärker als bisher. Es ist kein Geheimnis, dass wir Grüne uns an dieser Stelle mehr gewünscht hätten. Dennoch haben wir eine entscheidende Verbesserung an dieser Stelle erreicht. Mich ärgert die andauernde Kritik, dass sich mit der Bürgergeldreform Arbeit nicht mehr lohnen würde. Wegen höherer Regelsätze wird niemand seinen Job aufgeben und sich in die „soziale Hängematte“ legen wollen. ({9}) Wer ehrlich in sich selber hineinhört, spürt eines ganz genau: ({10}) Die Vorstellung, den eigenen Job zu verlieren, macht Angst – Angst vor Abstieg, Angst, den eigenen Kindern nichts mehr bieten zu können, Angst, nicht mehr dazuzugehören, Angst davor, Bittsteller bei Behörden zu sein. Gegen diese Angst setzen wir das Versprechen der bestmöglichen Unterstützung, um aus dieser Situation herauszukommen. ({11}) Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir mit unserer Reform die Würde der Menschen achten und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. An manchen Punkten liegen noch Aufgaben vor uns. Beispielsweise müssen wir auch auf die Menschen im Sozialhilfebezug schauen. Niemand sucht sich eine Erwerbsminderung wegen einer Erkrankung aus. Auch diesen Menschen müssen wir die Anerkennung entgegenbringen, die sie verdienen. Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen. ({12})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Norbert Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Bürgergeld ist unsozial; denn es übervorteilt diejenigen, die nicht arbeiten, ({0}) gegenüber denjenigen, die jeden Tag den Wohlstand in unserem Land erwirtschaften, meine Damen und Herren. ({1}) Ich muss schon sagen: Ich finde die Debatte, die hier geführt worden ist, wirklich ein bisschen zynisch. Es sind Windelbegriffe gefallen wie „Chancengleichheit“, „Augenhöhe“, „Vertrauenszeit“, „Kooperationszeit“, meine Damen und Herren, ({2}) während die Altenpflegehelferin, die jeden Tag auf die Arbeit geht, nicht mehr weiß, wie sie mit ihrer Tochter durch den Winter kommen soll, weil sie die Wohnung gar nicht mehr beheizen kann. ({3}) Das ist doch die Realität in Deutschland, und an dieser Realität geht diese Debatte vollkommen vorbei, meine Damen und Herren. ({4}) Sie ersetzen Leistung durch Müßiggang. Dabei war es gerade das Leistungsprinzip, was unser Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft immer erfolgreich gemacht hat. Wir haben verlangt: Leute, qualifiziert euch! Strengt euch an! Stellt eure Arbeitskraft zur Verfügung! – Damit können wir Frieden, Wohlstand, Demokratie und, ja, auch ein Sozialhilfesystem aufbauen, das funktioniert und das allen in echter Not hilft. Aber Sie heben das Leistungsprinzip völlig auf und erheben den Müßiggang zum neuen Prinzip. Die implizite Frage, die Sie mit dem Bürgergeld stellen, ist doch: „Warum bist du eigentlich so blöd und arbeitest noch?“ ({5}) Und damit, Frau Aeffner, heben Sie nicht das Stigma derer auf, die im Sozialleistungsbezug sind, sondern Sie stigmatisieren alle, die da unfreiwillig hereinfallen noch umso mehr, und das ist das Dramatische daran. Machen wir doch einmal die Rechnung auf. ({6}) Allein mathematisch lohnt es sich doch kaum mehr zu arbeiten für jemanden, der wenig verdient. ({7}) Ein Vollzeit arbeitender Mindestlohnempfänger – bezahlt nach dem neuen Mindestlohn – bekommt 2 080 Euro brutto, 1 404 Euro netto. Der wird locker eingeholt von einem Bürgergeldbezieher mit 502 Euro Regelsatz plus – und das ist der springende Punkt – die Übernahme sämtlicher Wohn- und Heizkosten, egal ob die angemessen sind, egal in welcher Höhe, ({8}) weil Sie nämlich die Karenzzeit eingeführt haben. Das bedeutet: Während der normale Arbeitnehmer seine Wohnung nicht mehr heizen kann, kann der Bürgergeldempfänger eine 130-Quadratmeter-Altbauwohnung in Charlottenburg beheizen oder sein Einfamilienhaus am Tegernsee. ({9}) Das ist genau das, was Sie hier einführen, und das ist ungerecht, meine Damen und Herren. ({10}) Während jeder normale Arbeitnehmer in der Früh einstempeln und am Abend auschecken muss, erlauben Sie dem Bürgergeldempfänger eine Ortsabwesenheit sogar im Ausland, meine Damen und Herren. ({11}) Während ein Lkw-Fahrer seinen Führerschein, sogar seinen privaten, riskiert bei einem Fehlverhalten, ein Selbstständiger sein Haus, weil sein Betrieb zum Beispiel – auch aufgrund Ihrer Politik – pleitegeht, ein Fassadenreiniger oder Fabrikarbeiter sein Leben bei einem Betriebsunfall, ({12}) was riskiert der Bürgergeldempfänger, wenn er vor die Jobcenter-Mitarbeiterin mit einem fetten Grinsen tritt ({13}) und sagt: „Ich hab jetzt aber keinen Bock“? Er riskiert gar nichts. Denn wir haben ja Vertrauenszeit, wir haben ja Kooperation, wir heben ja sämtliche Sanktionen auf, ({14}) und das ist genau der falsche Weg. Das ist das falsche Signal an die Öffentlichkeit, meine Damen und Herren. ({15}) Wir dürfen nicht den Müßiggang etablieren und das dann bedingungslose Grundeinkommen, was nämlich genau in diesem Moment vor der Jobcenter-Mitarbeiterin zum bedingungslosen Grundeinkommen wird, sondern wir müssen Leistung wieder fördern. Deswegen fordern wir die aktivierende Grundsicherung und sagen: Lasst die Leute nie aus dem Arbeitsmarkt herausfallen, sondern spätestens sechs Monate nach dem Eintritt in den Sozialleistungsbezug 15 Wochenstunden Bürgerarbeit machen. – Das ist gemeinnützige Arbeit, die uns alle voranbringt, und die Leute verlernen es nie, sich zu organisieren, pünktlich aufzustehen, auf Arbeit zu gehen. Haben wir den Mut, diejenigen mit reinen Sachleistungen zu sanktionieren, die unser Sozialleistungssystem nicht brauchen, ({16}) sondern benutzen, Frau Aeffner! Und: Lassen Sie uns sicherstellen, dass die Leute wenigstens anwesend sind, wenn sie schon Sozialleistungen beziehen und ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen können! ({17}) Wir brauchen kein Sozialbezugssystem, wir brauchen ein Sozialleistungssystem – und das ist der Unterschied. ({18})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Gesetzentwurf werden wir in Zukunft auch Grundkompetenzen fördern – Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Ich komme darauf, weil im Laufe dieser Debatte der Verdacht aufkam, dass es auch Grundkompetenzen für die Oppositionsarbeit geben müsste. ({0}) Dazu gehört beispielsweise auch die Fähigkeit oder zumindest der Wille, ({1}) einmal das zu lesen, was als Gesetzentwurf vorliegt, statt im dichten Nebel von Behauptungen herumzustochern. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so behaupten Sie, dass nicht mehr geprüft würde, ob jemand anspruchsberechtigt ist für Leistungen nach Hartz IV bzw. künftig Bürgergeld. Das ist grundfalsch. Sie kennen offensichtlich nicht den Unterschied zwischen Einkommensprüfung und Vermögensprüfung. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn Sie Freiberuflern, wenn Sie Selbstständigen, die ein Leben lang gearbeitet und sich etwas aufgebaut haben, dann aber aufgrund einer wirtschaftlichen Situation wie beispielsweise Corona in Hartz IV rutschen, weil dies das Letzte ist, was dieser Sozialstaat für sie bereithält, und er sie auffängt, sagen: „Die sollen aber erst einmal ihr Haus verkaufen“, dann zeigt das, was Sie von der Lebensleistung dieser Menschen halten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Zu Grundkompetenzen gehört auch, dass man bestimmte wirtschaftliche und gesetzgeberische Zusammenhänge kennt und aufeinander beziehen kann. Herr Whittaker, Sie behaupten, Sie hätten die Langzeitarbeitslosigkeit halbiert. Ja, mit welchem Gesetz denn? Sie haben in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit an Hartz IV so gut wie nichts geändert. ({4}) Jetzt rühmen Sie sich, dass Sie die Langzeitarbeitslosigkeit halbiert hätten. Die Wahrheit ist: Sie haben es nicht geschafft, von den Zahlen der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit runterzukommen. Sie haben es nie geschafft, sie dauerhaft unter 700 000 zu bringen. Das ist genau der Anspruch, den wir jetzt realisieren wollen. ({5}) Darauf sollten Sie eigentlich auch mit guten Vorschlägen reagieren und nicht mit falschen Zusammenhängen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig – absolut wichtig, Stephan Stracke –, dass wir Menschen nachhaltig in Arbeit vermitteln. Aber genau daran hat Hartz IV in der Vergangenheit eben gekrankt. Wir müssen es schaffen, dass Menschen nicht nur kurzfristig vermittelt werden. Deshalb schaffen wir zum Beispiel den Vermittlungsvorrang ab. Ich suche übrigens nach wie vor nach Ihren besseren Vorschlägen. Der Minister hat im Frühsommer seine Vorschläge mündlich mitgeteilt. Im Sommer ist dieser Gesetzentwurf von der Koalition erarbeitet worden. Es wäre auch ein Ausdruck von Leistungsgerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wenn Sie es geschafft hätten, in diesen Wochen und Monaten selber einen Vorschlag vorzulegen. ({6}) Bevor Sie also von „Müßiggang“ oder Ähnlichem im Zusammenhang mit Leistungsbeziehern sprechen, machen Sie selber Ihre Arbeit und beteiligen sich als Opposition konstruktiv an der parlamentarischen Arbeit. Das würde uns alle voranbringen. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Annika Klose. ({0})

Annika Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer/-innen! Mehr Respekt, mehr Chancen, mehr Sicherheit, eine sozialere Politik für dieses Land – das bedeutet das neue Bürgergeld, das wir hier heute diskutieren. Das Bürgergeld ist eine grundlegende Reform unserer sozialen Sicherungssysteme. Gerade deswegen ist es wichtig, dass die Menschen in diesem Land darüber Bescheid wissen, was geplant ist und worauf sie sich dabei einstellen können. Doch auch in dieser Debatte wird von verschiedenen Seiten mal wieder gezielt Desinformation verbreitet. Deswegen möchte ich die Gelegenheit jetzt mal nutzen, um hier mit ein paar Thesen aufzuräumen: Erstens. Die AfD behauptet, das Bürgergeld sei ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das stimmt nicht. ({0}) Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine Geldsumme, die ohne Vorbedingung an alle Bewohner/-innen eines Landes ausgezahlt wird. Das Bürgergeld steht zwar grundsätzlich allen Menschen in Deutschland zu, aber es ist an Bedingungen geknüpft. ({1}) Das Bürgergeld wird an Menschen ausgezahlt, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten können, beispielsweise weil sie arbeitslos sind oder weil sie nicht arbeiten können. ({2}) Dafür muss ein Antrag gestellt werden, und der wird überprüft. Klar ist: Wer Hilfe braucht, soll diese auch bekommen, und zwar möglichst einfach und unbürokratisch. Deswegen vereinfachen wir ja auch den Antrag und führen eine Karenzzeit von zwei Jahren ein, ({3}) sodass man nicht direkt auch noch die Wohnung oder die Rücklage fürs Alter verliert, wenn man gerade auch schon seinen Job verloren hat. ({4}) Klar ist aber auch, dass auch Menschen, die das Bürgergeld bekommen, dann mit dem Jobcenter zusammenarbeiten müssen. Gemeinsam wird dann geschaut, dass die Menschen möglichst gut dabei unterstützt werden, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Dabei muss man mitmachen. ({5}) Das heißt „Mitwirkungspflichten“. Es gibt also Bedingungen, die man erfüllen muss, um das Bürgergeld zu bekommen, ({6}) und dementsprechend ist es kein bedingungsloses Grundeinkommen. ({7}) Zweitens. Eine weitere verbreitete Annahme ist, dass das Bürgergeld eine reine Umbenennung von Hartz IV sei, quasi Hartz IV mit neuem Anstrich. Auch das ist nicht richtig. ({8}) Das Bürgergeld bedeutet einen echten Kulturwandel im Umgang mit den Menschen im Leistungsbezug. ({9}) Mit dem Bürgergeld-Gesetz wollen wir dafür sorgen, dass den Menschen, die Unterstützung brauchen, nachhaltig geholfen wird, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Es geht darum, die Menschen da abzuholen, wo sie sind, und mit guter Beratung, passgenauer Qualifizierung und individuellen Lösungen eine langfristige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. ({10}) Und es ist keineswegs so, wie es die AfD und die Union gerne behaupten, dass die Menschen in der Grundsicherung grundsätzlich nicht arbeiten wollten oder „faul“ seien ({11}) und wenn man die Leistungen bloß genug kürze, plötzlich alle Leute in Arbeit seien. Den Eindruck hat man ja, wenn man Ihnen so zuhört. Das ist nicht nur ein absolut absurdes Menschenbild, das Sie da an den Tag legen, sondern es widerspricht auch völlig der Realität. ({12}) Die übergroße Mehrheit der Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, haben zum Beispiel gesundheitliche Einschränkungen und können ihren Beruf nicht mehr ausüben. Die Statistik zeigt außerdem, dass es vor allem für ältere Menschen und zum Beispiel auch für Alleinerziehende sehr schwer ist, wieder in Arbeit zu kommen. Hier geht es doch darum, zu empowern, zu qualifizieren, umzuschulen und neue Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen vermittelt werden können und Kinder auch für Alleinerziehende nicht zur Armutsfalle werden. Und genau dafür schaffen wir mit dem Bürgergeld neue Instrumente und Möglichkeiten. ({13}) Der Kern der Reform ist, dass wir dafür sorgen wollen, dass Menschen in allen Lebenslagen mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet wird, dass sie da abgeholt werden, wo sie stehen, dass neue Wege mit den Menschen gemeinsam erarbeitet werden und nicht gegen sie, dass wir ihnen grundsätzlich mit Vertrauen begegnen und dass wir nicht immer überall erst mal Misstrauen säen. ({14}) Das ist nicht nur was Neues für Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, sondern auch für unsere Sozialgesetzgebung. Deswegen ist das Bürgergeld wirklich eine grundlegende Reform, mit der wir etwas Neues anstoßen. Ich freue mich sehr auf das parlamentarische Verfahren, um das wirklich sehr gute Gesetz noch besser zu machen. ({15}) Vielen Dank. ({16})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Markus Reichel. ({0})

Dr. Markus Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005185, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, Frau Klose, muss ich sagen, dass Sie als Allererste hier in der Debatte das Wort „Faulheit“ verwendet haben. ({0}) Das ist bestimmt kein Beitrag zum Kulturwandel, den wir hier brauchen. ({1}) Ich möchte auch Herrn Kober sagen: Sie haben uns ja den Ratschlag gegeben, wir sollen mal die Gesetzestexte und Begründungen lesen. Ich habe das sehr wohl auch schon vorher gemacht, und ich habe dann endlich auch mal die Antwort darauf gefunden, wieso das Bürgergeld eigentlich Bürgergeld heißt. Denn das Bürgergeld heißt Bürgergeld, weil es die Bürger am Ende eine ganze Menge Geld kosten wird. ({2}) Was mir in der Debatte hier wirklich fehlt, ist die Perspektive derer, die dafür über ihre Steuern am Ende Geld bezahlen werden. Für die ist der Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, eine Zumutung. ({3}) Ich denke hier mal an die Verkäuferin, zum Beispiel in meiner Stammbäckerei in Dresden, die jeden Morgen zuverlässig zur Arbeit geht und natürlich auch erwartet, dass jemand, der vielleicht gerade keine Arbeit hat, ({4}) dieselbe Bereitschaft und Zuverlässigkeit aufbringt. Diese Verkäuferin hat aber nicht die Möglichkeit, zu ihrem Chef zu sagen: Ich habe jetzt mal sechs Monate Vertrauenszeit. Nun komm mir mal bitte nicht mit der Erinnerung an meine Pflichten. ({5})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Herr Dr. Reichel, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Kober aus der FDP-Fraktion?

Dr. Markus Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005185, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Kober.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Reichel, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sprechen die Kosten an, die von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zu decken sind, um die Leistungen des Sozialgesetzbuches II, künftig Bürgergeld, zu finanzieren. Sie haben gesagt, auch Sie haben den Gesetzentwurf gelesen. Ich empfehle Ihnen zum Beispiel die Lektüre des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 2014, in dem noch mal eindeutig klargestellt worden ist, dass in unserem Land das Existenzminimum gewährleistet ist und gewährleistet bleiben soll. ({0}) Damit möchte ich Sie fragen: Wenn Sie aus den Reihen Ihrer Fraktion immer wieder betonen, dass der Inflationsausgleich wichtig und richtig ist, und Sie sich gleichzeitig zum Grundgesetz und zu Verfassungsgerichtsurteilen bekennen, an welcher Stelle möchten Sie dann wirklich dieses Sozialleistungssystem infrage stellen? Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie hier eine Diskrepanz aufmachen zwischen sozialen Rechten, die Sie nicht benennen, auf der einen Seite und den Kosten für den Steuerzahler auf der anderen Seite, und ich frage Sie, wie Sie diesen Widerspruch auflösen wollen. ({1})

Dr. Markus Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005185, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank für Ihre Zwischenfrage. – Wir müssen das einmal miteinander ausdiskutieren. Es ist natürlich jetzt nicht hilfreich, wenn wir uns wechselseitig verschiedene Lektürevorschläge geben. ({0}) Der Punkt, den wir in dieser Debatte herausarbeiten, ist folgender: Niemand stellt doch hier – ich wüsste niemanden – die Erhöhung der Regelsätze infrage. ({1}) – Ich weiß nicht, wieso Sie da jetzt hier in so ein Gelächter ausbrechen. ({2}) Es geht doch um eine Sache: Mit diesem Gesetzentwurf werden Sie eine ganze Reihe von Fehlanreizen entweder einführen oder noch ausbauen, ({3}) die im Ergebnis dazu führen werden, dass die Zahl der Berechtigten ({4}) endlos ausgeweitet werden könnte. ({5}) Denken wir an das Thema der überzogenen Vertrauenszeiten. Denken wir an das Thema der Sanktionen, die weit unter dem Niveau sein werden, das auch Sie als FDP erwartet haben. Das ist doch eine Einladung. Genau das sagt auch die Verkäuferin, von der ich gerade zu erzählen begann. Sie sagt: Wie ist denn das möglich? ({6}) Ich muss mir doch die Frage stellen, was dann von meiner Disziplin und von meiner Zuverlässigkeit, mit der ich zur Arbeit gehe, noch übrig bleibt. Will ich da noch arbeiten, ja oder nein? Sie stellen das infrage. Deswegen sehen wir, dass wir entsprechende Zugänge in das Grundsicherungssystem haben werden. ({7}) Das wird die Steuerzahler eine Menge Geld kosten. Hier sind wir strikt dagegen. ({8}) Ich sage Ihnen auch: Wir reden jetzt in diesem wunderschönen Plenum. Ein Beispiel: Eine gute Bekannte von mir aus meinem Wahlkreis – Anna heißt sie – ist über private Probleme letzten Endes aus dem Arbeitsprozess herausgefallen. Sie landete im Hartz-IV-System, hat sich dann in die Arbeit zurückgekämpft. Auch sie sagt: Natürlich will ich arbeiten, weil ich dazugehören will, weil ich teilhaben will. ({9}) Aber Leistung muss sich doch lohnen; sonst fehlt doch auch mir die Motivation. – Das ist das, was die Menschen vom Grundsicherungssystem erwarten, und Sie wenden sich davon jetzt konsequent ab. ({10}) Wir reden doch auch – jedenfalls ich habe es getan – intensiv mit den Mitarbeitern im Jobcenter. Die stimmen dem zu, dass wir hier falsche Anreize setzen, wenn das Bürgergeld so umgesetzt wird. Das können Sie doch nicht machen. Auch die Verkäuferin wird am Ende darauf angewiesen sein, dass sie mehr netto hat, wenn sie arbeitet und zuverlässig zur Arbeit geht, als wenn sie das nicht tut. Hier werden wir ansetzen müssen, also nicht nur im Bereich des Bürgergeldes selber, sondern auch drum herum. Sie haben es ja angesprochen: Energiekostenbremse. Wann kommen wir denn endlich dazu, dass die Energiekostenlast tatsächlich gesenkt wird, und zwar nicht erst im März, sondern frühzeitig? ({11}) Denn jeder Euro Energiekosten mehr bedeutet eben auch etwas weniger Lohnabstand. Wieso werden die Sozialversicherungsbeiträge im nächsten Jahr grosso modo für alle anzusteigen beginnen, was dann wiederum den Lohnabstand senkt? So können Sie die Politik zur Erhaltung des Grundsicherungssystems nicht machen. ({12}) Wir stehen für einen aktivierenden Sozialstaat und nicht für einen alimentierenden Sozialstaat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. ({0}) – Ich hoffe nicht, dass die Rede so lang wird, wenn Sie aus dem Buch vorlesen. ({1})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, keine Sorge. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich ätzend, wie sich die Argumentationsmuster der beiden rechten Parteien hier ähneln. ({0}) Sie von der Union sollten einmal darüber nachdenken, ob das wirklich Sinn macht. Solche unsachlichen Argumente, wie ich sie heute gehört habe, sind wirklich ein großes Problem. ({1}) Eins dieser unsachlichen Argumente ist der Vorwurf, das Bürgergeld wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen. ({2}) Sie machen dabei gleich zwei Fehler; Sie machen einen Doppelfehler. Erstens. Ein Grundeinkommen ist eine Leistung, die ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt wird. Das hat übrigens viele Vorteile, auf die ich jetzt aus Zeitgründen gar nicht eingehen kann. Deswegen empfehle ich insbesondere Ihnen von der Union dieses Buch hier von der Konrad-Adenauer-Stiftung, also von einer Ihnen nahestehenden Stiftung. ({3}) Hier geht es um das Grundeinkommensmodell eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Union. Lesen Sie das einmal; dann wäre diese Debatte hier sachlicher. Es gibt gute Gründe dafür. Deswegen haben wir Grünen im Grundsatzprogramm beschlossen, dass das bedingungslose Grundeinkommen eine Leitidee für uns ist. ({4}) Aber das Bürgergeld ist eine bedürftigkeitsgeprüfte Leistung und ist gar kein Grundeinkommen. Da liegt Ihr Fehler Nummer eins. ({5}) Ein Vorteil des Grundeinkommens – da bin ich bei Ihrem Fehler Nummer zwei – ist, dass die Motivation, erwerbstätig zu werden, viel höher ist als im jetzigen Hartz-IV-System, weil die sogenannte Grenzbelastung viel geringer ist. Anders gesagt: Die Leute behalten bei einem Grundeinkommen mehr von ihrem Erwerbseinkommen. Das nicht zu sehen, ist Ihr zweiter Fehler. Ihr Vorwurf führt völlig ins Leere und ist falsch. ({6}) Wir verfolgen mit der Einführung des Bürgergeldes tatsächlich auch das Ziel, dass mehr vom eigenen Einkommen übrig bleibt. Das ist innerhalb des Grundsicherungssystems nicht so einfach; aber wir bewegen uns auf diesem Weg. In dem Gesetzentwurf – das ist Ihnen vielleicht noch nicht aufgefallen – haben wir einen zentralen Punkt: Menschen, die mehr als 520 Euro verdienen, haben demnächst bis zu 48 Euro mehr im Monat – also von wegen weniger Anreize für Erwerbstätigkeit! Wir schaffen mehr Anreize für Erwerbstätigkeit. ({7}) Und wir schaffen auch mehr Anreize für Weiterbildung durch die Einführung eines Weiterbildungsgeldes, und zwar nicht nur als Bestandteil des Bürgergeldes, sondern auch als Bestandteil der Arbeitslosenversicherung, damit sich mehr Menschen Weiterbildung leisten können. Wir setzen auf Motivation. Sie setzen auf Sanktionen und Bestrafung. Das ist der Unterschied zwischen der Ampel und Ihnen. Vielen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Jana Schimke. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Verehrter Minister Hubertus Heil, ich habe bis zuletzt gehofft, dass Sie von diesem Gesetz Abstand nehmen. ({0}) Das sage ich heute ehrlich zu Ihnen in einem Appell an Ihre politische Vernunft. Wir werden mit diesem Gesetz bis 2026 finanzielle Mehrbelastungen von 20 Milliarden Euro haben. ({1}) Denken Sie bitte alle daran, dass wir jetzt knapp 100 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zur Bewältigung der Energiekrise ausgeben. 112 Milliarden Euro Bundeszuschuss fließen 2023 in die gesetzliche Rente. Hinzu kommen Einmalzahlungen, 9‑Euro-Tickets, 49‑Euro-Tickets, Wohngelderhöhungen und alles das, was die sozialpolitische Klaviatur in diesem Land sonst zu bieten hat. ({2}) – Hören Sie doch mal zu! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will mal eins klarstellen: Wir sind nicht diejenigen, die die Menschen in diesem Land gegeneinander ausspielen. ({3}) Ihre Politik tut das aber sehr wohl. Was glauben Sie denn, warum in den großen Städten dieses Landes zurzeit demonstriert wird? Das ist genau Ihrer Politik geschuldet. ({4}) Auch das, was wir heute hier mit dem Bürgergeld diskutieren, wird da diskutiert. Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsinstitute, alle Verbände in diesem Land warnen vor dem Bürgergeld. Ich sage eins ganz deutlich: Wir sind nicht dazu da, die Traumabewältigung der SPD in den Griff zu kriegen. ({5}) Wir sind nicht dazu da, die Luftschlösser der Grünen zu vervollständigen, und wir sind auch nicht dazu da, liebe Kollegen von der FDP, das Bindemittel an Ihrem Regierungsstuhl zu sein. ({6}) Meine Damen und Herren, der Sozialstaat wächst, als wären wir im Aufschwung. Dabei haben wir Inflation, wir haben Insolvenz, und die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes geht immer mehr nach unten. Was wir jetzt vielmehr bräuchten, ist ein starkes Signal an den Arbeitsmarkt und keine Kooperationsvereinbarungen mit Bedürftigen. Was wir aber aktuell erleben, ist die maximale Ausweitung staatlicher Leistungen bei einem massiven Abbau von Eigenverantwortung. Sie schaffen das Solidarprinzip in unserer Gesellschaft ab, auf das wir so stolz sind, weil wir wissen, dass Bedürftigkeit in diesem Land von den Leistungsträgern, von den Menschen, die täglich arbeiten, auch getragen wird. Die Menschen, die gerade draußen auf die Straße gehen, fühlen sich von Ihnen über den Tisch gezogen, weil Sie dafür verantwortlich sind, dass Solidarität in diesem Land künftig zur Einbahnstraße wird. Ich würde mir wünschen – das sei mir als letzter Satz noch gegönnt –, dass Sie das Engagement, das Sie in die junge Generation setzen, wenn es um die Klimakrise geht, auch im Bereich der sozialen Sicherung zeigen. Vielen Dank. ({7})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Jens Peick. ({0})

Jens Peick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005178, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wenn man der letzte Redner ist, hat man ja das Privileg, die Debatte zusammenfassen zu können. Deswegen kann ich nach dem Austausch der Argumente erst einmal feststellen: Heute ist ein guter Tag, ({0}) ein guter Tag für unser Land, ein guter Tag für den Sozialstaat, für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land, ein guter Tag für Menschen, die Unterstützung benötigen, und – auch das ist mir besonders wichtig – ein guter Tag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. ({1}) Herr Stracke von der CDU hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Arbeiterpartei in diesem Haus sind. Ich glaube, dieser Fokus ist auch bei der gesamten Debatte ganz richtig. Denn was tun wir heute? Wir lösen ein System ab, das unter dem Namen „Hartz IV“ zu einem Synonym für die Bedrohung von Menschen wurde, das die Menschen wahrgenommen haben als eins, das ihnen nicht half, sondern das gesellschaftlichen Abstieg organisiert hat. Ob das richtig ist oder nicht, ist an dieser Stelle mal egal. Fakt ist: Diese Wahrnehmung gab es, und sie hat gerade bei der arbeitenden Mittelschicht zu Verunsicherung geführt. Wer – so wie ich oder die Präsidentin – aus dem Ruhrgebiet kommt, der hat Strukturwandel erlebt. Der hat erlebt, wie Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen mussten und vollkommen unverschuldet arbeitslos wurden, weil Hoesch sein Stahlwerk in Dortmund geschlossen hat oder Opel sein Werk in Bochum. Und das hat immer gleich Tausende oder Zehntausende Beschäftigte gleichzeitig getroffen. Deswegen hatte man keine Chancen, in dieser Region wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn man dann zum Jobcenter musste, dann hat man sich nicht gedacht: „Gott sei Dank, da wird mir geholfen“, sondern man hat das als Belastung empfunden. Wenn die Menschen aber den Glauben an die Unterstützung durch den Sozialstaat verlieren, dann haben wir ein Problem. Deswegen werden wir das Vertrauen mit diesem Gesetz jetzt wiederherstellen. Wir schaffen einen Kulturwandel! ({2}) Es wird genauso sein: ein Kulturwandel, der den arbeitenden Menschen in diesem Land sagt: Wenn ihr unverschuldet arbeitslos werdet, dann bieten wir euch Hilfe. Es wird nicht zuerst darum gehen, wie groß eure Wohnung ist, ob das Auto, das ihr euch hart erarbeitet habt, vielleicht zu teuer ist. – Nein, es wird vielmehr zuerst darum gehen: Welche Qualifikationen bringt ihr mit? Welche Unterstützung braucht ihr, um schnell wieder in Arbeit zu kommen? ({3}) Genau dazu dient die Karenzzeit von zwei Jahren hinsichtlich der Angemessenheit der Wohnung und des Vermögens: damit sich die Menschen nicht zuerst Sorgen um die Wohnung machen müssen. Dazu dient die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs: weil eine bessere Qualifikation auch bessere Perspektiven bedeutet, langfristig wieder in Arbeit zu kommen. Wir wissen doch alle, dass wir gut ausgebildete Fachkräfte brauchen. Und zu diesem Kulturwandel gehört auch der Kooperationsplan; denn Zusammenarbeit braucht eben keine Drohung. Sie braucht keine Sanktionen, sondern Zusammenarbeit braucht Augenhöhe; sie braucht Vertrauen, das geschaffen wird. ({4}) Genau deswegen entfristen wir auch den sozialen Arbeitsmarkt – § 16i SGB II –: weil wir niemanden abschreiben. Wir schreiben niemanden ab! Selbst nach vielen Jahren Langzeitarbeitslosigkeit werden wir den Menschen wieder eine Perspektive geben. ({5}) Genau deswegen gilt unser Dank auch den Kolleginnen und Kollegen der Jobcenter. Herr Whittaker hat gerade noch mal gesagt, es gebe ein Misstrauen. Das haben wir an dieser Stelle schon oft diskutiert. Nein, dieses Misstrauen gibt es nicht. ({6}) Die Kolleginnen und Kollegen – das sage ich, weil ich bis zum letzten Jahr selbst lange in der Kommunalverwaltung gearbeitet habe – geben jeden Tag ihr Bestes, und das wissen wir. Aber nicht die gute Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern ist das Problem – ganz im Gegenteil. Es ist doch der gesetzliche Rahmen, den wir setzen, mit dem die Menschen arbeiten. Und viele Beschäftigte sehen das genauso. ({7}) Das sind die Gespräche, die ich mit den Kolleginnen und Kollegen geführt habe. Sie wissen, dass man mehr tun könnte, um den Menschen zu helfen. Mit der Einführung des Bürgergeldes – das ist mir besonders wichtig – werden die Jobcenter zu einem Ort, in dem die Menschen Hilfe erfahren und das auch so wahrnehmen. Damit kommt der Kulturwandel auch bei den Beschäftigten an – weil die Menschen ihnen anders gegenübertreten werden. Dieses Vertrauen brauchen wir dringend beim kommenden Strukturwandel, auch bei den Transformationen. Und das ist doch der Unterschied, Frau Schimke: Die Menschen demonstrierten nicht gegen das Bürgergeld, sondern sie demonstrieren, weil sie berechtigte Sorgen haben. Wir schaffen Sicherheit mit ganz vielen Maßnahmen: mit den Entlastungspaketen, ({8}) mit dem Abwehrschirm und auch mit diesem Gesetz für die Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, wenn die Krise schlimmer wird. ({9}) Deswegen ist es ein guter Tag; denn die Menschen können wieder Vertrauen in den Sozialstaat fassen. Herzlichen Dank. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Ich schließe die Aussprache.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2 000 Kilometer von hier hat der Kriegsverbrecher Putin in Europa die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Erst in dieser Woche konnten wir wieder Raketenangriffe auf die Ukraine erleben, die insbesondere auch die Zivilbevölkerung – Frauen, Kinder und Männer – trifft. Aus der Ukraine sind daher in der Zwischenzeit rund 1 Million Menschen nach Deutschland gekommen, und auch in Polen, Tschechien und Moldau haben viele Schutz gefunden. Europa steht geschlossen an der Seite des ukrainischen Volkes, und darauf können wir als Europäer stolz sein. ({0}) Seit Wochen steigt allerdings im Zuge der Krisen die irreguläre Asylmigration stetig an. 154 000 Asylanträge wurden dieses Jahr schon in Deutschland gestellt, und unsere Länder und Kommunen warnen seit Monaten vor der Überlastung. ({1}) Sie verkünden Aufnahmestopps, und sie rufen den Bund um Hilfe. Aber die Bundesregierung zögert und zaudert. Acht Monate nach Kriegsbeginn verkündet Frau Faeser, die Innenministerin, in dieser Woche als großes Ergebnis ihres Gespräches mit den Kommunen unter anderem, dass der Bund 4 000 Wohnplätze zusätzlich bereitstellen will. ({2}) Das reicht nicht aus; bei der aktuellen Zahl der Einreisen sind diese Plätze in einer Woche belegt. ({3}) Aber die Versorgung der über 1,1 Millionen Menschen erfordert viel mehr als nur Wohnungen. Sie erfordert, dass die Kommunen Personal bereitstellen, Kitaplätze, Sprachkurse und vieles mehr. Diese Ressourcen sind – darauf haben die Städte und Gemeinden hingewiesen – endlich. Die Ampel verschleppt an dieser Stelle seit Monaten – seit Januar! – die Entscheidung über die Aufteilung der Flüchtlingskosten. ({4}) Selbst zugesagte Gelder sind in den Ländern bis heute nicht angekommen. ({5}) Darüber hinaus streicht die Ampel aktuell die Mittel für die Sprach-Kitas. Sie spart bei den Integrationskursen über 70 Millionen Euro ein. Das ist insgesamt ein falsches Signal auch an diejenigen, die vor Ort arbeiten. Das zerstört gezielt gute Projekte vor Ort. ({6}) Nicht nachvollziehbar ist, warum der Kanzler bisher so tut, als ginge ihn das alles gar nichts an. Wir fordern ihn zum wiederholten Male auf, das Thema Migration endlich zur Chefsache zu machen. ({7}) Und wenn er schon im Kanzleramt keinen Flüchtlingskoordinator einstellt, dann sollte es zumindest zügig einen ressortübergreifenden Flüchtlingsgipfel geben, der auch etwas zu entscheiden hat. Frau Faeser, die Innenministerin, hat diese Woche getwittert, sie wolle die irreguläre Migration, um die es in unserem Antrag geht, begrenzen. ({8}) Dafür muss sie aber auch etwas tun; Ankündigungen alleine reichen nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, stufen Sie doch endlich die Maghreb-Staaten und Georgien als sichere Herkunftsländer ein. Das hatten wir, die SPD, die FDP und die Union, 2019 im Bundestag beschlossen. Wer das blockiert, das sind die Grünen im Bundesrat. ({9}) Die Innenministerin verlängert zu Recht die stationären Grenzkontrollen an der bayerisch-österreichischen Grenze. Aber es macht keinen Sinn, dass sie Kontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze ausschließt. ({10}) Denn über diesen Weg finden aktuell die meisten illegalen Einreisen statt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, Grenzkontrollen sind auch ein Stoppsignal an Schlepper und Schleuser, und das Schlepper- und Schleuserwesen ist das, was in den letzten Monaten wieder gravierend zugenommen hat. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, Erdogan hat angedroht, er wolle 1 Million Menschen – 1 Million syrische Flüchtlinge, 4 Millionen sind noch in der Türkei – abschieben. Seit Monaten weisen wir darauf hin, dass durch die Bundesregierung endlich sichergestellt werden muss, dass die EU-Türkei-Erklärung gilt. Handeln Sie hier endlich! Hören Sie auf, falsche Signale in die Welt zu senden! Wir wollen helfen. Wir helfen, aber auch unsere Mittel in Deutschland sind nicht unendlich. Was wir brauchen, ist eine Politik mit Herz, Verstand und Ordnung. ({12}) Und dazu gehört, dass Sie endlich handeln! Vielen Dank. ({13})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Hakan Demir. ({0})

Hakan Demir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Versprechen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie einhält, auch dann, wenn sich die Umstände geändert haben. Mit Versprechen meine ich – das habe ich auch gestern gesagt –: Wir haben ein Grundgesetz, wir haben ein Asylrecht, wir haben internationales Recht, in dem steht, dass das Recht auf Asyl gilt. Das ist ein Versprechen, das wir als Land gegeben haben. Die Umstände haben sich erschwert, zugegeben. Aber dann sagen wir doch nicht: „Das Recht muss jetzt eingeschränkt werden“, sondern wir sagen, dass wir die Umstände ändern müssen, und das macht auch unsere Innenministerin Nancy Faeser. ({0}) In Ihrem Antrag fordern Sie, dass es keine weiteren Aufnahmeprogramme geben soll. Wir haben ja beide in der Großen Koalition entschieden, dass unsere Soldatinnen und Soldaten und unsere Organisationen in Afghanistan eingesetzt sind und dort helfen und unterstützen. Wir waren jetzt 20 Jahre dort. Menschen haben uns unterstützt. Wir haben gemeinsame Werte. Diese Menschen sind jetzt in Gefahr, und einige von ihnen sind leider schon getötet worden. Jetzt kann man sich doch nicht hierhinstellen und sagen: „Diese Aufnahmeprogramme sind nicht gut, die sollten wir nicht weiterführen“, sondern wir haben da eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die uns die letzten 20 Jahre unterstützt haben, meine Damen und Herren. ({1}) Sie fordern in Ihrem Antrag, Vorhaben aufzugeben, die angeblich – ich zitiere – „Anreize zu verstärkter illegaler Einreise auslösen können“. ({2}) Um das auch einmal zu beenden: Mit diesen Pull-Faktoren, auf die Sie hinweisen, sind Sie wissenschaftlich gesehen noch in den 60er-, 70er-Jahren. ({3}) Ich will es kurz machen; wir sind ja in einer Argumentation: Wenn Sie recht hätten, wären alle ukrainischen Geflüchteten oder andere direkt nach Deutschland gekommen; aber die meisten sind in Polen. ({4}) Wenn Sie recht hätten, wären nicht 4 Millionen syrische Geflüchtete in der Türkei geblieben, sondern alle wären weitergezogen. Wenn Sie recht hätten, wenn die Theorie der Pull-Faktoren stimmen würde, wären viel mehr Menschen in dieser Welt in Bewegung. ({5}) Was eigentlich stimmt, ist, dass die Menschen vor Krieg und Gewalt fliehen. Das ist die Wahrheit. ({6}) Wenn wir schon dabei sind, komme ich zu dem, was Sie ja auch gestern gesagt haben. Sie sprechen immer von Schutzquoten. Sie sprechen von einer Schutzquote von 40 Prozent. – Sie verschweigen aber, dass es eine bereinigte Gesamtschutzquote gibt, Herr Seif. Bei dieser bereinigten Gesamtschutzquote rechnen Sie nämlich alle Zahlen von Fällen raus, die sich formal klären lassen; also über ein Drittel davon entscheidet das BAMF gar nicht. Wenn Sie diese Zahl rausrechnen, dann ergibt sich, wenn Sie sich das letzte Jahr angucken, bei den Menschen eine bereinigte Schutzquote von etwa 70 Prozent. Jetzt können wir uns natürlich darüber streiten und sagen: Ja, 30 Prozent sind doch zu viel. – Aber es ist eine Unwahrheit, einfach zu sagen, dass 60 Prozent der Menschen kein Recht haben, hier zu sein. ({7}) Kommen wir zur irregulären Migration; Sie haben das Stichwort gerade dazwischengerufen. Wenn ein Mensch nach Deutschland kommt und sagt, er möchte Asyl beantragen – da komme ich auch wieder zu dem Punkt „Rechtsstaat“, der ja Ihnen und auch uns wichtig ist –, dann prüft man diesen Asylantrag. Das macht man einfach. Das ist internationales Recht, das ist unser Recht. Das tun wir, und das ist auch gut so. ({8}) Ein Beispiel dafür, was Ihre unionsgeführten Länder gerade nicht so gut machen, ist der Fall des 41‑jährigen Reza R., der im Oktober eine Ausbildung im Pflegebereich beginnen sollte. Er wurde in Passau unter einem falschen Vorwand festgenommen und sollte in den Iran abgeschoben werden, in ein Land, das gerade mit extremer Gewalt gegen Menschen vorgeht, die für Freiheit und die Rechte von Frauen einstehen. Nur durch großen öffentlichen Druck wurde diese Abschiebung ausgesetzt. Für Sie ist vielleicht ein Geduldeter, der in Passau eine Ausbildung beginnen möchte, ein Beleg für einen Pull-Faktor. Für uns ist diese Person eine Zukunft und ein Mehrwert für unseren Arbeitsmarkt. ({9}) Deutschland hat ein Versprechen abgegeben – in Form unseres Grundgesetzes, in Form von internationalen Verträgen, in Form unseres Asylrechts. Wenn wir davon abrücken, verliert unser ganzes Land an Glaubwürdigkeit. Wer sollte uns dann noch glauben? Auch deshalb ist es klar für uns: Wir werden nicht vom Recht abrücken, wir werden nicht aufgeben, wir werden dort weitermachen. Danke schön. ({10})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Bernd Baumann. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU legt heute einen Antrag vor. Sie fordert die Regierung dringend auf, die neue Migrantenwelle zu stoppen. Es kämen zu viele Asylanten über Balkanroute und Mittelmeer, also aus dem Orient und Afrika. Die CDU verlangt zur Abwehr dieser Migranten allen Ernstes nationale Grenzkontrollen. Die CDU – nationale Grenzkontrollen? Sie waren doch jetzt 16 Jahre an der Macht und haben effektive Grenzkontrollen wie der Teufel das Weihwasser gescheut und alle unsere Anträge in dieser Sache zurückgewiesen. ({0}) Dadurch haben Sie Millionen Menschen aus dem Orient und Afrika ermöglicht, unkontrolliert nach Deutschland zu kommen. Ihre weltfremde Willkommenskultur hat unsere Städte, unsere Dörfer, unsere ganze Heimat im Kern verändert. ({1}) Erstens. Sie stellen sich heute hierhin und tun so, als hätten Sie mit all dem gar nichts zu tun, als seien Sie eine konservative Partei, eine, die unsere Heimat vor illegalen Migranten schützen will. Meine Damen und Herren, auf der nach oben offenen Heuchlerskala ist das ein neuer schmutziger Rekord. ({2}) Als Zweites stellen Sie sich heute hierhin und verlangend dringend Abschiebungen. Ich zitiere aus dem Antrag – man traut seinen Augen kaum –: Die CDU fordert, endlich die „angekündigte Rückführungsoffensive … in die Tat umzusetzen“. „Was für eine Dreistigkeit!“, muss man schon sagen. 16 Jahre haben Sie als Regierung genau das Gegenteil gemacht. Sie haben 16 Jahre an den Hebeln der Macht verhindert, dass es zu nennenswerten Abschiebungen kam. Das waren Sie und niemand anders. ({3}) Schlimmer noch: Vor jeder Wahl hatte Ihre CDU-Kanzlerin ausdrücklich versprochen, dass die Hunderttausenden abgelehnter Asylbewerber abgeschoben werden, wenn man nur die CDU wählt. Vor der Bundestagswahl 2017 sagte Merkel wörtlich: Das Wichtigste ist „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“. Ein anderes Mal versprach sie – ich zitiere – „eine nationale Kraftanstrengung zur Rückführung“. Und was geschah danach? Genau das Gegenteil. Sie haben immer weniger abgeschoben. Wenn jemals in der abendländischen Geschichte seit der attischen Demokratie vor 2 400 Jahren eine Partei mit äußerster Niedertracht zu Werke gegangen ist, dann ist das diese CDU in Sachen Abschiebung, Grenzkontrolle und vernünftigem Migrationsmanagement sowie Millionen Einwanderer. ({4}) Aus dem heutigen CDU-Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik lernt man eine ganze Menge über die CDU und wie sie derzeit innerlich aufgestellt ist. Rhetorisch blinkt sie mit reichen Worthülsen oft rechts und konservativ, macht dann aber in Wirklichkeit das Gegenteil. Das sieht man auch auf ganz anderen Themenfeldern, zum Beispiel auf ihrem letzten Parteitag. Da übernahm die CDU glatt den Kern des links-grünen Weltbildes: eine Frauenzwangsquote anstatt Gleichberechtigung, ({5}) wie vernünftige, freiheitliche und konservative Politiker das fordern. Will die CDU jetzt Gleichstellung, also Zwangsquoten für Frauen in der gesamten Partei? Das machen sonst nur Linke und Grüne. Was kommt denn als Nächstes, Herr Merz? ({6}) Migrantenquoten in der CDU, LGBT-Quoten und die Regenbogenflagge in jedem Dienstzimmer? Womit müssen wir denn rechnen? Sie hatten doch eine programmatische Erneuerung unter dem angeblich konservativen Parteichef Merz angekündigt. Das Ganze ist doch eine Farce. Die Quittung dafür haben Sie gerade bei den Landtagswahlen in Niedersachsen kassiert: das schlechteste Ergebnis aller Zeiten. Kein Wunder, der Wähler ist doch nicht doof, der merkt das doch. ({7}) Wie man Migrationspolitik mitten in Europa als Staat in Europa besser machen kann, zeigt ein Land wie Dänemark. Dort hat sogar eine sozialdemokratische Regierung kapiert, wie es geht. Asylverfahren müssen dort künftig vom Ausland aus betrieben werden. Der dänische Staat schließt dazu Abkommen mit Nachbarstaaten der Herkunftsländer. Die Schutzbedürftigkeit wird in rechtlich einwandfreien Verfahren geprüft. Zeigen sich echte Asylgründe, werden die Leute im heimatlichen Kulturkreis versorgt und sind dort sicher. Für das dänische Staatsgebiet selbst gilt offiziell das Ziel: null Asyl. Die Regierung schafft so echten Schutz für echte Flüchtlinge, also für Menschen, die keine 10 000 Dollar an Schleuser zahlen können, die sie nach Europa bringen. Und der dänische Sozialstaat bleibt den Armen, den Rentnern und bedürftigen Familien in Dänemark vorbehalten. Meine Damen und Herren, das ist eine für alle Seiten gute Lösung. Das sollten wir uns in Deutschland zum Vorbild nehmen. ({8}) Die Dänen stehen für eine andere, für eine neue Politik. Sie haben begriffen, dass es auch kulturelle Gründe sind, wenn Integration in Europa kolossal scheitert – vor allem dann, wenn größere Zahlen von Einwanderern aus kulturell ganz andersartigen Regionen mit ganz fremden Frauenbildern, Menschenbildern und Vorstellungen vom gemeinsamen Zusammenleben kommen. Selbst ein Sozialdemokrat wie der dänische Integrationsminister bekennt das jetzt ganz offen. Er sieht: Überall in Europa eskaliert die Situation, und immer sind es die gleichen Herkunftsgruppen, die beteiligt sind, ({9}) wenn es im Nachbarland Schweden an allen Ecken brennt, weil migrantische Banden ganze Städte terrorisieren, ({10}) wenn in Frankreich sogenannte Banlieues brennen, weil ganze Generationen von Politikern aus dem linken und rechten Lager, obwohl sie mit allen Mitteln alles versucht haben, es nicht geschafft haben. Ähnlich geht es in Belgien zu, ähnlich in den Niederlanden, ähnlich in Großbritannien und eigentlich auch schon bei uns. Eine Politik, die solch schmerzliche Erkenntnisse endlich aufnimmt und ohne Scheuklappen nach neuen, innovativen Lösungen sucht, ist modern. ({11}) Die neue Politik in Dänemark und demnächst auch in Italien ist deshalb hochmodern. ({12}) Die Migrationspolitik von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist es nicht. Sie atmet den alten linken, ideologischen Mief der 68er. Damit sind die heutigen Probleme nicht zu lösen. Ihre Zeit ist vorbei. ({13}) Das zeigen auch die jüngsten Wahlsiege unserer Freunde überall in Europa: von Italien im Süden bis hin nach Schweden ganz hoch im Norden Europas. Das ist die Zukunft. So sieht moderne Politik aus. Dafür steht in Deutschland nur die AfD, meine Damen und Herren. ({14})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Julian Pahlke. ({0})

Julian Pahlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005173, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Was heute von der Union wieder zur Debatte gestellt wird, ist der grundsätzliche und unveräußerliche Schutz von Menschen auf der Flucht. Ich will meine vier Minuten dafür nutzen, um mit ein paar Ihrer alternativen Fakten aufzuräumen. Zuerst das Ausspielen von Menschen auf der Flucht. Wenn Menschen fliehen, dann tun sie das aus Not, aus Verzweiflung. Niemand aber verlässt freiwillig seine Heimat und begibt sich auf eine lebensgefährliche Flucht. Diese Menschen haben erst einmal das Recht, einen Asylantrag zu stellen, ob in Deutschland oder anderswo in Europa. Das ist keine Utopie. Das ist – es wird Sie überraschen – europäisches Recht. Sie aber spielen Geflüchtete gegeneinander aus. Sie unterteilen in gute und schlechte Geflüchtete, gerade so, wie es Ihnen passt. Das Recht auf einen Asylantrag kennt kein Gut und kein Schlecht. ({0}) Das Recht auf Asyl kennt nur das Individuum. Egal ob jemand vor den Bomben in der Ukraine oder den Bomben in Syrien flieht: Dieses Grundrecht ist ein zentrales Vermächtnis aus der Nazizeit. Und der Begriff „Sozialtourismus“ ist zu Recht Unwort des Jahres 2013 geworden und wurde zuletzt von russischen Propagandamedien kommuniziert – und eben von Ihnen, Herr Merz, dem Parteivorsitzenden der größten Oppositionsfraktion. ({1}) Wer bei uns Schutz sucht, ist kein Sozialtourist, sondern ein Mensch mit Ängsten auf der Suche nach Sicherheit. ({2}) Zweitens. Es ist oft die Rede von der sogenannten „illegalen Einwanderung“. Wenn aber kaum legale Wege zur Flucht und Migration bereitgestellt werden, dann sind Menschen gezwungen, auf anderen Wegen Sicherheit zu suchen. Die häufigsten Asylanträge von denjenigen, die nach Ihrer Definition illegal eingereist sind, stammen übrigens aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Sie würden diesen Menschen am liebsten die Tür vor der Nase zuschlagen und ihnen genau dieses Recht nehmen. Sie suggerieren mit der Konstruktion einer „illegalen Einreise“, dass legale Wege bestehen würden, dass diese Menschen also anderswo Schutz suchen könnten. Diese Wege gibt es quasi nicht. Das ist ein Problem, das über die Bundesrepublik hinausgeht; denn Flucht ist längst eine globale Realität. Kriege und Konflikte sind eine globale Realität. Diese Realität werden auch Sie nicht ändern können. Stattdessen braucht es sichere und legale Wege zur Einreise, damit auch Menschen, die vor den Bomben in Syrien fliehen, einen sicheren Ort finden und lebend das europäische Festland erreichen. ({3}) Denn auch für sie gilt das europäische Asylrecht. Zum Dritten. Es ist gerade ständig die Rede vom sogenannten Pull-Faktor. Also, mal im Ernst: Der Pull-Faktor ist ein Konzept der Migrationsforschung aus den 60ern. Das ist ungefähr der Zeitpunkt, wo Sie als Union inhaltlich stehen geblieben sind. ({4}) Der Pull-Faktor ist eines Ihrer Konstrukte, mit dem Sie lediglich versuchen, die Flucht eines Menschen als illegitim erscheinen zu lassen, weil Sie diesen Menschen allein wegen seiner Herkunft ablehnen. Diese Theorie vom Pull-Faktor ist falsch, und sie ist Teil der Hetze gegen Schutzsuchende. ({5}) Den Pull-Faktor gibt es nicht. ({6}) Kein Mensch verlässt seine Familie, seine Heimat oder den Ort, dessen Sprache er spricht und wo er sich auskennt, wegen ein bisschen Sozialhilfe. ({7}) Die meisten Ukrainer/-innen sind deshalb auch nicht in Deutschland, sondern in Polen – nicht weil man da eine so üppige finanzielle Unterstützung bekommt, ({8}) sondern weil es dort eine große Diaspora gibt, weil das Land direkter Nachbar der Ukraine ist. Mit diesem gefährlichen Gerede gewinnen Sie keine Stimmen. Mit diesem gefährlichen Gerede verlieren Sie in Niedersachsen Wahlen. Das haben wir am letzten Sonntag Gott sei Dank gesehen. ({9}) Wenn wir über das Ausspielen von Menschen auf der Flucht reden, von vermeintlich illegaler Migration ({10}) oder vom vermeintlichen Pull-Effekt: Bei all dem, Herr Frei, geht es am Ende des Tages um Menschen – um Menschen, die vor einigen Monaten noch in den Kellern von Charkiw gesessen haben, die von den Taliban verfolgt werden, oder Menschen, die ihr Leben auf der Flucht riskieren. ({11}) Das sind keine Dinge, das sind keine Waffen, und das sind keine Gefahrengüter, Herr Frei. Das sind Menschen! Danke schön. ({12})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Gökay Akbulut. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die plötzliche humanitäre Aufmerksamkeit der Union gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine war erfreulich, aber leider nur von kurzer Dauer. Mit ihrem Antrag, den wir heute hier diskutieren, zeigt die Union, dass sie wieder zu ihrer „Das Boot ist voll“-Rhetorik zurückkehrt ist. Wir benötigen gerade dieser Tage dringend Solidarität gegenüber Menschen, die vor Krieg fliehen mussten, und keine Profilierungsversuche auf dem Rücken von Geflüchteten. ({0}) Ihre Aussage, Herr Merz, zum angeblichen Sozialtourismus der ukrainischen Kriegsflüchtlinge war quasi das Startsignal. Es geht bei der Union wieder mit dem Fischen am rechten Rand los. Ohne jede Prüfung der Faktenlage verbreiten Sie, Herr Merz, diese Behauptungen aus prorussischen Kanälen. Das ist schäbig und ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen mussten. ({1}) Nach einer halbherzigen Entschuldigung haben Sie, Herr Merz, ein paar Tage später nachgelegt. Die aktuelle Regierung, so behaupten Sie, würde Tür und Tor für eine ungeregelte Einwanderungspolitik öffnen. In die gleiche Richtung geht auch heute dieser Antrag. Er stellt es so dar, als ob in Deutschland Anreize für illegale Migration geschaffen würden. Die Behauptung, das deutsche Sozialsystem sei ein Pull-Faktor, ist nachweislich falsch. Sie ist geradezu grotesk angesichts der zahlreichen schrecklichen Kriege, die Menschen zur Flucht zwingen. ({2}) Niemand, Herr Merz, verlässt freiwillig seine Heimat, um hier in Deutschland in einer Massenunterkunft zu wohnen und Leistungen zu beziehen, die unter dem Hartz-IV-Niveau liegen, und wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. ({3}) Aber schauen wir doch mal auf die Faktenlage. Ja, die Aufnahme und die Betreuung der Geflüchteten sind eine große Herausforderung für die Kommunen. Deshalb muss die Bundesregierung Städte und Gemeinden in viel größerem Umfang unterstützen als jetzt. ({4}) Tatsache ist auch, dass 1 Million Flüchtlinge aus der Ukraine Schutz in Deutschland erhalten haben. Daneben wurden dieses Jahr bislang rund 150 000 Asylanträge gestellt. 20 Prozent dieser Anträge stammen von hier geborenen Kindern, die nicht zugewandert sind. Die Asylzuwanderung, über welche Route auch immer, ist also nicht der Grund, weshalb die Unterbringungskapazitäten in einigen Regionen erschöpft sind. Das Problem liegt in der fatalen Wohnungspolitik, die ja dem Markt komplett unterworfen ist. Es kann nicht sein, dass Menschen hier gegeneinander ausgespielt werden. Auf einen weiteren Punkt Ihres Antrages möchte ich noch eingehen. Sie sprechen auf der einen Seite von den ukrainischen Geflüchteten, denen Ihre volle Solidarität gelte, und auf der anderen Seite von Personen, die einen Asylantrag stellen. Diese Gegenüberstellung von guten und schlechten Flüchtlingen können und werden wir nicht akzeptieren. Wir lehnen die Zweiklassenflüchtlingspolitik ab. ({5}) Wir als Linke unterscheiden nicht, ob jemand vor den Bomben Putins fliehen muss oder vor den chemischen Waffen eines Erdogan. Wer fliehen muss, egal woher, verdient Schutz und Aufnahme. Unsere Solidarität ist hier unteilbar. Wir setzen uns für entrechtete Menschen an den europäischen Grenzen ein. ({6}) Die Union macht mit falschen Behauptungen erneut Stimmung gegen Geflüchtete, um wieder Wählerinnen und Wähler am rechten Rand abzugreifen. Das wird ihr aber kaum gelingen. Wer Rassisten nach dem Mund redet, macht sie nur noch stärker. ({7}) Was wir heute, in diesen schwierigen Zeiten, brauchen, sind demokratische Parteien, die eine klare Kante gegen rechts zeigen, und keine Union, die in braunen Gewässern fischt. Vielen Dank. ({8})

Bärbel Bas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004006

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frauen Präsidentinnen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Union legt uns heute einen Antrag mit dem Titel „Migrationspolitischen Sonderweg in Europa sofort beenden“ vor, und ich überlege mir: Was will uns die Union damit eigentlich sagen? Den migrationspolitischen Sonderweg Deutschlands hat der Wähler vor einem Jahr beendet, als er die Union in die Opposition gesandt hat. ({0}) Seither kann niemand mehr davon sprechen, dass es eine Herrschaft des Unrechts oder dergleichen in Deutschland gebe. Ich will an ein paar Beispielen widerlegen, dass wir einen Sonderweg gehen, und zeigen, dass wir vielmehr Dinge planen, die sinnvoll, richtig und nützlich sind. Wir wollen erstens statt irregulärer, illegaler Migration insbesondere Wege zu regulärer und legaler Migration eröffnen, weil wir doch auch auf dem Arbeitsmarkt Menschen brauchen, die etwas zum Gelingen unserer Gesellschaft beitragen. Deswegen brauchen wir Möglichkeiten, wie Menschen legal ins Land kommen können. Dazu schaffen wir die Chancenkarte, dazu verbessern wir die Bluecard, damit nicht nur Menschen mit hoher Qualifikation, mit akademischer Ausbildung nach Deutschland kommen können, sondern auch ganz einfache Arbeitskräfte, ({1}) die bei uns arbeiten können, die sich bei uns ausbilden lassen können. Daran fehlt es doch bei uns. ({2}) Das ist zugleich ein Punkt, der das reduziert, was Sie Pull-Effekt oder falschen Anreiz nennen. Denn wer wird noch viel Geld an Schlepper und Schleuser bezahlen, Leben, Leib, Gesundheit, Freiheit in der Wüste oder auf dem Meer aufs Spiel setzen, wenn es einen ganz einfachen legalen Weg gibt, in Deutschland zu arbeiten und hier eine Ausbildung zu absolvieren? ({3}) Ein zweiter Punkt: das Thema Chancen-Aufenthalt, von dem Sie auch immer sagen: Das löst Pull-Effekte aus und schafft falsche Anreize. – Worum geht es denn eigentlich? 2015 und 2016 kamen ganz viele Menschen nach Deutschland, von den ganz, ganz viele immer noch hier sind. Sie sind seit sechs oder sieben Jahren bei uns geduldet und können keine echte Perspektive entwickeln. ({4}) Die Kinder sprechen zum Teil besser Deutsch als die Sprache ihrer Eltern und Großeltern. Jetzt sagen Sie: Ja, gut, aber wenn wir diesen Chancen-Aufenthalt schaffen, legalisieren wir doch einen illegalen Status, schaffen wir Pull-Effekte und setzen falsche Anreize für Sozialtourismus. – Aber worum geht es eigentlich? Wir wollen mal herausfiltern, ob da nicht Potenziale für uns alle drinstecken. Es geht um pragmatische Lösungen, um diesen Zustand zu beenden. Wenn wir schon genau wissen: „Dieser Zustand wird sich nicht so schnell beenden lassen“, überlegen wir doch, wie wir das konstruktiv ummünzen können. Darum geht es uns, nämlich einen Sachverhalt abzuschließen, der sich in der Vergangenheit zugetragen hat. Deswegen ist unser Vorschlag auch stichtagsbezogen. Das löst keine falschen Anreize für die Zukunft mehr aus. ({5}) Wir wollen Dinge, die in der Vergangenheit, in Ihrer Regierungszeit, falsch gelaufen sind, endlich einmal lösen. ({6}) Das ist es doch, worum es uns geht. ({7}) Für die Zukunft planen wir etwas anderes – siehe oben –: Chancenkarte, verbesserte Bluecard. Wir wollen Dinge aus der Vergangenheit abarbeiten, aufräumen, was noch ungelöst herumliegt. Ein dritter Punkt – auch hier frage ich mich: wo ist da der Sonderweg? – ist die Verfahrensbeschleunigung. Wir wollen schneller Klarheit schaffen. Auch das ist in der Vergangenheit nie oder jedenfalls nie gut gelungen. Da ist auch von Ihrer Seite von „Anti-Abschiebe-Industrie“ gesprochen worden, obwohl einfach der Rechtsweg ausgeschöpft worden ist. Was uns gelingen muss, ist, den Rechtsweg zu beschleunigen, ohne Rechte zu beschneiden. Und das ist keine leichte Aufgabe; das wissen Sie doch auch. ({8}) Geben Sie uns – Sie haben es in eineinhalb Wahlperioden nicht geschafft – doch mal eineinhalb Jahre Zeit, um diese schwierige Aufgabe zu lösen, meine Damen und Herren. Das ist doch kein Sonderweg, den wir beschreiten. Das vierte Beispiel, das ich ansprechen will, ist das Thema „Rückführungen und Abschiebungen“. Da gibt es zurzeit ein ganz schwieriges Beispiel, bei dem sich die Frage stellt, wie wir damit umgehen wollen, nämlich das Beispiel Iran. Da bekommen wir täglich dramatische Bilder, da herrscht eine unsichere, labile Lage. Viele Länder haben schon Abschiebestopps verhängt. Die Innenministerin hat zu Recht, wie ich finde, gesagt, dass allerdings Straftäter und Gefährder von diesen Abschiebestopps nicht umfasst sein sollten. Das ist immer ein kritischer Punkt. Ich halte das für legitim; denn ob jemand Straftäter oder Gefährder ist, hat man selbst in der Hand. Man kann es auch einfach bleiben lassen. Deswegen finde ich: Wenn jemand Straftaten begeht oder Anschläge plant, dann kalkuliert er irgendwie auch mit ein, dass wir bei unserem Nein konsequent sind und ihn abschieben. Das ist die Konsequenz. ({9}) Da frage ich Sie: Wo ist denn da der Sonderweg, den Sie beklagen? Als Fazit: Nein, wir beschreiten keinen Sonderweg, sondern wir versuchen, Dinge, die in der Vergangenheit nicht gut gelaufen sind, besser zu machen, einen Paradigmenwechsel hinzubekommen. Das ist kein Sonderweg, sondern es sind viele nützliche und gute Dinge, die wir planen. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Vormittag und fahre gleich in der Rednerliste fort. Als Nächstes erhält das Wort Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Gestern Abend sprach ich von diesem Rednerpult zu einem populistischen Antrag der AfD. Heute debattieren wir erneut zur Migrationspolitik – man merkt den Unterschied kaum –, aber diesmal zu einem Antrag der CDU/CSU. ({0}) Sehr geehrter Herr Merz, eines vorweg: Zuletzt haben Sie versucht, sich auf dem Rücken der Schwächsten zu profilieren. Anders ist nicht zu erklären, dass Sie Geflüchtete aus der Ukraine kurz vor der Niedersachsenwahl des „Sozialtourismus“ bezichtigen. So verhalten sich nur Populisten und Hetzer, die die Gesellschaft spalten wollen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, „wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung“. Genau mit diesen Worten hat der CDU-Vorsitzende versucht, sich wieder vom Unwort des „Sozialtourismus“ zu distanzieren. Merken Sie selbst, oder? Das war keine echte Entschuldigung. Das war ein Zurückrudern nach einem kalkulierten Tabubruch, ganz in rechtspopulistischer Manier. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wohin ein solcher Tabubruch führt, sehen wir am vorliegenden Antrag der Union. Während gerade wieder russische Raketen in ukrainischen Wohngebieten einschlagen, raunen Merz und seine Fraktion von Migrationsplänen, „die Anreize zu verstärkter illegaler Einreise auslösen können“. Statt konkret zu werden, welche angeblichen Anreize denn da gemeint sind, wird unterstellt, dass die Bundesregierung illegale Migration befördere. Das Gegenteil ist richtig: Wer illegale Migration eindämmen will, muss legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen. ({3}) Im Koalitionsvertrag haben wir genau das geregelt. Auch die zweite Forderung im Antrag ist unredlich. Ausgerechnet die Union macht sich zum Anwalt der Kommunen und fordert „umfassende Hilfe im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel“ – natürlich ohne jeglichen Finanzierungsvorschlag. Ist Ihnen denn entgangen, dass der Bund 2 Milliarden Euro an Unterstützung bereitgestellt hat? ({4}) Drittens fordern Sie eine fortlaufende Kommunikation mit Ländern und Kommunen. Darf ich mal fragen, wo Sie am Dienstag waren? Da traf sich Bundesinnenministerin Faeser mit den kommunalen Spitzenverbänden und Vertretern der Länder zu Gesprächen zur aktuellen Flüchtlingssituation. ({5}) Länder und Kommunen werden monatlich über alle vorliegenden Erkenntnisse informiert und eng einbezogen. Dazu initiiert sie auch eine gemeinsame digitale Plattform, ({6}) wo sich Fachleute unter anderem über Verbesserungen bei der Unterbringung von Geflüchteten austauschen können. Und die Ministerin hat auch angekündigt, dass wir weitere Bundesimmobilien für Geflüchtete öffnen. Viertens drängen Sie auf europäische Lösungen. Auch das geschieht bereits. Während Ihr Innenminister Seehofer von Europa immer nur sprach, um eigene Untätigkeit zu verschleiern, geht unsere Ministerin voran. So warb sie schon Anfang des Jahres für eine „Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten“, um die Weiterentwicklung des europäischen Asylsystems endlich in Gang zu bringen. Außerdem haben wir schnell und erstmalig gemeinsam mit unseren EU‑Partnern die Richtlinie über den temporären Schutz aktiviert. So haben wir Schutzsuchenden europaweit eine schnelle und unbürokratische Aufnahme ermöglicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter jeder Fluchtgeschichte steckt ein Mensch mit Hoffnungen, Ängsten und Nöten. Achten Sie deshalb auf Ihre Wortwahl. Verteidigen Sie mit uns das humanitäre Recht auf Asyl, ({7}) und arbeiten wir gemeinsam an pragmatischen Lösungen! Herzlichen Dank. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die Unionsfraktion erhält nunmehr das Wort Josef Oster. ({0})

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Yüksel, zu Ihrer Rede gerade: Es ist immer problematisch, wenn man dieselbe Rede zu verschiedenen Tagesordnungspunkten hält. ({0}) Ich empfehle Ihnen, unseren Antrag noch mal genau durchzulesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland leistet Großartiges. Rund 1,2 Millionen Menschen haben in den vergangen acht Monaten bei uns Schutz und Zuflucht gefunden. Das ist eine großartige Leistung gegenüber der Ukraine, aber auch gegenüber vielen Menschen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Im Durchschnitt haben wir rund 5 000 Menschen jeden Tag in Deutschland aufgenommen. Eine Leistung – das will ich hier betonen –, auf die unser Land stolz sein darf, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Aber es ist eine Leistung, die vor allen Dingen von unseren Städten und Gemeinden und von zahllosen Ehrenamtlichen geschultert wird und wohlgemerkt nicht von unserer Bundesregierung. ({2}) Ihr Beitrag ist dabei höchst überschaubar: kaum Steuerung, kaum finanzielle Hilfe. Die Bundesregierung scheint die Realität nicht wahrnehmen zu wollen – weder in Bezug auf die Situation in unserem Land noch in Bezug auf die Situation in Europa. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unsere Kommunen sind an der Belastungsgrenze. Ich nehme die Warnungen, insbesondere die unserer kommunalen Spitzenverbände, ausgesprochen ernst. Das Ergebnis des Gipfels vorgestern bei der Innenministerin ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen mager. Das Ergebnis, dass rund 4 000 zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten angeboten werden sollen, entspricht ungefähr dem Tagesbedarf im Durchschnitt der letzten Monate. Wäre ich heute noch Bürgermeister, käme ich mir veralbert vor. ({3}) Und wenn ich hier aus den Regierungsfraktionen so manche Äußerung höre, dann frage ich mich: Wann waren die Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen zuletzt in ihren Wahlkreisen unterwegs ({4}) und haben mal mit einem Bürgermeister oder mit einem Landrat gesprochen? ({5}) Oder fahren Sie da gar nicht mehr hin, weil Sie Angst haben, Ihr ideologisches Weltbild könnte ins Wanken geraten? ({6}) Blenden Sie Ihre Ideologie aus, und öffnen Sie die Augen für die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch die Stimmung in der Bevölkerung ist heute eine andere, eine kritischere. Wenn es allen gut geht, so wie das in den vergangenen Jahren der Fall war, dann schauen die Menschen über vieles hinweg. In schlechten Zeiten wie momentan gilt das eben nicht. Die Menschen fragen sich schon: Was macht der Staat eigentlich mit meinen Steuergeldern? Deshalb müssen wir darauf achten, dass die hohe gesellschaftliche Akzeptanz, Menschen, die wirklich in Not sind, zu helfen, nicht in Gefahr gerät. Deshalb müssen wir darauf achten, uns darauf konzentrieren, die illegale Migration viel konsequenter zu bekämpfen, als das bislang der Fall gewesen ist. Das hat ja sogar die Innenministerin mittlerweile erkannt. Dafür wird sie von den Jusos heftig kritisiert. Einen schöneren Beleg dafür, dass sie auf dem richtigen Weg ist, kann es gar nicht geben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Abgeordneter, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten. ({0})

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. – Frau Ministerin, liebe Bundesregierung, beenden Sie den deutschen Sonderweg, und verwenden Sie alle Kraft darauf, einen gemeinsamen europäischen Weg in der Migrationspolitik zu finden. Vielen Dank. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächste Rednerin erhält das Wort Katrin Göring-Eckardt für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angela Merkel hat in dieser Woche den Nansen-Preis verliehen bekommen. Und was hat sie damit gemacht? Sie hat ihn den deutschen Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfern gewidmet. ({0}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, beschreiten jetzt den entgegengesetzten Weg. Sie fallen all denjenigen in den Rücken, die helfen, die organisieren, die arbeiten – in Verwaltungen, ehrenamtlich, wo auch immer. Das, was Sie mit Ihrem Antrag hier gerade machen, ist, Panik zu schüren. Und Sie machen das auf dem Rücken der Helfer/-innen, und Sie machen es auf dem Rücken der Geflüchteten. ({1}) Ich finde das absurd und der demokratischen Diskussion hier nicht würdig, meine Damen und Herren. ({2}) Jetzt wurde entlarvt, dass ihr Vorsitzender, Friedrich Merz, seinen unsäglichen Vorwurf gegen die Geflüchteten aufgrund einer anonymen Telegram-Nachricht gemacht hat. ({3}) Herr Merz, ich will es mal so ausdrücken: Ich glaube nicht, dass Sie wollten, dass Sie damit positiv in den russischen Propagandamedien erscheinen. Aber, ich finde, es sollte für Sie, für alle, die so agieren, eine Warnung sein: Wenn man auf dem Rücken der ukrainischen Geflüchteten solche Nummern abzieht, dann ist das die Sache Putins, die da betrieben wird. Vielleicht machen Sie es ohne Absicht. Aber bitte überlegen Sie beim nächsten Mal ganz genau, was Sie sagen, damit das nicht geschieht, meine Damen und Herren! ({4}) In Ihrem Antrag schimpfen Sie nun auf Sonderprogramme. Was genau meinen Sie? Meinen Sie die afghanischen Ortskräfte, deren Ausreise schwierig genug ist und bei denen wir im Wort sind? Meinen Sie die getrennten Familien, deren Nachzug Sie nicht wollen und deren Mitgliedern die Integration bei uns umso schwerer fällt, je länger sie getrennt sind? Meinen Sie Kinder, die dableiben müssen, damit ein Elternteil zu den anderen Kindern kann? Sorry, ich verstehe es nicht. Wen meinen Sie mit Sonderprogrammen? Meinen Sie etwa diejenigen, die besonders in Not sind? Es drängt mich, an dieser Stelle emotional zu werden, ({5}) aber ich probiere es trotzdem anders. Ja, die Kommunen erleben eine große Herausforderung: 1 Million Menschen aus der Ukraine sind gekommen; nicht alle sind geblieben. Vernünftigerweise stellen sich die Kommunen jetzt auch auf einen Kriegswinter in der Ukraine ein. Jetzt kann man Grenzen dichtmachen oder sagen: Serbien soll das regeln. Das haben Sie in Ihrem Antrag ja so deutlich gemacht. ({6}) Man kann Panik schüren, oder man kann die Sache einmal nüchtern betrachten: „Humanität und Ordnung“ heißt es und nicht „Humanität und Abschottung“, meine Damen und Herren. ({7}) Die knapp 135 000 Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben – es ist hier schon gesagt worden –, sind vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak. Was wollen Sie diesen Menschen mit Ihrem Antrag eigentlich sagen? Natürlich würde jeder von uns sagen: Wir brauchen schnelle Verfahren und in der Folge schnelle Rückführungen, damit die Menschen wissen, woran sie sind. Das ist überhaupt nicht das Thema. Und ja, die Unterbringung von so vielen Menschen ist ein enormer Kraftakt für unsere Kommunen und die Strukturen vor Ort. Es ist ein guter Schritt, dass sich Bund, Länder und Kommunen zusammensetzen und dass alle gemeinsam gesagt haben: Ja, auf der MPK brauchen wir Klarheit darüber, wie die Finanzierung funktioniert. Da sind wir uns einig. ({8}) Aber, meine Damen und Herren, Push und Pull, das sind eingebildete Faktoren. ({9}) Das ist wie mit eingebildeter Krankheit. Ich meine, Sie können sich ja mal die Aussagen aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu anschauen, dann sehen Sie, dass es Quatsch ist. ({10}) Lassen Sie uns doch andersherum agieren. Herr Oster hat das übrigens gerade gesagt: Lassen Sie es uns mal andersherum machen. – Wir könnten doch versuchen, uns auf unsere Stärken zu besinnen – Sie könnten das auch – und dafür zu sorgen, dass Integration gelingt, dass wir Chancen für mehr Arbeitskräfte haben. Es geht längst nicht mehr nur um Fachkräfte. Fragen Sie mal die Bauwirtschaft oder das Handwerk. Meine Damen und Herren, wir könnten gerne darüber streiten, wie das am besten gelingt. Aber ich bitte Sie inständig: nicht auf dem Rücken der geflüchteten Menschen. Wer aus dem Krieg flieht, der braucht unsere Hilfe und nichts anderes. ({11}) Ich weiß, dass manche von Ihnen den Merkel-Satz „Wir schaffen das“ nicht mögen. Ich würde ganz einfach mal sagen: Es ist die ganz normale Politik, dass man Dinge schafft. Und diese beruht auf Humanität, auf Ordnung, auf gutem Willen, guter Zusammenarbeit und unserem Grundgesetz. Herzlichen Dank. ({12})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion Detlef Seif. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Aktuell sind über 12 Millionen Menschen wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf der Flucht, innerhalb der Ukraine und außerhalb der Ukraine. Etwa 927 000 Menschen haben bisher bei uns vorübergehenden Schutz erhalten. Ich meine, wir können an der Stelle auch mal deutlich sagen: Wir als Deutschland können wirklich stolz darauf sein, dass wir so beherzt vorgegangen sind und vorgehen und dass wir diese Menschen vorbehaltlos aufgenommen haben. ({0}) Auf der anderen Seite: Es ist natürlich wichtig, dass die Hilfe im Asylrecht den Menschen zuteilwird, die sie auch benötigen. Ich glaube, diesen Obersatz können doch wir alle unterstreichen. Wir können es, wenn wir die aktuellen Migrationsbewegungen sehen, uns auch nicht länger leisten, dass die Hilfe denjenigen zuteilwird, die keinen Anspruch haben. ({1}) Deshalb ist es so: Im Gegensatz zu Deutschland hat der ganz überwiegende Teil der EU-Mitgliedstaaten mittlerweile eine sehr restriktive Asylpolitik auf den Weg gebracht, beispielsweise die skandinavischen Länder, Frankreich, die Mittelmeerländer und Österreich. Die Bereitschaft für eine freiwillige Aufnahme tendiert gegen null. Der Tenor in Europa ist: Bloß keine weiteren Anreize schaffen. Die Ampelregierung will das nicht wahrhaben. Sie beschreitet in der Tat einen Sonderweg in Europa. Wir sind die Einzigen, die das so machen. Sie schafft weitere aufenthaltsrechtliche und sozialrechtliche Anreize. Herr Thomae, ich muss Ihnen mal deutlich sagen: Sie glauben doch nicht, wenn Sie ein paar Tausend Menschen die legale Einreise ermöglichen, dass dann der Migrationsdruck, der in der Welt besteht – es geht hier um über 100 Millionen Menschen –, beseitigt ist ({2}) und die anderen 99,5 Millionen Menschen sagen: Wir wandern jetzt nicht mehr. – Das ist doch unlogisch. Das müssen Sie doch selbst einsehen. ({3}) Schon im Januar ist Innenministerin Faeser ja einseitig mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten vorgeprescht. Die Reaktion ging gegen null. Die große Mehrheit der Länder hat das abgelehnt. ({4}) Dieser Sonderweg – ich weiß das durch viele Gespräche – schadet uns in Europa und international. Anstatt durch innenpolitische Asylexperimente neue Anreize zu schaffen, muss die Ampel endlich die europäischen und internationalen Baustellen angehen. Wir brauchen dringend das Grenzverfahren. Sprechen Sie mit Ihren Sozialdemokraten in Brüssel! Die sind gerade dabei, das nur noch als freiwillig auszugestalten. Wir brauchen dringend eine Wiederbelebung des EU-Türkei-Abkommens. Hunderttausend Menschen haben sich aktuell organisiert und warten auf die Möglichkeit, zu uns gekommen. Hier ist die Bundesregierung gefragt – nicht im innenpolitischen Klein-Klein, sondern international. ({5}) Serbien ist zurzeit Dreh- und Angelpunkt, ein Hotspot im Ganzen. Die Drittstaatsangehörigen von 28 Ländern können visafrei einreisen. Serbien als Transitland guckt weg. Das macht im Moment auch den großen Druck auf der Balkanroute aus. Und – ich habe es gestern schon mal in der Debatte gesagt, aber das Thema ist ganz wichtig –: Es gibt anerkannte Asylbewerber in Italien, Griechenland und anderen Ländern. Die kommen zu uns, reisen legal ein, stellen hier einen Asylantrag, und unsere Gerichte sagen: Ihr könnt sie nicht mehr in die Länder zurückschicken, wo sie anerkannt sind, sondern ihr müsst hier ein neues Verfahren durchführen. – Was ist das denn für ein europäisches System? Hier erwarte ich Druck seitens der Bundesregierung und erwarte von ihr, diplomatisch und international tätig zu werden. ({6}) Mit ihrem europäischen Sonderweg ist die Ampel zurzeit Teil des Problems und eben nicht die Lösung.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Komme ich. – Nehmen Sie Abstand von Ihren Asylexperimenten, und setzen Sie europäisch und international endlich die dringend erforderlichen Impulse! Zeigen Sie endlich Führung! Das erwarten die Mitgliedsländer von uns. Vielen Dank. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort geht jetzt an die FDP-Fraktion, an Dr. Ann-Veruschka Jurisch. ({0})

Dr. Ann Veruschka Jurisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005094, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich gedacht: Wie gut, dass wir als Ampelkoalition in der Migrationspolitik endlich Fortschritt gestalten können. ({0}) Ja, über die klassischen Fluchtrouten kommen in diesem Jahr deutlich mehr Menschen als in den beiden Coronajahren davor. Dieses Jahr haben bei uns – wie Sie auch gesagt haben – bisher 156 000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Das sind 20 Prozent mehr als 2019, dem letzten Vor-Corona-Jahr, im gleichen Zeitraum. Aber das sind bei Weitem nicht die Zahlen wie 2015 und 2016. Also, keine falschen Narrative! Für die Kommunen ist doch im Moment das Hauptproblem, über 1 Million geflüchtete Menschen aus der Ukraine unterzubringen. Das ist eine riesige Herausforderung für unsere Kommunen. ({1}) Das Hauptproblem, das wir Moment haben, ist Putins Krieg, und es sind nicht die Flüchtlinge auf der Balkanroute. Angstpolitik ist gerade jetzt wirklich komplett verfehlt. ({2}) Für unsere Kommunen wünsche ich mir von Ministerin Faeser neben den vielen guten Maßnahmen, die sie eingeleitet hat, sehr klare Worte in Richtung ihrer europäischen Kollegen im Rat der Innenminister, der heute und morgen stattfindet. Denn ganz besonders muss im Rat der bisher wirklich nicht funktionierende, freiwillige Solidaritätsmechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen aus der Ukraine ein großes Thema werden. Da geht wirklich mehr; hier brauchen wir kreative Lösungen. Wieso kann zum Beispiel Frankreich nicht ganz pragmatisch aus grenznahen Regionen in Deutschland ukrainische Geflüchtete aufnehmen? So was muss thematisiert werden. Ich möchte aber trotzdem hier – weil Ihr Antrag das ja auch herausfordert – über die Menschen sprechen, die in diesem Jahr irregulär bei uns eingereist sind – genauso übrigens auch wie in den Jahren unter Herrn Seehofer. Es sind nach wie vor zu viele Menschen, die auf gefährlichen Wegen zu uns gelangen. Viele davon sind Menschen, die in ihrer Heimat keine Perspektive für sich sehen. Wir Freie Demokraten schlagen zusammen mit unseren Koalitionspartnern einen neuen Weg vor. Neben Schutz, Verfahrensbeschleunigung und Rückführungsoffensive gibt es ein weiteres wirksames Mittel gegen irreguläre Migration, über das bisher viel zu wenig gesprochen wurde: Wir brauchen mehr legale Migrationswege zu uns, und zwar in unseren Arbeitsmarkt. ({3}) Dass das funktioniert, zeigt uns die Westbalkanregelung, die Sie in der Großen Koalition ja eingeführt haben: Menschen aus den Westbalkanstaaten, die einen Arbeitsplatz bei uns vorweisen können, können zu uns kommen. Das Ergebnis: Der irreguläre Migrationsdruck aus diesen Ländern hat massiv abgenommen. Die Mehrheit dieser Menschen arbeitet bei uns als Fachkräfte. Die Wirtschaft bittet dringend darum, die Westbalkanregelung zu entfristen und die Kontingentierung aufzuheben. An diesem Erfolgsmodell wollen wir anknüpfen, und wir wollen es ausweiten. Es bringt den einwandernden Menschen, die einfach bei uns arbeiten wollen, Nutzen, da sie keine Fluchtwege einschlagen müssen. Und es bringt auch unserem Land Nutzen; denn wir brauchen diese Menschen. In Deutschland gibt es einen riesigen Bedarf an Arbeits- und Fachkräften. Boston Consulting prognostiziert in einer aktuellen Studie einen jährlichen Verlust an Wirtschaftsleistung in Höhe von 86 Milliarden Euro in Deutschland pro Jahr wegen Arbeits-und Fachkräftemangel. Wenn wir das gut lösen, haben wir ein riesiges Potenzial. Als Ampel wollen wir den Arbeitskräftemangel auch durch Arbeitseinwanderung decken. Der gut sichtbare Leuchtturm wird dabei ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild sein. Es bietet Arbeitschancen für die, die bei uns sich engagieren wollen. Daran arbeiten wir in der Ampel: für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Mehr reguläre Migration, weniger Angstland, mehr Chancenland! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächster Redner erhält das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte die CDU/CSU-Fraktion ganz ausdrücklich – und das mache ich jetzt nicht im Gestus des Tribunals –, zu einem Kurs staatspolitischer Verantwortung zurückzukehren, ({0}) und das ganz deutlich, wie Sie es in der Merkel-Ära bewiesen haben. ({1}) Denn es war diesem Land und übrigens auch der CDU/CSU in der Vergangenheit – das erkennen Sie, wenn Sie in die Geschichtsbücher gucken – immer dann gedient, wenn Sie sich dieser staatspolitischen Verantwortung erinnerten. ({2}) Und es half diesem Land und der CDU/CSU übrigens auch, wenn Sie sich an den Unterschied zwischen Konservatismus und Populismus erinnerten. Sie scheinen das vergessen zu haben. Das ist eine schmale, aber entscheidende Grenze, und diese Grenze sollte man auch kontrollieren. Sie haben das momentan vernachlässigt. Andere in Ihren eigenen Reihen haben das schon vorher erkannt. Es ist nämlich nicht das erste Mal, sondern das hat eine Vorgeschichte. Im Jahr 2000 erinnerte Rita Süssmuth Friedrich Merz daran – die Akteure haben sich nicht fundamental geändert –, die Emotionalisierung gegen Ausländer bitte nicht zum Wahlkampfthema zu machen. Ich schließe mich ausdrücklich Rita Süssmuth an. ({3}) Und wenn wir uns die Wahlergebnisse angucken, scheint es ja auch kein Erfolgsmodell zu sein, so zu agieren. Verräterisch ist insbesondere – deshalb auch der Hinweis auf staatspolitische Verantwortung – die Sprache. Sie reden von einem Sonderweg. Den Begriff „Sonderweg“ hat Hans-Ulrich Wehler geprägt als den deutschen Sonderweg, der in den Nationalsozialismus mündete. ({4}) Ich appelliere an Sie, reflektierter und sensibler mit Ihrem Sprachgebrauch umzugehen. Und Sie, Herr Seif, haben gestern in Ihrer Rede wortwörtlich gesagt, dass bei 40 Prozent Anerkennung es im Umkehrschluss bedeuten würde, dass 60 Prozent das – Zitat – „System ausnutzen“. Diese Schlussfolgerung ist schlicht unwahr, unredlich und einfach nur unanständig; denn zu diesen von Ihnen behaupteten 60 Prozent gehören queere Verfolgte, die keine Anerkennung gefunden haben. Dazu gehören Personen, die Perspektiven gesucht haben. ({5}) Aber mitnichten können Sie behaupten, dass all diejenigen, die eine Ablehnung im Asylverfahren erhalten, Schmarotzer seien. Das war Ihre unredliche Behauptung, und sie ist verachtenswert. ({6}) Dann komme ich noch zu einem dritten Punkt. Sie sprechen davon, dass die Ampel Tür und Tor öffnen würde. ({7}) Stattdessen macht aber die Innenministerin zusammen mit der Koalition Politik, anstatt wie Sie Angst ohne konstruktive Lösungsansätze zu beschwören. Sie geht alles zusammen an: die Situation in der Ukraine – die wir gar nicht steuern können; denn das liegt in der Hand des verbrecherischen Putin-Regimes und auch in den Entscheidungen von Ukrainerinnen und Ukrainern –, ein Afghanistan-Aufnahmeprogramm. Zuletzt adressiert die Innenministerin ganz bewusst die Frage der Balkanroute. Sie sieht zugleich auch, dass wir nicht einfach weggucken können, wenn Menschen buchstäblich verrecken – Stichwort „Seenotrettung“ –, und dass es nicht klug ist, mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten. Das ist ein komplexer Politikansatz; das nenne ich Politik statt Beschwörung von Angst. Das ist unsere verdammte Aufgabe. Es war früher mal eine Selbstverständlichkeit in Landes- und Bundesparlamenten, dass man beim Thema Migration zusammengehalten hat und dass auch die Opposition bei allen Differenzen den Kurs der Regierung getragen hat, weil man wusste, dass das kein Thema ist, das sich dazu eignet, Stimmung zu machen. Diesen Konsens haben Sie leider verlassen, und das ist bedauernswert. ({8}) Es ist auch sicherheitspolitisch und volkswirtschaftlich dumm. Wenn wir Menschen über Chancenaufenthalt und Bleiberecht die Möglichkeit geben, hier als schon gut Integrierte tatsächlich dauerhaft zu leben, bekommen sie keine Transferleistungen, sondern können dauerhaft arbeiten, Steuern zahlen, Sozialversicherungsbeiträge leisten. Das heißt, es ist budgetär sogar ein Gewinn. Die Personen sind stabilisiert – ein entscheidender Faktor, und das ist Duldung –, Kriminalität und Radikalisierung fallen weg. Es ist also auch eine sicherheitspolitische Maßnahme. Ein Letztes. Sie mögen doch so sehr das Thema Anreize. Wir hatten bisher den Anreiz, seine Identität nicht zu klären, weil dann die Abschiebung drohte. ({9}) Wenn wir jetzt ganz pragmatisch einen Anreiz setzen, –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– dass man seine Identität klärt, dann haben wir mehr Kenntnis über die Identität, mehr Ordnung und mehr Sicherheit. Dafür steht diese Regierung: mehr Ordnung, mehr Sicherheit, Anstand, Menschlichkeit. Orientieren Sie sich daran und werden Sie endlich Ihrer Verantwortung gerecht! Vielen Dank. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Nächster Redner ist Philipp Amthor für die Unionsfraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen und insbesondere lieber Herr Kollege Lindh! Ich bin ja fast dankbar für den Hinweis auf die staatspolitische Verantwortung; denn er gibt mir die Gelegenheit, mal zwei klare Feststellungen zu treffen: Feststellung Nummer eins: Staatspolitische Verantwortung ist nicht nur die Parteiprogrammatik der linken Ampelkoalition, meine Damen und Herren. ({0}) Feststellung Nummer zwei: Zu staatspolitischer Verantwortung gehört es, sich den Realitäten in unserem Land zu stellen, und nicht, diese Realitätsverweigerung zu betreiben, die wir hier in der Debatte gehört haben. ({1}) Man fragt sich doch wirklich, wann manche von Ihnen das letzte Mal mit Landräten und Bürgermeistern gesprochen haben. ({2}) Unsere Kommunen steuern auf die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit zu. In der gesellschaftlich angespannten Situation gibt es Überlegungen, Turnhallen für den Vereinssport wieder zu schließen. Das reden Sie hier alles schön. Das hat mit Lebensrealität nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Sie geben sich linken Tagträumereien hin und, was ich vor allem an dieser Debatte bemerkenswert finde, Sie erdreisten sich hier zum Teil, uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion Sprechverbote und Haltungsnoten zu geben. ({4}) Das steht Ihnen in keiner Weise zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir lassen uns keine Sprechverbote erteilen. Und ich sage Ihnen auch eines: Unser Antrag hat nichts mit AfD-Sprech, wie Sie das nennen, zu tun. Sie machen es sich intellektuell auch ziemlich leicht, wenn Sie sonst keine inhaltlichen Argumente liefern können. Unsere Migrationspolitik positioniert sich stattdessen ganz klar zwischen Ihren beiden ideologischen Polen. Wir haben nichts gemein mit Ihrer Migrationspolitik, die am Ende darauf hinausläuft, dass Sie das Ende des Asylrechts wollen. Wir wollen nicht das Ende des Asylrechts; wir wollen ein Ende des Missbrauchs des Asylrechts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das ist der Unterschied. ({7}) Wir sehen Zuwanderung nicht nur mit Angst, sondern auch mit Chancen – das sehen Sie nicht –, und das unterscheidet uns von der AfD. Und von Ihnen unterscheidet uns ganz klar, dass wir uns diesen Lebensrealitäten stellen. Es ist doch fern aller Realität, dass Sie hier so tun, dass man uns am besten in eine rechtsextreme Ecke stellen könnte, nur weil wir darauf hinweisen, dass wir erhebliche Belastungen auch für unsere sozialen Versicherungssysteme haben, wenn wir die Zuwanderung ungezügelt zulassen. Das muss man in diesem Parlament sagen, ({8}) und das ist die Lebensrealität über den Küchentischen in den allermeisten Städten und Gemeinden in unserem Land, der Sie sich stellen sollten. Ich will Ihnen auch das ganz klar sagen, Herr Lindh – –

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Entschuldigung, Herr Kollege Amthor, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Grünen?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne. Das gibt mir die Gelegenheit, noch auf manches einzugehen. ({0})

Julian Pahlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005173, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, dass du die Zwischenfrage zulässt. – Du bist ja hier einer der ganz großen Juristen im Raum, und ich finde es immer spannend, wenn man von einem Juristen hört, dass es die gesellschaftliche Akzeptanz vielleicht nicht mehr so gibt und man deshalb nicht mehr so viele Menschen aufnehmen will. Das ist, glaube ich, einer der ganz großen Trugschlüsse, denen du und denen ihr hier gerade alle aufgesessen seid. ({0}) Deine Fraktion glaubt nämlich, dass nur deshalb, weil die CDU-Wählerschaft vielleicht in Teilen ein Problem damit hat, das Asylrecht nicht mehr gilt, dass deshalb an den Grenzen Menschen abgewiesen werden müssen. Das muss uns wirklich zu denken geben. Und dass man euch deshalb in die rechte Ecke stellt, das ist tatsächlich richtig; denn genau daher kommt dieses Gedankengut. ({1}) Das Zweite. Es ist schon viel vom sogenannten Sog-Faktor, vom Pull-Effekt gesprochen worden. Ihr habt mit Sicherheit auch gestern mal in die Tagesschau-App geguckt und gesehen: Da gibt es so einen kleinen Faktencheck, ({2}) und da wurde mal das, was Friedrich Merz gesagt hat, so ein bisschen auseinandergenommen. ({3}) Der sogenannte Pull-Faktor wird dort eigentlich nur als eine vage Idee bezeichnet, so ein bisschen als anekdotische Evidenz. ({4}) Meine Frage an dich, Philipp, wäre: Was habt ihr eigentlich für einen Beleg für den Pull-Faktor? Könnt ihr mir eine Studie nennen? Wirklich, ganz kurze Antwort. Ich möchte nur mal hören: Gibt es eine einzige Studie nach dem Jahr 1990, die den Pull-Faktor belegt, und wenn ja: Wie heißt die? ({5}) Damit wäre dieser Debatte nämlich wirklich weitergeholfen. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Abgeordneter, das soll jetzt aber kein Wortbeitrag werden.

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, vielen Dank. – Also, eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Wortmeldung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich danke zunächst für das Duz-Angebot. Aber ich bin auch froh, dass wir hier nicht im Studentenparlament, sondern im Deutschen Bundestag sind. Das zum einen. ({0}) Ich finde, das sollte auch im Niveau zur Geltung kommen. Ich danke auch für den Hinweis darauf, dass ich das aus juristischer Perspektive bewertet habe. Es ist vielleicht nicht schlecht, wenn es hier im deutschen Parlament auch noch Leute mit einem Studienabschluss gibt; das will ich auch sagen. Das ist vielleicht auch nicht verkehrt. ({1}) Im Übrigen auch inhaltlich: Der Hinweis ist natürlich völlig von einer faktenentleerten Politik getrieben. Natürlich gibt es diese Anreizfaktoren, einen Pull-Faktor. ({2}) Was glauben Sie denn, warum die Menschen in Europa die Durchreise von Bulgarien oder von sonst wo nach Deutschland machen? Weil die Grünen hier so tolle Politik machen, oder was? Nein, natürlich hat das auch mit unseren sozialen Sicherungssystemen und mit dem Umfeld unseres wunderbaren Landes zu tun, das Deutschland liefert. ({3}) Zu den Fakten können wir uns gerne austauschen; herzliche Einladung zu einer vertieften Diskussion. Am Ende hilft es hier, dass wir uns auch noch in den Lebensrealitäten der Menschen bewegen, und davon haben Sie sich sehr weit verabschiedet, Herr Kollege. ({4}) Deswegen will ich zum Abschluss sagen: Angesichts der Debatten, die wir hier heute erleben, begonnen mit dem Bürgergeld und der Abkehr von Fördern und Fordern bis zum völligen Leugnen von Risiken der Migration für die sozialen Versicherungssysteme, muss man doch sagen: Nach dieser Debatte können sich die Menschen, die die Sozialleistungen erarbeiten, die Sie hier alle verteilen wollen, doch wirklich nur kopfschüttelnd an den Kopf fassen. Das werden wir adressieren, und dafür lassen wir uns von Ihnen keine Sprechverbote erteilen. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Professor Dr. Lars Castellucci. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Thema Realität: Unsere Wirklichkeit ist im Moment in allererster Linie – sehr geehrter Herr Amthor, wenn Sie mir Ihre Aufmerksamkeit widmen würden – ({0}) dadurch ausgezeichnet, dass 1 Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, weil sie von Putin in einem Angriffskrieg gezwungen worden sind, ihre Heimat zu verlassen. Und ja, dafür werden jetzt auch wieder Turnhallen benötigt. Aber ich finde, es ist eine Gemeinschaftsleistung in diesem Land, dass wir diesen Menschen in dieser existenziell schwierigen Lage an der Seite stehen. Auf diese Leistung können wir stolz sein. Da danke ich allen, die mit anpacken. ({1}) Zweiter Teil der Realität: Das, was wir jetzt hier in Deutschland vorfinden, ist Ergebnis von 16 Jahren Innenminister der Union. Wir machen in dieser Koalition einen Neuanfang in der Migrationspolitik, ({2}) weil Ihre Politik gescheitert ist. ({3}) Sie ist gescheitert. Man kann es an den Außengrenzen sehen, wo Ihre Politik immer nur dazu geführt hat, dass das Leid der Menschen größer geworden ist. Und wenn das Leid der Menschen entlang der Routen größer wird, dann machen sie sich doch erst recht auf den Weg und suchen noch mal nach Perspektiven. Wir sind angetreten, das umzudrehen, damit die Menschenwürde für die Menschen entlang der Routen durchgesetzt wird. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. ({4}) Das Zweite, was Sie uns beschert haben: Ob Sie jetzt gerade ein Haus bauen wollen oder ob Sie in den Urlaub fliegen wollen oder ob Sie nur einen Blumenstrauß gebunden haben wollen: Wir haben in diesem Land einen eklatanten Fachkräftemangel, und dieser Mangel liegt daran, dass Sie eine Abwehrhaltung gegenüber Migration und gegenüber Menschen aus anderen Ländern haben. ({5}) Das ist der Fachkräftemangel der Union, in dem wir im Moment gefangen sind, und es ist eine Wachstumsbremse für unser Land. ({6}) Und wir werden das verändern. Diese Koalition hat klare Prinzipien. Wir wollen Migration so gestalten, dass sie zum Wohle aller Beteiligten gelingen kann, zum Wohle der Menschen, die migrieren, die wandern, der Menschen, die zurückbleiben, die Rücküberweisungen bekommen, aber natürlich auch zum Wohle von uns, weil wir einen Bedarf an Arbeitskräften haben, die in diesem Land mit anpacken. Und wir haben einen weiteren Grundsatz: Wenn Menschen vor Krieg fliehen, wenn sie in Not sind, wenn sie Hilfe brauchen, dann haben sie unsere Menschlichkeit und Solidarität verdient. ({7}) Dies gilt im Übrigen für jeden Menschen in diesem Land. Wir haben, bevor wir in diese Debatte eingestiegen sind, über das Bürgergeld gesprochen. Wir werden, wenn diese Debatte beendet ist, über die Wohngeldreform sprechen. Diese Regierung lässt niemanden allein. Es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse. Wir stehen an der Seite aller Menschen, die Hilfe brauchen. ({8}) Ich will Ihnen noch eines sagen. Sie reden immer davon, wir könnten nicht allen Menschen helfen. Das ist eine Binsenweisheit. Es ist keine Entschuldigung dafür, Menschen nicht zu helfen, denen man helfen könnte. Das ist der Auftrag, den sich diese Koalition gestellt hat: regelbasiert, konsequent, aber auch menschlich. Diesen Weg gehen wir. Dafür kann ich der Bundesregierung die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion zusagen. ({9})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält der fraktionslose Abgeordnete Matthias Helferich. ({0})

Matthias Helferich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005079

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war bisher bekannt, dass die Amnesie im Bundeskanzleramt grassiert. Neu ist aber, dass die Amnesie pandemisch geworden ist und nunmehr auch die scheinoppositionelle CDU/CSU-Fraktion ergriffen hat. Es waren doch Sie, liebe Christdemokraten, die sich 2015 mit einem Willkommensputsch an unserer Heimat versündigt haben. Es waren doch Sie, die Deutschland in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Massenzuwanderung ausgeliefert haben. Da können Sie mich gerne nachäffen und das belächeln, aber es waren nämlich auch Sie, die die „Ich will fucken“-Nafris nach Deutschland eingeladen haben, ({0}) die dann später auf der Kölner Domplatte unsere Frauen belästigten, beklauten und begrabschten. ({1}) Schon vergessen? Das waren Sie von der CDU! Aber unter guten Christenmenschen ist es ja üblich, zu vergeben und an die Läuterung des Sünders zu glauben. Manfred Weber ging hier bereits als geläuterter Paulus voran und gratulierte der Wahlsiegerin Giorgia Meloni. In Teilen ist Ihre Analyse richtig, aber sie leidet unter einem falschen Wertehorizont. Die Zielgrößen Ihres Maßnahmenkataloges sind die falschen. Es geht bei der Bekämpfung der illegalen Migration nicht um die Akzeptanz eines dysfunktionalen Asylsystems und einer gescheiterten Einwanderungsgesellschaft, nein, es muss bei der Bekämpfung der illegalen Migration um den Erhalt Deutschlands als Land der Deutschen gehen. Eine Forderung von Ihnen gefällt mir ganz besonders gut. Unter Ziffer 7 fordern Sie ja die Einführung eines sogenannten Rückführungsbeauftragten. Wenn sich die Ampel einig ist und eine Rückführungsoffensive wünscht und Sie einen Rückführungsbeauftragten wünschen, würde ich mich als überparteilichen Remigrationsbeauftragten anbieten. ({2}) Ich verspreche Ihnen abzuschieben, wie noch nie in diesem Land abgeschoben wurde. Sollten wir uns nicht auf mich einigen können, dann gilt weiterhin Jörg Haiders alter Grundsatz: Bevor die Politiker das Volk austauschen, sollte das Volk die Politiker austauschen. – Das gilt für die Unionspolitiker genauso wie für die Ampelpolitiker. Vielen Dank. ({3})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Herr Abgeordneter, ich hatte den Eindruck, dass Sie etwas hochgehalten haben. Das konnte ich aber nicht sehen. Ich werde mir das noch einmal zeigen lassen und behalte mir einen Ordnungsruf vor. Als Nächstes erhält das Wort für Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Marcel Emmerich. ({0})

Marcel Emmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man sich angehört hat, was die Union in dieser Debatte – wir sind ja schon fast am Ende – verbreitet hat, und wenn man gelesen hat, was sie in ihrem Antrag geschrieben hat, dann muss man feststellen, dass das eher ein migrationspolitischer Irrweg ist und dass nicht unsere Politik einen migrationspolitischen Sonderweg darstellt. Das kann man an dieser Stelle zweifellos feststellen. Sie haben uns, den Vertreterinnen und Vertretern der Koalitionsfraktionen, vorgeworfen, dass wir keinen Kontakt zu den Kommunen und zu den Landrätinnen und Landräten hätten. ({0}) Ich glaube, das ist mitnichten der Fall; diesen haben wir alle. Die Bundesinnenministerin hat gezeigt, indem sie über 50 Bundesimmobilien zur Entlastung bereitstellt, dass sie den Druck wahrnimmt und dass da etwas passieren muss. Das heißt: Wir sind da handlungsfähig und helfen den Kommunen und den Ländern. ({1}) Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann muss man sich – das ist jetzt keine Überraschung – schon fragen: Wo ist denn eigentlich Ihr sozialer Flügel? Wo ist denn eigentlich Ihr christlich orientierter Flügel? Diese sind vollkommen verschwunden. Wenn man Ihre Reden hört, dann stellt man fest, dass es Ihnen in Wahrheit darum geht – es juckt Sie richtig –, das Wort „Obergrenze“ wieder einmal in den Mund nehmen zu können. Ihr Parteivorsitzender Merz hat mit den Narrativen des Sozialtourismus und der Entsolidarisierung mit den Geflüchteten aus der Ukraine das alles schon vorbereitet. Jetzt gehen Sie her und bekämpfen in einem ersten Schritt die Geflüchteten, die über die Balkanroute kommen, um dann in einem späteren zweiten Schritt eine Obergrenze zu fordern. Das ist die Debatte, die Sie gerade vorbereiten. Das ist vollkommen ein migrationspolitischer Irrweg. Den gehen wir nicht mit. ({2}) Wo ist denn Ihr Wirtschaftsflügel? Auch dieser ist verschwunden. Wenn man im Wahlkreis unterwegs ist und sich in den Handwerksbetrieben umhört – das könnten Sie übrigens mal machen –, ({3}) dann bekommt man mit, dass es überall fehlt. ({4}) Egal ob in einer Bäckerei oder in einem Altenheim, überall fehlt Personal, überall fehlen Leute, sowohl einfache Arbeitskräfte wie auch Fachkräfte. Das, was Sie hier vorschlagen, ist Abschottung und Ausgrenzung und hat überhaupt nichts mit einer vernünftigen, mit einer geregelten Asyl- und Migrationspolitik zu tun. Sie wollen einfach nur Schranken hochziehen und keine Menschen mehr reinlassen. Sie wollen ein großes Stoppschild errichten, so wie Sie das schon in den letzten Jahren mit den Grenzkontrollen gemacht haben und wie Sie das jetzt wieder tun wollen, indem Sie Grenzkontrollen zu Tschechien fordern. Die Grenzkontrollen schaden der Wirtschaft, sie belasten die Menschen in der Grenzregion und dienen nicht unserer Sicherheit. Stattdessen gibt es viele andere, gibt es bessere Alternativen, die wir auf den Weg bringen können. Das machen wir als Koalition. Das ist uns auch als Grünenfraktion ein sehr wichtiges Anliegen. Wir betreiben Ihr Spiel der Ausgrenzung auf keinen Fall mit.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Marcel Emmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden uns dagegen auflehnen. Sie können hier fordern und sprechen, wie Sie wollen, aber Ihrer Politik wird durch uns Einhalt geboten. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Letzter Redner in dieser Debatte ist Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Antrag der CDU/CSU gibt es einen richtigen Satz: „Deutschland muss seinen humanitären Verpflichtungen gerecht werden“. ({0}) Ansonsten ist dieser Antrag sehr konfus, da hier Fragen der Migrationspolitik und Asylrechtsfragen vermischt werden. Migrationspolitik ist mehr als nur Asylrecht. Bei Migrationspolitik geht es in erster Linie um Integration in unsere Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt. Deswegen werden wir, wie im Koalitionsvertrag gefordert, Deutschland zu einem modernen Einwanderungsland machen. Dies befördert die reguläre Migration, die automatisch die irreguläre reduziert. Denn Fakt ist: Angesichts der fehlenden 400 000 Beschäftigten in Deutschland brauchen wir die Migration, die es im europäischen Raum so nicht mehr gibt. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Maßnahmen der Bundesregierung, wie zum Beispiel das Chancen-Aufenthaltsrecht. Dieses bietet auch den jungen Menschen, die zu uns flüchten, sich hier integrieren und sich zu unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen sowie sich beruflich einbringen, die Möglichkeit, hier bleiben zu können, statt in der Ungewissheit der Duldungen zu verharren. Kolleginnen und Kollegen und gerade Herr Throm, Sie kennen doch die Diskussionen, die man täglich in seinem Wahlkreis führt. Gerade die Unternehmer und Ausbilder verstehen die Welt nicht mehr, wenn sie junge Migrantinnen und Migranten integrieren und ausbilden, die dann abgeschoben werden, während wir händeringend nach Fachkräften suchen. ({1}) Mit anderen Worten: Wer die reguläre Migration stärken und die irreguläre Migration reduzieren will, dem helfen keine zusätzlichen Schranken. Vielmehr müssen wir als Demokratinnen und Demokraten einen rechtlichen Rahmen auf der Grundlage von mehr Menschlichkeit statt reiner Bürokratie schaffen. ({2}) Das verlangen Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern von uns, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz helfen, das menschliche Gesicht unserer Gesellschaft zu wahren. Das müssen wir tun, statt hier, wie verschiedene Kollegen der CDU/CSU, halbherziges Lob zu bekunden. ({3}) Wenn es schon eine Veränderung geben soll, muss man sich im europäischen Rahmen Gedanken machen, wie wir die bestehenden Konventionen anpassen, indem wir die Fluchtursachen neu definieren und anerkennen, sodass zum Beispiel neben Krieg auch Umweltschäden und Hungersnöte als Fluchtursachen berücksichtigt werden. ({4}) Dabei muss man sich Gedanken machen, wie wir angesichts von weltweit 90 Millionen Flüchtlingen Fluchtursachen bekämpfen, anstatt neue bürokratische Hürden zu errichten oder gar Zäune an den Grenzen aufzustellen. So ist es meines Erachtens nach zum Beispiel wichtig, dass wir in unserer Außen- und Entwicklungspolitik neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern auch den Sozialstaat konditionell als wichtigen Bestandteil der Demokratie exportieren. Zum Schluss – ich kann es mir als gläubiger Christ in der sozialdemokratischen Partei nicht verkneifen –: Gerade Sie von der Union als christliche Partei sollten wissen: Jesus Christus war der prominenteste Flüchtling. ({5}) Alles, was Sie mit Ihrer Politik gegenüber den Flüchtlingen tun, tun Sie Jesus Christus an. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Ich schließe die Aussprache.

Not found (Minister:in)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die hohen Energiepreise treffen viele Menschen in Deutschland hart. Am härtesten treffen sie aber doch diejenigen, die sowieso mit sehr wenig Geld auskommen müssen. Diese Menschen spüren das ganz direkt in ihrem eigentlich bestgeschützten Lebensumfeld, nämlich der Wohnung. Die Wohnung kostet bereits jetzt einen großen Teil ihres Einkommens. Angesichts der stark gestiegenen Preise bleibt am Ende nur noch sehr wenig zum Leben, auch sehr wenig zum Konsumieren. Deshalb setzt das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung genau hier an: bei den Wohnkosten von Menschen mit niedrigen Einkommen, und zwar zielgerichtet. Um keine Zeit zu verlieren, haben wir die beiden Gesetzentwürfe vorgelegt, die heute in erster Lesung beraten werden. Um gerade im bevorstehenden Winter schnell und unbürokratisch helfen zu können, sehen wir vor, Wohngeldempfänger mit einem zweiten Heizkostenzuschuss zu unterstützen. Dieser soll im Vergleich zum ersten Heizkostenzuschuss deutlich erhöht werden, für einen Einpersonenhaushalt von 270 Euro auf immerhin 415 Euro, für einen Zweipersonenhaushalt von 350 Euro auf ganze 540 Euro und für jede weitere Person im Haushalt um 100 Euro. ({0}) Wichtig ist, dass Beziehende von Leistungen nach dem BAföG und von Ausbildungs- und Berufsausbildungsbeihilfe erneut von dieser Hilfe profitieren: Sie erhalten statt 230 Euro nun 345 Euro. Die Wohnkosten sind jedoch so stark gestiegen, dass künftig noch mehr Menschen unsere Unterstützung brauchen. Deshalb sehen wir eine große Reform des Wohngeldes vor. Sie soll zum 1. Januar 2023 in Kraft treten. Mit dem Wohngeld Plus sehen wir vor, den Kreis der Anspruchsberechtigten von bisher 600 000 Haushalten auf rund 2 Millionen Haushalte mit immerhin 4,5 Millionen Menschen zu erhöhen. Zugleich erhöhen wir die Zahlung von durchschnittlich rund 180 Euro auf rund 370 Euro pro Monat – eine Riesensteigerung. ({1}) Das heißt also: Mit dem Wohngeld Plus wird der Kreis der Anspruchsberechtigten verdreifacht und die durchschnittliche Monatsrate verdoppelt. Außerdem integrieren wir in das Wohngeld künftig eine dauerhafte Heizkostenkomponente. Hierbei wird nicht die Heizungsrechnung direkt bezahlt, sondern eine Pauschale. Auch das ist ein wichtiger Anreiz zum Energiesparen. Darüber hinaus führen wir einen Zuschlag ein, der berücksichtigt, dass viele Wohnungen in Kürze energetisch saniert werden müssen und dadurch die Mieten steigen werden. Das ist ein wichtiger Beitrag für eine sozialgerechte Klimawende. Nicht zuletzt wird das Wohngeld auch unbürokratischer und passgenauer. Wir verlängern den möglichen Bewilligungszeitraum von 12 auf 18 Monate, und wir ermöglichen es den Ländern, eine einfache, schnelle Auszahlung des Wohngeldes vorzunehmen. Wenn die Miete erhöht wird, kann das Wohngeld in Zukunft schon angepasst werden, wenn sie um 10 Prozent und nicht erst, wenn sie, wie jetzt, um 15 Prozent steigt. Das Wohngeld ist und bleibt eine der zielgenauesten staatlichen Unterstützungsleistungen überhaupt; denn es berücksichtigt gleichzeitig Einkommen, Haushaltsgröße und Wohnkosten. Übrigens – das wissen viele nicht; deswegen werbe ich dafür – gilt das auch für das selbstgenutzte Eigenheim. ({2}) Es erreicht somit exakt diejenigen, die es am dringendsten brauchen, darunter viele alleinerziehende Menschen. Was mir auch wichtig ist: Rentnerinnen und Rentner machen fast die Hälfte der wohngeldbeziehenden Haushalte aus. Hinzu kommen Familien mit geringem Einkommen sowie Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. Sehr geehrte Damen und Herren, der Gesetzentwurf für das Wohngeld Plus ist die größte Wohngeldreform in der Geschichte der Bundesrepublik. Er wurde innerhalb kürzester Zeit auf den Weg gebracht, und ich weiß: Dies ist für alle Beteiligten, auch für Sie natürlich, ein großer Kraftakt. Ich danke den Ländern für ihre Unterstützung und für den intensiven Austausch in den letzten Wochen zu genau der Frage, wie wir das möglichst unbürokratisch organisieren. Ich danke den Kommunen, vor allem den Mitarbeitenden der Wohngeldstellen, die sich jetzt schon auf die vielen neuen Anträge vorbereiten. ({3}) Auch wenn wir uns zügig an die Umsetzung machen werden, werden die Auszahlungen einige Zeit in Anspruch nehmen. Wo wir als Bauministerium mit Vereinfachung helfen können, tun wir das gerne, und wo wir die Länder dabei unterstützen können, die Wohngeldanträge digital zu bearbeiten – viele Bundesländer tun das schon –, helfen wir auch sehr gerne. ({4}) Ich bitte Sie nun um konstruktive parlamentarische Beratungen, damit wir die Betroffenen mit dem Wohngeld Plus und dem Heizkostenzuschuss schnell und verlässlich unterstützen können. Herzlichen Dank. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Als nächster Redner erhält das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir am Anfang eine Vorbemerkung. Ich finde, es gibt seit dem Beginn dieses furchtbaren Angriffskrieges auf die Ukraine und der Energiepreiskrise fast schon so ein bisschen ein Schema in der Ampel: Wir als Union machen Vorschläge für notwendige Maßnahmen. Wir sehen dann aber, dass die Ampel zögert, dass sie zaudert, dass sie mal grün blinkt, mal gelb. Meistens steht sie aber auf Rot. Irgendwann, nach viel Streit – auch in der Koalition –, bewegt sich die Ampel dann doch. Aber es ist zu spät, halbherzig, und meistens sind die Maßnahmen dann auch noch mit handwerklichen Mängeln versehen. Das war beim ersten Entlastungspaket so, das war beim ersten Heizkostenzuschuss so, das war und ist ja immer noch bei der Frage der Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke so. So war es bei der Senkung der Umsatzsteuer auf Energieträger; so ist es bei der Gasumlage, die Murks war. ({0}) So ist es beim Gaspreisdeckel, von dem wir immer noch nicht wissen, wie er genau ausgestaltet ist. Bisher ist nur klar: Er wird frühestens im März in Kraft treten, also nach dem Winter. Das ist ungefähr so – das hat meine Kollegin Julia Klöckner gestern sehr gut gesagt –, wie wenn man jemanden nach dem Winter fragt: Ich habe hier ein paar tolle Winterreifen für dich, möchtest du die nicht kaufen? Das ist viel zu spät. Die Menschen brauchen jetzt Klarheit, sie brauchen jetzt eine Entlastung, und da kommen Sie nicht hinterher, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel. ({1}) Genauso ist es auch bei der Reform des Wohngelds. Bereits im März dieses Jahres haben wir als Union in einem Entschließungsantrag einen höheren Zuschuss bei den Heizkosten gefordert. Wir haben gefordert, die Umsatzsteuer auf Gas zu senken, den Kreis der Wohngeldberechtigten auszuweiten und das Wohngeld an die Energiekosten zu koppeln. Jetzt, Mitte Oktober, sieben Monate später, ziehen Sie als Ampel endlich nach. Das ist viel zu spät. Sie haben über Monate die Unsicherheit und die Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst genommen. Die warme Wohnung, meine Damen und Herren, darf doch nicht zur Schuldenfalle werden, genauso wie ein Heizlüfter kein Statussymbol sein darf. Deswegen müssen Sie schneller sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel. Frau Ministerin, Sie haben die Kommunen angesprochen, Sie haben ihnen dafür gedankt, dass sie sich jetzt schon vorbereiten. Ich weiß nicht, ob Sie mal mit den Kommunen gesprochen haben; viele Kollegen aus meiner Fraktion – das weiß ich – und ich haben das getan. Die Kommunen wissen überhaupt nicht, wo ihnen der Kopf steht, weil das alles so lange gedauert hat. Schon heute gibt es in den Wohngeldstellen einen großen Antragsstau. Wenn sich aber jetzt die Zahl der Wohngeldberechtigten auf 2 Millionen fast mehr als verdreifacht, dann fehlt es an allem: Es fehlt an Personal, es fehlt an ausreichenden Büros, es fehlt an der technischen Infrastruktur. Nichts davon konnte entsprechend vorbereitet werden, weil es einfach keine Klarheit gab, weil der Gesetzentwurf erst jetzt – sieben Monate später – kommt. Deswegen – das muss man auch klar sagen –: Wenn die Wohngeldreform, wie geplant, zum 1. Januar 2023 in Kraft treten soll, dann wird die Umsetzung aller Voraussicht nach nicht funktionieren. Das ist dann aber nicht die Schuld der Kommunen; das ist die Schuld dieser Bundesregierung, die viel zu spät gehandelt hat, meine Damen und Herren. ({2}) Ich möchte die Kritik an zwei, drei Punkten festmachen. Im Gesetzentwurf stellen Sie unter anderem in Aussicht, dass Auszahlungen vorläufig genehmigt werden. Ich habe mich dann gefragt: Was ist eigentlich der Inhalt dieser vorläufigen Prüfung? Wenn man mit den Mitarbeitern in den Wohngeldstellen in den Kommunen spricht, dann hört man: Na ja, ich weiß das auch nicht so richtig. Die vorläufige Prüfung entspricht im Kern eigentlich der endgültigen Prüfung. – Das bedeutet dann aber, dass sie nicht einen Verwaltungsvorgang bearbeiten und prüfen, ob jemand Anspruch auf Wohngeld hat, und ihm das dann auszahlen, nein, die Mitarbeiter bearbeiten zweimal den gleichen Vorgang: Sie müssen den Antrag erst einmal vorläufig prüfen und dann endgültig prüfen, aber mit den gleichen Schemata. Damit verdoppeln Sie den Personalaufwand, damit verdoppeln Sie den Verwaltungsaufwand, und Sie verdoppeln damit am Ende auch die Probleme. Das ist nicht in Ordnung. Damit schaffen Sie nur Verunsicherung, meine Damen und Herren. ({3}) Auch handwerklich hat Ihr Vorschlag viele Mängel. Ich will das einmal an der Systematik der Mietenstufen festmachen – die sollen neu festgelegt werden –, die für die Berechnung des Wohngeldes ganz zentral ist. Sie wollen zum Beispiel, dass die Stadt Münster – jeder weiß, wie die Wohnungsmarktsituation in einer Studentenstadt wie Münster ist, nämlich außerordentlich angespannt – in die gleiche Mietenstufe eingeordnet wird wie Mühlheim an der Ruhr oder Pirna. Das kann man doch keinem erzählen. Man muss sich doch nur mal die Mietensituation dort anschauen. Das passt doch überhaupt nicht zusammen. Das hat schon was mit Realitätsverweigerung zu tun, was Sie hier machen. Aber mit Realitätsverweigerung hat die Bauministerin spätestens seit dem „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ ein bisschen Erfahrungen. Über Monate hat man das Ziel, jährlich 400 000 Wohnungen zu bauen, wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Jeder wusste eigentlich, dass das nicht realistisch war; trotzdem hat man das monatelang aufrechterhalten und monatelang auf einer falschen Tatsachengrundlage verhandelt und damit am Ende verhindert, dass richtige und auch schwierige Entscheidungen getroffen wurden. Ich kann nur sagen – das gilt für das Wohngeld, die Mietenstufen wie auch für viele andere Stellen –: Mehr Realität würde dieser Ampel guttun, meine Damen und Herren. Vielleicht noch ein letzter Punkt, der mir auch wichtig ist. Eine Klimakomponente beim Wohngeld einzuführen, ist richtig. An den energetischen Zustand anzuknüpfen, ist richtig; dass man es belohnt, wenn ein Vermieter energetisch saniert, ist richtig. Und dass sich das natürlich auch im Wohngeld widerspiegeln muss, weil es am Ende auch höhere Mieten bedeutet, ist auch richtig. Nur, davon steht in Ihrem Gesetz nichts. Sie führen zwar eine Klimakomponente ein, aber der energetische Zustand eines Gebäudes, also das, worauf es bei der Klimakomponente eigentlich ankommen sollte, spielt überhaupt keine Rolle. Jeder, ganz pauschal, erhält diesen Zuschlag. Das ist eine Mogelpackung, genauso wie die CO2-Bepreisung, die Sie vorgeschlagen haben, worüber Sie jetzt in der Ampel streiten. Das ist auch eine Mogelpackung. Das kann so nicht bleiben, meine Damen und Herren. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir als Union unterstützen ausdrücklich die Reform des Wohngeldes. Wir dürfen die Menschen in dieser Energiekrise nicht alleine lassen. Nutzen Sie jetzt die verbleibenden Wochen, um in aller Ernsthaftigkeit die Einkommen richtig zu definieren, Bagatellgrenzen bei Rückforderungen einzuführen, eine Klimakomponente einzuführen, die wirklich ihren Namen verdient.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit werden Sie dem Ernst der Lage gerecht. Das, was Sie hier vorgelegt haben, wird der Lage nicht gerecht. Und deswegen können wir das in dieser Form nicht mittragen. Vielen Dank meine Damen und Herren. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Dr. Julia Verlinden für Bündnis 90/Die Grünen erhält jetzt das Wort. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An meinen Vorredner von der Union gerichtet: Es ist schon interessant und verwunderlich, wie Sie über das Thema Tempo sprechen. Ich kann mich an einen Minister Ihrer Partei erinnern, der nach Monaten im Amt noch nicht einmal einen Staatssekretär hatte. Dahingegen haben wir mit dieser Koalition ein neues Bauministerium gegründet. Und dieses Bauministerium hat bereits Anfang des Jahres einen Gesetzentwurf zum Heizkostenzuschuss vorgelegt, den wir innerhalb weniger Wochen hier beschlossen haben. ({0}) Und ein paar Wochen später hatten die Menschen das Geld auf ihrem Konto. Also insofern: Bleiben Sie bei der Wahrheit. Die aktuellen Energiepreise machen uns allen zu schaffen; das ist klar. Und es gibt Menschen, die sehr viel härter davon betroffen sind als die allermeisten hier in diesem Raum. Und genau diesen Menschen, die hart getroffen sind, weil sie bereits jetzt hohe Mieten zahlen müssen im Vergleich zu ihrem Einkommen, den Empfängerinnen und Empfängern von Wohngeld, wollen wir mit diesem Gesetz unter die Arme greifen. Aber da hören wir nicht auf. Wir erhöhen nicht nur das Wohngeld, sondern wir erweitern auch sehr deutlich den Kreis der Berechtigten; denn die Mieten explodieren in zahlreichen Städten und stellen zum Beispiel Familien vor große finanzielle Herausforderungen – trotz festem Einkommen. 2 Millionen Haushalte sollen deswegen künftig das verbesserte Wohngeld beantragen können. Das ist ein richtig großer Fortschritt. Das ist eine Verdreifachung. Vielen herzlichen Dank für diesen Vorschlag. ({1}) Gleichzeitig bringen wir erneut einen Heizkostenzuschuss auf den Weg. Damit helfen wir den Beziehern von Wohngeld, aber auch von BAföG, Berufsausbildungsbeihilfen und Ausbildungsgeld. Die Ampelregierung setzt so ein klares Zeichen: Wir lassen die Menschen mit geringem Einkommen nicht im Stich. ({2}) Und klar ist auch: Das Wohngeld ist ein wichtiges soziales und unverzichtbares Instrument, aber es packt das Problem nicht an der Wurzel. Mit dieser Förderung unterstützen wir natürlich die Menschen, die es brauchen. Wir finanzieren indirekt aber auch die zum Teil viel zu hohen Mieten in unserem Land. Da müssen wir ran, und da gehen wir auch ran. Ich sage Ihnen jetzt gerne, was wir im Zuge dieses Richtungswechsels hin zu mehr bezahlbarem Wohnraum noch vorhaben. 2006 hatten wir noch 2 Millionen Sozialwohnungen. Beim Regierungswechsel letztes Jahr waren es nur noch 1,1 Millionen Sozialwohnungen. Das geht nicht. Mit mehr sozialem Wohnungsneubau und einer neuen Wohngemeinnützigkeit können und werden wir als Ampel gegensteuern. ({3}) Dabei geht es nicht nur um den Neubau. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, vorhandene Gebäude auch besser zu nutzen, auszubauen, zu reaktivieren. Viele Kommunen und Wohnungsgenossenschaften haben damit angefangen. Sie haben unter anderem Wohnungstauschprogramme etabliert, sodass zum Beispiel die wachsende Familie mit der alleinstehenden Dame die Wohnungen unterschiedlicher Größe tauschen kann, sofern das beide wollen. So nutzen wir vorhandene Wohnungen sinnvoll. Auch anzubauen oder beispielsweise Dachgeschosse auszubauen, dort neuen Wohnraum zu ermöglichen, ist ein ganz wichtiger Beitrag dazu, ressourcenschonend und zügig zusätzlichen Platz zu schaffen. ({4}) Fossile Heizenergie ist teuer und widerspricht den Klimazielen. Im Gebäudesektor entsteht rund ein Drittel des gesamten CO2 in Deutschland. Deshalb brauchen wir eine strukturelle Veränderung in der Wärmeversorgung; das ist klar. Die energetische Ertüchtigung und tiefergehende Sanierung unserer Gebäude muss in der Prioritätenliste weiter nach oben steigen. Es geht um Energieeffizienz, es geht um erneuerbare Wärme. Nur so können wir die Mieterinnen und Mieter vor weiteren Preissteigerungen wirklich nachhaltig schützen und vermeiden, dass der Heizkostenzuschuss eine Dauerlösung werden muss. ({5}) Auch dieser Punkt ist im Wohngeld mitgedacht. Mit einer Klimakomponente gleichen wir eventuelle Mietanpassungen nach einer Sanierung aus. Gleichzeitig unterstützen wir auch die Vermieter/-innen und Gebäudeeigentümer mit zielgerichteten Fördergeldern in der Gebäudesanierung. Im Haushalt stellen wir hierfür Milliarden in zweistelliger Höhe bereit, weil sie eine sinnvolle Investition sind. So wird ein klimaneutraler Gebäudebestand ein greifbares Ziel, bei dem alle Beteiligten mitgenommen werden und davon profitieren. Herzlichen Dank. ({6})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion Roger Beckamp. ({0})

Roger Beckamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005020, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Wohngeld wird reformiert. Die Zahl der Haushalte, die Wohngeld erhalten, und die entsprechenden Ausgaben werden mehr als verdreifacht. Wohngeld richtet sich an Haushalte mit Einkommen, Altersrenten oder auch an Empfänger von ALG I bis zu einer bestimmten Höhe, wobei diese Einkünfte für die Wohnkostenbelastung eben nicht ausreichen. Inhaltlich geht es bei dieser Reform im Wesentlichen um Heizkosten und angehobene Einkommensgrenzen. All dies führt dazu, dass sich die Leistungen für Wohngeldempfänger deutlich erhöhen. So macht allein der neuerdings vorgesehene Zuschuss zu den Heizkosten rund 2,30 Euro je Quadratmeter im Monat je Bezieher aus. Zudem steigt die Zahl der Anspruchsberechtigten deutlich. So bekam ein Einpersonenhaushalt bisher Wohngeld bei einem Einkommen von gut 1 800 Euro brutto. Nun darf man sogar 2 300 Euro verdienen und bekommt Wohngeld. Die Anzahl der Haushalte, die Wohngeld erhalten, steigt damit um 1,4 Millionen auf dann gut 2 Millionen Haushalte. Damit werden dann auch Teile der unteren Mittelschicht erreicht. Und weil das Ganze erst zum 1. Januar 2023 in Kraft tritt, gibt es dieses Jahr noch einen weiteren Heizkostenzuschuss für zahlreiche Bezieher von Wohngeld und anderen Sozialleistungen. Klingt das gut für Sie? ({0}) Gerade in Zeiten hoher Inflation und stetig steigender Energiepreise? Aber warum haben wir denn überhaupt einen so hohen Bedarf an Sozialleistungen bis in die Mittelschicht? Denn genau das ist das Wohngeld: eine andere Art der Sozialhilfe. Bisher brauchte die Mittelschicht so etwas nicht. ({1}) Wofür ist das ein Symptom? Also was liegt dahinter? Was sind die Ursachen? Nun, die Nebenkosten vieler Wohnungsnutzer sind zu hoch. Diese bestehen vor allen Dingen aus Heizkosten, die derzeit bekanntermaßen nur eine Richtung kennen: nach oben. Wir erinnern uns: Früher war alles besser. Gas, Strom usw. waren bezahlbar. Die Nachfrage ist zwar ähnlich wie früher; aber das Angebot ist massiv zurückgegangen. Also steigen die Preise. Die Leute haben wegen des Angebotsschocks im Bereich der Energie sowieso schon weniger Geld in der Tasche, und viele können ihre steigenden Heizkosten nur noch schwer tragen. Hier ist wohl eine gemischte Ursachenbilanz festzustellen, also eine Art Putin-Habeck-Scholz-Gaspreispedal. Daher auch die Gaspreisbremse. Und die Mieten? Nun, hier ist es genau andersherum, aber mit dem gleichen Preiseffekt. Das Angebot ist ähnlich wie früher, aber die Nachfrage ist massiv gestiegen. ({2}) Also steigen auch hier die Preise, genannt „Mieten“. Es gab einen Nachfrageschock, sodass Wohnungen fehlen. Und woher kommt dieser Nachfrageschock? Zitat: Die Überlastung der Kommunen, die mögliche Überforderung unserer Sozialsysteme oder eine Begrenzung des Flüchtlingsstromes finden weder im Wording noch im Handeln der Bundesregierung auch nur ansatzweise Berücksichtigung. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung in Zeiten ohnehin hoher Zugangszahlen zusätzliche freiwillige Aufnahmeprogramme für Flüchtlinge startet oder mit Leistungsverbesserungen für Asylbewerber … oder mit der Einführung des sogenannten Chancen-Aufenthaltsrechts noch mehr Anreize setzt, ins Land zu kommen. Zitat Ende. – Könnte das vielleicht stimmen? Ich weiß es gar nicht genau, aber was meinen Sie? Das sagte jedenfalls der bayerische Innenminister Herrmann mit Blick auf den sogenannten Flüchtlingsgipfel vor einigen Tagen. Millionen Menschen strömen abermals derzeit in unser Land, und wieder ist es so – Zitat –: Die Zuwanderung aus Drittstaaten, das zeigen viele Studien, ist im günstigsten Fall ein Nullsummenspiel. In den meisten Berechnungen ist sie ein Kostenfaktor. – So weit zu Ihrer Faktenlage; „Pull-Faktoren“. - Meist geht es um Flüchtlinge oder um Heiratsmigration. Das sind in der Regel eher schlecht ausgebildete Leute. Aus Ländern, die eine grosse, wenn nicht gar die grösstmögliche kulturelle Distanz zu Europa haben. Viele beziehen Sozialleistungen und tragen damit auch nicht in positivem Sinne zur Gesellschaft und zur Wirtschaft bei. Zitat Ende. – So Ruud Koopmans, Leiter der Abteilung Migration am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, kürzlich in einem Beitrag der „Neuen Zürcher Zeitung“. So viel zur Wissenschaft, meine Damen und Herren. ({3}) Und genau diese Leute bekommen den Wohnraum, den Einheimische dringend brauchen, und müssen in der Regel nicht einmal selbst dafür bezahlen. ({4}) Fast 900 000 Einwanderer, Ihre Einwanderer von 2015 und 2016 ({5}) – Sie können mich da gern „bescheuert“ nennen; aber es bleibt ja ein Fakt –, beziehen Hartz IV oder andere Sozialleistungen. Diesmal hat Putin damit nichts zu tun. Das ist allein das Verschulden dieser Regierung und der Vorgängerregierung. ({6}) Und deswegen, meine Damen und Herren, brauchen wir neben der Gaspreisbremse eine Migrationsbremse. So einfach kann es sein. Denn dieses Land muss sich ändern: Von einem Paradies für Asyleinwanderer ohne Schutzbedürfnis – die meisten haben gar kein Schutzbedürfnis – ({7}) muss dieses Land zu einer Wüste für diese Menschen werden, die eben nicht schutzbedürftig sind. Das sind wir den Deutschen und allen Einheimischen – allen anderen auch hier –, die lange und gerne hier leben sollen, schuldig. Nichts aber sind wir schuldig den Romafamilien, Usbeken und den Tausenden anderen Drittstaatlern, die die Lage in der Ukraine ausnutzen und über diese in unser Land kommen. ({8}) Und nichts schuldig sind wir auch den Hunderttausenden, die aus dem Nahen Osten und Afrika kommen. Diese Menschen suchen keinen Schutz bei uns. ({9}) Diesen hätten sie in ihren Nachbarländern schon längst finden können. ({10}) Nein, sie suchen und finden in unserem Land Wohnungen, Sozialhilfe und – dank Ihrer Hilfe – Staatsbürgerschaften. ({11}) Genau das hält diese Regierung auf Kosten der Einheimischen für sie bereit. ({12}) Und die eigenen Leute erhalten dann ein bisschen mehr Wohngeld als Sozialkosmetik. Herzlichen Glückwunsch! ({13}) Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die Politiker eines Landes sind zuallererst zum Schutz und Nutzen des eigenen Landes da. Nur mal als Kontrollfrage: Wie lange wollen Sie noch so weitermachen? In Afrika kommen alle elf Tage – alle elf Tage! – 1 Million Menschen dazu; einfach mal googeln. Alle elf Tage kommen 1 Million Menschen dazu. Die Geburtenraten sind astronomisch. Allein die Bevölkerung Afrikas verdoppelt sich bis 2050 von 1,2 auf 2,5 Milliarden. ({14}) Wie viele wollen Sie hier von denen noch einladen? ({15}) Einige hier haben bestimmt ein paar Wohnungen oder ein Ferienhaus. Bringen Sie sie doch gerne zu sich nach Hause! ({16}) Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch System: Wir subventionieren auf dem Wohnungsmarkt gegen eine selbstverschuldete, migrationsbedingte Knappheit an, ganz ähnlich wie bei der Energie. Und genauso trifft es auch hier eher die einkommensschwächeren Teile unseres Volkes. Diese Reform des Wohngelds mit all Ihren Milliarden ist zwar bitter nötig, aber nur deshalb, weil Ihre Politik die entsprechenden Probleme erst hervorgerufen hat. Diese Reform ist letztlich nur ein weiteres Zahnrad im Reparaturbetrieb Ihrer Politik. Ihre Politik macht weite Teile unseres Volkes in der Mittelschicht sozialhilfebedürftig. ({17}) Ihre Politik ist zutiefst unmoralisch und inländerfeindlich. Sichere Grenzen, bezahlbarer Wohnraum! ({18})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Es folgt für die FDP-Fraktion Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie völlig egal der AfD die akuten Nöte der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind und wie völlig egal Herrn Beckamp die akuten Nöte sind, zeigt sich daran, dass er lieber über Flüchtlinge redet als über die Sorgen unserer Menschen. ({0}) Das einzig Gute an dem Beitrag war: Es war der einzige Beitrag der AfD in dieser Debatte. Wir sind tatsächlich in schwierigen Zeiten. Wir bekommen das ja mit. Die Menschen spüren das. Sie haben Angst und fragen sich, ob sie Strom und Heizung noch bezahlen können. Es ist dringend nötig, dass wir aktiv werden. Deswegen handelt die Ampelregierung. Wir ersuchen nicht nur, dass Strom gespart wird, insbesondere in der Industrie, sondern wir entlasten auch die Bürgerinnen und Bürger, die vor Überlastung Angst haben oder die schon vor Überlastung stehen. ({1}) Deswegen kommt ja die Gaspreisbremse. Deswegen kommt ja die Strompreisbremse. Deswegen gibt es ja die Energiepreispauschale. Deswegen werden auch Steuerentlastungen ausgereicht. ({2}) Das alles ist richtig und wichtig. ({3}) Dazu gehört auch, das Wohngeld deutlich zu erhöhen. ({4}) Die Union fragt mich gerade: „Wie sieht’s denn jetzt aus?“ Meine sehr geehrten Damen und Herren, es sieht leider so aus, dass wir im Ergebnis einer völlig blauäugigen Politik in eine totale Abhängigkeit von russischem Gas geraten sind. So sieht es aus. ({5}) Ich muss es hier jetzt einfach sagen, weil das mittlerweile auch infrage gestellt wird: Es ist vollkommen richtig, dass wir aus Russland kein Gas mehr beziehen. Das ist vollkommen richtig. In keiner Sekunde stelle ich die Sanktionen infrage. ({6}) Nur, wir baden gerade aus, was uns hingelegt wurde. ({7}) Aber zurück zum Wohngeld. Es tut mir leid, Herr Luczak; eigentlich versuche ich, zu vermeiden, immer wieder zu erwähnen, dass ihr uns das eingebrockt habt. Aber ihr bettelt ja geradezu darum. ({8}) Jetzt werden wir das Wohngeld deutlich erhöhen und deutlich ausweiten. Wir Freien Demokraten sind bekennende Fans des Wohngelds, weil es eine sehr zielgenaue Hilfe ist, weil es genau den Menschen hilft, die Hilfe brauchen, für die Dauer, die sie Hilfe brauchen. ({9}) Deswegen stehen wir mit Begeisterung hinter dem Wohngeld. Ich persönlich sage: Es ist besser, den Menschen direkt zu helfen, als allzu viel Geld in Beton zu verbauen. Wenn das Geld direkt und sofort ankommt für die Dauer, die es benötigt wird, dann ist dies das bessere System. ({10}) Es ist daher wichtig, dass wir das Wohngeld zukunftsfit machen. Da spielt die Heizkostenkomponente natürlich eine Rolle. Sie ist wichtig; denn die Heizkosten steigen. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Es ist auch wichtig, dass wir die Klimakomponente mit aufnehmen. Am witzigsten finde ich ja: Herr Luczak, Sie beschweren sich über die Bürokratie, die da entsteht, aber in Ihrer Rede haben Sie in einer Tour mehr Bürokratie gefordert. ({11}) – Ja, doch, natürlich! – Sie haben gesagt: Wir müssen dies noch einführen, wir müssen jenes noch einführen, dann müssen wir Rückzahlungen einführen und dieses und jenes machen. Sie haben sechs Punkte aufgezählt, mit denen mehr Bürokratie ins Wohngeld kommt, und beschweren sich dann bei uns, dass die Kommunen das vielleicht nicht leisten können. ({12}) Natürlich werden wir den Kommunen und den Ländern helfen müssen, das Wohngeld auszuzahlen. Es ist uns ja bewusst, dass das nicht einfach ist. Deswegen hat die Frau Ministerin bei der Reform des Wohngelds eine Entbürokratisierung eingebracht. Deswegen gibt es die Möglichkeit, erst mal Abschlagszahlungen zu gewähren. Deswegen gibt es ja mittlerweile auch ein System für den digitalen Wohngeldantrag. Da frage ich mich insbesondere als Bayer: Warum, Herr Kießling, ist der Wohngeldantrag in Bayern nicht komplett digital? Wir haben mittlerweile ein System, das man nutzen kann. Und wenn Kommunen Hilfe brauchen bei der Einführung eines digitalisierten Systems beim Wohngeld, dann – da bin ich mir sicher – werden wir da Hilfe leisten können und müssen; denn das, was wir jetzt digitalisieren, wird auf Dauer digital bleiben. ({13}) Zum Abschluss ein wichtiger Punkt, der teilweise schon in der Debatte anklang: Wir sind in ein System gerutscht – das ist wirklich bedenklich, und ich rede, Herr Luczak, nicht von den letzten 16 Jahren –, in dem es der Mitte der Gesellschaft, denjenigen, die gerade so in der Mittelschicht angekommen sind, fast unmöglich ist, sich Wohnen leisten zu können; das wird immer schwieriger. Deswegen weiten wir den Kreis der Wohngeldberechtigten aus. Aber es kann ja nicht sein, dass wir ein System haben, in dem auf der einen Seite das Bauen hoch subventioniert wird oder auf der anderen Seite die Wohnkosten hoch subventioniert werden. Wir müssen für die Mitte der Gesellschaft ein System haben, das aus sich heraus bezahlbaren Wohnraum schafft. Da ist das Bündnis bezahlbarer Wohnraum, Frau Ministerin, eine richtige Antwort. ({14}) Wir müssen runter mit den Baukosten, und die Genehmigungsverfahren müssen schneller werden. Wir müssen schauen, dass wir mehr, günstiger und schneller bauen, weil wir nicht auf Dauer einen großen Teil der Gesellschaft entweder beim Bauen oder beim Wohnen subventionieren können. Das Wohngeld ist absolut notwendig. Aber damit ist nur der erste Schritt getan. Wir werden noch viel mehr machen müssen, damit wir wieder ein System haben, das günstigen Wohnraum aus sich heraus zur Verfügung stellt. Vielen Dank. ({15})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reform des Wohngeldes ist überfällig, und sie ist dringend nötig. Wir haben als Linke auch mehrfach eine Reform gefordert und hier konkrete Vorschläge eingebracht. Deswegen freut es uns, dass das endlich angegangen wird. Doch leider bleibt Ihr Entwurf unzureichend und Stückwerk. ({0}) Lange Zeit galt es als ungeschriebenes Gesetz in diesem Land, dass niemand mehr als 30 Prozent des Einkommens für das Wohnen ausgeben muss – warm! Die Realität ist heute eine andere: Schon jetzt geben 12 Prozent der Haushalte mehr als 50 Prozent aus – kalt! Mit der Energiekrise werden es deutlich mehr werden. Dieser Zustand ist völlig inakzeptabel. ({1}) Niemand darf mehr als 30 Prozent des Einkommens für das Wohnen ausgeben; das gehört zu den Grundfesten unseres Sozialstaates, und das müsste eine Wohngeldreform auch leisten. ({2}) Aber nein, Sie machen eine Wohnkostenbelastung von 40 Prozent zum Maßstab, und das ist völlig inakzeptabel. ({3}) Außerdem wird das Wohngeld immer noch kleingerechnet. Wenn man nur die Mieten der Wohngeldhaushalte zur Grundlage der Berechnung macht, also die Mieten von Leuten mit sehr wenig Geld, dann verzerrt das doch völlig die Realitäten. Man müsste die Marktmieten zur Grundlage nehmen. Das Ergebnis der Kleinrechnerei bedeutet ganz konkret, dass 187 Gemeinden in den sogenannten Mietstufen herabgestuft werden, auch Städte wie Chemnitz oder Bautzen. Das heißt, hier werden die Zuschüsse durch Ihre Reform praktisch gesenkt. Das ist doch wirklich absurd. ({4}) Wenn sich in der Kritik an den Mietstufen Herr Luczak von der CDU/CSU und ich zum ersten Mal nach zehn Jahren einig sind, dann müsste Ihnen das doch wirklich zu denken geben. ({5}) Unsere Kritik teilt nicht nur der Deutsche Mieterbund, sondern auch der Deutsche Städtetag. Die sagen: Lassen Sie uns doch endlich empirisch gefestigte Grundlagen zur Berechnung der Mietstufen einführen! – Dass dies richtig wäre, ist doch wohl wirklich klar. Ich bitte darum. ({6}) Meine Damen und Herren, haben Sie schon mal einen Wohngeldantrag gesehen? Es sind acht komplizierte Seiten, fünf Seiten Erläuterungen, 47 Unterpunkte. ({7}) Das überfordert viele Menschen. ({8}) Die Ämter kommen schon jetzt nicht hinterher und haben nicht das Personal, Ihre Reform umzusetzen. Längere Bewilligungszeiträume finden wir gut; aber besser wäre es, die bereits bewilligten Anträge zunächst für ein weiteres Jahr zu bewilligen. Dann könnten sich die Behörden vollkommen auf die Bearbeitung der neuen Anträge konzentrieren. ({9}) Immerhin ist der Heizkostenzuschuss pauschal – das begrüßen wir –; aber an vielen Stellen deckt er nicht die realen Bedarfe. Was ich wirklich inakzeptabel finde: Wir haben gleichzeitig den CO2-Preis, der immer noch allein von den Mieterinnen und Mietern bezahlt wird. Das heißt, für einen Dreipersonenhaushalt mit einer Ölheizung reduziert sich der Heizkostenzuschuss dann locker von 640 Euro auf nur noch 450 Euro. Das reicht doch bei Weitem nicht aus. ({10}) Meine Damen und Herren, das grundsätzliche Problem kann keine Wohngeldreform lösen, nämlich Mietenwahnsinn und Spekulation. Viele Beziehende von Wohngeld wohnen doch bei Vonovia, bei LEG, bei den großen privaten Konzernen, ({11}) und denen schmeißen wir mit so einer Reform das Geld am Ende des Tages auch noch hinterher. ({12}) Deswegen kann eine Wohngeldreform nicht das einzige und auch nicht das zentrale Instrument sein. ({13}) Wir brauchen endlich einen Mietenstopp. Lassen Sie uns das Problem bei den Wurzeln packen! ({14}) Wir brauchen ein „Krisenpaket Miete“. Das heißt Schutz vor Kündigungen, Schutz vor Zwangsräumungen, Verbot von Indexmieten. ({15}) Und ja, wir brauchen einen Mietendeckel und einen Deckel für Strom- und Gaspreise. Das fordern wir als Linke. Das hilft gegen Spekulation, gegen Inflation und kommt dem Staat auch nicht zu teuer zu stehen. Vielen Dank. ({16})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Nächste Rednerin ist Verena Hubertz für die SPD-Fraktion. ({0})

Verena Hubertz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005089, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bauministerin Geywitz! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier über eine große Wohngeldreform. Aber was sind das eigentlich für Menschen, für die wir das tun? Mein Wahlkreis ist Trier. ({0}) Da gibt es auch einige, denen diese Reform zugutekommt. Es gibt zum Beispiel den Rentner, der damals so viel verdient hat, dass er nicht unbedingt viel für die Rente sparen konnte, und der für seine Wohnung in einem Trierer Stadtteil – nicht mal Innenstadtlage – 500 Euro kalt zahlt, also mehr als die Hälfte seiner Rente für die Miete ausgibt. ({1}) Es gibt auch die alleinerziehende Mutter. Viele können nur ahnen, wie herausfordernd das Leben ist, wenn man dann natürlich in Teilzeit arbeitet und damit nicht oder nur mit Mühe und Not über die Runden kommt. Das sind die Lebensrealitäten vieler Menschen in unserem Land. Das sind Leute, die hart arbeiten und die hart gearbeitet haben. Für diese Leute machen mehrere Hundert Euro im Monat den Unterschied aus, den Unterschied zwischen einem selbstbestimmten Leben und dem Abrutschen in Sozialleistungen. Für mich geht es bei dem, worüber wir hier heute reden, auch um eine Frage des Respekts; denn diejenigen, die in unserem Land hart arbeiten, sollen nicht aus ihrer Wohnung fliegen, weil sie sich die Miete und die Nebenkosten nicht mehr leisten können, und das nicht nur in der Krise, sondern dauerhaft. Dafür ist das Wohngeld da, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir erweitern den Bezieherkreis – wir verdreifachen ihn von 600 000 auf über 2 000 000 Haushalte –, und wir steigern die Summe. Es wird – das haben wir von der Bauministerin gerade gehört – eine dauerhafte Heizkomponente geben. Wir werden mit einer Klimakomponente sicherstellen, dass sich insbesondere Menschen mit geringem Einkommen nicht nur die schlechtesten Wohnungen leisten können; auch dafür ist ein Faktor eingepreist. Ganz wichtig ist – und dafür sind wir heute hier –: Wir müssen auch kommunikativ an das Wohngeld herangehen. Viele wissen nicht, dass sie darauf Anspruch haben. Oftmals ist das Thema noch in der sogenannten Schmuddelecke. Man hat Befindlichkeiten und möchte nicht unbedingt zur Behörde gehen, um diesen Antrag, der, wie wir gerade gesehen haben, auch einfacher werden darf und wird, auszufüllen. Ich finde, Menschen, die arbeiten, die sich in diesem Land an die Regeln halten und trotzdem nicht über die Runden kommen, haben Anspruch auf unsere Solidarität. ({3}) Ja, wir haben viel über Symptome und den Wohnungsmarkt geredet, und wir sind uns dessen bewusst, dass wir hiermit ein Symptom bekämpfen. Aber wir gehen natürlich auch an die Wurzel des Problems. Vielleicht hat der eine oder andere gestern mitbekommen, dass wir gemeinsam im Kanzleramt waren, wo die Ergebnisse des Bündnisses bezahlbarer Wohnraum vorgestellt wurden. Dort sind auf 67 Seiten Maßnahmen festgelegt, ({4}) um jetzt ins Bauen zu kommen, um zu ermöglichen, dass es einfacher wird und wir weiteren bezahlbaren Wohnraum in diesem Land schaffen. Jetzt erzählen Sie nicht, dass sei nur Klein-Klein, nur ein bisschen Kosmetik. Nein, wir packen das Thema Wohnen in dieser Koalition gemeinsam mit dem Ministerium ganzheitlich an, mit Wumms ({5}) und einem Bündnis aus vereinten Kräften und mit vielen Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Ja, wir haben im Koalitionsvertrag einiges vereinbart. Wir haben aber auch noch einiges vor. Ich bin sehr dankbar, dass der Kollege Buschmann von der FDP mit Hochdruck daran arbeitet, dass wir auch die mietrechtlichen Fragestellungen gemeinsam angehen; denn da haben wir natürlich auch noch jede Menge zu tun. Aber wenn wir an das Wohngeld gehen, an das Bauen von bezahlbarem Wohnraum und jetzt auch dieses Maßnahmenbündel auf den Weg bekommen, wenn wir das gemeinsam anpacken, dann bin ich optimistisch, dass wir hier niemanden alleine lassen. Ich danke für die konstruktive Mitarbeit und sage: Legen wir los! ({7})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Das Wort erhält für die CDU/CSU-Fraktion Michael Kießling. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Föst, ich möchte auf Ihre Behauptung bezüglich einer blauäugigen Energiepolitik eingehen. Wir haben gut gelebt von den günstigen Energiepreisen. Herr Scholz wusste ja schon immer, dass Putin die Energie verwenden wird, um Krieg zu führen und entsprechend Einfluss zu nehmen. Er war damals Arbeitsminister, Vizekanzler und Finanzminister und hat den Kurs mitgetragen. Als er Kanzler wurde, hat er auch noch Nord Stream 2 verteidigt. Mir scheint, Sie kennen heute schon die Fehler, die Sie morgen machen. Das nenne ich blauäugige Politik. ({0}) Aber jetzt zurück zum Thema Wohngeld. Es ist richtig, dass man das Wohngeld erhöht, dass man den Empfängerkreis ausbaut und dass man es reformiert. Es ist wichtig, dass wir jetzt auf die aktuellen Herausforderungen Antworten finden. Aber – Jan-Marco Luczak hat es angesprochen – das kommt zu spät. Wir haben es bereits im März gefordert. Die Leute sind jetzt natürlich auf der Palme und fragen sich: Wie soll ich das in Zukunft zahlen? – Das Ganze soll Anfang des nächsten Jahres umgesetzt werden. Die Kommunen sind nicht vorbereitet, weder personell noch wissen sie, wie es funktionieren soll. Es fehlt Planungssicherheit, und es fehlt der Vorlauf, um das in der Zeit entsprechend abzuarbeiten. Wenn Sie wie wir mit den verschiedenen Ebenen im Land und in den Kommunen im Gespräch sind, dann werden Sie bestätigen, dass es so ist. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Sie müssen schauen, dass wir schnell sind und die handwerklichen Fehler, die noch enthalten sind, schnell behoben werden, sodass man das Wohngeld entsprechend schnell und verlässlich auszahlen kann. Sie wecken Erwartungen, angefangen beim 9‑Euro-Ticket, das nicht langfristig organisiert werden kann, bis hin zum Wohngeld, Sie kündigen an, aber liefern nicht, liefern zu spät, oder es bleiben Fragen offen. Das ist nicht die Politik, die wir in Krisenzeiten benötigen. ({1}) Auch die endgültige Finanzierung ist noch offen; das müssten wir klären. Dass wir eine Verdreifachung der Zahl der Berechtigten haben, ist erst einmal eine gute Zahl. Aber eigentlich ist es erschütternd, dass wir eine Verdreifachung der Wohngeldempfängerzahl haben. Es müsste sich eigentlich lohnen, dass man zur Arbeit geht. Man müsste sich mit dem Geld, das man verdient, die Wohnung, Wärme, Strom und auch das Leben leisten können. Das sehe ich bei Ihrer Koalition überhaupt nicht gegeben. Das scheint auch nicht der Anspruch Ihrer Regierung zu sein. ({2}) Durch die links-FDP-geführte Regierung wird es gerade zum Anspruch, nicht zu arbeiten, beispielsweise wenn man auf das Bürgergeld schaut. ({3}) – Nicht „Ah!“. Das haben Sie verbrochen bzw. werden Sie verbrechen. – Wenn ich nicht arbeite und mehr Geld bekomme, als wenn ich zur Arbeit gehe, ({4}) dann haben wir doch ein Problem; denn dann rentiert es sich ja gar nicht, zur Arbeit zu gehen. Das ist doch der falsche Anreiz, meine Damen und meine Herren. ({5}) Wer zur Arbeit geht, soll von dem Geld auch leben können. Dieser Lohn- und Leistungsabstand muss doch entsprechend dargestellt werden. Wir haben doch die gesellschaftliche Verantwortung, mit dem Geld, das wir von den Steuerzahlern einnehmen, verantwortungsvoll umzugehen, damit nicht die nachfolgenden Generationen dafür bezahlen. ({6}) Entgegen der Meinung des einen oder anderen grünen Abgeordneten kann sich der Staat nicht grenzenlos verschulden und die Zinsen selber festlegen. Wirtschaftspolitik scheint nicht die Stärke der Grünen zu sein, meine Damen und Herren. ({7}) Damit handeln Sie nicht nachhaltig. Nachhaltig ist nicht nur Umwelt- und Klimaschutz, nachhaltig sind auch eine solide Haushaltspolitik und eine faire Sozialpolitik, und dies für diejenigen, die das Geld erwirtschaften und die wir entsprechend solidarisch unterstützen müssen, meine Damen und Herren. ({8}) Lassen Sie mich abschließend noch auf einen Punkt eingehen. Das Wohngeld ist ein wichtiger Bestandteil, ohne Frage. Es ist zielgerichtet, weil es auf den Bedarf des Einzelnen eingeht, auf die Größe der Wohnung, auf das Einkommen usw. Aber wir brauchen auch Wohnraum. Sie haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, eine glatte Vollbremsung auf dem Wohnungsmarkt zu verursachen. Wir haben hohe Baukosten, wir haben hohe Energiekosten. Momentan fehlen die Antworten von der Regierung: Wie reagieren Sie? Was können Sie anbieten? Sie schrauben die Anforderungen im Wohnungsbau hoch und streichen die Förderprogramme zusammen. Sie vertrösten das Bündnis mit einem lauwarmen Ergebnis, das Sie gestern vorgestellt haben. Blicken wir zurück! Wir hatten einen Hochlauf im Wohnungsbau; 300 000 Wohnungen wurden gebaut. Wir hatten Baukindergeld, degressive AfA und KfW-Förderung. Jetzt fordern Sie 400 000 neue Wohnungen, und das Ganze soll funktionieren mit einem Förderchaos à la Habeck, mit steigenden Zinsen, mit Lieferengpässen und mit steigenden Baukosten. Das glauben nicht einmal Ihre Bündnispartner, die gestern das Ergebnis mit vorgestellt haben, meine Damen und Herren. Frau Geywitz, Sie haben gesagt, dass 400 000 Wohnungen nicht mehr reichen werden; aber im Bündnispapier steht diese Zahl nach wie vor drin. Anstatt klare Konzepte und gezielte investive Maßnahmen zu erarbeiten, wollen Sie den Wohnungsbau mit Prüfaufträgen, Evaluation und runden Tischen fördern. Das klingt schön, aber damit werden keine neuen Wohnungen und zumindest nicht schnell neue Wohnungen gebaut, die wir brauchen. ({9}) Eines noch: Sie haben völlig recht, Frau Geywitz: Wenn es im Bau wumms macht, dann ist etwas kaputt, dann hat etwas nicht funktioniert. – Sie machen einen Doppel-Wumms. Sie fahren die Bauwirtschaft gegen die Wand. Herzlichen Dank. ({10})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Jetzt kommt Hanna Steinmüller für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kießling, ich habe wirklich zugehört. Es ging um das 9‑Euro-Ticket und das Bürgergeld. Das war ein buntes Potpourri. Zum Wohngeld habe ich nicht so viel gehört. Deswegen probiere ich es jetzt noch einmal mit dem Wohngeld, worum es bei diesem Tagesordnungspunkt ja geht. ({0}) Wir wollen sozial gemischte Kieze. Das Wohngeld wurde eingeführt, um zu ermöglichen, dass sich Menschen mit niedrigem Einkommen auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung leisten können und da wohnen, wo sie es wollen. Das ist die Idee des Wohngeldes, und die gilt noch immer, auch wenn wir jetzt zu Recht viel über Entlastungen und die Folgen von Putins Angriffskrieg diskutiert haben, die zu steigenden Energiepreisen und anderen Preisexplosionen führen. Also, beim Wohngeld geht es darum, dass wir sozial gemischte Kieze erhalten. Wir machen die größte Wohngeldreform der Geschichte der Bundesrepublik. Von ihr profitieren 2 Millionen Haushalte in ganz Deutschland: Rentner und Rentnerinnen, Alleinerziehende, Familien, Studierende, Azubis und Menschen mit kleinem Einkommen. Mit Verena Hubertz sind wir gerade in Trier gewesen. Ich möchte mal in Berlin bleiben. Was bedeutet das Wohngeld konkret? Was bedeutet es für die Rentnerin in Berlin, die eine Miete von 550 Euro hat und ein Gesamteinkommen von 1 200 Euro? Sie hat bisher Anspruch auf 16 Euro Wohngeld. Sehr berechtigt können wir davon ausgehen, dass sie das vermutlich nicht beantragt hat. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu 16 Euro im Monat; das heißt, wahrscheinlich nutzt sie es nicht. Nach der Reform bekommt sie 212 Euro Wohngeld; das ist fast die Hälfte ihrer Miete. ({1}) Wir wandern weiter, weil Berlin ja nicht der Nabel der Republik ist. Was bedeutet es für eine Familie in Heidelberg, zwei Elternteile, ein Kind, Miete: 900 Euro, Einkommen: 2 800 Euro brutto? Sie haben bisher keinen Anspruch auf Wohngeld; nach der Reform sind es 311 Euro. Es macht also einen Unterschied. Es bedeutet auch, dass sich – ich schaue zu meinem Kollegen Kassem Taher Saleh – beispielsweise die Alleinerziehende in Dresden ihre Wohnung noch leisten kann und nicht umziehen muss. Das ist eine ganz wichtige Veränderung durch die Reform des Wohngeldes. ({2}) Heute ist jedoch die erste Lesung des Wohngeld-Plus-Gesetzes. Es gilt das Struckʼsche Gesetz. Auch wir möchten noch einige Dinge ändern. ({3}) Eines wurde heute schon vielfach thematisiert, nämlich die Frage, wie wir es schaffen, dass wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohngeldstellen, die wirklich wichtige Arbeit leisten, nicht überfordern. Da müssten wir gemeinsam als Ampel überlegen – es gibt viele Vorschläge –, wie wir das noch einfacher machen können. Das sind wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schuldig. ({4}) Ich als Grüne habe noch einen zweiten Punkt. So, wie die Klimakomponente in diesem Gesetzentwurf ausgestaltet ist, hat sie mit einem sozialen Ausgleich für energetische Sanierung noch nicht so viel zu tun. ({5}) Wir sind in der Situation, dass wir sehr schnell die Reform durchbringen müssen, weil wir sehr schnell Menschen entlasten wollen; das ist richtig. Aber ich finde, wir müssen trotzdem noch mal überlegen, was man da noch drehen kann, oder notfalls bei der nächsten Evaluierung eine Klimakomponente einführen, die ihrem Namen wirklich gerecht wird. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel beim Wohngeld ist, dass die soziale Mischung erhalten bleibt. Dafür nehmen wir, ehrlich gesagt, ganz schön viel Geld in die Hand, um Mieten zu subventionieren. Aber es gibt auch andere Wege, dieses Ziel zu erreichen, und an denen müssen wir genauso arbeiten. Wir brauchen eine neue Wohngemeinnützigkeit, damit wir dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. ({7}) Und wir müssen das Vorkaufsrecht wieder rechtssicher einführen, damit Mieterinnen und Mieter nicht weiter verdrängt werden. Dafür werden wir Grüne uns in der Koalition weiter einsetzen. Ich freue mich auf die Beratung von Heizkostenzuschuss- und Wohngeld-Plus-Gesetz. Vielen Dank. ({8})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Vielen Dank. – Und jetzt kommt Anne König für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anne König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor sieben Monaten durfte ich hier im Deutschen Bundestag meine erste Rede zum Heizkostenzuschuss halten. Seit Anfang März ist viel Zeit vergangen, und immer noch warten die Menschen in unserem Land auf strukturelle und spürbare Entlastungen. Schon damals haben wir als Union erklärt, dass Ihre Einmalhilfen der Wirklichkeit hoffnungslos hinterherhinken und bei immer weiter steigenden Preisen die Kosten der Menschen nur minimal abfedern. Ich habe im März schon darauf hingewiesen, dass die Preisexplosion längst die gesellschaftliche Mitte erreicht hat und es eben nicht nur symbolische Hilfe für wenige, sondern strukturelle Lösungen für viele braucht. ({0}) Denn schon damals war klar, dass ein einmaliger Heizkostenzuschuss nicht reichen wird und dass es einer Wohngeldreform mit einer integrierten Klima- und Heizkostenkomponente bedarf. Es ist für die Menschen in diesem Land bitter, dass die allermeisten Kritikpunkte aus dem Frühjahr heute noch genauso zutreffend und aktuell sind wie vor sieben Monaten; denn Ihre Herangehensweise hat sich seitdem nicht verbessert. Eine Lernkurve ist bei Ihnen mit bloßem Auge auch nicht zu erkennen. ({1}) Aber fangen wir mal bei der Wurzel des Problems an. Diese Bundesregierung weigert sich hartnäckig, das Energieangebot in der gebotenen Konsequenz zu erhöhen. Ihr ist es nicht gelungen, in sieben Monaten einen Vorschlag auf europäischer Ebene zu unterbreiten, wie man Gas aus dem Merit-Order-System rausnimmt. Somit bleiben Strom- und Gaspreise bis auf Weiteres hoch. Hinzu kommt: Experten sagen uns seit Monaten voraus, dass uns eine schwere Rezession droht. Man kann nur hoffen, dass Ihr sogenannter Doppel-Wumms für Industrie und Mittelstand nicht zum Doppel-Flop wird. Irgendwer muss in Zukunft ja auch unsere Sozialleistungen erwirtschaften, und wir können nur mit einer starken Wirtschaft unseren Wohlstand erhalten. ({2}) Zurzeit vergrößert Ihre Politik nicht nur den ökonomischen Schaden, sondern führt auch zu gesamtgesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Denken Sie bitte auch darüber mal nach: Was sollen eigentlich all diejenigen, die arbeiten gehen und kein Wohngeld und keinen Heizkostenzuschuss erhalten, tun? Auch die Unterstützung für die arbeitende Mitte ist jetzt notwendiger denn je. Zudem braucht es für Geringverdiener und Rentner, die knapp oberhalb des Empfängerkreises liegen, ebenfalls Lösungen; alles andere wäre ungerecht. ({3}) Da es sich heute um die erste Lesung handelt und wir die Regierung im Interesse der Menschen kritisch-konstruktiv begleiten wollen, will ich Ihnen gerne die wichtigsten Kritikpunkte noch einmal darlegen. Das tue ich in der Hoffnung, dass Sie diese Kritikpunkte dieses Mal auch aufgreifen und endlich Verbesserungen vornehmen. Erstens. Sowohl der Heizkostenzuschuss als auch das Wohngeld Plus in ihrer jetzigen Form behandeln höchstens die Symptome. Das Problem muss an der Wurzel gepackt werden. Erweitern Sie also das Energieangebot, und reduzieren Sie dadurch die Preise! Zweitens. Lösen Sie zumindest bei diesem Gesetz einmal Ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein! Da heißt es nämlich richtigerweise auf Seite 8: „Wir wollen Gesetze verständlicher machen.“ Stattdessen konfrontieren Sie nun den Bürger mit folgender Formulierung aus Anlage 3 – ich zitiere –: Das ungerundete monatliche Wohngeld ergibt sich durch Einsetzen der Werte für „a“, „b“, „c“ (Anlage 2) und für „M“ und „Y“ in die Formel nach § 19 Absatz 1 Satz 1 und durch Ausführen der vier folgenden Rechenschritte: … z1 = a + b · M + c · Y, z2 = z1 · Y, z3 = M – z2, z4 = 1,15 · z3. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Damit provozieren Sie wahrscheinlich Hunderttausende Anrufe bei den Wohngeldstellen vor Ort, weil bei Ihrem Gesetz niemand weiß, ob ihm Wohngeld Plus überhaupt zusteht. Sorgen Sie da bitte für Klarheit! ({4}) Drittens. Insbesondere der Heizkostenzuschuss erscheint nicht zielgenau. Der festgelegte Betrag kann sowohl in die eine als auch in die andere Richtung stark vom tatsächlichen Preis zum Zeitpunkt des Bedarfs abweichen. Da entstehen Ungerechtigkeiten mit Ansage. Während es für den einen Teil der Empfänger ein auskömmlicher Zuschuss sein kann, weil sie gegebenenfalls in einem energetisch guten Gebäude wohnen, wissen andere immer noch nicht, wie sie die Preisexplosion mit der Einmalzahlung schultern sollen. Wenn Sie die Betroffenen nicht zielgenauer bezuschussen, können Sie quasi jetzt schon über das nächste Nachbesserungsgesetz nachdenken. Viertens. Bedauerlicherweise ist das Geld mit der Verabschiedung von Gesetzen ja noch lange nicht bei den Bürgern. Der Aufgabenzuwachs bei den Wohngeldbehörden führt durch die Verdreifachung der Zahl der Anträge zu langen Wartezeiten. Pro Erstantrag für Wohngeld werden laut Ihren Ausführungen 92 Minuten benötigt. Ich warne davor, die zu erwartende Antragsflut auf dem Rücken der Mitarbeiter in den Behörden auszutragen. Eine Bundesregierung, die ihren Personalkörper so schamlos aufgestockt hat wie die Ihre, muss es jetzt schaffen, die Wohngeldbehörden durch Umschichten und Abordnen von Personal auch wirksam zu unterstützen. Im Übrigen braucht es auch hier eine echte Digitalisierungsoffensive, damit das Geld schneller bei den Menschen ankommt. Abschließend sei gesagt: Handeln Sie vor allem weitsichtig! Sieben Monate mussten vergehen, bis Sie wieder tätig wurden. Und jetzt sind wir schon längst in der Heizperiode. Nehmen Sie die notwendigen Verbesserungen an Ihrem Gesetzentwurf im Interesse der Menschen vor! Dann sind wir auch gerne bereit, zuzustimmen. Aber zu einem Weiter-so Ihrer unausgegorenen und unzureichenden Krisenpolitik werden wir keinen Beitrag leisten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004124

Die nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion Sandra Weeser. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Union, Sie haben 16 Jahre lang die Bundesregierung geführt – jetzt kommt schon das Jaulen: „Nicht schon wieder!“; aber ich kann Ihnen das, ehrlich gesagt, nicht ersparen –, Sie regieren in acht Bundesländern mit, ({0}) Sie stellen in diesem Land einen ganz ordentlichen Anteil an Landräten, an Bürgermeistern, an Amtsleitern und stellen sich jetzt hierhin, Herr Kießling, und beklagen, dass die Ämter überfordert und nicht in der Lage wären, den Rentnern, den Teilzeitkräften, den Studenten und den Azubis in diesem Land das Wohngeld auszuzahlen. Da müssen wir uns doch die Frage stellen: Warum ist das denn so? ({1}) Weil Sie, wenn Sie in politischer Verantwortung sind, keine Modernisierung und auch keine Reform dieser Verwaltungen angehen und weil die Union die Digitalisierung im Bund komplett verschlafen hat ({2}) und in den Ländern und in den Kommunen weiterhin verschläft – Sie blockieren sie auch noch zusätzlich – und weil Ihren Ministerpräsidentinnen und ‑präsidenten nichts Besseres einfällt, als nach immer mehr Steuergeld zu rufen, anstatt im eigenen Laden effizient aufzuräumen. ({3}) Eines ist doch ganz klar: Die Ausweitung des Wohngeldes von 600 000 Haushalten auf 2 Millionen ist kein Klacks, das ist eine Riesenherausforderung. Aber es ist eben auch ein Grund, jetzt anzupacken. Man darf nicht einfach nur die Hände in den Schoß legen, sondern jetzt heißt es auch mal Ärmel hochkrempeln, auch in den Ländern. Jetzt zählt auch ein Stück weit die Eigenverantwortung. Es gibt Lösungen. Unter FDP-Mitregierung – Herr Föst hat es eben schon erwähnt – haben wir 2019 in Schleswig-Holstein ein komplett digitales Verfahren zur Beantragung von Wohngeld für alle Bundesländer zur Verfügung gestellt. ({4}) Jetzt schauen wir mal nach Bayern zum Herrn Kießling: Da gibt es ein paar Landkreise, die das nutzen; aber selbst drei Jahre später ist es nur ein Bruchteil. Da frage ich mich: Wer regiert denn da in Bayern? Hätten Sie nicht die letzten 16 Jahre geschlafen, dann hätten wir heute diese moderne digitale Verwaltung, und dann könnten wir jetzt in dieser Krise unbürokratisch und auch schnell helfen. Das geht aber leider nicht. Ich will jetzt noch ein bisschen die Metaebene ansprechen: Wir haben in Estland einen Leuchtturm. Wir können sehen, dass alle relevanten Daten in diesem Land, ob zum Einkommen, zur Anzahl der Kinder, zu Sozialleistungen, zur Kontoverbindung, schon längst in einem zentralen digitalen Bürgerkonto erfasst sind. Dort kann man einfach mit einem Onlineantrag jede staatliche Leistung beantragen. Diese Anträge werden dann auch online geprüft. So was brauchen wir auch hier in Deutschland. Wir brauchen hier ein zentrales digitales Bürgerkonto, in das wir im Prinzip den Wohngeldantrag, anstatt ihn in Papierform einzureichen, einfach digital reinstellen und innerhalb von einer halben Stunde genehmigt bekommen. Das wäre der Weg, den wir gerne gehen würden, vor allen Dingen die FDP. Ich denke, da kommen wir hin, wenn alle Bundesländer mitziehen und wenn wir uns nicht immer wieder auf diese ineffiziente Kleinstaaterei zurückziehen würden. ({5}) Als ersten Schritt in die richtige Richtung sollten wir hier Parallelstrukturen abbauen, das heißt Verwaltung und Auszahlung von Wohngeld mit der Grundsicherung zusammenlegen: eine Behörde, ein Datensatz, ein digitales Bürgerkonto. Die Kommunen wären so von den Wohngeldanträgen entlastet. Das heißt, die Menschen, die dann entlastet würden, könnten sich vielleicht auch um die Baugenehmigungen für neue Wohnungen kümmern. Das wäre auch effizient. Das heißt im Ernst: Das kleine Estland macht es uns doch hier jetzt wirklich vor. Wenn die Ministerpräsidenten im Land diesen Weg gehen würden, dem Bund die Kompetenzen für ein digitales Bürgerkonto zu übertragen, dann fliege ich persönlich morgen mit Ihnen nach Estland, und dann fragen wir, ob wir da auch die Software zur Verfügung gestellt bekommen. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Brian Nickholz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Brian Nickholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: Ich schäme mich nicht, links zu sein und links zu sitzen. Ich würde mich aber schämen, mich wie Sie, Herr Kießling, hier den Antidemokraten im Parlament mit solchen Äußerungen anzubiedern, wie Sie sie getätigt haben. ({0}) Wohngeld und Bürgergeld gehören zusammen. Wir haben noch etwas parlamentarische Beratungszeit, um das zu verdeutlichen. Mit dem Wohngeld haben wir ein wirksames sozialpolitisches Instrument. Es sorgt direkt und zielgenau für Entlastungen. 48 Prozent der aktuell Wohngeldbeziehenden sind Rentner/-innen; 40 Prozent sind Familien, darunter sind viele Alleinerziehende. Mit der Reform haben wir genau diese Menschen im Blick. Ein Rentner in Berlin muss von seiner kleinen Rente hier leben. Eine vierköpfige Familie in Tübingen muss ihre Wohnung mit 1 000 Euro Kaltmiete bezahlen. Eine alleinstehende Friseurin zum Beispiel in Datteln arbeitet in Vollzeit und verdient jetzt 12 Euro, den neuen Mindestlohn. Was haben all diese Personen gemeinsam? Auf den ersten Blick vielleicht nicht so viel. Doch sie alle haben ein kleines Einkommen. Ihnen allen helfen Steuersenkungen nicht. Sie alle werden jetzt dank des Wohngeldes Plus dauerhaft und kräftig bei den Wohnkosten entlastet. ({1}) Die Familie in Tübingen hat jetzt Anspruch auf über 800 Euro Wohngeld im Monat, also auf über 300 Euro mehr im Monat als vorher. Der Rentner erhält bisher rund 75 Euro; künftig sind es 250 Euro im Monat. Und die alleinstehende Friseurin? Sie erhält mit dem Wohngeld-Plus-Gesetz jetzt erstmals einen Wohngeldanspruch. Mit dem Wohngeldrechner ist das leicht zu überprüfen. Genau für diese Menschen ist das Wohngeld da. Das Wohngeld ist ein Wohnkostenzuschuss für Menschen mit geringen Einkommen, egal ob sie zur Miete wohnen oder im Wohneigentum, Menschen, die trotz harter Arbeit am Ende des Monats an den hohen Wohnkosten verzweifeln, Menschen, die sich diesen Anspruch aufs Wohngeld erarbeitet haben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Menschen zu entlasten, ist eine Frage des Respekts. Deshalb bin ich froh, dass wir nun das Wohngeld Plus auf den Weg bringen. Es ist ein Teil von vielen milliardenschweren Maßnahmen, die unsere Regierung unter Olaf Scholz auf den Weg gebracht hat. ({3}) Ich wünschte, dass sich die Landesregierung meines Bundeslands NRW daran auch mal ein Beispiel nimmt. In der Krise heißt es: Machen statt meckern oder zumindest nicht im Weg stehen, wenn der Bund vorangeht. ({4}) Der Kollege Luczak hat hier viel gesagt, was schneller gehen muss, was anders gehen muss; aber ich habe keinen einzigen konkreten Vorschlag gehört, wie er das eigentlich machen möchte. Nur einen Vorschlag habe ich gehört: wie es bei der Klimakomponente noch komplizierter wird und hier noch länger zu prüfen ist. Das ist an Widersprüchlichkeit nicht zu überbieten, meine Damen und Herren. ({5}) Für die schnelle und ambitionierte und wichtige Erarbeitung des Gesetzentwurfs danke ich unserer Ministerin und dem gesamten Haus herzlich. Meine Vorrednerinnen haben die wichtigen Verbesserungen schon ausführlich dargestellt. Eine Heizkostenkomponente, eine Klimakomponente und eine Erhöhung der Leistung: Das alles kommt rein, ohne dass das Antragsverfahren komplexer wird. Zentral ist auch die massive Ausweitung der Leistungsberechtigten: Rund 2 Millionen Haushalte können zukünftig das Wohngeld beantragen. Es ist ein wesentlicher Baustein zur Abfederung der Krise. Dafür ist entscheidend, dass das Geld direkt bei den Menschen ankommt. Deshalb zählt neben all den guten Dingen, die schon drin sind, die wir hier in Berlin beschließen, vor allem die Umsetzung vor Ort. Ich habe in den letzten Wochen auch, wie einige Kolleginnen und Kollegen es angesprochen haben, mit Menschen in der Praxis gesprochen, in den Wohngeldstellen Gespräche geführt. Ich verstehe, dass durch die vielen Neuanträge im nächsten Jahr weitere Arbeit auf sie zukommt. Deswegen sind zwei Dinge jetzt ganz wichtig. Erstens. Wir alle sind uns einig: Es braucht Vereinfachung, damit Anträge schneller geprüft werden können und das Geld schneller bei den Menschen ankommt. Da sind aber Bund und Länder gemeinsam in der Pflicht. Wir werden hier genau hinsehen und prüfen, welche praxistauglichen Vereinfachungen noch möglich sind. Zweitens. Wir brauchen in den Wohngeldstellen eine vernünftige personelle Ausstattung. Hier geht mein Appell ganz besonders an die Länder: Sie müssen doch ihre Kommunen in die Lage versetzen, Stellen zu schaffen und zu besetzen. Denn es ist klar: Zur erfolgreichen Umsetzung dieser Reform müssen wir alle an einem Strang ziehen. Ich hoffe, dass das im parlamentarischen Verfahren noch gelingen wird. Zum Schluss liegt mir eine Sache besonders am Herzen. Wir befreien das Wohngeld mit diesem Gesetz vom verstaubten Image. Liebe Bürgerinnen und Bürger, machen Sie Gebrauch von Ihrem Anspruch! Sie haben sich den Anspruch erarbeitet und verdient, und wer etwas anderes sagt, macht Politik auf Ihre Kosten, und das finde ich schäbig. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es kommt erst noch eine Kurzintervention des Kollegen Kießling, der in der vorherigen Rede angesprochen wurde. – Bitte schön, Herr Kießling.

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Nickholz, vielen Dank, dass Sie mich so oft erwähnt haben. Ich glaube, ich bin in keiner Bundestagsdebatte so oft erwähnt worden wie in dieser. Aber zu Ihnen möchte ich schon noch etwas sagen: Was ist falsch an dem Wunsch, die Menschen aus den Sozialleistungen zu führen, sodass sie von dem selbstverdienten Geld auch leben können? ({0}) Es muss doch unser Anspruch sein, wenn ich Geld verdiene und einen Arbeitsplatz habe, dass ich davon auch leben kann. Das hat doch nichts mit rechts und links zu tun. Das muss doch der Anspruch einer demokratisch gewählten Partei sein, dass sich Leistung lohnen muss. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie reagieren? – Bitte sehr.

Brian Nickholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau, ich habe Sie an einer Stelle angesprochen; das ist richtig. Ich glaube, Sie haben verkannt, an welchem Punkt ich Sie angesprochen habe. Ich finde es unanständig, die Bürgergelddiskussion in diesen Kontext einzubringen, als würden wir die Menschen, die hart arbeiten, dadurch benachteiligen. Ich frage: mich: Warum haben Sie nicht zugestimmt, als es um den Mindestlohn ging, wo man ganz konkret hätte helfen können, das, was Sie angesprochen haben, in die Realität umzusetzen? ({0}) Entschuldigen Sie, aber wenn Sie den Sprech der AfD übernehmen, dann benenne ich das ganz deutlich. ({1}) Es tut mir leid. Ich habe in der Bürgergelddebatte auch schon verfolgt, dass Sie von der Union zu Recht sehr allergisch darauf reagieren. Aber wenn Sie sich diesen Schuh anziehen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie entsprechend benannt werden. Deswegen war es für mich sehr wichtig, dies deutlich zu machen. Wenn das dazu beiträgt, dass Sie in Bezug auf das, was Sie vorgetragen haben, umdenken und sich dann in Zukunft so äußern und mit einer Oppositionsarbeit, die konstruktiv und in dieser Krise verlässlich ist, an der Politik mitwirken, dann hat mein Wortbeitrag und dass ich Sie direkt angesprochen habe, schon etwas Positives bewirkt. Darüber würde ich mich sehr freuen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat das das Wort Anja Liebert für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Anja Liebert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005130, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten bereits eine Vielzahl sozialpolitischer Maßnahmen und Entlastungen auf den Weg gebracht. Denn wir nehmen die Sorgen und die Nöte der Menschen angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten und natürlich auch der massiv steigenden Heiz- und Wohnkosten ernst. Eine bezahlbare, angemessene und sichere Wohnung zählt zu den Grundbedürfnissen aller Menschen. ({0}) Mit der geplanten Erweiterung des Kreises der Wohngeldberechtigten adressieren wir sehr viele verschiedene Gruppen: Menschen mit kleinen Renten, Geringverdienende, Alleinerziehende und größere Familien. Aber die Wohngeldreform ist auch ein Instrument der Stadtentwicklungspolitik. Unser Ziel ist es nämlich, dass Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen nicht an den Rand gedrängt werden – an den Stadtrand oder an den Rand, wo es bestimmte Wohnsituationen gibt –, sondern auch der Krankenpfleger oder die Servicekraft in der Gastronomie müssen sich das Wohnen im Zentrum, wenn sie mögen, leisten können, wo sie keine langen Pendelwege zur Arbeit in Kauf nehmen müssen. ({1}) Unser Leitbild der Stadtentwicklung sind die lebendigen Quartiere mit einer vielfältigen Nutzung. Da gehören Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Erholung unmittelbar zusammen. Es muss aber auch eine Mischung unterschiedlicher Milieus sein, unterschiedlicher Lebensstile und unterschiedlicher Einkommensgruppen. Die Wohngeldreform ist natürlich auch dafür da, dass wir diese nutzungsgemischte Stadt erhalten können. Die Wohngeldreform hilft aber auch den Kommunen und insbesondere den finanzschwachen Kommunen; denn diese werden finanziell von den Ausgaben für die Sozialhilfe deutlich entlastet, und das schon im nächsten Jahr mit circa 200 Millionen Euro. 380 000 Haushalte werden aus dem SGB-II-Bezug, also dem Bezug vom Jobcenter und der Grundsicherung, in den Wohngeldbezug wechseln. Das entlastet die Kommunen deutlich. Wir müssen unsere Kommunen natürlich mittelfristig beim Bürokratieabbau, bei einem vereinfachten Antragsverfahren und auch mithilfe der Digitalisierung – das wurde vorhin schon angesprochen – deutlich unterstützen. ({2}) Im Gesetzentwurf werden auch schon einige Maßnahmen vorgestellt, wie man den Verwaltungsaufwand in den Kommunen reduzieren kann: durch die Verlängerung des Bewilligungszeitraumes von 12 auf 18 Monate und mit sinnvollen Übergangszeiträumen von einem ins andere System. Damit können wir den Ämtern Luft verschaffen. Es wird trotzdem eine anspruchsvolle Aufgabe für die Kommunen, diese Reform umzusetzen. Wir müssen daher auch an einer besseren Finanzausstattung für die Kommunen arbeiten. Wir Grünen setzen uns gemeinsam in der Ampel natürlich auch für eine Lösung der Altschuldenproblematik finanzschwacher Kommunen ein; denn wir brauchen Ausstattung und Personal in den Kommunen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion ist der Kollege Martin Diedenhofen der nächste Redner. ({0})

Martin Diedenhofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Heizkostenzuschuss I kommt Heizkostenzuschuss II. Wir kennen es aus der Filmbranche: Ist ein Film erfolgreich, wird schnell ein zweiter Teil nachgelegt. ({0}) Obwohl wir erst im Frühjahr den ersten Heizkostenzuschuss verabschiedet haben, reden wir heute schon über Teil zwei. Aber anders als in der Filmbranche planen wir den zweiten Teil leider nicht, weil wir als Regierungskoalition vom Erfolg des ersten Teils profitieren möchten. Wir machen das, weil es aufgrund der aktuellen Situation ganz dringend notwendig ist. Beim zweiten Teil werden wir – auch wie bei Filmen üblich – noch mal drauflegen und planen jetzt mit 415 Euro. Das ist bitter notwendig, damit Wohngeld- und BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger eine Chance haben, über die Runden zu kommen; denn die dicke Rechnung wird spätestens in den kalten Monaten eintrudeln. Deswegen ist für die SPD-Fraktion auch vollkommen klar: Wir dürfen diese Menschen nicht im Regen stehen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Das heißt auch – da wende ich mich auch noch mal an die Unionsfraktion –, dass das Geld schnell zu den Menschen kommen muss. In meiner Heimat Rheinland-Pfalz ist das längst geschehen. Auch die anderen SPD-geführten Bundesländer haben ihre Hausaufgaben gemacht und den ersten Heizkostenzuschuss bereits ausgezahlt, ({2}) ganz im Gegensatz übrigens zu den unionsgeführten Ländern, wie beispielsweise Bayern. Da sage ich ganz klar: Vielleicht sollte Herr Söder nicht nur heiße Luft produzieren, sondern wirklich etwas für die Menschen in diesen Krisenzeiten machen. ({3}) Bei Filmen kommt nach einem ersten und einem zweiten Teil häufig sogar noch ein dritter oder ein vierter Teil. ({4}) Wir haben aber anderes vor, was das Wohngeld angeht. Wir werden nämlich quasi eine Serie nachlegen. Im Zuge der Wohngeldreform werden wir nicht nur den Empfängerinnen- und Empfängerkreis massiv ausweiten, sondern eine dauerhafte Heizkostenkomponente einführen. Dann wissen die Menschen auch klar, womit sie rechnen können. Sie kennen sicher diese Filme, bei denen man schon am Anfang weiß, dass es ein Happy End geben wird und wie das aussehen wird. In der aktuellen Krise können wir das nicht sagen. Das gehört zur Wahrheit dazu. Das Blaue vom Himmel zu versprechen, überlasse ich an dieser Stelle auch lieber der Opposition. Was wir als Ampel aber versprechen können: dass wir alles dafür geben, die zusätzlichen Belastungen so gut wie möglich abzufedern, und dass wir niemanden in diesem Land alleine lassen. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich jetzt die Aussprache.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die hohen Energiepreise sind bitter für viele Menschen in diesem Land und für viele Unternehmen. Ich bin sicher, dass es keinen Abgeordneten und keine Abgeordnete in diesem Haus gibt, die das nicht weiß. Mir persönlich hat das schon mehrmals nachts den Schlaf geraubt. Ich glaube, wir können die Debatte heute und hier auf das Wesentliche konzentrieren, wenn wir das einfach erst mal festhalten, wenn wir nicht versuchen, uns gegenseitig klarzumachen, wie schlimm die Situation ist, und dabei hoffen, dass es so rüberkäme, als hätten die anderen das nicht gemerkt. Wir alle haben es gemerkt, und deswegen sollten wir die Debattenzeit heute dafür nutzen, darüber zu reden, wie wir den Menschen und Unternehmen am besten helfen können. ({0}) Zum einen ist natürlich Unterstützung wichtig, direkte Unterstützung. Wir haben im mittlerweile vierten Paket viel Geld mobilisiert, viel Kraft mobilisiert, um Menschen, um Unternehmen in der Not zu helfen, um sie zu unterstützen. Das ist gut so, das brauchen wir. Wir Grünen haben uns immer dafür eingesetzt, dass diese Gelder möglichst zielgenau bei denjenigen Menschen und Unternehmen ankommen, die sie am dringendsten brauchen. Aber es ist auch klar: Die Gelder müssen schnell und unbürokratisch fließen. Das bedeutet eben auch, dass sie nicht ganz so zielgenau sein können, wie wenn man sehr komplizierte Prüfungssysteme aufsetzt. ({1}) Wir haben den klaren Willen und die Kraft bewiesen, Menschen und Unternehmen zu unterstützen. Das andere, was wir aber brauchen, was auf der Hand liegt und was manchmal zu kurz kommt, ist: Wir müssen – und das ist doch die einzige Lösung, die das Problem wirklich an der Wurzel packt – von diesen unbezahlbaren fossilen Energieträgern unabhängiger werden. ({2}) Deshalb bin ich sehr stolz auf diese Ampelregierung, die es geschafft hat, das größte Erneuerbare-Energien-Ausbauprogramm aller Zeiten aufzulegen und in der letzten Sitzungswoche mit der Änderung des EnSiG schon wieder nachgelegt hat. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir mit Minister Habeck einen Minister haben, der wirklich handelt, der sich nicht wegduckt, wenn es schwierig wird, ({3}) der die Beschleunigung von Genehmigungen hinbekommen hat wie keiner vor ihm und auch eine Energieeinsparverordnung auf den Tisch gelegt hat. ({4}) – Stellen Sie gerne eine Zwischenfrage; dann erzähle ich Ihnen ganz viel, was Minister Habeck gemacht hat. Aber so reicht die Zeit nicht. Ja, wir brauchen andere Energiequellen. Aber es gibt noch etwas, was wir machen müssen, um unabhängiger von den derzeit unbezahlbaren fossilen Energien zu werden, die nur deshalb unbezahlbar sind, weil wir ein bisschen zu viel verbrauchen. Es gibt ja keinen Grund dafür, dass Gas aus Norwegen so teuer sein muss, wie es derzeit ist, außer dass wir etwas mehr verbrauchen, als wir haben, etwas mehr verbrauchen, als wir beziehen können. ({5}) Was wir also auch machen müssen, ist, den Verbrauch zu reduzieren und Energie einzusparen, in der Industrie genauso wie in den Haushalten. ({6}) Da, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, die Sie heute wieder die Themen auf den Tisch gelegt haben, hat mich Ihr Verhalten in den letzten Wochen schon sehr verwundert. Ich habe Sie mehrmals persönlich darauf hingewiesen, dass sich unsere Einsparappelle, unser Aufruf zur Solidarität, dazu, weniger von dem knappen Gut Erdgas zu verbrauchen, eben gerade nicht an die Leute richten, die kein Geld mehr haben, um das zu bezahlen, sondern an die gesamte Gesellschaft, in erster Linie an die Reichen, die am meisten Energie verbrauchen und die sparen können. ({7}) Wäre ich heute nicht die erste Rednerin, ich hätte Wetten abgeschlossen, wann der Erste das Wort „Waschlappen“ auf den Tisch bringt, ({8}) ein Wort, das einmal erwähnt worden ist, völlig aus dem Kontext gerissen und hunderttausendmal wiederverwendet worden ist, ({9}) um all diejenigen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und vor großer Not bewahren wollen, die unserer Gesellschaft sagen wollen, dass wir gemeinsam mit diesem knappen Gut Erdgas seriös und sparsam umgehen müssen, zu diskreditieren und lächerlich zu machen. Ich habe Sie darauf hingewiesen, und Sie haben es immer wieder gemacht. Das dient nicht dem Schutz der Menschen mit wenig Geld. Genau dadurch treiben Sie das Problem in die Höhe. Sie machen diejenigen lächerlich, die etwas für die Gesellschaft tun wollen und die die Energiepreise nach unten bringen wollen – für den billigen politischen Punkt. ({10}) Ja, Sie wollen den billigen politischen Punkt in den Social Media. Sie wollen viele Klicks und viele Likes. Aber damit verschärfen Sie das Problem; damit heizen Sie das Problem an. Wenn die reichsten 10 Prozent in Deutschland einfach nur so viel Energie verbrauchen würden wie ein Durchschnittsbürger, dann hätten wir schon 26 Prozent eingespart. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sagen, ich habe recht. Dann freue ich mich, dass Sie uns unterstützen werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, ich habe auch etwas gesagt; ich habe auch recht. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bei der ersten Rednerin muss man immer besonders aufpassen; denn sonst muss man bei den nächsten Rednern entsprechend Zeit abziehen. Die Kollegin Maria-Lena Weiss hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Maria Lena Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Fraktion Die Linke, weil der Doppel-Wumms offensichtlich noch nicht so wummst, wie er soll, wollen Sie jetzt mit dem Verbot von Strom- und Gassperren dafür sorgen, dass die Wohnzimmer im Winter warm bleiben. Ich sage: Das ist einer der schlechtesten Vorschläge, die momentan auf dem Tisch liegen, und ich will Ihnen gern darlegen, warum. Halten wir zunächst einmal fest: Wenn wir heute über Strom- und Gassperren diskutieren, dann diskutieren wir nicht mehr über die 290 000 Anschlüsse, die im Jahr 2019 gesperrt wurden, oder über die 230 000 Anschlüsse im Jahr 2020. Wir sprechen über Millionen von Strom- und Gasanschlüssen von Geringverdienern und Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein. Jeder dritte Bürger in diesem Land hat jetzt, genau in diesem Moment, Angst, die Strom- und Gasrechnung nicht mehr bezahlen zu können. Jeder dritte Betrieb bangt um seine Existenz. Diese dramatische Situation lässt sich nicht durch ein Verbot von Gas- und Stromsperren in die Zukunft verschieben, sondern das Problem muss jetzt bei der Wurzel gepackt werden. Sperrungen zu verbieten, das mag ein paar Monate gut gehen; aber das kann doch nicht die Lösung sein. Denn eines ist klar: An dem Tag, an dem die Politik das Verbot wieder aufhebt, fällt das Kartenhaus in sich zusammen. ({0}) Es steht doch außer Frage, dass derjenige, der eine Leistung entgegengenommen hat, in diesem Fall Strom oder Gas bezogen hat, irgendwann für diese Leistung auch bezahlen muss. Egal ob heute, in einem Monat oder in einem Jahr: Dieser Tag wird zweifelsohne kommen, und dann wird das Ausmaß der Bugwelle die betroffenen Bürger schlagartig in die Realität zurückholen. – Das war der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Wer soll Ihren Vorschlag denn eigentlich bezahlen? Der Staat? Die Allgemeinheit? Die Energieversorger? Ihr Antrag, liebe Linke, schweigt dazu. Ich kann das verstehen; schließlich sind Sie ja fürs Verteilen da und nicht fürs Erwirtschaften zuständig. ({1}) Aber klar ist doch, dass diese Kosten zunächst bei den Energieversorgern hängen bleiben, allen voran bei unseren 900 Stadtwerken in Deutschland – den 900 Stadtwerken, für die der Wirtschaftsminister nicht zuständig ist und an die auch Sie, wie Sie mit Ihrem Antrag zeigen, nicht denken. Durch Ihren Vorschlag, Gas- und Stromsperren zu verbieten, gefährden Sie die wirtschaftliche Existenz der Versorger und Stadtwerke, die in Vorleistung gehen, ihre Lieferzusage einhalten, aber keine Gegenleistung mehr bekommen, der Versorger, die für die Energiegrundversorgung als Teil der Daseinsvorsorge da sind und die den Kunden ohnehin schon Ratenzahlungen von mindestens sechs Monaten anbieten müssen. Sie bestrafen also die Stadtwerke, die schon immer sozial gerecht agieren, die alles dafür tun, die Kunden vor Ort zu schonen, und für die Gas- und Stromsperren schon immer die absolute Ultima Ratio waren. Vor allem aber sorgen Sie durch Ihren Vorschlag dafür, dass der Allgemeinheit auf zweifache Weise Schaden entsteht: zum einen, weil die Preise wieder steigen werden – denn Ausfälle werden durch die zahlenden Kunden kompensiert –, und zum anderen, weil Sie den Stadtwerken die wirtschaftliche Grundlage entziehen. Damit können sie ihre Gewinne nicht für die Schwimmbäder, den ÖPNV oder die Transformation zur Klimaneutralität einsetzen. Liebe Linke, sehen Sie ein, dass uns Ihr Antrag nicht weiterhilft, und helfen Sie stattdessen mit, die Regierung davon zu überzeugen, dass die beste Entlastung und Preisbremse nicht ein Verbot von Strom- und Gassperren ist. Die beste Entlastung erreichen wir durch eine Erhöhung des Energieangebots. ({2}) Ich sage ausdrücklich: Danke, liebe Regierung, dass Sie beim Biogasdeckel den Weg frei gemacht haben! Und ich bitte Sie: Erhöhen Sie das Tempo bei der Kohle, legen Sie die Scheuklappen bei heimischer Gasförderung ab, zeigen Sie sich einsichtig bei der Kernenergie, und lassen Sie alle drei aktiven Kernkraftwerke am Netz! ({3}) Die Intention Ihres zweiten Antrags, liebe Linksfraktion, ist ja gut gemeint, wenn auch inhaltlich nicht umsetzbar. Sehen Sie es mir deshalb an dieser Stelle nach, wenn ich mich nicht mit Ihrem dürftigen Dreizeiler auseinandersetze, sondern mich stattdessen noch einmal klar und deutlich an Sie wende, liebe Bundesregierung. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass Sie mit der Expertenkommission Gas externen, insbesondere wirtschaftlichen Sachverstand ins Boot geholt haben. Schade, dass Sie das nicht schon vor der Sommerpause gemacht haben, als absehbar war, in welcher Situation wir uns vor dem nahenden Winter befinden würden. ({4}) Ich appelliere an Sie: Sorgen Sie dafür, dass unsere mittelständischen Betriebe jetzt kurzfristig Entlastung bekommen. Eine Gaspreisbremse im März kommt zu spät. Bei einer Verzehnfachung der Preise am Spotmarkt können Betriebe nicht einfach fünf Monate weiterproduzieren. Eine Einmalzahlung im Dezember reicht nicht aus, um drohende Betriebsschließungen im Winter zu verhindern. Sorgen Sie dafür, dass zumindest schnelle Anpassungen am Energiekostendämpfungsprogramm und Liquiditätshilfen für spürbare Entlastung sorgen, bis die Gaspreisbremse kommt. Und vor allem: Denken Sie daran, dass mit der Gaspreisbremse erst die Hälfte getan ist. Vergessen Sie nicht das Stromproblem, und kümmern Sie sich um die Strompreise. Lassen Sie zu guter Letzt auch nicht diejenigen im Regen stehen, die am Öl hängen oder auf Pellets angewiesen sind und ebenfalls hohen Preissteigerungen ausgesetzt sind. Liebe Bundesregierung, Ihr Kanzler hat gestern prophetenhaft verkündet, dass er Putins Gaserpressung schon im letzten Winter vorausgesehen habe. Für die Zukunft rate ich Ihnen: Verkünden Sie Ihre Prophezeiungen leiser, und handeln Sie stattdessen schneller und spürbarer. Geben Sie unseren Bürgern und Betrieben eine Perspektive, wie sie durch den Winter kommen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Dr. Nina Scheer. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist von der Kollegin Ingrid Nestle gerade schon dargelegt worden: Wir haben eine fossile Energiepreiskrise. Das dürfen wir bei alldem nicht vergessen. Wir hätten keine Probleme mit den Energiepreisen, wenn wir schon längst beschleunigt auf erneuerbare Energien umgestiegen wären. ({0}) Wir wissen – das ist hier schon vielfach diskutiert worden; ich erwähne es erneut –, dass da schon in der Großen Koalition leider kräftige Bremsen installiert wurden, und wir hatten als SPD-Fraktion alle Mühe, diese Bremsen zu lösen. Wir müssen jetzt schauen, dass wir die Entlastungen hinbekommen, die wir aufgrund der fossilen Energiepreiskrise brauchen. Diese Entlastungen kommen. Wir haben schon über 95 Milliarden Euro an Entlastungen auf den Weg gebracht; wir fangen also keineswegs bei null an. Wir haben uns jetzt auf einen erneuten Abwehrschirm mit einem Umfang von 200 Milliarden Euro verständigt; das muss nun ausgestaltet werden. Das ist eine große Aufgabe, die wir noch vor uns haben; denn es geht natürlich darum, das gerecht auszugestalten. Es geht darum, einen wirksamen Ansatz zu finden, der verhindert, dass es überhaupt zu Strom- und Gassperren kommt. ({1}) Anderenfalls wäre die Konsequenz, dass nur Schulden aufgrund des Unterbindens von Strom- und Gassperren angehäuft würden. Gerade das gilt es zu verhindern. ({2}) Der erste wichtige Schritt ist, dass man Entlastungen auf den Weg bringt, um keine Schulden bei den Menschen entstehen zu lassen. Es geht auch darum, den Folgeeffekt nicht eintreten zu lassen, nämlich dass die Versorger, beispielsweise die kommunalen Stadtwerke, Probleme bekommen, weil sie auf nicht bezahlten Rechnungen sitzen blieben. Deswegen ist es in zweierlei Hinsicht wichtig, dass man diese Entlastungspakete schnell auf den Weg bringt. ({3}) Als Ampelkoalition und auch als SPD-Fraktion machen wir da natürlich nicht halt; denn wir wissen, dass es hier und da trotzdem zu kritischen Situationen kommen kann. Deswegen haben wir uns dafür ausgesprochen, dass es Abwendungsvereinbarungen geben soll und dass dafür auch das Energierecht nachgebessert werden muss, wenn man das anders nicht hinbekommt. Wir haben uns klar für eine gesetzliche Verankerung von Abwendungsvereinbarungen ausgesprochen. Natürlich wollen wir solche Fälle erst gar nicht entstehen lassen. Ja, es soll keine Strom- und Gassperren geben. Aber der Weg dahin ist entscheidend, damit es nicht zu den von mir gerade genannten Überforderungen kommt. ({4}) Ich möchte noch mal zu dem erstgenannten Punkt zurückkommen. Es sagt sich immer so leicht, dass wir mitten in einer Preiskrise sind und schnell umsteigen müssen. Es ist tagesaktuell unverzichtbar, es auch an dieser Stelle zu erwähnen: Auf europäischer Ebene herrscht gerade ein sehr großer Kampf darum, welche Rolle die erneuerbaren Energien wie schnell einnehmen sollen. Es muss für uns alle klar sein, dass wir von dem Pfad des beschleunigten Umstiegs auf Erneuerbare auch aus Preis- und Bezahlbarkeitsgründen nicht abweichen dürfen. Wir müssen so schnell wie möglich auf Erneuerbare umsteigen. Der EU-Wirtschaftsausschuss hat das heute infrage gestellt. Auch einige EU-Staaten wollen das im REPowerEU-Programm verankerte 45‑Prozent-Ziel für die Erneuerbaren bis 2030 aufweichen. Von unserer Seite muss ganz klar sein: Das ist nicht die Antwort! Die Antwort lautet: Erneuerbare so schnell wie möglich. Das sind die kostengünstigsten Formen der Energiegewinnung. Wenn wir von diesem Pfad abweichen, dann wird auch kein Rettungspaket der Welt mehr die Bezahlbarkeit von Energie und eine gerechte Energieversorgung gewährleistet können. Gerechtigkeit bei der Energieversorgung bedeutet Beschleunigung der Energiewende. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Marc Bernhard für die AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem, was ich jetzt gerade hier schon in dieser Debatte alles gehört habe, muss ich doch schon sagen: Die Regierung hat ganz offensichtlich die Dramatik nicht verstanden. – Frau Nestle, Sie haben sinngemäß gesagt: Wenn die Menschen sich die Energie nicht mehr leisten können, dann sollen sie halt in Zukunft weniger verbrauchen. – Das haben Sie im Prinzip gesagt. Ich glaube, ich muss schon noch mal daran erinnern, dass die Spritpreise seit Jahresbeginn um 60 Prozent gestiegen sind, sich die Strompreise verdoppelt haben und der Gaspreis sich mehr als verdreifacht hat. Wenn also eine vierköpfige Familie am Anfang des Jahres 1 200 Euro fürs Gas gezahlt hat, muss sie heute 4 000 Euro bezahlen. Und über die Preisexplosion bei den Lebensmitteln haben wir noch gar nicht gesprochen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nestle?

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, ich bitte um eine Zwischenintervention nachher. Aber sprechen wir doch mal darüber, warum denn die Menschen überhaupt in dieser Notsituation sind. ({0}) – Lassen Sie mich doch erst mal meinen Gedanken entwickeln, dann können Sie nachher gerne eine Intervention machen. Sprechen wir doch erst mal darüber, warum denn die Menschen überhaupt in dieser Notsituation sind. Nämlich ganz einfach, weil die Regierung acht Monate lang nix gemacht hat, um diese Katastrophe abzuwenden. ({1}) Laut Minister Habeck zählt doch angeblich jede Kilowattstunde. Bereits am 6. April habe ich den Bundeskanzler gefragt, was die Regierung unternommen hat, um die Laufzeitverlängerung und die Wiederinbetriebnahme der Kernkraftwerke zeitnah zu erreichen, um damit für bezahlbare Energie zu sorgen. Die lapidare Antwort von Olaf Scholz war, dass die Kernkraftwerke nicht weiterlaufen werden. Am 7. Juli haben Sie alle hier ausnahmslos – im Übrigen auch Sie von der Union – den AfD-Antrag, die Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen, in einer namentlichen Abstimmung abgelehnt. ({2}) Seit Monaten fordern wir, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. Zwar haben Sie jetzt so lange gewartet, bis Staatsterroristen die Pipeline gesprengt haben; aber eine Leitung ist noch funktionsfähig und könnte sofort in Betrieb genommen werden. Zudem fordern wir seit Monaten die Nutzung unserer eigenen Gasvorkommen, die für die nächsten 40 Jahre russisches Gas komplett ersetzen können. ({3}) Außerdem: die Energiesteuer zu senken, die CO2-Steuer abzuschaffen und die Mehrwertsteuer für Energie auf null zu setzen. Aber das haben Sie alles abgelehnt und haben dann angefangen, uns Märchen von LNG-Terminals, Zehntausenden von Windindustrieanlagen und Wasserstoffpipelines aus Afrika zu erzählen, die uns durch diesen und den nächsten Winter bringen sollen; Sie haben die Geschichten gerade fortgesetzt. Wie sollen diese Märchengeschichten denn ganz konkret jetzt dafür sorgen, dass die Menschen über den Winter kommen? Nachdem Sie nun acht Monate verschlafen haben, ({4}) fangen Sie jetzt – am Anfang der Heizperiode – an, darüber nachzudenken, was man tun könnte, um den Menschen nach dem Winter vielleicht, möglicherweise helfen zu können, ({5}) also dann, also genau dann, wenn viele kleine und mittlere Unternehmen bereits pleite sind und Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet wurden. Nachdem diese Regierung also total versagt hat, muss jetzt jede Möglichkeit genutzt werden, um die Menschen und die Unternehmen über den Winter zu bringen. Deshalb fordern auch wir einen Gas- und Strompreisdeckel, jedoch nur als akute, zeitlich begrenzte Notbrücke, um Gas und Strom wieder bezahlbar zu machen. Die Menschen und die Unternehmen brauchen nämlich keine Märchengeschichten, sondern jetzt, hier und sofort massive Entlastungen. ({6}) Denn über den Winter kommt niemand mit einem Wumms, Doppel-Wumms, Unterhaken und sonstigen inhaltsleeren Durchhalteparolen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat Michael Kruse das Wort. ({0})

Michael Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005117, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Nach-AfD-Redeslot ist irgendwie Fluch und Segen zugleich. In gewisser Weise kann man hier immer alles das, was der Rest des Hauses über Ihre Reden denkt, unmittelbar formulieren. ({0}) Das entspannt einen persönlich sehr und gibt einem eine große innere Freiheit. Tatsächlich entfernt es einen aber ein bisschen davon, das zu sagen, was wir alles Gutes machen. ({1}) Ich habe mich für heute mal entschlossen, genau darauf einzugehen. ({2}) Denn nicht mal meine fünfminütige Redezeit wird ausreichen, Ihnen zu erklären, was wir alles schon unternommen haben und in den nächsten Wochen noch unternehmen werden, ({3}) um dieses Land aus der Abhängigkeit zu führen, die wir im Energiebereich von Russland haben. Es gibt noch eine große Gemeinsamkeit, die die Fraktionen in der Mitte dieses Hauses vereint, nämlich dass wir aus der großen Abhängigkeit von einem Staat, der Energie als Waffe gegen uns in Westeuropa einsetzt, raus wollen. Das wollen Sie am rechten Rand ja gar nicht. ({4}) Sie wollen uns weiter in diese Abhängigkeit hereinführen. Der Anschluss von Nord Stream 2, wie Sie ihn gerade gefordert haben, ist der beste Beleg dafür. Sie machen die Augen zu vor einem brutalen Angriffskrieg und wollen noch größere Abhängigkeiten von Russland. ({5}) Die Tatsache, dass Sie jetzt hier so rumschreien, zeigt: Ich habe recht. ({6}) Das ist eben der Unterschied zu der sehr verantwortungsvollen Mehrheit hier im Hause, sei sie gerade in der Regierung oder in der Opposition. ({7}) Wir sorgen für Energieunabhängigkeit von Russland. Wir sorgen dafür, dass wir unsere Geschicke wieder in die eigenen Hände nehmen können. ({8}) Und ja, mittelfristig ist der Ausbau der Erneuerbaren, der Freiheitsenergien, der beste Weg, um genau das zu erreichen. ({9}) Jeder hätte das eigentlich erkennen müssen. Jeder könnte erkennen, dass das jetzt der richtige Weg ist. Nun gab es auch noch den Anwurf: Damit kommen wir nicht durch den nächsten Winter. – Nein, das stimmt. ({10}) Deswegen haben gerade die Energiepolitikerinnen und ‑politiker, die hier im Raum vertreten sind, bis hierhin mehr Gesetze verhandelt, als das, glaube ich, jemals in diesem Bereich in dieser Geschwindigkeit stattgefunden hat. ({11}) Und nein, es bringt uns nicht durch den nächsten Winter, dass wir in zwei bis fünf Jahren noch ganz andere Ausbauziele bei den Erneuerbaren erreicht haben wollen. Aber es bringt uns durch den Winter, dass – Stand heute – der Füllstand der deutschen Gasspeicher bei 95 Prozent liegt. ({12}) Einen solch hohen Füllstand haben die Russen im letzten Jahr verhindert, weil die Besitzverhältnisse noch anders waren. Wir haben das geändert, indem wir im März dieses Jahres Gesetze gemacht haben, die uns durch den nächsten Winter bringen. ({13}) Da waren Sie wie üblich nur mit Pöbeln beschäftigt, sehr geehrte Damen und Herren von der Rechten. ({14}) Wir verändern unsere Importquellen, und das in Rekordgeschwindigkeit. Ja, warum haben wir denn neuerdings LNG-Import-Terminals? ({15}) Warum sind wir denn an den FSRUs dran? ({16}) Warum ist die Geschwindigkeit beim Infrastrukturausbau in diesem Land so viel höher als in den letzten Jahrzehnten? Weil die Ampel dafür gesorgt hat, weil wir verantwortungsvoll für dieses Land handeln und weil wir den Menschen eine klare Perspektive dafür geben, wie wir durch die nächsten beiden Winter kommen, ({17}) damit dieses Land nicht in die größte Rezession seiner Geschichte gerät, sondern damit dieses Land Zuversicht erhält. ({18}) An dieser Zuversicht kann jeder hier im Haus mitarbeiten. ({19}) Und, ehrlich gesagt, ich erwarte es auch von jedem in diesem Haus, dass er daran mitarbeitet; ({20}) denn die Menschen in diesem Land interessieren sich überhaupt nicht dafür, ob nun diese Partei oder jene Partei gerade mal was vorgeschlagen hat. ({21}) Die Menschen wollen, dass wir ihre Probleme lösen und dass wir dafür sorgen, dass genügend Energie in den nächsten Monaten und vor allem in den nächsten beiden Wintern zur Verfügung steht. Eine ganze Menge haben wir gemacht. Wir bringen wieder Kohlekraftwerke ans Netz, obwohl das keiner in der Koalition vor dem Angriffskrieg gewollt hat. ({22}) Wir sehen, was notwendig ist. Ein Thema, das im Moment noch in der Diskussion ist, ist, wie viel wir bei der Kernenergie tun. Sie wissen: Wir als Freie Demokraten sprechen uns dafür aus, dass wir hier mehr Kapazitäten ans Netz nehmen. ({23}) Ich habe in der Zeitung gelesen, es gebe einen Streit darüber. ({24}) Ich kann nur davor warnen, jede inhaltliche Diskussion, die mit unterschiedlichen Zielen, aber in der Sache vernünftig geführt wird, als Streit zu deklarieren. ({25}) Wir Freie Demokraten werben dafür, dass wir mehr Kapazität ans Netz bringen, als das aktuellste Szenario im Stresstest beschreibt. Warum? Weil sich der Stresstest in den letzten Wochen bereits überholt hat ({26}) und wir nicht in eine Lage kommen wollen, in der wir sagen müssen: Es ist noch schlechter gekommen, als wir uns das haben vorstellen können. – Wir würden lieber in einer Lage sein, in der wir hinterher sagen können: Wir hätten es nicht unbedingt machen müssen. – Aber das werden wir erst hinterher erfahren. Wir sorgen mit Sicherheit, Planbarkeit und Verlässlichkeit dafür, dass die Menschen in diesem Land Hoffnung und Zuversicht bekommen, meine Damen und Herren. ({27}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({28})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke spricht Amira Mohamed Ali. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Millionen Menschen können sich ihre Energierechnung nicht mehr leisten. Wer Ersparnisse hat, muss sie aufbrauchen; wer keine hat, kommt in größte Schwierigkeiten. Die Schlangen bei den Tafeln werden immer länger. Immer mehr Menschen sind betroffen, die niemals erwartet hätten, in so eine Lage zu kommen. Immer mehr Menschen sind überschuldet. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist im Vergleich zum Vorjahr um 34 Prozent gestiegen. ({0}) In dieser großen Krise braucht es endlich klare und entschlossene Maßnahmen. Es muss Schluss sein mit dem Teuerwahnsinn. Deckeln Sie Strom- und Gaspreise jetzt, Kolleginnen und Kollegen! ({1}) Außerdem ist es zwingend notwendig, die allergrößten sozialen Härten nicht nur ein kleines bisschen abzumildern; sie müssen ausgeschlossen werden. Darum muss es sofort verboten werden, dass Menschen, die in Zahlungsschwierigkeiten sind, Strom oder Gas in ihrer Wohnung abgeschaltet werden darf. Schluss mit Strom- und Gassperren! ({2}) Keiner behauptet, dass das die alleinige Lösung ist – natürlich nicht. Aber es ist eben ein wichtiger Baustein. Was macht die Bundesregierung? Sie will eine Gaspreisbremse für Verbraucher und für Handwerksbetriebe ab März. Was ist das denn? Eine Preisbremse am Ende der Heizperiode? Wirklich? ({3}) Damit die Rechnungen über den Winter noch ungestört ins Unermessliche weitersteigen können? Sie schauen einfach zu, wie immer größere Teile der Bevölkerung verarmen. Sie schauen einfach zu, dass Handwerksbetriebe reihenweise werden aufgeben müssen. Das ist die Wahrheit. Aber das geht so nicht, Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dann wollen Sie den Preis deckeln, und zwar bei 12 Cent pro Kilowattstunde. Das ist das Doppelte des Vorjahrespreises. Für viele ist das immer noch viel zu viel. Welche Antwort haben Sie für all diese Menschen? Ach ja, Sie übernehmen die Abschlagszahlungen für Gaskunden für einen Monat. Donnerwetter! Sie müssten doch selber merken, dass diese spärliche Einmalzahlung hinten und vorne nicht ausreicht. In anderen Ländern gibt es längst einen Preisdeckel – in Frankreich zum Beispiel seit Oktober 2021, lange vor Putins Krieg. So viel dazu, dass es angeblich nicht möglich sein soll, die Preise auf Vorkriegsniveau zu bringen, Herr Habeck. Doch, es geht. Und genau das brauchen wir auch hier. ({5}) Ihre Preisbremse ist zu spät und zu schlecht. Wo ist eigentlich der Preisdeckel für Heizöl? Wo ist der Preisdeckel für Strom – den haben Sie doch angekündigt –, wo ist er denn? Wissen Sie, bevor ich in den Bundestag gekommen bin, war ich zehn Jahre lang als Juristin in der freien Wirtschaft angestellt. Ich kann Ihnen sagen: Für so schlechte Arbeit würde man überall sonst entlassen, und zwar zu Recht. ({6}) Vor der Landtagswahl in Niedersachsen noch große Töne spucken, und einen Tag danach kommen Sie mit dieser Luftnummer um die Ecke. Von wegen Doppel-Wumms! Ihr Doppel-Wumms ist ein Rohrkrepierer. Das grenzt an Wählertäuschung. Das ist die Wahrheit, und auch das geht so nicht. ({7}) Dass Sie immer noch nicht verstanden haben, wie ernst die Lage ist, hat man auch in den Reden zuvor gehört. Das merkt man eben daran, dass Sie immer noch zulassen, dass Verbrauchern, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, Strom und Gas zu Hause in der Wohnung abgeschaltet werden darf. Sie kennen die Zahlen: Bisher betraf das 1 Million Haushalte pro Jahr beim Strom, 270 000 beim Gas. In diesem Jahr – so melden viele Stadtwerke – wird mit Zahlungsausfällen von bis zu 15 Prozent gerechnet – 15 Prozent! Millionen Haushalte werden betroffen sein. In Millionen Wohnungen droht es bald sehr kalt und sehr dunkel zu werden, wenn Sie jetzt nicht handeln. Es gibt nur einen Weg: Stimmen Sie unserem Antrag zu, verbieten Sie Strom- und Gassperren! ({8}) Natürlich braucht es parallel dazu einen Schutzschirm für die Stadtwerke. Das ist doch keine Frage. Herr Habeck, was hält Sie davon ab? Spannen Sie diesen Schutzschirm doch endlich auf! Ja, wir brauchen diese Sofortmaßnahmen, um die Härten abzumildern, die jetzt bestehen. Aber – lassen Sie mich das zum Schluss sagen – es müssen auch die richtigen Lehren aus dieser Krise gezogen werden. Die Energieversorgung darf nicht länger den Kräften des freien Marktes ausgeliefert bleiben. ({9}) Wir sehen doch, wo das hinführt. Energieversorgung ist Daseinsvorsorge. Sie gehört in öffentliche Hand. Danke schön. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Bernhard Herrmann für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Bernhard Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005083, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiekrise zwingt uns als Gesellschaft mehr noch als sonst zum starken Zusammenhalt. Auch wir hier im Haus sind dabei in besonderer Verantwortung. Hohe Energiepreise sind eine gewaltige Herausforderung. Unternehmen sehen sich existenziell bedroht. Bürger/-innen wissen oft nicht, wie sie die hohen Zahlungen stemmen sollen. Wenn wir da nicht gegensteuern würden, dann drohte darüber auch der gesellschaftliche Zusammenhalt in Europa zu zerbrechen. Genau das aber wollen Putin und – so mein Eindruck – auch manche hier im Haus. Bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine begann die Verknappung russischen Gases. Der Angriff auf unsere Energieversorgung begann da bereits. ({0}) Die externe Gasmangellage ist die Ursache für hohe Preise. Frau Weiss – Sie gucken gerade weg –, das war schon im letzten Winter erkennbar. Schon im letzten Winter haben Stadtwerke das beklagt, auch wenn Frau Merkel sagte: Alles in Ordnung, Putin liefert ordentlich. – Die Gasspeicher waren leer. Man konnte und musste es sehen und frühzeitig handeln. ({1}) Aber wir werden uns der Herausforderung als Gesellschaft geschlossen stellen; wir werden eine Spaltung nicht zulassen. Noch mal: Wir, die wir Verantwortung in Bund, Ländern und Kommunen tragen, haben gemeinsam die Herausforderung, konstruktiv anzupacken. Dabei ist entschlossenes, schnelles, aber auch kluges, abgewogenes Handeln gefragt. ({2}) Die Ampelkoalition tut ihren Teil, um schnell und zugleich wirksam zu helfen und Lösungen zur Preissenkung voranzubringen. Mit der Strom- und Gaspreisbremse schützt der Bund Bürger/-innen und Unternehmen vor den hohen Energiepreisen. Das vor allem ist Grundlage dafür, dass es gar nicht erst zu Außenständen und Energiesperren kommen muss. ({3}) Und die Bundesregierung hat auch beschlossen, den Schutz vor Strom- und Gassperren zu erhöhen. Aber einfache Lösungen, ein Instrument, und alles ist gut – das wird nicht funktionieren. Insgesamt brauchen wir die Perspektive direkt Betroffener, von verschiedenen Akteuren. Hier ist mehrfach angesprochen worden: An der Scharnierstelle zwischen Bürger/-innen, Wirtschaft und Kommunen stehen in aller Regel – und das gerade auch in Ostdeutschland – regionale, kommunale Energieunternehmen. Der Austausch mit ihnen war und ist mir besonders wichtig. ({4}) Auch deren Belange fließen in unsere Entscheidung direkt ein, und ich bin froh, dass die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten letzte Woche mit dem Bundeskanzler ihre besondere Bedeutung betont und festgehalten haben, dass insbesondere Stadtwerken bei Bedarf zusätzliche Unterstützung zukommen soll, über die Energiepreisbremsen hinaus. ({5}) Das ist richtig; denn diese Unterstützung wird der besonderen, vernetzenden und damit stabilisierenden Rolle dieser zumeist öffentlichen Akteure gerecht. Letzten Endes – das gehört unbedingt zur Wahrheit – sind und bleiben die Möglichkeiten für finanzielle Entlastung durch den Bund und auch durch die Länder begrenzt. Darum müssen sich alle – Haushalte, Gewerbe, Handel und Industrie – überall, wo möglich, mit der Energie nachhaltiger aufstellen. Klug Energie einzusparen, gehört genauso dazu, wie Energie effizient und eigene Potenziale zur Erzeugung mit Solarenergie, auch mit dem Bürgerwindrad und dem Unternehmenswindrad, zu nutzen. ({6}) Immer mehr tun das auch, und das ist gut so. ({7}) Dass das den Vertretern der Energiekonzerne nicht gefällt, ist mir schon klar. Die Zukunft gehört den Erneuerbaren. Wir sehen schon heute, wie stark diese bei uns den Strompreis senken. Haben wir viel erneuerbare Energie aus Sonne und Wind im Netz, liegt der Großhandelspreis in Deutschland schon jetzt immer öfter deutlich unter den Preisen unserer Nachbarn. Ja, wir haben viel angeschoben, wie Ingrid Nestle gesagt hat. ({8}) Das Schöne an Sonnen- und Windenergie ist doch – und das gefällt Konzernvertretern natürlich nicht –, dass alle sie fast überall nutzen können und so alle auch an der Energiewende teilhaben können. ({9}) Kurz gesagt: Wenn wir das Angebot mit immer mehr Erneuerbaren erhöhen und gleichzeitig den Verbrauch senken, bekommen wir die Energiepreise wieder in den Griff. Bis dahin müssen wir diejenigen unter uns entlasten, die es wirklich dringend brauchen. So sieht Solidarität aus. Ja, und bei geringerer Nachfrage sinken auch die Preise gerade für die, die es wirklich dringend nötig haben und selber nicht mehr sparen können. Deswegen sind die Aufrufe zum Einsparen so immens wichtig. Wenn wir als Gesellschaft zusammenhalten, werden wir – und so erweist sich echte Nachhaltigkeit – die Energiekrise meistern und langfristig sogar gestärkt daraus hervorgehen. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anne König hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anne König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf den Tag genau vor einem Jahr veröffentlichte die Europäische Kommission einen Werkzeugkasten für die EU-Mitgliedstaaten. Das Ziel war, schnell Maßnahmen gegen die steigenden Energiepreise zu ergreifen. Die Kommission schlug zum Beispiel vor, den Steuersatz auf Strom, Gas, Kohle und feste Brennstoffe zu ermäßigen und gezielte Maßnahmen zur Unterstützung für energieintensive Betriebe zu ergreifen. Der Bedarf an solchen Unterstützungsmaßnahmen war ja bereits vor einem Jahr für jeden zu erkennen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Probleme dann noch mal drastisch verschärft. Wir können also festhalten: Bereits beim Regierungsantritt lagen der Ampel solide Bausteine für ein Unterstützungsprogramm vor – ganz frei Haus und ohne Einsetzung einer aufwendigen Expertenkommission. ({0}) Und was hat sie damit gemacht? Ganz lange erst mal gar nichts. ({1}) Die Frage lautet doch: Warum hat diese Regierung so viel Zeit gebraucht, um Maßnahmen zu ergreifen? Die Menschen erkennen hier aber inzwischen schon ein System: Zögern, Zaudern und Abwarten sind längst zur Arbeitsmethode dieser Regierung geworden. ({2}) Und das setzt sich bei Ihrem Doppel-Wumms fort. ({3}) Es spricht ja schon für sich, wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland seine Politik nur noch in der Comicsprache ausdrücken kann. ({4}) Aber nicht nur Ihre Sprache, sondern auch Ihre Inhalte haben etwas Unseriöses. Denn treffender müsste man nicht von Doppel-Wumms, sondern von Doppel-Wirrwarr sprechen. ({5}) Erstens: Wann und wie genau soll denn nun die Gaspreisbremse kommen? Trotz großer Ankündigungen ist immer noch völlig unklar, welche Handlungsempfehlungen der Expertenkommission die Ampel am Ende überhaupt umsetzen wird. Und zweitens. Weder der Bund noch die Länder wissen, wie all das finanziert werden soll. Es gibt keine Einigung, weder beim dritten Entlastungspaket noch bei den versprochenen 200 Milliarden Euro. Statt Antworten stehen bei Ihnen immer mehr Fragen im Raum. ({6}) Apropos langes Warten: Die Bundesnetzagentur hat bereits im Juni die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Als Reaktion darauf hat sich die Ampel dann für zwei Monate in die Sommerpause verabschiedet. Offenbar hielten Sie die Krise nicht für ernst genug, um eine Sondersitzung des Bundestages einzuberufen. Wir hätten im Sommer bereits wichtige Weichen für den kommenden Winter stellen können, beispielsweise die rechtzeitige Einführung einer Gaspreisbremse. Dann würde diese jetzt schon greifen. ({7}) Die Ampelregierung scheint sich über Monate hinweg in einer Parallelwelt aufgehalten zu haben, die nichts mit der Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Land zu tun hat. ({8}) Ihre Antwort auf steigende Gaspreise war monatelang eine zusätzliche Umlage, die das Gas noch teurer machen sollte. ({9}) Und Ihre Antwort auf eine Gasknappheit bei der Wärmeerzeugung ist nach wie vor, ab Januar noch mehr Gas zu verstromen, um damit drei Kernkraftwerke zu ersetzen. ({10}) Mit Vernunft und Planungssicherheit hat das alles längst nichts mehr zu tun. Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Das Wirrwarr der Ampelregierung in der schwersten Krise unserer Nachkriegsgeschichte haben die Menschen in diesem Land nicht verdient. ({11}) Im Interesse von Verbrauchern und Unternehmen müssen wir jetzt die Preissteigerung bremsen. Aus unserer Sicht geht das nur mit einer Erweiterung der Energieangebotsseite. Gleichzeitig wollen wir für wirksame Entlastung sorgen und trotzdem auch Sparanreize erhalten. Wir wollen einen Gaspreisdeckel setzen, der die Grundversorgung mit Gas wieder bezahlbar macht. Um gleichzeitig Energieeinsparungen weiter anzureizen, soll dieser auf einen Grundbedarf pro Haushalt und Person festgelegt werden. Im Übrigen befindet sich dieser Vorschlag auch in dem Werkzeugkasten der EU-Kommission, der – wir erinnern uns – der Ampel seit einem Jahr vorliegt. Der Gaspreisdeckel muss jetzt kommen, und nicht erst in sechs Monaten, wenn die Heizperiode langsam endet. Viele Menschen werden einfach gar nicht so lange durchhalten können, bis diese Regierung versucht, zu Ostern endlich den Weihnachtsmann zu spielen. ({12}) Ihre Politik baut letztlich vor allem auf dem Prinzip Hoffnung auf. Ihre Pflicht wäre es seit Monaten gewesen, zumindest eine verlässliche Faktengrundlage für Ihre Politik zu schaffen und transparent zu machen. Genau das ist auch Ihre Pflicht gegenüber dem Parlament. Das fängt auch schon bei der zentralen Frage an, wie viel Gas uns denn überhaupt zur Verfügung steht. Zwar haben wir in den letzten Wochen aus dem Wirtschaftsministerium ständig Selbstjubel über die Befüllung der Gasspeicher gehört. Aber tatsächlich können Sie doch nicht einmal annähernd angeben, wie viel Gas im Winter vorhanden sein wird; denn selbst das in Deutschland eingespeicherte Gas steht ja in Wahrheit gar nicht exklusiv für den Verbrauch in unserem Land zur Verfügung. ({13}) Aber ein paar Sätze möchte ich auch zum Antrag der Linken sagen. Der Vorschlag der Union für den Gaspreisdeckel ist das Gegenteil der von der Linksfraktion vorgeschlagenen Flatrate. Ihre Lösung verzichtet auf jegliche Sparanreize und würde dafür sorgen, dass Gas zum Fenster raus verheizt wird. ({14}) Unbestritten ist, dass auf die Mieter hohe Heizkostenzahlungen zukommen werden. Im Gegensatz zu den Linken fordern wir daher eine befristete Aussetzung der Strom- und Gassperren für den Winter. Ein generelles Verbot, wie es sich die Linken ausgedacht haben, würde hingegen zu neuen Ungerechtigkeiten führen. ({15}) Als Fazit können wir festhalten: Es ist gut, dass auch die Ampelmehrheit sich inzwischen Richtung Gaspreisbremse bewegt. Aber bitte handeln Sie auch hier dieses Mal zügiger und vor allen Dingen unbürokratischer! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Helmut Kleebank spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Helmut Kleebank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005105, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast alle Debatten des heutigen Tages stehen natürlich im Fokus der steigenden Preise, insbesondere der Energiepreise. Das ist nicht erstaunlich, und die Bürgerinnen und Bürger haben es verdient, dass wir uns mit der gebotenen Ernsthaftigkeit damit auseinandersetzen, so auch mit den beiden vorliegenden Anträgen. Ich will aber zwei Vorbemerkungen machen. Die eine geht an Herrn Bernhard von der AfD. Ich hoffe, dass er Herrn Kruse gut zugehört hat. Herr Kruse hat zwar gesagt, er reagiere nicht auf die Rede von Herrn Bernhard, hat aber dann dankenswerterweise doch darauf reagiert, indem er die lange Latte der Maßnahmen, die wir ergreifen, aufgezählt hat. Ich komme gleich auch noch mal darauf zurück. Wir haben in diesen acht Monaten hart gearbeitet: Die Ministerien haben hart gearbeitet, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben hart gearbeitet. Wir haben drei Pakete mit 95 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Das ist eine Riesennummer, Herr Bernhard. ({0}) Zweite Vorbemerkung. Die steigenden Preise sorgen natürlich für Verunsicherung. Auch davon war immer wieder die Rede, insbesondere bei der Debatte um das Bürgergeld. Ich glaube, wir alle haben die Verpflichtung, für möglichst viel Sicherheit zu sorgen, der Gesellschaft, den Menschen, den Familien und den Unternehmen Sicherheit zu geben. In dem Zusammenhang kann ich es überhaupt nicht verstehen, wie auf Ihrer Seite, auf der rechten Seite, bei der AfD und auch bei der Union, ein solcher Widerstand gegen das Zurückdrängen von Sanktionen beim Bürgergeld entstehen kann. Das ist ein Stück Sicherheit, die wir den Menschen geben, ({1}) indem wir ihnen die Angst vor Sanktionen nehmen wollen. Diese Sicherheit brauchen wir, meine Damen und Herren. ({2}) Wir lassen die Menschen in der Krise nicht allein. ({3}) Das ist auch der Grundgedanke bei den beiden Anträgen der Linken; das ist ja zu erkennen. Aus unserer Sicht haben Sie mindestens drei Schwächen mit an Bord, die ich kurz aufführen will. Das Erste ist schon erwähnt worden: Es ist keinerlei Prävention. Das heißt, es geht darum, zu erreichen, dass die Menschen gar nicht erst in eine Situation kommen, wo ihnen möglicherweise Strom- und Gassperren drohen. Wir müssen sie finanziell in die Lage versetzen, dass es gar nicht erst so weit kommt, und genau das machen wir. Das heißt, unser Ansatz ist die Prävention und nicht das Nachbessern. ({4}) Zweiter Punkt. Natürlich braucht es auch die Aktivität der Bürgerinnen und Bürger. Wir werden – das haben wir auch mehrfach hier gehört – gar nicht in der Lage sein, alle Anforderungen abzufedern. Wir dürfen nicht das Signal vermitteln: Alles geht weiter wie bisher. Es braucht die Eigenaktivität der Bürgerinnen und Bürger. Sie suggerieren mit Ihren beiden Anträgen: Macht so weiter, wir deckeln das, wir machen die Bremse, dann ist alles schick, und mehr müssen wir nicht tun. Das ist das falsche Signal; denn – dritter Punkt – wir brauchen die Einsparbemühungen unbedingt, und wir brauchen sie überall, meine Damen und Herren. ({5}) Wir brauchen sie in der Industrie. Wir brauchen sie in den Haushalten. Wir brauchen sie in den Familien. Wir brauchen sie im Handel, beim Gewerbe. Wir brauchen sie schlichtweg überall, wo es sozialverträglich möglich ist. Und dieses Signal fehlt bei Ihren Anträgen ganz eindeutig. Deswegen ist unser Ansatz, der Ansatz der Ampel, richtig, gezielt zu helfen. Ich verweise auf das Thema Wohngeldreform, das wir gerade diskutiert haben; da war das auch immer wieder Thema. Das kommt zum Heizkostenzuschuss I dazu; es ist sozusagen der Heizkostenzuschuss II. Das wurde hier auch schon erläutert. Aus meiner Sicht ist es genau der richtige Schritt. Vor allen Dingen erweitern wir den Kreis der Bezugsberechtigten. Das ist eine wichtige Botschaft ins Land. Wenn von Wohngeld die Rede ist, sagen mir immer wieder Menschen: Ich habe Wohngeld beantragt, kriege es aber leider nicht. – Ich sage: Das wird sich ab dem 1. Januar kommenden Jahres ändern. Viel mehr Menschen werden wohngeldberechtigt sein. Lassen Sie uns Mut machen, diese Mittel auch zu beantragen. Es ist kein Almosen, es ist das gute Recht, und es hilft bei der Frage der Energiekosten. ({6}) Zusätzlich kommt noch der Abwehrschirm. Es ist unstreitig, dass wir mit den Gas- und den Strompreisen umgehen müssen. Deswegen ist beides innerhalb des Abwehrschirmes auch verabredet. Aber auch hier kommt es auf die Details an. Die Vorschläge der Expertenkommission sind meines Erachtens komplett zielführend, weil sie nämlich den Einsparanreiz mit der Sicherheit für die Haushalte verbinden, in einem erträglichen Maß über den Winter zu kommen, die Dinge bezahlbar zu halten. Aus meiner Sicht ist klar, dass wir nicht auf das Preisniveau von vor der Krise zurückkommen können, nicht auf das Preisniveau, bevor Putin den Gashahn abgedreht hat; denn das ist ja letztlich der Grund. Von daher sind die Ansätze vollkommen richtig, und sie ersetzen das, was Sie mit Ihrem Ansatz, liebe Linkspartei, hier machen wollen. Wir sind auf dem richtigen Weg. ({7}) Letzte Bekräftigung und letzter Satz. Die Erneuerbaren sind die Lösung für preiswerte, bezahlbare und sichere Energien, zusammen mit Speicherkapazitäten. ({8}) Und genau das werden wir angehen. Danke schön. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Karsten Hilse für die AfD-Fraktion. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Wie immer, wenn Kommunisten ein von ihnen mitgeschaffenes Problem auf keinen Fall lösen, sondern nur seine Ursachen verschleiern wollen, dann verlangen sie, seine unmittelbaren Folgen zu verbieten. Das kostet Sie nichts, aber Sie können sich als eine Art Robin Hood aufspielen: den Reichen nehmen und den Armen geben. Das betreiben Sie dann so lange – jedenfalls wenn man Sie lässt –, bis die Substanz aufgebraucht oder der Kredit verzockt ist. So war es bei den auf Mikroniveau gehaltenen Mieten in der DDR, die nicht mal die nackten Instandhaltungskosten deckten, und so ist es jetzt wieder, wenn Sie verlangen, Strom- und Gassperren zu verbieten. ({0}) Immer – und darauf ist Verlass wie auf das Amen in der Kirche – verlangen Sie, selbst mitverschuldete Probleme zulasten Dritter zu lösen, besonders dann, wenn es gegen die verhassten Vermieter und andere Kapitalisten geht – dann besonders eifrig. Auch wir wollen billige Strom- und Gaspreise, die sich jeder leisten kann. Aber wenn der Dieb schreit: „Haltet den Dieb!“, so wie Sie jetzt, ({1}) dann ist es höchste Zeit, mal wieder einen Blick in die jüngste Vergangenheit zu werfen. Angespornt von der grün-kommunistischen Ideologie, haben insbesondere Sie, die Rechtsnachfolger der kommunistischen SED, immer wieder nicht nur gefordert, sondern auch immer begeistert zugestimmt, wenn es darum ging, das Energieangebot drastisch zu verknappen und zu verteuern: Subventionierung der sogenannten Erneuerbaren, deutscher Alleingang beim Atomausstieg, die wohlstandsvernichtenden Pariser Klimabeschlüsse, die unter anderem zum Kohleausstieg führten. All diese von Ihnen bejubelten Entscheidungen führten zwangsläufig zu der jetzigen Preisexplosion. ({2}) Sie sind also schuldig im Sinne der Anklage, die Sie hier vorbringen. Sie sind schuldig mit all Ihnen hier, die die dümmste Energiepolitik der Welt ausgeheckt oder mitgetragen haben. ({3}) Und nun wollen Sie nicht etwa die Ursachen der Preisexplosion bekämpfen; nein, Sie wollen wie immer nur deren Konsequenzen jemand anderem aufbürden. Jeder normal denkende Mensch, zu denen Sie leider nicht gehören, weiß: Allein die bewusst betriebene und von langer Hand geplante und jetzt eingetretene Energieverknappung ist das Problem. Wenn Sie nicht mit allen hier schon länger Herumsitzenden diese irrwitzige realitäts- und faktenferne Industriezerstörungspolitik betrieben hätten, bräuchte es jetzt weder Gasdeckel noch das Verbot von Sperren. Stattdessen müssen wir das Angebot schnellstens erhöhen: durch Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke und Wiederinbetriebnahme der bereits stillgelegten, durch Förderung der riesigen Schiefergasvorkommen unseres Landes, durch Reaktivierung der Braunkohlekraftwerke sowie Öffnung der noch intakten Nord-Stream-2-Pipeline, so wie es Präsident Putin gestern nochmals angeboten hat. ({4}) Handeln Sie endlich im Interesse des deutschen Volkes! Sonst werden Sie alle irgendwann das wohlverdiente Schicksal der FDP teilen und zugunsten der Alternative für Deutschland abgewählt werden. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Olaf in der Beek hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, das mit dem Fluch und Segen zugleich, was mein Kollege Michael Kruse vorhin sagte, ist bemerkenswert; aber sagen wir nichts dazu. Und täglich grüßt uns wieder das Murmeltier. Schon wieder öffnen Sie die Konserve, und wir dürfen uns hier im Plenum des Deutschen Bundestags mit Ihrem halbgaren und wenig kreativen Antrag zu Strom- und Gassperren auseinandersetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. ({0}) In der Tat sorgen sich viele, viele Menschen wegen der hohen Strom- und Gaspreise; aber im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir die Sorgen ernst und machen uns nicht mit so lahmen Ideen wie Sie einen schlanken Fuß. ({1}) Das System „einfache Lösungen für komplexe Probleme“ hat noch nie funktioniert, und es wird auch hier nicht funktionieren. Lassen Sie uns doch mal über den Kern des Problems reden: Die Preise im Stromsektor steigen vor allem, weil das Angebot stark zurückgegangen ist. Dass Sie als Linksfraktion von marktwirtschaftlichen Mechanismen wenig verstehen, wundert mich nicht. Aber jedem sollte klar sein, dass bei sinkendem Angebot, aber nicht ähnlich sinkender Nachfrage der Preis steigt. Doch statt wie Sie an den Symptomen herumzudoktern, müssen wir den Kern des Problems angehen, und da ist die Lösung vor allem: Angebot ausweiten, und zwar so schnell, wie es geht. ({2}) Wir brauchen jetzt so viel Energie wie möglich, um auch wirklich die Preise zu senken. Welche Ideen haben Sie dazu in Ihren Anträgen? Keine einzige. ({3}) Was Sie wollen, ist der Umgang mit Mangelwirtschaft, statt diese im Kern zu bekämpfen. Aber sei’s drum, das liegt wohl eher in der Tradition Ihrer Partei; denn mit Mangelwirtschaft haben Sie ja Erfahrung. ({4}) Den Menschen in Deutschland ist dabei früher wie heute nicht geholfen. Deswegen ist Ihr Antrag auch reinster Populismus; denn wer versucht, Krisen mit einfachen und primitiven Lösungen zu begegnen, der streut den Menschen Sand in die Augen. ({5}) Wenn wir die Knappheit und damit die Steigerung der Preise wirklich in den Griff bekommen wollen, dann brauchen wir neben einem steigenden Angebot weitere Instrumente. ({6}) Und die kommen ja! Es ist doch absoluter Blödsinn, dass wir die Menschen und Unternehmen alleinlassen würden. ({7}) Wir haben, wie der Kollege Kleebank gerade schon betont hat, Entlastungspakete mit insgesamt rund 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Damit ist den Menschen und Unternehmen ganz konkret geholfen. ({8}) Und dabei bleibt es ja nicht. Denn jetzt werden 200 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, die als Abwehrschirm die deutsche Wirtschaft und die Verbraucher entlasten werden. Und wir verteilen das Geld nicht mit der Gießkanne, sondern wir schaffen gezielte Entlastungen. Im Gegensatz zu Ihnen legen wir Wert darauf, dass dieses Geld sinnvoll eingesetzt wird und eine nachhaltige Gaspreisbremse kommen wird. Das geschieht durch die Gaspreiskommission, in der ausgewiesene Experten sitzen. Natürlich kann man wie Sie kurz vor Feierabend einen Antrag aus der Schublade holen, den man ja sowieso jede Wahlperiode bringt. Wir hingegen handeln da eher verantwortungsvoll. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns nicht nur in einer der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik; nein, es ist ein Energiekrieg, den Russland gegen die freie Welt führt. ({9}) Und deswegen werden wir es durch den Winter schaffen, ohne dass Unternehmen ihren Betrieb einstellen müssen oder Menschen zu Hause keinen Strom oder kein Gas mehr haben. Dafür stehen die Regierungsfraktionen in diesem Haus, und darauf können sich die Menschen in unserem Land verlassen. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bengt Bergt hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Bengt Bergt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005024, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Linke, Sie haben die ganze Zeit davon gesprochen, dass die Daseinsvorsorge im Mittelpunkt stehen muss. Das tut sie: PCK ist übereignet worden; Rehden ist gekauft worden; die LNG-Ports werden gebaut; Gas ist direkt gekauft worden. Das ist Daseinsvorsorge. Von der rechten Seite kam nur, der Staat habe nichts gemacht. Wir sind handlungsfähig geworden. Wir hatten vorher keinen Überblick darüber, was überhaupt am Gas- und Strommarkt los war. Heute ist der Gaspreis am Spotmarkt wieder auf unter 100 Euro gefallen. Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung, ein Erfolg der erfolgreichen Einkaufspolitik. Das bringt uns für diesen Winter auf die richtige Spur. ({0}) Natürlich soll niemand Sorge haben, dass es in der Wohnung kalt wird oder man im Dunkeln sitzt, auch dann nicht, wenn man mit dem Begleichen der Strom- und Gasrechnung nicht hinterherkommt. Bundeskanzler Scholz hat gesagt: Niemand wird zurückgelassen. – Schon gar nicht in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, meine Damen und Herren. ({1}) Deshalb ist es wichtig, dass wir Schutzplanken an verschiedenen Stellen aufbauen. Die erste Schutzplanke ist: Wir bauen die erneuerbaren Energien massiv aus – Strom aus Wind, Strom aus Sonne, Gas aus Biomasse. Schranken, die den Ausbau stören, bauen wir ab, zwar nach und nach, aber mit allerhöchster Geschwindigkeit. Alles, was an grüner Energie ins Netz kann, muss ins Netz. Das Netz muss vor allem erweitert werden. Darum beschleunigen wir den Ausbau in nie gekanntem Ausmaß. Dieser Ausbau und diese Beschleunigung, das ist soziale Politik. Das verstehen Sie nicht. Aber ich erklärte Ihnen gerne, warum: Zum einen bremsen wir den Klimawandel – das kommt unseren Kindern und Kindeskindern zugute –, damit Fluten und Brände im Sommer nicht zum Standard werden. Zum anderen schaffen wir Wertschöpfung und Arbeitsplätze hier in Deutschland. Von 2019 bis 2021 hat sich die Zahl der Beschäftigten im Bereich der Erneuerbaren um 30 000 erhöht, und das, obwohl der Bereich der Windenergie leidet und man dort Stellen abbaut. Aber gerade diese Diskrepanz zeigt, was da für eine Dynamik im Markt ist. Mit konkreten Ausschreibungskriterien für die Offshorewindkraft, ganz konkret für den Fachkräftenachwuchs, werden wir die Wertschöpfung in Deutschland weiter stärken. Das haben wir in das Gesetz hineingeschrieben, meine Damen und Herren; das ist eine Voraussetzung, um an den Ausschreibungen teilzunehmen. Und das schafft gut bezahlte Arbeit hier bei uns direkt vor Ort. ({2}) Ein weiterer Vorteil der Erneuerbaren: Durch deren Ausbau senken wir den Strom- und Gaspreis. Denn je mehr Wind, Sonne, Biogas im System ist, desto weniger Erdgas brauchen wir, und das heißt: günstige Preise für alle. Die zweite Schutzplanke ist: Jetzt, wo es hart auf hart kommt, spannen wir natürlich einen Schutzschirm auf. Wer kurzfristig trotz aller Unterstützung nicht in der Lage ist, die Rechnung für Strom und Heizung zu zahlen, soll sich nicht sorgen. Unser Ziel ist: Niemand soll seine Wohnung verlieren oder eine Gas- und Stromsperre fürchten müssen, weil es in der aktuellen Situation etwas eng wird. Wir werden hier die Anpassung vornehmen. Eins ist für uns dabei immer klar: Der Schutz der Mieter/-innen muss immer einhergehen mit einem ausreichenden Schutz von Vermietern, von Genossenschaften und Stadtwerken. Denn die meisten Vermieter sind Kleinvermieter, die ihre Wohnung als Altersvorsorge vermieten, und die Stadtwerke können am allerwenigsten dafür. Die dritte Schutzplanke ist: Damit es gar nicht erst dazu kommt, dass Strom- und Gasrechnungen nicht gezahlt werden können, müssen wir die Preisbremsen auf den Weg bringen. Es ist gut, dass die Ampel den Weg für die nötigen Mittel für eine Gaspreisbremse freigemacht hat. Damit schaffen wir Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Unternehmen. Besonders Gering- und Mittelverdiener treffen die hohen Preise hart. Eine Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung hat gezeigt, dass die Hälfte der Erwerbstätigen mit einem Haushaltseinkommen von unter 2 000 Euro netto schon jetzt genötigt sind, weniger Lebensmittel einzukaufen. Hungern, um zu heizen, darf es in einem reichen Land wie Deutschland nicht geben, meine Damen und Herren. ({3}) Die Preisbremsen für Strom und Gas bedeuten ein Durchatmen für die Bürgerinnen und Bürger, von denen sich viele fragen: Wie soll ich die hohen Kosten stemmen? – Wir verdoppeln das Wohngeld – das haben wir gerade im vorherigen Tagesordnungspunkt gehabt – und steigern die Zahl der Berechtigten von 600 000 auf 2 Millionen. Das ist ein riesengroßer Schritt. Aber die Senkung des Gaspreises hilft auch den Unternehmen; denn das bedeutet Planungssicherheit und eine Perspektive für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, den Erhalt unseres Wirtschaftsstandortes und damit Tausender Arbeitsplätze. Gerade die kleineren Unternehmen haben Direktverträge und finden kaum noch neue Lieferanten für Strom und Gas. Das trifft konkret die Mittelständler besonders in Schleswig-Holstein; denn dort arbeiten 94 von 100 Leuten in den kleinen und mittleren Unternehmen. – Das und die Wirtschaft insgesamt kommt übrigens in Ihrem Antrag gar nicht vor. Wir müssen sogar noch viel mehr tun, um unsere Wirtschaft zu unterstützen; denn die Wirtschaft bezahlt das Essen und Trinken der Menschen, die in den Wohnungen leben, die Sie jetzt schützen wollen. ({4}) Das wissen wir, und darum ist die Gaspreisbremse ein erstes Kernelement, nicht das letzte. Die Expertenkommission hat Anfang der Woche gute Vorschläge gemacht. Das ist aber ein Zwischenbericht, nicht die Forderung der Bundesregierung, wie Sie es hier dargestellt haben. Wir entwerfen jetzt im parlamentarischen Prozess die Lösung dazu. Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein starker Sozialstaat, in dem diskutiert und gerungen wird. Es wird aber nicht immer gleich gestritten. Es kommt im Endeffekt ein Schutzschirm heraus, der die Transformation unserer Wirtschaft schützt und die Folgen dieses Wirtschaftskrieges lindert, der gegen uns geführt wird. Wir finden die Lösung also nicht im Kampf oder per Befehl wie in anderen Ländern, –

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Bengt Bergt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005024, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– sondern im Dialog. Das passt nicht allen, aber es ist die beste aller Lösungen, und darauf können wir wirklich stolz sein. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Ottilie Klein redet jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ottilie Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Überall in unserem Land stellen die Menschen in diesen Tagen ihre Heizung an. Die meisten tun es mit Unbehagen, vielen offenen Fragen und Unsicherheiten. Deshalb ist es richtig, dass der vorliegende Antrag den Blick auch auf die soziale Dimension der Krise lenkt; denn die warme Wohnung droht immer mehr zur sozialen Frage zu werden. Eins ist aber auch klar – die Kollegin Weiss hat das schon ausgeführt –: Mit diesem unkonkreten Antrag, mit diesem Dreizeiler der Linken lassen sich die aktuellen Herausforderungen der Krise nicht lösen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage, in der wir uns befinden, ist dramatisch. „Ich habe Angst“ – das schreiben die Bürgerinnen und Bürger uns Abgeordneten in den letzten Wochen immer wieder. In solchen Momenten frage ich mich: Was antworten Sie, die Abgeordneten der Ampelfraktionen, eigentlich den Bürgern? You’ll never walk alone? – Ich hoffe, Ihnen fällt noch etwas Besseres ein; denn warme Worte heizen keine Wohnung. ({0}) Die Wahrheit ist: Viele Menschen fühlen sich von der Bundesregierung alleingelassen. Da sind die Rentnerinnen und Rentner, die bis vor Kurzem in den Entlastungspaketen einfach ausgespart wurden – ein Viertel unserer Bevölkerung, Menschen, die oft über wenig Ersparnisse verfügen oder sich nicht einfach so mal eben was dazuverdienen können. Deswegen sagen wir: Gut, dass die Ampelregierung jetzt auf unsere Kritik reagiert und auch Rentnern und Studierenden eine Energiepauschale gewähren will; schlecht, dass es so lange gedauert hat. ({1}) Da sind jene 30 Millionen Menschen, die das Pech haben, eine Gasheizung in ihrer Wohnung zu haben. Sie hätten mit der unsozialen Gasumlage fast einen Doppel-Wumms auf ihre Heizkostenrechnung bekommen. ({2}) Warum? – Weil der Ampelregierung nichts Besseres eingefallen ist, als die Rettung der Energieversorgung unseres Landes einseitig auf die Gaskunden abzuwälzen. Gut, dass Sie, Herr Habeck, unserem Appell buchstäblich in letzter Minute gefolgt sind und Ihre unsoziale Gasumlage gestoppt haben; schlecht, dass es so lange gedauert hat. ({3}) Da sind die kleinen Betriebe, die Handwerker, die nicht wissen, wie sie die Gehälter zahlen sollen, weil die Energiekosten schon jetzt nicht mehr zu stemmen sind. Bis heute ist unklar, wie die Ampelregierung Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Unternehmen erhalten möchte. Gut – das möchte ich an der Stelle auch sagen –, dass unser grüner Wirtschaftsminister wenigstens eingesehen hat, dass man nicht einfach folgenlos aufhören kann, zu produzieren; schlecht, dass es so lange gedauert hat; denn die Insolvenzen sind im Vergleich zum Vorjahr bereits um ein Drittel gestiegen. Da sind die Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Menschen im Niedriglohnsektor, die sich mit den Energiepreisen alleingelassen fühlen. Da sind die sozialen Einrichtungen, die gemeinnützigen Vereine, die Krankenhäuser, die nicht wissen, wie sie durch den Winter kommen. Deswegen ist es jetzt so wichtig, auch einen sozialen Hilfsfonds aufzusetzen, der explizit auch die sozialen Dienstleister miteinbezieht, damit nicht jene alleingelassen werden, die gerade in der Krise stark belastet sind. Auch das empfiehlt im Übrigen die Expertenkommission. ({4}) An dieser Stelle übrigens einen ganz herzlichen Dank an die 20‑köpfige Kommission, die innerhalb von 48 Stunden aufholen musste, was die Ampelfraktionen in einem halben Jahr hier an Energie verschwendet haben, während sie sich im Oppositionsmodus an 16 Jahren erfolgreicher unionsgeführter Regierungsarbeit abkämpften. ({5}) Wir als Union lassen die Menschen nicht allein. Unsere Lösungsvorschläge liegen seit mehreren Monaten auf dem Tisch – um nur einige zu nennen –: Bürgerbasispreis einführen, 1 000 Euro Soforthilfe für Haushalte im unteren Einkommensdrittel, ({6}) Hilfspakete für kleine und mittlere Unternehmen und natürlich – und vor allem – alle zur Verfügung stehenden Produktionskapazitäten nutzen, auch die Kernkraft. ({7}) Wir haben es heute schon von meiner Kollegin gehört: Bundeskanzler Olaf Scholz rühmt sich ja ganz gerne damit, auf Krisen vorbereitet zu sein und alles schon vorher gewusst zu haben. Erst vorgestern sagte er, dass sich das Kanzleramt angeblich seit Dezember letzten Jahres auf eine mögliche Energiekrise vorbereite. Trotzdem liegen jetzt, Mitte Oktober, immer noch keine vertrauensschaffenden, beschlussfähigen Lösungen vor. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern Sie deshalb auf, endlich aus der Beratung herauszufinden und Führung in der Krise zu beweisen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, dass die Bundesregierung jetzt handelt. ({8}) Das Beschwören von Fußballhymnen reicht jedenfalls nicht. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Hanna Steinmüller für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Mieterinnen und Mieter stehen gerade extrem unter Druck – das wissen wir –: steigende Energiepreise, steigende Lebensmittelpreise und, wenn es schlecht läuft und man einen Indexmietvertrag hat, auch noch stark steigende Mietkosten. Die Bundesregierung und wir als Parlament versuchen, Mieterinnen und Mieter in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. ({0}) Für uns ist klar: Niemand soll im Kalten oder im Dunkeln in seiner Wohnung sitzen oder die Wohnung im schlimmsten Fall verlieren. Zu den Strom- und Gaspreisen sind Minister Habeck und sein Haus und Steffi Lemke und ihr Haus bereits im Gespräch und arbeiten an einer Regelung. ({1}) Mindestens genauso wichtig ist es aber auch, zielgerichtet zu unterstützen, damit erst gar keine Energierückstände entstehen; auch darüber sollten wir sprechen. ({2}) Dafür haben wir ein breites Maßnahmenbündel für Mieterinnen und Mieter geschnürt. Wir werden eine Heizkostenkomponente beim Wohngeld einführen; darum ging es in der Debatte davor. Ab dem 1. Januar 2023 werden 2 Millionen Haushalte in Deutschland wohngeldberechtigt sein. ({3}) Liebe Bürgerinnen und Bürger, nutzen Sie diese Möglichkeit! Es gibt Onlinerechner. Prüfen Sie, ob auch Sie Unterstützung bekommen können, und nutzen Sie das! ({4}) Für alle Menschen, die jetzt schon Wohngeld bekommen, gibt es einen zweiten einmaligen Heizkostenzuschuss. Für Menschen, die Wohngeld bekommen und die BAföG-berechtigt sind, gibt es Ausbildungs- und Berufsbeihilfe. Für einen Einpersonenhaushalt sind das 415 Euro, bei zwei Personen kommen 540 Euro zusammen, und für jede weitere Person gibt es 100 Euro mehr. Wir werden einen Gaspreisdeckel und einen Strompreisdeckel einführen. Dazu gab es wirklich umfangreiche Debatten in den letzten Tagen. ({5}) Die Energiepauschale in Höhe von 300 Euro ist bereits ausgezahlt worden. ({6}) Das ist wichtig. Klar ist aber auch: Es ist kein Signal der Sorglosigkeit. Wir tun alles, um Härten abzufedern; aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass niemand was tun müsste. ({7}) Das Gebot der Stunde ist, dass jeder, der kann, Energie sparen sollte. ({8}) Was können Mieterinnen und Mieter, die ihre Energierechnungen nicht mehr zahlen können, jetzt tun? Die Verbraucherschutzzentralen bieten vor Ort Beratungen an. Auch die Bundesnetzagentur hat Informationen bereitgestellt. ({9}) Nutzen Sie das, und treten Sie im Zweifelsfall mit Ihrem Versorger in Kontakt! ({10}) Liebe Bürgerinnen und Bürger, es sind extrem herausfordernde Zeiten. Energiesparen ist das Gebot der Stunde. Die Regierung kann nicht alles kompensieren, aber sie kann besondere Härten vermeiden. Das tun wir mit verschiedenen Maßnahmen. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jan Dieren spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Jan Dieren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005041, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen in den demokratischen Fraktionen! ({0}) – Ja, da seid ihr nicht einbezogen. – Die Bundesnetzagentur berichtet, dass im Jahr 2021 knapp 235 000 Haushalten in Deutschland der Strom abgedreht wurde. Ein Vergleich: In den Städten meines Wahlkreises – Moers, Krefeld und Neukirchen-Vluyn – leben insgesamt weniger als 200 000 Haushalte. Das würde bedeuten, für alle Menschen in meinem Wahlkreis bliebe morgens das Licht aus, die Wohnung dunkel und kalt. Noch häufiger, als diese Sperren verhängt werden, werden sie aber angedroht, im Jahr 2021 über 4 Millionen Haushalten; das ist jeder zehnte Haushalt in Deutschland. Es ist selbstverständlich richtig, dafür zu sorgen, dass Menschen in diesem Winter nicht ohne Strom und Heizung dastehen, gerade jetzt, gerade in diesem Winter. Deshalb bin ich Ihnen dankbar, werte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, dass Sie die Problematik mit Ihrem Antrag hier auf die Tagesordnung setzen. Gleichzeitig ist die Sache ein bisschen verstrickter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn den Kundinnen und Kunden, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können, stehen die Unternehmen gegenüber, die ihre Rechnungen nicht bezahlt bekommen. Wenn die Energiepreise steigen und Rechnungen nicht bezahlt werden, laufen auch diese Unternehmen eventuell auf eine Zahlungsunfähigkeit zu. Uns hier stellt das vor ein politisches Dilemma, weil das auf die Alternative hinausläuft, dass entweder reihenweise Stadtwerke – und damit die Daseinsvorsorge – zusammenbrechen oder viele Menschen in Deutschland im Kalten und Dunkeln sitzen bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Strom- und Gaspreisbremse reagieren wir jetzt auf dieses Dilemma. Mit ihr wollen wir dafür sorgen, dass die Menschen in Deutschland einerseits ihre Rechnungen bezahlen können und andererseits Sperren in diesem Winter verhindert werden. ({1}) Jetzt äußern manche die Sorge, die Gaspreisbremse könnte unbeabsichtigt die Folge haben, den freien Markt einzuschränken, die freie Preisbildung am Markt zu beenden. Diese Sorge kann ich Ihnen nehmen. ({2}) Das wird keine unbeabsichtigte Folge sein. Das ist genau das, worum es uns geht. Es geht genau darum, in die freie Preisbildung am Markt einzugreifen; denn der freie Markt, die freie Preisbildung am Markt stellt uns immer und immer wieder vor dieses Dilemma: Entweder steigen die Preise so weit, dass die Menschen ihre Rechnung nicht bezahlen können, oder die Unternehmen, die wir so dringend brauchen, um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, brechen zusammen. ({3}) Auf dem einen oder anderen Weg kommen wir zum selben Ergebnis: Wir schaffen es nicht, unsere Grundbedürfnisse zu decken. Ein Markt aber, der nicht dafür sorgen kann, dass wir wenigstens unsere Grundbedürfnisse befriedigen können, ist ein Markt, der nicht funktioniert. Das muss nicht so sein. Es muss ja nicht so sein, dass Unternehmen mit der Versorgung von Grundbedürfnissen – Strom, Heizung, Wasser, Wohnen – Profit machen, während die Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, weil sie ihre Rechnung nicht mehr zahlen können. Und es sollte auch nicht so sein. Im Großen und Ganzen mag das ja noch so einigermaßen aufgehen. Aber zu welchen Problemen das immer und immer wieder führt, sehen wir in Krisen wie dieser. Und wir sehen das gerade am Beispiel der Strom- und Gassperren. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Gaspreisbremse, über die wir gerade diskutieren, so viel mehr als nur ein Instrument, das dafür sorgt, dass die Menschen ihre Rechnungen bezahlen können. Die Diskussion um die Gaspreisbremse markiert die Einsicht, dass wir nicht blind dem freien Spiel des Marktes vertrauen können, wenn es darum geht, unsere Grundbedürfnisse zu decken. Und sie markiert die Einsicht, dass wir genau dieses System ändern müssen, um dafür zu sorgen, dass Menschen in warmen Wohnungen sitzen, ({4}) mit ausreichend Strom und Gas versorgt sind und ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir gerade stehen. Gehen wir sie an. Vielen Dank. ({5})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte, meine Unachtsamkeit zu entschuldigen. – In dieser Woche ist ein Buch veröffentlicht worden von zwei Investigativjournalisten, Oliver Schröm und Oliver Hollenstein. Es heißt „Die Akte Scholz: Der Kanzler, das Geld und die Macht“. ({0}) So haben wir auch diese Aktuelle Stunde benannt, aber das ist nicht der eigentliche Anlass. Das ist vielleicht der letzte Anlass, um dieses Thema hier in diesem Hohen Hause zu diskutieren. Man könnte auch sagen: Gibt es nicht andere Themen? Aber ich glaube, es hängt schon sehr auch mit den aktuellen Anspannungen zusammen, dass die Frage an den wichtigsten Vertreter dieser Regierung gestellt und seine Glaubwürdigkeit und seine Integrität betreffend hier diskutiert werden muss und in dieses Haus gehört. ({1}) Der weiter reichende Anlass ist dann eben das Auftreten unseres heutigen Bundeskanzlers und früheren Hamburger Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz vor dem Untersuchungsausschuss in Hamburg, sein Schweigen, seine faktische Aussageverweigerung dort in der bis heute nicht geklärten Steuersache Warburg. ({2}) Der Auftritt – ich sage es so deutlich – der wandelnden Erinnerungslücke Olaf Scholz ist wirklich bemerkenswert. Er will sich an nichts erinnern, an keine Details im Zusammenhang mit der Steuersache Warburg. Gleichzeitig will er sich aber sehr präzise daran erinnern, dass er in dieser Sache keinerlei politischen Einfluss genommen hat – ein Widerspruch in sich! ({3}) Dabei sind die Indizien – und das sage ich sehr deutlich –, die mittlerweile auf dem Tisch liegen und durch dieses neu veröffentlichte Buch erhärtet werden, bemerkenswert. Hamburg war damals das einzige der 16 Bundesländer, ({4}) das die Cum-ex-Rückforderungen nicht gestellt hat, das die Gelder nicht zurückwollte. Alle anderen 15 Bundesländer haben die Gelder zurückgefordert. ({5}) Hamburg unter Olaf Scholz hat es nicht getan. Da stellt sich die Frage nach seiner politischen Verantwortung. ({6}) Wir haben in den letzten Monaten auch erfahren, dass dann im Hause des damaligen Finanzministers Olaf Scholz Unterlagen zusammengetragen werden sollten für den Untersuchungsausschuss in Hamburg und dabei engste Mitarbeiterinnen E‑Mails schrieben mit dem Inhalt: Es sei „mit Olaf zu diskutieren, wie wir die Termine … mit Kahrs, Pawelczyk und Tschentscher ‚einsortierenʼ“. Es ging also offensichtlich darum, dass Beweismittel für einen Untersuchungsausschuss einsortiert werden sollten – ein höchst bemerkenswerter und im Zweifel auch unzulässiger Vorgang. Kontakte zwischen Herrn Scholz und Herrn Kahrs sind aufzuklären. Wir haben erfahren, dass die zuständige Steuerbeamtin in Hamburg in internen, also ehrlichen Nachrichten von einem „teuflischen Plan“ gesprochen hat, der dort umgesetzt worden sei, indem man auf die Rückforderung der Millionen verzichtete. Das ist für sich allein schon ein bemerkenswerter und höchst aufklärungsbedürftiger Vorgang. ({7}) Zum Schluss will ich das noch mal ganz plastisch erklären. Herr Scholz verweist ja immer darauf: Ihr könnt mir das noch nicht bis ins Letzte nachweisen. – Aber de facto sind schon die äußeren Umstände aussagekräftig genug. Er sagt: Ich wollte mich nicht einmischen. – Dann führt man vielleicht mit den Beteiligten einmal ein Gespräch und erklärt Ihnen: Ich will, ich kann, ich darf mich nicht einmischen. – Alles in Ordnung! Was aber stattgefunden hat, war, dass er sich dreimal mit den Chefs der Warburg-Bank in seinem Amtszimmer, in seinem Büro, getroffen hat, um ihnen – ich weiß nicht, wie begriffsstutzig diese Bänker waren – angeblich dreimal jeweils eine Stunde lang zu erklären, dass er sich nicht einmischen will. Dem Chefbänker Olearius hat Olaf Scholz dann noch von sich aus hinterhertelefoniert, um ihm wahrscheinlich noch mal zu versichern – möglicherweise hatten es die Bänker nach diesen Gesprächen immer noch nicht verstanden –, dass er sich nicht einmischen will. Dann hat er den einen noch mal angerufen, um ihm noch mal zu versichern: Ich will mich nicht einmischen. ({8}) Und zur Erhärtung seiner Absicht hat er dann noch die Empfehlung ausgesprochen: Ich kenne noch jemand anderen, der sich nicht einmischen will, nämlich den Herrn Tschentscher, der hier Finanzsenator ist, ({9}) und weil ich so genau weiß, dass der sich auch nicht einmischen will, gebe ich euch den Tipp: Schickt mal eure Unterlagen an den Herrn Tschentscher, dann könnt ihr sicher sein, dass es keinerlei Einmischung gibt. Wir wissen genau, wie der Sachverhalt nach diesen Gesprächen ausgegangen ist: dass die Hamburger Behörde, die eigentlich die Gelder zurückfordern wollte, dann plötzlich gesagt hat: Wir machen das doch nicht. – Hier spricht jetzt also alles dafür – das ist unser Anliegen –, dass wir diesen Vorgang ganz intensiv weiter aufklären müssen. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern hat die Ampelkoalition in einer Aktuellen Stunde darüber gesprochen, wie wir die Gaspreisbremse jetzt implementieren, wie wir Menschen in dieser Situation schützen. Heute hat die CDU/CSU eine Aktuelle Stunde aufgesetzt, in der sie sich mit einem Buch beschäftigt, in dem alte Unterstellungen aufgewärmt werden. Deutlicher ist nicht zu zeigen, welche Prioritäten die einzelnen Fraktionen setzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Drei Anmerkungen zum Sachverhalt: Erstens. Cum-ex war immer kriminell, es war immer Betrug. Cum-ex-Geschäfte waren auch immer illegal. Es gab dort keine Gesetzeslücke. Olaf Scholz war zu der Zeit der Cum-ex-Betrügereien weder Hamburger Bürgermeister noch Bundesfinanzminister. Als Bundesfinanzminister hat er Gesetze zur Einziehung von Cum-ex-Geldern und zur präventiven Bekämpfung von Cum-ex-Betrügereien auf den Weg gebracht. Wir wollten auch eine nationale Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle auf den Weg bringen, um genau solche Betrügereien aufzudecken. Das hat damals die CDU/CSU verhindert. ({1}) Wir werden es als Ampelkoalition jetzt machen. ({2}) Mal schauen, ob Sie dann zustimmen oder es ablehnen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Zweitens. Es gab keine politische Einflussnahme auf ein Steuerverfahren in Hamburg. Vor der Hamburg-Wahl 2020 wurden diese Unterstellungen platziert. Als Olaf Scholz Kanzlerkandidat wurde, geschah dies erneut, jetzt auch wieder. Stets mussten Medienvertreter wie auch die Politik am Schluss einräumen: Da ist nichts. – Es ist nun seit zwei Jahren ein Untersuchungsausschuss in Hamburg eingerichtet. Die Akten wurden hin und her gewälzt, es wurden Zeugen vernommen. Vielleicht fragen Sie, Herr Middelberg, auch mal Ihre Hamburger Kollegen. Die Auskunft ist doch ganz einfach: Kein einziger Hinweis oder Beleg für eine politische Einflussnahme steht in den Akten ({4}) oder wurde jemals von einem Zeugen oder einer Zeugin zu Papier gegeben. Ich erinnere daran, ({5}) dass „Der Spiegel“ am 6. August 2021 berichtete: „Finanzbeamtin entlastet Olaf Scholz“. Am 4. März 2022 titelte ntv: „Staatsanwalt stützt Finanzamtsentscheidung zu Warburg Bank“. Ich zitiere weiter: Er sei mit der Entscheidung damals „absolut d’accord“ gewesen, sagte der Kölner Oberstaatsanwalt Alexander Fuchs … ({6}) Deutlicher kann gar nicht sein, dass bestätigt ist: Es gab eben keine Einflussnahme, sondern eine fachliche Entscheidung der Hamburger Finanzbehörde im engen Austausch mit der Staatsanwaltschaft Köln. Nehmen Sie das zur Kenntnis, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({7}) Drittens. Der letzte verbliebene Strohhalm für alle, die Olaf Scholz etwas anhängen wollen, ist nun ein Protokoll des Finanzausschusses vom Juli 2020, in dem es vermeintlich Widersprüche bei den Aussagen zu den Treffen mit der Warburg-Bank gibt. Wegen des hohen Guts des Steuergeheimnisses ist sowohl die Sitzung wie auch das Protokoll von der damaligen Ausschussvorsitzenden als Geheim eingestuft worden. Passagen sind dort geschwärzt. Um eins klarzumachen: Die SPD will die Entstufung, die Freigabe. ({8}) Sie will die Entschwärzung dieses Protokolls. Wir wollen Transparenz, Offenheit und Klarheit, meine sehr geehrten Damen und Herren. Der zuständige Ausschussvorsitzende, der jetzt dafür verantwortlich ist, zu entstufen und zu entschwärzen, wurde am 1. September vom Finanzausschuss beauftragt, ({9}) bis Ende September einen Vorschlag für die Entstufung vorzulegen. ({10}) Das ist bis heute nicht erfolgt, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({11}) Im „Spiegel“ vom 1. Oktober stand, die Warburg-Bank wolle nun auch den Bundestag vom Steuergeheimnis entbinden, ({12}) was dazu führen würde, dass wir entschwärzen und entstufen können. Wir haben als Ampelkoalition noch einmal den Ausschussvorsitzenden angeschrieben und gefragt: Ist nun etwas gemacht worden, damit wir bei der Entschwärzung und Entstufung weiterkommen? – Nein, das ist nicht passiert; es wurde bisher kein Kontakt aufgenommen. Übrigens, der Ausschussvorsitzende gehört der CDU/CSU-Fraktion an, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({13}) Wir gehen davon aus, dass der Ausschussvorsitzende zeitnah ein entschwärztes und entstuftes Protokoll vorbereitet. ({14}) Dann können wir uns in zukünftigen Aktuellen Stunden auf Verlangen der CDU/CSU nicht mehr mit Unterstellungen und Nebelkerzen beschäftigen, sondern mit den Sorgen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. ({15})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler spricht von „haltlosen Schauermärchen“. Im Kern geht es bei dem Cum-ex-Skandal um den wahrscheinlich größten Steuerbetrug der Geschichte. Dabei ist mindestens ein hoher zweistelliger Milliardenbetrag in Deutschland hinterzogen worden. Auch die Commerzbank, die WestLB, die HSH Nordbank, die Deutsche Post, die KfW, Volkswagen und andere Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung stehen im Verdacht, sich daran beteiligt zu haben. Die Staatsanwaltschaft in Köln ermittelt mit 19 Staatsanwaltsteams gegen rund 1 000 Verdächtige. Der Schwerpunkt der betrügerischen Manipulationen lag in den Jahren 2009 bis 2011. Es geht um Manipulationen bei sogenannten Cum-ex-Geschäften. Was ist das? Bei Dividendenzahlungen wird automatisch die Kapitalertragsteuer einbehalten. Bestimmte Empfänger von Dividenden sind von dieser Steuer freigestellt und können sich deshalb den Steuerbetrag vom Finanzamt zurückholen. Diese Möglichkeit der Steuererstattung wurde mit hoher Raffinesse missbraucht und damit der Fiskus betrogen. Das Bankhaus Warburg in Hamburg war zwischen 2007 und 2011 auf diesem Geschäftsfeld sehr aktiv. Es hat sich 169 Millionen Euro „erschlichen“, wie ein Wirtschaftsprüfer formuliert. Davon sei ein großer Teil der Steuerforderungen inzwischen verjährt. Im Jahr 2016 drohte ein weiterer Betrag von 47 Millionen Euro zu verjähren. Die mysteriösen Umstände dabei haben mit der Person des damaligen Ersten Bürgermeisters, nachmaligen Bundesfinanzministers und heutigen Kanzlers zu tun. Urplötzlich beginnt eine Betriebsprüferin des zuständigen Finanzamtes, die Rückforderung zu überdenken, schreibt der Buchautor Huld, der sich jahrelang mit der Causa Scholz beschäftigt. Sie kontaktiert den Anteilseigner der Bank, Olearius, und dieser bezieht Alfons Pawelczyk, den früheren Zweiten Bürgermeister, wegen seiner Kontakte zu Scholz ein. Beide sind Mitglieder der feinen Gesellschaft der Hansestadt. Parallel hierzu wird der Bundeshaushaltspolitiker Kahrs als Lobbyist in Berlin mandatiert. Das ist der mit den roten Wollsocken, der im Deutschen Bundestag unablässig die AfD mit Invektiven attackierte. Man könnte auch sagen, um im Milieu zu bleiben: mit Schmutz und Schund bewarf. In dessen Schließfach fanden sich später 200 000 Euro von bis heute ungeklärter Herkunft. Da wir fest an die Unabhängigkeit der Hamburger Justiz glauben, wird der Vorgang sicher zügig aufgeklärt. Es wurde in dieser Zeit auch eine Parteispende an die SPD von ebendieser betroffenen Bank in Höhe von 45 000 Euro getätigt. Im Jahr 2017 wurde einem leitenden Beamten des Bundesfinanzministeriums die noch nicht verjährte Steuerforderung gegen die Warburg Bank in Höhe von 47 Millionen Euro bekannt. Deshalb insistierte dieser Mitarbeiter darauf, dass die Hamburger Behörde die Verjährung mit einem förmlichen Erlass verhindern müsse; ein relativ ungewöhnlicher Vorgang. Erkenntnisse hierüber ergaben sich durch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Köln. In Hamburg wurde strafrechtlich überhaupt nicht ermittelt. In Köln tauchten Tagebücher von Olearius auf, in denen von Treffen mit Scholz und den Aktivitäten von Kahrs und Pawelczyk die Rede ist. Zwei Gespräche von Scholz mit Olearius erfolgten in den Büroräumen des Ersten Bürgermeisters – ohne Zeugen und ohne Niederschlag in den Akten. Dies war deshalb prickelnd, weil der Finanzminister zuvor jegliche persönliche Treffen mit Olearius bestritten hat. Ich selbst war Zeuge eines solchen Dementis im Finanzausschuss. Der tüchtige Beamte, der Schaden vom Land abwenden wollte, wurde nach der Amtsübernahme von Scholz in Berlin überraschend frühpensioniert und die Steuerforderung in Höhe von 47 Millionen Euro fiel in die Verjährung. Das ist also kein haltloses Schauermärchen, sondern beschreibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lage der Nation. Genauso verhält es sich mit der inneren Sicherheit, mit dem Schutz vor Massenzuwanderung, der daraus resultierenden Lage am Wohnungsmarkt, den Staatsfinanzen, dem Bildungssystem, der Energieversorgung, dem Beutesystem im öffentlichen Dienst entgegen dem Leistungsprinzip nach Artikel 33 Grundgesetz, insbesondere auch in der Justiz, und mit der notleidenden Meinungsfreiheit. Die Anerkennung für diesen Staat und die Demokratie insgesamt, meine Damen und Herren, schwindet seit Jahren messbar – dazu gibt es unendlich viele Meinungsumfragen –, nicht weil die Bürger schlechte Demokraten sind, sondern weil die politische Klasse ihre Aufgabe nicht erfüllt. ({0}) Dieser Staat wird nicht von Bösewichten delegitimiert – mein letzter Satz –, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Glaser, kommen Sie bitte zum Schluss.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– wie die Innenministerin behauptet. Nein, er delegitimiert sich selbst durch Organversagen und dem bewusst herbeigeführten Verzicht auf die kulturelle Identität in diesem Land, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Glaser. – Sie haben jetzt noch Gelegenheit, Ihre Stimme bei der namentlichen Abstimmung abzugeben. Herr Kollege Glaser? ({0}) Da Sie der Letzte sind, lassen wir Ihre Stimmabgabe momentan noch zu, aber ich würde Sie bitten, diese ein bisschen zu beschleunigen; denn die Urnen müssen geschlossen werden. Die Zeit können wir durch einen Antrag der AfD-Fraktion überbrücken. Herr Kollege Brandner hat einen Wunsch.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe keinen direkten Wunsch, ich habe einen Antrag zur Geschäftsordnung, und zwar nach § 42 der Geschäftsordnung. Wir führen auf Antrag der Fraktion der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde zu einem richtig wichtigen Thema durch. Die ersten drei Redner haben gesprochen. Wir haben den Eindruck, als wenn hier einiges aufzuarbeiten wäre, was möglicherweise auch dazu führen könnte, dass Bundeskanzler Scholz wieder Erinnerungslücken auffüllen kann. Deshalb beantrage ich für die AfD-Fraktion die Herbeirufung des Bundeskanzlers zu dieser Debatte. ({0})

Sascha Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005162, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Er gehört sicher zu den größten Fällen von Steuerskandalen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: der Steuerraub, der mit den Schlagworten Cum-ex und Cum-cum bekannt wurde. Vermutlich geht es allein im Fall Cum-ex um über 10 Milliarden Euro. Der Gesamtschaden für die öffentliche Hand kann bis heute nur geschätzt werden. Es handelt sich also direkt um einen Griff in die Kasse der Steuerzahler/-innen. Eine Reihe von Menschen hat Mut und Hartnäckigkeit bewiesen, damit dieser Fall am Ende aufgeklärt werden konnte. Ihnen gilt unser besonderer Dank. Ich möchte in meiner Rede die Zeit nutzen, einigen zu danken. Da wären zuallererst die Whistleblower, die trotz des Risikos beruflicher Nachteile die Behörden und die Öffentlichkeit mit Informationen versorgt haben und die so vieles in Gang gesetzt haben, was ansonsten vermutlich unter der Decke geblieben wäre. Sie konnten zeigen, wie umfassend das Problem Steuerraub ist und welche Lücken gestopft werden müssen. Genau deshalb arbeitet diese Koalition auch an einem Gesetz zum besseren Schutz von Whistleblowern. Es wurde Zeit. ({0}) Es waren weiterhin die Betriebsprüferinnen und ‑prüfer in der Finanzverwaltung, die bei diesen kapitalertragsteuergetriebenen Geschäften drangeblieben sind, sich in die komplizierte Materie reingefuchst haben und am Ende nach jahrelanger Kleinstarbeit genug Material zusammengestellt haben, um die Anschuldigungen gerichtsfest machen zu können. In einigen Fällen benötigte es sage und schreibe sieben Jahre Betriebsprüfung, bis ein Strafverfahren eröffnet werden und so der Plünderung der Staatskasse Einhalt geboten werden konnte. Danke, dass Sie drangeblieben sind. ({1}) Ein großer Dank gilt auch den Parlamentariern, die sich in diesem Haus in einem Untersuchungsausschuss intensiv um die Aufklärung der Vorgänge gekümmert haben. Für uns Grüne möchte ich besonders unseren ehemaligen Kollegen Dr. Gerhard Schick nennen, der heute an anderer Stelle wichtige Arbeit für ein transparentes Finanzsystem und einen großen Einsatz gegen Steuerbetrug leistet. Danke auch an den Untersuchungsausschuss in der Hamburger Bürgerschaft, der sich ohne Rücksicht auf Personen ebenfalls intensiv um Aufklärung bemüht. Ein großes Dankeschön geht an Correctiv ({2}) und, ja, natürlich auch an Oliver Schröm. Es ist für mich – ich war selbst sehr lange journalistisch tätig – schwer erträglich, dass gegen Herrn Schröm wegen seiner damaligen Recherche juristisch vorgegangen wurde. Eine weitere juristische Strafverfolgung ist – ich muss ja fast sagen: glücklicherweise – im Sand verlaufen, als Jahre später Ermittlungen gegen die Redakteurinnen und Redakteure der „Financial Times“ aufgenommen wurden, die im Fall Wirecard Ungereimtheiten aufdeckten. Um es klar zu sagen: Eine aufmerksame, mitunter unbequeme und kritische Berichterstattung ist für eine funktionierende Demokratie sehr wichtig, etwa bei der mühsamen Aufarbeitung von Cum-ex, auch wenn zuweilen, wie in einem gerade zitierten, neu erschienenen Buch, Bilder von uns Politikerinnen und Politikern gezeichnet werden, die wir nicht teilen müssen, aber die wir aushalten müssen. Ich bin mir sicher: Die Beteiligten bzw. der Beteiligte wird das aushalten. Wir als Ampelkoalition haben ein gemeinsames Interesse. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung aller noch offenen Fragen, und wir unterstützen das. Kollege Schrodi hat schon darauf hingewiesen: Gerade treiben wir, auch wir als Ampelfraktionen, im Finanzausschuss gemeinsam voran, dass ein Protokoll aus dem Finanzausschuss vom Ende der letzten Legislaturperiode entstuft wird. ({3}) Wir wollen das, und wir wirken auch gemeinsam darauf hin. ({4}) Es geht unter anderem auch um die Warburg Bank. Ich möchte einmal kurz in Erinnerung rufen: Die Warburg Gruppe betrieb Cum-ex-Deals in Eigenhandel. Sie ließ sich so Steuern erstatten. Schließlich erklärte der Bundesgerichtshof im Juli letzten Jahres, dass die Warburg Bank dem Bund 176 Millionen Euro für Cum-ex-Geschäfte zurückzahlen muss. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solcher Fall darf sich in Deutschland nie wieder ereignen. Cum-ex-Geschäfte sind in Deutschland strafbar. Steuerraub kann gestoppt werden, und er wird gestoppt werden. Es geht schließlich um das Geld der Menschen hier; es geht um unser Gemeinwohl. Wir brauchen dazu Schutz für Whistleblower, bestmöglich ausgestattete Finanzverwaltungen und Ermittlungsbehörden und natürlich auch gute Gesetze, damit die Behörden ihrer Arbeit nachgehen können. Es geht um das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christian Görke, Fraktion Die Linke.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich habe mich als Erstes gefragt, welche Rechte denn die Union an dem Buch hat. Also, eine bessere PR-Veranstaltung zwei Tage nach Erscheinen dieses Buches kann man im Grunde genommen gar nicht haben. ({0}) Ich danke aber den Unionskollegen und ‑kolleginnen sehr für die Gelegenheit, diese Skandalakte Cum-ex und Cum-cum heute noch mal aufzurollen. Dabei ist die Fixierung auf den Bundeskanzler Olaf Scholz als Oppositionsreflex der Union natürlich sehr nachvollziehbar. Allerdings sollten wir nicht darauf reinfallen. Wir müssen durchaus noch weitere Hintergründe und Verantwortlichkeiten dieses Skandals benennen. ({1}) Dabei wird klar, dass die Union besser nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen sollte; manchmal ist auch der Blick in den Spiegel durchaus angebracht. Worüber wir reden, ist jetzt vielfach ausgeführt worden. Noch unter dem damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ereignete sich der größte Steuerbetrugsskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Gauner haben sich viele Milliarden Euro durch sogenannte Cum-ex- und Cum-cum-Betrügereien vom Fiskus, also von uns allen, erschlichen. Erschreckenderweise war das BMF unter seinem damaligen Minister erst in den Jahren 2012 und 2016 nach jahrelanger Untätigkeit zu dem Entschluss gekommen, dem Betrug ein Ende zu setzen. So wurden 2012 Cum-ex-Geschäfte verboten, und noch einmal vier Jahre später folgte dann ein Verbot von Cum-cum-Geschäften. Alleine durch diese Verzögerung sind Schätzungen zufolge nochmals mehrere Milliarden Euro für den deutschen Fiskus verloren gegangen. Alle Beteiligten und der politisch verantwortliche Finanzminister wussten also spätestens seit 2011, dass Betrügereien im Milliardenbereich liefen, und dennoch vergingen bis zu fünf Jahre, bis der Geschäftemacherei ein Riegel vorgeschoben wurde. Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns nun im Parlament mit der Aufarbeitung der damaligen Fehlerketten. In den Regierungsjahren der Großen Koalition war an dieser Stelle leider wenig Enthusiasmus zu erkennen. Die in die Opposition gewechselte Union scheint aber endlich bereit zu sein, auch die eigene unrühmliche Verantwortung für den Jahrhundertbetrug an den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern aufzuarbeiten. ({2}) Selbstverständlich gehört dabei auch die Frage nach Verantwortlichkeit auf allen Ebenen auf den Tisch. Das Parteibuch darf dabei einer lückenlosen Aufklärung nicht im Wege stehen. ({3}) Nur durch vollständige Transparenz bei allen Beteiligten kann verloren gegangenes Vertrauen wieder zurückgewonnen werden. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz muss diesem Anspruch gerecht werden und darüber aufklären, was er wann wusste und was er genau wann getan hat. ({4}) Dasselbe gilt aber selbstverständlich auch für den ehemaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble ({5}) und die jeweils verantwortlichen Fachminister auf Landesebene. Ich freue mich sehr über den offenkundigen Willen der Union, auch diese für sie sicherlich eher unbequemen Fragen endlich anzugehen. Dasselbe gilt aber auch für den Bundeskanzler. Mit seinen bisherigen Ausführungen zu diesem Themenkomplex hat er aus meiner Perspektive nachvollziehbar dargestellt, wie er sich in seiner Zeit als Erster Bürgermeister von Hamburg verhalten hat. Sollte es darüber hinaus allerdings Aspekte geben, die zur Aufklärung beitragen, müssen diese natürlich ebenfalls offengelegt werden. Auch Olaf Scholz selbst sollte ein großes Interesse daran haben, den Diskussionen und Verdächtigungen mit maximaler Transparenz entgegenzutreten. ({6}) Die FDP-Fraktion wird dabei niemanden vorverurteilen; allerdings bekommt von uns auch niemand einen Freifahrtschein. Wir arbeiten daher sowohl im Finanzausschuss als auch in Abstimmung mit dem Bundesfinanzministerium an der Offenlegung aller Details zum Cum-ex- und Cum-cum-Skandal. Die Akte Warburg ist dabei ein wichtiges Puzzleteil, welches durch möglicherweise weitere Beiträge von Olaf Scholz an die richtige Stelle gerückt werden sollte. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben in herausfordernden Zeiten für demokratische Institutionen. Die Stärkung der Glaubwürdigkeit in diese und ihre zentralen Repräsentanten ist eine der wichtigsten Fragen. Dass der Cum-ex- und Cum-cum-Skandal insgesamt weiter aufgearbeitet werden muss, ist selbstverständlich. Es geht aber um spezielle Fragen im Warburg-Scholz-Skandal, und diese dürfen wir nicht einfach wegdiskutieren. Die Hamburger Finanzbehörde hat im Jahr 2016 vor Ablauf der Verjährungsfrist nicht die Möglichkeit genutzt, zu Unrecht erstattete Kapitalertragsteuer in Höhe von 47 Millionen Euro von der Warburg Bank zurückzufordern. Im Jahr 2017 wurden weitere 43 Millionen Euro erst nach zweimaliger Weisung durch das Bundesfinanzministerium vonseiten der Hamburger Verwaltung zurückgefordert. Die Übernahme von politischer Verantwortung für diesen Komplex ist bis heute ungeklärt. Diese fordern wir ein. ({0}) Der heutige Bundeskanzler hat sich im Zeitraum von September 2016 bis November 2017 insgesamt dreimal mit dem Chef der Hamburger Warburg Bank getroffen und ihm sogar telefonisch geraten, eine Stellungnahme aus Sicht der Privatbank an den damaligen Finanzsenator Tschentscher zu schicken. Die Öffentlichkeit hat von diesen Treffen aufgrund der Auswertung sichergestellter Tagebücher des beschuldigten Bankmanagers erfahren. Dass der heutige Bundeskanzler selbst die Anzahl der Treffen, nämlich drei, nicht von sich aus, sondern nur auf Vorhalt und schrittweise einräumte, ist wenig transparent und enttäuschend. ({1}) Wer ein Amt an der Spitze einer Regierung hat, der muss sich die Frage gefallen lassen und sie beantworten, weswegen er mehrmals den Chef einer Bank trifft, gegen den bereits zu diesem Zeitpunkt wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt wird ({2}) und weshalb eine Rückforderung der Finanzbehörde im Raum steht. Politisch klug war das nicht. ({3}) Der Bundeskanzler hat ausgeführt, dass er keine konkreten Erinnerungen an diese Treffen habe. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Der Punkt ist aber auch, dass er gesagt hat, er habe auf jeden Fall politisch keinen Einfluss genommen. Die Frage ist also: Er erinnert sich nicht an die Treffen, aber daran, dass keine Einflussnahme erfolgt ist. Beides passt nicht zusammen. Hier muss Aufklärung erfolgen. ({4}) Wir haben ein staatspolitisches Interesse daran, dass unser Land in Krisenzeiten durch eine sachlich richtige und moralisch gefestigte politische Führung regiert wird. ({5}) Ein zumindest in groben Zügen vorhandenes Erinnerungsvermögen an Termine und Sachverhalte aus der jüngeren Vergangenheit ist eine Eigenschaft, die man von einem Bundeskanzler verlangen muss. ({6}) Es darf nicht das Bild bleiben, der Bundeskanzler habe an nicht unerhebliche Sachverhalte keine Erinnerung. Im Interesse seiner eigenen Glaubwürdigkeit sollte der Bundeskanzler diesem Eindruck nachdrücklich entgegenwirken. Die Bitte geht also heute von diesem Haus an den Bundeskanzler: Geben Sie der Transparenz und der Aufklärung im Sinne der Glaubwürdigkeit den Vorzug gegenüber Erinnerungslücken und Vergessen! ({7}) Dass diese Aufklärung nottut und dass die Einforderung von Transparenz zentral ist, muss auch im Interesse der regierenden Koalition sein. Schließlich heißt es auf Seite 9 des Koalitionsvertrags – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: ({8}) Wir wollen durch mehr Transparenz unsere Demokratie stärken. Uns leiten die Prinzipien offenen Regierungshandelns – Transparenz, Partizipation und Zusammenarbeit. ({9}) Dieser Anspruch an Transparenz muss in der Sache Warburg und im Komplex „Nicht zurückgeforderte Steuerschuld“ eindeutig eingelöst werden. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit unserer Demokratie insgesamt. ({10}) Die Akte Cum-ex darf nicht geschlossen werden, solange nicht auch dieser Warburg-Komplex aufgeklärt ist. ({11}) Da bitte ich um die Mitwirkung aller, die daran beteiligt sind. Herzlichen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Tim Klüssendorf, SPD-Fraktion. ({0})

Tim Klüssendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle Stunde ist ja ein parlamentarisches Mittel, das wirklich wichtig ist. Wir haben hier Gelegenheit, außerhalb von Gesetzesvorhaben und Anträgen über Themen zu diskutieren, die wirklich von Relevanz sind und die aktuell für die Menschen in unserem Land von Bedeutung sind, die möglicherweise von unseren Debatten profitieren können, indem wir unsere Meinungen austauschen. Als wir davon erfahren haben, dass Sie eine Aktuelle Stunde einberufen wollen, habe ich mir überlegt: Okay, was könnten Themen sein? Die hohen Preise vielleicht, die Energiekrise? Möglicherweise die Situation im Iran, die Situation in der Ukraine? Die Raketenangriffe vielleicht? ({0}) All das nicht. In der Aktuellen Stunde, die Sie einberufen haben, geht es um ein Buch, ({1}) ein Buch, das keinerlei Neuigkeiten und Informationen bringt über die Erkenntnisse hinaus, die bereits vorliegen, das eigentlich nur das zusammenträgt, was bereits bekannt ist. Jetzt muss ich mal ganz ehrlich über Ihre Oppositionsarbeit sprechen. Friedrich Merz – ich habe das Zitat ausgedruckt, um ihn auch korrekt zu zitieren – hat am 1. März – ich weiß ja, Sie mögen das nicht, wenn man Herrn Merz an seine März-Reden erinnert – gesagt: Konstruktive Opposition heißt, die Regierung zu kritisieren, wo es nötig ist, ihr Alternativen gegenüberzustellen, wo es möglich ist, ihr aber in schwierigen Lagen auch zu helfen, das Land zu regieren. Das ist dann unser gemeinsamer Erfolg. ({2}) – Sie haben ganz recht, Herr Güntzler: Da hat er recht. – Doch gehen wir mal das Zitat durch. „Konstruktive Opposition heißt, die Regierung zu kritisieren, wo es nötig ist“: Sie kritisieren nicht die Regierung, Sie kritisieren auch nicht das Regierungshandeln hier, Sie kritisieren überhaupt nichts an inhaltlicher Politik, die gerade läuft. Sie kritisieren etwas, was in einer Finanzbehörde in Hamburg geschehen ist, ({3}) was durch mehrere Ausschüsse, durch einen Untersuchungsausschuss in Hamburg und durch den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages, untersucht worden ist. Sie beschäftigen sich überhaupt nicht mit der Politik und den Herausforderungen in diesem Land. ({4}) Kommen wir zum zweiten Punkt: „ihr Alternativen gegenüberzustellen, wo es möglich ist“. Wo stellen Sie hier Regierungspolitik Alternativen gegenüber? Ihre Aktuelle Stunde beschäftigt sich auch nicht damit, was man aus Cum-ex lernen kann, wie es zum Beispiel der Kollege Herbrand oder der Kollege Müller oder der Kollege Schrodi dargelegt haben, wie wir mit Cum-ex anders umgehen können, welche inhaltlichen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. ({5}) Sie fokussieren sich allein darauf: Erinnerungslücken hier, unklare Aussagen da. Sie beschäftigen sich überhaupt nicht mit den Inhalten. ({6}) Das Schlimme an dem Cum-ex-Skandal sind doch die entgangenen Steuergelder. Es geht nicht um das Verhalten in irgendwelchen Ausschüssen, sondern darum, was wir daraus lernen und wie wir nach vorne blicken können. ({7}) Jetzt komme ich zum nächsten Punkt in dem Zitat Ihres Oppositionsführers: „ihr aber in schwierigen Lagen auch zu helfen, das Land zu regieren“. Wenn man ganz ehrlich ist: Die ganzen letzten Wochen und Monate wurde die konstruktive Oppositionsarbeit eingestellt. Das Einzige, was Sie tun – das hat die Niedersachsen-Wahl auch schon gezeigt –, ist, die Ampel anzuschießen und die Regierung zu destabilisieren. ({8}) Das tun Sie mit einem Kalkül, das das Wohl dieses Landes in den Hintergrund geraten lässt und das allein parteipolitisch dominiert ist. Das ist einfach komplett am Thema vorbei. ({9}) Das wird überhaupt nicht der Verantwortung gerecht, die Sie als größte Oppositionsfraktion haben. ({10}) Sie degradieren sich mit dieser Aktuellen Stunde zu einer personifizierten Verkaufsförderungsmaßnahme für ein Buch, und nichts anderes sonst. Es geht null um Inhalte, es geht null um das Land. ({11}) „Das ist dann unser gemeinsamer Erfolg“, ist der letzte Satz. Und es ist eben nicht unser gemeinsamer Erfolg. Sie haben sich schon lange von der konstruktiven Oppositionsarbeit verabschiedet. Es kommen keine Vorschläge, es kommen vielmehr solche Aktuellen Stunden. In der letzten Woche war schon das Thema der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde „Klarheit und Führung“. Es geht nicht um inhaltliche Themen. Sie versuchen, den Bundeskanzler herbeizuzitieren, wahlweise Herrn Habeck herbeizuzitieren, obwohl er gleichzeitig im Haushaltsausschuss auf Ihre Fragen antwortet. ({12}) Es ist Woche für Woche das Gleiche. Ich bitte Sie wirklich: Bringen Sie eigene Vorschläge ein! Lassen Sie uns inhaltlich über die Sorgen und Nöte der Menschen diskutieren! Lassen Sie uns gemeinsame Arbeit für dieses Land machen! Dann geht es auch gemeinsam voran. ({13}) So ist es kein gemeinsamer Erfolg. So ist es nur ein Erfolg der Ampelregierung, wie dieses Land regiert wird, und nichts anderes. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Klüssendorf. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sebastian Schäfer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Sebastian Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005201, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Organisierter Steuerbetrug in Milliardenhöhe ist ein Verbrechen an unserer Gesellschaft, ein Verbrechen an unserem Staat. ({0}) Dem kann nur mit voller Transparenz und lückenloser Aufklärung begegnet werden. ({1}) Da geht es um sachorientierte, zähe und mühevolle Arbeit. Und selbstverständlich darf es dabei keine Schonung geben. Das haben die Bundestagsuntersuchungsausschüsse zu Cum-ex und zu Wirecard gezeigt. Dazu gehört aber auch, dass im Rahmen der schärfsten Schwerter, die wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben, weder mit Vorverurteilungen noch mit vorweggenommen Freisprüchen gearbeitet wird. Ich frage mich, was genau der aktuelle Anlass der Debatte heute ist. ({2}) Eine parlamentarische Buchbesprechung? ({3}) Als Freund der deutschen Gegenwartsliteratur hätte ich da noch viele Ideen. ({4}) Ich empfehle zum Beispiel ganz besonders „Identitti“ von Mithu Sanyal. Aber ich fürchte, für parlamentarische Buchbesprechungen sind wir nicht gewählt. ({5}) Wenn wirklich neue Informationen auftauchen, dann gehören die selbstverständlich aufgeklärt und aufgearbeitet. ({6}) Das allseits als gut recherchiert beschriebene und vielgelobte Buch „Die Akte Scholz“ – ich habe es noch nicht komplett lesen können – bringt nach meinem Kenntnisstand jedoch keine wirklich neuen Erkenntnisse. ({7}) Das macht es nicht weniger interessant; denn es stellt Zusammenhänge dar und hilft beim Verständnis. Ich möchte hier unterstreichen, wie wichtig die Arbeit von investigativen Journalistinnen und Journalisten wie Oliver Schröm und Oliver Hollenstein ist. Wie viele Finanzskandale wären ohne Journalistinnen und Journalisten in den letzten Jahren deutlich unter der Wahrnehmungsschwelle geblieben oder wären irgendwann still und heimlich unter den Teppich gekehrt worden? ({8}) Panama Papers, Wirecard oder P&R: Die Liste ist leider sehr lang. ({9}) Die Aufdeckung vieler der Skandale ist letztlich übrigens nur ins Rollen gekommen, weil es Whistleblower/-innen mit Gewissen gab, die ein großes Risiko eingegangen sind. Warum erwähne ich das? Die Große Koalition hat die Einführung eines effektiven Whistleblower-Schutzes in Deutschland verhindert. ({10}) Und die Ampel? Sie hat ein Hinweisgeberschutzgesetz – ordentlich ins Deutsche übersetzt – auf den Weg gebracht, das bald den parlamentarischen Prozess durchlaufen haben wird. Cum-ex wurde umfassend in einem Untersuchungsausschuss im Bundestag behandelt – auf Initiative von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollten und wollen volle Transparenz und Aufklärung, aber im Rahmen von parlamentarischen Prozessen und nicht in Schaufensterdebatten, eben weil es um die Aufklärung des größten deutschen Steuerraubs geht. Wir wollten herausfinden, wo staatliche Strukturen versagt haben, um sie für die Zukunft zu verbessern. Ich will insbesondere an die großen Verdienste von Gerhard Schick erinnern, der das Thema mit der Bürgerbewegung Finanzwende mit Mitteln der Zivilgesellschaft weiterhin intensiv bearbeitet. ({11}) Leider wurden damals die Untersuchungsausschussunterlagen einfach abgeheftet. Dass es zu wirklichen Reformen bei der Aufsicht und den staatlichen Strukturen kam, dafür hat es dann noch den Wirecard-Skandal gebraucht. Laut Schätzungen des Steuerexperten Christoph Spengel von der Uni Mannheim ist uns allen seit der Jahrtausendwende durch Cum-ex-Geschäfte ein Schaden von mindestens 10 Milliarden Euro entstanden. Leider ist das die absolute Untergrenze der Schadenssumme. Davon konnte bisher nur ein Bruchteil von etwa 1,4 Milliarden Euro gesichert werden. Das Kapitel Cum-ex ist auch juristisch keineswegs abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Köln und das Landgericht Bonn werden diese Steuerhinterziehungen noch Jahre beschäftigen. Aktuell sind erst einige wenige der Betrüger verurteilt worden. Die Ampel wird weiter an Maßnahmen gegen missbräuchliche Steuergestaltungen arbeiten und auch den Daten- und Informationsaustausch zwischen Finanzaufsicht und Steuerbehörden bei Verdachtsfällen ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um den Reputationsschaden für unseren Rechtsstaat, für unser Land, sondern auch um Steuereinnahmen, um Steuersubstrat, das wir zur Bekämpfung der multiplen Krisen dringend benötigen. Herzlichen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schäfer. – Nun lauschen wir den Ausführungen des Kollegen Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland steht vor riesigen Herausforderungen – allein schon der russische Krieg gegen die Ukraine, die unsichere Versorgung mit Energie, die explodierenden Preise. ({0}) Deutschland bräuchte jetzt einen Bundeskanzler, der ehrlich führt und dem die Menschen vertrauen können. Doch Deutschland hat Olaf Scholz. ({1}) Der Steuerskandal Cum-ex steht für Milliarden Euro, um die Kriminelle unseren Staat und damit uns alle in Deutschland betrogen haben. Und: Dieser Skandal zerstört jeden Tag mehr die Glaubwürdigkeit des Bundeskanzlers. Das Buch „Die Akte Scholz: Der Kanzler, das Geld und die Macht“ enthüllt neue Erkenntnisse, es unterlegt bekannte Vorwürfe mit weiteren Fakten, und es wirft weitere Fragen an den Bundeskanzler auf. ({2}) Während 15 Bundesländer gegen diesen Steuerraub zu Felde gezogen sind und versucht haben, das geraubte Steuergeld zurückzuholen, hatten die Cum-ex-Kriminellen in Hamburg Narrenfreiheit unter dem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz. ({3}) Ob in Hamburg oder im Bund: Ich erwarte von einem Regierungschef, dass er sich nicht mit Steuerkriminellen trifft, dass er ihnen keine Tipps gibt und dass er ihnen stattdessen klipp und klar sagt: Ihr kommt mit eurem Steuerraub nicht ungeschoren davon. – Aber das Gegenteil hat Olaf Scholz getan. ({4}) Und nicht nur bei Cum-ex ist die Glaubwürdigkeit des Bundeskanzlers auf einem Tiefpunkt. Zwei aktuelle Beispiele: Erstens. In der Generaldebatte sagte der Bundeskanzler kürzlich, er würde alle Probleme schon lösen, bevor andere sie überhaupt nur erkennen. Wie kann man nur so anmaßend sein, Herr Bundeskanzler? Zweitens. Putin nutzt Energielieferungen als Waffe. Dazu äußerte sich der Bundeskanzler vorgestern. Er sagte wortwörtlich – Zitat –: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“ Olaf Scholz will also die Gaserpressung durch Russland vorausgesehen haben. ({5}) Wieso hat er dann nicht gegengesteuert? ({6}) Olaf Scholz war jahrelang Arbeitsminister, Finanzminister, Vizekanzler. Und sogar als Scholz schon Kanzler war, ({7}) als russische Truppen schon an der ukrainischen Ostgrenze aufmarschiert waren, da verteidigte er immer noch Nord Stream 2. Wer will dem Bundeskanzler eigentlich so was Abstruses glauben? ({8}) Nur beim Hamburger Steuerskandal, da will Scholz sich an nichts mehr erinnern. Dabei werden immer mehr offene Fragen aufgedeckt: Warum hat Olaf Scholz mehrfach die Steuerbetrüger in seiner Amtsstube empfangen, sie angerufen, ihnen sogar Tipps gegeben, anstatt das Steuergeld einfach zurückzuholen? ({9}) Wieso musste das Bundesfinanzministerium mit zwei Weisungen das von Scholz geführte Bundesland zwingen, die Steuermillionen zurückzuholen? ({10}) Gab es, wie die Staatsanwaltschaft erwägt, eine – Zitat – „koordinierte Löschung von E‑Mails“? ({11}) Und sollten – Zitat – „Führungspersonen bewusst von Verantwortung ferngehalten werden“, indem „diese nicht per E‑Mail kontaktiert wurden“? ({12}) Und was ist eigentlich aus dem Versprechen des SPD-Chefhaushälters Johannes Kahrs an die Banker geworden, dass man den Warburg-Fall wieder aufrufen werde, wenn die SPD das Bundesfinanzministerium übernehmen werde? ({13}) Kurz danach übernahm Scholz das Ministerium, und dann musste genau der Abteilungsleiter gehen, der durch die Weisungen die Steuermillionen vor der Verjährung gerettet hat. Er wurde mit 59 Jahren unter Scholz in den vorläufigen Ruhestand versetzt. ({14}) Bis Juli 2020 konnte sich der Bundeskanzler an zumindest ein Treffen erinnern; darüber hat er sogar dreimal gesprochen. Erst kurz danach, als investigative Journalisten weitere Treffen aufgedeckt hatten, beginnen seine Erinnerungslücken. Wieso kann sich Scholz seitdem eigentlich auch an das erste Treffen nicht mehr erinnern? ({15}) Hat Olaf Scholz die Unwahrheit gesagt? Immerhin hat sogar seine Familienministerin einst wortwörtlich mehrfach gesagt: „Scholz hat den Bundestag belogen“ – Zitat einer Grünen. Wieso hat Olaf Scholz den Warburg-Bankern den Tipp gegeben, ihr Schreiben an den Finanzsenator zu senden, ({16}) obwohl ihm das Schreiben längst vorlag? Jedenfalls wollte direkt danach die Hamburger Behörde die Steuermillionen plötzlich doch verjähren lassen. Zufall? Wohl kaum! ({17}) Und: Wieso steht Olaf Scholz eigentlich auf der Dankesliste, die der Warburg-Chef handschriftlich angefertigt hat? Vier von zehn Namen auf der Liste sind sogar abgehakt: der Steuerberater sowie drei SPD-Politiker: Johannes Kahrs – über den haben wir gerade schon eine Menge gehört –, Alfons Pawelczyk, SPD-Prominenz aus Hamburg mit üppigen Lobbyismushonoraren von Warburg, und als Dritter Bundeskanzler Olaf Scholz. ({18}) Alle diese Fragen sind offen. Dennoch schweigt Olaf Scholz auch heute. Die Ampelkoalition hat mit der Regierungsübernahme das Aufklärungsinteresse verloren; das haben wir heute ja auch gemerkt. ({19}) Aber wir werden die Akte Scholz nicht schließen. ({20}) Herr Bundeskanzler, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– es liegt an Ihnen, endlich für Klarheit zu sorgen. ({0}) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Journalist Sebastian Huld hat vorgestern auf ntv einen Onlinebeitrag mit dem Titel „Ist Olaf Scholz ein Lügner?“ veröffentlicht. Er setzt sich darin mit dem neuen Buch „Die Akte Scholz: Der Kanzler, das Geld und die Macht“ auseinander. Bereits in der Unterüberschrift heißt es: „Einen schlagenden Beweis für Scholz’ Verstrickung in die Cum-ex-Affäre bleiben die Autoren schuldig.“ ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, auch wenn das Erscheinen eines Buches ein eher nachrangiger Anlass für eine Aktuelle Stunde ist, steht es Ihnen selbstverständlich in einer pluralen und lebendigen Demokratie als Oppositionsfraktion zu, so zu verfahren. ({1}) Das ist allerdings schon äußerst verwegen, wenn man bedenkt, dass das über Jahre von Ihrer Partei, von Wolfgang Schäuble geführte Bundesfinanzministerium diesem illegalen Treiben, den Cum-ex-Geschäften, jahrelang untätig zugesehen hat. ({2}) Und am Ende stellen Sie sich hier im Bundestag hin, um auf den ehemaligen Ersten Bürgermeister Scholz zu zeigen. Aber Sie wissen doch selbst am besten: Wenn Sie mit einem Finger auf Olaf Scholz zeigen, zeigen Sie mit drei Fingern auf sich zurück. ({3}) Das ist doch unglaublich! Von 2009 bis 2017 war Wolfgang Schäuble, den ich übrigens als Bundestagspräsidenten in der letzten Wahlperiode sehr schätzte, Finanzminister. Von 2011 an wusste man von diesem unfassbaren Gebaren, und erst kurz vor dem Ende seiner Zeit als Finanzminister wurde letztendlich all dieses Geschäftsgebaren verboten. Da kann ich nur sagen: Wolfgang Schäuble – cum tempore. ({4}) Wir Liberalen stehen für das Rechtsprinzip und auch die Steuergerechtigkeit ein. Dazu zählt für uns, dass wir Straftaten auch konsequent verfolgen möchten. Ich möchte an dieser Stelle mit Erlaubnis des Präsidiums meinen geschätzten Kollegen Florian Toncar zitieren. Er sagte am 9. September 2020 hier an dieser Stelle in der Debatte „Cum/Ex-Steuerdeals der Warburg-Bank und Rolle der Politik“ als Vertreter der Oppositionsfraktion FDP an die Adresse des damaligen Bundesfinanzministers Scholz – ich zitiere –: Ich unterstelle, dass das, was wir inzwischen von Ihnen erfahren haben, vollständig ist und dass wir nicht auf weitere Dinge stoßen, die Ihnen bekannt waren, die aber bisher nicht genannt worden sind. ({5}) Das ist, glaube ich, auch eine Frage des Respekts vor parlamentarischen Institutionen. Eine Aufarbeitung dieser Cum-ex-Geschäfte der Warburg Bank, der Beteiligung oder eben Nichtbeteiligung des damaligen Hamburger Bürgermeisters Scholz fand statt, findet statt und wird auch so lange stattfinden, wie sich Anschuldigungen und Beweise ergeben sollten. Aber die Unschuldsvermutung gilt eben auch für einen ehemaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs. Aber legen Sie dies bitte nicht als „in dubio pro reo“ aus. Denn auch wenn viele Zweifel an dieser Sache hegen: Es gibt eben aktuell keinen Angeklagten Olaf Scholz. ({6}) Eine Strafanzeige gegen Olaf Scholz scheiterte in zwei Instanzen. Nach der Staatsanwaltschaft sieht auch die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg keinen Anfangsverdacht der möglichen Beihilfe zur Steuerhinterziehung. ({7}) Und wer steht auch völlig zu Unrecht – darauf möchte ich auch eingehen – unter Generalverdacht? Das ist durch diese eine Verfehlung einer Bank die Bankenbranche an sich, getreu dem Motto: Alle Banken betrügen. ({8}) Dabei sind es doch die Banken, die zentraler Bestandteil der Wirtschaft sind und welche das Geld für die Finanzierung zur Verfügung stellen. Über 90 Prozent aller Investitionen in Deutschland werden von privaten Investoren und Unternehmern getätigt und mithilfe unserer Banken finanziert. Deshalb sollte man in diesen Zeiten alles dafür tun, um diesen Motor am Laufen zu halten, und Banken gerade in ohnehin rezessiven Zeiten nicht mit zusätzlichen Kapitalanforderungen belasten. Die drohenden enormen Zusatzbelastungen durch den antizyklischen und sektoralen Kapitalpuffer, welche zu Zeiten bester Konjunktur ausgedacht wurden, um eine Überhitzung zu vermeiden, legen die Axt an zukünftige Finanzierungen, welche aber gerade bei der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft, bei der Schaffung von Wohnraum sowie bei der Bildung von Wohneigentum dringend benötigt werden. Hunderte Milliarden Euro an Kapital werden dem Markt somit nicht zur Verfügung stehen, oder Kredite werden durch den Regulator – zusätzlich zu den ohnehin schon gestiegenen Zinsen – so teuer, dass es fast unmöglich wird, die verabredeten 400 000 Wohnungen, die wir bauen wollen, zu bauen. Meine Damen und Herren der Union, das, was ich gerade ausgeführt habe, wäre mal eine Aktuelle Stunde wert; eine solche würde die Wirtschaft und das Land nach vorne bringen. ({9}) Stattdessen reden wir heute über ein Buch. Wie klein kann man sich eigentlich nur machen, liebe Union? Wobei ich die Fähigkeiten der Autoren Schröm und Hollenstein in keinster Weise hier heute in Abrede stellen möchte. ({10}) Anders als zu Unionszeiten im Finanzministerium wird das BMF unter Christian Lindner und seinem Team um Katja Hessel und Florian Toncar den Kampf gegen Finanzkriminalität im Gegensatz zu Ihnen deutlich ausweiten. ({11}) Dazu bündeln wir Kompetenzen unter dem Dach einer neuen Behörde. Außerdem stärken wir die Financial Intelligence Unit als zentrale Stelle für Geldwäscheverdachtsmeldungen und errichten auch eine neue Zentralstelle für Geldwäscheaufsicht, die auch die Aufsicht über den Nichtfinanzsektor koordiniert. Das BMF will – und dafür bin ich dem Finanzminister sehr dankbar – Steuerfairness stärken und insbesondere schwere Fälle der Steuerhinterziehung und aggressive Steuergestaltung bekämpfen. Ein letzter Satz in eigener liberaler Sache: Könnten wir Liberale überall die Finanzen selbst verwalten und bewahren, hätten wir nicht – wie bei Ihnen – Cum-ex, sondern das Prädikat „summa cum laude“. Vielen Dank. ({12})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident, das ist sehr großzügig. Es wäre auch schade gewesen, wenn Herr Hauer jetzt nicht hätte zuhören können. Danke für das Interesse! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Buch „Die Akte Scholz“ wurde am 11. Oktober veröffentlicht. Darüber reden wir in dieser Aktuellen Stunde. Die Begründung, die die Union mitliefert, ist, dass durch das Buch nun offene Fragen bestünden. ({0}) Ich würde mal sagen: Das ist eine reichlich steile These. Denn kaum ein Thema – das haben wir in dieser Debatte jetzt auch schon erlebt – ({1}) ist eigentlich so umfangreich beleuchtet worden. Wir haben mehrere Untersuchungsausschüsse gehabt. Es gibt unzählige Veröffentlichungen. ({2}) Gefühlt vom Pförtner in der Hamburgischen Bürgerschaft bis zum Finanzminister wurden Dutzende und Aberdutzende Zeuginnen und Zeugen in Untersuchungsausschüssen gehört. ({3}) Fast zwei Jahre tagte ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Hamburg. Es hat sich am Ende eine Sache gezeigt: Olaf Scholz hat keinen Einfluss auf das Steuerverfahren der Warburg Bank genommen, meine Damen und Herren. ({4}) Was ist eigentlich die Frage hinter diesem ganzen Popanz, der hier aufgeführt wird? Die Frage ist: Gab es im Jahr 2016 eine politische Einflussnahme auf die Entscheidung der Finanzbehörden in Hamburg, und war deren Entscheidung in Sachen Warburg Bank damals richtig? ({5}) Es ist ja wichtig, dass man sich bei dieser zentralen Frage auf all das stützt, was die Untersuchungsausschüsse so zutage gefördert haben. Alle Zeugen der Finanzbehörde haben ausgesagt, alle diejenigen, die dieses Steuerverfahren geführt haben, haben ausgesagt, es gab keinerlei Beeinflussung durch die Politik; sie hätten sich eigenständig und ausschließlich an fachlichen Gesichtspunkten entschieden. ({6}) In den Akten – das ist ja das Schöne an Untersuchungsausschüssen; da kann man die ganzen Akten herbeiziehen – finden sich ebenfalls keinerlei Anhaltspunkte für diese These. Wenn man sich die Aussagen der Beamtinnen und Beamten im Untersuchungsausschuss anschaut und sie mit den Akten vergleicht, wird deutlich: Alles deckt sich. – Demnach kann man feststellen: Die Beamtinnen und Beamten hatten keinen Zweifel, dass es zum damaligen Zeitpunkt – wir reden über 2016; das ist sehr wichtig – rechtlich nicht sicher gewesen wäre, diese Rückforderung zu stellen. Das ist das, was die Akten und die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse zutage gebracht haben, meine Damen und Herren. ({7}) Sie erzählen hier immer die Geschichte von wegen 15 von 16 Bundesländern. Wir müssen zurückgehen ins Jahr 2016. Fakt ist: Hamburg hat 2020 das Geld zurückgefordert. ({8}) Es gibt aus meiner Sicht einen absoluten Kronzeugen, der über jeden Zweifel erhaben ist, und das ist der Kölner Oberstaatsanwalt Fuchs. Der oberste Cum-ex-Jäger des Landes von 2016 und 2017 musste ja auch vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Soll ich Ihnen sagen, was der zum Verhalten der Hamburger Steuerbehörden gesagt hat? Er hat wortwörtlich gesagt: Ich war mit dem Verhalten vollkommen d’accord. – Also, er war vollkommen einverstanden mit dem Handeln der Hamburger Steuerbehörde. ({9}) Das sagt ein Kölner Oberstaatsanwalt, der oberste Cum-ex-Jäger. Der ist nicht aus Hamburg, der hat nicht mal, wie andere Staatsanwälte, ein SPD-Parteibuch. Doch der hat gesagt: Das war richtig. Ich war d’accord damit. ({10}) Das Interessante an der Sache ist: Dieser Oberstaatsanwalt hat im Untersuchungsausschuss ausgesagt, dass der Fall damals noch nicht ausreichend ausermittelt gewesen ist und dass es ihm eigentlich recht war, dass die Hamburger das nicht zurückgefordert haben. Er begründet es wie folgt: Hätten sie das damals mit einem halbgaren Fall gemacht und hätten vor Gericht verloren, wäre die ganze Cum-ex-Geschichte einfach so weitergegangen. ({11}) Das sagt ein ehemaliger Oberstaatsanwalt in dieser Sache. Ich finde, das muss man doch mal zur Kenntnis nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Ich fasse zusammen: Es gibt trotz umfangreichster Ermittlungen keinerlei Beweise. Die Finanzverwaltung beteuert, nicht beeinflusst worden zu sein. Der oberste Cum-ex-Jäger der Jahre 2016/2017 sagt: Die Haltung war vollkommen richtig. – Insofern kann ich mit einem Satz aus diesem Buch enden; das ist nämlich der letzte Satz in diesem Buch: „Da war nichts. Es hat keine Einflussnahme gegeben. Schönen Dank.“ Das war von Olaf Scholz. ({13})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 24. Februar, als Putin die Ukraine überfallen hat, erleben wir, dass er darüber hinaus versucht, die Staaten in Europa, die die Ukraine unterstützen, mit dem Einsatz von Energie als Waffe wirtschaftlich und sozial zu destabilisieren. Das ist keine Verschwörungstheorie des Westens, sondern das ist das, was er in Reden in Wladiwostok und in Reden in Sankt Petersburg selbst gesagt hat. Er versucht, uns wirtschaftlich zu schädigen und uns sozial auseinanderzutreiben, um unsere Solidarität mit der freien Ukraine zu zerstören. Aber das, meine Damen und Herren, wird ihm nicht gelingen! ({0}) Deshalb tun wir alles, um wirtschaftlichen Schaden von diesem Land abzuwenden und gleichzeitig unsere Gesellschaft sozial zusammenzuhalten. Konkret machen wir fünf Dinge: Das Erste ist, dass wir für Versorgungssicherheit kämpfen, indem wir Gas einspeichern, indem wir dafür sorgen, dass LNG-Terminals gebaut werden, dass Ersatz beschafft wird, dass wir eine Gasnotlage möglichst in diesem und im nächsten Winter verhindern. Das Zweite ist, dass wir dafür sorgen, dass die Kosten gesenkt werden – Stichworte „Gaspreisbremse“ und „Strompreisbremse“. Ich bin sehr dankbar für die Empfehlungen der Kommission, die uns mithilft, den Schutzschirm in Höhe von 200 Milliarden Euro so aufzuspannen, dass wir tatsächlich mit den Preisen herunterkommen und damit Bürgerinnen und Bürger entlasten und Unternehmen retten können. Drittens, meine Damen und Herren, Wirtschaftshilfen. Vor allen Dingen für kleine und mittelständische Unternehmen. Viertens auch das Instrument der Kurzarbeit, wenn es notwendig ist, um Arbeitsplätze zu sichern und Brücken zu bauen. Und fünftens entlasten wir Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen durch die Entlastungspakete. Mit dem heutigen Gesetz sorgen wir in zwei Bereichen für sehr gezielte Entlastungen. Zum einen, meine Damen und Herren, sorgen wir dafür, dass rund 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner die Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro noch Mitte Dezember dieses Jahres bekommen können. Das hilft 20 Millionen Menschen sehr konkret, die es auch verdient haben. ({1}) Es geht nicht nur um die Rentnerinnen und Rentner, die regulär aus der gesetzlichen Rentenversicherung Rente beziehen. Es geht hier zum Beispiel auch um Erwerbsgeminderte; auch sie werden davon profitieren. ({2}) Das ist ein ganz wichtiges Signal in dieser Zeit. Zum anderen, meine Damen und Herren, sorgen wir auch dafür, dass die Einmalzahlung nicht der Beitragspflicht in der Sozialversicherung unterliegt – das heißt, dass netto bei den Menschen mehr ankommt – und dass dieses Geld nicht bei den einkommensabhängigen Leistungen angerechnet wird; es kann auch nicht gepfändet werden. Ich will damit eines sagen: Die Rentnerinnen und Rentner können sich in Deutschland auf den Sozialstaat – gerade in diesen Zeiten – verlassen. ({3}) Wir haben heute Morgen im Zusammenhang mit der Debatte um die Einführung des Bürgergeldes ja darüber geredet, dass sich Arbeit in Deutschland lohnen muss. Deshalb kümmern wir uns auch um die Menschen mit geringem Einkommen: nicht nur durch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro – am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft getreten –, nicht nur, indem wir Steuern senken und im Übrigen dafür sorgen, dass ein Kinderzuschlag eingeführt bzw. das Kindergeld erhöht wird, sondern auch, indem wir Menschen mit geringem Einkommen mit diesem Gesetz gezielt von Sozialversicherungsbeiträgen so entlasten, dass sie mehr Geld in der Tasche haben und sich gleichzeitig in ihrem sozialen Schutz nicht verschlechtern. So heben wir die berühmte Midijob-Grenze – den Übergangsbereich – von 1 600 auf 2 000 Euro an. Damit entlasten wir die Menschen in diesem Einkommensbereich um insgesamt 1,3 Milliarden Euro – und das nicht nur im nächsten Jahr, sondern dauerhaft, meine Damen und Herren. Die Menschen haben es verdient, und das ist der richtige Weg. ({4}) Einige werden sagen: 1,3 Milliarden Euro ist viel Geld. – Individuell bedeutet das für jemanden, der 1 000 Euro verdient, eine Entlastung in Höhe von monatlich 58 Euro. „Das ist ja nicht viel“, sagen aber nur Leute, die ein sehr viel höheres Einkommen haben. Für Menschen in diesem Einkommensbereich bedeutet das ab dem 1. Januar eine sehr gezielte Entlastung. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb: Unterstützen Sie dieses Gesetz! Wir helfen Rentnerinnen und Rentnern. Wir sorgen dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringem Einkommen mehr Geld in der Tasche haben. Es ist Teil unserer Maßnahmen, diese Gesellschaft in diesen Zeiten zusammenzuhalten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Wir beraten ja heute ein Gesetz zur Zahlung einer Energiepreispauschale an Renten- und Versorgungsempfänger; und auch Studenten sind beinhaltet. Gleichzeitig ist darin enthalten, dass die Midijob-Grenze angehoben wird. Sicherlich ist es richtig, Herr Bundesminister, wie Sie einführend ausgeführt haben, dass wir die Menschen unterstützen angesichts des Wirtschaftskriegs und des Energiekriegs, den Putin gegen unser Land und insgesamt gegen Europa führt. Da stehen wir als Union auch mit an Ihrer Seite. Sie bringen dieses Gesetz ein, aber haben dazu eigentlich wenig gesagt, sondern sehr viel über andere Themen gesprochen. Wenn ich mich an frühere Formulierungen erinnere – das Gute-KiTa-Gesetz hatten wir mal, das Gute-Renten-Gesetz hatten wir mal, das Gute-so-und-so-Gesetz hatten wir mal –, dann würde ich dieses Gesetz letztendlich mit Schlechtes-Gewissen-Gesetz überschreiben. ({0}) Es handelt sich nämlich um das schlechte Gewissen der Bundesregierung und natürlich der Ampelparteien, weil sie beim ersten Energieentlastungspaket die Rentnerinnen und Rentner und die Studenten in unserem Land außen vor gelassen haben, ({1}) und zwar bewusst – und das, obwohl sie sich immer in der großen sozialen Verantwortung üben und natürlich auch großartig formulieren, wie sie die Menschen unterstützen. Aber Sie haben die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land damals, Herr Bundesminister, abgespeist mit der Erklärung: Wir haben ja zum 1. Juli eine so tolle, große Rentenerhöhung gemacht mit 5,1 Prozent in Westdeutschland und 6,1 Prozent im Osten, ({2}) und das genügt für die Rentnerinnen und Rentner. ({3}) – Doch. Das war Ihre Aussage seinerzeit als Begründung, die Rentnerinnen und Rentner bei der Energiepreispauschale außen vor zu lassen. ({4}) Deshalb sage ich ganz bewusst, dass dies ein Schlechtes-Gewissen-Gesetz ist. ({5}) Dass die Rentnerinnen und Rentner jetzt ebenfalls eine Entlastung bekommen, wurde letztendlich nur dadurch ermöglicht, ({6}) weil der Druck von CDU und CSU, von der Opposition hier, dies mit herbeigeführt hat, ({7}) und vielleicht auch das Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen. Da wollte man sich natürlich unter Umständen nicht auch in Niedersachsen dieser Gefahr aussetzen. Deshalb haben sich diese Bundesregierung und vor allen Dingen dann die Ampelfraktionen entschlossen, tatsächlich etwas für die Rentnerinnen und Rentner zu tun.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. Kollege Rosemann, gerne.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte schön.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Straubinger, das ist ja immer schön, wenn Sie so richtig in Fahrt sind.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin doch gar nicht in Fahrt, Herr Dr. Rosemann. Ich nenne ja nur Tatsachen.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da geht also noch mehr. – Aber ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich hier so aufplustern und die CDU/CSU als Partei der Rentnerinnen und Rentner darstellen. ({0}) Ich glaube, da seid ihr ein bisschen falsch gewickelt. Ich würde nämlich gerne mal wissen, wie das eigentlich dazu passt, dass in der Großen Koalition in den letzten vier Jahren, ({1}) wo wir ja eine gemeinsame Rentenkommission hatten, Herr Straubinger, wo sogar die CSU, also in Person von Stephan Stracke, dabei war, –

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guter Mann.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– sich die CDU und die CSU dagegen gewehrt haben, gemeinsam zu vereinbaren, dass wir das Rentenniveau auf 48 Prozent festschreiben. Wenn Sie die Rentnerpartei wären, dann hätten Sie doch die Garantie des Rentenniveaus damals mitmachen können; das haben Sie nicht gemacht. In der Ampel haben wir das gemeinsam hinbekommen. Wenn Sie die Partei der Rentnerinnen und Rentner sein wollen, dann hätte ich gerne mal eine Haltung dazu, wie Sie das eigentlich in Zukunft mit dem Renteneintrittsalter sehen. Da haben wir in der Ampel uns darauf verständigt, dass wir das Renteneintrittsalter nicht weiter über 67 Jahre erhöhen. Dazu würde mich mal Ihre Position als Union interessieren. Nach meiner Kenntnis haben Sie da eigentlich keine.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Dr. Rosemann, vielen Dank für die Frage. Ich bin sehr dankbar, dass Sie auf das Renteneintrittsalter von 67 Jahren hinweisen. Das wurde ja unter dem Bundesminister Franz Müntefering eingeführt. Ich bin ihm ausdrücklich sehr dankbar; ({0}) denn Franz Müntefering hatte wenigstens die Statur dafür, die Generationenfrage auch richtig anzugehen. ({1}) Herr Dr. Rosemann, vor der Generationenentwicklung in unserer Gesellschaft können Sie sich möglicherweise die ganze Zeit davonstehlen, aber die wird sie einholen. Die wird uns als Gesellschaft insgesamt einholen, wenn wir immer mehr Rentnerinnen und Rentner und weniger Erwerbstätige haben; das ist ja völlig klar, Herr Dr. Rosemann. ({2}) Sie können es jetzt kaschieren. Ich bin nur erstaunt, dass die FDP diesen Mist, muss ich sagen, mitmacht. ({3}) Es ist ja so: Sie wollen die Generationenfrage in keinster Weise sachgerecht angehen. Das ist letztendlich das Versagen der Sozialdemokratie in dieser neuen Zeit. ({4}) Wir bräuchten mehr Franz Müntefering als Hubertus Heil, muss ich sagen. Werte Damen und Herren, es kommt ja noch dazu, dass es schlecht gemacht ist. Ich habe ja viel Verständnis, aber, Herr Bundesminister, wären Sie unserem Rat schon damals gefolgt und hätten seinerzeit auch den Rentnerinnen und Rentnern die Energiepreispauschale ausgezahlt, dann gäbe es jetzt nicht so viele Doppelzahlungen. Der kleine Rentner Max Straubinger hat bereits 300 Euro über seinen Einkommensteuervorauszahlungsbescheid erhalten. ({5}) Jetzt bekommt er nochmals 300 Euro. Es ist ja unglaublich: 7 Millionen Rentnerinnen und Rentner sind einkommensteuerpflichtig, zahlen Vorauszahlungen. Die haben bereits 300 Euro erhalten und erhalten jetzt wieder 300 Euro. Das ist ja unmöglich, dass gerade die Rentnerinnen und Rentner, denen es eigentlich besser geht, die mehr Einkünfte haben, weiterhin zusätzlich entlastet werden. Später wird es wohl wieder bei der Einkommensteuer kassiert werden. Aber dieser Bürokratismus, der hier aufgebaut wird, ist ja unerträglich, verehrte Damen und Herren. ({6}) Dann haben wir noch die schöne Geschichte mit der Ausweitung der Midijobs. Dafür hat sich der Bundesminister ja sehr gelobt. Aber alle sagen: In einer Zeit, wo die Unternehmen so gefordert sind und Ängste haben, gerade die kleinen Unternehmen, die auch viele Teilzeitbeschäftigungen haben, erklären Sie letztendlich jede Teilzeitbeschäftigung zum Midijob und belasten damit die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen. Laut Ausweis des Gesetzesvorschlags werden die Unternehmen zusätzlich mit 500 Millionen Euro belastet. Wenn ich dann noch dazurechne, dass ja bei der Anhebung der Midijob-Grenze von 1 300 Euro auf 1 600 Euro auch die Sozialversicherungsbeiträge –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– von den Unternehmen getragen werden müssen, bedeutet das eine zusätzliche Belastung für die Unternehmen von 1,3 Milliarden Euro. Ich frage mich: Was sagt da überhaupt die Unternehmerpartei FDP dazu? ({0}) Also, diese Fragen müssen wir jetzt klären. Ich freue mich auf die Anhörung, und ich freue mich auf weitere Debatten dazu. Herzlichen Dank, Herr Präsident. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Straubinger. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll, wenn man die Rede gerade gehört hat. Ich will auf jeden Fall darauf hinweisen, dass das Zentrale ist, dass wir jetzt die Konjunktur auch dadurch stärken, indem wir versuchen, Kaufkraftverluste bei den Menschen möglichst abzumildern. Dazu hat die FDP zum Beispiel auch mit dem Inflationsausgleich im Steuerrecht beigetragen – Stichwort „kalte Progression“; das wollen wir der Vollständigkeit halber mal nicht verschweigen –, auch wenn es jetzt nicht unser Lieblingsanliegen war. Aber das heißt: Wir haben insgesamt in der Ampel dort zusammengearbeitet. ({0}) Der Bundesminister hat hier schon eine ganze Reihe Punkte aufgezählt, die wir umgesetzt haben. Er hätte auch noch zusätzlich das 9‑Euro-Ticket erwähnen können und dass wir das Wohngeld ausweiten und erhöhen. Er hätte die nahende Strompreisbremse und die Abschaffung der EEG-Umlage noch zusätzlich erwähnen können. Also, es gibt noch eine ganze Menge anderer Sachen, wo diese Ampel zusammengenommen alles Mögliche für das gesamte Spektrum der Einkommen von ALG-II-Beziehenden bis zu den Werktätigen in der Mittelschicht getan hat. Das sollte man in den Mittelpunkt dieser Debatte und der Betrachtung stellen; denn die Energiepreispauschale für Rentnerinnen und Rentner reiht sich in diesen Maßnahmenkatalog ein. ({1}) Und wenn es Ihnen gut gefällt, Herr Straubinger, dass der Druck der Union der Grund war, warum wir das jetzt machen, und wenn Ihr größter Kritikpunkt ist, dass es zugegebenermaßen verspätet gekommen ist, dann sei Ihnen dieser Punkt von mir aus ruhig gegönnt. ({2}) Ich erinnere nur daran, dass ich, als ich vor einigen Monaten von dieser Stelle aus zu einem Antrag der Union gesprochen habe, wo Sie uns das auch schon vorgeworfen hatten, meine Rede mit den Worten schloss, dass wir uns beim nächsten Entlastungspaket um die Rentnerinnen und Rentner kümmern werden, und genauso ist es jetzt auch gekommen. ({3}) Ich möchte lieber noch die Zeit nutzen, etwas anderes in die Betrachtung miteinzuführen. Wir sehen ja, dass jenseits des Bundeswehrsondervermögens, jenseits der Übernahme von Uniper und anderen Gasunternehmen alleine die Entlastungspakete und das, was wir noch in diesen Wirtschaftssicherungsfonds packen, unter anderem die Gaspreisbremse, in Summe auf 300 Milliarden Euro zulaufen. Das ist eine astronomische Summe – das muss ich auch gerade als Mitglied des Haushaltsausschusses sagen –, und trotzdem gibt es Sorgen allenthalben, trotzdem erreichen uns verschiedene Hilferufe. Was zeigt uns das? Sollen wir noch mehr Einmalzahlungen, Rettungsschirme, Zuschläge und Preisnachlasse machen? Da, wo es sinnvoll und notwendig ist, würde ich sagen: „Ja, schon“, zum Beispiel, wenn es darum geht, eine vernünftige Nachfolge des 9‑Euro-Tickets zu finden, wenn es darum geht, Rehakliniken oder stationäre Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe zu unterstützen, und einige andere Beispiele könnte ich auch noch nennen. Aber ansonsten bin ich sehr dafür, dass wir mit dem Prinzip „Gießkanne“ für die Zukunft Schluss machen ({4}) und dass wir zielgerichtet da intervenieren, wo es notwendig ist. ({5}) Wir haben ja bei Krisenreaktionen immer einen klassischen Zielkonflikt, nämlich den zwischen Schnelligkeit und Zielgenauigkeit. Und da es jetzt schnell gehen musste, ({6}) weil diese Krise sich so aufgetürmt hat, ist es auch okay, dass man sozusagen eine Breitbandantwort gegeben oder, martialisch, eine Bazooka genommen hat. ({7}) Wenn wir jetzt den nächsten Schritt der Krisenbewältigung gehen, dann muss man die Maßnahmen auf jeden Fall zielgenauer machen; denn die Erfahrung lehrt, dass man mit Pauschalinstrumenten Glücksritter und Krisengewinnler anzieht. Ich erinnere nur an die Maskendealer von der Union, die das während der Coronakrise schamlos ausgenutzt haben. ({8}) – Ja, ist doch wahr. Leugnen Sie es nicht! ({9}) Es gibt Streuverluste – das ist auch bei der Energiepreispauschale der Fall –, weil das Geld tatsächlich auch Menschen bekommen, die es nicht brauchen, wie ich zum Beispiel oder der Herr Straubinger, und es gibt Mitnahmeeffekte. Diejenigen, die sich über den Tankrabatt am meisten gefreut haben, dürften ja die Mineralölkonzerne gewesen sein. Das heißt also: Mehr Zielgenauigkeit ist in Zukunft absolut entscheidend. ({10}) Die Höhe dieser Summe, 300 Milliarden Euro, die scheinbar einigen immer noch nicht reicht, zeigt aber auch das Ausmaß der Abhängigkeit, in die wir uns beim Thema „billiges Gas“ begeben haben, in diese wahnsinnige Sucht. Und sie legt noch mal ganz deutlich die Notwendigkeit offen, dass wir die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft beschleunigen müssen – dreifach, vierfach –, um uns aus diesen fatalen Abhängigkeiten, in die uns frühere Bundesregierungen geführt haben, endlich zu befreien. ({11}) Wir dürfen wirklich auch nicht vergessen, dass alle jetzigen Krisenausgaben auch Ausgaben zur Stärkung der Demokratie sind. Das möchte ich noch mal ausdrücklich betonen, weil ja zu befürchten steht, dass die Person von der Fraktion hier ganz rechtsaußen, die nach mir reden wird, behaupten wird, dass die Energiekrise Resultat von deutschen quasi Wirtschaftskriegserklärungen ist, dass wir nur den USA folgen und ihre Befehle ausführen. An dieser Stelle muss einfach – wie bei allen Maßnahmen, die wir hier zur Krisenbewältigung in Gang setzen – klar sein, dass wir dies tun, weil ein Diktator Europa bedroht und die Ukraine gewaltsam überfallen hat ({12}) und damit gegenüber uns im gesamten Westen tatsächlich eine Art von Bedrohung, Androhung – ich will nicht sagen: Kriegserklärung – ausgesprochen hat. Das darf man bei allem, was vielleicht manchmal auch ein bisschen fehlerhaft oder verspätet läuft, nicht vergessen. Danke schön. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. – Nächster Redner ist der Kollege René Springer, AfD-Fraktion. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Wir debattieren über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung; da geht es um eine Energiepreispauschale von 300 Euro für Rentner, die einmalig gezahlt werden soll. Es ist in diesem Fall durchaus sinnvoll, mal Betroffene zu Wort kommen zu lassen, und deswegen möchte ich aus einem Brief zitieren – einem Brief, den Frau Gruber, Rentnerin aus München, im April an Frank-Walter Steinmeier, den Bundespräsidenten, geschrieben hat. Mich hat sie dabei in Kopie gesetzt. Ich zitiere Frau Gruber: Ich bin zutiefst betroffen und sprachlos darüber, dass wir ganz normalen Rentner jetzt Stromrechnungen akzeptieren müssen, ohne die geringste Chance oder Möglichkeit einer Unterstützung. Seit Jahren schon zahle ich als Mieterin einer Zweiraumwohnung mit 41,5 Quadratmetern monatlich 160 Euro an Strom. Das liegt an den uralten Nachtspeicheröfen. Nun soll ich aufgrund der gestiegenen Preise eine Stromnachforderung akzeptieren von 853 Euro. Alles zusammen muss ich in diesem Jahr allein für Strom 2 293 Euro zahlen. Die Stromnachforderung ist schon seit März 2022 fällig und lässt mich nicht mehr ruhig schlafen. Weil ich mir als fast 80-jährige alleinlebende, nicht mehr gesunde Rentnerin keinen Anwalt leisten kann und mich die Sozialbehörden qua Gesetz nicht unterstützen können oder dürfen, falle ich überall durchs Rost und erkenne: Dieser Staat hat die Relationen verloren und uns Rentner vergessen. ({0}) In der Tat: Frau Gruber hat Recht. Es wurde im Frühjahr von der Bundesregierung und dem Parlament ein Entlastungspaket beschlossen, das 300 Euro Entlastung für Arbeitnehmer vorsah, aber nichts für Rentner, nichts für Frau Gruber, nichts für 20 Millionen in diesem Land, die in Rente sind und das Land aufgebaut haben. Die wurden vergessen. Nicht vergessen hat sich der Minister selbst, der mit seinen Bezügen von 25 000 Euro im Monat auch von der Energiepreispauschale profitiert hat, genauso wie der Kanzler mit seinen 30 000 Euro im Monat. Frau Gruber hat recht: Diese Regierung hat jede Relation verloren. ({1}) Ich möchte noch mal zu dem Brief zurückkommen – denn er geht ja noch weiter –: Der Staat und sämtliche Ämter und Behörden sorgen und bemühen sich ausschließlich nur noch um Flüchtlinge, Hartz-IV-Bezieher, Alleinerziehende, Schulabbrecher oder die Obdachlosen, denen seit vielen Monaten jede erdenkliche Hilfe zuteilwird – ganz zu schweigen von ihren vielen bemerkenswerten Ukrainegeldern. ({2}) Und in der Tat hat die Bundesregierung im Frühjahr auch den sogenannten Rechtskreiswechsel beschlossen. Das heißt, dass Ukrainer, die jetzt nach Deutschland kommen, direkt ins Hartz‑IV-System integriert werden, ({3}) also Anspruch auf Regelleistung haben und – nicht nur das – auch Anspruch auf Erstattung der Miete haben, und zwar jeder Miete. Jede Miete wird als angemessen akzeptiert, auch die 150-Quadratmeter-Wohnung für 2 500 Euro in Charlottenburg. Man kann davon ausgehen, dass eine Person bereits Anspruch auf mindestens 1 200 Euro hat. Demgegenüber stehen dem Statistischen Bundesamt zufolge 5 Millionen Rentner, die monatlich gerade mal 1 000 Euro netto zur Verfügung haben. Sie geben einer Gruppe Geld, Wohnung, alles, was dazugehört – einer Gruppe, die nie einen Cent in unser Sozialsystem eingezahlt hat –, ({4}) und stellen sie besser als Rentner, die dieses Land aufgebaut und eine Lebensleistung erbracht haben. ({5}) Einen größeren Spaltkeil kann man nicht in diese Gesellschaft treiben. ({6}) Wissen Sie, auch wir sind für die Unterstützung von Asylbewerbern aus der Ukraine, ({7}) aber eben im Rahmen des Machbaren und im Rahmen des Üblichen, und das heißt: einen Antrag stellen, Einzelfallprüfung, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und keine Sonderprivilegien. Das kommt mit uns nicht infrage. ({8}) Und was nicht geht, ist, dass Sie jede Miete und sämtliche Heiz- und Betriebskosten von Ukrainern übernehmen. Sämtliche Heiz- und Betriebskosten werden übernommen, während Rentner mit Ihrem Gesetzentwurf mit 300 Euro einmalig abgespeist werden, die auch noch versteuert werden müssen. Das ist alles nur noch lächerlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ehrlich gesagt erinnert mich das an Annalena Baerbock, die sagte: Ich stehe an der Seite der Ukraine, egal was meine deutschen Wähler denken. – Herr Heil, wenn Ihnen die Ukrainer wichtiger sind als die deutschen Rentner, ({0}) dann kann ich Ihnen eins nahelegen:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Treten Sie zurück! Gehen Sie in die Ukraine und lassen sich die 25 000 Euro –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– dort von den Steuerzahlern zahlen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Schulz, FDP-Fraktion. ({0})

Anja Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005216, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Frühsommer haben mich tatsächlich viele Nachrichten von Rentnerinnen und Rentnern erreicht mit der Frage, ob wir sie beim Entlastungspaket vergessen haben. Meine Antwort lautete immer: „Nein, das haben wir nicht“; ({0}) denn es gab eine Reihe von Entlastungen, die jedem zugutekamen, der sich in irgendeiner Weise motorisiert fortbewegt hat, der Stromrechnungen zu begleichen hatte und der Einkommensteuer zahlen muss. Man wird sehr lange suchen müssen, um jemanden zu finden, der nicht in irgendeiner Form von unseren Entlastungspaketen profitiert hat. Und genau dafür wurden sie auch konzipiert. ({1}) Trotzdem war die Energiepreispauschale omnipräsent; die anderen Maßnahmen sind in ihrem Schatten regelrecht verblasst. Auch die höchste Rentenerhöhung seit Jahrzehnten war da schnell vergessen. ({2}) Es standen immer nur die 300 Euro im Raum und die Frage, wer sie bekommt und wer nicht. Das kann ich auch niemandem verdenken; denn das Maßnahmenpaket war sehr groß und auch sehr kleinteilig. ({3}) An die Kollegen rechts von mir: ({4}) Es ist gerade jetzt wichtig, Einheit zu demonstrieren, anstatt den Nährboden für Neid und Missgunst zu schaffen. ({5}) Inzwischen wissen wir, dass nicht nur berufsbezogene Ausgaben schwer zu stemmen sind, auch die Erhöhungen der Energiekosten sind für Bezieher durchschnittlicher Einkommen teilweise unzumutbar geworden. Daher ist es richtig, dass wir jetzt auch Rentnerinnen und Rentnern sowie Versorgungsbeziehenden eine Energiepreispauschale zukommen lassen. Die 300 Euro sind ein passendes und notwendiges Mittel, um den Menschen die nächste Abschlagszahlung ein wenig leichter zu machen. Uns allen ist aber bewusst, dass das nicht reicht. Darum haben wir es auch nicht bei diesen Maßnahmen belassen. Rückwirkend für das Jahr 2022 wurde beispielsweise der Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer angehoben. 2023 und 2024 geht das Ganze weiter, und wir landen bei fast 11 000 Euro. ({6}) Durch die Abschaffung der kalten Progression passen wir die Eckwerte für die Einkommensteuer ebenfalls an. Entgegen vielen Behauptungen entlastet das nicht nur die Besserverdiener, sondern ebenso Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen; denn in Relation zu ihrer Steuerlast profitieren sie am meisten von der Anpassung. ({7}) Seit Jahren sinkt die Anzahl der Menschen mit mittleren Einkommen. Die kalte Progression war mit schuld daran, dass Einkommensteuerzahler trotz einer Lohnerhöhung im Zusammenspiel mit der Inflation real weniger im Geldbeutel hatten. Umso wichtiger ist es, dass wir das Ganze jetzt abschaffen und die Diskussion in der Zukunft nicht mehr fortführen müssen. Ich will betonen, dass die Abschaffung der kalten Progression nicht nur im Kontext der Entlastungspakete gesehen werden darf, sondern dies die Abschaffung einer Ungerechtigkeit ist, die wir lange hatten. Außergewöhnliche Zeiten erfordern aber mehr Maßnahmen als nur steuerliche Entlastungen. Mit den drei Entlastungspaketen mit einem Volumen von knapp 90 Milliarden Euro haben wir gezeigt, dass wir bereit dazu sind. All das war notwendig. Dennoch weise ich noch mal darauf hin, dass die einfachste Lösung, um die Bevölkerung zu entlasten, bereits seit Jahrzehnten existiert; der Grundgedanke muss nicht erst von Experten in irgendeiner Form ermittelt werden, sondern ist so simpel wie logisch: Wenn wir den Leuten weniger wegnehmen, dann haben sie auch mehr zur freien Verfügung, ({8}) und dann müssen wir nicht in Robin-Hood-Manier Gelder in irgendeiner Form wieder umverteilen. Lassen wir den Menschen also mehr Netto vom Brutto. Eine Maßnahme, die diesem Grundgedanken entspricht, verabschieden wir ebenfalls mit diesem Paket, indem wir nämlich die Midijob-Grenze – für die Beschäftigung im Übergangsbereich – ab Januar auf 2 000 Euro anheben. ({9}) In diesem Übergangsbereich zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verminderte Sozialversicherungsbeiträge. ({10}) Das ist sinnvoll; denn steuerliche Entlastungen kommen gerade den Beschäftigten in diesem Bereich zugute. Es wurde schon von 1,3 Milliarden Euro Entlastung in diesem Bereich gesprochen. Ich will natürlich nicht unter den Tisch fallen lassen, dass diese 1,3 Milliarden Euro auch von irgendjemandem bezahlt werden müssen. ({11}) In diesem Übergangsbereich ist es so, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich die Kosten nicht paritätisch teilen, sondern die Anteile je nach Höhe des Gehalts variieren. Je näher jemand an der Minijob-Grenze ist, desto höher ist der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge für den Arbeitgeber. Das soll ab 2023 dann auf 2 000 Euro ausgeweitet werden. Diese Entlastung zahlen am Ende also die Arbeitgeber. Auch die stehen gerade nicht in einer Blütezeit. Die Möglichkeiten für weitere Anpassungen nach oben sind daher sehr ausgereizt. Wir sollten uns stattdessen mit der Frage beschäftigen, warum unsere Sozialversicherungsbeiträge überhaupt so hoch sind und warum sie kontinuierlich ansteigen. Lassen Sie uns das Problem also an der Wurzel packen und die Symptome bekämpfen. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz. – Und nun der Kollege Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Minister Hubertus Heil! Ich hoffe, wir sind uns einig: Niemand soll Angst haben müssen, im Winter im Kalten oder im Dunkeln zu sitzen. ({0}) Leider ist die Realität eine andere. Derzeit müssen beispielsweise 7,7 Millionen Altersrentnerinnen und Altersrentner von weniger als 1 250 Euro netto Gesamteinkommen im Monat leben. Das sind 44 Prozent, die aktuell unter der EU-Armutsschwelle liegen. Werte Kolleginnen und Kollegen der Ampel, bekämpfen Sie endlich wirksam die Altersarmut! ({1}) Derzeit explodieren die Lebensmittelpreise, und die Energiepreise gehen durch die Decke. Und was tun Sie für diese älteren Menschen, die viel zu wenig Geld im Portemonnaie haben? Ab Januar 2023 sollen die Allerärmsten gerade einmal 53 Euro mehr Grundsicherung im Alter – also Rentner-Hartz‑IV – erhalten. Das reicht vorne und hinten nicht. Und die 290 000 Rentnerhaushalte, die Wohngeld beziehen, erhalten einen Heizkostenzuschuss von 415 Euro, einmalig. Und ebenfalls einmalig wird es im Dezember 2022 für alle Rentnerinnen und Rentner endlich eine Energiepreispauschale von 300 Euro geben, die meistens automatisch überwiesen werden wird. Das ist gut so. Jeder Euro hilft. Das hatten wir Linken schon im Sommer gefordert. ({2}) Aber: Das kommt alles viel zu spät. Das hat alles mit den realen Kostensteigerungen nichts zu tun, und es ist willkürlich. Statt 53 Euro mehr müssten es mindestens 200 Euro mehr sein. ({3}) Liebe Koalition, so geht es nicht. Es geht auch anders: In Österreich erhalten männliche Rentner schon heute eine um 1 166 Euro höhere Durchschnittsrente als hiesige Rentner. Und Rentnerinnen bekommen immerhin 353 Euro mehr, jeden Monat. Und dort, in Österreich, wird die Inflation per Gesetz komplett ausgeglichen, und oft gibt es noch etwas obendrauf. In Österreich wird die Rente im kommenden Jahr für hohe Renten um 5,8 Prozent angehoben. Für mittlere Renten gibt es 8,5 Prozent mehr, und die Mindestrente wird sogar um 10 Prozent erhöht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, nehmen Sie sich ein Beispiel an Österreich! ({4}) Auch hierzulande ist es Zeit für eine außerordentliche, einmalige Rentenerhöhung um 10 Prozent. Dann wäre das Rentenniveau endlich wieder bei lebensstandardsichernden 53 Prozent. Das würde Beschäftigte mit einem Durchschnittslohn von 3 242 Euro und ihre Chefs jeweils gerade einmal knapp 36 Euro mehr an Rentenbeitrag kosten. Außerdem, meine Damen und Herren, brauchen wir jetzt eine Gas- und Strompreisbremse; denn sonst werden alle Ihre Einmalzahlungen und Rentenerhöhungen gnadenlos verpuffen. Damit niemand im Winter frieren muss, brauchen wir die Umverteilung von oben nach unten. Darum fordere ich Sie auf: Beteiligen Sie endlich die Superreichen und die Krisenprofiteure und ‑profiteurinnen an den Kosten. Ich danke Ihnen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Tanja Machalet, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Tanja Machalet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Birkwald, wir werden ja demnächst Gelegenheit haben, über die Frage des Rentenniveaus und andere Dinge zu sprechen. Mit Blick auf die Frage, die der Kollege Rosemann eben dem Kollegen Straubinger gestellt hat, möchte ich aber schon jetzt konstatierend festhalten: Die CDU/CSU hat keine Haltung zum Renteneintrittsalter; ({0}) die CDU/CSU hat auch keine Haltung zum Rentenniveau. – Das noch mal fürs Protokoll. ({1}) Wenn ich das letzte Jahr Revue passieren lasse – wir sind ja jetzt alle sozusagen ein Jahr im neuen Bundestag –, dann muss ich sagen: Ich hätte mir vor einem Jahr noch nicht vorstellen können, heute hier zu stehen und zu diesem Thema zu sprechen. Denn vor einem Jahr haben wir alle gedacht: Wir machen Corona zu Ende und können dann die großen Themen, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, auf den Weg bringen. ({2}) Dann kam der 24. Februar 2022 und verschob die Dimensionen in diesem Land. Uns war damals schon klar, dass es jetzt darum geht, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu sichern und Härten, die damit verbunden sind, abzufedern. Seitdem haben wir als Ampel viele notwendige Entlastungen auf den Weg gebracht und umgesetzt. Man muss, glaube ich, noch mal in Erinnerung rufen, was das alles war. Ich mache jetzt keine vollständige Liste, aber nenne den Heizkostenzuschuss, die 300 Euro Energiepreispauschale für die Beschäftigten, die Erhöhung des Grundfreibetrages rückwirkend zum 1. Januar – vielleicht lohnt sich da ein Blick auf die Gehaltsabrechnungen vom Juli und vom September; mein Eindruck ist, dass in den Köpfen nicht hängen geblieben ist, dass diese 300 Euro schon kamen –, die Erhöhung des Kindergeldes, das 9‑Euro-Ticket und, und, und, nicht zuletzt auch die Erhöhung des Mindestlohns, die jetzt zum 1. Oktober in Kraft getreten ist, ({3}) die höchste Rentenerhöhung seit 40 Jahren im Westen, die zum 1. Juli in Kraft getreten ist, usw. Wir sind jetzt bei der Umsetzung des dritten Entlastungspakets mit einem Gesamtvolumen von 65 Milliarden Euro, darin ist auch endlich eine Energiepreispauschale für die Rentnerinnen und Rentner enthalten. ({4}) Ich halte das auch für eine Frage der Gerechtigkeit. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sie durchaus früher auf den Weg gebracht. ({5}) Man muss festhalten: Wir nehmen für die Energiepreispauschale für die Rentnerinnen und Rentner 6 Milliarden Euro in die Hand. Ich denke dabei, lieber Kollege Birkwald, auch an die kleine Rentnerin, die im Einfamilienhaus bei mir um die Ecke wohnt, die sich Sorgen darüber macht, ob sie an Weihnachten ihr Haus heizen kann. Genau das ist unser Punkt. Wir wollen die Energiepreispauschale im Dezember auszahlen, unbürokratisch, das ist uns sehr wichtig, und pfändungsfrei, also ohne Verrechnung mit Sozialleistungen oder dem Grundrentenzuschlag. Man kann uns natürlich dafür kritisieren, dass wir das pauschal machen, dass jeder die 300 Euro bekommt. Aber ganz ehrlich, lieber Herr Straubinger, wenn Sie sagen, Sie bekommen das zweimal, sage ich Ihnen: Es steht Ihnen völlig frei, es genau so zu machen, wie es die vielen Bürgerinnen und Bürger in diesem Land tun, die sagen: Es ist schön, dass ich diese 300 Euro bekomme. Ich brauche sie aber nicht. Ich spende sie an die Tafel oder an eine andere gemeinnützige Einrichtung. ({6}) Das steht Ihnen völlig frei. Ich halte das für eine gute Haltung derjenigen, die nicht so stark betroffen sind. Aber es steht, wie gesagt, jedem frei. ({7}) Ich freue mich jedenfalls auf die Beratung am Montag, in der Anhörung, und die Beratung in der nächsten Woche. Beschließen wir das zügig, und setzen wir es schnell um. Für diesen Moment herzlichen Dank. Wir sehen uns nächste Woche zum gleichen Thema wieder. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stefan Nacke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Nacke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vermischt die Ampel Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Sie betreiben mit der einmaligen Energiepreispauschale für Rentnerinnen und Rentner Krisenpolitik, mit der Anhebung der Midijobgrenze Ordnungspolitik, die unabsehbare Konsequenzen hat. Es ist nicht schwer, zu erkennen, was hinter dieser unlogischen Verquickung von Krisen- und Ordnungspolitik steht: Sie wollen, dass das eine Thema in der öffentlichen Diskussion das andere überlagert. Sie schieben der populären Energiepreispauschale ihre Midijobreform einfach unter und versuchen, unseren Sozialstaat unbemerkt umzubauen. ({0}) Aber schauen wir uns die Energiepreispauschale erst mal genauer an. Um es gleich vorweg zu sagen: Wir sind froh, dass die Rentnerinnen und Versorgungsempfänger endlich auch zu ihrem Recht kommen. Die Union hat das schon im Frühjahr des Jahres gefordert. ({1}) Damals wollte die Ampel sich die 6,4 Milliarden Euro sparen und hat deshalb nur den einkommensteuerpflichtigen Erwerbstätigen eine Pauschale gewährt. Jetzt wird zu prüfen sein, ob wirklich alle Rentner mit dieser Pauschale erreicht werden – Stichwort: Bundesversorgungsgesetz, gesetzliche Unfallversicherung, berufsständische Versorgungswerke, Renten aus privaten Verträgen. Ich habe im Mai auf meine drei schriftlichen Fragen an die Ampelregierung, warum die Rentnerinnen und Rentner die Pauschale nicht bekommen, dreimal die gleiche Antwort erhalten – Zitat –: Mit der Energiepreispauschale sollten nur diejenigen begünstigt werden, denen typischerweise Fahrtkosten im Zusammenhang mit ihrer Erwerbstätigkeit entstehen. Die Pauschale sei ein Ausgleich für gestiegene Wegeaufwendungen. ({2}) Dafür haben Sie damals, zu Recht, viel Kritik einstecken müssen. Nun versuchen Sie, diesen Fehler zu beheben, allerdings mit einer völlig anderen Begründung. Jetzt sagen Sie in der Gesetzesbegründung nicht mehr, die Fahrtkosten seien ausschlaggebend, sondern die hohen Lebenshaltungskosten der Bürgerinnen und Bürger aufgrund der – Zitat – „anhaltend steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreise“. ({3}) Da frage ich mich: Warum bekommen angesichts dieser Begründung denn nur die Rentner und nicht alle in der Bevölkerung erneut die Pauschale? ({4}) In meinen Augen ist gute Politik immer auch eine Frage des richtigen Timings. Das hat die Ampel leider nicht. Während die Menschen sich fragen, wie sie über den Winter kommen sollen, streiten sich Herr Lindner und Herr Habeck öffentlich und präsentieren uns über Wochen völlig widersprüchliche Vorschläge. Ja, wie denn nun: die Preise mit einem Gaspreisdeckel senken oder die Preise mit einer Gasumlage erhöhen? Und was macht Kanzler Scholz? Nach der Bazooka holt er nun zum 200-Milliarden-Euro-Doppel-Wumms aus. Mit heißer Nadel gestrickt, wird eine Kommission eingesetzt, die ein tragfähiges Konzept ausarbeiten soll. Sie hätte aber nicht erst Ende September berufen werden dürfen. Ihr schlechtes politisches Timing ist schuld daran, dass jetzt nur noch das Prinzip Gießkanne – davon war ja schon die Rede – möglich ist. ({5}) Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit, wer die Leidtragenden Ihrer unausgewogenen Politik sein werden: unsere Kinder; denn die werden das bezahlen müssen, und das ist nicht generationengerecht. ({6}) Nun zum zweiten Teil Ihres ebenfalls mit heißer Nadel gestrickten Gesetzentwurfs, der Anhebung der Midijobgrenze von 1 600 auf 2 000 Euro. Sie wollen die Beschäftigten um rund 1,3 Milliarden Euro entlasten, aber durch unlautere Geschäfte zulasten Dritter. Denn Sie nehmen 800 Millionen Euro aus den Kassen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung und erhöhen einseitig die Arbeitgeberbeiträge um 500 Millionen Euro. Damit verteilen Sie Geld, das Ihnen nicht gehört. ({7}) Oberflächlich betrachtet klingen Beitragsentlastungen für Beschäftigte erst einmal gut. Wenn wir genauer hinschauen, ist es aber nicht so, dass die geringeren Rentenversicherungsbeiträge auch zu geringeren Renten führen. Es entsteht also eine Finanzierungslücke. Das Äquivalenzprinzip, also die Grundlage der Rente – Versicherungs- und nicht Sozialleistung –, wird durch diese Anhebung weiter ausgehöhlt. Die Differenz muss die Solidargemeinschaft der Beitragszahler tragen. In sowieso schwierigen Zeiten die Rentenversicherung weiter zu schwächen, ist verantwortungslos. ({8}) Ich habe den Eindruck, dass Sie symbolpolitisch eine Gleichzeitigkeit herstellen wollen. Auf der einen Seite wollen Sie Ihr Manko aus dem Frühjahr ausgleichen, indem Sie den Rentnerinnen und Versorgungsempfängern die Energiepreispauschale zugestehen, die Sie ihnen bisher mit fadenscheinigen Argumenten vorenthalten haben. Auf der anderen Seite tun Sie so, als ob Sie sich um die arbeitende Bevölkerung bemühen, verändern aber nachhaltig die Anreizstrukturen in Richtung mehr Teilzeitarbeit, obwohl wir doch das Gegenteil brauchen, nämlich viel mehr Menschen in Vollzeitverträgen. ({9}) Gute Politik wäre, den Menschen klar zu sagen: Es war ungerecht, die Rentnerinnen und Rentner im Frühjahr von der Energiepreispauschale auszuschließen; diesen Fehler beheben wir jetzt. – Dafür hätten Sie von uns Lob bekommen. So wirkt das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorhaben, nicht wie gute Politik, sondern einfach nur wie Politik nach Gutsherrenart. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nacke. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Gerdes, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Minister Heil! Nachdem wir uns heute so oft anhören mussten, was die Ampel alles nicht gemacht hat, ({0}) möchte ich Sie noch einmal kurz daran erinnern, dass wir erst vor vier Monaten, im Juni, eine der größten Rentenerhöhungen der letzten Jahrzehnte beschlossen haben. Wir haben – das darf man nicht vergessen – im Westen und im Osten die Rentnerinnen und Rentner gestärkt; das war richtig. ({1}) – Hören Sie erst mal zu! – Was sonst noch passiert ist bzw. was passieren wird – die Lage ändert sich täglich –, ist von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gerade umfangreich ausgeführt worden. Ich denke, wir werden hier noch viel Gelegenheit haben, uns mit der aktuellen Politik auseinanderzusetzen. Aktuell werden wir jetzt die Rentnerinnen und Rentner und auch die Versorgungsempfängerinnen und ‑empfänger des Bundes im Dezember mit einer Energiepreispauschale von 300 Euro unterstützen; das, meine Damen und Herren, ist richtig. Darüber hinaus erweitern wir die Verdienstgrenze für Midijobberinnen und ‑jobber von 1 600 auf 2 000 Euro; auch das hilft, meine Damen und Herren. Insgesamt nimmt der Bund dafür 6,4 Milliarden Euro in die Hand – gut so! ({2}) Angesichts der angespannten Situation möchte ich Sie auf die Beobachtung vieler Tafeln und Sozialberatungsstellen verweisen; dort melden sich immer mehr Menschen, aus allen sozialen Schichten, verstärkt Rentnerinnen und Rentner, aber auch Menschen, die knapp über dem Existenzminimum stehen. Diese Personen brauchen zügig einen Zuschuss, und zwar unabhängig davon, ob sie Anspruch auf eine Alters-, Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrente haben. Nun noch ein Wort zum Renteneintrittsalter, weil es vorhin angesprochen wurde: Die Rente mit 67 hat nicht dazu geführt, dass Menschen ihr 67. Lebensjahr im Erwerbsleben erreichen, sondern dazu, dass viele Menschen mit Abschlag vorzeitig in den Ruhestand gingen und heute in der Situation sind, dass sie mit den in ihrem Erwerbsleben eingezahlten Beiträgen nicht dafür sorgen konnten, dass sie heute altersgerecht leben können. ({3}) Deshalb haben wir für diese Gruppe auch keine Unterscheidung vorgenommen. Alle bekommen mit dem dritten Entlastungspaket diese 300 Euro ausgezahlt, und zwar unbürokratisch und ohne einen Antrag stellen zu müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, allen, die jetzt sagen: „Es reicht nicht“, antworte ich: „Stimmt.“ – Natürlich werden wir als Ampel auch weiter reagieren, wenn wir merken, dass es zu sehr knirscht. Das ist doch ganz klar. Und allen, die jetzt sagen: „Da wird mir aber viel zu viel mit der Gießkanne verteilt“, kann ich beruhigt sagen: „Die 300 Euro sind sozialversicherungsfrei, aber nicht steuerfrei, insoweit profitieren Bezieher niedriger Renten natürlich auch mehr als Bezieher üppiger Pensionen.“ Das ist klar. Meine Damen und Herren, wir lassen die Rentnerinnen und Rentner in dieser Krise nicht im Stich, und diejenigen, die wenig verdienen, auch nicht. Das ist die Botschaft, die uns in den nächsten Monaten trägt; davon bin ich fest überzeugt. Den sozialen Zusammenhalt geben wir nicht auf. Deshalb: Wir reden hier nicht von einem „Schlechtes-Gewissen-Gesetz“, Herr Straubinger, wir haben ein gutes Gewissen. In diesem Sinne: Glück auf! Danke schön. ({4})

Martina Englhardt-Kopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst gestern hatten wir im Verkehrsausschuss eine öffentliche Anhörung zur geplanten Erhöhung der Lkw-Maut. Sowohl Logistikverbände als auch Unternehmerinnen und Unternehmer haben die aktuelle Situation in der Praxis geschildert. Kurzum: Ihnen steht das Wasser bis zum Hals. Sie können keine weiteren Belastungen mehr gebrauchen. Die Kosten für Kraftstoffe sind explodiert; ebenfalls schwierig sind die Preissteigerungen bei AdBlue. Zu Recht gibt es vonseiten der Beschäftigten Lohnforderungen; die Lohn-Preis-Spirale setzt ein. Für Unternehmer, die auf LNG umgerüstet haben, sieht es ganz düster aus. Im Gegensatz zu Dieselfahrzeugen können hier die Kostensteigerungen auf ebenfalls 600 bis 800 Prozent mehr nicht weitergegeben werden. Sie stehen vor großen Verlusten, einige kurz vor der Insolvenz, und die Fahrzeuge stehen auf den Betriebshöfen. ({0}) Unternehmerinnen und Unternehmer, Verbände, aber auch wir als Unionsfraktion weisen seit Beginn des Jahres auf die katastrophalen Auswirkungen der Preisexplosion beim LNG hin, aber auch auf die Energiekrise, auf die gestiegenen Dieselkosten. ({1}) Die Bundesregierung wurde immer wieder zum Handeln aufgefordert. Es gab zahlreiche Anträge. Was ist passiert? Nichts. Es passiert nichts. Es gibt Hilferufe. Es gibt Gespräche in Ministerien. Es gibt runde Tische. Es gibt Aufforderungen von unserer Seite. Das zieht sich durch Ihre Regierung: Es passiert einfach nichts. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere den Mittelstand noch einmal herausstellen: Den Menschen, den Betrieben, den Unternehmen steht das Wasser bis zum Hals. ({2}) Um es am Beispiel von LNG noch einmal ganz klar zu sagen: Das sind Unternehmerinnen und Unternehmer, die bewusst auf klimafreundlichere Technologien gesetzt haben, die investiert haben. ({3}) Das hat etwas mit Vertrauensschutz zu tun. Aber auch mit Vertrauensschutz ist es bei dieser Bundesregierung nicht weit her. Ich erinnere mich sehr gut an den Schlamassel bei den KfW-Förderprogrammen. So zerstören Sie Vertrauen in die Politik, in unser demokratisches System. ({4}) Daher unser Appell bei den Entlastungspaketen: Schaffen Sie endlich auch einen LNG-Rettungsschirm für die Logistikbranche. Lassen Sie nicht zu, dass diese Unternehmerinnen und Unternehmer jetzt in die Insolvenz gehen. Die Sachverständigen aus der Güterkraftverkehrsbranche waren sich gestern bei der öffentlichen Anhörung auch einig: Die geplante Mauterhöhung ab dem kommenden Jahr kommt zur absoluten Unzeit – ich habe einige Probleme aufgezeigt: drohende Rezession, Krise –; zur jetzigen Zeit ist das ein völlig falsches Signal. Sie treiben damit nicht nur die Inflation an. Diese Erhöhung entfaltet auch keine Lenkungswirkung. Die Kosten werden einfach an Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben, oder aber die Unternehmen, die sowieso schon gebeutelt sind, bleiben auf ihnen sitzen. Dabei wäre es sogar möglich, die Maut zum Jahresbeginn zu senken und beispielsweise nur die Infrastrukturkosten herauszugreifen. So könnten wir sogar entlasten und in einem größeren Schritt gegen Ende des Jahres ein Gesamtpaket vorlegen, die geplante CO2-Differenzierung mit einbeziehen und hier auch für Entlastungen sorgen. ({5}) Deshalb mein dringender Appell: Verschieben Sie diese Mauterhöhung, und legen Sie gegen Ende des Jahres einen vernünftigen Vorschlag vor. Ein weiterer Punkt ist der Finanzierungskreislauf Straße. Auch der soll aufgeweicht werden. Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag. Das ist ein weiterer Schlag in das Gesicht der Brummifahrer, der Logistik- und der Güterverkehrsunternehmer. Deshalb ganz dringend: Unterstützen Sie unseren Antrag. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Unternehmerinnen und Unternehmern einen Schritt aus der Krise machen; denn sie sind systemrelevant für uns, für unser ganzes Land. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Engelhardt-Kopf. – Nächster Redner ist der Kollege Udo Schiefner, SPD-Fraktion. ({0})

Udo Schiefner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004397, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Güterverkehrs- und Logistikbranche aus der Krise führen“ – selbstverständlich ist das ein Thema. Ich würde sogar gerne jede Woche über dieses Thema diskutieren, weil man natürlich Antworten braucht. Als Wirtschaftsfaktor und als Arbeitsplatz haben gerade Transport und Logistik enorme Relevanz. Das wissen wir. Logistikketten hängen davon ab. Ich begrüße sehr, wenn wir uns mehrmals täglich bewusst machen, was es heißt, wenn Unternehmen Logistikketten nicht mehr aufrechterhalten können. Ich begrüße, dass die tatsächlichen Belastungen der kleinen und mittelständischen Unternehmer und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlich diskutiert werden, dass wir nach Lösungen suchen. Schon vor der Pandemie, vor Krieg und Energiekrise hatten wir eine Situation, die die Betriebe stark belastete und die die Betriebe teilweise nicht mehr stemmen konnten. Da brauchen wir Lösungen; das sage ich auch durchaus aus Sicht der Sozialdemokratie. Aber Lösungen – Frau Kollegin, Sie haben die Probleme eben angesprochen – stehen in Ihrem vorliegenden Antrag nicht. Ich habe Ihre Worte vernommen, und man kann darüber diskutieren. Aber Ihr Antrag, der übrigens erst am späten Dienstagabend trotz der Bedeutung dieses Themas eingegangen ist, zeigt wenig Substanz; vielmehr wurden hier die einzelnen Punkte noch einmal schön aufgeführt – das muss ich anerkennen –; aber er enthält keine Lösungsansätze. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Arbeit im Ausschuss, die wir fraktionsübergreifend verabredet haben, fortsetzen. Wir werden mit den Verbänden und den Betroffenen reden und Lösungen erarbeiten. Ich lade Sie ein, in den nächsten Wochen gemeinsam mit den Fraktionen der Koalition zu arbeiten. ({0}) Sie fordern beispielsweise die beschleunigte Instandsetzung der Verkehrsinfrastruktur, den Bau von Lkw-Parkplätzen, von Autohöfen und die Umsetzung des Bundesverkehrswegeplanes. Nichts anderes steht in unserem Koalitionsvertrag. Vielen Dank für Ihre Zustimmung, auch wenn Sie diesen Koalitionsvertrag nicht unterschreiben konnten, meine Damen und Herren der Union. ({1}) Sie wollen einen runden Tisch im Bundesministerium zum Fahrermangel. Runde Tische sind immer gut. ({2}) Sie müssen aber doch bitte schön auch zur Kenntnis nehmen, dass dort ein Gipfel – mehr als ein Verbändetreffen – stattgefunden hat mit vielen Vertretern zu diesem Thema. ({3}) Ich bin mir sicher: Das Ministerium wird darauf aufbauen und die Themen aufnehmen. Wir werden schon in 2023 – davon bin ich überzeugt – gemeinsam mit den Betroffenen Maßnahmen einleiten, die zeigen, wie wichtig uns eine zukunftsfähige Logistikbranche ist, mit guten sozialen Bedingungen, guter Bezahlung für Fahrerinnen und Fahrer. Nur so werden wir unsere Logistikketten auf Dauer erhalten können. Wir wissen: Die Unternehmen brauchen unsere Unterstützung, und auch die Fahrerinnen und Fahrer brauchen unsere Unterstützung. ({4}) Daran werden wir gerne mit Ihnen gemeinsam arbeiten, so wie wir es auch bisher gemacht haben. Ihr Antrag wird Gegenstand weiterer Beratungen sein; er kann auch eine gute Grundlage mit vielen Schlagworten sein. Nur: Der Knochen alleine reicht nicht. Satt wird man nur, wenn an diesem Knochen letztlich auch Fleisch ist. Das ist – sinnbildlich – unsere Aufgabe: für die Logistikbranche und die dort beschäftigten Menschen aktiv zu werden. Im Übrigen durfte ich – dies als letzter Satz, weil Sie die neuen Koalitionäre so anprangern – viele Jahre auch mit Ihnen in einer Koalition zusammenarbeiten. ({5}) Ich muss ehrlich sagen: An vielen Stellen haben wir zusammen viel erreicht. ({6}) Aber ich sage auch, dass ich froh bin, dass wir in dieser Koalition mit mehr Herzblut für die Logistik arbeiten, ({7}) als es unter der alten Leitung des Ministeriums der Fall war. ({8}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schiefner. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege René Bochmann, AfD-Fraktion. ({0})

René Bochmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005026, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Landsleute auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Zur Beratung steht der Antrag von CDU/CSU „Güterverkehrs- und Logistikbranche aus der Krise führen“, wobei die CDU/CSU zwölf Jahre Zeit gehabt hätte, die komplette Verkehrsinfrastruktur für solche Situationen vorzubereiten. ({0}) Hätten die damaligen Regierungsverantwortlichen Teile dieser Wirtschaftsbereiche konsequent unterhalten, erneuert und ausgebaut, könnten wir uns in dieser Krise jetzt auf die für uns lebenswichtigen Transportwege verlassen. Haben Ihre Minister Ramsauer, Schmidt, Dobrindt und Scheuer ({1}) die Signale aus der Wirtschaft bewusst nicht ernst genommen oder fahrlässig ignoriert? Dabei erinnere ich auch an die 100 Millionen Euro, welche dem Steuerzahler durch das Pkw-Maut-Desaster verloren gingen. Genau dies ist Ihr Vermächtnis. Der Ukrainekrieg verbunden mit den Russland-Sanktionen verstärkt diesen katastrophalen Zustand jetzt um ein Vielfaches. Nicht nur der Gaspreis, sondern auch die Preise anderer Rohstoffe explodieren schlagartig und treiben nun Reparatur- und Baukosten in die Höhe. Die daraus resultierende Inflation führt neben zahlreichen Unternehmen in fast jeder Branche auch viele noch gutbürgerliche Haushalte damit zwangsläufig in Existenznot. Sehr geehrte Kollegen, noch einmal zur Erinnerung: Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur sind das Skelett eines jeden Staates und stellen damit alle Lebensbereiche sicher. ({2}) Straße, Schiene, Wasser und Luft: Es fehlt an Berufskraftfahrern, an Lokführern, an Personal in der See- und Binnenschifffahrt, in der Flugabfertigung, und das nicht erst seit Beginn des Ukrainekrieges, sondern bereits seit Ihrer letzten Amtszeit in Regierungsverantwortung, liebe Kollegen der CDU/CSU. ({3}) Denn auch vor der Coronapandemie und vor dem Ukrainekrieg lagen bereits zahlreiche Schiffe vor Helgoland und warteten wochenlang auf ihre Abfertigung in deutschen Seehäfen, gab es marode Schleusen in der Binnenschifffahrt, beschäftigte uns die Elbvertiefung, die ständig Probleme mit nachrutschendem Schlick verursacht, und es gab bereits Tausende dringend reparaturbedürftige Straßenbrücken. Auf diese bisherige Problemanalyse folgen nun unsere Lösungsvorschläge: Erstens: Alle Russland-Sanktionen sofort beenden. Zweitens: Bisher vertraglich vereinbarte Gas- und Öllieferungen aus Russland wieder nutzen. ({4}) Drittens – lassen Sie mich bitte ausreden –: Alle derzeit noch zur Verfügung stehenden reaktivierbaren Kern- und Kohlekraftwerke zur Energiesicherung einbinden. Viertens: CO2-Abgabe komplett abschaffen. Fünftens: Keine Maut-Erhöhung in der Krisensituation. Sechstens: Planungsverfahren zur Sanierung und zum Neubau von Verkehrsinfrastruktur beschleunigen, um den Wirtschaftsstandort auch unseren Transport- und Logistikunternehmen zu sichern. Siebtens: Förderung der dringend benötigten Ausbildungsberufe Kraftfahrer, Hochsee- und Binnenschiffer sowie Lager- und Logistikfachkräfte. Achtens: Mehrwertsteuer zur Entlastung der Bürger langfristig auf 7 Prozent senken. Sehr geehrte Kollegen, ich fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, unsere Bürger und den noch sicheren Wirtschaftsstandort Deutschland vor drohendem Schaden zu bewahren, indem Sie diesem Antrag ebenfalls zustimmen. Sie alle haben es in der Hand und müssen es nur wollen. Wir stimmen diesem Antrag zu. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bochmann. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Matthias Gastel, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es geht um die Krise in der Logistik. Und ja, natürlich gibt es diese Krise. Mit Blick in den Koalitionsvertrag der Ampel, aber auch mit Blick auf das, was wir bereits begonnen haben umzusetzen, kann ich sagen und feststellen: Wir reagieren auf die Krise. ({0}) Zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion sage ich: Sie verengen wieder einmal eine Thematik ganz massiv. Es gibt bei Ihnen zum Beispiel offensichtlich keine Klimakrise; die taucht hier überhaupt nicht auf. ({1}) Das sind massive Herausforderungen, denen wir uns hier stellen müssen. Sie sind total Lkw-fixiert unterwegs. Der Lkw hat im Bereich des Güterverkehrs einen Anteil von 74 Prozent; niemand kann, niemand will ihn ausblenden. Aber es gibt auch noch andere Transportmittel, beispielsweise die Bahn, die nicht leistungsfähig genug ist, die Lieferketten stärker zu unterstützen, was auch damit zu tun hat, dass Sie das System Schiene über viele Jahre schlicht und ergreifend kaputtgespart haben. ({2}) Sie sind dafür mitverantwortlich, dass so viel über die Straße transportiert werden muss und zu wenig über die Schiene gehen kann, weil dort die notwendige Leistungsfähigkeit nicht vorhanden ist und dementsprechend Zuverlässigkeit nicht möglich ist. ({3}) Und wenn Sie aus der Unionsfraktion jetzt hier dazwischenrufen, dann nenne ich Ihnen drei Namen: Ramsauer, Dobrindt und Scheuer. Ich an Ihrer Stelle, wenn ich in Ihrer Fraktion wäre, würde mich bei jeder Verkehrsdiskussion im Bundestag – nach alldem, was Sie an notwendigen Entscheidungen versäumt haben – in den tiefsten Löchern des Reichstagsgebäudes verkriechen, ({4}) anstatt mit solchen Anträgen zu kommen. ({5}) Wir diskutieren hier Versäumnisse, die Sie mit drei CSU-Verkehrsministern zu verantworten haben. Das war einfach zu viel für das System Straße – denken Sie an die Brücken, die bröckeln –, für das System Schiene, das nicht leistungsfähig genug ist. ({6}) – Und jetzt rufen Sie auch noch dazwischen, wenn ich darauf hinweise. ({7}) In Ihrem Antrag fordern Sie, am Bundesverkehrswegeplan festzuhalten. Was Sie leider völlig versäumen und ignorieren, ist, dass Sie damals, vor Jahren, als er aufgestellt wurde, einfach eine Auflistung von gewünschten Projekten gemacht haben. ({8}) Sie haben nicht priorisiert. Sie haben nicht finanziert. Sie haben nicht gesagt, in welcher Reihenfolge mit welchen Planungskapazitäten was funktionieren soll. ({9}) Sie haben weder Umweltziele noch die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene verfolgt. Damit haben wir jetzt zu tun. Wir haben als Ampelkoalition vereinbart, dass wir die Projekte priorisieren wollen. Wir haben vereinbart, dass wir sie neu aufstellen wollen. Wir haben einen Dialogprozess vereinbart, um einen Konsens über die Infrastrukturentwicklung in Deutschland herbeizuführen. Das sind nämlich die Dinge, die nicht gemacht wurden, die aber notwendig sind. Und wir werden darauf gucken müssen, dass wir die Projekte voranbringen, die wirklich Sinn machen, ({10}) die notwendig, aber auch finanzierbar sind und die Klimazielen nicht im Wege stehen. ({11}) Das ist unsere Aufgabe; dazu haben wir auch Entsprechendes im Koalitionsvertrag vereinbart. ({12}) Sie fordern, Infrastrukturprojekte zu beschleunigen. Sie haben in der letzten Legislatur mehrere Beschleunigungsgesetze beschlossen, die sich jetzt aber als weitgehend wirkungslos erweisen. Wir arbeiten derzeit in der Beschleunigungskommission Schiene; diese wird noch im Oktober ihre Ergebnisse vorlegen. Ich bin sehr optimistisch, dass wir dann genau die Dinge präsentieren, mit denen wir deutlich schneller vorankommen, gerade beim Ausbau der Schienenwege, der über Jahre – man muss schon fast sagen: über Jahrzehnte – versäumt worden ist. ({13}) Wir binden hier auch die Branche eng ein; das scheint Ihnen im Antrag ja zumindest rhetorisch wichtig zu sein. Es sind Unternehmen, es sind Umweltverbände dabei. Sie beteiligen sich daran, die entsprechenden Maßnahmen, ({14}) um bei der Infrastruktur schneller voranzukommen, mit auszuarbeiten. Sie schreiben, dass Sie die Nutzerfinanzierung ausbauen wollen. Gleichzeitig schreiben Sie aber, „auf eine Erhöhung der Lkw-Maut“ verzichten zu wollen. Wie soll man denn das zusammenbringen? Das eine passt nicht zum anderen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir an der Weiterentwicklung der Lkw-Maut arbeiten. Wir müssen es von Gesetzes wegen. ({15}) Wir wollen es aber auch, weil die Lkw-Maut zusätzliche Aufgaben und Funktionen erfüllen muss. Sie muss zum einen die Finanzierung der Infrastruktur ermöglichen, zum anderen aber auch eine Lenkungsfunktion haben, damit mehr Güter auf die Schiene wandern können, ({16}) sodass die Klimaziele erreichbar sind. Genau diese Dinge haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor. Es wird sicherlich noch einmal darüber geredet werden müssen, wie er im parlamentarischen Verfahren weiterentwickelt werden kann. Aber wir sind da auf jeden Fall dran und auf einem guten Weg. Sie fordern einen runden Tisch. Ja, wenn man nicht mehr weiterweiß, dann gründet man … Sie kennen den Spruch. ({17}) Wir sind schon im ständigen Dialog, auch bei AdBlue; die Thematik haben Sie in Ihrem Antrag angesprochen. Wir sind längst in einem intensiven Austausch mit den Herstellern, der Industrie und den Verbänden. Wir werden ganz schnell reagieren, wenn es tatsächlich Engpässe geben sollte; ({18}) denn es ist völlig klar, dass die Lieferketten funktionieren müssen. Wir sind immer im Gespräch mit den entsprechenden Stellen. Fazit: Wir führen die Dialoge, die notwendig sind, und wir machen es gerne und überzeugt. Es ist viel in der Pipeline und vieles bereits in der Umsetzung, übrigens auch in Sachen Ladeinfrastruktur für elektrische Lkw, die notwendig sind. ({19}) Sollten Sie in Zukunft noch einmal derartige Anträge einbringen, denken Sie bitte auch an die Schiene, denken Sie an den Klimaschutz, denken Sie an die Verlagerung. ({20}) Wenn Sie nicht daran denken: Wir tun wir es. Vielen Dank. ({21})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen schönen Nachmittag von meiner Seite, auch an die Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Wir führen die Debatte fort mit dem nächsten Redner: Fraktion Die Linke, Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Speditionen in unserem Land und deren Personal waren durch die Coronapandemie und sind durch die aktuelle Energiekrise extrem stark betroffen. Diese Einschätzung teilen wir mit der antragstellenden Fraktion. Ob es allerdings ausreicht, allein für diesen Teil des Güterverkehrs Lösungen zu entwickeln, ist umstritten. Letztendlich bleibt es bei Symptombekämpfung. Die Ursachen der verkehrspolitischen Misere löst man mit den Vorschlägen der Union nicht, auch nicht für die Speditionen. Drei Punkte: Erstens. Der Güterfernverkehr gehört zu 80 bis 90 Prozent auf die Schiene. Wir brauchen nicht mehr Parkplätze und Rasthöfe für Lkws; wir brauchen mehr Umlademöglichkeiten für Lkws auf die Schiene. ({0}) Wir brauchen vor allem auch ein Schienensystem, das genügend Kapazität für diesen Güterverkehr hat. Wenn heute ein ICE mit 250 km/h, ein Regionalexpress zum Beispiel mit 140 km/h und ein Güterzug mit 100 km/h auf demselben Gleis unterwegs sind, dann muss doch allen klar sein, dass es hier Konflikte gibt. Kommen dann noch Baustellen, Langsamfahrstellen und Beschränkungen bei der Achslast hinzu, dann verstehe ich jedes Unternehmen, das seine Produkte lieber über die Straße versendet als über die Schiene. Hier aber wurde seit den 80er-Jahren – Kollege Gastel hat es gesagt – massiv zurückgebaut und der Lkw-Verkehr als die einzige Lösung dargestellt – eine fatale Fehlentwicklung, wie ich meine. ({1}) Zweitens. Eine weitere Lösung der Misere wäre eine konsequente Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Es ist doch ein Unding, dass Obst und Gemüse aus der Region in der Regel teurer sind als die gleichen Produkte, die über Hunderte Kilometer herangefahren werden. Aber selbst eine auf regionale Produkte ausgelegte Wirtschafts- und Strukturpolitik braucht einen Liefer- und Speditionsverkehr, der leistungsfähig ist. Hier benötigen wir tatsächlich Verbesserungen für die Speditionen und vor allen Dingen für deren Personal. Drittens, Stichwort „Just in Time“. Seit zwei Jahrzehnten haben viele Industrieunternehmen dieses System eingeführt. Sie sparen sich damit die eigene teure Lagerhaltung. Sie bestellen die Ware und lassen die Lkws so lange vor dem Werkstor warten, bis die Ladung direkt am Fließband gebraucht wird. In aller Regel sind auch hier die kleinen Spediteure und die Fahrer/-innen die Leidtragenden, da dies zu ihren Lasten geht. Ja, Lagerhaltung kostet Geld. Aber in dem Wahn, alles flexibler gestalten zu wollen, wurden diese Kosten vom Unternehmen, das der eigentliche Auftraggeber ist, an die Öffentlichkeit bzw. an die Speditionen übertragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bereich des Güterverkehrs gibt es ganz viele Baustellen, besser gesagt: Er ist eine einzige Baustelle. Unser System des Warentransports muss deswegen grundlegend verändert werden – auf den Straßen, aber ebenso auf den Schienen und auf den Wasserstraßen. Vielen Dank und Glück auf! ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Bundesregierung hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004102

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir uns über Logistik unterhalten. Das ist ein ganz zentraler Sektor. Es geht um die Lebensadern der Wirtschaft. Und ja, die Logistikketten sind angespannt, weil wir multiple Krisen haben: Corona, Lieferkettenprobleme, Energie, Fahrermangel. Klar ist jedoch auch: Die Lieferketten sind angespannt, aber sie halten. Das ist die Kernbotschaft. Dazu fällt Ihnen in Ihrem Antrag relativ wenig ein. Er ist in weiten Teilen unterkomplex; das haben die Kollegen eben schon angesprochen. Wir haben ja Häfen, Schiene, Luftverkehr. Sie aber reden nur vom Lkw. Ich erkenne da die Handschrift eines Verbandes sehr stark. ({0}) Aber nur von einem Verband etwas zu übernehmen, ist ein bisschen wenig. Es ist ein Sammelsurium an Spiegelstrichen und kein Konzept. Ludwig Erhard hätte auch ein paar Fragezeichen drangemacht, wenn er das gelesen hätte. Sie fordern runde Tische. Ich kann Ihnen sagen: Wir sind im wöchentlichen Austausch mit der Branche. Ich höre von ihr auch wenige Beschwerden, was unsere Arbeit angeht. Im Gegenteil: Sie fühlt sich gut aufgehoben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen Infrastruktur – Kollege Gastel hat es gesagt – gab es Versäumnisse, die wir jetzt angehen müssen, sei es bei der Schiene, wo wir die Elektrifizierung und den Ausbau beschleunigen müssen, sei es bei der Straße, wo wir in der Tat priorisieren müssen. Deswegen switchen wir um. Wir haben 4 000 kaputte Brücken vorgefunden. Deswegen legen wir jetzt den Fokus auf das Brückenmodernisierungsnetz. Wir werden die Zahl der Ersatzbauten stetig erhöhen. Das ist auch wichtig für die Logistik in Deutschland. Wir müssen aufräumen mit dem, was wir vorgefunden haben: leider keinen Planungsvorrat, nur kaputte Brücken. Wir gehen das jetzt an. ({2}) Sie haben die Lkw-Stellplätze angesprochen. Das ist unstrittig. Auch diese bauen wir aus – 700 Millionen Euro stehen dafür bereit –, und das nicht nur an Bundesfernstraßen, sondern auch an Autohöfen. Das ist neu. Das klappt gut und kommt unterwegs gut an. Da Sie nur von Lkws reden: Ja, in der Tat gibt es die Herausforderung der Kraftstoffpreise. Deswegen gab es für kurze Zeit den Tankrabatt, aber das kann ja nicht die Dauerlösung sein. Wir haben eingeführt, dass das Statistische Bundesamt die von der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe beim Bundeskartellamt stammenden Tagesdurchschnittspreise für Kraftstoffe wöchentlich veröffentlicht, damit die Unternehmen, die in der Regel einen Dieselfloater haben, die Preise weitergeben können. Das ist Marktwirtschaft; das funktioniert. Das haben wir gemacht, und das läuft auch gut. ({3}) Die CO2-Abgabe haben Sie nicht erwähnt. Sie wird ausgesetzt. Das ist, glaube ich, in der jetzigen Lage angemessen. Lassen Sie uns jetzt zur Maut kommen. Ich bin etwas überrascht, dass Sie da ein komplexes Regelwerk etwas unterkomplex darstellen. Wir haben zum einen die Eurovignetten-Richtlinie, die Mitgliedstaaten aufgibt, Änderungen umzusetzen, und zum anderen die Gesetze zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes. Das letzte Änderungsgesetz hat die Große Koalition mit Verkehrsminister Scheuer auf den Weg gebracht. Es sieht vor, dass wir die Maut basierend auf dem Wegekostengutachten für die letzten fünf Jahre zum Stichtag 1. Januar 2023 anpassen. Sie haben eben den Aspekt Infrastrukturkosten erwähnt, aber die Ansetzung von Lärm- und Umweltkosten, also die Internalisierung externer Effekte, vergessen. Aber die ist rechtlich notwendig. Ich möchte Sie mal an eine Tatsache erinnern, weil Ihre Wahrnehmung in Bezug auf Anhörungen ein bisschen selektiv ist: Sie haben den Herrn Schulz, früher Staatssekretär im unionsgeführten Ministerium, als Experten benannt. Und der von Ihnen benannte Experte der Toll Collect – er wurde ja mal „Mister Maut“ genannt – hat klar gesagt: Um zum 1. Januar 2023 eine rechtssichere Maut zu haben und zu verhindern, dass es weitere Klagen und Einnahmeausfälle gibt, ist es rechtlich notwendig, dass wir das so umsetzen. – Insofern: Hören Sie auf die Experten, die Sie selber vorgeschlagen haben! ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sprechen den LNG-Bereich an. Die Planungssicherheit ist in der Tat ein Argument. Man kann im Nachhinein fragen, ob es so schlau war, dass Sie hier für die Maut eine Ausnahme geschaffen haben. ({5}) Jetzt haben sich die Unternehmen LNG-betriebene Fahrzeuge angeschafft. Deswegen sind wir mit ihnen und auch mit dem BMWK im Austausch, um eine Lösung zu finden. Es gibt jetzt auch Programme für energieintensive Kleinunternehmen. Man muss schauen, ob man das darüber regeln kann. Aber das Entscheidende ist: Die EU-Kommission wollte Ihre Ausnahme nie. Sie hat ja sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik angekündigt. Das haben Sie hier unterschlagen. Und angesichts des hohen Weltmarktpreises fordern Sie, den LNG-Preis an den Dieselpreis zu koppeln. Das ist relativ kompliziert. Dazu schreiben Sie in Ihrem Antrag einen halben Satz. Sie müssen bitte mit Zahlen, Daten und Fakten erklären, wie das gehen soll. ({6}) Einfach eine Forderung von Verbänden zu kopieren, ist ein bisschen dünn. Klar ist: Wir wollen auch hier den mittelständischen Unternehmern helfen. Aber wenn Sie fordern, den LNG-Preis an den Dieselpreis zu koppeln, dann erklären Sie bitte auch, wie das gehen soll. Das kann ich aus Ihrem Antrag nicht herauslesen. ({7}) Da Sie immer den AdBlue-Mangel beschwören, was übrigens auch zu Hamsterkäufen führt und die Lage eher erschwert als verbessert, lassen Sie mich klar sagen: Wir haben das gerade mit den National Contact Points der EU diskutiert. Da gibt es eine Entspannung der Lage. Erfreulicherweise haben wir drei große Produzenten in Deutschland und einen funktionierenden europäischen Binnenmarkt. Staatssekretär Kellner ist hier im ständigen Austausch, wir sind es auch. Durch die Gaspreisbremse ist es gelungen, dass auch in Piesteritz wieder produziert wird. Es gibt also weder in Europa noch in Deutschland eine Mangellage. Die gute Nachricht ist: Die Versorgung mit AdBlue ist erst mal gesichert. Insofern ist Ihr Antrag auch an der Stelle nicht mehr aktuell und zutreffend. ({8}) Wo es in der Tat viel zu tun gibt, ist der Fahrermangel. Auch dazu stehen in Ihrem Antrag nur zwei, drei dünne Sätze. Wir alle sollten nicht suggerieren, dass die Politik das Problem alleine lösen kann. Wir haben allgemein einen Fachkräftemangel. In erster Linie brauchen wir gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne. Den Fachkräftemangel zu bekämpfen, ist nicht so einfach. Wir arbeiten daran und setzen auf Einwanderung und – das ist ein wichtiger Aspekt – die Anerkennung von Führerscheinen. Sie sehen also: Wir sind an den wichtigen Themen dran. ({9}) Die Logistikketten sind angespannt, aber funktionieren. In dem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, in den laufenden Beratungen kommen noch bessere Vorschläge. Wenn es welche gibt, nehmen wir sie gerne auf. Vielen Dank. ({10})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort Dr. Christoph Ploß. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muss ich auf den Beitrag von den Grünen eingehen; denn das kann man so nicht stehen lassen. ({0}) Was Sie hier gesagt haben, stimmt in keiner Weise. Die unionsgeführte Bundesregierung hat so viel in die Schiene und auch in den Radverkehr investiert wie noch keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor. ({1}) Ich kann meine drei Minuten Redezeit leider nicht nutzen, um Ihre Rede hier komplett auseinanderzunehmen, ({2}) aber ich kann Ihnen eines sagen: Sie können nur hoffen, dass Ihre Rede heute keinem Faktencheck unterzogen wird, Herr Kollege. ({3}) Viele Menschen in Deutschland hätten sich von Ihnen wie von der gesamten Ampelkoalition Antworten auf drängende Probleme und Fragen gewünscht, die viele beschäftigen, zum Beispiel: Wie kann unsere Infrastruktur auch in 10, 15, 20 Jahren leistungsfähig sein? Wie wird marode Infrastruktur saniert? Wie stehen Sie zu wichtigen Infrastrukturprojekten, gerade zum Schienenausbau, den wir als Union in den letzten Jahren bis zur Bundestagswahl vorangetrieben haben? ({4}) Das sind Fragen, auf die Sie hier Antworten hätten geben müssen. Herr Kollege, es gab weder ein Bekenntnis zum Bundesverkehrswegeplan noch ein Bekenntnis zum Autobahnausbau in Deutschland, ({5}) und es gab hier in keiner Weise irgendeine Aussage dazu, wie Infrastrukturprojekte in Deutschland beschleunigt werden können. ({6}) All das ist für den Logistikstandort Deutschland von enormer Bedeutung. Stattdessen haben Sie hier bei vorherigen Debatten ein Plädoyer dafür abgegeben, dass in Zukunft weiterhin Milliarden nach dem Gießkannenprinzip in Deutschland verteilt werden. ({7}) Das Problem der Politik der Ampelkoalition ist derzeit Folgendes: Viele Milliarden werden unreflektiert ausgegeben. Es wird gerade mittelfristig bei Investitionen in die Infrastruktur gespart. Aber wer an der Infrastruktur spart, der legt die Axt an die Bundesrepublik Deutschland. ({8}) Daher kann ich nur sagen: Unterstützen Sie hier die Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wir sagen klar: Infrastrukturausbau muss ganz oben auf die Agenda. ({9}) Wir sagen klar: Wir brauchen eine Planungsbeschleunigung und einen Autobahnausbau ({10}) genauso wie den Schienenausbau und den Radwegeausbau. Wir brauchen insgesamt mehr Investitionen in die Infrastruktur. ({11}) Bitte unterstützen Sie unseren Antrag, und ändern Sie Ihre fatale Politik. Herzlichen Dank. ({12})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Sebastian Roloff. ({0})

Sebastian Roloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ploß, ich habe Ihrer Rede aufmerksam zugehört. Das war ja quasi eine Bewerbung als Verkehrsminister – da bin ich schon mal ganz begeistert; ich werde das weiter verfolgen –, allerdings eher als Verkehrsminister der Qualität Dobrindt/Scheuer. ({0}) Sie sollten vielleicht überlegen, ob da nicht ein bisschen mehr Substanz möglich ist. Aber für die Opposition hat es auf jeden Fall schon mal gereicht. Ich bin darüber hinaus über den Teilaspekt dieses Antrags sehr froh, der die Wichtigkeit der Güterverkehrs- und Logistikbranche für Deutschland bestätigt. Ja, das finde ich völlig richtig. Auch die Analyse, dass die Einschränkungen der Kapazität durch Schäden an der Infrastruktur gerade im Bereich Straße und Schiene maßgeblich sind, ist korrekt. Dass man das, wenn man seit 2009 den Verkehrsminister gestellt hat, wie die CSU, vielleicht nicht mit ganz so dicken Backen sagen sollte, ist ein anderes Thema; aber Handlungsbedarf ist tatsächlich da. Die Güterverkehrs- und Logistikbranche ist ein Seismograf für die wirtschaftliche Entwicklung. Wenn Güter produziert und gehandelt werden, dann müssen sie transportiert werden. Es braucht funktionierende Lieferketten, einen kontinuierlichen Warenfluss. Da haben wir aktuell aus mehreren Richtungen Probleme. Wenn zu den wirtschaftlichen Verwerfungen noch Kraftstoff- und Energiepreise kommen, die durch die Decke gehen, wird die Situation noch schwieriger. Da braucht es kurzfristige Hilfen, einen kurzfristigen Eingriff, und es braucht langfristige Investitionen. Gut, dass wir die auf den Weg gebracht und mit der Ampel die entsprechenden Maßnahmen angestoßen haben. ({1}) Der Koalitionsvertrag legt den Fokus völlig zu Recht auf den Transport per Schiff, per Bahn, in der Luft und auf der Straße. Es ist völlig klar und richtig, dass wir insbesondere mit Blick auf die Klimaneutralität, die unser aller Ziel ist, hier Fortschritte erreichen sollten. Ich glaube, dass die Strom- und Gaspreisbremse, die sicher schnell auf den Weg gebracht wird, nicht nur die Branche entlastet, sondern auch die Krise in Bezug auf AdBlue zeitnah beendet. Darüber hinaus müssen sich die Unternehmen überlegen, wie ihre Lieferketten weniger krisenanfällig werden als aktuell. Ich habe mich sehr gefreut, dass die jüngste Umfrage des ifo-Instituts ergeben hat, dass die vergangenen Monate von vielen Unternehmen schon genutzt wurden, um die Lieferketten anzupassen und die Beschaffungsstrategien zu verändern. Die Wirtschaft reagiert. Ich weiß aufgrund meiner Tätigkeit in leitender Funktion bei einem Lkw-Hersteller, bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages wurde: Die Unternehmen arbeiten jeden Tag an Zukunftstechnologien, weil klar ist, dass klimaneutrale Antriebe die Zukunft sind. Unser Auftrag als Politiker ist es, diesen Weg zu unterstützen, selbstverständlich nicht nur im Personenverkehr, sondern auch in Bezug auf Lieferungen über Schiene und Straße. Wir müssen sicherstellen, dass Unternehmen die Finanzmittel haben, um weiter in Forschung und Entwicklung investieren zu können, damit wir diesen Weg gemeinsam weitergehen. Vielen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Als nächster Redner hat das Wort Stefan Seidler. ({0})

Stefan Seidler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005219

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Moin, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Derzeit nicht lieferbar“, das lesen wir gerade immer wieder im Onlinehandel oder am Warenregal. Die Probleme in der Güterverkehrs- und Logistikbranche merken die Menschen in unserem Land nicht zuletzt daran, dass Produkte nicht mehr schnell verfügbar sind. Lieferschwierigkeiten sind nicht nur Ärgernis für Verbraucherinnen und Verbraucher; sie haben das Potenzial, Menschenleben zu gefährden und unserer Wirtschaft zu schaden. Unverständlich ist für mich, dass im Antrag der CDU/CSU Zustände angemahnt werden, die Sie selbst hätten verhindern können. Die Lösungen wirken altbacken und von vorgestern. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wir müssen doch vorankommen in diesem Land. Wir müssen die Verkehrswende vorantreiben: mehr für die Schiene und mehr für die Wasserstraße. ({1}) Die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele, zum Beispiel ein Anteil des Schienengüterverkehrs von 25 Prozent bis 2030, sind ambitioniert und begrüßenswert. Aber, ich frage mich auch, liebe Ampelkoalition: Wo bleibt denn eigentlich der Schienen-Wumms, damit wir ans Ziel kommen? ({2}) Liebe Ampelfraktionen, Sie hatten sich vorgenommen, gegen den Fachkräftemangel mehr zu tun. Aus meinen Gesprächen mit Firmen aus der Branche in meiner Heimat im Norden weiß ich: Hier passiert leider viel zu wenig. Uns fehlen nicht nur Berufskraftfahrerinnen und ‑kraftfahrer im Straßengüterverkehr; auch bei den Lokführerinnen und Lokführern besteht ein akuter Fachkräftemangel. Ich habe mich deshalb kürzlich direkt an die Bundesregierung gewandt, um zu erfragen, was die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG tun, um diese Situation zu verbessern. Ich ahne bereits oder hoffe zumindest, dass die Antwort sein wird: Wir müssen mehr ausbilden. Wie Sie wissen, komme ich aus einer Grenzregion. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Wenn wir zukünftig unsere Resilienz im Bereich des Transportes stärken wollen, dann müssen wir langfristig unsere Infrastruktur ertüchtigen, kurzfristig mehr Fachpersonal ausbilden und so bald wie möglich einen reibungslosen Grenzverkehr mit unseren Nachbarländern sicherstellen. Denn wo Grenzen geschlossen werden, steigen Kosten, brechen Lieferketten, kommt wirtschaftliche Tätigkeit zum Erliegen und reißen Kontakte ab. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Henning Rehbaum. ({0})

Henning Rehbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005184, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorredner haben interessante Thesen aufgestellt. Ich möchte Herrn Seidler an der Stelle recht geben: Wir brauchen mehr Geld für Schiene und für Wasserstraßen, nur steht das leider im Haushalt der Ampel aktuell nicht drin. – Und, Herr Schiefner, eine Problemanalyse ist immer da. Sie erzählen uns auch viel von dem, was im Koalitionsvertrag steht. Das ist ganz nett, aber hilft den Spediteuren überhaupt nicht. 25 Prozent Ihrer Regierungszeit sind bereits vorbei. Fangen Sie endlich an! ({0}) Das zentrale Problem ist der Fahrermangel. Mehr als 60 000 Berufskraftfahrer fehlen schon jetzt. 35 Prozent gehen in den nächsten Jahren in Rente. Die Ampel ist hier viel zu zögerlich. Wenn das so weitergeht, dann haben wir englische Verhältnisse und leere Regale. Die Branche hat die Ausbildungsstandards für Lkw-Fahrer selbst hochgefahren, um den Fahrerberuf und die Sicherheitsstandards aufzuwerten; das ist aller Ehren wert. Das fällt uns jetzt allerdings ein Stück weit auf die Füße; denn durch Demografie, Corona und die Ukrainekrise fehlen Fahrer nicht nur in Deutschland; das ist ein europaweites Phänomen. Hinzu kommt: In Deutschland kostet der Führerschein ungefähr 10 000 Euro und dauert ein halbes Jahr. ({1}) Eine Lösung ist, die Standards bei der Fahrerausbildung nach dem Vorbild Österreichs auf ein europäisches Normalmaß zurückzufahren und eine bessere Anerkennung ausländischer Führerscheine. Türkische, albanische oder serbische Lkw-Fahrer fahren ihr ganzes Leben lang in Europa. Da muss man sich bei der Anerkennung der Führerscheine kein Loch ins Knie bohren. Ein echtes Ärgernis ist das Auswärtige Amt, das seit 56 Jahren von FDP, SPD oder Grünen geführt wird. Die Visaverfahren sind viel zu schleppend. ({2}) Wenn man in Drittstaaten für eine deutsche Firma einen Lkw fahren möchte, dann wartet man sechs Monate auf einen Termin im Konsulat. Das ist inakzeptabel. ({3}) Den Bürgern im Wahlkampf großspurig Fachkräftezuwanderung versprechen, das kann man. Außenministerin Baerbock und ebenso ihr Vorgänger Heiko Maas von der SPD schaffen es aber nicht, für genügend Personal in den Konsulaten zu sorgen und Visaprozesse endlich zu beschleunigen. Ministerin Baerbock, stocken Sie das Personal in den Konsulaten auf, damit Lkw-Fahrer schnell einen Termin und zügig ein Visum bekommen! ({4}) Eine Maßnahme, die kein Geld kostet, möchte ich noch kurz vorstellen. Seit Jahren führen SPD, Grüne und deren befreundete Vorfeldorganisationen einen ideologischen Kampf gegen den Lkw: ({5}) Klimakiller Lkw! Lkws raus aus unseren Städten! – Lkw-Fahrer berichten mir von Anfeindungen und verächtlichen Gesten von Passanten, wenn sie durch Dörfer und Städte fahren. Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste auf der Tribüne, das kommt dabei heraus, wenn man jahrelang Stimmung gegen den Lkw macht. Das führt dazu, dass niemand mehr Fernfahrer werden will. ({6}) Wir in der Politik haben große Verantwortung – ich komme zum Schluss –: Sprechen wir ab sofort gut über den Lkw! Sprechen wir gut über den Beruf des Fernfahrers! Geben wir den Menschen, die tagtäglich weit weg von zu Hause für unseren Wohlstand auf Achse sind, ihre Würde zurück! Sie haben es verdient. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die letzte Rednerin in der Debatte ist Anja Troff-Schaffarzyk für die SPD-Fraktion. ({0})

Anja Troff-Schaffarzyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU fährt mit ihrem Antrag wieder einen Angriff auf breitester Front: Infrastruktur, AdBlue, LNG, Fahrermangel, alles ist drin, ({0}) und das nicht zum ersten Mal. Das erste Mal haben wir im Juni über den Personalmangel in dieser Branche gesprochen, einer Branche, die Sie nicht zu Unrecht als eine der wichtigsten in Deutschland darstellen. Aber auch Ihr neuer Antrag suggeriert wieder, dass nichts getan werden würde für diese Branche. Das stimmt so nicht, wie Ihnen der Kollege Schiefner schon deutlich ins Stammbuch geschrieben hat. ({1}) Ich greife zwei Punkte aus Ihrem Antrag heraus, mit denen ich Ihre Analyse gerne ergänzen möchte, nämlich AdBlue und LNG. Bei beiden Themen ist das Fazit: Ja, wir haben noch einen Weg zu gehen. Aber zu beiden Themen sage ich auch: Es ist nicht richtig, so zu tun, als würde hier nichts passieren. Als die ersten Berichte zu Problemen beim Nachschub von AdBlue kamen, hat sich das Ministerium umgehend eingeschaltet, wie auch Staatssekretär Luksic gerade deutlich gemacht hat. Gemeinsam mit den relevanten Herstellern in Deutschland wurden die Lieferungen sichergestellt, und zwar auch im Namen der Logistikbranche. Auch beim LNG gilt: Alle Fachleute bestätigen uns, dass wir ab 2023 signifikante Mengen Bio-LNG auf dem Markt zur Verfügung haben werden. Das wird der Branche helfen, die angeschafften Fahrzeuge wirtschaftlich in Betrieb zu nehmen und auch zu halten. ({2}) Was wir bis dahin tun können, das besprechen wir. Der Kollege Roloff hat es vorhin gesagt: Die geplanten Preisbremsen helfen natürlich auch der Logistik. Ich möchte Ihnen aber ergänzend sagen, dass wir ein weit größeres Problem haben werden, wenn wir jetzt überall eine Krisenstimmung heraufbeschwören, ({3}) wie Sie es gerade tun, und das zumal in einer Branche, die durch Kostendruck, Arbeitsbelastung und verschlechterte Rahmenbedingungen in den letzten Jahren für junge Arbeitnehmer zunehmend unattraktiv geworden ist. Ein Spediteur aus meinem Wahlkreis hat mir gesagt: Uns Spediteuren kann es egal sein, ob wir mit 100 Fahrzeugen unser Geld verdienen oder nur mit zwei. Aber das Problem, das wir am Ende haben werden, nämlich dass die Regale leer bleiben und Produktionen stillstehen, weil niemand mehr Dinge transportieren kann, tragen wir als Gesellschaft alle gemeinsam. Darum sage ich zum Schluss, was ich so ähnlich auch schon im Juni gesagt habe: Wir wollen keine Schönfärberei betreiben. Die Lieferketten stehen unter großem Druck. Wir sollten uns als Politik aber fokussiert daranmachen, die Branche für den Nachwuchs wieder attraktiv zu machen, sonst brauchen wir über weitere Zukunftsfragen wie neue Antriebe gar nicht zu sprechen. Gerne besprechen wir das gemeinsam im Ausschuss; aber dann lassen Sie uns bitte die richtigen Schwerpunkte setzen. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Minister:in)

Politiker ID: 11003797

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über eine sehr wichtige Frage: die Frage nach der Triage im Rahmen der Infektionsschutzversorgung. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Gott sei Dank so gewesen ist, dass diese zentrale Frage im Rahmen der Pandemiebewältigung bisher nie eine Rolle gespielt hat. Sie hat keine praktische Rolle gespielt, und dabei soll es auch bleiben. ({0}) Wir haben in unseren Krankenhäusern nie die Triage praktizieren müssen. Es ist auch unser Ziel, das weiter zu verhindern. Ein Rückblick: Wir haben 2020/2021 erhebliche Belastungen in den Krankenhäusern gehabt. Wir haben es aber durch die Einführung des Kleeblattsystems zu jeder Zeit geschafft, die Patienten so in Deutschland zu verteilen und zu versorgen, dass es keinen einzigen mir bekannten Fall einer Triage im Rahmen der Versorgung von Covid-Patienten gegeben hat. Das ist eine große Leistung unseres Gesundheitssystems, aber auch eine große Leistung der Pflegekräfte und der Ärzteschaft. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich bei allen, die dazu beigetragen haben, ganz, ganz herzlich auch im Namen der Bundesregierung bedanken. ({1}) Trotzdem müssen wir alles dafür tun, dass es auch so bleibt. Da müssen wir wachsam sein. Wir müssen die Pandemie weiter im Griff behalten. Es ist leider so: Die Pandemie ist nicht beendet, wie die Blicke auf den Pandemieradar jetzt zeigen. Wir haben derzeit steigende Fallzahlen. Wir haben eine Mehrbelastung erneut auf den Intensivstationen. Wir haben auch wieder mehr schwere Fälle; auch die Sterblichkeit steigt leider wieder. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir über den Winter andere Varianten bekommen, die uns vor neue Herausforderungen stellen. Daher brauchen wir dieses Gesetz. Das ist ein Gesetz, bei dem wir immer hoffen, dass wir es nie anwenden müssen. Aber wir müssen es haben; denn wir müssen sicherstellen – das ist das Wichtigste, was wir mit diesem Gesetz verfolgen –, dass Menschen mit Behinderung und schweren Vorerkrankungen nicht wegen ihrer Behinderung oder wegen der Vorerkrankungen bei der Zuteilung von wichtigen lebenserhaltenden Versorgungsmaßnahmen benachteiligt werden. Das darf nicht passieren! Unsere Gesellschaft ist immer so menschlich, wie sie mit denjenigen umgeht, die die meisten Nachteile haben und die sich am wenigsten wehren können. Das sind die Menschen in akuter Not, die mit Behinderung, möglicherweise auch mit geistigen Schwierigkeiten, und mit Vorerkrankungen, unter denen sie schon genug gelitten haben, dann auch noch in eine solche Situation kommen, wo sie eine akute Versorgung benötigen. Da dürfen sie nicht benachteiligt werden wegen der Nachteile, die sie schon ihr ganzes Leben erleiden mussten. Das ist der Sinn dieses Gesetzes. ({2}) Wir haben daher hier Klarstellung und Rechtssicherheit geschaffen. Das ist die Essenz des Gesetzentwurfes: Niemand darf aufgrund einer Behinderung oder einer Vorerkrankung bei der intensivmedizinischen Behandlung benachteiligt werden. Das bedeutet: Jedes Leben hat für uns grundlegend die gleiche Bedeutung, die gleiche Berechtigung. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass das leider in dunklen Zeiten unserer Geschichte nicht der Fall gewesen ist. Daher ist es sehr wichtig, dass wir uns noch einmal vergewissern, wo wir hier stehen. Wir sind eine Gesellschaft, in der das Leben eines jeden gleich zählt. Das bringen wir hier auch zum Ausdruck, indem es keinerlei Benachteiligungen geben darf für Menschen mit Behinderungen, mit Nachteilen oder mit Vorerkrankungen, die sonst diese Möglichkeiten nicht hätten. ({3}) Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich bedanken für die kompetente Beratung und Diskussion, die wir mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, geführt haben. Er hat uns in vielen Diskussionen einen Weg gewiesen, den wir gerne gehen, den wir gerne mitgehen. Ich möchte hier sagen, dass wir dem Beauftragten ausdrücklich danken. Er hat die Perspektive der Menschen eingebracht, die auf der anderen Seite stehen, die diese Leistungen möglicherweise irgendwann benötigen werden. Daher möchte ich ihm danken für die aufklärende Sicht, die er hier einbringen konnte. Wir wollen auch Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte haben. Es geht darum: Die Überlebenswahrscheinlichkeit, die vor der Behandlung besteht, darf nicht durch die Behinderung benachteiligende Effekte haben. Behinderung und Grad der Gebrechlichkeit dürfen keine Rolle spielen. Damit das auch funktioniert, haben wir das Mehraugenprinzip für die Entscheidung eingeführt; das ist vorgesehen. Wenn ein Mensch mit Behinderungen oder Vorerkrankungen betroffen ist, dann muss auch noch ein weiterer Experte, der sich mit dieser Erkrankung oder Behinderung auskennt, hinzugezogen werden. Somit haben wir ein Mehraugenprinzip und die Sicherstellung der notwendigen Expertise, sodass wir in der Regel klarkommen. Wenn es dann noch eine Uneinigkeit gibt, sind weitere Maßnahmen vorgesehen. Aber das Mehraugenprinzip mit der entsprechenden Expertise aus dem betroffenen Bereich sichert, dass das Ganze fair und gerecht abläuft. Das Ganze wird dann dokumentiert. Wir haben umfängliche Dokumentationspflichten eingeführt. Ich schließe ab. Das ist ein klarer Kompass für unsere Gesellschaft. Der klare Kompass für unsere Gesellschaft bedeutet: In einer solchen Situation sind Behinderungen und Benachteiligungen, sind Vorerkrankungen kein Grund, die Versorgung nicht zu bekommen. Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Es wird keine Ex-post-Triage geben. ({4}) Das heißt, derjenige, bei dem die Behandlung schon begonnen hat, kann sich darauf verlassen, dass die Behandlung auch fortgeführt wird, sodass niemand befürchten muss, dass die Behandlung abgebrochen wird, nur damit die Behandlungsplätze einem Dritten zuteilwerden. Das kann nicht angehen. Die Ex-post-Triage wird es bei uns nicht geben. Ich danke Ihnen. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort Hubert Hüppe. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 28. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zur sogenannten Triage veröffentlicht. Menschen mit Behinderungen hatten geklagt, weil sie Angst hatten, benachteiligt zu werden, wenn es nicht genug Behandlungskapazitäten gibt. Im Grundgesetz steht: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und tatsächlich hat das Gericht im Sinne der Klägerinnen entschieden. Der Gesetzgeber hat gegen dieses Benachteiligungsverbot verstoßen – ich zitiere –, „weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird“. Am selben Tag, Herr Minister, haben Sie getwittert: „Ich begrüße das Urteil des BVG ausdrücklich. Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat.“ Wer sich den vorliegenden Gesetzentwurf allerdings ansieht, der muss feststellen, dass Herr Lauterbach zwar den Schutz begrüßt, aber ihn im vorliegenden Gesetz nicht schafft, meine Damen und Herren. ({0}) Das ist nicht nur meine Meinung, sondern das ist durchgängig die Meinung aller Behindertenverbände, die ich kenne. Der Grundfehler ist, dass er die Triage im Infektionsschutzgesetz regelt, also nur für den Fall, dass es aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten gibt. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass alle anderen Triage-Situationen ungeregelt bleiben, also zum Beispiel bei Naturkatastrophen, bei einem Reaktorunfall, bei einem Flugzeugabsturz, Krieg oder Terroranschlag. Ungeregelt bleiben auch alle Situationen zur Zuteilung von Behandlungskapazitäten außerhalb der Intensivmedizin, zum Beispiel Arzneimittel, Blutkonserven oder Plätze im Rettungswagen. Meine Damen und Herren, der Anlass war tatsächlich zuerst Covid-19. Aber wenn es wirklich zu Behandlungsengpässen kommt, dann herrscht die Diskriminierungsgefahr doch auch bei Flutkatstrophen oder anderen Katastrophen. Wenn wir die Menschen schützen wollen und wenn wir wollen, dass sie in der Medizin nicht diskriminiert werden, dann müssen wir das hier mit aufnehmen und dürfen es nicht nur im Infektionsschutzgesetz regeln, sondern wir müssen dafür möglicherweise ein eigenes Gesetz schaffen oder es im AGG regeln. ({1}) Der nächste Fall ist, dass Sie zwar schreiben – das haben Sie auch gerade gesagt –: Mehraugenprinzip, Facharzterfordernis und Dokumentationspflicht. Allerdings – das muss man hier auch sagen – gibt es, wenn man dagegen verstößt, weder eine Strafe noch ein Bußgeld. Meine Damen und Herren, schauen Sie sich das Infektionsschutzgesetz an! Hinten sind ganz viele Bußgelder aufgeführt, Meldepflichten aufgeführt, Strafvorschriften aufgeführt – alles steht dort, nur nicht bei Triage, und da geht es um Leben oder Tod. Wenn Sie wirklich einen Schutz von Menschen mit Behinderung wollen, der effektiv ist, so wie es das Verfassungsgericht fordert, dann muss es dort auch Sanktionen geben, sonst ist es kein Schutz für die Menschen. ({2}) Noch nicht einmal eine Meldepflicht schreiben Sie vor. Bei allen Dingen müssen Sie irgendwas melden. Da haben Sie ganz viele Meldevorschriften, die auch aufgeführt sind. Aber ausgerechnet bei der Triage muss man nichts melden. Das heißt, Behörden können überhaupt nicht prüfen, weil sie gar nicht wissen, ob so etwas stattgefunden hat. Deswegen ist dieser Entwurf aus meiner Sicht nicht tragbar. Meine Damen und Herren, ein Letztes. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass Sie Menschen mit Behinderung bei allen Gesetzen sehr stark beteiligen wollen, mehr als es je vorher der Fall war. Bei diesem Gesetz haben Sie die betroffenen Menschen nicht besonders gut beteiligt. Noch heute warten die Menschen mit Behinderung auf Antworten. Fragen, die an Ihr Ministerium geschickt worden sind, sind bis heute nicht beantwortet. Wenn Sie nicht mit den betroffenen Menschen sprechen, dann machen Sie hier einen großen Fehler; denn es geht um deren Leben, um deren Situation.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei Ihnen sieht es so aus, Herr Minister, dass dieser Gesetzentwurf ein Dokument des Unwillens ist, –

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Also, wirklich der letzte Satz!

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– das dem Anliegen der Kläger/-innen nicht gerecht wird. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als vor über zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert wurde, ist damit ein Paradigmenwechsel eingeläutet worden. Es geht um nichts weniger als darum, eine inklusive Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Bis heute aber gibt es keinen Lebensbereich, der wirklich diskriminierungsfrei ist, leider auch nicht unser Gesundheitswesen. Auch wenn wir Ärztinnen und Ärzte, alle Profis im Gesundheitssystem, unser Bestes geben und auch in dieser Pandemie dafür gesorgt haben, dass glücklicherweise eine solche Zuteilungsentscheidung nicht getroffen werden musste, so gibt es doch, wenn wir uns ehrlich machen und einen Finger-Nase-Versuch machen, Diskriminierung im Gesundheitswesen. Sie passiert, und zwar häufig unbewusst. Darum sind Betroffene, als die Ressourcen wegen der Coronanotlage knapp wurden, vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, und sie haben Recht bekommen: Menschen mit Behinderung dürfen bei der Zuteilung überlebensnotwendiger Ressourcen nicht benachteiligt werden. Das ist uns Auftrag. Der vorliegende Gesetzentwurf muss also Wichtiges erfüllen, und er erfüllt zentrale wichtige Anforderungen. Für Menschen mit Behinderung muss sichergestellt werden, dass sie im Fall einer Triage nicht etwa aufgrund von Diskriminierung keinen lebenssichernden Platz bekommen. Die Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten und Verantwortung tragen, brauchen Rechtssicherheit. Und der Gesetzentwurf muss dafür sorgen, dass das praktikabel und in Ausnahmesituationen anwendbar ist. Das ist nicht trivial, und darum befassen wir uns natürlich auch in einer Anhörung damit, wobei verschiedene Blickwinkel von Ärzteverbänden, von Menschen mit Behinderung zum Tragen kommen. Ein solches Gesetz muss darum befristet und evaluiert werden. ({0}) Ich begrüße sehr, dass der Bundesgesundheitsminister gerade noch einmal klargestellt hat, dass die Ex-post-Triage ausgeschlossen bleibt. Das ist wichtig für das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten und für mehr Klarheit statt für mehr Unsicherheit. In den vergangenen Jahren der Pandemie haben Vorsorge und der hohe Einsatz der Menschen im Gesundheitswesen – Ärztinnen und Ärzte, Pfleger/-innen, alle – dafür gesorgt, dass eine solche Zuteilungsentscheidung nicht gefällt werden musste; das ist gut. Wahrscheinlich wird auch der vorliegende Gesetzentwurf nie zur Anwendung kommen müssen – hoffentlich nicht. Doch er ist erheblich; denn auch künftige Entscheidungen werden sich potenziell an diesem Gesetz orientieren, Herr Hüppe. Das A und O ist: Es steht in unserer Verantwortung, alles dafür zu tun, dass es auch weiterhin nicht zu einer solchen Notsituation kommt. Wir müssen sicherstellen, dass auch die Zugänge zum Versorgungssystem funktionieren, dass es keine sogenannte Vor-Triage gibt. Unser gemeinsames Ziel, ob Beschäftigte im Gesundheitssystem oder Menschen mit Behinderung, muss ein inklusives Gesundheitswesen sein. Dahin ist noch ein Weg zu gehen. Ich finde, wir sollten den gemeinsam gehen. Ich danke Ihnen. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Jörg Schneider. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2020 sahen wir schreckliche Bilder aus Italien und aus Frankreich. Menschen erkrankten schwer an Corona, es gab nicht genug Beatmungsgeräte, Ärzte mussten entscheiden: Wer wird beatmet und wer nicht? Diese Entscheidungssituation nennen wir Triage. In Deutschland hatten vor allen Dingen Behinderte Angst, dass sie in einer solchen Situation, wenn sie denn hier in Deutschland auftreten würde, benachteiligt wären. Das Verfassungsgericht gab ihnen recht. Deswegen diskutieren wir heute eine Änderung, eine Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes um eine Triage-Regelung. Da stehen jetzt viele Kriterien drin, die bei einer Triage-Entscheidung nicht berücksichtigt werden dürfen. Ich glaube, wir sind uns einig: Die sexuelle Orientierung, die Weltanschauung, die Religion dürfen keine Rolle spielen, wenn es darum geht: Wer kriegt das letzte Beatmungsgerät? – Aber das Alter? Wir wissen doch von Corona, dass gerade jüngere Menschen eine wesentlich bessere Überlebenschance hatten. Das darf ein Arzt jetzt nicht mehr berücksichtigen? Oder eine Behinderung? Ich glaube nicht, dass ein Arzt einen Blinden gegenüber einem nicht Sehbehinderten benachteiligt. Aber wenn eine Behinderung die Atmung beeinträchtigt – und wir sprechen über eine Erkrankung des Atmungsapparates –, dann muss es doch möglich sein, dass ein Arzt so etwas mit bei seiner Entscheidung berücksichtigt, meine Damen und Herren. Der Generalsekretär der Vereinigung der Intensivmediziner, Herr Professor Janssens, sagte dazu – ich zitiere wörtlich –: Wenn … Ärzte … gezwungen würden, Kriterien wie das Alter oder die Gebrechlichkeit bei Menschen über 65 bei Triage-Entscheidungen pauschal außer Acht zu lassen, dann werden wir handlungsunfähig! Unsere Mediziner sind handlungsfähig, Triage findet statt. Stellen Sie sich vor: Es gibt einen Unfall, viele Schwerverletzte, das erste Rettungsteam trifft dort am Ort ein. Dann muss diese traurige Entscheidung getroffen werden: Wen können wir retten? ({0}) Das machen die heute schon, meine Damen und Herren. Die Frage ist jetzt: Können wir diese Erfahrungen, die dort gesammelt worden sind, in eine pandemiebedingte Triage-Situation transferieren? Ich sage: Nein, Ihr Gesetzentwurf verhindert das, meine Damen und Herren. ({1}) Auch die Umsetzung, die Sie hier vorschlagen, erscheint mir etwas weltfremd. Zwei Ärzte müssen einvernehmlich entscheiden. Wenn das nicht möglich ist, soll ein dritter dazukommen. Das Ganze soll dokumentiert werden. In einer Triage-Situation sind wir in einem Ausnahmezustand. Dann gibt es vielleicht einen Arzt. Der muss entscheiden, der muss schnell entscheiden, und er hat keine Zeit für eine Dokumentation. Ich glaube, auch in diesem Punkt ist Ihr Gesetzentwurf noch dringend überarbeitungsbedürftig, meine Damen und Herren. ({2}) Schließlich: Herr Minister, Corona ist vorbei. Das sagt nicht nur die AfD-Fraktion, das sagen die meisten Regierungen auf dieser Welt. Wenn Sie hier weiterhin mit Fallzahlen Panik schüren: Wir wissen doch seit anderthalb Jahren, dass die Inzidenz kein geeignetes Kriterium ist, um eine Notsituation vorherzusagen. Sie versuchen es hier schon wieder. ({3}) Nein, wenn Sie eine Notsituation im Gesundheitssystem vermeiden wollen, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Schaffen Sie endlich die einrichtungsbezogene Impfpflicht ab! Wir wissen: Geimpfte Pfleger können Patienten genauso anstecken wie ungeimpfte. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird eh nicht durchgesetzt. Und wenn wir sie durchsetzen würden, ja, dann hätten wir einen Notstand. Deswegen: Weg mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht! ({4}) Und: Gesunde Pfleger und Ärzte gehören nicht in Quarantäne. ({5}) Gesunde Ärzte und Pfleger gehören zu ihren Patienten. ({6}) Deswegen: Beenden Sie endlich diese vollkommen überzogenen Quarantänevorschriften! Dann, glaube ich, sind wir am ehesten vor einer Notsituation geschützt. Ich danke Ihnen. ({7})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katrin Helling-Plahr. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Vor gut 200 Jahren war es der Armeechirurg Dominique-Jean Larrey, der Vater der Notärzte, der während Napoleon Bonapartes Feldzügen auf Pferdewagen fliegende Lazarette einrichtete. Er begann damit, die Verwundeten nach Schwere der Verletzung zu sortieren, um möglichst viele Patienten behandeln zu können. Was auf dem Schlachtfeld seinen Ursprung nahm, wurde später auch in zivilen Katastrophenfällen angewandt und hat inzwischen auch in der medizinischen Versorgung in Friedenszeiten eine lange Geschichte: bei der Zuteilung des in den 40er-Jahren neuen und knappen Penizillins, im Rahmen der Polioepidemien in den 50er-Jahren, als nicht ausreichend Eiserne Lungen zur Verfügung standen, und in den 60ern, als man mit Dialysebehandlungen begann und nicht ausreichend Plätze für alle Betroffenen hatte. Meine Damen und Herren, die Entscheidung über die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen ist oft nicht weniger als die Entscheidung über die Frage von Leben und Tod. Ärzte haben sich der Rettung menschlichen Lebens verschrieben. Sie haben gelobt – wenn ich aus der Deklaration von Genf zitieren darf –: „Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.“ Kein Arzt trifft eine Zuteilungsentscheidung leichtfertig. Aber es gibt Situationen, da muss er sie treffen, gegebenenfalls auch einmal in einer Pandemiesituation, in der ein Krankenhaus an der absoluten Überlastungsgrenze steht und auch er an der körperlichen Belastungsgrenze arbeitet. In solchen Ausnahmesituationen ist es dann – so hat es das Bundesverfassungsgericht festgestellt – nicht immer gewährleistet, dass absolut diskriminierungsfrei entschieden wird. In solchen Situationen ist es nicht immer ausgeschlossen, dass gerade Menschen mit einer Behinderung bei der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt werden – nicht weil Ärztinnen und Ärzte diskriminieren wollen, sondern weil es sein könnte, dass sie die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht richtig einschätzen. Das Bundesverfassungsgericht hat das „unbewusste Stereotypisierung“ genannt. Deshalb ist es an uns als Gesetzgeber, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung oder Vorerkrankung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird. Dieser Verantwortung kommen wir mit diesem Gesetzentwurf nach. Zugleich vergessen wir aber natürlich nicht, dass das vordringliche Ziel sein muss, die Entstehung von Triage-Situationen zu vermeiden. Wenn es aber doch dazu kommt, dann ist es richtig, dass anhand der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. Dieses Kriterium hat auch das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonformes Kriterium genannt. Konkret und auf eine Pandemie bezogen: Welcher Patient wird die akute Infektion mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben? Losentscheidungen, wie zum Teil ja auch gefordert wurde, hielte ich für abwegig. ({0}) Die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten entscheiden zu lassen, ist wesentlich gerechter, als Leben gegen Leben auszuwürfeln. Denn nur dieses Kriterium wird der scheinbaren Kontradiktion gerecht, dass einerseits ein Leben genauso viel wert ist wie das andere, dass wir Leben weder bewerten können noch wollen, dass wir aber andererseits so viele Menschenleben retten wollen, wie es eben geht. Bei der zur Bestimmung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit erforderlichen und sicher nicht immer einfachen Prognose darf selbstredend nicht diskriminiert werden, insbesondere nicht wegen einer Behinderung, einer Vorerkrankung, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Das wollen wir nun auch im Gesetz festhalten. Zur Absicherung für alle Beteiligten müssen qualifizierte Ärzte in einem Vieraugenprinzip entscheiden. Bei Begleiterkrankungen oder Behinderungen muss zudem noch ein fachlich insoweit besonders versierter Mediziner hinzugezogen werden. Ich finde, das ist ein guter Weg, einer potenziellen Diskriminierungsgefahr zu begegnen. Wir müssen bei diesem existenziellen Thema natürlich alle Aspekte genau abwägen. Deshalb sehe ich der weiteren Diskussion im Ausschuss entgegen. Vielen Dank. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Ates Gürpinar. ({0})

Ates Gürpinar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005073, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nun liegt das Gesetz zur Triage vor. Mit diesem Gesetz soll ein Rahmen geschaffen werden, wie Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden sollen. Bevor ich ein paar Sätze über diese zentrale ethische Fragestellung verlieren möchte, lassen Sie mich festhalten, dass dieses Gesetz sehr deutlich macht, wie unmoralisch das profitorientierte System ist, in dem wir leben, und dass dies insbesondere im Gesundheitssystem nun wirklich gar nichts verloren hat. Warum? Das profitorientierte System schafft künstliche Knappheit. Für Katastrophen und unvorhergesehene Ereignisse müssen Betten, Ressourcen und Personal vorgehalten werden – etwas, was finanziell nur ein Kostenpunkt ist, wenn es nicht zum Einsatz kommt. Da das Gesundheitssystem aber auf Profitorientierung und damit auch auf Sparen ausgelegt wurde, wurden jahrzehntelang Betten und Personal abgebaut. Selten wurde deutlicher: Das System ist dysfunktional und gewissermaßen ein moralisches Desaster. Es liegt an uns, es zu ändern, sehr geehrte Damen und Herren. ({0}) Das hat auch zur Folge, dass auf verschiedensten Ebenen bereits vortriagiert wird. Wenn nur noch wenige Betten frei sind, dann wird eben schon vor dem letzten Bett entschieden, wer die knappe Ressource einer Intensivbehandlung bekommt und wer manchmal eben auch nicht. Das System fördert solche Entscheidungen, auch wenn ein Großteil des medizinischen Personals natürlich auch in diesem System ihr Möglichstes versucht, häufig auf Kosten der eigenen psychischen und physischen Gesundheit. Klar ist also: Jede Triage-Entscheidung, in die das medizinische Personal gezwungen wird, ist eine Bankrotterklärung der Gesamtgesellschaft. Vielleicht ist es da nur folgerichtig, dass auch der Bundestag selbst keine gute Entscheidung treffen können wird. Auf der einen Seite das, was die Regierung nun vorlegt: Der Entwurf erlaubt, auf Basis der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienteninnen und Patienten zu entscheiden. Herr Hüppe hat dazu schon einige sehr richtige Sachen gesagt. Eigentlich gilt aber: Hat ein Mensch eine Überlebenswahrscheinlichkeit, wird er behandelt. Wenn wir nun anfangen, den Grad der Überlebenswahrscheinlichkeit zu vergleichen, dann haben bestimmte Personengruppen unvermeidbar Nachteile. Dann diskriminieren wir. Auch wenn man dem Gesetz den verzweifelten Versuch ansieht, Diskriminierungen rauszuhalten, wird es niemals diskriminierungsfrei sein. Das ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar, sehr geehrte Damen und Herren. Eine Variante, die einige Behindertenverbände vorgeschlagen haben, ist die Randomisierung. Diese Variante überlässt die Entscheidung, wer nun behandelt wird, dem Zufall, gewissermaßen dem Schicksal. Das ist keine zufriedenstellende Variante; sie kann es nicht sein. Aber immerhin wäre sie diskriminierungsfrei. Eine Entscheidung für das eine wie das andere wird weiterhin zu vorgelagerten Triage-Entscheidungen führen. Denn das medizinisch verantwortliche Personal wird es sicher vermeiden – übrigens unter weiterer Mehrbelastung –, solche Entscheidungen so zu treffen. Gleichzeitig dürfen solche Entscheidungen niemals Normalität werden. Jede Triage muss eine Art Notstand, erklärten Ausnahmezustand, zur Folge haben. Konsequenzen müssen diskutiert werden, damit daraus niemals Normalität wird. Die wichtigste Konsequenz – ich komme zum Schluss – kennen wir schon jetzt: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass sich das Gesundheitssystem wieder am Bedarf der Menschen und nicht am Profit orientiert und dass es nicht selbstverschuldet zu Ressourcenknappheiten kommt! Vielen Dank. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk Heidenblut. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über ein Gesetz bzw. einen Gesetzesparagrafen, von dem wir, glaube ich, alle wollen, dass er nie – nie! – zur Anwendung kommt. Das ist eigentlich das ganze Entscheidende. Herr Minister, ich bin sehr dankbar, dass Sie an den Anfang Ihrer Rede auch gestellt haben, dass unser eigentliches Ziel sein muss, zu verhindern, dass wir in eine Triage-Situation kommen, und dass das auch in der Pandemie bisher hervorragend gelungen ist. Ich bin mir ganz sicher: Alle im Gesundheitswesen, gerade auch die Ärztinnen und Ärzte und die Pflegekräfte auf den Intensivstationen, werden alles daransetzen, dass das nicht passiert. Natürlich müssen wir ihnen die Unterstützung geben, die sie brauchen, damit das auch gelingen kann. Ich glaube, wir haben in der Pandemie sehr deutlich bewiesen, dass es nicht um ein profitorientiertes System geht, sondern dass es darum geht, dass wir schnell und zuverlässig handeln. Es ist nie zu einer Triage-Situation gekommen, und dazu darf es auch nie kommen. ({0}) Denn ganz unabhängig von Diskriminierungsfragen muss man feststellen: Haben wir eine Triage-Situation, ist das für mindestens einen Menschen eine extrem schlechte Situation. Mir ist dann, ehrlich gesagt, lieber, wir verhindern so etwas von vornherein. Insofern ist das ganz wichtig. Ein zweiter Punkt, Herr Minister, wo ich ausdrücklich Danke sagen will, ist, dass Sie so deutlich die Ex-post-Triage ausgeschlossen haben. ({1}) Das war überfällig, das ist wichtig, und das ist ein absolut richtiger Punkt. Ich finde, Sie bringen – und da teile ich die Ansicht des Kollegen Hüppe nun überhaupt nicht – mit dem Gesetz sehr gut zum Ausdruck, dass Sie genau das machen wollen, was Sie gesagt haben, nämlich Diskriminierung vermeiden und die Menschen schützen. Ich bin übrigens auch dankbar – auch wenn ich sonst nicht viel zu dem Vortrag von der rechten Seite sagen will –, dass Sie durchaus über das hinausgegangen sind, was uns das Urteil vorgegeben hat, und die Menschen mit Behinderung, aber auch viele andere, die unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz fallen, vor Diskriminierung schützen. Denn es gilt: Jeder Mensch, jedes Leben ist gleich viel wert und muss entsprechend so betrachtet werden. ({2}) Ich bin ganz sicher: Das System, das uns vorgestellt wurde, ist noch nicht endgültig. Genauso wie mit jedem anderen Gesetz werden wir uns auch mit diesem Gesetz – die Kollegin hat es schon gesagt – nach der Anhörung, entsprechend den Bildern, die wir uns selbst noch machen, und natürlich nach den Gesprächen, Kollege Hüppe, insbesondere mit den entsprechenden Gruppen der Betroffenen, sicherlich noch beschäftigen. Vielleicht finden wir auch die Möglichkeit, noch das ein oder andere zu verbessern; das will ich gar nicht ausschließen. Trotzdem ist das Gesetz eine gute Grundlage für das, was wir zurzeit umsetzen müssen, und eine gute Grundlage, Diskriminierung zu verhindern. Ich bin mir ganz sicher, dass das Gesetz das auch möglich machen wird.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Entschuldigen Sie bitte, Herr Heidenblut. Gestatten Sie Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sorge?

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. Ich habe schon ängstlich auf meine Zeit geguckt.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Ich finde es gut, dass Sie hier in Ihrer Rede noch mal klarmachen, dass insbesondere die Thematik Ex-post-Triage aus dem Gesetzentwurf herausgefallen ist. Aber sind Sie mit mir nicht der Auffassung, dass es völlig an den Tatsachen vorbeigeht, wenn Sie sich hierhinstellen und dafür abfeiern lassen wollen, dass Sie die im Entwurf des Bundesgesundheitsministers ursprünglich vorgesehene Ex-post-Triage rückgängig gemacht haben, nachdem von Behindertenverbänden und Sozialverbänden berechtigte Kritik daran gekommen ist, dass die Ex-post-Triage überhaupt im ersten Entwurf stand, und dass wir viel Verwirrung und Aufregung in den Verbänden hätten vermeiden können, wenn Sie das gleich von vornherein gemacht hätten? ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst mal, lieber Kollege Sorge, ist es ja nicht verwerflich, wenn man über Dinge, die man ins Rennen schmeißt, nachdenkt und auf Reaktionen reagiert. Das widerspricht dann zum Beispiel dem, was der Kollege Hüppe gesagt hat: dass mit den Betroffenen nicht gesprochen worden sei und deren Reaktionen nicht ernst genommen worden seien. Sie sind ernst genommen worden. ({0}) Der zweite Punkt ist: Dass es Überlegungen gibt – auch aus dem Bundesministerium –, die immer wieder mal in die Öffentlichkeit gelangen und bestimmte Dinge beinhalten, mag sein. Aber an dieser Stelle haben wir die Ex-post-Triage nicht nur nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen, sondern sind darüber hinausgegangen und haben sie im Gesetzentwurf sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Da sind wir also deutlich weiter gegangen. Ich finde, das ist keineswegs ein Fehler, und finde es absolut richtig, dass genau das gemacht worden ist. ({1}) Wir haben im Gesetz eine Menge Sicherungsmechanismen vorgesehen, die verhindern sollen, dass es zu Diskriminierung kommt. Wir setzen damit das um, was das Bundesverfassungsgericht will. Ich will aber auch eines ganz deutlich sagen – zumindest für mich und, ich gehe davon aus, auch für meine Fraktion –: Das Gesetz ist keineswegs ein grundsätzlicher Misstrauensbeweis gegenüber denjenigen, die schon jetzt auf den Intensivstationen in den allermeisten Fällen völlig diskriminierungsfrei ihren Jobs nachgehen und die im Wesentlichen der Rettung des Lebens verpflichtet sind. Es gibt einfach ein Gebot, sicherzustellen, dass Menschen, die eines besonderen Schutzes bedürfen, diesen Schutz auf jeden Fall auch erhalten. Noch ein letztes Wort zu dem immer wieder vorgebrachten Argument, dass das Ganze möglicherweise per Losentscheid oder im Rahmen eines randomisierten Verfahrens oder anderer vergleichbarer Verfahren gelöst werden könne: Ich persönlich halte von solchen Vorgehensweisen herzlich wenig und kann mich da meiner Vorrednerin aus der FDP nur anschließen. Wir haben hier ein vernünftiges, ein sinnvolles Verfahren, das Diskriminierung vermeidet. Ein Losverfahren, ein randomisiertes Verfahren ist unserer Verpflichtung dem Leben gegenüber nicht gerechtfertigt und ist im Zweifel für mich so ein bisschen wie die Flucht aus der Verantwortung. Diese Verantwortung tragen wir, aber die tragen eben auch die Ärztinnen und Ärzte. Einen Punkt will ich allerdings noch den Ärztinnen und Ärzten gerne mitgeben: Ich glaube, dass Fragen des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen in der Ausbildung einen deutlich höheren Stellenwert haben müssen und dass solche Fragen auch in anderer Form noch mal thematisiert werden müssen, ({2}) nicht nur, um Diskriminierung zu verhindern, sondern auch, um einen Umgang zu ermöglichen, der im Interesse der Menschen liegt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die weitere Debatte. ({3})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich freut, dass wir heute hier zu dieser wichtigen Debatte zusammenkommen. Mich hätte es aber noch viel mehr gefreut, wenn zumindest der Behindertenbeauftragte oder der Patientenbeauftragte der Bundesregierung heute dieser Debatte beigewohnt hätten. ({0}) – Dann entschuldige ich mich an dieser Stelle. Aber der Behindertenbeauftragte hätte zumindest an dieser Debatte auch teilnehmen können. Die heutige Debatte ist eine äußerst schwerwiegende Debatte, weil sie die schwierigste aller Fragen berührt, die Frage nämlich, wer im Notfall leben darf, wer sterben muss und wer darüber entscheiden darf. Auch wenn bis heute keine Triage-Entscheidung an deutschen Kliniken gefällt werden musste, so ist es doch richtig, ja überfällig, diese vor allem für die Ärzte extrem schwierige Situation, über Leben und Tod zu entscheiden, gesetzlich zu klären, ({1}) zu klären mit dem Ziel, dieses Dilemma für Ärzte, Patienten und Angehörige ethisch verantwortbar zu lösen, Rechtssicherheit für die behandelnden Ärzte zu schaffen, aber auch, um behinderte, benachteiligte und vulnerable Menschen vor Diskriminierung in einer für alle Beteiligten so schwierigen Situation zu schützen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist dabei stark geprägt vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021, der dem Gesetzgeber auferlegt hat, im Falle einer Triage jegliche Form von Benachteiligung wegen einer Behinderung von vornherein hinreichend zu verhindern. Gleichwohl muss die Letztentscheidung bei den Ärzten liegen, die sich nur an der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patienten festmachen darf. Eine Behinderung, der Grad der Gebrechlichkeit, das Alter, die ethnische Herkunft, die Religion oder Weltanschauung, das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung des Betroffenen dürfen keine Rolle bei der Zuteilungsentscheidung spielen. Eine Gesellschaft, die solche Grundsätze aufgibt, hat ihren moralischen Kompass komplett verloren. ({2}) Als Arzt betone ich die Rechtssicherheit für die jeweiligen ärztlichen Entscheidungsträger in diesem Dilemma. Sollte die Entscheidung im Weiteren trotzdem zum Tod des Intensivpatienten führen, während wegen dieser Entscheidung ein anderer Patient verstorben ist, weil dieser nicht intensivmedizinisch behandelt wurde, darf gegen den Arzt kein individueller Schuldvorwurf erhoben werden. Sein ärztliches Handeln muss in dieser Extremsituation als objektiv rechtmäßig bewertet und anerkannt werden. Insofern sollte eine Kontrolle nicht den Gerichten überlassen werden, sondern der Ärzteschaft. Nicht per se unmoralisch halte ich die Diskussion um eine Ex-post-Triage. Denn die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit lässt sich bei vielen Patienten erst nach einem intensivmedizinischen Behandlungsversuch verlässlich abschätzen, ({3}) wie auch die einschlägigen Fachgesellschaften betonen. Wenn ein klar dem Tode geweihter Intensivpatient das letzte Intensivbett besetzt, während ein anderer Patient mit absehbar höherer Überlebenswahrscheinlichkeit nicht behandelt wird und deswegen auch sterben muss, so ist das ethisch-moralisch zumindest fragwürdig. ({4})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller politischen Gegensätze hier im Hohen Hause dürfen wir uns niemals von dem Grundsatz verabschieden, menschlichem Leben die höchste Bedeutung beizumessen und es zu bewahren. Das gebietet uns nicht nur die Humanität, sondern auch unsere deutsche Geschichte. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Corinna Rüffer. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Sommer 2020 reichten neun behinderte und chronisch kranke Menschen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung oder Vorerkrankung nicht intensivmedizinisch behandelt zu werden. Sie argumentierten, der Gesetzgeber müsse seiner Schutzpflicht nachkommen und gesetzliche Regeln erlassen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen in einem Triage-Fall nicht benachteiligt werden. Ich möchte erinnern: Wir alle standen zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss der Bilder aus Bergamo, von den Militärkonvois mit den Leichen, die in Krematorien geschafft wurden. Viele von uns stellten sich damals die Frage, ob auch wir in Deutschland in die Situation kommen könnten, alte und behinderte Menschen gar nicht erst zu behandeln. Ich kann für mich antworten und sagen: Für mich war das unvorstellbar. Denn wir haben unser Grundgesetz, und das stellt doch eindeutig klar, dass das Leben eines jungen oder nicht behinderten Menschen nicht mehr wert ist als das eines alten oder behinderten Menschen. ({0}) Heute wissen wir, dass es sehr wohl auch bei uns in Deutschland gravierende Engpässe bei der Versorgung von Coronapatientinnen und ‑patienten gegeben hat. Dort, wo die Inzidenzen besonders hoch waren, wurden insbesondere alte, aber auch jüngere behinderte Menschen nicht mehr im Krankenhaus behandelt. Wir wissen von Fällen, wo Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe gebeten wurden – ich zitiere – „Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu bedenken“. „Triage vor der Triage“ oder „graue Triage“ nennt man das. Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, weil das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern – glücklicherweise – weitgehend gefolgt ist. Das Gericht hat uns dazu verpflichtet, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen zu treffen. Die Stärke des Schutzauftrags ist sehr groß, den wir als Gesetzgeber vollumfänglich zu erfüllen haben. Es werden tiefgreifende ethische Fragen berührt, die beim besten Willen nicht allein aus einer medizinischen Perspektive beantwortet werden können. Schon für sich genommen erfordern diese eine umfassende und gründliche gesellschaftliche Diskussion. Und ebendiese Diskussion hat bisher leider nicht stattgefunden. Gewichtige Fragen liegen vor uns. Diese Fragen haben eine Bedeutung weit über die Pandemie hinaus: ({1}) Ist der Gesetzentwurf überhaupt dazu geeignet, einen gleichberechtigten Zugang zu überlebensnotwendigen intensivmedizinischen Behandlungen zu gewährleisten? Oder ist das in dieser Form formulierte Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ möglicherweise von vornherein immanent diskriminierend? ({2}) Und wie kann gewährleistet werden, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung im Krankenhaus für alle Menschen gesichert wird und eine sogenannte Vor-Triage auch in Zukunft ausgeschlossen wird?

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. – Ich bin gespannt auf die Beratungen, die jetzt folgen werden. Wir als Parlament, wir als Gesetzgeber tragen richtig Verantwortung. Ich bin mir sicher, dass wir dem am Ende auch gerecht werden. Vielen Dank. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Die letzte Rednerin in der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Simone Borchardt. ({0})

Simone Borchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005030, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Urteil vom 16. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen Rahmen dahin gehend abgesteckt, dass niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Diese Feststellung begrüße ich hier außerordentlich. Was das Gericht mit seinem Urteil allerdings nicht getan hat, ist, die Ex-post-Triage zu thematisieren. Insofern ist es, gelinde gesagt, merkwürdig, dass die Bundesregierung bei einer gesetzlichen Regelung zur pandemiebedingten Triage einen Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot konstruiert. Sie haben mit Ihrer Kommunikation wieder mal sehr viel Porzellan zerschlagen, indem Sie die Betroffenen nicht beteiligt haben. ({0}) Es wäre der Sache dienlich gewesen, wenn Sie im Vorfeld der heutigen Debatte die Einschätzung von Fachjuristen eingeholt hätten. Es wäre der Sache auch dienlich gewesen, wenn Sie vorher mit den Leuten aus der notfall- und intensivmedizinischen Praxis gesprochen hätten. Und es wäre der Sache dienlich gewesen, wenn Sie auch die Menschen mit Behinderung eingebunden hätten in diesen Prozess. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den deutschen Notfallambulanzen und auf den Intensivstationen, wo tagtäglich tragische und belastende Entscheidungen getroffen werden, herrschen höchste fachliche und ethische Standards. Diese gilt es jetzt gesetzlich zu verankern. An dem Thema Ex-post-Triage, das behinderte wie nicht behinderte Menschen gleichermaßen betrifft, haben Sie sich vorbeigemogelt. ({2}) Wenn man sie zulässt, birgt das natürlich Gefahren; wenn nicht, natürlich auch. Die Überlebenswahrscheinlichkeit lässt sich bei vielen Patienten erst nach einem intensivmedizinischen Behandlungsversuch verlässlich abschätzen. Beim Ausschluss der Ex-post-Triage entfällt diese Möglichkeit. ({3}) Außerdem wären bei einem starken Zustrom schwerkranker Intensivpatienten und Infektionspatienten die Intensivkapazitäten auf absehbare Zeit vollständig ausgelastet. Dadurch hätten später eintreffende Patienten – auch mit anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen; und die gibt es nun mal auch noch, Herr Minister – eine deutlich verringerte Chance auf eine Intensivbehandlung. Glücklicherweise kam es in Deutschland auch zu Hochzeiten der Pandemie zu keiner Triage. Dennoch brauchen wir einen wirksamen und umsetzbaren Schutz vor Diskriminierung. Wir brauchen auch die Handlungsfähigkeit der Ärzte, damit diese über die Zuteilung dieser knappen Ressourcen fundiert und gerecht entscheiden können. Liebe Kollegen, die Triage ist nicht nur ein Thema der Pandemie. Es kann uns auch in anderen Lebenssituationen treffen. Daher verdient dieses Thema einen ganzheitlichen Ansatz. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von Ihnen werden die Bilder dieses Sommers an den deutschen Flughäfen vielleicht noch vor Augen haben. In diesem Sommer haben wir an den deutschen Verkehrsflughäfen zum zweiten Mal nach 2018 eine Situation erlebt, die für die Passagiere nervenaufreibend, zermürbend und am Ende für alle Beteiligten auch unbefriedigend war. Lange Wartezeiten beim Check-in, an den Sicherheitskontrollen, bei der Gepäckausgabe, stornierte und umgebuchte Flüge und teilweise überlastete Hotlines waren die Folge von mehreren Ereignissen. Das Ganze hat sich im Ergebnis zu einem Flughafenchaos in Deutschland aufsummiert. Man muss sagen: Insgesamt war das für die Passagiere, Tausende in Deutschland, eine einzige Zumutung, die auch unseres Landes, ehrlich gesagt, unwürdig war, meine Damen und Herren. Auch ich habe das selbst erlebt mit meiner Familie. ({0}) Wir wollen, dass sich dieses Flughafenchaos, das Tausende Fluggäste leidvoll erlebt haben, nicht wiederholt. Dafür braucht es strukturelle Veränderungen in der Organisation der Luftsicherheitskontrollen und keinen hilflosen Aktionismus, wie ihn die Passagiere diesen Sommer eben auch erlebt haben. Wir haben es erlebt: Auf der Pressekonferenz der Minister Wissing, Faeser und Heil wurde kurzfristig die Anwerbung von 2 000 Arbeitskräften aus der Türkei angekündigt. Das war jedenfalls keine Lösung, sondern das war ein PR-Flop ohne jede Wirkung; das muss man an der Stelle auch mal ganz klar sagen. ({1}) Denn tatsächlich waren bis zum 20. August gerade mal 60 Hilfskräfte in Deutschland eingetroffen, und nennenswert mehr dürften es bis heute auch nicht sein. Damit stehen die Flughäfen heute strukturell auch nicht besser da, als es im Sommer der Fall war. Die Ursachen sind klar: Wir hatten Engpässe bei den Personalbeständen, was vor allen Dingen darauf zurückzuführen ist, dass die Nachfrage sehr kurzfristig anzog. Wir haben einen allgemeinen Arbeitskräftemangel, hohe Krankenstände durch Corona und natürlich auch einen gewissen Wiedereingewöhnungseffekt, weil der Luftverkehr in Deutschland nahezu zwei Jahre zum Erliegen gekommen war. Diese Probleme gab es auch bei den Luftsicherheitskontrollen, für die die Bundespolizei und damit letztlich auch Bundesinnenministerin Faeser Verantwortung tragen. Wahr ist aber auch: Die Probleme sind nicht neu, wir haben sie schon mal erlebt. ({2}) Eine grundsätzliche Ursache für die wiederholten Probleme ist das fragmentierte und komplexe System der Luftsicherheitskontrollen in Deutschland. Ich bin der Überzeugung: Wir sollten hier keine unergiebigen ideologischen Debatten über Verstaatlichung oder Privatisierung führen, sondern wir sollten die Optimierungspotenziale im bestehenden System nutzen. Die sind aus unserer Sicht gewaltig. ({3}) Deshalb konzentrieren wir uns auch ganz bewusst auf Aspekte ohne einen Systemwechsel bei der Organisation, die wir jetzt umsetzen können, und gehen damit den Weg weiter, den auch das BMI in der letzten Wahlperiode schon begonnen hat. Wir wollen strukturelle Probleme bei den Passagier- und Gepäckkontrollen mit technologischen und organisatorischen Reformen dauerhaft beheben. Unser Ziel ist, dass die Sicherheitskontrollen schneller und effektiver werden, bei mindestens gleich hohen Sicherheitsstandards wie heute. Ich will auf die Probleme eingehen. Ein Problem ist in der Krise noch deutlicher geworden: Das sind die Zuverlässigkeitsüberprüfungen, die alle Beschäftigten im Sicherheitsbereich zu Recht durchlaufen müssen. Sie dauern einfach zu lange, und zudem sind sie nicht mal bundesweit gültig. Eine Zuverlässigkeitsüberprüfung, die in Hamburg durchgeführt wird, muss keine Geltung in Köln oder in Stuttgart haben, und umgekehrt gilt das Gleiche. Wir sind der Meinung: Diese Kleinstaaterei im Jahr 2020 ist absurd. Die ZÜPs müssen künftig bundesweit Geltung haben, meine Damen und Herren. ({4}) Auch das Personal, das frühmorgens vor Dienstbeginn die eigenen Flughafenmitarbeiter kontrolliert, darf dann anschließend in der Regel nicht die Passagierkontrollen durchführen, weil es einen anderen Bildungsgang und andere Behördenzuständigkeiten gibt. Das heißt, obwohl beide dieselben Tätigkeiten ausführen, sind sie nicht flexibel einsetzbar. Auch dies wollen wir ändern mit einer Vereinheitlichung der Ausbildung, damit die Mitarbeiter beide Kontrolltätigkeiten auch ausüben können. Last, but not least: Nicht nur im europäischen Ausland, sondern auch am Flughafen München gibt es bereits Kontrollspuren mit moderner Computertomografie. Diese CT-Technik ist komfortabel, und sie beschleunigt vor allen Dingen die Vorgänge, weil die Passagiere zum Beispiel ihre Laptops und Tablets nicht mehr auspacken müssen. Wir wollen, dass diese moderne CT-Technologie flächendeckend an allen deutschen Flughäfen zum Einsatz gebracht wird, meine Damen und Herren. ({5}) Ich komme zum Schluss. Ich glaube, wir können froh sein, dass wir einen so hohen Standard an Sicherheit im deutschen Luftverkehr haben. Der ist von allen Akteuren, die beteiligt sind, auch anerkannt. Das wollen wir unbedingt bewahren. Aber wir müssen jetzt mal Verbesserungen im System umsetzen. Wir sehen auch in diesen Tagen, dass die Probleme keineswegs behoben sind. Wir wollen den Luftverkehr krisenresistenter machen, aber vor allen Dingen auch passagierfreundlicher. Hierfür bietet unser Antrag sehr viele gute Ansätze. Deswegen werben wir um Zustimmung im weiteren Verfahren. Vielen Dank. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Peggy Schierenbeck. ({0})

Peggy Schierenbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005206, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen in Deutschland blicken dem Sommerurlaub Jahr für Jahr sehnlichst entgegen: ferne Ziele, weite Strände, sich einfach mal ein oder zwei Wochen von den Strapazen des Alltags erholen. Doch wer diesen Sommer das Urlaubsparadies suchte, musste zuerst durch eine kleine Hölle: bundesweit gestrichene Flüge, verlorenes Gepäck, lange Warteschlagen, auch an den Sicherheitskontrollen, dem Nadelöhr jedes Flughafens. Dieses Nadelöhr ist noch kleiner geworden, weil wir zu wenig Personal an den Flughäfen haben. Viele Angestellte in der Luftsicherheit wurden während des coronabedingten Reisestopps entlassen und haben sich einen neuen Job suchen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dadurch sind der Luftsicherheitsbranche viele Arbeitskräfte dauerhaft verloren gegangen. Gleichzeitig haben viele Branchen schon sehr lange einen hohen Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften. Die Unternehmen sind in der Konkurrenzsituation betreffend die besten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch in der Luftsicherheit macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar und zeigt sich eben in den uns leider bekannten schier endlosen Warteschlangen an den Sicherheitskontrollen. Als SPD sprechen wir uns daher schon lange dafür aus, dass wir das Modell an unseren Flughäfen umsetzen, das bei guten Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kurzen Warteschlangen führt, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Passagier- und Gepäckkontrollen der Flughäfen bei vollständig oder mehrheitlich staatlichen Sicherheitsgesellschaften anstellt, das dafür sorgt, dass die Menschen sich in ihrem Job wohlfühlen, das den Menschen mit Respekt begegnet. Das Modell, das diese Kriterien bisher erfüllt, ist das Münchner Modell. Mit dem Münchner Modell bieten wir den Menschen sichere und dauerhafte Stellen. Wir bieten ihnen einen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Wenn der Job krisensicher ist und das Gehalt stimmt, dann – das weiß jeder Arbeitgeber – zahlt sich das aus. In Bayern hat man so eine hohe Zufriedenheit, eine hohe Motivation und eine geringe Fluktuation festgestellt. Meine Damen und Herren, nicht mit dem Antrag der Union, sondern zum Beispiel mit dem Münchner Modell können wir die Luftsicherheit zu einer attraktiven und krisenfesten Branche machen. Ich lehne den Antrag der Unionsfraktionen ab, weil er ein hektischer Versuch ist, den Markt ein Problem regeln zu lassen, das er schon längst in den Griff hätte bekommen müssen. Die Luftsicherheitsaufgaben müssen zurück in die öffentliche Hand. Wir haben die öffentliche Sicherheit im Flugverkehr in private Hände gegeben. Das hat nicht so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Jetzt müssen wir sie zurückholen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich kann nur dafür werben, dass wir schon allein den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zuliebe die langfristige Umsetzung zum Beispiel des Münchner Modells, das sich bereits sehr gut bewährt hat, auf die Tagesordnung setzen. Vielen Dank. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die AfD-Fraktion spricht Dirk Brandes. ({0})

Dirk Brandes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005031, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch auf den Zuschauerrängen! Die CDU/CSU möchte Lehren aus dem Flughafenchaos ziehen. Dafür soll die Zuverlässigkeitsprüfung der Kontrollmitarbeiter verkürzt und die Durchführungsverantwortung für die Sicherheitskontrollen an die Flughafenbetreiber übertragen werden. Die Gepäck- und Sicherheitskontrollen sind jedoch ein Teilbereich der Terrorbekämpfung. Sicherheitsempfindliche Tätigkeiten sollen nach Willen der CDU/CSU jetzt durch Dumpinglöhner und Sozialhilfeempfänger ausgeführt werden, nicht mehr unter Verantwortung der Bundespolizei. ({0}) Wenn ich Ihren Antrag so lese, ({1}) stelle ich mir die Frage: Gehören neben Clans in NRW nun auch Gefährder zur erweiterten Wählerklientel der CDU/CSU? ({2}) Luftverkehr ist nach wie vor bevorzugtes Ziel des internationalen Terrorismus. Die Sicherheitsbehörden warnen nicht ohne Grund immer wieder vor einer möglichen Rekrutierung sogenannter Innentäter an Flughäfen. Deswegen ist es von höchster Notwendigkeit, dass hier nur überprüftes, loyales und absolut zuverlässiges Personal eingesetzt wird. ({3}) Unsere Haltung als AfD ist hier unmissverständlich: Wer an der Passagier- und Gepäckkontrolle eingesetzt wird, muss seine Zuverlässigkeit durch eine umfassende Überprüfung, zum Beispiel im Rahmen einer Ü1, nachgewiesen haben. Die Einbeziehung der Bundespolizei, der Zollkriminalämter, der Verfahrensregister und der Staatsanwaltschaften ist dabei von oberster Priorität. Deswegen kritisieren wir auch die Entscheidung unserer SPD-Innenministerin, türkische Gastarbeiter ohne umfassende Überprüfung für sicherheitsempfindliche Tätigkeiten einzusetzen. Positiv finde ich, dass die Union unsere Forderung nach inländischen Arbeitskräften und modernster Sicherheitstechnik im Antrag übernommen hat. Aber den Personalmangel und das daraus resultierende Chaos an unseren Flughäfen lösen wir nicht durch das Zahlen von Niedriglöhnen. Den Personalmangel lösen wir auch nicht durch unsichere Jobperspektiven, zum Beispiel durch Ihrer aller Coronahysterie. Der Personalmangel ist verursacht durch schlechte Arbeitsbedingungen. Das ist der Grund, warum die Leute an den Flughäfen schlicht und ergreifend hinschmeißen. Deswegen müssen wir dem Berufsbild Luftsicherheitsassistent eine Perspektive geben. Wir brauchen sichere statt nur flexible Beschäftigungsmöglichkeiten. Luftsicherheit ist eine staatliche Hoheitsaufgabe; die Durchführungsverantwortung muss bei der Polizei angesiedelt bleiben. ({4}) Personen, die für die Bundespolizei tätig werden, sollen nach dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz einer einfachen Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden können. Dann hätten wir eine einheitliche Zuverlässigkeitsüberprüfung, wie Sie von der Union das auch fordern, und der Verfassungsschutz übernähme endlich eine sinnvollere Aufgabe, als die demokratische Opposition zu bespitzeln. ({5}) Machen wir die Jobs an den Flughäfen wieder attraktiv! Dann verhindern wir auch die chaotischen Verhältnisse für die Fluggäste. Wir freuen uns auf die Beratung. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({6})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort Marcel Emmerich. ({0})

Marcel Emmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Situation an den deutschen Flughäfen war diesen Sommer zweifellos desaströs. Für viele Menschen hatte der Urlaub dadurch nichts mit Erholung und Entspannung zu tun, sondern endete bei An- und Abreise oft im Chaos. Meine Schwägerin wappnete sich deswegen und ging extra acht Stunden vor Abflugzeit zum Flughafen, um möglichen Chaossituationen auszuweichen. Wir müssen den Blick auf die nächste Sommersaison richten. Wir müssen da Abhilfe schaffen und Vorsorge treffen; das ist jetzt ganz entscheidend. Ich kann es der Union an dieser Stelle mal wieder nicht ersparen, darauf hinzuweisen, wer denn die letzten 16 Jahre in diesem Land die Verantwortung in der Regierung getragen hat. ({0}) Ich weiß, das passt Ihnen nicht; aber diesen Fakt kann man an dieser Stelle einfach mal wieder nicht unerwähnt lassen; das muss man herausstreichen. ({1}) Es liegen nun verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. Es gibt ja auch konstruktive Vorschläge in Ihrem Antrag, will ich sagen. Es gibt das bayerische Modell, das Konzept „Neue Welt“ oder die GdP-Vorschläge zur Neuordnung der Organisation der Luftsicherheitsaufgaben, und das alles schauen wir uns jetzt sehr intensiv an und prüfen Stärken und Schwächen der einzelnen Modelle. Man kann schon sehen: Es wird auf die Schnelle nicht möglich sein, die Kontrollen an den Flughäfen ganz in staatliche Hände zu legen, wie das in Bayern der Fall ist, auch wenn in meinen Augen prinzipiell einiges dafür spräche. Die privaten Sicherheitsdienste werden auf absehbare Zeit weiterhin eine sehr zentrale Rolle übernehmen. Und – das ist vollkommen klar – da darf es unter keinen Umständen Rabatt bei der Sicherheit geben. Deswegen finden wir es auch ganz grundsätzlich wichtig und haben das im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die privaten Sicherheitsdienste mit verbindlichen Standards in einem eigenen Gesetz reguliert werden. Das ist wirklich lange überfällig. Natürlich kann man den Personalmangel an deutschen Flughäfen auch nicht losgelöst lassen von der allgemeinen Fach- und Arbeitskräftesituation in Deutschland. Man wird sicherlich auch hier an einigen Stellschrauben drehen können und müssen, um sowohl die Abfertigung selbst als auch den Einsatz von Personal schneller und effektiver zu gestalten. Hier sollte man durchaus zusammen mit den Ländern schauen, was möglich ist, ohne die Sicherheit zu gefährden. Ein entscheidender Faktor ist natürlich, qualifiziertes Personal zu finden. 7 000 Beschäftigte fehlen an deutschen Flughäfen. Da möchte ich Sie, Herr de Vries, ansprechen: Sie haben ja selber gesagt, dass es den allgemeinen Arbeitskräftemangel in diesem Land gibt. Und wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann sieht man, dass eine entscheidende Forderung fehlt, nämlich ein modernes Einwanderungsrecht, mit dem wir hier Abhilfe schaffen können, mit dem wir dafür sorgen können, geeignete Fach- und Arbeitskräfte auch für die Luftsicherheitsbranche zu finden bzw. auszubilden. Das ist etwas, was wir auf den Weg bringen werden. Da sorgen wir für ein modernes Deutschland und sorgen an dieser Stelle auch dafür, dass wir in der Luftfahrtbranche vorankommen. Vielen Dank. ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach zwei Jahren gravierender Einschränkungen im Reise- und Urlaubsverkehr durch die Coronapandemie kam es vollkommen überraschend, dass die Menschen im Falle einer weitgehenden Lockerung dieser Beschränkungen wieder Urlaub machen wollen. Und es konnte auch niemand wirklich ahnen, dass ab Mitte Juni 2022 die Sommerferien in den Kalendern standen, was viele Familien dazu veranlasste, ausgerechnet für diesen Zeitraum ihren wohlverdienten Jahresurlaub zu buchen. Und wenn dann teilweise nur 30 Prozent der Flughafenkapazitäten beim Sicherheitscheck zur Verfügung stehen, dann ist es auch vollkommen überraschend, dass hier Chaos entsteht und dieses Chaos wochen- und monatelang Alltag war. Nach so viel Ironie und Sarkasmus aber zu den Fakten. Wir sollten uns zuallererst einmal bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die an den Flughäfen ihren Dienst gemacht haben. ({0}) Nicht selten waren sie die Einzigen, die sich den Unmut von zu Recht frustrierten Reisenden anhören mussten, weil von den Verantwortlichen niemand in der ersten Reihe stand, es sei denn getarnt als Fluggast. Zweitens. Wir sollten noch einmal vorsichtig hinterfragen, warum diese Situation eingetreten ist. Man kann nicht alles immer auf Corona und deren Folgen schieben. Seit Jahren muss immer alles flexibler, billiger, privater und wettbewerbsgerechter werden, und dieser Wettbewerbsfetischismus ist uns hier mal so richtig auf die Füße gefallen. ({1}) Bei vielen Beschäftigten am Sicherheitscheck ist Folgendes an der Tagesordnung: Sieben Tage der Woche sind Werktage. Die Arbeitszeit wird nur von wenigen Nachtstunden unterbrochen. Geteilte Dienste, also zum Beispiel früh vier Stunden und abends vier Stunden arbeiten, sind keine Seltenheit. Und oft arbeiten die Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen oder bei Leihfirmen. Ich kann hier jeden und jede verstehen, die spätestens Corona zum Anlass genommen hat, sich einen neuen Job zu suchen. Auch das war wenig überraschend. Als Linke fordern wir: Die Sicherheitskontrollen an öffentlichen Flughäfen gehören, was das Personal angeht, in den öffentlichen Dienst; das sind auch hoheitliche Aufgaben. Dies würde die Arbeitsbedingungen, den Verdienst und die Langfristigkeit von Arbeitsplätzen verbessern. Systembedingte Ausfälle wie bei Corona müsste dann die Öffentlichkeit bezahlen und nicht die Beschäftigten und die Fluggäste. Leider fehlt dies, auch wieder vollkommen überraschend, im Antrag der Union. Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! ({2})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Manuel Höferlin. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt, den wir gerade besprechen, ist ein wichtiges Thema, weil viele Menschen in Deutschland, wenn sie geschäftlich unterwegs sind, in den Urlaub unterwegs sind oder einfach irgendwohin fliegen wollen, aus welchem Grund auch immer, bemerken, dass sie am Flughafen nicht zügig durch die Kontrollen kommen, ihr Gepäck fehlt. Dass da etwas nicht stimmt, merkt jeder. Und deswegen habe ich mich sehr gefreut, als ich Anfang der Woche den Antragstitel gelesen habe. Ich war gespannt, was die Union uns jetzt vorschlägt, habe Ihren Antrag gelesen ({0}) und festgestellt, dass Sie die Situation beschreiben. Ich dachte: Wow! Da musst du mal nachgucken, seit wann eigentlich dieses System besteht, das da so schlecht funktioniert. Und stellen Sie sich vor: Das gibt es seit Längerem. ({1}) – Ich weiß nicht, ob es seit 16 Jahren so ist; aber ich habe mal nachgeguckt, wie viele Innenminister dieses System aufgebaut haben und von welcher Partei sie waren. Und stellen Sie sich vor: Es waren Sie. Ich war total überrascht. Und dann schreiben Sie im Feststellungsteil Ihres Antrags – ich zitiere –: Ein wesentlicher Grund für das Flughafenchaos … – dann ein bisschen Lyrik – ist die fragmentierte Organisation der staatlichen Luftsicherheitskontrollen an vielen deutschen Flughäfen. Und wer hat es gemacht? Sie haben es gemacht. ({2}) Sie haben das organisiert in den letzten Jahren. Wir waren es nicht. Sie schreiben auch, dass es strukturelle Probleme gibt und dass man ganz dringend etwas ändern muss. ({3}) Ich teile das vollständig. Die Lagebeschreibung enthält viele Dinge, die jeder weiß, nichts Neues. Sie schreiben eigentlich ein Zeugnis über Ihre Zeit im Innenministerium, und, ehrlich gesagt, mit Ihrem Einleitungstext haben Sie sich ein „Ungenügend“ ausgestellt. ({4}) Ich will zum Forderungsteil weitergehen. Sie schreiben ja zu Recht, dass wir etwas ändern müssen. Das ist richtig; denn so, wie Sie es gemacht haben, kann es nicht bleiben. Wir haben uns als Koalition auch einige Dinge vorgenommen. Wir haben uns zum Beispiel vorgenommen, dass Luftsicherheitskontrollen sicher und passagierfreundlich durchgeführt werden müssen. ({5}) – Ja. – Und was machen wir? ({6}) Sie beschreiben in Ihrem Forderungskatalog eigentlich wieder den Status quo. Sie beschreiben in Ihrem Forderungskatalog das bayerische Modell als ganz gut, und dann das Frankfurter Modell, das in wenigen Wochen startet, auch als ganz gut; das müssten wir irgendwie weitermachen. Dann fordern Sie noch irgendein Pilotprojekt an einem weiteren Flughafen. Und das, was jetzt in Frankfurt kommt, das wollen Sie in einem Jahr, Ende 2023, evaluieren, also nach dem nächsten Sommerurlaub. Das kann man machen, ist aber nicht wirklich hilfreich im nächsten Sommerurlaub, meine Damen und Herren. ({7}) Deswegen wäre es, glaube ich, klüger, wenn das, was schon auf den Weg gebracht ist, was wir als Koalition schon machen, zeitnah begleitet wird. Der Kollege Emmerich hat es ja gesagt: Wir sind derzeit in Gesprächen. ({8}) Ich kann Ihnen versichern: Wir sind in Gesprächen, wie wir das System zukunftsfest aufstellen können. Weil Sie den Karren bei der Luftsicherheit in den Dreck gefahren haben, müssen wir ihn halt wieder rausziehen. Das werden wir tun, und am Ende werden wir ein anderes System haben, meine Damen und Herren. ({9}) Interessant und richtig beschrieben ist das Problem der Zuverlässigkeitsüberprüfungen des Personals, das dort arbeitet. Es spielt übrigens keine Rolle, wie bzw. in welchem System dieses Personal am Ende eingestellt wird. Diese Personen werden auch in Zukunft zuverlässigkeitsüberprüft sein müssen. Die Zuverlässigkeitsüberprüfungen werden von den Ländern durchgeführt; das schreiben Sie auch im Forderungskatalog. Wir sprechen mit den Ländern darüber; aber am Ende müssen die Länder ein schnelleres System für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfungen entwickeln. Ich habe noch mal nachgeschaut: Die FDP stellt keinen Länderinnenminister, allerdings sind viele Ihrer Kollegen darunter. Sprechen Sie doch mal mit den Ministern, die dafür zuständig sind! Übrigens ist das gar nicht so trivial – das wissen Sie auch –, weil die Länder da ganz unterschiedlich aufgestellt sind. Am Ende muss ich sagen: Ihr Forderungskatalog, Ihr Antrag, das, was Sie fordern, ist eine Verpackung ohne Inhalt. Sie beschreiben das, was Sie seit Jahren aufgestellt haben, ({10}) fordern uns zu etwas auf, was wir schon längst machen, und beschreiben mit viel Lyrik, dass etwas geändert werden muss, obwohl wir auch das schon tun, weil natürlich ein neues System aufgestellt werden muss, weil das, was Sie uns hinterlassen haben, nicht funktioniert. Frau Wittmann, Sie haben vorhin so schön reingerufen, das, was Sie gemacht haben, habe jahrelang funktioniert. Sie haben also selbst zugegeben, dass das, was uns jetzt in dieser Situation Probleme macht, Ihr System ist. Sie können sich ja gleich mal dazu äußern, warum Ihr System gut für die Zukunft gerüstet sein soll. Das haben Sie ja jahrelang betrieben. Ich kann Ihnen eins sagen: Wir als Koalition werden ein System entwickeln, in dem Luftsicherheitskontrollen sicher und passagierfreundlich sind. ({11}) Das, was Sie uns nach 16 Jahren hinterlassen haben, können wir nicht innerhalb von Monaten aufräumen. Die Zeit nehmen wir uns, und so lange werden Sie warten müssen. ({12})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die CDU/CSU hat das Wort die Kollegin Mechthilde Wittmann. ({0})

Mechthilde Wittmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Staatssekretärin! Kolleginnen und Kollegen! Ja, in der Tat ist es notwendig, dass wir eingreifen; denn in diesem Jahr, also seit Sie am Ruder sind, hat es erstmals nicht geklappt – erstmals! ({0}) Ich sage Ihnen eines: Die Flughäfen sind nicht nur Infrastruktur- und Servicepartner für unsere Bürgerinnen und Bürger, sondern sie sind vor allen Dingen auch sichere Sicherheits- und Einreisekontrollstellen – das müssen sie sein; in dieser Zeit noch mehr als je zuvor –, und sie spiegeln ein Bild, das die Menschen mitnehmen, wenn sie Deutschland verlassen. Deshalb können diese Zustände nicht hingenommen werden. ({1}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch einmal differenzieren. Wir haben Flughäfen, die auch ohne irgendeine Belastungsspitze einfach nicht zurechtkommen; blühendes Beispiel – das kennt fast jeder hier im Hause –: Berlin. Wir haben Flughäfen, die zu Stoßzeiten in Schwierigkeiten geraten, Beispiel Düsseldorf. ({2}) – Das stimmt, auch ohne Stoßzeiten kommen die in Probleme; genau so ist es. – Und wir haben Flughäfen, da funktioniert es, auch wenn unerwartet eine hohe Passagierzahl auftritt, und zwar sowohl bei den Gepäckkontrollen als auch bei den Sicherheitskontrollen. Das blühende Beispiel dafür ist München. In München, übrigens in der Hand der Union, ({3}) regieren wir seit vielen Jahrzehnten erfreulicherweise alleine. München ist die Landeshauptstadt Bayerns, und Bayern hat das im Griff und macht das gut. Wir konnten in der Krise in diesem Sommer sogar das in Frankfurt liegengebliebene Gepäck mit abfertigen. Ein Beispiel für funktionierende Flughafeninfrastruktur! ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns auch die Probleme differenzieren. Bei der Gepäckabfertigung ist das Problem relativ einfach. Es war nicht zu erwarten, dass der Flugverkehr so anzieht. Aber jetzt sage ich Ihnen eines: Zu dem Zeitpunkt hatten wir eine Arbeitslosenzahl von 2 363 000 hier in Deutschland. Sie wollten 2 000 türkische Staatsbürger anwerben. Eine gute Idee. Wollen Sie mir sagen, dass von diesen über 2 Millionen Arbeitslosen nicht einmal 1 Promille in der Lage gewesen wären, Gepäck zu verladen? Wirklich? Das ist ein Symptom Ihrer Politik. Die Vermittlung von Arbeitskräften hat nicht funktioniert, und mutmaßlich gibt es auch keinen Anreiz mehr; denn Sie haben die Sanktionen ausgesetzt, und es gibt kein Lohnabstandsgebot mehr. Das ist das erste große Symptom Ihrer falschen Politik, meine Damen und Herren. ({5}) – Sie haben überhaupt nichts hingekriegt. Sicherheitskontrollen waren das zweite Problem. Unser Problem ist hier in der Tat die Zuständigkeit des Bundes. Natürlich hatten wir einen hohen Krankheitsstand. Aber ich sage Ihnen: Auch hier ist die Frage, wie die ganze Geschichte angegangen wird. In München haben wir nun mal eine Gesellschaft, die vollständig in bayerischer Hand ist und entsprechend gelenkt und geführt wird. Dort funktionieren die Sicherheitskontrollen auch in Stoßzeiten, auch weil moderne Technik – der Kollege hat es angeführt – bereits seit Längerem hocherfolgreich angewendet wird. Bei den anderen Flughäfen ist das eben nicht so. ({6}) Meine Damen und Herren, es ist doch keine Lösung, auf die Bundespolizei zu setzen und zu sagen: „Die müssen da jetzt auch noch mit aushelfen“; ({7}) denn die Bundespolizei hat bereits einen erheblichen Aufgabenaufwuchs. Dafür ist der laufende Haushalt absolut unzureichend. Dazu haben Sie im Einzelplan 06 bei der Luftsicherheit – man höre und staune – den Ansatz im kommenden Jahr im Vergleich zu 2022 – also nicht 2021, sondern 2022 – um rund 150 Millionen Euro gekürzt. Und das ist keine Frage der Umsatzsteuer; die ist nämlich bereits in 2021 ausgesetzt worden. Damit ist dies schlicht und ergreifend ein Versagen bei der Unterstützung der Luftsicherheit und damit auch der Sicherheitskontrollen. ({8}) Deswegen, meine Damen und Herren, kann ich Sie nur nochmals bitten: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Er sagt genau die richtigen Dinge, wie es gemacht werden muss. ({9}) – Herr Höferlin, ich danke. – Auf diese Art und Weise werden wir für die Reisenden wieder ein vernünftiges System anbieten können, so wie München es schon seit Jahren anbieten kann, weil es dort unter Unionsführung seit vielen Jahrzehnten einfach gut läuft. Vielen Dank. ({10})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Sebastian Fiedler. ({0})

Sebastian Fiedler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser „Bayern first“-Rede bin ich wirklich froh, dass es mit der Kanzlerkandidatur des Ministerpräsidenten nicht geklappt hat. ({0}) Aber jetzt kommen wir wieder zurück zum Antrag; das ist ja vielleicht der spannendere Teil, über den wir sprechen wollen. Ich habe mich ein bisschen gewundert, dass Sie darübergeschrieben haben: „Lehren aus dem Flughafenchaos“, ({1}) weil die Unionsfraktion doch eigentlich immer für Sicherheit zu haben ist. Ich hätte darübergeschrieben: „Sicherheit im Flugverkehr“. Wenn man sich den Antrag ansieht und nicht nur auf Ihre Reden achtet, dann kommt man wirklich zum Ergebnis, dass Sicherheit eine etwas untergeordnete Bedeutung zu haben scheint. Das wundert mich ein bisschen. Das unterscheidet jedenfalls den reinen Text des Antrags von der Haltung der Bundesinnenministerin und von der Haltung der Ampel: Sicherheit hat oberste Priorität, unverrückbar. Das muss man ganz klar sagen. ({2}) Der zweite Punkt – ich glaube, die Passagiere sehen das genauso –: Bei all denen, die geschimpft haben, wird keine Einzige oder kein Einziger dabei gewesen sein, der gesagt hätte: Auch zulasten der Sicherheit wäre es uns lieber, wenn wir jetzt schnell raus wären. – Deswegen möchte ich der Bundespolizei, der Landespolizei und all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die trotz der Hektik in diesem Sommer und darüber hinaus für die Sicherheit gesorgt haben, noch einmal ganz deutlich herzlichen Dank sagen. ({3}) Jetzt noch mal ganz kurz zum Antrag der CDU/CSU. Er besteht im Prinzip aus zwei Elementen. Der eine Teil, der Beschreibungsteil, versucht, ein Chaos herbeizureden, das, wie Sie selber gerade festgestellt haben, übrigens nicht an allen Flughäfen der Fall gewesen ist; insbesondere in Bayern war es offenbar nicht der Fall. Im zweiten Teil listen Sie auf, was alles zu tun sein soll. Zum ersten Teil. Was ist tatsächlich geschehen seitens der Bundesregierung? Der Personalbestand wurde bei 80 bis 85 Prozent gehalten. Es ist sehr viel Geld investiert worden. Betriebsbedingte Kündigungen sind abgewendet worden. Es ist in Kurzarbeit investiert worden. Wir haben das Mindestauftragsvolumen festgehalten. Da ist richtig Geld investiert worden in dieser Zeit. Unter anderem sind Luftsicherheitsgebühren gestundet worden. ({4}) Die Durchsatzraten wurden gesteigert. Bei gleichbleibender Sicherheit ist teilqualifiziertes Übergangspersonal eingesetzt worden. Die Bundespolizei hat sich engagiert. Örtliche Konferenzen sind abgehalten worden, Arbeitsgruppen mit den Dienstleistern und natürlich Dialoge mit den Ländern. Insoweit will ich sagen: Der vordere Teil Ihres Antrags ist eine pure Unverschämtheit gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministerien, die sich wirklich den Hintern aufgerissen haben in diesem Sommer. Das sollten Sie sich noch mal genauer überlegen! ({5}) Im Übrigen hat sich gezeigt, dass in den Osterferien das Ganze durchaus etwas besser funktioniert hat. Man muss an dieser Stelle durchaus noch einmal erwähnen – das darf jetzt nicht unerwähnt bleiben –, dass die Wirtschaft hier einen Teil der Verantwortung trägt. Das Ministerium hat versucht, darauf hinzuwirken, dass die Zeiten entzerrt werden. Wenn sehr viele Flieger gleichzeitig abheben, hat das natürlich Auswirkungen; das will und kann die Bundesregierung nicht bis ins Letzte beeinflussen. Check-in-Schalter waren ein Thema, der Umgang mit den Fast Lanes war ein Thema, und die 2 000 Leiharbeiter waren ein Thema. Das war im Übrigen keine Idee der Bundesregierung, sondern der Luftfahrtindustrie; deren Vorschlag waren sie. Die Bundesregierung hat alles unternommen, um diese Personen anzuwerben. Leider konnte die Luftverkehrsindustrie ihre Dinge nicht einsetzen. Am Ende kann ich es ganz einfach machen: Ich habe mir hinter Ihre Forderungen geschrieben, wie wir sie einschätzen. Zu Punkt 1: Zertifizierung erfolgt. Punkt 2: läuft. Punkt 3: längst in Arbeit. Punkt 4: schon fast fertig erarbeitet. Punkt 5: Qualifikationsmodule fertig. Punkt 6: Evaluation erfolgt bereits. Punkt 7: Gespräche mit Flughafenbetreibern laufen längst. ({6}) Punkt 8: Digitalisierungsprojekte laufen längst. Biometrie in dem Zusammenhang versteht kein Mensch. ({7}) Punkt 9: Bester Anbieter erhält den Zuschlag; Sicherheit first. Punkt 10: bereits erfolgt. Die Luftsicherheitsgebührenverordnung ist seit Jahren überarbeitungswürdig. Ich erinnere daran: Wer war noch mal im Amt?

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Sebastian Fiedler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Punkt 11: Die Bundesregierung rekrutiert keine Mitarbeiter. Wer hat eigentlich den Text Ihres Antrags geschrieben? Der Antrag ist nicht von gestern, er ist von vorgestern. Wir sind – das muss ich zu Ihrer Enttäuschung wirklich sagen – zehn Schritte weiter; es tut mir leid.

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Letzter Satz bitte, Herr Kollege Fiedler.

Sebastian Fiedler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Susanne Menge. ({0})

Susanne Menge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005149, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU ist nicht nur von vorgestern, wir beraten ihn jetzt zum zweiten Mal; wir haben ihn ja bereits vor wenigen Monaten debattiert. Das sommerliche Flughafenchaos ist in meinen Augen nicht das größte Problem, das wir im Bereich des Luftverkehrs aktuell haben. ({0}) Sei’s drum. Die unzureichende Personalsituation war nicht nur, wie Sie schreiben, pandemiebedingt. Man muss kritisch anmerken, dass im Zuge der Coronapandemie mehr Personal entlassen wurde, als angesichts der Ausweitung des Kurzarbeitergeldes und weiterer massiver Unterstützungsmaßnahmen unbedingt nötig gewesen wäre; zumindest die Lufthansa hat das selbst eingeräumt. In der Krise sollten offenbar nicht nur bestehende, sondern auch kommende Personalkosten gedrückt werden. Dass entlassene Mitarbeiter/-innen nicht an ihre Arbeitsplätze an den Flughäfen zurückkehren wollten, wirft zudem ein Schlaglicht auf die dortigen Arbeitsbedingungen. Sie kritisieren, dass die Bundesregierung nicht zügig Abhilfe für die von der Branche selbst zu verantwortenden Probleme geschaffen hat. Dieser Kritik schließe ich mich nicht an. Anders sieht es allerdings im Hinblick auf eine Verbesserung der Passagier- und Gepäckkontrollen an den Flughäfen aus. Kein Mensch kann sich ernsthaft unnötig komplizierte Prozesse wünschen. Mit Ihren diesbezüglichen Vorschlägen können wir zumindest teilweise mitgehen. Das Projekt „Neue Welt“ am Flughafen Frankfurt zum Beispiel ist ein guter Versuch. Der Flughafenbetreiber Fraport wird ab 2023 mit der Aufgabe beliehen, die Luftsicherheitskontrollen selbst zu steuern, passend zur jeweiligen Gesamtsituation am Terminal. Es ist naheliegend, dass es dem Flughafenbetreiber leichter fällt als der Bundespolizei, auf Basis der Flugpläne das Personal so zu disponieren, dass keine unzumutbaren Wartezeiten entstehen. Es ist sinnvoll, diese sowie weitere alternative Prozesse zu evaluieren und gegebenenfalls Konsequenzen daraus zu ziehen – was ja bereits passiert. Daneben fordern Sie aber auch Maßnahmen zur Eindämmung der Kosten für die Passagier- und Gepäckkontrollen. Hierbei steht für uns fest: Weiteres Steuergeld dürfen diese Maßnahmen nicht beinhalten. An manchen Flughäfen sind die Luftsicherheitsgebühren schon jetzt nicht kostendeckend, und die Luftsicherheitskontrollen wurden am Ende Ihrer Regierungszeit von der Umsatzsteuer befreit, beides auf Kosten der Steuerzahler/-innen. Für uns gilt ganz klar: bessere Organisationsformen ja, mehr Steuergeld aber nein. ({1})

Yvonne Magwas (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004346

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Anja Troff-Schaffarzyk. ({0})

Anja Troff-Schaffarzyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir hier im Bundestag zum wiederholten Mal so intensiv über die Wege zu einem stabilen Flugbetrieb reden; das haben wir ja, wie die Kollegin Menge gerade schon gesagt hat, erst im Juli getan. Da war die Essenz der Plenardebatte, dass, weil der Luftverkehr ein äußerst komplexes System mit verschiedenen beteiligten Akteuren und Berufsgruppen ist, es schwierig ist, von jetzt auf gleich zu einem störungsfreien Betrieb zurückzukehren. Der Antrag der Union trägt diesen Erkenntnissen nur sehr bedingt Rechnung. Er vermittelt, dass alles ganz einfach sei und die Bundesregierung über Nacht alle Probleme bewältigen könnte. ({0}) Laut Ihrem Antrag stehen viele Menschen ohne Arbeit sofort bereit, um an den Flughäfen Hilfstätigkeiten zu übernehmen. Sie suggerieren, es habe sich bisher nur niemand drum gekümmert. Sie wissen, dass dies angesichts annähernder Vollbeschäftigung, der persönlichen Realitäten der Betroffenen und des ohnehin vorhandenen starken Engagements der Jobcenter für diese Menschen oft unrealistisch ist. Aber immerhin haben Sie damit eine Schlagzeile produziert; dazu herzlichen Glückwunsch! In meiner Rede in der letzten Debatte habe ich kritisiert, dass die CSU-geführten Ministerien in der letzten Legislaturperiode die Übernahme der Luftsicherheitskontrollen durch staatliche Gesellschaften wie im Münchner Modell nicht weiterverfolgen wollten. Heute fordern Sie genau das von der Bundesregierung. Auf der anderen Seite loben Sie zugleich das Konzept „Neue Welt“ des Frankfurter Flughafens, welches das Gegenteil der Organisation in München ist. Das verwirrt mich etwas. Was wollen Sie denn nun? ({1}) Viele andere Forderungen der Union sind bereits durch aktives Handeln erledigt: Ein Luftfahrtgipfel fand statt. Die Verfahren der Zuverlässigkeitsprüfung wurden beschleunigt, und die beteiligten Ministerien sind im ständigen Dialog zu weiteren Maßnahmen. Wie Sie sehen, sind viele Verbesserungen längst umgesetzt oder auf den Weg gebracht; das hat der Kollege Fiedler gerade auch sehr deutlich gemacht. Von daher sehen wir keine Notwendigkeit für diesen Antrag und lehnen ihn deshalb ab. Danke schön. ({2})

Cem Özdemir (Minister:in)

Politiker ID: 11002746

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antibiotikaresistenzen sind eines der größten Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Manche sprechen gar von der „stillen Pandemie“. Wenn wir auch in Zukunft etwas Wirkungsvolles gegen Krankheiten bei Mensch und Tier in der Hand haben wollen, müssen wir den Einsatz von Antibiotika weiter absenken. ({0}) Mit der Änderung des Tierarzneimittelgesetzes und weiterer Vorschriften kommen wir dabei einen großen Schritt voran. Erstens müssen Tierärztinnen und Tierärzte ab dem nächsten Jahr die Anwendung von Antibiotika bei allen Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten melden. Das schafft endlich mehr Transparenz. Zweitens nehmen wir weitere Nutzungsarten auf: Milchkühe, Jung- und Legehennen, Sauen mit Saugferkeln und zugekaufte Kälber. Die Wissenschaft weist uns darauf hin, dass es hier spürbare Reduktionspotenziale gibt. Drittens stärken wir die zuständigen Überwachungsbehörden. Sie sind künftig gesetzlich verpflichtet, Anordnungen und Maßnahmen zu treffen, wenn dies zur Verringerung des Antibiotikaeinsatzes in einem tierhaltenden Betrieb erforderlich ist. Das sorgt für Klarheit. Und viertens soll es einen Wichtungsfaktor bei solchen Antibiotika geben, die aufgrund ihrer therapeutischen Relevanz eine kritische Bedeutung haben, zum Beispiel Fluorchinolone. Das sorgt dafür, dass diese Wirkstoffklassen so selten wie möglich eingesetzt werden; denn Antibiotika mit kritischer Bedeutung müssen wirksam bleiben bei schwersten Erkrankungen von Mensch und Tier. Das ist gerade dann immens wichtig, wenn es überhaupt kein anderes Medikament mehr gibt. Klar ist aber auch: Bei allen Bestrebungen nach Antibiotikaminimierung gebietet es geradezu der Tierschutz, dass kranke Tiere weiter behandelt werden können. Die Anwendung muss aber auf das therapeutisch unvermeidbare Minimum reduziert werden. ({1}) Das ist übrigens nicht nur eine Frage der Tiergesundheit, sondern in der Regel auch eine Frage der Tierhaltung – das will ich ausdrücklich sagen –; denn zu viele Antibiotika im Stall sind immer auch ein Zeugnis dafür, dass Tiere offensichtlich falsch gehalten werden. ({2}) Aus diesem Grund packen wir den Wandel hin zu einer zukunftsfesten Tierhaltung entschieden an. Gerade erst am Mittwoch haben wir im Bundeskabinett das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz beschlossen, und wir haben auch in der Koalition dazu eine wichtige Einigung erzielt, wofür ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Die Anschubfinanzierung von 1 Milliarde Euro kann jetzt sowohl für Investitionen in den Umbau der Ställe verwendet werden als auch für laufende Mehrausgaben, wenn weniger Tiere künftig besser gehalten werden. ({3}) Das ist ein ganz wichtiges Signal an unsere Landwirtinnen und Landwirte, auf das sie schon lange gewartet haben auf dem Weg hin zu einer zukunftssicheren Landwirtschaft. Das ist auch ein wichtiges Signal an unsere Verbraucherinnen und Verbraucher, um ebenfalls dem Wunsch nach einer besseren Tierhaltung nachzukommen. So wie wir das heute auf der Tagesordnung stehende Arzneimittelgesetz hoffentlich verabschieden, wird das ein weiterer wichtiger Schritt sein auf dem Weg hin zu einer zukunftsfesten Tierhaltung. Meine Damen, meine Herren, bitte stimmen Sie unserem Vorhaben zu. Die Zeit ist reif. Danke. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dieter Stier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004168, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Minister Özdemir! Meine Damen und Herren! Zahlen – das ist bekannt – sind unbestechlich. Nüchtern beschreiben sie die Realität, ohne Wenn und Aber. Eine dieser sehr nüchternen Zahlen hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit erst im August vorgelegt. Das erfreuliche Ergebnis: Der Antibiotikaeinsatz in Deutschland ist drastisch zurückgegangen, um satte 100 Tonnen im Vergleich zum Vorjahr. Ja, ich will die Zahl gerne wiederholen: 100 Tonnen weniger Antibiotika, die zum Einsatz kamen. Ich denke, das ist eine beachtliche, das ist eine sehr konkrete Erfolgsmeldung, die aber das von Ihnen, Herr Minister, geführte Bundeslandwirtschaftsministerium in einer extra dünnen und sehr trockenen Pressemitteilung versteckt hat. Warum? Weil dieser Erfolg eben nicht der Erfolg der im Amt befindlichen Bundesregierung ist – das muss man klar sagen –, sondern das ist der Erfolg der letzten Regierungen, der unionsgeführten Bundesregierungen, die diesen Durchbruch erst konkret erreicht haben. ({0}) Seit 2011 ist der Einsatz von Antibiotika damit um 65 Prozent gesunken. Sie ernten jetzt die Früchte von einem Baum, den Sie selbst nicht gepflanzt haben. ({1}) Doch anstatt diese Entwicklung zu begrüßen, sie angemessen zu würdigen und den Landwirten und der Tierärzteschaft öffentlich für ihre große Umsicht zu danken, präsentieren Sie waghalsige Legenden. Nicht die Landwirte hätten verantwortlich gehandelt – diese Fähigkeiten sprechen Sie ihnen ab –; vielmehr seien lediglich die Tierzahlen gesunken und das sei wohl der einzig wahre Grund für den Rückgang. Ich glaube, mit dieser bizarren Deutung fallen Sie all jenen in den Rücken, die seit Jahren sehr hart und engagiert an der Antibiotikareduktion gearbeitet haben und damit einen großen Schritt in Richtung Vermeidung von Resistenzen gegangen sind. ({2}) Meine Damen und Herren, wir als Unionsfraktion sagen an dieser Stelle ganz klar: Der größte Dank gilt allen Landwirten und allen Tierärzten im Land, die dieses Ergebnis überhaupt erst möglich gemacht haben. Es ist allein deren Erfolg. Die Tierhalterinnen und Tierhalter, aber auch die Veterinäre im Land haben unter schwierigen Bedingungen eine beeindruckende Leistung vollbracht, und das verdient unsere größte Anerkennung. Jetzt sage ich Ihnen von der Fortschrittskoalition: Wenn Ihnen schon dort wenig Dank an die Praktiker über die Lippen kommen will, dann sollten Sie wenigstens bei der heute anstehenden Gesetzgebung die positive Entwicklung anerkennend berücksichtigen. Doch auch hier weit gefehlt: Sie wollen trotz dieser großen Erfolge unsere Landwirte jetzt noch härter an die Leine nehmen und auch bei den Tierärzten die Zügel noch einmal richtig straffen. Vernunft ist dabei leider nicht der Maßstab. Im vorliegenden Gesetzentwurf finden wir mehr Bürokratie, mehr Vorschriften, mehr Reglementierung. Sie planen ein Tierarzneimittelgesetz ohne Maß und Mitte, maximale Verschärfung ohne Rücksicht auf die Realität. Fernab jeder Kenntnis von der Praxis wird ein bürokratisches Monster geschaffen, welches von den Verbänden bereits scharfe Kritik erfahren hat. Sie wollen dafür nicht einmal selbst einstehen. Ich will hier nur ein Beispiel herausgreifen: In der Begründung des Gesetzentwurfes verweisen Sie geschickt auf die EU. Sie vermitteln den Eindruck, die EU‑Verordnung würde das alles jetzt sofort zwingend nötig machen. Das ist falsch. Die EU‑Verordnung fordert tatsächlich erst für das Jahr 2024 die erweiterte Datenübermittlung, die Sie schon jetzt vorzeitig mit der Brechstange erzwingen wollten, und das, obwohl die nötigen Voraussetzungen hierzu noch gar nicht geschaffen worden sind. Sie brauchen zumindest die nötigen Übermittlungsstrukturen, wenn Sie zugleich auch noch die Nutzungsarten – wie Sie das vorhin bekannt gegeben haben – erweitern wollen. Ich frage mich: Wie soll das sonst gehen? Ihr Eifer in der Sache zeigt mir vor allem eins: Sie waren noch nie so weit weg vom Alltag unserer Landwirte und Tierärzte wie heute. Ich bin der Meinung, das wird so nicht funktionieren. Mit utopischen Vorgaben setzen Sie auch das bisher Erreichte leichtfertig aufs Spiel, und am Ende wundern wir uns wieder, warum die Tierhalter undankbar sind, wo sie doch immer nur das Beste für alle wollen. Ihnen muss aber klar sein: Antibiotikaminimierung kann nur mit und nicht gegen die Tierhalter erreicht werden. Es muss – das haben Sie zu Recht gesagt; und da stimme ich Ihnen auch zu – möglich sein, kranke Tiere vernünftig zu behandeln; denn das ist gelebter Tierschutz. Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Wir beraten heute – ich will auch das noch sagen – ein relativ junges Gesetz, wofür wir den Bereich der Tierarzneimittel – auch das ist Ihnen bekannt – aus dem Arzneimittelgesetz herausgelöst haben. Unstreitig ist: Wir müssen auch diese Rechtsnorm fortentwickeln. Aber klar ist auch: An Ihrem Gesetzentwurf gibt es viel zu verbessern. Ich freue mich deshalb sehr auf die Expertenanhörung, welche wir am Montag durchführen, und auf die Beratungen im Ausschuss. Dort, Herr Minister, haben Sie die Möglichkeit, Ihre Fehler zu korrigieren. Wir wollen Sie gerne dabei unterstützen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska Kersten, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Franziska Kersten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005103, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie einige von Ihnen wissen: Ich bin selbst Tierärztin. Die Veterinärmedizin blickt auf eine über 4 000-jährige Geschichte zurück und hat ihre Wurzeln in allen Hochkulturen der Welt. Das zentrale Element, um die Gesundheit von Tieren wiederherzustellen, sind Arzneimittel. Die rechtlichen Regelungen dazu sind für die tierärztliche Tätigkeit elementar. In unserem Land waren die grundlegenden Rechtsvorschriften für Human- und Tierarzneimittel traditionell gemeinsam im Arzneimittelgesetz geregelt. Einen umfassenden Wandel gab es hier mit der EU-Verordnung 2019/6 über Tierarzneimittel. Seit dem 28. Januar 2022 gilt diese Verordnung nun unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Zur Flankierung der Verordnung wurde in einem intensiven parlamentarischen Verfahren ein eigenständiges Stammgesetz, das Tierarzneimittelgesetz, geschaffen, welches am selben Tag in Kraft trat. So weit, so gut. Bestandteil des neuen Gesetzes sind auch Regelungen zum Einsatz von Antibiotika. Wir brauchen wirksame Antibiotika, um bakterielle Infektionen bei Mensch und Tier auch in Zukunft erfolgreich behandeln zu können. Wenn Antibiotika aber unkontrolliert eingesetzt werden, kann das zu Resistenzen führen. Schwerwiegende Folge ist, dass Medikamente dann nicht mehr wirksam sind. Mit der 16. AMG-Novelle von 2014 wurde daher das nationale Antibiotikaminimierungskonzept für die Tierhaltung umgesetzt. Das Konzept funktioniert folgendermaßen: Alle Betriebe ab einer bestimmten Größe, die Rinder, Schweine, Hühner oder Puten zur Mast halten, müssen Antibiotikaanwendungen an die zuständigen Landesbehörden melden. Aus diesen Daten werden vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit bundesweite Kennzeichen zur Tiertherapiehäufigkeit errechnet. Überschreitet nun die individuelle Antibiotikaanwendung in einem Betrieb bestimmte Grenzen im Vergleich zu den bundesweiten Kennzahlen, muss der Tierhalter mit der Tierärztin Reduzierungsmaßnahmen ergreifen oder in einem nächsten Schritt einen schriftlichen Maßnahmeplan aufstellen. Werden diese Regeln nicht befolgt, kann als strengste Sanktion sogar das Ruhen der Tierhaltung für bis zu drei Jahre angeordnet werden. Seit dem Beginn der Erfassung von Antibiotikaanwendungen im Jahr 2011 ist es mit diesem Konzept schon zu einer Reduktion von rund 60 Prozent des Antibiotikaeinsatzes in der Nutztierhaltung gekommen, und das ist ein echter Erfolg. ({0}) Doch weshalb müssen wir uns jetzt schon wieder mit Änderungen am Tierarzneimittelgesetz befassen, wo es doch noch nicht einmal ein Jahr in Kraft ist? Diese Frage kann ich Ihnen beantworten: Die vorhin erwähnte EU-Verordnung 2019/6 sieht vor, dass ab 2023 schrittweise alle Daten zum Antibiotikaverbrauch an die Europäische Arzneimittel-Agentur, EMA, gemeldet werden müssen. Allerdings waren zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens zum Tierarzneimittelgesetz weder der EU-Rechtsakt zur Methodik der Datenerfassung noch derjenige zum Datenformat erlassen worden. Die Durchführungsverordnung zum Datenformat stammt vom 16. Februar diesen Jahres. Außerdem wurde zum Antibiotikaminimierungskonzept eine Evaluierung durchgeführt. Darauf aufbauend liegen jetzt Eckpunkte für die weiter gehende Ausgestaltung des Konzepts vor. Das alles wird nun mit der Änderung des Tierarzneimittelgesetzes zusammengeführt und umgesetzt. Zusätzliche Nutzungsarten werden in das Antibiotikaminimierungskonzept aufgenommen: Milchrinder, Saugferkel, Zuchtsauen sowie Lege- und Junghennen. Zu den Arzneimittelanwendungen bei allen Nutzungsarten werden zukünftig umfassend Daten gesammelt und an die EMA übermittelt. Die Maßnahmen zur Antibiotikareduktion sollen weiter ausdifferenziert werden. Um auf den Anfang meiner Rede zurückzukommen: Wir haben hierbei auch die Anwendung von Reserveantibiotika im Blick und müssen eine weitere Ausbreitung von Resistenzen vermindern. ({1}) Es gibt auch Alternativen zu Antibiotika, und damit meine ich nicht nur die Möglichkeit, Tiere zu impfen, um den Bedarf an Antibiotika zu verringern. Die Verbesserung der Biosicherheit durch konsequente Umsetzung der Hygienestandards in landwirtschaftlichen Betrieben verhindert Infektionen. Der Schlüssel zur Tiergesundheit und einem verminderten Antibiotikaeinsatz ist eine bessere Tierhaltung. ({2}) Die Tiere müssen genug Platz und Auslauf, gutes Futter sowie Beschäftigungsmöglichkeiten haben. Hier wollen und müssen wir beim Umbau der Tierhaltung für mehr Tierwohl ansetzen. Hierzu hat die Borchert-Kommission in den letzten Jahren umfassende Vorschläge erarbeitet. Dieser Umbau muss in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung geregelt werden. Dazu kommen Anpassung des Bau-, Genehmigungs- und Emissionsrechtes. Das Vorhaben muss mit ausreichend Finanzmitteln ausgestattet und von einer verpflichtenden Haltungskennzeichnung – wie wir heute von unserem Minister schon gehört haben – flankiert werden. Das ist der richtige Weg. Denn das beste Mittel zur dauerhaften Reduktion des Antibiotikaeinsatzes ist die Vorsorge durch den Umbau der Tierhaltung. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Protschka, AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren, Gott zum Gruße! Wir debattieren heute, wie schon gehört, über einen Gesetzentwurf, mit dem die Bundesregierung den Antibiotikaeinsatz in der Landwirtschaft erfassen und weiter senken möchte. Das hört sich ja grundsätzlich positiv an und würde auch unsere Unterstützung erhalten, wenn es denn so wäre. Wir wehren uns aber gegen die immer wieder mitschwingende Unterstellung, dass Bauern ihren Tieren massenhaft Antibiotika verabreichen. Das ist nachweislich falsch. In der Nutztierhaltung werden Antibiotika ausschließlich dann eingesetzt, wenn der Tierarzt sie für die medizinische Behandlung kranker Tiere verordnet. Das alles erfolgt streng reglementiert und wird ausführlich dokumentiert. Um es deutlich zu sagen: Der Einsatz von Antibiotika ist eine Frage des Tierschutzes und muss deshalb auch weiterhin uneingeschränkt möglich sein! ({0}) Oder wollen Sie Tiere leiden lassen? Wir nicht! Es gibt bei diesem Thema nicht den geringsten Anlass für eine irrationale Angst- oder Panikmache. Frau Kersten hat die Resistenzen erwähnt: Nur 5 Prozent der Resistenzen kommen aus der Tierhaltung. Wie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit bestätigt, ist die abgegebene Antibiotikamenge in den vergangenen zehn Jahren um über 65 Prozent gesunken. Und auch im vergangenen Jahr – wir haben es schon gehört – hat sich die Abgabemenge wieder um über 10 Prozent reduziert. Das ist ein beeindruckender Erfolg, den wir in erster Linie unseren verantwortungsvollen Nutztierhaltern und verantwortungsvollen Tierärzten zu verdanken haben, bei denen ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte. ({1}) Kommen wir zum Gesetzentwurf. Grundsätzlich begrüßen wir die europäisch einheitliche Erhebung und Auswertung von Daten zu antimikrobiell wirksamen Arzneimitteln, die bei Tieren angewendet werden. Was wir jedoch klar ablehnen, sind neue Bürokratiemonster. Die Tierärzteschaft warnt eindeutig davor, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf neue, überbordende Bürokratie und enorme Zusatzkosten auf die deutschen Tierärzte zukommen. Es ist deshalb wichtig, dass nur die absolut notwendigen Daten erfasst werden und dabei nicht über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben hinausgegangen wird – nicht schon wieder ein Alleingang Deutschlands zum Schaden unserer Landwirte und Tierärzte. ({2}) Der bürokratische Aufwand muss im Verhältnis zur Effizienz einer weiteren Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes stehen. Das ist im vorliegenden Entwurf leider noch nicht der Fall. Was wir auf jeden Fall nicht zulassen dürfen, ist, dass die ohnehin abnehmende Zahl der niedergelassenen Tierärzte wegen noch mehr Bürokratiemonstern weiter abnimmt und junge Tierärzte davon abgehalten werden, in die Praxis zu gehen. Das würde die tierärztliche Versorgung nicht nur in der Landwirtschaft gefährden, und das kann hoffentlich niemand der hier Anwesenden ernsthaft wollen. Der Tierschutz und die Tiergesundheit stehen für uns in der Tierhaltung an erster Stelle und müssen auch in der Praxis immer an erster Stelle stehen. ({3}) Nur mit der AfD funktionieren Tierschutz, Umweltschutz und Landwirtschaft gemeinsam. Danke schön, meine Damen und Herren, für die Aufmerksamkeit. ({4})

Ingo Bodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll eine EU-Verordnung zur Erweiterung der Erfassung von Daten über Antibiotika in der Nutztierhaltung in nationales Recht umgesetzt werden. Das bedeutet leider einen bürokratischen Mehraufwand für Tierhalter und Tierärzte, dem wir uns durch die EU-Verordnung nicht entziehen können. Ich möchte ausdrücklich betonen: Ja, wir setzen die EU-Verordnung in nationales Recht um, aber nur unter der Prämisse, dass sie eins zu eins umgesetzt wird. Kein deutsches Strebertum auf dem Rücken der Nutztierhalter! Mit der FDP wird es keine Übererfüllung der EU-Vorgaben und kein Ausreizen der gesetzlichen Spielräume auf nationaler Ebene geben. ({0}) Das Zeitfenster zur Änderung des Tierarzneimittelgesetzes ist leider denkbar knapp. Anfang nächsten Jahres müssen die entsprechenden Änderungen im TAMG umgesetzt sein, sonst droht ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. Bereits jetzt höre ich vonseiten der betroffenen Verbände, dass die Umsetzung der zusätzlichen Dokumentationspflichten der Tierhalter und Tierärzte mindestens ein halbes Jahr Vorlauf benötigt. In diesem Zusammenhang ist mir wichtig: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. ({1}) Wir dürfen die Änderung des TAMG nicht im Schnellschussverfahren durch die Instanzen jagen. Ein Hauptkritikpunkt am Gesetzentwurf betrifft den Übergang der Meldepflicht vom Tierhalter auf den Tierarzt. Dies bedeutet für den behandelnden Tierarzt faktisch einen bürokratischen Mehraufwand, welcher so zeitlich nicht leistbar ist. Zudem ist unklar, ob dieser Mehraufwand bezahlt wird und, wenn ja, wer diese zusätzlichen Kosten trägt. Es darf nicht sein, dass die Nutztierhalter hier wieder einmal zur Kasse gebeten werden. Im Hinblick auf das Belastungsmoratorium werden wir als FDP darauf drängen, dass keine zusätzlichen Kosten überwälzt werden. ({2}) Mit der FDP hat es bereits seit Beginn dieser Legislaturperiode keinen nationalen Alleingang mehr gegeben. Für nicht sachgerecht halte ich auch die Übertragung der Verantwortung der Dokumentationspflicht vom Tierhalter auf den Tierarzt. Damit steht der Tierarzt praktisch mit einem Bein im Gefängnis, wenn die Angaben des Tierhalters nicht korrekt sind. Aber es gibt auch gute Nachrichten zu vermelden. Ich will es hier noch mal wiederholen, auch wenn es schon mehrfach gesagt worden ist: Seit Beginn der Erfassung von Antibiotika im Jahr 2011 ist die abgegebene Antibiotikamenge in Deutschland um 65 Prozent zurückgegangen. Das ist ein großer Erfolg, und den verdanken wir – das ist richtig – den Landwirten. ({3}) Das Antibiotikaminimierungskonzept zeigt Wirkung. Wir sind also auf einem guten Weg. Dennoch muss die Weiterentwicklung der Maßnahmen ganz klar an wissenschaftsbasierten Erkenntnissen ausgerichtet sein. Wir dürfen nicht der ideologischen Vorstellung verfallen, dass wir in Zukunft keine Antibiotika mehr benötigen. Die Devise lautet: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Jedes Tier hat das Recht auf die bestmögliche Medikation; denn wenn wir unseren Tieren diese fachgerechte Behandlung vorenthalten, ist das Tierquälerei. Pauschale Reduktionsziele der Antibiotikamengen nach der Rasenmähermethode – 30 Prozent oder 50 Prozent – oder ein vollständiges Verbot des Einsatzes von Reserveantibiotika nehmen den Tierärzten die Möglichkeit, kranke Tiere mit den geeigneten Wirkstoffen optimal zu behandeln. Einen Rückschritt in Sachen Tierschutz wird es mit der FDP nicht geben. ({4}) Ich sage es noch mal in aller Deutlichkeit: Pauschale Reduktionsziele und Entscheidungen sind der falsche Weg. Ich denke, Tiergesundheit ist ein wesentlicher Teil des Tierwohls. Die Gesundheit des einzelnen Tiers ist meines Erachtens noch wichtiger als die Haltungsstufe; denn ein gesundes konventionell gehaltenes Schwein ist mit Sicherheit glücklicher als ein krankes Bioschwein. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Zeit bis zur zweiten und dritten Lesung nutzen, um beim TAMG entsprechend nachzubessern. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung am kommenden Montag werden uns die geladenen Sachverständigen deutlich aufzeigen, wo die Schwachstellen des Gesetzentwurfs sind. Ich lade Sie herzlich ein, an der Optimierung des Gesetzentwurfs mitzuarbeiten. Mein Petitum für die Zukunft: Für anstehende Gesetzesvorhaben mit Fristsetzung wünsche ich mir etwas mehr zeitlichen Vorlauf. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bodtke. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Latendorf, Fraktion Die Linke. ({0})

Ina Latendorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005123, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Klar, die Umsetzung von EU-Recht ist für Deutschland als Vollmitglied Pflicht, auch wenn es wie hier um eine Änderung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Tierarzneimitteln geht. Die Frage ist nur, wie dies geschieht und ob dabei am Ende für die Praxis das herauskommt, was eigentlich gewollt war: eine Verbesserung der tiermedizinischen Versorgung und vor allem eine Verringerung des Antibiotikaeinsatzes. ({0}) Bereits im Vorfeld der Änderung des Gesetzes kam Kritik aus der Praxis: von der Tierärzteschaft und den angeschlossenen Berufsverbänden. Tenor: Es handelt sich bei der Vorlage um ein Bürokratiemonster, ({1}) das die Tierärzteschaft einer erheblichen Mehrbelastung aussetzt. Warum? Mit der Änderung soll die Meldeverantwortung für Antibiotikagaben zukünftig bei den Tierärzten und nicht mehr bei den Haltern liegen. Derzeit wird die Abgabemenge von Tierarzneimitteln gemeinsam von Veterinär und Landwirt bestimmt und vom Halter gemeldet. In zehn Jahren hat sich mit dieser Praxis der Antibiotikaeinsatz um 65 Prozent reduziert, so die Tierärztekammer – ein Erfolg der Veterinäre und der Tierhalter. ({2}) „Wieso dann diese Meldelastumkehr?“, frage ich mich, und das fragen sich auch die Betroffenen. Es muss doch in unserem Interesse als Gesetzgeber sein, die veterinärmedizinische Vollversorgung aufrechtzuerhalten; denn diese ist – wie mir Fachleute und Tierärzte in Gesprächen bestätigten – mit der Gesetzesänderung durchaus in Gefahr. Wenn wir alle, was ich voraussetze, den Antibiotikaeinsatz in der Tiermedizin reduzieren wollen, dann müsste die Nutztierhaltung tiergerechter gemacht werden. Hier ist die Regierung nach wie vor leider noch nicht belastbar weitergekommen. Selbst in Aussicht gestellte Förderungen für den Umbau sind zurzeit nur auf eine Tierart bezogen. Fehlende Rechtssicherheit für bauliche Verbesserungen bei der Tierhaltung im Bau- und Immissionsrecht wird immer wieder beklagt. Wir hören, das wird auf den Weg gebracht, aber es ist noch nicht da. Aber daran hängt doch auch das Tierwohl, und daran hängt letztlich auch die tiermedizinische Situation. Die amtlichen und die praktizierenden Veterinäre brauchen unsere Unterstützung, um die Strategie der Reduktion von Antibiotika faktisch auch durchsetzen zu können. ({3}) Das bringt mich zu einem weiteren Punkt. Es gibt aktuell flächendeckend zu wenig Tierärzte. Die Belastung ist sehr hoch. Die Arbeitsbedingungen und ‑zeiten sind zum Teil miserabel. Es ist sehr hohe Flexibilität gefordert. Wenn die Regierung nun sagt, dass die zuständigen Behörden gestärkt werden, dann heißt das hier im Klartext, dass sie zur Übernahme neuer, zusätzlicher Aufgaben verpflichtet werden. Diese Mehrbelastung ist nicht zu stemmen, sagen die Stimmen aus der Praxis. Überbelastung kann nicht im Sinne einer nachhaltigen Tiermedizin sein. Deshalb hoffe ich sehr – damit spreche ich für meine Fraktion –, dass der Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung inklusive der öffentlichen Anhörung am Montag wesentliche Verbesserungen erfährt. Vielen Dank. ({4})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da sage ich ganz schnell: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun zum Thema „Mythen und Märchen“. Herr Stier, ({0}) Sie sagten, es seien 100 Tonnen Antibiotika reduziert worden ({1}) und das sei freiwillig durch die Bauern geschehen. Da wird schon etwas dran sein. ({2}) Aber sonst beklagen Sie, dass es immer weniger tierhaltende Betriebe gebe und immer mehr Betriebe zumachten. Jetzt sagen Sie, die Reduktion von Antibiotika hänge aber nicht damit zusammen, dass weniger Tiere gehalten würden, und Sie kritisieren das Ministerium. Das ist unlogisch, Herr Stier. ({3}) Zweiter Punkt. Sie sagen, ein Minister würde sich auf Erfolgen anderer ausruhen. Ich sage: Ja, in der Amtszeit von jemandem aus der Union – ich glaube, es war Frau Klöckner – ({4}) hat es die 16. Novelle des AMG gegeben. Doch Sie wissen: Einem fröhlichen Ja folgt ein Aber. Die wesentlichen Änderungen dieser 16. Novelle wurden im Vermittlungsausschuss auf Druck von Grünen gegen den erbitterten Widerstand von Franz-Josef Holzenkamp, früher CDU/CSU-Fraktion, erreicht, meine Damen und Herren. Ich bin mit Mythen und Märchen noch nicht fertig. An den Kollegen von der FDP: Die Debatte um Tierquälerei beginnt nicht bei der Frage, ob man Medikamente, die für die Humanmedizin dringend gebraucht werden, den Tieren gibt oder ob es Alternativen gibt, sondern bei der Frage der nicht artgerechten Haltung in vielen Ställen in dieser Republik. ({5}) Wir müssen den Einsatz von Antibiotika erfassen, ihn reduzieren und an dieser Stelle eine globale Gesundheitsarchitektur aufsetzen, die dem „One Health“-Ansatz folgt, meine Damen und Herren. ({6}) Es kann doch nicht sein, dass wir mehr Antibiotika an gesunde Tiere vergeben als an kranke Menschen, dass wir die ganze Herde behandeln, weil ein Huhn Erkältungssymptome hat. Dass das richtig ist, meinen Sie doch wohl nicht im Ernst. Stellen Sie sich das mal vor: Einer hier hat Erkältungssymptome, und auch alle anderen im Bundestag kriegen ein Medikament. ({7}) Das würden Sie auch nicht wollen, meine Damen und Herren. ({8}) Die WHO sagt, es gebe Grund zur Sorge. ({9}) – Ach, Sie Kreischbrüder wieder! ({10}) Ich sage Ihnen, was mir heute hier gefehlt hat: In Deutschland sterben 33 000 Menschen pro Jahr mit multiresistenten Erregern, global 1,2 Millionen Menschen. Die WHO sagt, die Zahl werde sich bis 2050 verzehnfachen, meine Damen und Herren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Künast, kommen Sie zum Schluss.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen andere Bedingungen für die Tiere schaffen. ({0}) Sie müssen den Tierrechten entsprechen. Aber es muss auch so sein, dass wir in der Humanmedizin für Menschen Antibiotika nutzen können, statt einfach zuzusehen, wie sie sterben. Das ist die Wahrheit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Künast. – Mit einer Zeitüberschreitung von fast 50 Prozent haben Sie es trotzdem noch im Rahmen gehalten. Ich wollte nicht eingreifen, weil mir bei Ihrer Bemerkung, was wohl passieren würde, wenn einer hier Schnupfen hätte und alle anderen Medikamente bekämen, sofort ein Name eingefallen ist: Karl Lauterbach. ({0}) Vielleicht sollten Sie das mit dem Bundesgesundheitsminister erörtern. Nächster Redner ist der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Bundesminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Medizin hat sehr viele Errungenschaften hervorgebracht. Es gibt auch Medikamente, die die Nerven beruhigen. Vielleicht ist das manchmal auch angebracht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch ein Segen, dass Antibiotika erfunden worden sind. Es ist doch ein Segen, dass wir medizinische Heilungsverfahren haben. Wir sollten auch einmal positiv erwähnen, dass wir kranke Tiere wieder gesund machen können, genauso wie wir kranke Menschen wieder gesund machen können. ({0}) Es war Robert Koch, der hier in der Nähe das Penizillin entdeckt hat. Das hat uns in der medizinischen Versorgung unwahrscheinlich weitergebracht. Deshalb ist es wichtig – da sind wir uns hier größtenteils einig –, dass wir in der Praxis sehr bewusst und sehr sensibel mit Antibiotika umgehen; denn die Koppelwirkungen von Human- und Veterinärmedizin sind einfach nicht von der Hand zu weisen. Es ist bereits angesprochen worden: Die Reduktion des Einsatzes von Antibiotika in der Tierhaltung um 65 Prozent – egal ob durch die Reduzierung von Tierbeständen oder durch den fleißigen Einsatz unserer Bauernfamilien – ist nachweisbar. Das sollten wir respektieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte wirklich deutlich darauf hinweisen – einige Kolleginnen und Kollegen haben das auch schon erwähnt –: Wenn wir Tiere in der Praxis behandeln, sind sie in der Regel krank und brauchen unsere Hilfe. Dabei sind auch Antibiotika notwendig. ({1}) Wir brauchen aber nicht nur Antibiotika; wir brauchen auch die Menschen, die die Tiere behandeln. Das sind unsere Veterinärinnen und Veterinäre, unsere Hoftierärztinnen und Hoftierärzte, die draußen Tag und Nacht unterwegs sind. Man muss sich nur die Ausbildungszahlen anschauen: Wer will denn noch eine Hoftierpraxis übernehmen? Wer tut es sich noch an, nachts um halb drei 40 Kilometer weit zu fahren, um einen Kaiserschnitt bei einer Kuh vorzunehmen? Was passiert, wenn diese Versorgung nicht mehr gewährleistet ist? Dann ist es schlecht um die Kuh bestellt, aber nicht nur um sie, sondern um die Gesundheit aller Tiere im Lande. Deshalb sollten wir alles versuchen, um möglichst viel Bürokratie von unseren Tierärzten fernzuhalten, also eine möglichst einfache Lösung für die Dokumentation finden. Denn eines ist wichtig: Ein Tierarzt will Tiere behandeln und sich nicht um Bürokratie kümmern müssen. ({2}) Es ist unumstritten, dass Tiere, wenn sie gesund gehalten werden, auch gesund bleiben. Deshalb ist auch wichtig, dass wir bei der Frage des Umbaus der Tierhaltung weiter vorankommen. Nun hat der Minister gestern einen Vorschlag vorgelegt. Ich hoffe, er kommt auch noch zu uns ins Parlament. Ich würde ihn gern diskutieren. Mir ist es auch wichtig, zu sagen: Wir brauchen langfristige Perspektiven, gerade unsere Tierhalter brauchen langfristige Perspektiven. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir die Ergebnisse der Borchert-Kommission noch intensiver diskutieren. Dann haben nicht nur unsere Tierhalter und die Tierhaltung, sondern auch unsere Tierärzte eine Zukunftsperspektive. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Luiza Licina-Bode, SPD-Fraktion. ({0})

Luiza Licina-Bode (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005128, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf zur Änderung des Tierarzneimittelgesetzes implementieren wir Artikel 57 der EU‑Verordnung über Tierarzneimittel aus 2019. Danach sind die Mitgliedstaaten ab 2024 verpflichtet, jährlich Meldungen und umfassende Daten zur Anwendung von Antibiotika bei Tieren an die Europäische Arzneimittel-Agentur zu übermitteln. Damit soll der Einsatz von Antibiotika in landwirtschaftlichen Betrieben zentral erfasst, beobachtet und weiter reduziert werden. Ich darf als Reaktion auf die Beiträge, in denen das kritisch gesehen wird, sagen: Ich verstehe gar nicht, wo das Problem liegt. Wenn es um die Gesundheit der Menschen hier im Land geht, brauchen wir doch gar nicht so ein Theater um ein wenig mehr Bürokratie zu machen. Bauen wir sie doch lieber in anderen Bereichen ab! ({0}) Gestartet wird 2023 mit der Erfassung bei den Nutztierarten Rind, Schwein, Huhn und Pute. Auf nationaler Ebene – das ist richtig – hat das BMEL bereits eine Evaluierung des eigenen Antibiotikaminimierungskonzepts durchführen lassen. Der Bericht dazu lag im Juni 2019 vor, und zwar mit dem Ergebnis, dass die Maßnahmen richtig und zielführend waren. Der Antibiotikaeinsatz konnte reduziert und das Resistenzrisiko gesenkt werden. Weiter sollen die Tierhalter nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf verpflichtet werden, den Einsatz sogar halbjährlich zu melden. Da kann man vielleicht am Ende über Anpassungen nachdenken. Aber ich würde mir, wie gesagt, in dem Bereich nicht so viele Gedanken um Bürokratie machen; denn sie dient letztlich der Transparenz und der besseren Auswertung der Daten, die dadurch erfasst werden. Daneben ändern wir mit diesem Gesetzentwurf § 32 Absatz 2 Nummer 8 des Tiergesundheitsgesetzes, welcher in der jetzigen Form § 10 Absatz 1 und 3 des Rindfleischetikettierungsgesetzes geähnelt hat. Zum Hintergrund: Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2016 entschieden, dass letztere Normen nichtig sind, weil eben gar kein Tatbestand vorgegeben war, nach dem man dann am Ende eine Ordnungswidrigkeit für die Landwirte hätte bestimmen können. Das widerspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz, den wir brauchen. Wir haben ja den Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz. Deshalb fassen wir die Norm jetzt lege artis neu. Mit der Neufassung des Tierarzneimittelgesetzes in 2021 und der in allen Mitgliedstaaten anzuwendenden Verordnung 219/6 wurde der Einsatz von Antibiotika bei Tieren weiter eingeschränkt. Ziel ist eine umsichtige Verwendung von antibiotischen Wirkstoffen. Das ist entscheidend für die Bekämpfung von antibiotischen Resistenzen bei den Tieren, aber eben auch bei den Verbraucherinnen und Konsumenten von tierischen Produkten, sodass uns gerade dieser Gesetzentwurf mit dieser Zielrichtung am Herzen liegen sollte. Wir setzen damit aber auch gleichzeitig unseren Koalitionsvertrag um, wonach wir eine Tiergesundheitsstrategie erarbeiten und eine umfassende Datenbank inklusive der Verarbeitungsbetriebe tierischer Nebenprodukte etablieren und den wirkstoff- und anwendungsbezogenen Antibiotikaeinsatz in landwirtschaftlichen Betrieben erfassen und senken wollen. Da kann man jetzt die Immunprophylaxe oder Akklimatisierung nennen. Wichtig ist in dem Bereich, dass wir nach gut geschultem Personal schauen, das Krankheiten in einem frühen Stadium erkennt. Dann lenke ich den Blick auf das Staatsziel Tierschutz in Artikel 20a GG und auf die artgerechte Tierhaltung, die schon viel bringen würde. Damit könnten wir am Ende weniger Antibiotika einsetzen und Krankheiten bei den Tieren reduzieren. Tiere brauchen nämlich ausreichend Platz, optimale Gruppengrößen und auch ein gutes Stallklima. Insbesondere Jungtiere sind durch eine spätere Trennung vom Muttertier weniger stark stressbedingten Erkrankungen ausgesetzt. Weitere zielführende Maßnahmen wären eine Zucht, die auf Tiergesundheit statt auf Leistung setzt, ({1}) eine gesunde Ernährung der Tiere, Hygiene im Stall – vom Transport bis hin zur Schlachtung. Dann komme ich zu unserem zentralen Vorhaben, nämlich der Tierhaltungskennzeichnung, die in dieser Woche vom Kabinett beschlossen wurde. Es geht uns darum, dass wir diese und auch die Verordnung zur Nutztierhaltung entsprechend anpassen; denn die artgerechte Tierhaltung ist in diesem Bereich die Lösung, auch die Lösung im konventionellen Bereich. Hier muss der Vorrang der Tiergesundheit gelten. ({2}) In Anbetracht der Zeit komme ich zum Schluss: Das Coronavirus hat uns gezeigt, wie Zoonosen unsere ganze Gesellschaft im Griff haben können. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass wir keinen Dissens haben und am Ende der Debatte dem Gesetzentwurf zustimmen werden. Vielen Dank. ({3})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie finden mich bei diesem Tagesordnungspunkt fassungslos und wütend. Bundeswirtschaftsminister Habeck hat dem Wirtschaftsausschuss mitteilen lassen, welche Waffenexporte der Bundessicherheitsrat genehmigt hat. Die Liste ist insgesamt fragwürdig und stark zu kritisieren. Aber einer der Höhepunkte ist folgender: Die Bundesregierung wird tatsächlich Saudi-Arabien Ausrüstung, Bewaffnung und Munition für Kampfflugzeuge, Eurofighter und Tornados im Wert von mindestens 39 Millionen Euro liefern. Darf ich Sie daran erinnern: Erstens. Saudi-Arabien führt mit einer Koalition Krieg im Jemen. Zweitens. Dieser Krieg geht weiter, da die Waffenruhe nicht verlängert wird. Drittens. Das Leid der jemenitischen Bevölkerung ist unbeschreiblich; laut UNO mehr als 400 000 tote Zivilistinnen und Zivilisten. Mehr als 19 Millionen von insgesamt 29 Millionen Menschen dort müssen hungern. Millionen Flüchtlinge gibt es inzwischen. Viertens. Saudi-Arabien flog mit der Militärkoalition mehr als 24 000 Luftangriffe. Fünftens. Die Menschenrechte in Saudi-Arabien werden schwer verletzt, gerade auch gegenüber Mädchen und Frauen. Und sechstens. Der Kronprinz, den unser Bundeskanzler neulich traf, trägt die Verantwortung für die Ermordung eines kritischen Journalisten im saudi-arabischen Konsulat in der Türkei. Ich zitiere unsere heutige Außenministerin Baerbock, die 2019 auf Twitter schrieb: Saudi-Arabien beteiligt sich am Jemen-Krieg und tritt #Menschenrechte mit Füßen. Rüstungsexportstopp an Saudi-Arabien muss weiter gelten. Ich zitiere unseren heutigen Bundeswirtschaftsminister Habeck, der kürzlich sagte: Klar ist: Waffen gehören nicht an Menschenrechtsverletzer. Ich gestatte mir auch, den geltenden Koalitionsvertrag zu zitieren. Da heißt es: Die Lieferung von Waffen an kriegführende Diktaturen widerspricht sowohl einer feministischen als auch einer wertegeleiteten Außenpolitik. – Wie argumentiert die Bundesregierung gegenüber China und anderen Ländern? Hier handelt sie absolut gegenteilig, zeigt, dass ihr das schwere Schicksal der jemenitischen Bevölkerung völlig egal ist, dass sie entgegen allen Versprechungen kriegführende Diktaturen unterstützt. Ich finde es mehr als grottenpeinlich, völlig daneben, ahistorisch und unverschämt, dass wir an einem solchen Krieg auch noch verdienen. ({0}) In der zweiten Lesung werden wir eine namentliche Abstimmung verlangen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gysi. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Hannes Walter, SPD-Fraktion. ({0})

Hannes Walter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns auf die Fakten schauen: Seit 2018 sind direkte Rüstungsexporte von Deutschland nach Saudi-Arabien eingestellt, und zwar wegen der Beteiligung am Jemen-Krieg und des Mordes am Journalisten Jamal Khashoggi. Gleichzeitig wurden Ausnahmen gemacht. Immer dann, wenn deutsche Unternehmen Sammelausfuhrgenehmigungen beantragt hatten und Exporte Teil von Kooperationsprojekten mit anderen europäischen Staaten waren, wurde im begründeten Einzelfall geliefert. Das wurde auch im aktuellen Fall gemacht. In dieser Debatte geht es eigentlich um die Frage: Können sich unsere Partner in Frankreich oder Spanien auf die deutschen Zulieferungen verlassen oder nicht? Hier gilt es aus meiner Sicht, eine europäische Linie einzuhalten. Nur so können wir eine langfristige Vertragstreue und Rechtssicherheit gewährleisten: Sicherheit für unsere Partner und die Industrie. Denn niemand würde noch mit Deutschland zusammenarbeiten, wenn sich unsere Partner nicht auf uns verlassen könnten. ({0}) Das gilt seit dem 24. Februar umso mehr. Seitdem ist die Sicherheitslage in Europa massiv bedroht. Wir sprechen hier von einer Zeitenwende. ({1}) Seitdem ist klarer denn je: Deutschland braucht Europa, und Europa braucht Deutschland. ({2}) Aus diesem Grund sind nationale Alleingänge hier fehl am Platz. Das bedeutet: Wir werden weiterhin keine direkten Lieferungen von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien vornehmen; denn die Menschenrechtssituation in dem Land und die Verwicklungen in den Jemen-Krieg sind nicht akzeptabel. ({3}) Aber wir werden diese Sonderfälle haben, in denen ein anderes europäisches Land Waffen nach Saudi-Arabien liefert und wir diesbezüglich einzelne Produktelemente zuliefern. Hier kommt unsere besondere Verpflichtung gegenüber unseren Bündnispartnern zur Geltung. Wir werden diesen Verpflichtungen nachkommen. Wir werden uns einem Export nicht widersetzen, wenn die Lieferungen Teil von Kooperationsprojekten mit anderen europäischen Staaten sind. So haben wir das auch im Aachener Vertrag festgelegt, und daran werden wir uns halten. ({4}) Grundsätzlich sind deutsche Rüstungsexporte ein wichtiger Beitrag für die Bündnis- und Kooperationsfähigkeit. Daher sprechen wir uns dafür aus, den Fokus bei Rüstungsexporten und vor allem bei Kriegswaffen auf die NATO, Europa und NATO-gleichgestellte Länder zu legen. So können wir unsere technologischen Fähigkeiten für die Bundeswehr sichern und die wichtigen Schlüsseltechnologien und Arbeitsplätze bei uns halten. Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, die Rüstungszusammenarbeit in Europa verstärkt anzustreben. Natürlich ist es richtig, wenn sich die technologischen Fähigkeiten in gemeinsamen europäischen Aufträgen und Programmen wiederfinden. Da hat der Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich neue Akzente gesetzt. Ja, wir wollen solche Verträge auch mit anderen europäischen Ländern abschließen, und zwar in naher Zukunft. Europa hat zu viele unterschiedliche Waffensysteme. Wir brauchen nicht zahllose unterschiedliche Kampf- und Schützenpanzer. Es wäre wichtig, dass die beteiligten Länder die Anzahl reduzieren. Dafür könnte im Gegenzug die Stückzahl erhöht werden. All das geht nur durch rüstungspolitische Kooperationen in Europa. Wenn wir uns durch festgelegte Länderproduktionen auf weniger Systeme einigen können, wäre das ein großer Gewinn. Sie sehen also: Meistens ist die Wirklichkeit etwas komplizierter als das, was die Linke hier vorgetragen hat. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich will noch mal daran erinnern, dass wir nicht die Rüstungsschmiede der Welt sind, sondern dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst umgehen, dass wir im Blick haben – Herr Walter hat viel Richtiges dazu gesagt –, dass wir mit Blick auf unsere Bundeswehr unsere Technologie erhalten können. Dazu braucht es natürlich auch Exporte; denn mit den geringen Stückzahlen, die wir selbst abnehmen, kann kein Projekt laufen. Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Die Grundlagen kennen Sie alle: Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen, Außenwirtschaftsgesetz, Außenwirtschaftsverordnung, Gemeinsamer Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln, der Vertrag über den Waffenhandel, also The Arms Trade Treaty, sowie die am 26. Juni 2019 in verschärfter Form verabschiedeten Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Wir brauchen nicht so viel auf den Einzelfall einzugehen, Herr Gysi. Wir wissen ja, dass Sie den Antrag generell stellen, wenn es um Rüstungsexporte geht, und Sie jetzt nur ein Beispiel herausgreifen, um die Dramatik dessen, was Sie vortragen wollen, zu erhöhen. Wir wissen natürlich auch, dass der Antrag vor allen Dingen auf die Grünen zielt, die auf dem Parteitag offenbar einige Debatten über dieses Thema zu bestreiten haben. Es war auch gut, die rechtlichen Grundlagen noch einmal vorzutragen. Bei der SPD hat das schon gefruchtet; Herr Walter hat das inzwischen gut angenommen. ({0}) Wir haben als Union wirklich volles Zutrauen. Wir haben in unseren eigenen Regierungen, die wir angeführt und die wir verantwortlich gestaltet haben, diese Entscheidungen der Exekutive überlassen, weil wir es für richtig halten, dass die Interessen Deutschlands dort nüchtern abgewogen werden und Bündnisinteressen ganz besonders mit im Vordergrund stehen. Nun müssen Sie uns aber etwas erklären. Sie arbeiten an diesem Rüstungsexportkontrollgesetz unter strengster Geheimhaltung, jedenfalls gegenüber dem Parlament. Es sind schon alle möglichen Personen beteiligt: alle, die sich irgendwo für den Frieden einsetzen. Aber das Parlament hat noch nicht viel davon gehört. Und die Absicht, die dahintersteht, ist ziemlich eindeutig. Das wurde mir noch mal bei einem Termin der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung, GKKE, am 22. März bestätigt, also einen Monat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Da war nichts zu spüren von Bewusstsein und Zeitenwende. Dort ist eindeutig der Wille zum Ausdruck gebracht worden, dass man mit diesem Gesetz Rüstungsexporte erschweren will. Ihnen geht es da vor allen Dingen um die Verbandsklage. Ich denke, diese wird in diesem Zusammenhang das Herzensanliegen der Grünen sein. Ziel ist es, ein Klagerecht für selbsternannte Friedens- und Menschenrechts-NGOs gegen Exportgenehmigungen zu etablieren. Man muss sich schon fragen, wenn man solche Termine erlebt: Über wie viele Plätze des Friedens oder Straßen der Freundschaft wollen Sie noch marschieren, bis Sie in der Wirklichkeit ankommen? ({1}) Die Grünen müssen jetzt schmerzhaft erleben, dass angesichts der Lage viele grüne Ideologien an dieser Realität zerschellen. Natürlich müssen Sie Atomstrom und Kohlestrom weiterlaufen lassen, weil sonst die Stromversorgung, die Energieversorgung im Land zusammenbricht. Das können wir Ihnen aber nicht ersparen. Sie wollen ja regieren. Aber der Herr Trittin – da bin ich mir sicher – wird uns jetzt gleich erklären, wie das alles zusammenpasst und wie Sie diesen Parteitag bewältigen wollen. ({2}) Sie sind ja das eigentliche Ziel der Debatte heute und nicht Saudi-Arabien oder sonst irgendjemand. Für die Union bleibt wichtig – ich komme zum Schluss, Herr Präsident –: Wir brauchen eine leistungsfähige Sicherheitsindustrie. Wir können eine leistungsfähige Sicherheitsindustrie nur erhalten, wenn wir uns auch die Exportoption offenhalten. Das wird in Deutschland verantwortlich gemacht. Wir können nicht europäisch zusammenarbeiten, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– wenn wir bei jeder kleinen Bewegung, die in einer anderen Nation anders läuft als bei uns, rufen: Nein, nicht mit den Deutschen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte kommen Sie jetzt wirklich zum Schluss.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„German free“ darf kein Qualitätsmerkmal für Rüstungsexporte werden. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das ist immer wunderbar, wenn man ankündigt: „Ich komme zum Schluss“, und dann kommt man nicht zum Schluss. Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Verletzung parlamentarischer Rechte beklagt, dann muss man sich auch parlamentarisch beteiligen. Man hätte sich zum Beispiel an dem Konsultationsprozess des Wirtschaftsministeriums beteiligen können, den das Wirtschaftsministerium genau zu diesen Eckpunkten gemacht hat. Oder man hätte, lieber Kollege Gysi, gestern die Staatsministerin Keul hier wegen dieser Rüstungsexporte grillen können. Was haben Sie gemacht? Sie haben stattdessen die Anfrage, die Frau Akbulut gestellt hat, schriftlich beantworten lassen. Da wundert es mich nicht, dass Ihr Plan, dass Sie heute sofort abstimmen lassen wollten, nun auch fallen gelassen wird. Offensichtlich regt Sie das alles doch nicht so doll auf, wie Sie hier versucht haben uns glauben zu machen. ({0}) Wir haben es mit einem sehr ernsten Vorgang zu tun. Die völkerrechtswidrige Kriegsführung von Saudi-Arabien im Jemen hat zur Folge gehabt, dass wir es mit der größten humanitären Krise der Welt zu tun haben – so die Vereinten Nationen –, ausgelöst durch eine Seeblockade, durchgeführt mit Schiffen der deutschen Lürssen Werft. Saudi-Arabien hat im Jemen mit den von Europa gelieferten Kampfflugzeugen zivile Ziele, Schulen, Krankenhäuser bombardiert – mit dabei der Eurofighter und die Bombenmunition von Rheinmetall. Das ist alles vielfach dokumentiert. Da sage ich: Europa darf keine Waffen für eine völkerrechtswidrige Kriegsführung bereitstellen. Punkt! ({1}) Die Bundesregierung beruft sich nun darauf, dass sich unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft Saudi-Arabien einer politischen Lösung des Konflikts angenähert habe und sich in letzter Zeit an die Bedingungen der Waffenruhe gehalten habe. Aber in der gleichen Antwort auf die Frage von Frau Akbulut erklärt die Bundesregierung ihre Besorgnis, dass ebendiese Waffenruhe zum 2. Oktober ausläuft. Auch wenn man dafür – mit gewissen Gründen – die Verantwortung den Huthi zuschiebt: Welchen Grund gibt es angesichts der völkerrechtswidrigen saudischen Kriegspraxis, den Saudis am Ende eines Waffenstillstands Waffen zu liefern? Wenn es einen besonders falschen Zeitpunkt für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien gibt, dann ist das das Ende der Waffenruhe im Jemen. Gerechtfertigt wird dies mit dem Verweis auf Altverträge. Der Verweis ist übrigens richtig, aber er überzeugt nicht; denn Sie werden in den geheimen Verträgen keine Bestimmung finden, dass am 28. September nach Großbritannien geliefert werden muss, damit ab 2. Oktober wieder Krieg geführt werden kann. Das steht in keinem dieser Verträge. Hier stimmt nicht nur der Zeitpunkt nicht. Für solche Verträge, alte wie neue, gilt: Bilaterale Verträge finden ihre Grenze im Völkerrecht. ({2}) Deswegen war es falsch, zu diesem Zeitpunkt den Druck von den Saudis zurückzunehmen. Welche Sicherheit bietet denn Mohammed bin Salman, nicht auf seine alte Kriegsführung zurückzugreifen? Seine moralische Integrität etwa? Nun ist diese Entscheidung gefallen, und sie ist nicht mehr rückgängig zu machen. Blicken wir also nach vorne. Was muss die Bundesregierung machen? Sie muss nach meiner festen Überzeugung die gesamten Altverträge daraufhin überprüfen, ob sie mit den Grundsätzen des Völkerrechts in Übereinstimmung zu bringen sind. ({3}) Und dann brauchen wir mit dem Rüstungsexportkontrollgesetz verbindliche Regeln, die verhindern, dass Waffen aus Europa völkerrechtswidrig eingesetzt werden. Das ist der Gedanke, der sich in den Eckpunkten des Wirtschaftsministeriums zu einem solchen Gesetz wiederfindet. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Absage an europäische Rüstungskooperationen – im Gegenteil. Wir brauchen mehr europäische Rüstungskooperationen. Aber eines muss dann klar sein: Rüstungskooperation ist kein Instrument der Industriepolitik. ({4}) Rüstungskooperation soll Sicherheit für Europa schaffen. Sie soll unsere Souveränität stärken. Wir wollen damit der Verschwendung von Steuergeldern vorbeugen. Das ist der Kern. Aber Rüstungskooperation in Europa hat nicht den Verzicht auf Standards als Voraussetzung. Dieses gemeinsame Europa versteht sich als Raum des Rechts. Es ist stolz auf seine Werte. Die Beförderung einer Kriegsführung wie die der Saudis im Jemen verstößt gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Sie ist mit den universellen Menschenrechten unvereinbar. ({5}) Deshalb braucht europäische Rüstungskooperation europäische Standards. ({6}) – Europäische Standards, ja, die gibt es. Es gibt den Gemeinsamen Standpunkt für Rüstungsexporte mit acht Kriterien. Was hindert uns eigentlich daran, zur Grundlage von Rüstungskooperationsverträgen genau diese acht Kriterien verbindlich zu machen? Nichts hindert uns daran. ({7}) Sie müssen Grundlage werden, und wir müssen dieses in dem neuen Rüstungsexportkontrollgesetz festschreiben. Das ist übrigens kein nationaler Sonderweg. Menschenrechte sind universell, und das Völkerrecht gilt für alle. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Königreich Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie. Hier gilt die Scharia. Frau Lührmann, wie passt das mit Ihrer wertebasierten Politik zusammen? Menschenrechtler, Journalisten, Frauenrechtler werden verfolgt. Oppositionelle werden inhaftiert und zu drakonischen Strafen verurteilt. Dutzende Hinrichtungen jedes Jahr, verhängt durch saudische Gerichte. Folter ist an der Tagesordnung. Körperstrafen wie Stockhiebe oder Amputationen sind an der Tagesordnung. Was sage ich „Amputationen“! Das klingt viel zu medizinisch. Das ist das Abhacken von Körperteilen. Diskriminierungen von Frauen und Mädchen sind an der Tagesordnung. Per Gesetz benötigen sie einen männlichen Vormund. Keine Reisen, keinen Pass, keine medizinischen Eingriffe ohne die Zustimmung des männlichen Vormundes. An dieses Regime wollen Sie jetzt Waffen liefern! Der Herr Gysi hat gerade eben richtig daran erinnert, dass eine Militärkoalition unter der Leitung von Saudi-Arabien Krieg im Jemen führt, und das seit jetzt sieben Jahren mit 400 000 Toten und Millionen Vertriebenen. Die UNO spricht von der derzeit weltweit größten humanitären Katastrophe. Trotz Exportstopps für Waffen wollen Sie jetzt für 36 Millionen Euro in einem Programm zusammen mit Italien, Spanien und Großbritannien Waffen liefern. Die Bundesaußenministerin sagte: Ach, das sind ja gar keine direkten Waffenlieferungen aus Deutschland; das ist ein Gemeinschaftsprojekt mit den engsten europäischen Partnern im Verteidigungsbereich. – Da frage ich die Ministerin oder in diesem Fall, Frau Lührmann, Sie: Wo fängt für Sie Verteidigung an? Wo geht sie in den Angriff über? Ist das so mit Ihrer Wertevorstellung, Ihrer wertebasierten feministischen Außenpolitik vereinbar oder nicht? Und macht es die Sache irgendwie weniger schlimm, wenn Sie es mit Partnern zusammen machen? Natürlich hängt das nicht mit Ihrer wertebasierten Außenpolitik zusammen. Ich sage Ihnen, woran das liegt: Sie dienen den Interessen der USA, für die Saudi-Arabien ein wichtiger Bündnispartner ist. Der Kanzler fliegt nach Saudi-Arabien, um hier um billiges Öl zu betteln, ähnlich wie der Bundeswirtschaftsminister dies letztlich mit seinem Kotau gemacht hat, was nicht funktioniert hat. In Saudi-Arabien war es nicht anders: Der Kanzler war gerade weg, da greift der Prinz zum Telefon. Das Ergebnis ist nicht eine Ausweitung der Fördermengen, um Deutschland Öl und Energie zu bescheren. Nein, die Liefermengen sind sogar noch gedrosselt worden! Wenn das nicht eine maximale Demütigung der deutschen Politik, der deutschen Bundesregierung ist! Das ist eine schallende Ohrfeige für den Bundeskanzler, meine Damen und Herren. ({0}) Wir schlagen vor, dass Sie sich doch wenigstens, wenn diese Deals nicht funktionieren, lohnendere Partner suchen. Warum gehen Sie nicht in den Iran, wenn Sie schon keine moralischen Bedenken haben? Hier bekommen Sie ausreichend Rohstoffe für bezahlbares Geld, und Waffen müssen Sie dann auch nicht liefern; die brauchen die nämlich nicht. ({1}) Und Ihre Werteargumente gegen Russland sind nichts anderes als scheinheilig, wenn Sie mit Katar und Saudi-Arabien ins Geschäft kommen wollen. Wir sagen Ihnen: Lösen Sie sich von den US-Interessen! Heben Sie das Ölembargo gegen Russland auf, vielleicht sogar noch gesichtswahrend unter Konditionen – Stichworte „Waffenstillstand“ oder „Friedensverhandlungen“ –, wenn Sie an einem echten Frieden interessiert sind! Das hätte für diese Bundesregierung drei positive Folgen. Die erste ist: Sie werden nicht von einer Klerikaldiktatur weiter erniedrigt. Zweitens haben wir bezahlbare Energie für unsere Bürger und ermöglichen unserer Industrie, dem Industriestandort Deutschland ein wirtschaftliches Überleben. Die dritte ist: Sie ersparen sich einen heißen Winter, das heißt die größten Demonstrationen gegen diese Regierung in der Nachkriegszeit. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die AfD stimmt selbstverständlich der Überweisung in den Ausschuss zu. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Jens Beeck, FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nahezu jede Rede, die sich in diesen Tagen mit Außenpolitik befasst, muss darauf hinweisen, dass sich unsere Politik spätestens seit dem 24. Februar in einem nie dagewesenen Umbruch befindet. Und gerade weil das so ist, dürfen wir alle nicht müde werden, für Multilateralismus, für Freiheit, für Weltoffenheit und für unsere Werte einzustehen und zu werben. Das gilt auch gegenüber Saudi-Arabien, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Für unsere Werte bedeutet aber auch, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzustehen, und das bedeutet das Suchen von Verbündeten auf der ganzen Welt. Man muss immer noch mal gerade Ihnen, sehr geehrter Herr Gysi, und den weiteren Kollegen von den Linken sagen: Dieser Umbruch basiert auf einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. ({1}) Und dieser Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der dafür sorgt, dass gerade aktuell die Vorsitzende unseres Verteidigungsausschusses da war, dass viele andere da waren, führt bei uns zu klarer Solidarität mit der Ukraine. Anders als bei Ihrem Besuch machen wir konkrete Hilfsangebote. Deswegen sage ich Ihnen noch mal: Dieser Bundestag steht ganz überwiegend an der Seite der Ukraine und stellt sich mit gemeinsamen Partnern den Herausforderungen, die sich aus dieser Situation ergeben; anders als Sie das tun. ({2}) Genauso klar ist auch, dass wir diese Unterstützung nicht alleine leisten können, sondern dass wir an dieser Stelle auf die Zusammenarbeit mit europäischen, mit transatlantischen Partnern angewiesen sind. Das gilt auch und gerade in Fragen von Rüstung und Verteidigung. Wenn ich das mal sagen darf, Herr Kollege Gysi – ich habe Sie immer sehr geschätzt, Ihre Rhetorik ist brillant –: Ich war im Auswärtigen Ausschuss, als Sie begründet haben, weshalb Sie nicht zustimmen können, dass die NATO in dieser Situation Schweden und Finnland mit aufnimmt. Da habe ich wirklich gedacht: Sie haben doch nicht alle Gurken im Glas. ({3}) Sie haben dann tatsächlich in diesem Plenum in dieser Situation eines internationalen Umbruchs abgelehnt, sich in einer wertegeleiteten Verteidigungsgemeinschaft zusammenzuschließen mit denjenigen, mit denen wir nahezu alle Werte vollständig teilen. Die Begründung war: Der Preis, den Schweden und Finnland gegenüber der Türkei zahlen müssen, sei zu hoch. ({4}) Wer sich in der Weise auf die aktuelle Situation in dieser Welt einstellt, der betreibt einfach nur eine Verweigerung der Kenntnisnahme der aktuellen Situation, und der braucht anderen nicht vorzuschreiben, wie sie handeln sollten, Herr Kollege Gysi. ({5}) Deswegen muss man auch noch mal in Erinnerung rufen, worum es hier geht. ({6}) Bei allen völlig unstreitig schwierigen Situationen der Menschenrechte in Saudi-Arabien liefern wir als Deutschland nicht, sondern wir haben uns innerhalb der Europäischen Union mit Partnern für Rüstungsvorhaben zusammengeschlossen, sie gemeinsam entwickelt, in diesem Fall mit Frankreich, Großbritannien, Italien. Und Großbritannien liefert nun aufgrund bestehender Verträge Nachschub, nämlich Munition und Ausrüstung, für Tankflugzeuge und, ja, auch für den Eurofighter. ({7}) Das ist die Situation, die wir haben. Wir sind also vertragstreu gegenüber unserem NATO-Partner, der für sich entschieden hat, dass er diese Verträge einhalten will. Die Alternative dazu, das zu tun, wäre, dass es keinerlei Rüstungskooperationen mit Deutschland mehr geben könnte. ({8}) Die richtige Antwort ist stattdessen – und das steht im Koalitionsvertrag –, dass wir ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz mit großer Transparenz und engen Vorgaben erarbeiten und dass wir uns bemühen, mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern, aber insbesondere mit unseren europäischen Partnern, zu gemeinsamen Richtlinien für die Rüstungsexporte zu kommen. Das ermöglicht uns Zusammenarbeit in unserer wertegeleiteten gemeinschaftlichen Verteidigungsgemeinschaft. Das erlaubt uns dann auch, solche Entscheidungen gemeinschaftlich zu treffen, ohne sie hier immer im Einzelnen wieder diskutieren zu müssen – mit vollem Einfluss darauf, an wen wir was liefern und was nicht. Das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag werden wir umsetzen, und dann haben wir erfüllt, was wir versprochen haben. Die Situation wird sich auch deutlich bessern. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Ich rufe auf den Kollegen Johannes Arlt, SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Arlt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gibt es eine ideale Welt, eine Welt, in der wir immer absolut moralisch entscheiden können, frei von allen Umständen und Zwängen? Ich denke mal, wir alle, fast alle wünschen uns diese Welt. Und Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, zeigt diesen Wunsch. Das Problem ist: Diese Welt gibt es nicht. Mehr noch: Wir können uns nicht vor der realen Welt verstecken; wir müssen in ihr handeln. Deswegen lautet die eigentliche Kernfrage am heutigen Abend: Gibt es auch Notwendiges, ja, gibt es Richtiges im Falschen? Uns allen hier ist die Schwere der Entscheidung ganz deutlich bewusst. Sie ist nicht leichtfertig getroffen worden – im Gegenteil. Ja, die Ampelkoalition hat bei einem europäischen Kooperationsprojekt, wie viele Kollegen schon ausgeführt haben, einer Ausnahme für Exporte nach Saudi-Arabien zugestimmt. Diese umfasst die Zulieferung zur Ausrüstung und Bewaffnung der Kampfflugzeuge Eurofighter und Tornado und weiterhin die eben angesprochene Munition. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dies eine Ausnahme ist; denn bis dahin sind von Dezember 2021 bis September 2022 gemäß Ihrer aktuellen Anfrage überhaupt keine Exportgenehmigungen für Waffenexporte nach Saudi-Arabien erteilt worden. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Johannes Arlt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Arlt, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Laut Rüstungsexportbericht hatten wir vergangenes Jahr – da war ja Kanzler Scholz noch Vizekanzler – rekordartige 9,4 Milliarden Euro an Rüstungsexportgenehmigungen, darunter übrigens auch Waffenlieferungen an Saudi-Arabien; das war unter der Merkel-Regierung öfter umgangen worden: 2021 im Wert von 2,5 Millionen Euro, im Jahr davor von über 30 Millionen Euro. Vergangenes Jahr wurden auch Rüstungsexporte an Ägypten, eines der am meisten belieferten Länder, im Wert von 4,3 Milliarden Euro im Bereich der maritimen Kriegsführung und Luftflotte geliefert. Das ist auch ein Teil der Kriegskoalition. Seit Jahren beliefert und befeuert Deutschland diesen Krieg. Dass Sie das hier schönreden und weglassen und gleichzeitig von einer wertebasierten oder gar feministischen Außenpolitik sprechen: Entschuldigen Sie, können Sie sich da selbst noch ernst nehmen? Unterscheiden Sie da nicht mächtig zwischen einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und einem anderen? Herr Trittin hat es richtig bezeichnet. Wir finden: Alle Angriffskriege sollten nicht befeuert werden, und sie alle sollten aufhören. Und vor allen Dingen sollte Deutschland in keines dieser Gebiete Waffen liefern. ({0})

Johannes Arlt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, die Frage habe ich vermisst. Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Wir sprechen hier heute über Saudi-Arabien. Und ja, wir haben 2020 und 2021 Ausnahmen von dem generellen Exportverbot, das wir in der Großen Koalition 2018 beschlossen haben, gemacht, nämlich um genau solche Gemeinschaftsverträge zu erfüllen. Das wissen Sie auch. In den letzten Monaten ist das nicht erfolgt. Und jetzt haben wir wieder so eine Einzelfallentscheidung getroffen. ({0}) – Im Rahmen der Erfüllung von Kooperationsverträgen. ({1}) Aber die Frage ist: Warum ist diese Ausnahme notwendig gewesen? Erstens. Wir sind ein multilateral orientiertes Land, für das die Zusammenarbeit mit seinen EU- und NATO-Verbündeten von hoher Wichtigkeit ist. Diese Projekte sind eben schon lange existierende gemeinsame Projekte, in denen wir vertragstreu sein müssen, in denen es eine hohe Wertschöpfung gibt. Deswegen wurden diese Ausnahmegenehmigungen auch erteilt. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage durch die Aggression Russlands ist die Zusammenarbeit mit unseren Alliierten wichtiger denn je. Wir dürfen uns also nicht isolieren, und wir wollen uns auch nicht isolieren als Deutschland. ({2}) Zweitens. Nationale Alleingänge in gemeinschaftlichen Rüstungsprojekten sind illusorisch. Rüstungsgüter und ‑projekte und deren Komponenten sind bereits multinational. In einer globalen, verflochtenen Welt erfolgt das per se grenzübergreifend. Deswegen kann es nicht das Mittel sein, dass wir einen nationalen Alleingang wählen. Über die Richtlinien beim Rüstungsexport müssen wir uns europäisch abstimmen und einigen. ({3}) Wir können uns nicht über unsere demokratischen Partner in Europa erheben und deren Moral und deren Werte infrage stellen und sagen: Wir haben die besseren. – Das hat unsere Bundesverteidigungsministerin auch in ihrer Rede vor einem Monat vor der DGAP völlig zu Recht betont. ({4}) Drittens. Wollen wir also in einer realen Welt handeln und nicht nur reagieren, sondern agieren, dann können wir das nicht allein. Wir müssen uns daher auf europäischer Ebene auf eine gemeinsame Interpretation bestehender Exportregelungen einigen. Nur so kommen wir dann auch zu einer gemeinsamen Rüstungsexportverordnung. Die Vorstellung einer idealen Welt, Frau Kollegin Nastic, kann dabei ruhig als Kompass dienen. Ein Kompass ist aber ebenso die reale Welt. ({5}) Und diese Abwägung zu treffen, ist manchmal schwer, ist manchmal schmerzhaft – so wie auch bei dieser Entscheidung. ({6}) Abschließend möchte ich noch einmal die Kernfrage aufgreifen: Gibt es auch Richtiges im Falschen? Ja, es gibt Richtiges. 2021 sind insgesamt 114 Anträge auf Ausfuhr von Rüstungsgütern in Deutschland abgelehnt worden, 58 allein betrafen Saudi-Arabien. ({7}) Das potenzielle Auftragsvolumen dieser Anträge aus Saudi-Arabien hätte 186,2 Millionen Euro ausgemacht. Das entspricht einem Volumen von fast 96 Prozent aller abgelehnten Anträge. Sie sehen daran also, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir wägen ganz sorgfältig ab. In einer idealen Welt werden wir vor diese Entscheidung nicht gestellt. Aber wir können uns in unserer realen Welt nicht frei von allen Umständen bewegen und entscheiden. ({8}) Deshalb: Bei der Zulieferung von Ausrüstung und Bewaffnung für diese Systeme haben wir eine schwere, aber vertretbare und wohlbegründete Entscheidung getroffen. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich darf nun den Kollegen Armin Laschet aufrufen und um seinen Beitrag bitten. ({0})

Armin Laschet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002718, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich bin dem Kollegen Arlt dankbar, dass er hier noch mal beschrieben hat, in welchem ethischen Dilemma man sich befindet. Seit der Zeitenwende sollten wir uns bei internationalen und außenpolitischen Debatten vielleicht insgesamt angewöhnen, dass wir bedenken: Es gibt nicht die schwarze oder die weiße Entscheidung, sondern es gibt Abwägungen, und diese hat die Bundesregierung in diesem Falle getroffen. Man kann jetzt Reden halten, wie man sie immer gehalten hat. Das machten zum Beispiel der Kollege Gysi ({0}) und der Kollege von der AfD, der hier gleich noch die Interessen der USA umgesetzt gesehen hat, also gleich noch einen Antiamerikanismus mit hineingemischt hat. Das sind die Reden von früher. Aber die Abwägung, die man jetzt treffen muss, ist in der Tat: Wie kann man europäische Kooperationen hinkriegen, wie sie im Aachener Vertrag beschrieben sind? Wie kann man gemeinsame Verteidigungsprogramme intensivieren? So steht es im Aachener Vertrag. Wie kann man gemeinsame Ansätze für Rüstungsexporte entwickeln? Und wie kann man eine stärkere europäische Verteidigungsindustrie in einer sich verändernden Welt darstellen? – Das wird immer zu Konflikten führen. Im Falle der Vereinigten Arabischen Emirate, übrigens auch bei Saudi-Arabien, gibt es auch noch den Player Iran. ({1}) Den hat hier heute weder Herr Gysi noch der Kollege von der AfD noch irgendjemand erwähnt. Der ist aber die wirklich reale Bedrohung in dieser Region, wenn die Terminals in den Vereinigten Arabischen Emiraten von iranischen Drohnen beschossen werden, die die Huthi-Rebellen in Richtung ziviler Ziele nach Abu Dhabi schicken – da, wo demnächst unsere LNG-Terminals sein sollen, da, wo demnächst unser Wasserstoff herkommen soll. Was sagen wir denn einem Land, das sagt: „Wir möchten uns dagegen verteidigen. Könnt ihr uns helfen?“? Sagen wir nur: „Nein, wir wollen mehr Wasserstoff. Wir wollen mehr LNG-Gas. Wir bitten, dass Sie mit uns kooperieren. Aber wenn Sie die Anlagen schützen wollen, dann sind wir Deutschen außen vor“? Die Antwort auf diese Fragen hängt von der Kernfrage ab: Wie kommt man zu richtigen Abwägungen? Ich finde, in diesem Fall hat die Bundesregierung richtig entschieden. ({2}) Eines hat mich in dieser Debatte allerdings verstört. Das war die Begründung und die Tonlage des Kollegen Trittin. Sie haben in sehr feinen Worten gesagt: Man darf das Ganze nur machen, wenn es völkerrechtsmäßig ist. ({3}) Auch die europäische Rüstungskooperation brauche diese Prinzipien. Aber Sie haben dann indirekt – übrigens als einziger Redner aus der Ampelkoalition – die Entscheidung der Bundesregierung kritisiert. Die CDU, die SPD und die FDP verteidigen Ministerin Baerbock und Minister Habeck. Und der Einzige, der aus der Ampel eine Rede mit dem – ich will jetzt kein Adjektiv dafür verwenden – schon extrem starken Argument „Das ist völkerrechtswidrig“ gegen die eigene Regierung hält, waren Sie, lieber Herr Trittin. Ich würde auch Sie bitten, diese Abwägung anzuerkennen und nicht das Handeln der Bundesregierung in dieser Entscheidung als völkerrechtswidrig zu diskreditieren. ({4}) Das täte dem Stile in diesem Hause gut. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Laschet, vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joe Weingarten, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Joe Weingarten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Waffenlieferungen an Staaten, die nicht Verbündete in der NATO sind, bedürfen einer sachlichen Begründung und ausgiebigen Diskussion. Sie berühren nicht nur verteidigungspolitische Fragen, sondern grundsätzliche Aspekte der Ethik, der Wirtschaftspolitik und generell unserer Außenpolitik; der Kollege Arlt hat darauf ausgiebig hingewiesen. Deswegen wollen wir Leitlinien in einem Rüstungsexportkontrollgesetz, das verlässliche Bedingungen transparent definiert. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt dieses Vorhaben ausdrücklich. ({0}) Eine Lieferung in ein Land der arabischen Halbinsel, in eine der spannungsreichsten Regionen unserer Welt, ist besonders zu prüfen. Dort geht es nicht nur um regionale Konflikte; es geht auch um zentrale Verkehrs- und Versorgungslinien dieser Welt und die Sicherheitsinteressen des Staates Israel. Saudi-Arabien ist ein schwieriger außenpolitischer Partner, ganz besonders im Hinblick auf Menschenrechte und demokratische Werte – und natürlich auch wegen der Beteiligung des Landes am Krieg im Jemen, an einem Konflikt, für dessen dauerhafte Beendigung wir uns nachdrücklich einsetzen. Dennoch müssen wir weiterhin die Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien suchen, nicht nur in energiepolitischen Fragen, sondern auch um – und das ist mir als stellvertretendem Vorsitzenden der Deutsch-Arabischen Parlamentariergruppe wichtig – all jene Kräfte zu stärken, die im saudischen Königreich für Menschenrechte, Toleranz und Freiheit eintreten. Die gibt es nämlich auch. Saudi-Arabien ist auch eine wichtige strategische Gegenmacht gegen den Iran; der Kollege Laschet hat zu Recht darauf hingewiesen. Und die spektakuläre Annäherung arabischer Staaten an Israel, gipfelnd in den Abraham Accords, wäre ohne saudische Unterstützung nicht möglich gewesen. Auch das müssen wir in das Bild einbeziehen. In dieser komplizierten Lage ist es richtig, dass die Bundesregierung weiter die Zusammenarbeit sucht und dabei auch Sicherheitsfragen nicht ausklammert. Im Umfeld des Jemen-Krieges wird es zu Recht keine neuen Rüstungsexporte geben. Aber es ist als Zeichen unserer Vertragstreue und auch unserer europäischen Verlässlichkeit notwendig, bestehende Kooperationen weiterzuführen und zugesagte Teile auch zu liefern. Das führt uns zu einem zentralen strategischen Interesse Deutschlands: einer funktionierenden europäischen Rüstungsindustrie. Denn es geht auch um die Frage, ob wir eine eigenständige europäische und deutsche Rüstungsindustrie haben wollen, um nicht vollkommen von Drittstaaten abhängig zu sein. Wir als Sozialdemokraten und als Regierungskoalition wollen solche Abhängigkeiten ausdrücklich nicht. Wollen wir aber eine europäische Rüstungsindustrie, müssen wir auch zu gemeinsamen Projekten stehen. Das bringt auch mit sich, gemeinsame Projekte umzusetzen, die wir alleine vielleicht sogar enger fassen würden als andere europäische Partner. Der Antrag der Linken wird dieser notwendigen differenzierten Betrachtung nicht gerecht. Er dient mehr der Stimmungsmache als der sachlichen Auseinandersetzung. Wir werden ihn ablehnen. ({1})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Entschuldigen Sie, dass ich jetzt die Rede halte. Ich habe Ihren Appell wohl verstanden, aber es war zu spät. ({0}) Wir haben einen entsprechenden Antrag der Linken vorliegen. Natürlich verstehe ich, dass es einem in den Fingern juckt – insbesondere mit Blick auf die Grünen und Teile der SPD –, so einen Antrag zu stellen. Ebenso wie der Kollege Laschet haben Sie, Herr Kollege Trittin, die Größe, einen solchen Spagat hinzulegen – bildlich gesprochen –, wie Sie es heute hier am Rednerpult getan haben. Das ist für mich schon bemerkenswert gewesen. Aber umso erstaunlicher ist es, dass bis zu den letzten beiden Rednern – auch in dem Antrag selber findet sich ja eine einseitige Analyse zu Saudi-Arabien, die sehr isoliert ist – kein Wort zum Thema Iran gesagt wurde. Herr Keuter hat sich sogar dazu hinreißen lassen, den Iran zu verteidigen. Mit Blick auf den Iran und Waffen muss man sagen: Es sind gerade iranische Drohnen, die die Russen gegen die Ukraine einsetzen. Das ist die Realität. ({1}) Darum sollte man sich schon die gesamte Sicherheitsstruktur in dieser Region anschauen. Iran arbeitet an der Atombombe, arbeitet an Raketen. Mit Blick auf den Jemen ist der Iran unterwegs, aber genauso mit Blick auf den Libanon, die Hisbollah, Syrien, Irak – die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Wir stehen höchstwahrscheinlich vor einem Wettrüsten in dieser Region. Hier stellt sich schon die Frage – ich bin froh über die Worte der Sozialdemokraten –: Wollen wir dieses Feld den Türken und den Chinesen überlassen? Oder den Russen? ({2}) Ich habe sehr wohl noch die Worte der Außenministerin in den Ohren, die – wohl ein Stück weit verzweifelt – gesagt hat: Wir kriegen momentan Staaten wie Südafrika oder Indien nicht auf unsere Seite, weil es engste Militärkooperationen dieser Länder mit Russland gibt. – Militärkooperationen und Sicherheitskooperationen sind Teil der Außenpolitik. Davor darf man nicht die Augen verschließen. Und ich möchte nicht allein China oder der Türkei dieses Feld überlassen. ({3}) Meine Damen und Herren, zum Thema Rüstung werden wir entsprechend diskutieren, wenn das Gesetz vorliegt. Ich weiß nur vom Ständigen Vertreter in Brüssel, dass er diese Argumentation einmal vorgebracht hat. Er war damit alleine im Kreise der Ständigen Vertreter. Also sehr viel Optimismus für den einen oder den anderen Ansatz sehe ich hier nicht. Aber lassen Sie mich abschließend einen Punkt sagen. Es ist schon sehr bitter, wenn erst der Bundeswirtschaftsminister und dann der Bundeskanzler in diese Region als Bittsteller fahren und mit leeren Händen zurückkommen. Mit Katar wurde bisher kein Ergebnis erzielt. Das Ergebnis des großen Vertrags mit den Vereinigten Arabischen Emiraten entspricht noch nicht mal einer Tageslieferung über Nord Stream 1. Saudi-Arabien hat jetzt mit einem OPEC-Plus-Beschluss die Ölfördermenge entsprechend reduziert und nicht erhöht, meine Damen und Herren. Das ist meine Aufforderung an diese Bundesregierung: Die arabischen Länder in der Golfregion sind unsere Nachbarn. Sie beeinflussen unmittelbar unser Leben. Darum brauchen wir den Blick auf das Kritische, aber wir brauchen auch den Blick auf das Einende. Und wir müssen schauen, dass wir zu einer Kooperation mit diesen Ländern auf Augenhöhe kommen. Da gibt es Bereiche wie Gesundheit und Wissenschaft, in denen das einfacher ist; aber es gibt auch Bereiche, in denen es wehtut, die entsprechendes Potenzial für Zwiespalt haben, wie zum Beispiel der Bereich Sicherheitsarchitektur.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Israel und Saudi-Arabien denken inzwischen über Kooperationen im militärischen Bereich nach, meine Damen und Herren. Das sollte uns auch ein Stück weit die Augen öffnen. Besten Dank. ({0})

Katja Hessel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004750

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wladimir Putins Energiekrieg trifft uns alle: die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wie auch unsere Unternehmen. Als Bundesregierung bringen wir deswegen zahlreiche Entlastungen für die Menschen und die Wirtschaft auf den Weg, zuletzt drei massive Entlastungspakete und einen umfassenden Abwehrschirm gegen die Energiekostensteigerungen. Unsere Botschaft an die Menschen in unserem Land ist dabei klar und deutlich: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht im Stich, und wir lassen auch unsere Unternehmen nicht alleine. ({0}) Wir helfen ihnen bei den hohen Energiekosten und schützen so auch die Arbeitsplätze der Menschen in unserem Land. Heute sprechen wir hier über eine dieser wichtigen Maßnahmen. Um die energieintensiven Unternehmen des produzierenden Gewerbes mit den hohen Energiepreisen nicht alleine zu lassen, wollen wir den Spitzenausgleich bei der Strom- und der Energiesteuer um ein weiteres Jahr verlängern. Ohne diese Gesetzesänderung würde die Steuerbegünstigung zum Jahresende ersatzlos wegfallen. Die Verlängerung, um deren Unterstützung ich hier bei Ihnen werbe, leistet auf mehreren Ebenen einen wichtigen Beitrag in dieser angespannten Situation. Durch die Verlängerung wird die Energiepreissteigerung gedämpft. Das wirkt der hohen Inflation entgegen, weil diese durch die starke Energiekostensteigerung getrieben wird. Wir sichern aber auch die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver und im internationalen Wettbewerb stehender Unternehmen in Deutschland und damit viele Arbeitsplätze unserer Bürgerinnen und Bürger. ({1}) Insgesamt könnten so rund 9 000 energieintensive Unternehmen in Höhe von rund 1,7 Milliarden Euro entlastet werden. Wir denken dabei aber auch an die Anreize zum Energiesparen. Nach unserem Vorschlag würden nur die Unternehmen den Spitzenausgleich 2023 bekommen, die zum einen nachweisen, ein Energie- oder Umweltmanagementsystem zu betreiben, und zum anderen gegenüber der Zollverwaltung erklären, die dabei festgestellten Energiesparmaßnahmen vorzunehmen. Einen erforderlichen Zielwert zur Reduktion der Energieintensität legen wir für das Antragsjahr 2023 ausnahmsweise einmal nicht fest; aufgrund der aktuellen Lage auf den Energiemärkten ist dies wohl einmalig gerechtfertigt. Zudem wurden auch in der Vergangenheit die vereinbarten Ziele zur Reduzierung der Energieintensität seitens der Wirtschaft deutlich übererfüllt, und die Wirtschaft hat dennoch weiterhin in emissionsarme Technologien und Energieeffizienz investiert. Wir reden hier also insgesamt über ein bewährtes und schnell anwendbares Instrument, das die Inflation dämpft, unsere Unternehmen wettbewerbsfähig hält und Arbeitsplätze schützt. Das ist ein wirklich sinnvoller Baustein aus dem Entlastungspaket III zur Entlastung energieintensiver Unternehmen. Deswegen freuen wir uns auch über eine möglichst breite Zustimmung in diesem Haus zu unserem Vorschlag. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, Sie hatten seit dem Überfall auf die Ukraine mehr als sieben Monate Zeit, um eine Antwort auf die explodierenden Energiepreise zu finden. Im Juni wurde die Konzertierte Aktion angekündigt – wo sind eigentlich die Ergebnisse? –, im Sommer haben wir das unwürdige Schauspiel um die Fehlkonstruktion Gasumlage erlebt, ({0}) die Sie zurückgezogen haben. Jetzt musste innerhalb von kurzer Zeit eine Expertenkommission in einer 34-Stunden-Sitzung eilig Vorschläge präsentieren, wie es aussehen könnte, dass der – wie Sie ihn etwas infantil nennen – Doppel-Wumms doch irgendwo und irgendwann spürbar bei den Menschen ankommt. Bei uns zu Hause nennt man so etwas „Gewurschtel“; aber das ist alles andere als seriöse Politik. ({1}) Diese Hängepartie, meine sehr geehrten Damen und Herren, hätten Sie uns allen ersparen können, wenn Sie im Sommer gehandelt hätten. Sie haben aber die Sommerpause verdaddelt. Sie haben in der gesamten Sommerpause gestritten, und Sie haben die Sommerpause eben nicht genutzt, um sich einig zu werden über die Entlastungspakete. ({2}) Wenn Sie das nämlich gemacht hätten, dann hätten wir die Gesetze schon längst im Gesetzblatt. Die Entlastungen wären schon da, die Planungssicherheit für Unternehmen und Haushalte wäre schon da. Aber jetzt kommt wieder alles auf den letzten Drücker. Die jetzigen Maßnahmen – wir diskutieren ja heute eines dieser Instrumente – kommen einfach sehr spät, viele sagen: zu spät. Die Gründe sind bekannt; ich habe sie eben genannt. „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ hieß mal ein Film. Bei Ihnen, liebe Ampel, weiß man es eben nicht. ({3}) Diese Hängepartie bedeutet nichts anderes als die Gefahr einer dauerhaften Deindustrialisierung in unserem Land. Gerade die energieintensiven Industrien sind ins Mark getroffen. Ich für meinen Teil bekomme Mails aus meinem Wahlkreis von Unternehmerinnen und Unternehmern. Da stehen Sätze drin wie: „Wir haben Panik vor dem Jahr 2023“, oder: „Es entsteht eine dramatische Situation im nächsten Jahr“. Das schreiben Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, die normalerweise sehr nüchtern auf die Dinge schauen. Hier müssen Sie absolut reagieren. ({4}) Denn eins ist klar und wissen wir alle: Abgewanderte Industrien kommen nie wieder zurück. Die Wertschöpfung, der Wohlstand, die Arbeitsplätze in unserem Land sind dann für immer verloren. Jetzt geht es ums Ganze, und Sie müssen hier reagieren. Deshalb müssen wir alles machen, was wir tun können – ich betone: wirklich alles. In diesem Gesetz verändern Sie eine kleine Stellschraube: Sie nehmen endlich eine Forderung der CDU/CSU auf, indem Sie vorschlagen, den Spitzenausgleich bis ins nächste Jahr zu verlängern. Sie nehmen also mal wieder eine Forderung von uns auf. Opposition wirkt! Diese Feststellung ist für mich als Oppositionspolitiker auch mal ganz schön. ({5}) Dieser Spitzenausgleich, den es schon seit vielen Jahren gibt, sorgt dafür, dass energieintensive Unternehmen einen großen Teil der gezahlten Energie- und Stromsteuer wieder erstattet bekommen. Es wurde eben genannt: 9 000 Unternehmen profitieren von der Entlastung in Höhe von 1,68 Milliarden Euro. Wir haben diesen Vorschlag in diesem Jahr schon mehrfach gemacht – ich habe es mir noch mal angeschaut –: Wir haben im Mai dazu einen Antrag eingebracht. Wir haben im Juli dazu eine Große Anfrage gestellt. Es ist einfach sehr ärgerlich, dass Sie immer auf den letzten Drücker mit diesen Gesetzen kommen. Es ist ein Muster dieser Ampelregierung, dass sie zu spät handelt. ({6}) Apropos Zeitplan: Laut aktuellem Zeitplan dieses Gesetzgebungsverfahrens kommen wir in den Dezember, bis das Gesetz beschlossen wird. Da haben wir noch Zeit. Die Anhörung wird in der kommenden Woche stattfinden. Ich bin sehr dafür, dass wir dieses Gesetz noch besser machen. Erster Punkt. Wir werden Ihnen beispielsweise vorschlagen, dass wir diesen Spitzenausgleich nicht nur um ein Jahr verlängern, sondern dass wir ihn gleich um zwei Jahre verlängern. Denn sind wir doch ehrlich: Der Krieg wird nächstes Jahr vermutlich nicht vorbei sein. Die Energiepreise werden hoch bleiben. Wir werden wahrscheinlich nächstes Jahr nach der Sommerpause wieder hier stehen und den nächsten Ausgleich beschließen. ({7}) Von daher nehmen Sie bitte unsere Anregung auf, den Spitzenausgleich um zwei Jahre zu verlängern. Das ist im Übrigen auch etwas, was viele Vertreter sowohl von Gewerkschaften als auch aus der Industrie fordern. Wenn Sie schon nicht auf uns hören, dann hören Sie doch bitte auf diejenigen, die es betrifft. ({8}) Zweiter Punkt. Wir müssen aber auch an die Steuern im Allgemeinen rangehen; denn die hohen Preise treffen nicht nur die energieintensiven Unternehmen, sondern alle Unternehmen. Wir werden Ihnen wiederholt auch in diesem Gesetzgebungsverfahren vorschlagen, die Stromsteuer und die Energiesteuer auf das Mindestmaß herunterzuschrauben, das uns die Europäische Union erlaubt. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Die Stromsteuer ist in Deutschland 41‑mal so hoch, wie es uns die Europäische Union erlauben würde. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das passt einfach nicht in die Zeit. Deswegen werden wir Sie in diesem Gesetzgebungsprozess daran erinnern. Und der letzte Punkt. Die Grünen sind wahrscheinlich schon genervt, dass sie es jetzt wieder hören: Wir müssen das Angebot ausweiten. Der Minister ist sichtlich genervt; wir haben Herrn Habeck ja gestern in den „Tagesthemen“ gesehen. Aber wir müssen das Angebot ausweiten. Wir müssen alles ans Netz bringen, was zusätzlichen Strom bringt. Deswegen sage ich Ihnen: Ran an die Atomkraftwerke! Die müssen weiterlaufen. Wir müssen jetzt endlich die Brennstäbe bestellen. ({9}) – Die gibt es auch in Frankreich, in Kanada etc. Informieren Sie sich bitte richtig. Hören Sie mit dem Kindergarten in Ihrer Ampelkoalition auf, und sorgen Sie dafür, dass wir auch im nächsten Jahr genug Strom haben. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Carlos Kasper, SPD-Fraktion. ({0})

Carlos Kasper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005097, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in den vergangenen Wochen schon mehrmals zu den Entlastungen der Ampelkoalition sprechen dürfen. Denn wir entlasten nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern eben auch die Unternehmen und federn so die schlimmsten Folgen der aktuellen Krise ab. Wir greifen dort unter die Arme, wo die gestiegenen Energiepreise die Menschen vor große Herausforderungen stellen. Das gilt besonders für diejenigen mit kleinen und mittleren Einkommen, die jetzt vor den hohen Mehrbelastungen stehen und sich große Sorgen um die Zukunft machen. Ja, Herr Steiniger, wir haben nicht eine Antwort auf die Energiekrise gefunden, wir haben gleich mehrere gefunden. ({0}) Deswegen werden wir das Kindergeld erhöhen, haben wir die Energiepreispauschale diesen Monat ausgezahlt und für den Sommer ein 9‑Euro-Ticket finanziert, das nächstes Jahr als 49‑Euro-Ticket weitergeführt werden wird. ({1}) Und nun endlich tun wir auch direkt etwas für die Kundinnen und Kunden von Gas und Fernwärme: Wir übernehmen die Abschlagszahlung mindestens für Dezember und schaffen einen verbilligten Grundverbrauch. ({2}) Aber, wie gesagt, wir helfen auch unseren Unternehmen. Das ist richtig; denn während immer noch die Folgen der Coronakrise für die Wirtschaft spürbar sind, ist diese ebenso hart getroffen von den derzeit hohen Preisen im Energiesektor. Daher haben wir uns entschieden, den sogenannten Spitzenausgleich um ein weiteres Jahr, also bis Ende 2023, zu verlängern. Er ermöglicht es Firmen des produzierenden Gewerbes, einen Teil ihrer Energie- und Stromsteuer zurückerstattet zu bekommen. Durch diese Verlängerung werden rund 9 000 Unternehmen entlastet. Aber es geht uns nicht nur um diese Unternehmen, die wir retten wollen. Gerade uns als Sozialdemokratie geht es gerade um die gut bezahlten Arbeitsplätze in der Industrie. Genau diese Arbeitsplätze wollen wir schützen. Wir unterstützen damit einen Bereich unserer Wirtschaft, in dem über 8 Millionen Beschäftigte arbeiten. Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu, wenn wir über dieses Gesetz sprechen: Laut Umweltbundesamt ist der Spitzenausgleich eine der umweltschädlichsten Subventionen. Mit 1,7 Milliarden Euro fördern wir eben auch den Bezug von fossilen Energieträgern. Das sollte eigentlich der Vergangenheit angehören; denn unser Ziel ist die Senkung der Energieverbräuche, weg von fossilen Energien. ({3}) Statt auf klimaschädliche Subventionen sollten wir unser Augenmerk vielmehr auf eine nachhaltige Transformation richten. Die Verlängerung des Spitzenausgleichs ist in diesem Fall jedoch ein notwendiges Übel. Die aktuell schwierigen Zeiten lassen uns leider keine andere Wahl; denn mit dem Wegfall dieser Subvention würden wir die Inflation weiter anheizen und einen Verlust von Industriearbeitsplätzen riskieren. Es gilt nun, unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu entlasten, um Schlimmeres abzuwenden, Arbeitsplätze zu sichern und Sorgen zu nehmen. Daher ist es richtig, das produzierende Gewerbe ein weiteres Jahr zu unterstützen. Sehr geehrte Damen und Herren, jede einzelne Maßnahme, die die Bundesregierung mit ihren Entlastungspaketen auf den Weg bringt, setzt ein klares Zeichen: In diesen herausfordernden Zeiten wird niemand alleingelassen. Wir entlasten schnell und gezielt. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kasper. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Jan Wenzel Schmidt, AfD-Fraktion. ({0})

Jan Wenzel Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005210, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Verlängerung des sogenannten Spitzenausgleichs ist ein weiterer Hütchenspielertrick, mit dem die rot-gelb-grüne Bundesregierung Steuererleichterungen vorgaukeln will. Mit diesem Gesetz können Unternehmen mit besonders energieintensiver Produktion Steuern auf Strom und Energie teilweise zurückerstattet bekommen. Die Bundesregierung wendet so viel Energie zur Vortäuschung von Entlastungen auf, dass sie eigentlich schon selbst unter diese Regelung fallen müsste, wenn sie denn etwas Sinnvolles produzieren würde. ({0}) Die vollkommen überzogenen Strom- und Energiesteuern zusammen mit der CO2-Abgabe müssen radikal gesenkt oder gänzlich abgeschafft werden. Stattdessen gestattet es der Staat einigen Unternehmen großmütig, ein paar Groschen ihrer erwirtschafteten Gelder zurückzuerhalten. Eine Verlängerung des Spitzenausgleiches wäre überhaupt nicht nötig, wenn Sie endlich einsehen würden, dass Unternehmen und vor allem auch die Bürger dieses Landes mehr Steuern zahlen müssen, als sie überhaupt noch können. Es kommt aber noch besser. Nicht nur gibt der Räuber seinem Opfer einen Teil des Raubgutes zurück und lässt sich dafür feiern; nein, er knüpft die Rückgabe auch noch an Bedingungen. So bekommen nur Unternehmen ihre Steuergelder teilweise zurück, wenn die Bundesregierung davon überzeugt ist, dass bestimmte Zielwerte zur Reduzierung der Energieintensität durch die Unternehmen erreicht wurden. ({1}) Auf dem Scheiterhaufen der Klimaideologie werden immer mehr deutsche Unternehmen ihr Ende finden. ({2}) Mittlerweile dürfte klar sein, dass das kein unerwünschter Effekt, sondern gewollte grüne Politik ist. ({3}) Ich halte es entsprechend für falsch, Robert Habeck als den „schlechtesten Wirtschaftsminister aller Zeiten“ zu bezeichnen. Er weiß doch genau, wie er die deutsche Wirtschaft in die Knie zwingt. Kein Jahr ist vergangen, und die Unternehmen gehen reihenweise in die Insolvenz; ({4}) Verzeihung, sie produzieren nur nicht wieder. – Putin und Habeck sind nicht verantwortlich, sondern Sie sind verantwortlich mit Ihrer Politik; das ist doch das Problem. Herr Habeck macht doch die ganzen Fehler. ({5}) Die Verlängerung des Spitzenausgleichs ist nichts anderes, als den Bürgern weiter Sand in die Augen zu streuen. Die Energiekosten werden ohnehin durch Ihren Wirtschaftskrieg als Vasall an der Seite der USA ins Unermessliche steigen. ({6}) Ihr Spitzenausgleich wird am Untergang der deutschen Wirtschaft nichts mehr ändern. ({7}) Selbst ohne diese ganze Misere hat lediglich die AfD stets nachhaltige Steuersenkungen gefordert. ({8}) Die Bürger dieses Landes brauchen wieder Luft zum Atmen. Den Herren und Damen auf der Regierungsbank muss allerdings möglichst schnell endgültig der Geldhahn zugedreht werden. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Das Wort hat nun der Kollege Dr. Sebastian Schäfer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Sebastian Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005201, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen Lösungen für hohe Energiepreise. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Unternehmen den Winter überstehen. Das ist die absolut zentrale Aufgabe dieser Regierung. Dabei bewegen wir uns auf einem schmalen Grat: Sind die Preise zu hoch, müssen Unternehmen die Produktion einstellen. Sind die Sparanreize zu niedrig und droht deswegen eine Gasmangellage, müssen die Unternehmen ihre Produktion aufgrund dieser Mangellage einstellen. Daneben müssen wir auch das richtige Maß zwischen schnellen Lösungen und zukunftsfähiger Politik finden. Wir brauchen Instrumente, die sich schnell umsetzen lassen, und müssen dafür auf die Strukturen der Vergangenheit zurückgreifen. Wir brauchen aber auch eine zukunftsfähige Politik. Sie darf sich nicht auf fossile Subventionen beschränken, sondern sie muss eben auch den Weg für die Transformation ebnen. ({0}) Der Abwehrschirm war da ein großer Schritt in die richtige Richtung. Die Regierung schafft damit ein Instrument, das der Größe der Herausforderung angemessen ist. Am Montag hat die Gaskommission ihre Vorschläge vorgelegt. Nach dem Vorschlag für die Gaspreisbremse sollen 70 Prozent des Gasverbrauchs von 2021 auf einem Niveau von 7 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden. Das ist eine riesige Entlastung und eine enorme Unterstützung für die Unternehmen. Darüber hinaus schafft sie aber Sparanreize, die die Gasmangellage verhindern werden. Die genaue Ausgestaltung werden wir ja im Hohen Haus in den nächsten Wochen noch diskutieren. Die Verlängerung des Spitzenausgleichs, über die wir heute sprechen, ist in ihrem Umfang kleiner. Aber sie stellt trotzdem eine wichtige Entlastung für viele Unternehmen dar. Wir haben es gehört: 9 000 Unternehmen profitieren von dieser Maßnahme. Sie können sich bis zu 90 Prozent der Kosten für die Energie- und Stromsteuer zurückerstatten lassen und profitieren in Höhe von knapp 1,7 Milliarden. Die Erstattung dieser Kosten war sinnvollerweise immer an Effizienzanforderungen geknüpft. Leider setzten diese Effizienzanforderungen in den letzten Jahren keine Sparanreize für individuelle Unternehmen, weil das produzierende Gewerbe nur eine durchschnittliche Einsparquote erreichen musste. Darüber hinaus war diese Einsparquote sehr niedrig und wurde immer übererfüllt. Es ist offensichtlich, dass Sparsamkeit und Effizienz keine Priorität hatten, und wir sehen die Folgen, die diese Politik hatte. Kurzfristig, in der akuten Krise müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben. Aber langfristig müssen wir Instrumente entwickeln, die echte Spar- und auch Investitionsanreize für unsere Unternehmen schaffen, ({1}) Instrumente, die gute Rahmenbedingungen schaffen, die die Unternehmen aber auch in die Pflicht nehmen. Wenn wir diese enorme Herausforderung stemmen, tragen wir einen wichtigen Teil zur Transformation bei, werden wir unabhängig von Diktatoren und sichern auch langfristig unseren Wohlstand. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schäfer. – Ich rufe nunmehr auf den Kollegen Christian Görke, Fraktion Die Linke. ({0})

Christian Görke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005067, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiekrise überfordert uns alle: die energieintensive Industrie, die Bäcker, die kommunalen Krankenhäuser und die Verbraucher. Deshalb ist es auch richtig und wichtig, in der Krise auf breiter Front zu entlasten. Aber was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ampel, hier vorlegen, ist Stückwerk. Wir haben diesen Spitzenausgleich auch bisher immer sehr kritisch gesehen. Was unter Schwarz-Gelb vor zehn Jahren hier auf den Weg gebracht worden ist, war – das haben ja auch das Umweltbundesamt und die Stiftung Umwelthilfe gezeigt – keine moderne Industriepolitik, sondern in Wahrheit ein Steuergeschenk ohne wirkliche Gegenleistung. Um von den Steuervorteilen zu profitieren, musste bisher nur ein Energiemanagement – das muss man sich mal vorstellen – eingeführt werden. Ein exakter Nachweis, inwiefern diese Maßnahmen auch wirklich umgesetzt werden, war nicht erforderlich, lediglich eine Erklärung, die man dann abgibt. Wissen Sie, Frau Staatssekretärin, was mich besonders stört? Wenn es um Menschen geht, die ihren Job verloren haben, dann sind Sie als FDP die Ersten, die nach „Fördern und Fordern“ rufen und am liebsten jeden Cent bei denen noch umdrehen. Aber wenn es dann um eine vernünftige, abrechenbare Umweltauflage für milliardenschwere Steuerentlastungen geht, dann laufen hier einfach mal so 1,7 Milliarden Euro durch. Das ist schlechter Stil, und, meine Damen und Herren, liebe Koalitionäre, das hat mit Fortschrittskoalition zu diesem Zeitpunkt auch bei allen Zwängen nichts zu tun. ({0}) Entscheidend ist für uns, dass sich diese Konstruktionsfehler nicht wiederholen. Es darf nur einen Spitzenausgleich geben, wenn Firmen im harten internationalen Wettbewerb ambitionierte, abrechenbare Umweltauflagen erfüllen und gleichzeitig Arbeitsplätze in diesem Land sichern. ({1}) Insofern ist das die Richtung, in der wir eine parlamentarische Beratung erwarten. Vielen Dank. ({2})

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich einen herzlichen Gruß an die vielleicht zuschauende Anja Karliczek schicken, die ich heute bei der Rede vertreten darf. Wir sind in einer ganz außergewöhnlichen Situation in Europa. Wir haben Krieg – eine bisher ungekannte Situation auch für unser eigenes Land. Wir müssen alles tun, um in dieser Situation für möglichst geringe Belastungen für Bürger und Industrie zu sorgen. Dazu haben sich auch die Bundesregierung und die Koalition positioniert, indem sie gesagt haben: Wir wollen keine weiteren unnötigen Belastungen auf den Weg bringen. Wenn wir heute über eine Stellungnahme des Bundestages zu den erwähnten Richtlinien sprechen, dann geht es uns als Union darum, genau das zu erreichen und Sie in der Koalition darum zu bitten, möglichst wenig Belastungen für Unternehmen zu schaffen. Bei den Richtlinien für Industrieemissionen geht es dem Grunde nach darum, künftig zu regeln, wie die Emissionen noch strenger gefasst werden, wie weitere Regularien für Industrieanlagen hauptsächlich im Bereich der Stromerzeugung, der Wärmeerzeugung, vor allem auch aus Abfallverbrennungsanlagen, auf den Weg gebracht werden. Da will ich Ihnen ausdrücklich sagen: Es ist momentan schlicht der falsche Zeitpunkt, weitere Belastungen zu verursachen, weil wir in einer nie dagewesenen Notlage sind. Und wenn wir über eine solche Notlage reden, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir die Belastungen so gering wie möglich halten können. Wir müssen auch darüber sprechen, wie wir in einer Lage, in der wir Krieg in Europa haben, in der wir uns in Deutschland ungekannten Angriffen und Anwürfen ausgesetzt sehen, die Situation unserer Unternehmen nicht verschlechtern, auch im Bereich der Cybersicherheit. Transparenz ist gut und wird von uns als Union unterstützt. Aber wenn die neuen Richtlinien vorsehen, dass die Unternehmen künftig ganz transparent auch unternehmensrelevante Daten online einstellen sollen, damit Interessierte diese einsehen können, dann ist das dem Grunde nach zwar ein richtiger Weg; aber die konkrete Ausgestaltung ist schwierig, weil man natürlich der Industriespionage Tür und Tor öffnet. Hier ist es aus unserer Sicht notwendig, ein Authentifizierungsverfahren auf den Weg zu bringen, damit ermöglicht wird, dass zwar jeder einsehen kann, aber doch auch sichergestellt ist, wer genau sich diese Unterlagen der Unternehmen anschauen kann. Da sind wir als Union diejenigen, die die Forderung an die Bundesregierung stellen, dass Sie bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene dazu beitragen, dass wir die Belastungen so gering wie möglich halten. Die Bitte an die Koalition ist also: Halten Sie sich an Ihre eigenen Aussagen, ein Belastungsmoratorium zu ermöglichen! Unterstützen Sie uns auf diesem Weg! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hirte. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dunja Kreiser, SPD-Fraktion. ({0})

Dunja Kreiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005115, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Europäische Kommission hat im April ihren Vorschlag zur Überarbeitung der EU-Industrierichtlinie veröffentlicht. Eine Überarbeitung steht ohne Frage an; da sind wir uns sicherlich zum größten Teil einig. Die aktuelle Richtlinie wurde im Jahr 2013 in deutsches Recht umgesetzt. Jetzt ist eine Überholung und Anpassung notwendig und geboten, um dem europäischen Green Deal und dem Zero-Pollution-Plan zu genügen und damit Verschmutzung von Boden, Wasser und Umwelt einzudämmen und die Methan- und Ammoniakemissionen zu mindern – ein sehr wichtiges Vorhaben. Die Novellierung wird jedoch Jahre dauern. Wenn ich mir Ihren Antrag so durchlese, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, dann erkenne ich nicht wirklich, dass Ihnen dieses Vorhaben ähnlich wichtig ist. Ihr Antrag zeigt vor allem eins: Sie sagen mal wieder, was alles nicht geht bei den Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes. Aber wir wollen und dürfen uns bei diesen Fragen keinen schlanken Fuß machen; das ist dieser Ampelregierung und der SPD-Bundestagsfraktion völlig klar. Es geht um eine ökologische, eine ökonomische und eine soziale Transformation, die wir bewältigen müssen und wollen. Ihre Verhinderungen haben wir lange genug ertragen müssen. Es ist Zeit, zu handeln! ({0}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Unternehmen in der aktuellen Energiekrise nicht mit neuen Regelungen unverhältnismäßig belasten zu wollen. Also, zum einen: Die Novellierung wird Jahre in Anspruch nehmen. Ich kann Ihnen versichern: Diese Regierung wird alles tun, in dieser Zeit die erneuerbaren Energien massiv auszubauen und die ökologische, ökonomische und soziale Transformation nach vorne zu bringen, dass wir auf jeden Fall vom jetzigen Stand nicht mehr ausgehen müssen und durchaus andere Ausgangslagen in diesem Fall zu erwarten haben. Um zum zweiten Teil zu kommen: Natürlich haben wir unsere Unternehmen im Blick. Ich war erst vor Kurzem beim CDU-Wirtschaftsrat zum Referieren in Braunschweig und Salzgitter eingeladen, kurz vor der Landtagswahl. Im Moment geht es darum, die Unternehmen zu stabilisieren und die Arbeitsplätze zu erhalten, unter anderem mit einer Neukalibrierung der Unternehmenshilfe, die auch unseren nicht als energie- oder handelsintensiv eingestuften kleinen und mittelständischen Unternehmen, die von vielen Einbußen betroffen sind, den Zugang zu pragmatischen Liquiditätshilfen und Energiekostenzuschüssen ermöglicht. So was machen wir jetzt! ({1}) Das spielen wir nicht gegen die langfristigen und drängenden Pläne zu Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutz aus; es geht beides. Es geht klug, vielleicht nicht so einfach wie einfaches Verhindern, aber es geht besser, fortschrittlicher. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert in ihrem Antrag die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und die Verbesserung der Wettbewerbsgleichheit. Da wundert es mich schon, dass Sie im gleichen Antrag genau die Regelungen ablehnen, die dazu führen. Oder wie habe ich es zu verstehen, dass Sie sich gegen eine verpflichtende Einführung von Umweltmanagementsystemen aussprechen, die mittlerweile in Deutschland schon Standard sind? Nun komme ich zu einem weiteren Punkt Ihres Antrages. Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, möchten verhindern, dass die EU-Richtlinie auch die Rinderhaltung mit aufnimmt. Sie schreiben, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie auf die landwirtschaftliche Tierhaltung nicht ausgeweitet werden soll. Nun, nachdem Sie 16 Jahre das Landwirtschaftsministerium innehatten, verrate ich Ihnen heute, dass Methan mit einem Kohlenstoffdioxid- bzw. CO2-Äquivalent von 28 eben 28‑mal schädlicher ist als CO2. Rinderzucht und Rinderhaltung sind auch verantwortlich für die Klimaveränderungen und ein großer Emittent. Meine Damen und Herren, während die Emissionen bei Industrieprozessen 2021 gegenüber 1990 um knapp 41 Prozent sanken und bei den energiebedingten Emissionen um 39 Prozent, waren es in der Landwirtschaft nur 22 Prozent Reduktion. Das heißt aber nicht, dass wir in der EU und in Deutschland die Rinderhaltung beenden oder unsere Rinderzüchter über Gebühr belasten wollen. Im Gegenteil: Richtig ist, dass der Entwurf der Kommission wesentlich zu einem substanziellen Bürokratieabbau beiträgt. Wird der Bereich nicht ausgeweitet, würden die bestehenden erheblichen Wettbewerbsverzerrungen im Sektor der Tierhaltung zulasten von Deutschland erhalten bleiben. Gleichzeitig gewinnt der Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutz. In der Folgenabschätzung hebt die Kommission die erzielbaren Emissionsminderungen im Bereich der Tierhaltung hervor. Pro Jahr können 320 Kilotonnen Methan und 90 Kilotonnen Ammoniak eingespart werden. Das wischen Sie mit einem Satz in Ihrem Antrag einfach weg. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eins erwähnen. Ich komme aus dem ländlichen Raum. Mein Wahlkreis Wolfenbüttel – Salzgitter – Vorharz ist ländlich geprägt. Er ist bezaubernd. Sie können mich gerne besuchen. Ich bin viel unterwegs und spreche mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Organisationen, Verbänden und Vereinen, mit Unternehmen und natürlich auch – ganz klar – mit den Landwirten. Meine Damen und Herren, in diesen Gesprächen hat sich stets eins gezeigt: Ihre Arbeit der letzten 16 Jahre in Sachen Landwirtschaft wird alles andere als gut aufgenommen. Ich höre viel Kritik. Nach 16 Jahren in der Verantwortung kommen Sie jetzt hier als Retter der Landwirte um die Ecke. Na ja, da kann ich nur sagen: Das fällt Ihnen ja sehr früh ein. ({3}) Einen weiteren Punkt möchte ich erwähnen. Die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in Europa und in Deutschland scheint Ihnen ja ziemlich – lassen Sie es mich so salopp sagen – schnuppe zu sein. Dazu finde ich gar nichts in Ihrem Antrag. Hier sitzen junge Leute auf der Tribüne; die über ihre Zukunft nachdenken. Ich erwähnte am Anfang dieser Rede bereits, dass es bei der Novellierung der EU-Richtlinie über Industrieemissionen selbstverständlich auch um Gesundheitsvorteile geht. Die Ausweitung des Geltungsbereichs der Richtlinie auf eine größere Zahl von Nutztierhaltungsbetrieben wird zu einer Verringerung von Methan- und Ammoniakemissionen führen, deren Gesundheitsnutzen sich auf etwa 5,5 bis 9,4 Milliarden Euro pro Jahr belaufen würde. Das ist viel Geld; aber es geht um die Gesundheit, die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger und die Zukunft der jungen Besucher. Selbstverständlich werden wir in der Ampelkoalition die Überarbeitung der Richtlinie kritisch begleiten, uns einbringen, und selbstverständlich behalten wir auch unsere Unternehmen, unsere landwirtschaftlichen Betriebe im Auge. Um noch eins zu meinem Wahlkreis zu sagen: Dieser Wahlkreis ist sehr innovativ. Wir haben Unternehmen, die schon auf dem Weg sind. Wir haben das Leuchtturmprogramm SALCOS, das Verfahren zur CO2-neutralen Stahlproduktion, die Herstellung von Grünem Wasserstoff oder die Batteriezellenproduktion in Salzgitter, wir haben das Know-how-Zentrum und natürlich unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen, die ideenreich vorangehen. Meine Damen und Herren, wir packen sie an, die ökologische, ökonomische und soziale Transformation. ({4}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Bleck für die AfD-Fraktion. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Winter 2022/2023 wird wohl das größte Regierungsversagen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland offenlegen. Unser Land befindet sich in einer existenziellen Versorgungskrise bei Lebensmitteln, Strom und Gas. Unsere Bürger können die explodierenden Lebensmittel-, Strom- und Gaspreise nicht mehr bezahlen, und unsere Regierung bekämpft nicht die Ursachen, ({0}) sondern die Symptome der von ihr selbst geschaffenen Probleme. Das ist das Problem. ({1}) Deshalb ist die Stellungnahme nach Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz, die der Deutsche Bundestag beschließen soll, richtig und wichtig. Im Antrag von CDU und CSU bezüglich der Verhandlungen zwischen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung über die Industrieemissionsrichtlinie und die Deponierichtlinie geht es eigentlich um Selbstverständlichkeiten. Doch bei dieser bürger- und wirtschaftsfeindlichen Bundesregierung ist eben nichts selbstverständlich. Die Interessen des eigenen Landes und der eigenen Bürger zu vertreten? Sicherlich nicht. Fragen Sie die Außenministerin! Die Wirtschaft und damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor Insolvenzen zu schützen? Sicherlich nicht. Fragen Sie den Wirtschaftsminister! Statt die Ernährungssicherheit mit einer Auflagenlockerung zu gewährleisten, belastet die Bundesregierung unsere Bauern mit strengeren Auflagen. Und statt die Versorgungssicherheit mit einem Weiterbetrieb bzw. einer Wiederinbetriebnahme von Kernkraftwerken zu gewährleisten, belastet sie unsere Verbraucher mit hohen Steuern, Abgaben und Entgelten. Diese Bundesregierung hätte eigentlich längst das Handtuch werfen müssen, ({2}) doch ihre Minister taumeln wie angeschlagene Boxer durch den Ring und schlagen in der Hoffnung auf einen Lucky Punch namens Doppel-Wumms wild um sich. Dabei sind insbesondere angeschlagene Boxer gefährlich für sich selbst und andere. Die richtigen und wichtigen Forderungen von CDU und CSU werfen aber auch Fragen nach Ihrer Glaubwürdigkeit auf; denn Sie gehen damit in Opposition zu Ihrer eigenen Regierungspolitik. Sie geben vor, sich um Landwirtschaft und Abfallwirtschaft sowie um Souveränität und Subsidiarität zu sorgen. Doch Sie sind dafür verantwortlich, dass sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe drastisch reduziert und der Strompreis drastisch erhöht hat. Sie sind dafür verantwortlich, dass Deutschland sich mit dem gleichzeitigen Ausstieg aus Kohleverstromung und Kernenergie in die Abhängigkeit von Russland begeben hat. Und Sie sind auch dafür verantwortlich, dass immer mehr Kompetenzen von Berlin nach Brüssel verlagert wurden. Die AfD war die einzige Partei, die sich gegen diese Politik gerichtet hat. ({3}) Werte Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, in Ihrer Oppositionspolitik vollführen Sie einen Spagat zwischen schwarzer Rückbesinnung und rot-grüner Anbiederung. Dieser Spagat kann Ihnen nicht gelingen. Stattdessen werden Sie sich einen schmerzlichen Leistenbruch zuziehen wie bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Wenn Sie es ernst meinen, müssen Sie ein für alle Mal einer schwarz-grünen Koalition eine Absage erteilen. Ansonsten sind und bleiben Sie leider unglaubwürdig. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Tessa Ganserer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tessa Ganserer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005060, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe meine Kindheit in den 80er-Jahren im Herzen des Bayerischen Waldes verbracht, wo ich aufgewachsen bin. Zu der Zeit war das Thema Waldsterben in aller Munde. Der saure Regen war das vorherrschende gesellschaftliche Thema, das sogar meine Kindheitserfahrungen geprägt hat. Die Politik hat damals darauf reagiert, indem sie die Großfeuerungsanlagenverordnung in Kraft gesetzt hat. Große bestehende Kohlekraftwerke mussten mit Rauchgasentschwefelungsanlagen nachgerüstet werden. Infolgedessen haben sich die Schwefelemissionen in kurzer Zeit drastisch reduziert, und die Tanne, die Charakterbaumart des Bergmischwalds, nicht nur im Bayerischen Wald, sondern auch im Schwarzwald und in anderen Regionen Deutschlands, hat sich in wenigen Jahren deutlich erholt, nachdem die Emissionen zurückgingen. Auch in anderen Bereichen, bei anderen Schadstoffen haben wir in den letzten Jahrzehnten bei der Reduktion der Emissionen deutliche Fortschritte erzielt. Immer hat die Politik Rahmenbedingungen vorgegeben; aber die Emissionseinsparungen haben wir vor allem dem technischen Fortschritt zu verdanken. Die Industrieemissionsrichtlinie ist das zentrale europäische Regelwerk zur Reduktion von Emissionen aus industrieller Tätigkeit. Das Herzstück sind die BVT-Merkblätter, in denen der Stand der Technik festgeschrieben wird und eben auch die Grenzwerte festgeschrieben werden. Auch wir wollen den Prozess der Erstellung der Merkblätter vereinfachen, verbessern und vor allem die Umsetzung auf europäischer Ebene vereinheitlichen. Das wird aber nicht – mit uns nicht – mit einer Absenkung der Schutzstandards einhergehen. ({0}) Die Europäische Kommission hat Anfang April einen Vorschlag vorgelegt, um die Industrieemissionsrichtlinie fortzuschreiben und darin auch den gesundheitlichen Vorteil beziffert – die Kollegin Kreiser hat es bereits erwähnt –: eine Rendite von mehreren Milliarden Euro in Form von weniger Erkrankungen und mehr gesunden Lebensjahren. Diese Rendite wollen wir für die Menschen in unserem Land und in Europa einlösen. ({1}) Die Bundesregierung hat uns im Mai dieses Jahres im Umweltausschuss über die Pläne der Kommission unterrichtet. Die Verhandlungen sind noch in einem frühen Stadium. Wie es bei EU-Dossiers üblich ist, werden diese in der Bundesregierung umfassend beraten. Auch wenn eine abschließende Einschätzung der Bundesregierung noch nicht vorliegt, kann ich für meine Fraktion sagen, dass wir hinter den Plänen der Kommission stehen und die Vorschläge grundsätzlich begrüßen und der Kommission bei der Umsetzung auch zuarbeiten werden. Dem Antrag der Union kann ich mit gutem Willen positiv abgewinnen, dass Sie dieser Fortschreibung nicht grundsätzlich entgegenstehen. Aber in den Ausführungen des Kollegen von der Union wurde deutlich, worum es Ihnen eigentlich geht: Sie wollen eigentlich diese Fortschreibung aussetzen, und Sie wollen Umweltstandards absenken. ({2}) Das wird es mit uns nicht geben. Die Umweltstandards wollen Sie nicht verschärfen, sondern Sie wollen sie, wenn ich das richtig lese, sogar aushebeln. ({3}) Wir haben ja die Gelegenheit, im Ausschuss weitergehend darüber zu beraten. Auf diese Debatte freue ich mich sehr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Ralph Lenkert das Wort. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie von der Union wollen eine Aufweichung der EU-Vorschriften zu Umweltauflagen der Wirtschaft erreichen. ({0}) Ich verstehe einfach nicht, dass in einem Antrag zu Schadstoffbelastungen aus der Industrie nicht ein Wort zum Gesundheitsschutz steht. Ich kann nicht nachvollziehen, dass in Zeiten des Klimawandels und der Rohstoffknappheit die Union ernsthaft Grenzen für Abfallmengen, für Ressourcenverbrauch und Einschränkungen für Einwegprodukte aufweichen will. ({1}) Ich verstehe es nicht, dass die Union unseren dürregeplagten Wäldern mit zusätzlichen Industrieabgasen den Rest geben möchte. Haben Sie eigentlich bemerkt, dass an der Oder Hunderttausende Fischen starben? Wie kann man da ernsthaft die Aufweichung von Genehmigungsverfahren für die Einleitung von Industrieabwässern fordern? Das ist grob fahrlässig. ({2}) Bundesweit leiden Hunderttausende unter zu viel Lärm, und auch mehr Lärmschutz will die Union verhindern. Dass Sie von der Union mehr an die Wirtschaft als an die Menschen denken, sind wir leider gewohnt. Für Die Linke muss die Wirtschaft dem Wohl der Gesellschaft dienen, statt dass die Menschen der Wirtschaft unterworfen werden. ({3}) Niemandem ist geholfen, wenn Sie schwer erkämpfte Umweltstandards zurückdrehen. ({4}) Ich habe drei Varianten als Vorschlag: Erstens. Sie von der Union ziehen Ihren Antrag zurück. ({5}) Oder – zweitens – Sie lassen den Antrag von der Koalition beerdigen. Oder – drittens – Sie arbeiten mit uns zusammen für Grenzwerte bei Abgasen, Abwässern, Lärm und Schadstoffen, welche Umwelt und Gesundheit schützen und trotzdem Produktion ermöglichen. ({6}) Dann setzen wir uns gemeinsam dafür ein, gutes Fachpersonal in Behörden und Firmen zu haben, das gut bezahlt wird, ({7}) und für die Einführung umweltfreundlicherer Produktionsprozesse und gesünderer Produkte. Dann, liebe Union, hätte Ihr Antrag einen echten Mehrwert. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ein Viertel des BIPs stammt aus der Industrie; das ist Grund genug, sich hier und heute über die geplante Novellierung der Industrieemissionsrichtlinie der EU Gedanken zu machen. Ich habe Ihnen von meiner Seite bzw. von der Seite der FDP-Fraktion drei Gedanken mitgebracht: Ziel der Novellierung der Richtlinie ist es, die Umweltstandards in Europa zu vereinheitlichen. Kein Land in Europa soll durch Umweltdumping einen Standortvorteil haben dürfen. ({0}) Gleichzeitig wird klargestellt, dass Standards nichts Statisches sind, sondern immer weiterentwickelt werden müssen. Das ist in der bisherigen Richtlinie schon implementiert: Wir werden bei Umweltstandards immer besser. Beides wird sowohl von der Politik als auch von der Industrie befürwortet. ({1}) Was aber nicht passieren darf, ist, dass uns aus den hohen europäischen Umweltstandards ein Nachteil im internationalen Wettbewerb entsteht. ({2}) Wir wollen mit der Novellierung der Richtlinie die Produktion in Europa verbessern und nicht die Produktion aus Europa verlagern. Gleichzeitig wollen wir nicht, dass Produkte aus dem Ausland, die unter schlechteren Umweltstandards produziert werden, nach Europa importiert werden. Auf diesen Punkt werden wir bei der Novellierung der Richtlinie achten. Deswegen sehen wir bei den Vorgaben zum Ressourcenverbrauch ein kleines Fragezeichen; hier werden wir die Novellierung der Richtlinie sehr eng begleiten. ({3}) Der zweite Gedanke. Die Industrieemissionsrichtlinie richtet sich im Moment an die produzierende Industrie, ist auf diese anwendbar, und da funktioniert sie auch sehr gut. Aktuell überlegt die EU aber, die Richtlinie auf weitere Branchen auszuweiten. Sie hat dabei die Gewinnung von heimischen Rohstoffen in den Fokus genommen. Von Steinen und Erden über Lithium bis hin zum Bergbau soll die Richtlinie ausgeweitet werden. Da sehen wir ein kleines Fragezeichen, ob die Richtlinie zu diesen Branchen wirklich passt. Ganz absurd wird es, wenn die Industrieemissionsrichtlinie auf die Tierhaltung ausgeweitet werden soll. Bei Tieren wollen wir doch das Tierwohl in den Mittelpunkt unseres politischen Handelns stellen. Da passt es einfach nicht, wenn wir Industrieregularien draufsetzen. ({4}) Gerade weil die EU manchmal auf seltsame Ideen kommt, dürfen wir nicht zulassen, dass sie sich Kompetenzen einfach selbst übertragen kann. Auch bei der IED muss die Kompetenz bei den Nationalstaaten bleiben. Es darf nicht sein, dass die Richtlinie ohne unsere Zustimmung ausgeweitet wird; das wird auch künftig nicht möglich sein. ({5}) Der dritte Gedanke. Richtig gut an der Novellierung der Richtlinie ist, dass zum ersten Mal der einheitliche Vollzug ins Visier genommen wird. Es hilft überhaupt nichts, wenn wir Spielregeln haben, sich aber nicht alle Spieler daran halten. Das macht auf der einen Seite die Spielregeln wirkungslos und verdirbt auf der anderen Seite die Freude am Spiel. Deswegen befürworten und unterstützen wir alles, was in der neuen Industrieemissionsrichtlinie einen einheitlichen europäischen Vollzug möglich macht und verbessert. ({6}) Der vorliegende Richtlinienentwurf hat viel Richtiges, aber auch viel Problematisches in sich. Leider habe ich in meinen vier Minuten keine Zeit, alle 80 Seiten im Detail zu kommentieren. Diese Bundesregierung und wir als FDP-Fraktion werden uns aber bei der Fortentwicklung der Industrieemissionsrichtlinie auf alle Details konzentrieren – damit aus einem „gut gemeint“ am Ende auch ein „gut gemacht“ wird. ({7}) In den letzten paar Sekunden meiner Rede möchte ich noch ein ceterum censeo bringen; es soll ja ein Stück weit helfen. Die Richtlinie behandelt auch das Thema Abfall. Ganz im Ernst: Wir reden immer über Umweltschutz, aber die EU kriegt es nicht auf die Latte, endlich ein Ende der Deponierung von Hausmüll in Europa zu ermöglichen. Das ist ein Thema, das wir immer wieder ansprechen müssen, und wir werden nicht müde als Ampel, das in den Mittelpunkt des europäischen Handelns zu stellen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Engelhard für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines möchte ich vorweg deutlich machen: Es ist keinesfalls so, dass wir die Richtlinie aufweichen wollen. Wir wollen sie schlichtweg nicht verschärfen. ({0}) Wenn man die von der EU-Kommission vorgelegte Novelle zur Industrieemissionsrichtlinie betrachtet, fragt man sich mit Blick auf die Landwirtschaft schon, ob die Menschen, die an dieser Richtlinie mitwirken, sich tierhaltende Betriebe mit zum Beispiel 180 Rindern schon einmal persönlich angeschaut haben – dann könnten sie die Anzahl der Tiere, ab der ein landwirtschaftlicher Betrieb als Industriebetrieb bezeichnet werden könnte, in eine vernünftige Relation setzen. In einem solchen, idyllischen Familienbetrieb bin ich aufgewachsen. Ich weiß daher aus der Praxis, wie groß die Herausforderungen und Belastungen in der Landwirtschaft aktuell schon sind. Zusätzlicher bürokratischer Aufwand oder eine Verkomplizierung zusätzlicher Genehmigungsverfahren sind sicherlich nicht hilfreich. ({1}) In diesem Kontext möchte ich die Bundesregierung auch an das kürzlich beschlossene Belastungsmoratorium erinnern. Wenn Sie die letzten kleinstrukturierten bäuerlichen Betriebe nicht zum Aufhören nötigen wollen, dann setzen Sie sich in Brüssel dafür ein, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht, wie geplant, ausgeweitet wird und dass die Einstufungsgrenze von 150 Großvieheinheiten deutlich nach oben gesetzt wird. ({2}) Neben den vielen Herausforderungen sollen die Betriebe außerdem mehr Tierwohl mit offenen Ställen und Weidegang umsetzen. Dies macht die Einhaltung der in der IED-Novelle geforderten Grenzwerte noch komplexer als sowieso schon. Sie sollten bei den Verhandlungen auf EU-Ebene intensiv darüber sprechen, wie dieser Zielkonflikt aufgelöst werden kann. Nutzen Sie die Zeit! Machen Sie sich mit der Realität und den absehbaren Konsequenzen vertraut! Und vertreten Sie endlich die Interessen unserer Landwirtschaft in Brüssel! Andernfalls kommt die Überarbeitung der IED-Richtlinie einem Verbot der Tierhaltung in Deutschland durch die Hintertür gleich. ({3}) Da sind wir beim nächsten Problem: der grünen Ideologie von Umwelt- und Landwirtschaftsministerium. ({4}) Sie provozieren Verlagerung der Produktion ins EU-Ausland – mit meist niedrigeren Standards im Bereich Arbeitsschutz, Tierwohl, Umwelt ({5}) und mehr Emissionen. Natürlich dürfen wir nicht die eine Krise gegen die andere ausspielen. ({6}) Aber betrachten Sie den Klimaschutz endlich global! ({7}) Verlagerungen hin zu schlechteren Produktionsstandards, längere Transportwege, weniger Regionalität verschärfen die Problematik und lösen nichts. Besten Dank. ({8})

Dunja Kreiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005115, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier im Bundestag wurde schon mehrmals über das Planungssicherstellungsgesetz beraten. Es gab eine öffentliche Anhörung. Die Geltungsdauer des Gesetzes wurde verlängert. Auch heute steht eine solche Verlängerung an. Die Gültigkeit endet in diesem Jahr am 31. Dezember. Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2023 ist selbstverständlich geboten, um Rechtssicherheit und Planbarkeit für unsere Verwaltungen zu schaffen. Seit Beginn der Covid‑19-Pandemie 2020 ist dieses Gesetz ein wichtiges Instrument, um Planungs- und Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung rechtssicher und ohne zeitlichen Aufschub digital durchzuführen. Lassen Sie mich eines betonen, meine Damen und Herren: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist die Beteiligung der Öffentlichkeit ausgesprochen wichtig und gelebte Demokratie. Darum ist dieses Gesetz unumgänglich gewesen. Es ist das Recht einer und eines jeden Einzelnen, zu erfahren, was vor der eigenen Haustür geplant ist, und es ist das Recht eines und einer jeden Einzelnen, sich daran zu beteiligen. In den Zeiten, als die Ämter und Behörden für Publikumsverkehr geschlossen waren – vielleicht kommt das auch in diesem Winter wieder auf uns zu –, konnten die Verfahren weiterlaufen, konnte die Öffentlichkeit hergestellt werden. Diese Öffentlichkeitsbeteiligung wollen wir natürlich weiter sichern. Wir wollen die zusätzliche digitale Möglichkeit der Auslegung, diese Verbesserung, selbstverständlich beibehalten, wir wollen sie verstetigen und sie nach Möglichkeit – 24 Fachgesetze sind bisher in diesem Gesetz erfasst – ausweiten; denn die Onlinebeteiligung ist ein absolut zeitgemäßer und zukunftsorientierter Digitalisierungseffekt. Onlinedialoge, Telefon- und Videokonferenzen sind eine Alternative für unumgängliche Erörterungstermine oder mündliche Verhandlungen. Mehr noch, das Gesetz wurde sehr positiv aufgenommen. Es hat sich als Kriseninstrument bewährt und ist nicht nur als Pilot der digitalen Planakte zu sehen. Die Evaluierung des Gesetzes, die heute Nachmittag vorgestellt wurde, sehen wir als Fundament für die jeweiligen Fachbereiche, um eine dauerhafte Anschlussregelung zu finden. Das ist für mich das Hauptziel: dass hiermit der richtige Weg für einen modernen Staat erklärt wird. Meine Damen und Herren, wir nutzen das Gesetz als dringend notwendigen Digitalisierungsschub und werden unsere Verwaltung damit deutlich bürgerfreundlicher machen. Für die einen ist es schwer, zu den Dienstzeiten aufs Amt zu kommen, um Einsicht in Unterlagen zu nehmen. Für andere bedeutet der Gang zum Amt eine Hürde, weil sie körperliche Einschränkungen haben, sei es Skiunfall, Rollstuhl oder Rollator. Die Digitalisierung ist da einfach ein riesiger Gewinn. Der nächste Schritt muss sein, die Prozesse für alle einfacher zu gestalten. Wir wollen staatliches Handeln schneller, effektiver und besser machen. Außerdem werden wir dauerhaft anwendbare Prozessabläufe entwickeln. Wir werden die öffentliche Infrastruktur, Netze modernisieren, Planung, Genehmigung und Umsetzung deutlich beschleunigen. Das bringt positive Effekte, auch im Hinblick auf die weitere Modernisierung der Verwaltung. Wir als Fortschrittskoalition haben einen modernen Staat fest im Blick. In unserem Koalitionsvertrag haben wir ambitionierte, wichtige, nein, entscheidende Punkte aufgelistet. Digitale Akteneinsicht, digitale Dokumentation, digitale Beteiligung sollten für alle Verfahrensbeteiligten zum Standard werden. Wir wollen Kommunen bei der Beschaffung der leistungsfähigen IT-Infrastruktur unterstützen und Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich finde es wichtig, dass als erster Schritt nun diese Verlängerung auf den Weg gebracht wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat nun Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe zum späten Abend eine gute Nachricht für die Ampelfraktionen: Sie haben mit Ihrem Entwurf zum Planungssicherstellungsgesetz einen Entwurf vorgelegt, dem meine Bundestagsfraktion zustimmen kann. Warum können wir das? Ganz einfach: weil Sie im Wesentlichen von uns abgeschrieben haben, ({0}) oder, um es noch präziser zu sagen, weil Sie an dem Planungssicherstellungsgesetz, das wir in der vergangenen Wahlperiode auf den Weg gebrachten haben, nur wenige Änderungen vornehmen – im Prinzip nur eine Verlängerung der Frist –, es hauptsächlich verlängern. Dagegen kann man in der Sache nichts haben. Das Planungsicherstellungsgesetz hat uns – das haben Sie zutreffend beschrieben – geholfen, die Handlungsfähigkeit des Staates im Planungsrecht auch in Pandemiezeiten zu sichern. Wir haben immer gesagt: Wir wollen aus der Not von Corona die Tugend der Digitalisierung machen, wir wollen Impulse für die Modernisierung der Verwaltung aufgreifen. Diese damals richtigen Schlagworte gelten auch heute noch. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Planungsicherstellungsgesetz war gedacht – das war für uns immer klar – als eine Art Pandemiefolgengesetz. So ein echter Durchbruch zur Verwaltungsmodernisierung war das damals konzeptionell noch nicht. – Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu schütteln. – Ich zitiere einen Kollegen aus Ihrer Bundestagsfraktion, Mahmut Özdemir, mit dem ich das Gesetz in der vergangenen Wahlperiode ausgehandelt habe. Er hat damals in der Debatte gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Ich schlage vor, wir stimmen heute einem Pandemiefolgengesetz zu, um morgen gemeinsam eine Verwaltungsmodernisierung in allen diesen Anwendungsbereichen …vorzunehmen. Das war damals richtig. Das Problem ist nur: Heute ist nicht das in dem Zitat beschriebene Morgen, sondern schon das Übermorgen. Ich finde, das hätte alles schneller gehen können. Die Evaluierung hätte schneller gehen können. Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein gutes Gesetz, und es ist richtig, dass wir die Evaluierung jetzt auswerten. Aber wenn Sie Fortschrittskoalition sein wollen, dann machen Sie bei diesem Thema mehr Tempo, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Es passt ins Bild: Verwaltungsdigitalisierung funktioniert bei Ihnen im Moment immer nur mit Schlagworten. Ich will das mit einem Beispiel unterlegen. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, dass Sie die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren halbieren wollen. Das ist ein tolles Ziel. Als ich Sie dann im Parlament gestellt habe, wie groß denn die Zielzahl ist, die Sie halbieren wollen, war die Antwort: Das wissen wir nicht, wir sind keine Statistikbehörde. – Da muss ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Versprechen, die man nicht nachprüfen kann, sind nichts wert. Insoweit: Wir brauchen keine großen Worte, sondern Taten. Dann bekommen Sie unsere Zustimmung im weiteren Gesetzgebungsverfahren. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede der Kollegin Misbah Khan nehmen wir zu Protokoll. Das Wort hat der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier für die AfD-Fraktion. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Mai 2020 wurde das Gesetz zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Planungs- und Genehmigungsverfahren während der Covid‑19-Pandemie von der damals regierenden Großen Koalition verabschiedet. Wie der Name schon sagt, geht dieses Gesetz von einer Coronanotsituation aus. Diese angebliche Coronanotsituation, die von unzähligen Politikern und Medien schon damals letztendlich herbeigeredet und auch von Fachleuten bestritten wurde, existiert heute definitiv nicht mehr. ({0}) Meine Damen und Herren, die ganze Welt hat das mittlerweile kapiert. Aber wann werden Sie eigentlich vernünftig hier im Hohen Haus? Die Zeit der Notstandsgesetze ist vorbei. Kommen Sie wieder in der Realität an! ({1}) Wir als AfD-Bundestagsfraktion begrüßen es ausdrücklich, wenn sich die Bundesregierung endlich der Digitalisierung der Verwaltung widmet. Wir begrüßen es, wenn der oft viel zu bürokratische und langsame Behördenapparat in Zukunft schneller, digitaler und vor allem serviceorientierter wird. Aber wenn Sie hier Verbesserungen wollen, dann kümmern Sie sich doch bitte um grundlegende Änderungen. Setzen Sie an zur großen Reform der Verwaltung, zur großen Digitalisierung, und hören Sie bitte auf, aus der Not geborene und schnell zusammengeschusterte Gesetze bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu verlängern! Interessant ist auch, dass die Evaluierung des Gesetzes – das geben Sie im Gesetzentwurf ganz offen zu – erst im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein wird. Sie setzen sich also hin und verlängern schon wieder blind ein Gesetz, ohne den Nutzen und die Anwendbarkeit gründlich betrachtet zu haben. Das ist keine seriöse Politik, sondern ein Schuss ins Blaue, meine Damen und Herren. Da machen wir nicht mit. ({2}) Wir schlagen stattdessen vor: Kümmern Sie sich endlich um den Gesamtkomplex „Digitalisierung und Verwaltung“! Packen Sie die dort liegenden Probleme umfassend an, und modernisieren Sie strukturell! All das bringt unser Land nach vorne. Für sinnvolle Maßnahmen werden Sie in diesem Bereich immer unsere Zustimmung finden. Aber hören Sie endlich auf, Notstandsgesetze zu verstetigen und den Ausnahmezustand zur Regel zu erklären! Karl Lauterbach, unsere Paniktrompete, hat im März 2022 gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein. Diesen Wahnsinn, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Jasmina Hostert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005088, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja sehr erfreulich, liebe Union, dass Sie sich Gedanken um Alleinerziehende machen. Es ist nur komisch, dass Sie das erst tun, seitdem Sie in der Opposition sind. ({0}) Und wenn Ihnen die Alleinerziehenden so am Herzen liegen, frage ich mich: Warum haben Sie so viele Vorhaben in der Großen Koalition blockiert? Zum Beispiel die Einführung einer Kindergrundsicherung, von der Alleinerziehende und ihre Kinder wirklich profitieren, war mit Ihnen undenkbar. Auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, die vor allem bei Frauen und Alleinerziehenden zu einem besseren Verdienst führt, war mit Ihnen ein Ding der Unmöglichkeit. ({1}) Wie gut, dass wir in der Ampelkoalition die Erhöhung des Mindestlohns bereits eingetütet haben und die Einführung der Kindergrundsicherung in Arbeit ist. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass wir den steuerlichen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende auf 5 000 Euro anheben. Das ist schon etwas einfallslos; denn diesen haben wir bereits 2020 angehoben und sogar mehr als verdoppelt, und zwar auf 4 008 Euro. Gerne erinnere ich Sie daran: Auch diese Erhöhung hat die Union zuerst blockiert. Eingeführt hat diesen Entlastungsbetrag die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2004. 2015, also 11 Jahre später, wurde der Betrag erhöht, weil die SPD und unsere damalige Ministerin Manuela Schwesig dafür gekämpft haben, und zwar gegen Sie und gegen den damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. ({2}) Und jetzt fordern Sie eine Erhöhung? Das ist schon ziemlich unglaubwürdig. ({3}) Von einer weiteren Erhöhung des Entlastungsbetrags würden vor allem ganz wenige Alleinerziehende mit hohem Einkommen profitieren, aber nicht diejenigen, die armutsgefährdet sind, und das lehnen wir ab. Wir arbeiten stattdessen an einer Steuergutschrift, die Alleinerziehende mit kleinem Einkommen wirklich entlasten soll. Den Kinderbonus, den Sie in Ihrem Antrag fordern, haben wir bereits auf den Weg gebracht und 100 Euro pro Kind sehr direkt und unbürokratisch ausgezahlt. Und falls es Ihnen entgangen ist: Wir sind fast in jeder Sitzungswoche dabei, Entlastungen auf den Weg zu bringen, die unbürokratisch und schnell vor allem bei denjenigen ankommen, die Unterstützung brauchen: 300 Euro Energiepreispauschale, 18 Euro mehr Kindergeld pro Kind ab 2023, Steigerung des Kinderzuschlags, Wohngeldreform, Einführung des neuen Bürgergelds und nun die Strompreisebremse, mit der wir Haushalte angesichts der hohen Strompreise entlasten werden. Unsere Maßnahmen sprechen für sich, und mit den Entlastungen unterstützen wir auch Alleineerziehende. ({4}) Wir entlasten aber nicht nur kurzfristig. Uns ist es wichtig, dass wir die Strukturen brechen, die Alleinerziehende benachteiligen. Wir wollen endlich die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen schließen, damit Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. ({5}) Wir werden auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker vorantreiben. Eine gute Kinderbetreuung und der Ausbau von Ganztagsschulen sind dafür essenziell. Gerade für Alleinerziehende sind das notwendige Voraussetzungen, um einer Arbeit nachgehen zu können. Auch das packen wir an. ({6}) Eine weitere besondere Entlastung für Alleinerziehende wird die bereits erwähnte Kindergrundsicherung sein. Sehr geehrte Damen und Herren, wir lassen die Alleinerziehenden nicht alleine. Wir unterstützen sie in der aktuellen Krise, aber auch langfristig. Den Schaufensterantrag der Union mit ihren schmalen Forderungen lehnen wir ab. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Hermann-Josef Tebroke das Wort. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Staatssekretärin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausgangslage ist äußerst schwierig, wenn nicht sogar dramatisch. Die Belastung für Unternehmen und Privathaushalte ist riesig. Nach Corona, Angriffskrieg in Europa, Energieknappheit, Energiepreissteigerungen, allgemeinen Preissteigerungen stellen wir fest, dass die konjunkturellen Aussichten sich mindestens stark eingetrübt haben und die Wohlstandsverluste erheblich sind. Nimmt man allein die Preissteigerungen beim Gas, dann ergibt sich bei einer Preissteigerung von 10 bis 20 Cent pro Kilowattstunde ein Wohlstandsverlust ceteris paribus von 100 bis 200 Milliarden Euro pro Jahr. Einen solchen Wohlstandsverlust kann der Staat nicht mal eben ausgleichen, aber er kann immerhin dazu beitragen, dass wir alle schnell wieder aus diesen Krisen herauskommen, wenn er gezielt und entschlossen handelt. Er kann umverteilen und schwerste Betroffenheiten zumindest auszugleichen versuchen, etwa wenn er sich um die alleinerziehenden Frauen und Männer kümmert. Jedenfalls müssen wir feststellen: Es gibt eine große Betroffenheit und Verunsicherung. Menschen suchen in diesen Krisen Orientierung. Sie brauchen Hilfe, so gut es geht. Vor allem aber brauchen sie Klarheit darüber, was geht, was nicht geht, worauf sie sich einstellen müssen und bitte bis wann. ({0}) Regierung muss handeln. Regierung muss entscheiden, und zwar unverzüglich. ({1}) Was nicht geht, ist: „wir stellen uns vor“, „könnte sein“, „wir denken nach“, „wir wissen noch nicht“, „wir sind noch nicht so weit“, „wir streiten uns noch“ oder auch – Frau Hostert, vielleicht haben Sie mitbekommen, wie oft Sie das gesagt haben – „ist in Arbeit“, „wir arbeiten noch daran“, „wir bringen das demnächst auf den Weg“. Genau das führt mich zu unserem Antrag, ({2}) nach dem wir Alleinerziehende angesichts der aktuellen hohen Inflation nicht alleinlassen wollen. Der Antrag ist übrigens vom April 2022. Wir hatten eine öffentliche Anhörung und kommen jetzt zur abschließenden Beratung. Eigentlich spricht alles dafür, dass wir jetzt mit großer Mehrheit diesen Antrag unterstützen und damit den Beschlussvorschlag des Ausschusses ablehnen. ({3}) Erstens darf ich feststellen: Es gibt ja wohl Einvernehmen darüber, dass die Inflation noch mal höher ist als damals – wir sind noch von 6 oder 7 Prozent ausgegangen – und dass die Inflation gerade Familien betrifft, weil die Preissteigerung bei Produkten des täglichen Bedarfs noch viel höher ist; besonders betroffen sind Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende. Zweitens gibt es äußerst positive Rückmeldungen aus der Sachverständigenanhörung. Und drittens schreibt die Ampel im Koalitionsvertrag, sie sehe die Alleinerziehenden am stärksten von Armut bedroht und wolle helfen – irgendwann, vielleicht. Wir als Union drängen auf eine schnelle Umsetzung. Wir sind durch die Äußerungen der Familienministerin diesbezüglich auch zuversichtlich, weil sie einen unzureichenden Fortschritt der Fortschrittskoalition eingestanden und Besserung gelobt hat, als wir sie bei einem Besuch im Ausschuss nach ihrer Politik für Alleinerziehende gefragt haben. Sie hat eingestanden, dass im Koalitionsvertrag einiges vereinbart worden sei, was sich in den derzeitigen Gesetzen aber leider noch nicht eins zu eins wiederfindet und das deswegen noch auf der Agenda sei – „kommt noch“, „später“, „irgendwann“. Wenn es zu spät ist? Meine Damen und Herren, Sie spüren meine Verärgerung, was diese Hinhaltetaktik angeht. ({4}) Ich gehe auf die Punkte im Einzelnen ein. Erstens. Ja, Frau Hostert, wir haben seinerzeit eine Erhöhung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende von 4 008 Euro auf 5 000 Euro gefordert. Eigentlich müsste es schon mehr sein angesichts der mittlerweile viel höheren Inflation. Was sagt die Ampel? „Ja, wir wollen eine Steuergutschrift.“ Das haben wir auch in unserem Antrag geschrieben. Aber wie argumentiert die Ampel? „Kommt demnächst“, „wir arbeiten daran“. Zweitens. Wir fordern eine Erhöhung des Freibetrags beim Wohngeld um 20 Prozent. ({5}) Die Ampel arbeitet an einer Veränderung des Wohngeldgesetzes – „arbeitet daran“, „kommt demnächst“. Die Kommunen sind noch nicht darauf vorbereitet. Wann soll das umgesetzt werden? Und ist die besondere Situation der Alleinerziehenden berücksichtigt? Das können wir nicht erkennen – Sie „arbeiten noch dran“. Drittens. Wir fordern eine nur noch hälftige Anrechnung des Kindergeldes auf den Unterhaltsvorschuss ({6}) und haben dabei eine deutliche Unterstützung der Sachverständigen und übrigens auch der Linken und anderer Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss gehört. Und die Ampel? „Demnächst kommt die Kindergrundsicherung.“ Wie oft haben wir das schon gehört! Wann kommt sie denn? Wie sieht sie denn aus? Erleben wir diese Kindergrundsicherung eigentlich noch? ({7}) Viertens. Wir fordern einen Kinderbonus von 150 Euro und haben im Laufe der Debatte darauf hingewiesen, dass das nicht ausreicht. Was sagt die Ampel? „Wir zahlen 100 Euro pro Haushalt; das muss erst mal reichen.“ Oder kommt da noch mehr? Wann denn? Wenn es zu spät ist, zu Ostern, wenn zu Weihnachten der Engpass deutlich wird? Dann haben wir in der Debatte gesagt, dass wir sehr deutlich erwarten, dass wir anstelle der Erhöhung des Kinderzuschlags vielleicht doch besser eine Erhöhung des Kindergeldes von 20 Euro – inflationsbereinigt eigentlich von 40 Euro – vornehmen. Sie schlagen im Inflationsausgleichsgesetz eine Erhöhung von 18 Euro bzw. 12 Euro oder null Euro vor. Das sind bei 18 Euro 8 Prozent auf zwei Jahre, also gerade mal 4 Prozent, respektive 2,7 Prozent und null Prozent. ({8}) Ist das Ihre Antwort auf die besondere Belastung der Alleinerziehenden jetzt, bei dieser Inflation, oder worauf warten wir noch? Wir sagen: Jetzt muss geholfen werden, und zwar unverzüglich. Frau Staatssekretärin – für die Ministerin –, liebe Kolleginnen und Kollegen der Ampel, Sie tragen in besonderer Weise dafür Verantwortung, dass den Alleinerziehenden möglichst schnell geholfen wird. Wir sind gerne bereit, das Kindergeld, den Alleinerziehendenentlastungbetrag, das Wohngeld und das Wohnnutzungsangebot mit Ihnen zu diskutieren. Aber jetzt müssen wir erst mal schnell helfen, und zwar unmittelbar. Wir wollen und können die Alleinerziehenden nicht länger alleine lassen. ({9}) Sie können helfen, indem Sie jetzt für unseren Antrag und gegen die Beschlussempfehlung stimmen. Dazu lade ich Sie ausdrücklich ein. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Nico Tippelt für die FDP-Fraktion. ({0})

Nico Tippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005239, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gar keine Frage: Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten. Die Inflation in Deutschland steigt schon seit Jahresbeginn spürbar an, und niemand bestreitet, dass es krasse Steigerungen bei den Heiz- und Energiekosten und auch bei den Lebensmittelkosten gegeben hat. Alle spüren es am eigenen Geldbeutel. Daher gilt gerade jetzt: Wir müssen in dieser Krise zusammenstehen. Wir müssen zusammenstehen mit den Menschen in der Ukraine und selbstverständlich auch hier in Deutschland. Das darf man nicht gegeneinander ausspielen. ({0}) Weil es anscheinend gesagt werden muss: Diese Ampelkoalition lässt auch Alleinerziehende nicht im Stich. ({1}) Nachdem dieser Antrag im Frühjahr ein erstes Mal debattiert wurde, haben sich die Ampelparteien zwischenzeitlich auf ein drittes – und ich hebe es noch mal hervor –, dieses Mal 65 Milliarden Euro umfassendes Entlastungspaket geeinigt. ({2}) Ich nenne noch mal die Maßnahmen der Ampel, von denen jeder einzelne Haushalt kurzfristig profitiert: Wir führen eine Strompreisbremse ein. Wir erhöhen das Kindergeld für die ersten drei Kinder auf jeweils 237 Euro. ({3}) Und anders als es uns mancher Kollege weismachen will, gibt es für jedes weitere Kind noch mehr, nämlich 250 Euro Kindergeld. Wir erhöhen das Wohngeld zum Jahresanfang 2023. Es soll zudem dauerhaft eine Klima- und eine Heizkostenkomponente enthalten. Und wir haben neben den 300 Euro einen zweiten Heizkostenzuschuss verabredet: für Einpersonenhaushalte 415 Euro, für Zweipersonenhaushalte 540 Euro. Wir haben die Umsatzsteuer für Gas bis März 2024 gesenkt, und wir bauen die kalte Progression ab. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, diese Koalition entlastet die Bürgerinnen und Bürger im großen Maßstab. Ich finde es ja gut, wenn auch die Union ihr Herz für Alleinerziehende entdeckt. ({5}) Dafür danke ich Ihnen sogar; denn was Alleinerziehende tagtäglich leisten, muss gewürdigt werden. Was mir jedoch nicht gefällt, ist, dass Sie so tun, als seien die zusätzlichen 65 Milliarden Euro nichts. Wir geben viel Geld aus, und wenn man so viel ausgibt, muss man eben auch zusehen, dass man Familien effizient entlastet. ({6}) Uns allen ist bekannt: Jedes zweite Kind in Armut wächst bei einem alleinerziehenden Elternteil auf. In der Tat sind die Belastungen vor allem für Mütter – in manchen Fällen Väter –, wenn alleinerziehend, erheblich. Wir wollen, dass Deutschland ein noch kinderfreundlicheres Land wird. Dann darf es für Kinder keinen Unterschied machen, ob sie in Eineltern- oder in Zweielternfamilien leben. ({7}) Die Maßnahmen, die beschlossen wurden, und die, die noch kommen, werden vor allem die Einelternfamilien entlasten. Entschuldigung, dass die Maßnahmen nicht das Wort „Alleinerziehende“ im Namen tragen. Auf so einem Niveau wollen wir doch nicht miteinander diskutieren! Weil ich vorhin von kurzfristigen Maßnahmen sprach: Natürlich planen wir auch mit Weitblick. Die Kindergrundsicherung, die Sie gerade erwähnt haben, ist das größte familienpolitische Projekt dieser Koalition. Hier haben die Ampelparteien das Ziel ausgegeben, in absehbarer Zeit 150 familienpolitische Leistungen zu bündeln. ({8}) Diese Grundsicherung wird Kinder viel einfacher erreichen; ({9}) denn die beste angebotene Hilfe bringt den Kindern nichts, wenn sie letztlich nicht auch beantragt wird. Meine Damen und Herren, eines ist mir als Liberalen wichtig, auch wenn es eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Erwerbsarbeit muss sich für alle Eltern lohnen. Daher möchte ich zum Schluss meiner Rede auf einen Punkt aus Ihrem Antrag eingehen, der mich stört. Wenn erwerbstätige Alleinerziehende wenig verdienen und keine Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen, wird diesen Eltern weder ein steuerlicher Entlastungsbetrag etwas bringen, noch würden sie bei Mehrbedarf nach dem SGB II unterstützt. Fazit: Am Ende kommt es halt nicht auf aktionistische Einzelmaßnahmen an, sondern auf ein stimmiges Gesamtpaket. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie wichtig es der CDU ist, die Alleinerziehenden nicht alleinzulassen, sieht man daran, dass der Antrag offensichtlich einige Monate herumgelegen hat, ehe man ihn jetzt aufgesetzt hat. Der Antrag ist daher letzten Endes von der Zeit etwas überholt. Wir werden ihn aber, weil er eine Unterstützung enthält, trotzdem unterstützen und ihm zustimmen. Die Inflationsrate ist inzwischen zweistellig. Energie, Heizkosten, Einkaufen – all das ist auch für nicht Alleinerziehende mittlerweile oftmals unbezahlbar geworden. Da helfen im Ganzen auch kein Kinderbonus von 150 Euro und keine laue Steuererleichterung. Die CDU hat aber natürlich auch noch einige andere heiße Tipps, um durch den ideologisch herbeigeführten kalten Winter zu kommen. Nach den Merkel’schen Kniebeugen legt Fraktionskollege Schäuble jetzt nach – ich zitiere –: Dann zieht man halt einen Pullover an. Oder vielleicht noch einen zweiten Pullover. Darüber muss man nicht jammern, sondern man muss erkennen: Vieles ist nicht selbstverständlich. Das stimmt. Vieles in Deutschland ist nicht selbstverständlich, insbesondere nicht, dass diese Regierung Schaden vom deutschen Volke abwendet. ({0}) Bei den Beratungen im Ausschuss im Juli verkündete die FDP, zum Thema Inflationsauswirkung könne man feststellen, dass die Koalition das im Griff habe. Diese Absturzkoalition hat überhaupt nichts mehr im Griff. ({1}) Sie treibt die Steuern und die Abgaben nach oben, sie treibt das Land in die Inflation und Millionen von Menschen in massenhafte Armut. Genau dafür wurde die FDP in Niedersachsen zu Recht abgestraft. ({2}) Über 90 000 Menschen gingen in den letzten Monaten gegen diese existenzvernichtende Politik auf die Straße. Auch alleinerziehende Väter und Mütter sind auf der Straße, aus tiefer Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Diese Menschen kämpfen mit realer Existenzbedrohung und werden von wohlsituierten Politikern zynisch verachtet. ({3}) Bundestagsabgeordnete bekommen rund 10 000 Euro brutto im Monat, dazu gut 4 500 Euro Aufwandspauschale steuerfrei. Ein Drittel der Alleinerziehenden verfügt über weniger als 16 300 Euro pro Jahr. „Am Ende ist es nur Geld“, sagt Abwirtschaftungsminister Habeck – nur Geld, das den Menschen in Deutschland am Ende des Monats millionenfach fehlt! Beenden Sie diese Politik endlich! Beenden Sie die Politik zum Schaden insbesondere der geringverdienenden und ärmeren Menschen in Deutschland! Handeln Sie endlich nach Ihrem Amtseid! Wenden Sie Schaden vom deutschen Volke ab! Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Gökay Akbulut das Wort. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht erst durch die aktuell steigende Inflation sind alleinerziehende Eltern – gerade Mütter – massiv von Armut bedroht. Schon vor der hohen Inflation lag das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden bei über 40 Prozent. Deshalb fordern wir als Linke seit Jahren eine echte finanzielle Unterstützung und Entlastungen. ({0}) Wenn die Union in ihrem Antrag nun unter anderem fordert, das Kindergeld nur hälftig auf den Unterhaltsvorschuss anzurechnen, dann ist das einfach nur heuchlerisch. Wir haben das hier über Jahre hinweg gefordert, und Sie als Union haben das jedes Mal abgelehnt. Die bisherigen Bundesregierungen haben es immer wieder versäumt, Alleinerziehenden ernsthaft und wirksam zu helfen – gerade auch jene Bundesregierungen, an denen die Union beteiligt war. Es war nicht zuletzt die Politik der Union mit ihrer langjährigen Ignoranz gegenüber den Alleinerziehenden, die dazu beigetragen hat, dass heute so viele Alleinerziehende von Armut betroffen sind und Generationen von Kindern in unserer Gesellschaft in Armut aufgewachsen sind. Damit nicht noch mehr Alleinerziehende in die Armut abrutschen, muss die Bundesregierung jetzt handeln; denn die vorgelegten Entlastungspakete sind für viele alleinerziehende Mütter und Väter völlig unzureichend. Die angekündigte Umsetzung der übrigens linken Forderung nach einer Kindergrundsicherung könnte eine sinnvolle Hilfe für Alleinerziehende sein. Dies setzt jedoch voraus, dass sie richtig und schnell umgesetzt wird. ({1}) Ministerin Paus zufolge soll die Höhe der Kindergrundsicherung aber vom Bundesfinanzministerium berechnet werden und nicht vom eigentlich zuständigen Familienministerium. Ich habe große Zweifel, ob wir auf diese Weise zu einem Betrag kommen, der den Betroffenen auch tatsächlich weiterhilft. Die Union möchte laut ihrem Antrag – wie laut Koalitionsvertrag auch die Bundesregierung – Alleinerziehende mithilfe einer Steuergutschrift entlasten. Steuergutschriften bringen jedoch den wenigsten Alleinerziehenden etwas. Wie soll eine Steuergutschrift Alleinerziehenden helfen, die kaum Erwerbseinkommen haben und auf Transferleistungen angewiesen sind? Genauso ist es übrigens mit der im letzten Entlastungpaket enthaltenen Kindergelderhöhung. Da das Kindergeld mit den Transferleistungen verrechnet wird, bringt das den Armen in unserer Gesellschaft überhaupt nichts.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Union schlägt in ihrem Antrag einen einmaligen Kinderbonus von 150 Euro vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dauerhafte Belastungen durch Preissteigerungen und Geldentwertung kann man nicht mit einmaligen Zahlungen auffangen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie müssen jetzt bitte den Punkt setzen.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es braucht langfristige Unterstützung und nicht nur Einmalzahlungen wie einen Kinderbonus. Vielen Dank. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht am heute schon fortgeschrittenen Abend um Herkunftsnachweise für erneuerbare Gase und erneuerbare Wärme. Dabei geht es nicht nur darum, EU-Regeln umzusetzen. Nein, es geht auch darum, Transparenz zu schaffen, Transparenz darüber, welche Gase und welche Wärme aus erneuerbaren Energien stammen, eine Transparenz, die für viele unserer Bürger wichtig ist. Es ist sinnvoll, bei diesen Herkunftsnachweisen für erneuerbare Gase eine gemeinsame europäische Lösung zu finden; denn wir haben gemeinsame europäische Märkte, und es wäre einigermaßen abstrus, wenn ab der Grenze ständig andere Regeln gelten würden. In diesem Sinne wird mit diesem Gesetzentwurf, der hier heute eingebracht wird – herzlichen Dank an die Bundesregierung, dass sie es geschafft hat, in diesen Zeiten auch noch dieses wichtige Thema voranzutreiben –, mehr ein Rahmen gesetzt. Auch mit der Verordnungsermächtigung, der wir als Bundestag noch zustimmen werden, wird die konkrete Ausgestaltung so gesetzt, dass sie in den europäischen Rahmen passt. Diese Umsetzung ist nicht nur notwendig, sondern sie passt auch tatsächlich hervorragend in unsere Zeit. Erneuerbare Gase galten lange als die Klimaschützer, waren aber ganz schön teuer. Inzwischen gibt es ein großes Unternehmen, das ein Memorandum of Understanding für die Lieferung von erneuerbarem Gas, erneuerbarem Ammoniak aus Australien, hat, Lieferzeitpunkt 2024. Das erneuerbare Ammoniak ist günstiger als der Import von fossilem LNG und auch günstiger, als wenn man fossiles Gas kauft. ({0}) Das ändert auch die Situation auf den Märkten grundlegend, und das zeigt, wie wichtig das Thema ist und dass das eine Lösung ist nicht nur in Sachen Klimaschutz, sondern auch für die Frage der Versorgungssicherheit und vor allem für die Frage der bezahlbaren Energie. ({1}) Das zeigt, dass die erneuerbaren Gase und auch der Import der erneuerbaren Gase tatsächlich schnell eine zentrale Rolle bei uns spielen werden und wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen müssen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören die Herkunftsnachweise, um die es heute Abend in diesem Gesetzentwurf geht. Aber zu diesen Rahmenbedingungen gehört natürlich auch die Importinfrastruktur, die wir stärken wollen. Dazu wurden schon Projekte auf den Weg gebracht; im Norden wird das schon weiter ausgebaut. Natürlich bestehen schon heute größere Importinfrastrukturen, um Ammoniak zu händeln, und das kann künftig eben erneuerbar sein und muss nicht mehr fossil sein. ({2}) Sehr verehrte Damen und Herren, wir sehen einmal mehr: Die Abhängigkeit von den Fossilen treibt uns nicht nur in die Klimakrise; sie hat uns auch in die Kostenkrise getrieben – im Gasbereich wie im Wärmebereich. ({3}) Deshalb ist die Lösung, dass wir an dieser Stelle unabhängiger werden von den Fossilen, dass wir uns lösen aus der Abhängigkeit und dass wir auf die erneuerbaren Energien setzen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen zu diesem Gesetzentwurf. Ich freue mich darauf, dass ein weiterer Baustein geschaffen wird, ({4}) um den Erneuerbaren im Gas- und im Wärmebereich den Weg in die Zukunft zu ebnen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Heilmann das Wort. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Ingrid Nestle, ich kann die Begeisterung nicht so ganz teilen. Wir sind einer Meinung, dass das Thema wichtig ist. Auch wir von der Union wollen Herkunftsnachweise. Auch wir von der Union wollen ein Register, damit erneuerbare Energien, wenn sie hergestellt werden, einmal registriert werden; und wenn sie verwendet werden, sollen sie aus dem Register wieder gelöscht werden, um eine doppelte Zählung zu verhindern. Insoweit sind wir uns einig; so steht es ja auch in der EU-Richtlinie. Allerdings ist die Umsetzung nicht so gelungen, wie wir uns das vorgestellt haben. Das geht schon mit einer bedauerlichen Entstehungsgeschichte los: Am 8. August haben Sie den Referentenentwurf an Expertenverbände und Unternehmen mit der Bitte um Stellungnahme gesandt. Diese hatten für ihre Stellungnahme zwei Tage Zeit, 48 Stunden – und das in der Ferienzeit. Das ist schon eine ziemliche Zumutung. Dann haben Sie nichts von deren Vorschlägen übernommen, sich aber über zwei Monate Zeit gelassen und ebendiesen Referentenentwurf vollständig umgeändert. Und heute, zwei Monate danach, legen Sie den Gesetzentwurf hier zur ersten Lesung vor. – Da kann man sich die Anhörung doch sparen. Nicht einmal Redaktionelles haben Sie verbessert. Im englischen Richtlinienentwurf heißt es „final customers“. Das wird im deutschen Recht normalerweise mit „Letztverbraucher“ übersetzt. Sie verwenden den Begriff „Endkunden“. Sie sind auch darauf hingewiesen worden – nicht Sie, sondern natürlich die Regierung. Ich habe in der Begründung gesucht, ich habe telefoniert und gefragt: „Was meinen die eigentlich? Was ist der Unterschied?“, denn nicht immer ist der Letztverbraucher auch der Endkunde. Aber eine Erklärung dafür gibt es nicht. Der Gesetzentwurf ist aber nicht nur redaktionell nicht wirklich gelungen, sondern Sie haben auch wesentliche Punkte der EU-Richtlinie nicht ordentlich umgesetzt. Das geht damit los, dass Sie, anders als die EU-Richtlinie, zwischen erneuerbaren Gasen und Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, unterscheiden. Mir ist, ehrlich gesagt, nicht wirklich klar, warum Sie das tun. Diese Unterscheidung führt dazu, dass wir nicht EU‑einheitlich handeln können. Aber das genau wollen wir doch. Wir wollen doch, dass mit Erneuerbaren europaweit gehandelt wird, damit der Markt liquide ist. Das führt zu Preissenkungen, das führt zu einer Angebotserhöhung. Das ist einfach gut und kostet ja noch nicht mal was. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, wenn ich es aus dem Kopf richtig weiß, auf Seite 26 sehr genau, Sie wollen EU‑Richtlinien „bürokratiearm“ und „effektiv“ umsetzen. Das haben Sie aber nicht; denn Ihr Entwurf hat 29 Seiten, wenn man das ganze Paket nimmt, während der entsprechende Teil in der EU‑Richtlinie – und die EU ist nicht bekannt für kurze Formulierungen – 3 Seiten umfasst. Das beschreibt äußerlich schon sehr genau, wo eigentlich das Problem liegt. Sie haben weitere Schwierigkeiten eingebaut, die ich auch nicht einsehe. Sie sagen: Wenn die erneuerbare Energie, aus der Wasserstoff entsteht, nicht aus ungeförderten, neuen Anlagen stammt, dann ist das kein Grüner Wasserstoff. – Um das mal anschaulich zu machen: Wir haben ein vor 20 Jahren gefördertes Windrad, hinter dem nun heute ein Elektrolyseur gestellt wird. Sie sagen, das ist kein Grüner Wasserstoff. – Das kommt von dieser bürokratischen Logik des Doppelvermarktungsverbots, das wir eigentlich nicht mehr bräuchten, weil wir die EEG-Umlage für die Verbraucher abgeschafft haben. Das hat ja die Ampel mit unserer Zustimmung gemacht, nachdem wir das schon länger wollten. Deswegen brauchen wir das alles gar nicht mehr. Aber das wird da einfach weiter fortgeschrieben. Und so fügt sich leider Detail an Detail, sodass man sagen muss: Das ist bürokratisch, das ist nicht im Sinne eines gemeinsamen europäischen Marktes, und es ist auch unnötig. Sie haben noch nicht einmal klar festgestellt, ob das eigentlich dieselbe Zertifizierungsstelle ist wie die Zertifizierungsstelle für die Nachweise für Strom aus erneuerbaren Energien. Das könnte man doch gemeinsam handhaben, schon allein, damit man weiß, ob erneuerbare Energien zur Herstellung genutzt wurden oder nicht. ({0}) Ich hoffe sehr, Sie nehmen sich im Ausschuss Zeit, um sich mit diesen Einwänden zu beschäftigen. Ich sagte es ja eingangs schon: Wir sind im Grundsatz gar nicht anderer Meinung. Wir wollen diese Herkunftsnachweise, und wir wollen das Register. Wir wollen aber eine möglichst ordentliche Umsetzung der EU-Richtlinie und keinen deutschen Sonderweg. Wenn ich diesen Gesetzentwurf lese, dann habe ich das Gefühl, dass sich die Ampelparteien nicht einigen konnten und dass das jetzt irgendein Kompromiss ist. Ich weiß es nicht; ich war ja nicht dabei. Vielleicht war es auch nicht so. Jedenfalls steht die Vorlage damit in einer langen Kette von Gesetzen, die spät kommen, komische Kompromisse enthalten und in der Sache nicht wirklich vernünftig sind. Ich habe aber die Hoffnung, dass wir diese Fragen im Zuge einer vernünftigen Anhörung und der Ausschussberatung noch so bereinigen können, dass wir guten Herzens zustimmen können; denn, wie gesagt, im Grundsatz wollen wir dasselbe wie Sie. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Steffen Kotré das Wort. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Dr. Nestle, das glauben Sie doch selber nicht. Ammoniak, Wasserstoff: Warum läuft das nicht schon längst durch? Weil es eben ökonomisch sinnlos ist, zu versuchen, so etwas hier in Deutschland zu implementieren. Und wenn es dann doch irgendwie mal im großen Maßstab hier implementiert werden sollte, dann haben wir hier keine Industrie mehr, weil die dann außer Landes ist, weil die dann rausgeschmissen worden ist durch die hohen Preise. Das ist völlig unökonomisch. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist doch wohl ein Witz. Wir haben eine Gasmangellage, meine Damen und Herren, wir haben hohe Preise, Preise, die die Kunden bald nicht mehr zahlen können. Und dann wollen Sie dieses Gas auch noch registrieren! Eine normale Regierung, die dem Bürger verpflichtet wäre, die also eine realistische Politik machen würde, würde sich zuallererst darum kümmern, dass wir Gas haben – wieder zu richtigen Preisen. ({1}) Das passiert aber nicht. ({2}) Stattdessen wird sich darum gekümmert, dass man irgendwie die Gasmangellage auch noch registriert. Sie glauben doch nicht wirklich, dass dann, wenn man aus dem Ausland Gas oder was auch immer importiert, immer sichergestellt ist, dass das genau so ist, wie es deklariert ist. Da kommt dann irgendein Stempel drauf, und wir in Deutschland können das gar nicht überprüfen, meine Damen und Herren. ({3}) Und das Ganze passiert ja auch noch zu Zeiten hoher Inflation, wo den Bürgern sowieso das Geld aus der Tasche gezogen wird. 18 Leute, im Aufwuchs, in der Bundesverwaltung, die das kontrollieren sollen! Da frage ich mich: Was soll das? Wir brauchen Menschen, die produktiv sind, aber wir brauchen keine Menschen, die für einen Aufwuchs im unproduktiven Bereich sorgen, meine Damen und Herren. ({4}) Das ist der Punkt. Wir sollten lieber die 15 Millionen Menschen unterstützen, die bei uns hier Werte schaffen, und nicht die, die eben im nichtproduktiven Bereich tätig sind. ({5}) Aber gut, was will man erwarten von einem Wirtschaftsminister, der seine Leute aus den Nichtregierungsorganisationen ins Ministerium hineingebracht, aber Fachwissen herausgebracht hat? Das sage nicht ich, das sagen die Wirtschaftsvertreter. Sie sagen, sie haben immer das Gefühl, vor Vertretern von NGOs zu sitzen und denen erst mal das Einmaleins der wirtschaftlichen Grundlagen beibringen zu müssen. Meine Damen und Herren, das kann doch nicht der Anspruch Deutschlands sein. ({6}) Herr Habeck hat auch schon mal von Marktpreisen gesprochen, die er als „Mondpreise“ empfindet. Marktpreise bilden sich am Markt. Er ist selbst dafür verantwortlich, dass die Preise durch die Decke geschossen sind, und sagt dann: „Mondpreise“. Da fehlt es ihm wahrscheinlich am Verständnis, dass bei einem knappen Gut die Preise hochgehen. Wenn einem dieses Verständnis abgeht, dann sollte man schnell seinen Sessel räumen und das Wirtschaftsministerium verlassen. Die Lage ist dramatisch. Die Industrievertreter warnen: Deutschland wird deindustrialisiert. Nein, wir brauchen kein Gasregister. Wir brauchen schnell eine Reparatur von Nord Stream 2. ({7}) Wir schicken dann den USA die Rechnung, und dann fließt wieder russisches Gas.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluss.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

So einfach ist das. Einfaches Problem, einfache Lösung, meine Damen und Herren! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Konrad Stockmeier das Wort. ({0})

Konrad Stockmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005234, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kotré, ich weiß ja nicht, welche Ansprechpartner Sie in der Industrie überhaupt haben. Wenn ich zu Hause in meinem Wahlkreis in Mannheim bei Industriepartnern unterwegs bin – Cluster Ludwigshafen, Mannheim, Frankfurt, Darmstadt –, dann kann ich feststellen, dass man dort nach wie vor den Satz hört: „Die Nachfrage steigt“, der in diesen schweren Zeiten ja selten genug zu hören ist. Und zwar geht es um die Nachfrage nach ebendiesen Herkunftsnachweisen, die steigen wird, weil die Industrie sich in all ihrer Kreativität längst auf den Weg ({0}) hin zum Wasserstoffhochlauf gemacht hat. ({1}) Aus Sicht der Freien Demokraten will ich zum vorliegenden Gesetzentwurf anmerken, dass wir in der Tat noch Nachbesserungsbedarf sehen. Da werden wir in intensive Gespräche treten. ({2}) Zum einen muss es darum gehen, die Bremsen für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft wirklich zu lösen, sodass das Ganze anwendungsoffen aufs Gleis gesetzt wird, und wir dürfen uns beispielsweise nicht darauf beschränken, jetzt nur Herkunftsnachweise für erneuerbare Gase auszustellen, die ganz streng zwischen Wasserstoffinseln hin- und hergeschoben werden. Wenn wir das tun, dann bremsen wir einen ganz interessanten Wirtschaftszweig aus . Insofern plädiere ich für die Freien Demokraten stark dafür, das Ganze anwendungsoffen zu gestalten, beispielsweise durch die Erlaubnis von Beimischungen. Das muss mit den Herkunftsnachweisen einhergehen. Lassen Sie uns da quasi eine Analogie zum Strommarkt aufmachen. Dort ist es beim Hochlauf nicht so wahnsinnig wichtig, ob der Strom, der im Haushalt ankommt, exakt Strom aus erneuerbaren Energien ist. Die entscheidende Frage ist: Ist der Strom, der ins Netz eingespeist wurde, irgendwo erneuerbar produziert worden? ({3}) Da sollten wir noch einiges nacharbeiten. Wir sollten vermeiden, bei diesem Gesetz Instrumente sozusagen wieder zu verschränken, um die Dekarbonisierung voranzutreiben. Für die Dekarbonisierung sind andere Instrumente da, die wir anwenden. Lassen Sie uns das jetzt anwendungsoffen gestalten, um die Fesseln für unsere Wirtschaft zu lösen! Zum Abschluss noch ein Verweis auf den europäischen Kontext. Es wird im Laufe der Gesetzesberatungen darauf ankommen, dass wir unter die Lupe nehmen, welche klugen Lösungen EU-Partner gefunden haben, um das Doppelvermarktungsverbot so zu modifizieren, dass eine steigende Nachfrage nach Herkunftsnachweisen auch auf ein steigendes heimisches Angebot trifft. Es kann ja nicht Sinn und Zweck sein, das Ganze so strikt aufzusetzen, dass die Industriebetriebe bei uns in Deutschland, die diese Herkunftsnachweise suchen, deswegen nach Norwegen stürzen müssen. Wir sollten das so aufs Gleis setzen, dass sie diese Herkunftsnachweise auch bei uns bekommen. In diesem Sinne ist auch das ein Energieprojekt, bei dem wir gut daran tun, in der EU, mit unseren europäischen Partnern ganz stark zusammenzuarbeiten – in einer Zeit, in der es gilt, auch beim Bezug von Energie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gegen einen üblen Angriff durch Putin zu verteidigen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Millionen Menschen in Deutschland haben Angst vor der grünen Inflation und Angst, ihre Nebenkosten nicht mehr zahlen zu können. Zwei Drittel haben bereits 2020 – also schon lange vor der von der Regierung verursachten Energiekrise – über 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Warmmiete bezahlen müssen und 5 Millionen Haushalte sogar über 50 Prozent. Zwischenzeitlich hat sich die Situation so sehr verschlechtert, dass laut dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband mehr als zwei Drittel nichts mehr sparen können und damit auch nichts mehr für die bevorstehende Nebenkostennachzahlung zurücklegen können. Viele sind heute schon mit ihren Abschlagszahlungen überfordert. Diese Notlage ist im Wesentlichen regierungsgemacht, zum einen durch die wahnsinnige Steuer- und Abgabenlast, zum anderen durch die, wie das „Wall Street Journal“ titelt, „dümmste Energiepolitik der Welt“, nämlich gleichzeitig aus Kohle und Kernenergie auszusteigen. ({0}) Anstatt die Ursachen der Preisexplosion zu beseitigen, doktert die Regierung nur immer weiter an den Symptomen herum, ohne die Menschen wirklich und vor allem dauerhaft zu entlasten. Das beste Beispiel ist doch das von Ihnen geplante „Wohngeld Plus“, mit dem Sie gerade einmal 2 Millionen Haushalte – und das auch noch völlig unzureichend – unterstützen wollen. Gleichzeitig lassen Sie die übrigen 80 Millionen Menschen in diesem Land auf ihren Wahnsinns-Nebenkostenrechnungen sitzen. ({1}) Auf diesen stehen hauptsächlich Energiekosten, von denen der allergrößte Teil Steuern und Abgaben sind. – Damit Sie es mir glauben: Ich habe hier eine aktuelle Stromrechnung von Vattenfall, ({2}) in der ganz klar ausgewiesen ist, dass 71 Prozent der Stromrechnung nichts anderes als Steuern und Abgaben sind, also regierungsgemacht. Der wesentliche Preistreiber ist die Regierung. ({3}) Der einzige Weg, die Menschen tatsächlich zu entlasten, besteht in einer drastischen Senkung der Steuern und Abgaben. Daher fordern wir, die CO2-Steuer zu senken, die Mehrwertsteuer auf Energie auf null zu setzen und die Energiesteuer zu senken. Außerdem fordern wir die völlige Abschaffung der Grundsteuer, die ja auch noch auf die Nebenkosten obendrauf kommt. Das allein entlastet jeden Durchschnittshaushalt sofort um 400 Euro netto. ({4}) Vor allem müssen die aktiven Kernkraftwerke weiterlaufen und die drei vor Kurzem abgeschalteten wieder eingeschaltet werden. Allein diese Maßnahme würde dafür sorgen, dass sich der Strompreis sofort halbieren würde. ({5}) Machen Sie es doch ganz einfach so wie Greta Thunberg, ({6}) und schließen Sie sich endlich unserer Forderung an, die Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen! ({7}) – Hat sie doch gesagt, oder?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, sich auch bei Zwischenrufen einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen. ({0}) – Sollten Sie nicht bemerkt haben, wen ich jetzt gerade ansprach: Ich könnte es auch noch deutlicher machen oder mir das Protokoll bringen lassen und das hinterher auswerten. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Martin Diedenhofen für die SPD-Fraktion. ({1})

Martin Diedenhofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in einer beispiellosen Krise. Als Ampelkoalition haben wir deswegen Entlastungspakete im Umfang von Hunderten Milliarden Euro geschnürt. Wir tun alles dafür, um die sozialen Folgen bestmöglich abzufedern. ({0}) Angesichts dieser Krisen wäre konstruktive Oppositionsarbeit angebracht. Doch was macht die AfD? Sie legt einen Antrag vor, der vor Unsinn nur so strotzt, einen Antrag, der ein Schlag ins Gesicht der Menschen ist, die momentan mit Sorge ins Bett gehen und zu Recht Antworten von der Politik erwarten. ({1}) Ich nehme mal einen Punkt heraus: Sie wollen die Grundsteuer abschaffen. Eine Steuer abzuschaffen, klingt erst einmal nach Geldsparen für viele. Aber wer zahlt denn eigentlich am meisten Grundsteuer? Das sind die, die auch am meisten besitzen. Genau die wollen Sie jetzt entlasten! Ausgleichen sollen das nach Ihrem Willen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, das heißt auch die Handwerkerin, der Polizist und die Krankenschwester. ({2}) Daraus schließe ich doch vor allem eines: Vernünftige und soziale Finanzpolitik ist für Sie ein Fremdwort. ({3}) Überraschend kommt das nicht. Wahrscheinlich ist das so, wenn man sein Geld – mutmaßlich – von dubiosen Spendern aus dem Ausland erhält. ({4}) Im Staatshaushalt läuft das aber anders; da sind wir auf Steuereinnahmen angewiesen – momentan vor allem, um mit Entlastungspaketen denen unter die Arme zu greifen, die das besonders brauchen. Ihren absurden Vorschlägen setzen Sie mit Ihrer letzten Forderung noch einen obendrauf. Sie wollen – und ich zitiere –, dass die „regierungsverschuldete Heizkostenexplosion“ beendet wird, „unter anderem durch die sofortige Wiederinbetriebnahme der Pipelines ‚Nord Stream 1 und 2‘ … und die unverzügliche Reparatur aller Beschädigungen“. – „Regierungsverschuldete Heizkostenexplosion“: Geht’s eigentlich noch? Putin nutzt Gas und Öl als Druckmittel, um unser Land zu spalten, ({5}) und Sie, die selbsternannten Patriotinnen und Patrioten, machen munter mit – und das in Zeiten, in denen wir gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Was Sie hier machen, ist das Gegenteil von Patriotismus. ({6}) Um an einem Beispiel zu zeigen, welches perfide Spielchen Sie und Ihr Freund Putin treiben, habe ich mal etwas mitgebracht. ({7}) – Wissen Sie, was Sie da sehen? Das ist der Ersatz für die angeblich defekte Turbine, die Putins Staatskonzern Gazprom Ende Juli als Grund dafür vorgeschoben hat, die Gasliefermengen zu verringern. Diese Turbine war schon Anfang August voll einsatzfähig. Bereits vor vielen Wochen hätte sie eingebaut werden können. Das Problem: Putin wollte das nicht. Obwohl mittlerweile auch dem Letzten klar sein sollte, dass man Putin nicht vertrauen kann, faseln Sie immer noch von einer Wiederinbetriebnahme der Pipelines – und das kurz nachdem der russische Diktator mehr als 80 Raketen auf ukrainische Schulen, Krankenhäuser und Spielplätze gejagt hat. ({8}) Spüren Sie sich eigentlich noch? Ich frage mich ernsthaft, ob Sie solche Anträge noch selber formulieren oder ob das schon ein russischer Bot für Sie übernimmt. ({9}) Um das auch noch mal für Sie ganz klar zu sagen: Putin hat den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, Putin ist schuld, dass unsere Energiepreise durch die Decke gehen, ({10}) und Putin will, dass Menschen in unserem Land ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Und Sie? Sie sind der Putin-Fanklub im Deutschen Bundestag. Schämen Sie sich! Danke schön. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Caren Lay das Wort. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal versuchen die Klimawandelleugner der AfD, ({0}) Klimapolitik und eine soziale Wohnungspolitik gegeneinander auszuspielen. ({1}) Gegeneinander ausspielen: Das ist ja gewissermaßen die Spezialität der AfD – Deutsche gegen Migrantinnen, Obdachlose gegen Geflüchtete und heute eben Wohnungspolitik gegen Klimaschutz. Migration und Klimaschutz seien es, die das Wohnen teuer machen. Kein Wort von Ihnen zu Spekulation und zur Gier der Konzerne; das können wir als Linke nicht akzeptieren. ({2}) Es macht mich allerdings ein wenig traurig, dass die Koalition es an einer Stelle den Demagogen der AfD zu einfach macht, nämlich bei der CO2-Steuer. Es ist einfach keine gute Idee, den Energieverbrauch durch Verteuerung drosseln zu wollen. Das ist einfach immer unsozial; denn natürlich trifft das eine vierköpfige Familie härter als einen Millionär mit einem beheizten Swimmingpool. Angesichts der Energiepreisexplosion ist es einfach nur absurd, obendrauf noch den CO2-Preis zu legen. ({3}) Deswegen muss der CO2-Preis von Vermietenden getragen oder, besser, ganz abgeschafft werden. ({4}) – Freuen Sie sich nicht zu früh, ({5}) Ich möchte noch etwas zu Ihrem Freund Wladimir Putin sagen; denn Sie fordern in Ihrem Antrag die sofortige Wiederinbetriebnahme von Nord Stream 1 und 2. Ich weiß, es ist spät am Abend. Aber einen schönen guten Morgen! Putin hat die Lieferung von Gas durch Nord Stream 1 eingestellt, und nach den Anschlägen ist Nord Stream 2 nicht mehr benutzbar. ({6}) Putin bombardiert ukrainische Städte. Er ist verantwortlich für Massaker an Zivilisten, und Sie sagen: Das ist uns alles egal; wir kaufen sein billiges Gas und machen Geschäfte mit einem Kriegsverbrecher. – Das ist doch absurd! Merken Sie sich eigentlich noch? ({7}) Statt Geschäfte mit einem Kriegsverbrecher zu machen, brauchen wir eine ökologische Energiewende und eine soziale Wohnungspolitik. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Hanna Steinmüller das Wort. ({0})

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer Zeit, in der Menschen im Ahrtal binnen Stunden genommen wurde, was sie ihr ganzes Leben lang aufgebaut hatten. ({0}) Durch die Klimakrise steigt die Gefahr von Extremwetterereignissen. Wir leben in einer Zeit, in der jeden Sommer Tausende Menschen vorzeitig sterben, weil die Hitze ihrem Organismus zu sehr zusetzt. ({1}) – Auch wenn Sie lauter schreien, werde ich nicht aufhören. Sie können auch einfach mal zuhören. Ich glaube sogar, Sie könnten etwas lernen. ({2}) Wir leben in einer Zeit, in der sich Menschen in meinem Alter gegen Kinder entscheiden, weil sie es ihren Kindern nicht zumuten wollen, auf einem kaputten Planeten aufzuwachsen. ({3}) – Das ist eine reale Angst, die viele Menschen in diesem Land umtreibt, jetzt hier in Deutschland. ({4}) Und was machen Sie? Sie leugnen den menschengemachten Klimawandel, Sie setzen die Klimakrise in Anführungszeichen. ({5}) Sie wollen jegliche CO2-Bepreisung abschaffen und Emissionen billiger machen. Damit heizen Sie die Klimakrise an. Ich frage mich wie viele hier: Wo leben Sie eigentlich? Sind Sie komplett abgekapselt? ({6}) Es ist doch völlig klar, dass wir beides brauchen: Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum, und wir müssen die Klimakrise bekämpfen. ({7}) Deswegen führen wir zum Beispiel eine gerechte CO2-Bepreisung ein, nehmen Vermieter in die Pflicht und entlasten Mieter/-innen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin?

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Hanna Steinmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11005230, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf gar keinen Fall. ({0}) Nach diesem Antrag ist wirklich nichts zu erwarten. Wir haben im Entwurf für die Anpassung des Wohngelds, die bald kommen wird, eine Heizkostenkomponente. Vor allen Dingen haben wir einen Turbo für erneuerbare Energien gezündet, damit wir Energie günstig bereitstellen. ({1}) Das alles sind Lösungsvorschläge für die multiplen Krisen, in denen wir gerade stecken. Daran arbeiten wir ganz konkret im Hier und Jetzt. Und was machen Sie? Sie spalten, ({2}) Sie spielen mit den Ängsten der Menschen, Sie versuchen, verschiedene Krisen gegeneinander auszuspielen. ({3}) Wir leben aber in einer Zeit, in der es notwendig ist, Antworten auf verschiedene Krisen gleichzeitig zu geben. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land schuldig. ({4}) Wir leben in einer Zeit, die Solidarität erfordert und keine Spaltung. Vielen Dank. ({5})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich starte mit einem Dank: Wir beraten ja abends oft AfD-Anträge, deren Spannungsbogen vom stundenlangen Zugucken beim Rasenmähen übertroffen wird. Dieser ist mal munter, dafür erst mal schönen Dank. Die Debatte gefällt mir bis hierher sehr gut. Was aber sagt der vorliegende Antrag? Wir sollen feststellen, dass die Bundesregierung eine ideologische Ausrichtung aufs Klima hat. Schon damit ist der Antrag nicht zustimmungsfähig – die Bundesregierung hat nämlich gesunden Menschenverstand. ({0}) Ich könnte an dieser Stelle eigentlich schon aufhören; ich mache trotzdem ein bisschen weiter. Wir sollen weiterhin feststellen, dass die Bundesregierung den Wohnungsmarkt mittels der Energiewende verteuert. Nun baue ich seit 25 Jahren selber Gebäude und weiß, warum die Gebäude im Laufe der Jahre teurer geworden sind: zum Beispiel, weil es immer bessere Technologien gibt, die wir in Gebäuden einsetzen. Fangen wir damit an, dass von Gebäudeleittechnik vor zehn Jahren noch kein Mensch gesprochen hat. Mit dieser Technik steuern wir heutzutage über Apps die Energie, schalten an, wenn wir Energie brauchen, schalten ab, wenn wir sie nicht brauchen. Damit senken wir Energiekosten während des Lebenszyklus des Gebäudes. Deshalb schauen Leute mit gesundem Menschenverstand auf den Bau, den Betrieb und den Abriss von Gebäuden und behalten den Lebenszyklus im Blick – Ideologen schauen nur auf einen Teil und verteufeln ihn als zu teuer. ({1}) Gebäude werden teurer, weil wir moderne Baustoffe verwenden, aber auch weil wir einen Arbeitskräftemangel haben. Auch da gibt es schöne Beispiele: Der Ideologe würde jetzt sagen: Grenzen zu! – Jemand mit gesundem Menschenverstand würde sagen: Wir beheben das Problem, indem wir die Grenzen aufmachen und Fachkräfte ins Land lassen. ({2}) Wir sollen feststellen, dass der Anstieg der Energiepreise durch die Entlastungspakete der Bundesregierung nicht komplett kompensiert wird, sondern nur zu einem Teil. Ja, richtig. Der Ideologe würde versuchen, ihn ganz zu decken. Jemand mit gesundem Menschenverstand sagt sich in dieser Zeit: Erstens. Wir kompensieren nicht den kompletten Anstieg der Energiepreise, weil wir gerade erreichen müssen, dass die Leute Energie sparen, da wir sonst nicht durch diesen und den nächsten Winter kommen; das leuchtet eigentlich ein. Zweitens. Wir können gar nicht den kompletten Preisanstieg kompensieren, weil jeder weiß, dass wir Preise wie 2017, 2018 und 2019 nie wieder erleben werden. Vielmehr werden die Preise der Zukunft, zumindest so lange, bis wir komplett auf Erneuerbare umgestiegen sind, relativ teuer sein – danach wird es wieder anders werden. ({3}) Wir sollen feststellen, dass es keinen Heizkostenzuschuss gibt. Super, dafür gibt es die Mediathek des Bundestages, siehe Debatte zu TOP 9 heute, Beginn 12.01 Uhr; da haben wir die Heizkostenpauschale im Wohngeld eingeführt. – Sache erledigt. ({4}) Gesetze zu CO2-Preisen sollen wir abschaffen. Ich sage als Liberaler weiterhin: Das ETS ist die einzige Möglichkeit, wie wir die Ziele von Paris jemals erreichen werden; indem wir nämlich die Anzahl der Zertifikate nach und nach absenken. Auch das zeugt von gesundem Menschenverstand. Genauso ist es, wenn man auf die europäischen Vorgaben hört. Die sagen: Die Umsatzsteuer auf alles abschaffen geht nicht, aber sie auf ein gesundes Niveau senken, das geht sehr wohl. Jemand mit gesundem Menschenverstand senkt zum Beispiel die Umsatzsteuer auf Gas von 19 auf 7 Prozent, der Ideologe schreit laut herum. ({5}) Und weil wir noch Zeit haben ein letztes Beispiel – ich meine, das schlägt dem Fass fast den Boden aus –: Eine Pipeline, die einem russischen Staatskonzern gehört – leider sind auch ein paar Anteile von deutschen Firmen dabei –, soll jetzt von der Bundesregierung, also mit Steuergeld, repariert werden; das steht in dem Antrag. Also, wir sollen jetzt für einen russischen Staatskonzern die Leitung reparieren? Ich finde, da zeigt sich wirklich die Ideologie dieses ganzen Antrags. Als letztem Redner bleibt mir nur, allen mit gesundem Menschenverstand in diesem Haus einen wunderbaren guten Abend zu wünschen und den Ideologen zu sagen: Gute Nacht! ({6})