Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/14/1955

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren! Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich eine freudige Pflicht zu erfüllen. Der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe feiert heute seinen 80. Geburtstag. ({0}) Der Präsident des Deutschen Bundestages, D. Dr. Gerstenmaier, nimmt an der Feier, die der Senat und das Abgeordnetenhaus der Stadt Berlin aus diesem Anlaß für Präsident Löbe heute veranstalten, teil. ({1}) Der Präsident des Bundestages hat dabei folgende Adresse an Präsident Löbe gerichtet, von der ich das Haus bitte Kenntnis zu nehmen: An seinem 80. Geburtstag kann Paul Löbe auf ein Leben zurückblicken, das nach einem Bibelwort köstlich gewesen ist, weil es Mühe und Arbeit war. Dieser Sohn des deutschen Volkes hat es nicht leicht gehabt. Sein Leben stieg von kargem Boden aus beschwingter Jugend zur Höhe. In seiner Gestalt und in seiner Lebensgeschichte vergegenwärtigt sich uns die Geschichte unseres Volkes in zwei oder drei Generationen. Paul Löbe ist eines neben vielen Beispielen dafür, was Deutschland und die Welt dem schlichten, bodenständigen Kern unseres Volkes zu verdanken haben, ein Beispiel dafür, was auf dem Boden der Kargheit, ja der Armut, an Lauterkeit des Charakters, an Großzügigkeit des Denkens und an Großherzigkeit des Handelns wachsen kann. Paul Löbe ist ein Symbol des Aufstiegs des deutschen Arbeitertums. Aber Paul Löbe ist darüber hinaus eine Gestalt, in der sich der Freiheitswille der weiland ärmsten Söhne des deutschen Volkes in einer so noblen und so vorbildlichen Weise mit dem Verantwortungsbewußtsein des Staatsmannes verbindet, daß er immer ein Vorbild für uns alle bleiben wird. Paul Löbe und vielen seiner Freunde wird der freiheitliche deutsche Rechtsstaat dafür immer Dank schulden, denn sie haben eine geschichtliche Wandlung im Zeichen der Verantwortung und der Treue zum Vaterland vollzogen. Paul Löbe hat als vorbildlicher Präsident des Deutschen Reichstages seinen besonderen Beitrag dazu geleistet. Er hat für viele sichtbar gemacht, daß die Entschlossenheit zur Freiheit, der Wille zur Gerechtigkeit und die großherzige Toleranz miteinander verschwistert sind. In dieser Gesinnung und Haltung ist er zum großen Präsidenten des Deutschen Reichstages und zu einer der lautersten Gestalten der Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert geworden. In dieser Gesinnung und Haltung hat er uns Spätergeborene im Jahre 1949 von der Eröffnung des Deutschen Bundestages an verknüpft mit der Tradition und der Ordnung des deutschen Parlaments. Auch dafür sind und bleiben wir ihm Dank schuldig. Im Namen des Deutschen Bundestages verbinde ich mit diesem Dank an den Präsidenten Paul Löbe den Wunsch, daß Gott, der ihn durch Tiefen und auf Höhen geführt hat, ihm noch einen langen und heiteren Lebensabend gewähre und ihn und uns die Wiederherstellung ganz Deutschlands in Einheit, Frieden und Freiheit erleben lasse. ({2}) Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Herr Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen hat unter dem 8. Dezember 1955 die Kleine Anfrage 208 der Abgeordneten Schlick, Walz und Genossen betreffend Verbilligte Glückwunschtelegramme nach dem Saargebiet - Drucksache 1894 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1952 vervielfältigt. ({3}) Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung: Erste Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ({4}). Zur Begründung des Gesetzentwurfs hat Herr Staatssekretär Hartmann das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt dem Hohen Hause heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vor. Die vorangegangenen beiden Gesetze zur Änderung des Entschädigungsgesetzes waren rein formeller Art; sie hatten lediglich die Verlängerung der Fristen zum Gegenstand. Durch den nunmehr vorgelegten Gesetzentwurf soll das Bundesentschädigungsgesetz auch materiell geändert werden. Es handelt sich also nicht um eine Novelle im üblichen Sinne des Wortes; vielmehr erfährt das Gesetz unter Aufrechterhaltung seiner Grundstruktur eine durchgreifende materielle Änderung und auch eine Neugestaltung in bezug auf System, Redaktion und Stilisierung. Mit der Vorlage des Gesetzentwurfs verwirklicht die Bundesregierung ihren schon vor langer Zeit gefaßten Entschluß, das am 1. Oktober 1953 in Kraft getretene Bundesentschädigungsgesetz, das nach dem Erlaß aller Rechtsverordnungen jetzt in voller Durchführung begriffen ist, materiell noch weiter auszugestalten, systematisch zu verbessern und verfahrensrechtlich zu vereinfachen. Der Gesetzentwurf fußt dabei auf den in den letzten Jahren in Verwaltung und Rechtsprechung gewonnenen Erfahrungen und versucht auch, den vielfachen Wünschen der Verfolgten und Geschädigten aus dem Inland und dem Ausland so weit entgegenzukommen, wie das sachlich gerechtfertigt und finanziell tragbar erschien. Die Bundesregierung entspricht mit der Vorlage des Gesetzentwurfs auch den Erwartungen, welche die parlamentarischen Körperschaften schon bei der Verabschiedung des jetzt geltenden Bundesentschädigungsgesetzes zum Ausdruck gebracht haben, das sie nur als einen ersten Schritt auf dem Wege zur bundesgesetzlichen Regelung der Entschädigung gelten lassen wollten. Die Bundesregierung legt Wert darauf, vor dem Hohen Hause festzustellen, daß der vorliegende Gesetzentwurf nicht auf die Weise zustande gekommen ist, in der sonst der Regierungsentwurf eines Gesetzes entsteht. Der Entwurf stellt vielmehr das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit dar, die ein zur Vorbereitung der Novelle errichteter Arbeitskreis geleistet hat. Mit der Errichtung dieses Arbeitskreises ist der Versuch unternommen worden, schon in dem Stadium der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs die Ansichten aller an der Gesetzgebung Beteiligten kennenzulernen und zu berücksichtigen. In dem Arbeitskreis sind daher nicht nur die beteiligten Bundesressorts, sondern auch sämtliche Fraktionen des Bundestages sowie der Sonderausschuß für Wiedergutmachungsfragen des Bundesrates vertreten gewesen. Dieses neuartige Arbeitsverfahren sollte insbesondere dazu beitragen, den parlamentarischen Weg, den der Gesetzentwurf zu nehmen hat, zu ebnen und dadurch die Beratungen, insbesondere in den Ausschössen der beiden Hohen Häuser, zu beschleunigen und abzukürzen. Der Arbeitskreis hat am 8. November 1954 seine sachlichen Arbeiten begonnen. Im ganzen hat er 18 stets mehrere Tage dauernde Tagungen abgehalten. Die abschließende Sitzung fand am 27. September 1955 statt. In. dieser Sitzung wurde von den Mitgliedern des Arbeitskreises der Entwurf gutgeheißen. Die Bundesregierung hat diesen von dem Arbeitskreis ausgearbeiteten Gesetzentwurf, abgesehen von einigen geringfügigen Abweichungen, welche seine Grundzüge nicht berühren, unverändert als Regierungsvorlage übernommen. Es ist mir ein besonderes Bedürfnis, in dieser Stunde vor dem Hohen Hause auszusprechen, daß sich die Arbeit im Arbeitskreis in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und Verständnisses vollzogen hat. Dabei hat sich gezeigt, daß in bezug auf die Pflicht zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts keinerlei grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten unter den Beteiligten bestanden haben. Nur so war es möglich, daß sich der in unserer Gesetzgebungsarbeit neuartige Gedanke eines Zusammenwirkens aller an der Gesetzgebung beteiligten Stellen in einem solchen Arbeitskreis fruchtbar verwirklichen konnte. Namens der Bundesregierung darf dafür allen an der Arbeit des Arbeitskreises beteiligt gewesenen Personen, vor allem aber den Herren Vertretern der Fraktionen dieses Hohen Hauses, der herzlichste Dank ausgesprochen werden. Mit der Errichtung des Arbeitskreises war vor allem die Absicht verbunden gewesen, die Beratungen des Gesetzentwurfs im Bundestag und im Bundesrat nach Möglichkeit abzukürzen und dadurch die Verabschiedung zu beschleunigen. Nun hat allerdings der Bundesrat zahlreichen Änderungsvorschlägen zugestimmt. Dem Bundesrat haben, wenn ich es recht gezählt habe, trotz der langen Beratung im Arbeitskreis 79 Änderungsanträge vorgelegen; davon hat er 66 angenommen. Alle diese Anträge mußten nun nach der Plenarsitzung des Bundesrates zunächst von den Bundesressorts und dann von der Bundesregierung im einzelnen erörtert und geprüft werden. Das hat dazu geführt, daß die Einbringung des Gesetzes vor dem Hohen Hause erst am heutigen Tage möglich gewesen ist. Gleichwohl darf ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß der in der Regierungsvorlage vorgesehene Termin des Inkrafttretens eingehalten werden kann, nämlich der 1. April 1956. Ein späteres Inkrafttreten der Novelle würde die berechtigten Hoffnungen weitester Kreise der Verfolgten enttäuschen. ({0}) Die Pflicht der Bundesrepublik zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts bedarf keiner Begründung. Die Anerkennung dieser Pflicht hat ihren bezeichnendsten Ausdruck gefunden in den beiden Erklärungen, die der Herr Bundeskanzler am 27. September 1951 und am 4. März 1953 vor diesem Hohen Hause abgegeben hat. Er hat darin zum Ausdruck gebracht, daß, soweit überhaupt durch unsere Kraft etwas zur Beseitigung der Folgen des nationalsozialistischen Unrechts geschehen könne, das deutsche Volk die ernste und heilige Pflicht zu helfen habe, auch wenn dabei schwere Opfer von uns verlangt würden. Von dieser Grundauffassung hat sich auch die Bundesregierung bei ihren Vorschlägen zur Gesetz({1}) gebung auf dem Gesamtgebiet der Wiedergutmachung immer leiten lassen. Sie ist sich dabei allerdings bewußt, daß eine wirkliche Wiedergutmachung des den Verfolgten angetanen Unrechts alle menschlichen Kräfte und Möglichkeiten übersteigen würde. Es kann sich daher hier nur darum handeln, bei bestimmten Schadenstatbeständen eine Entschädigung für die materiell meßbaren Schäden vorzusehen. Aber auch in diesem Rahmen kann eine volle Schadloshaltung nicht erfolgen. Sie würde weit über das hinausgehen, was mit den finanziellen Kräften der Bundesrepublik jetzt und in der Zukunft geleistet werden könnte. Die Bundesregierung glaubt mit den materiellen Verbesserungen des heute vorgelegten Gesetzentwurfs die finanziellen Möglichkeiten für jetzt und die Zukunft voll ausgeschöpft zu haben. Der Gesetzentwurf bringt zunächst eine erhebliche Ausdehnung des Kreises der voll Entschädigungsberechtigten. In diesen Kreis sind nunmehr alle Verfolgten einbezogen, die vor dem 31. März 1951 ausgewandert sind und ihren letzten inländischen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in Gebieten gehabt haben, die am 31. Dezember 1937 zum Deutschen Reich gehört haben. Die Emigranten aus der heute sowjetisch besetzten Zone haben nach dem geltenden Gesetz überhaupt keinen Anspruch auf Entschädigung, während den Emigranten aus den Vertreibungsgebieten nach dem geltenden Gesetz im allgemeinen nur ein nach Art und Umfang beschränkter Entschädigungsanspruch zustand. Die nach der Regierungsvorlage vorgesehene Erweiterung des Kreises der voll anspruchsberechtigten Personen ist nach Auffassung der Bundesregierung die Konsequenz des Gedankens, wie er in dem in die Novelle unverändert übernommenen § 111 des bisherigen Gesetzes bereits zum Ausdruck kommt. Nach dieser Vorschrift war eine weitergehende Regelung der Entschädigung für Verfolgte, die eine örtliche Beziehung zu deutschen Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes haben, bis zur Wiedervereinigung Deutschlands vorbehalten geblieben. Mag es bei Erlaß des Gesetzes im Jahre 1953 noch vertretbar gewesen sein, Verfolgte, die keine räumliche Beziehung zum Geltungsbereich des Gesetzes und nur eine solche zu anderen deutschen Gebieten innerhalb des Reichsgebietes gehabt haben, von der Entschädigung auszuschließen oder auf einen beschränkten Entschädigungsanspruch zu verweisen, so erschien das hinsichtlich der Emigranten aus Mittel- und Ostdeutschland auf die Dauer deshalb nicht haltbar, weil es sich um die räumliche Beziehung zu einem Staatsgebiet handelt, das die Bundesrepublik nach ihrer politischen Konzeption staatsrechtlich und völkerrechtlich zu repräsentieren beansprucht. Diese erhebliche Erweiterung des Kreises der voll Anspruchsberechtigten darf als das materiell-rechtliche Kernstück der Novelle bezeichnet werden. Der Gesetzentwurf bringt ferner eine bedeutende Erhöhung der Entschädigungsleistungen, insbesondere der Höchstbeträge für Kapitalleistungen. Das Rentenrecht, das schon nach geltendem Recht neben dem Schadensprinzip dem Versorgungsgedanken weiten Raum ließ, hat insbesondere hinsichtlich des Schadens im beruflichen Fortkommen in dem vorgelegten Gesetzentwurf eine weitere Ausgestaltung erfahren. Nach der Regierungsvorlage soll der Anspruch auf Entschädigung nunmehr grundsätzlich frei vererblich sein, gleichviel, ob die Entschädigung schon rechtskräftig festgesetzt ist oder nicht. Beschränkungen der Vererblichkeit des Anspruchs vor der Festsetzung sind nur insoweit vorgesehen, als dies im Hinblick auf den Charakter des jeweiligen Anspruchs angemessen erschien. Neu ist auch die Einfügung eines besonderen Kapitels über die Regelung der Versorgungsschäden, d. h. der Schäden, die dadurch entstanden sind, daß ein Verfolgter infolge nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen in seiner Alters- und Invalidenversorgung geschädigt worden ist. In der Regierungsvorlage ist ferner Bedacht darauf genommen, die Ausführung des Gesetzes durch Einführung von Pauschalabgeltung und durch Verbesserung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zu vereinfachen und dadurch das Entschädigungsverfahren zu beschleunigen. Der Gesetzentwurf hält fest an dem Grundsatz, daß das Gesetz von den Ländern durchzuführen ist. Bei Aufstellung des Entwurfs des geltenden Gesetzes war erwogen worden, ob es sich nicht empfehlen würde, die Durchführung dieses Gesetzes einer neu zu errichtenden Bundesoberbehörde zu übertragen. Auch bei der Vorbereitung des vorliegenden Entwurfs ist diese Überlegung wieder angestellt worden. Sie konnte indessen zu keinem anderen Ergebnis führen als zu dem, daß auch weiterhin von der Errichtung einer solchen Bundesoberbehörde abzusehen sei, die Durchführung vielmehr ausschließlich den Ländern überlassen bleiben solle. Nachdem das Gesetz seit mehr als zwei Jahren in Kraft ist und die zuständigen Landesbehörden vielfache Erfahrungen in der Durchführung der Vorschriften dieses Gesetzes gesammelt haben, besteht auch kein Anlaß, die im allgemeinen bewährte, jedenfalls aber eingespielte Organisation zu ändern. Auch die in der Öffentlichkeit neuerdings diskutierte Frage, ob die Bundesregierung nicht einen Bundesbeauftragten für die Wiedergutmachung berufen sollte, um auf diese Weise eine dem Wesen der Wiedergutmachung entsprechende Praxis der Entschädigungsorgane in den Ländern sicherzustellen, ist von der Bundesregierung geprüft worden. Auch diese Frage mußte verneint werden, wobei insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken ausschlaggebend waren. Ich habe geglaubt, auf diese wesentlichsten Grundgedanken des Gesetzentwurfs besonders eingehen zu sollen, um auch anzudeuten, welche Bedeutung dem Entwurf zukommt und welchen Fortschritt auf dem Gebiet des Entschädigungsrechts er darstellt. Was auf dem Gebiet der Wiedergutmachung finanziell bisher geleistet worden und noch zu leisten ist, ist in der Begründung eingehend dargelegt. Ich darf darauf verweisen, möchte jedoch nicht verfehlen, dem Hohen Hause die Zahlen noch einmal darzulegen. Vor Inkrafttreten des jetzt geltenden Gesetzes sind von den Ländern rund 750 Millionen DM an Entschädigungen für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gezahlt worden. Die Kosten der Durchführung des Gesetzes in der geltenden Fassung waren bisher auf rund 4 Milliarden DM geschätzt. Sie werden nach neueren Schätzungen wohl 4,5 Milliarden DM er-. reichen. Der Mehraufwand für die heute vorgelegte Novelle wird 2 Milliarden DM kaum unterschreiten, wahrscheinlich sogar den Betrag von 2,3 Milliarden DM erreichen. Zur Durchführung des Gesetzes nach Verabschiedung der Novelle werden ({2}) also 6,5 bis 7 Milliarden DM aufzubringen sein. Davon wird bis zum 31. März 1956 wahrscheinlich 1 Milliarde DM gezahlt sein, so daß für die Zeit bis zum Ablauf des Rechnungsjahres 1962, bis zu dem das Gesetz - abgesehen von der Weiterzahlung der Renten - durchgeführt sein soll, noch 5,5 bis 6 Milliarden DM aufzubringen sein werden. Die Leistungen auf Grund von wiedergutmachungsrechtlichen Nebengesetzen werden im Laufe der Zeit mindestens 1 Milliarde DM betragen. Zur individuellen Wiedergutmachung gehört ferner auch das große Gebiet der Rückerstattung. Nachdem die Rückerstattung in Natur im wesentlichen abgeschlossen ist, sind nunmehr noch die Geldansprüche zu regeln, die an die Stelle der Ansprüche auf Naturalrestitution getreten sind und sich gegen das Deutsche Reich oder gleich zu behandelnde Rechtsträger richten, wenn diese den Vermögensgegenstand entzogen haben. Der Gesetzentwurf wird nach Jahresbeginn 1956 dem Bundeskabinett vorgelegt werden; zur Zeit wird die Begründung im Bundesfinanzministerium fertiggestellt. Der zur Befriedigung dieser Ansprüche vom Bund aufzubringende Betrag steht fest. Er beläuft sich auf 1,5 Milliarden DM. Schließlich kann von dem Gesamtaufwand für die Wiedergutmachung nur gesprochen werden, wenn auch noch die Zahlungen berücksichtigt werden, die von der Bundesrepublik auf Grund des mit dem Staate Israel geschlossenen Abkommens zu leisten sind, Zahlungen, die auch in dem Willen zur Wiedergutmachung ihren Grund haben. Sie betragen insgesamt 3,5 Milliarden DM. Mithin erreicht der Gesamtaufwand für die Wiedergutmachung eine Höhe von 13,75 Milliarden DM, d. h. beinahe 14 Milliarden DM. Wie schon erwähnt, hat der Bundesrat im ersten Durchgang zu der Regierungsvorlage zahlreiche Änderungsvorschläge gemacht. Die Bundesregierung ist bereit, mehreren dieser Vorschläge, besonders auch solchen verfahrensrechtlicher Art, zuzustimmen. Dagegen ist die Bundesregierung der Auffassung, daß ein Zurückgehen auf die geltende Fassung des Gesetzes in dem vom Bundesrat gewünschten Umfang dem Sinn und Zweck der Novelle zuwiderlaufen würde. Dies gilt insbesondere für die von mir bereits als das Kernstück der Novelle bezeichnete Erweiterung des Kreises der voll anspruchsberechtigten Personen durch Einbeziehung der aus Mittel- und Ostdeutschland ausgewanderten Verfolgten. Auch dem vom Bundesrat hinsichtlich der Verteilung der Lasten auf Bund und Länder gemachten Vorschlag vermag die Bundesregierung nicht zu folgen. Der Bundesminister der Finanzen hat es sich frühzeitig angelegen sein lassen, mit den Finanzministern und Finanzsenatoren der Länder über diese Frage eine Einigung herbeizuführen. In der Plenarsitzung des Bundesrates neulich ist bestritten worden, daß eine solche Einigung erfolgt sei; es sei keine Einigung mit dem Finanzausschuß des Bundesrats zustande gekommen. Ich möchte demgegenüber hier betonen, daß ich überhaupt nicht behauptet hatte, es sei eine Einigung mit dem Finanzausschuß des Bundesrates zustande gekommen, sondern ich hatte gesagt: eine Einigung mit den Finanzministern und -senatoren. Ich möchte das ausdrücklich aufrechterhalten. Die Angelegenheit ist von Herrn Minister Schäffer zweimal mit den Finanzministern und Finanzsenatoren in diesem Sinne beraten worden. ({3}) Auf Grund dieser Beratung konnte der Bundesfinanzminister davon ausgehen, daß über die Verteilung der Lasten je zur Hälfte auf den Bund und die Gesamtheit der Länder ein Einvernehmen erzielt worden sei. Eine solche Lastenverteilung folgt zwingend daraus, daß die Aufbringung der Lasten für die Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung eine gesamtstaatliche, von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllende Aufgabe darstellt. Aus dem Wesen dieser Solidarverantwortung ergibt sich die Notwendigkeit, die finanziellen Lasten der Wiedergutmachung gleichmäßig auf die Einzelträger des Gesamtstaates zu verteilen. Dem entspricht der Regierungsentwurf. Der Vorschlag des Bundesrates weicht sowohl im Grundsatz wie im Ergebnis hiervon ab. Die Bundesregierung hat hierzu in ihrer Stellungnahme eingehende Ausführungen gemacht, auf die ich mich beziehen darf. Von allgemeiner politischer Bedeutung scheint der Vorschlag des Bundesrates zu sein, Berlin aus dem allgemeinen Lastenausgleichssystem dieses Gesetzes auszuklammern und auf Bundeszuschüsse zu verweisen. Dieser Vorschlag ist für die Bundesregierung schon deshalb nicht annehmbar, weil er eine betonte Abkehr von der allgemeinen gesamtpolitischen Zielsetzung bedeutet, Berlin als gleichberechtigtes Glied der Bundesrepublik zu behandeln und es demgemäß an allen Regelungen mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen zu lassen wie die übrigen Länder des Bundesgebiets. Von dieser Generallinie kann sich der Bundesrat auch nicht mit der Begründung entfernen, daß ihre Einhaltung mit gewissen finanziellen Opfern für die übrigen Länder verbunden sei. Die Bundesregierung möchte die Hoffnung nicht aufgeben, daß es während der Behandlung des Gesetzentwurfs durch den zuständigen Ausschuß des Hohen Hauses gelingen möge, in weiteren Beratungen mit den Herren Finanzministern und -senatoren der Länder über die Verteilung der Entschädigungslasten eine Einigung zu erzielen, damit nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Bundestag eine Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat und damit eine Verzögerung des Inkrafttretens des Gesetzes vermieden wird. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß auch dieser Gesetzentwurf unerachtet der vielen materiellen Verbesserungen, die er bringt, noch der Kritik ausgesetzt sein wird. Denn es liegt nicht im Bereich des finanziell Möglichen, alle Erwartungen der Verfolgten in vollem Umfang zu erfüllen. Immerhin haben wir bereits mit Genugtuung erfahren, daß von verschiedenen Verbänden der Verfolgten im Inland und im Ausland die Arbeit des Arbeitskreises mit Worten des Lobes und Dankes anerkannt und der Gesetzentwurf als ein erheblicher Fortschritt begrüßt worden ist. Auch die Bundesregierung glaubt durch diesen Gesetzentwurf nunmehr im wesentlichen den Wünschen Rechnung getragen zu haben, deren Erfüllung im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten von Bund und Ländern liegt. Sie ist deshalb der Meinung, daß mit dem Erlaß dieses Gesetzes nunmehr die abschließende bundesgesetzliche Regelung des Rechtes der Entschädigung getroffen sein wird. Sie ist mit diesem Gesetzentwurf bis an die Grenze des für Bund und Länder finanziell noch Tragbaren gegangen. Das ist offenbar auch die Ansicht des Arbeitskreises gewesen. In seiner letzten Sitzung hatte der Arbeitskreis nach Abschluß seiner Arbeiten zum Ausdruck gebracht, daß der von ihm ({4}) erarbeitete Gesetzentwurf, den die Bundesregierung nunmehr als Regierungsvorlage einbringt, in sich vollkommen ausgewogen sei und jedenfalls in seinen Grundzügen bei den parlamentarischen Beratungen unangetastet bleiben müsse, wenn er nicht als Ganzes in Frage gestellt sein solle. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Runge.

Hermann Runge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001905, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne die Wertschätzung des Herrn Staatssekretärs, die er in diesem Hause genießt, auch nur im geringsten herabmindern zu wollen, muß ich sagen: Der Bedeutung des Gesetzentwurfs dürfte es doch wohl entsprochen haben, wenn einer der beteiligten Ressortminister zumindest durch seine Anwesenheit diese Bedeutung dokumentiert hätte. ({0}) Es handelt sich ja nicht nur um ein technisches Gesetz für irgendeinen Kreis, den es zu befriedigen gilt, sondern es handelt sich um ein Gesetz, das neben den materiellen Auswirkungen noch eine ungeheure moralische Bedeutung nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Weltöffentlichkeit hat. ({1}) Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung liegt nun dem Hohen Hause vor. Die Form des Zustandekommens dieses Gesetzentwurfs durch das Zusammenwirken von Vertretern der Legislative und der Exekutive darf zweifellos als ein Novum auf diesem Gebiet angesehen werden. Es ist ein langer Weg von den ersten Ländergesetzen bis zu dieser Vorlage. Abgesehen von den Schwierigkeiten der Materie, zum Teil bedingt durch die Vielfalt der Verfolgungsmaßnahmen, durch die Vielfalt der Verfolgungsmerkmale, bedingt durch die Vielzahl der an den Verfolgungsmaßnahmen Beteiligten, seien es Einzelpersonen, seien es Organisationseinheiten der NSDAP oder ihrer Gliederungen, seien es als Ausbruch der Volkswut deklarierte Maßnahmen, seien es gesetzgebende Maßnahmen des Unrechtsstaates, abgesehen davon kann ich an der Feststellung nicht vorbei - ich glaube, die Abwesenheit der Minister beweist es -, daß das echte Wiedergutmachungswollen in Deutschland noch nicht genügend fundiert ist. ({2}) Ich fühle mich in diesem Augenblick trotzdem verpflichtet, den Mitgliedern des Arbeitskreises aus den verschiedenen Ressorts, den Vertretern des Bundesrates und den Kollegen aus diesem Hause, die diese Vorlage erarbeitet haben, im besonderen dem Vorsitzenden, Herrn Ministerialdirektor Dr. Wolff, unseren Dank auszusprechen. ({3}) Wir haben in den vergangenen Monaten sehr oft - ich glaube, nicht unberechtigt - an der Dauer dieser Beratungen Kritik geübt. Doch wir haben uns immer wieder zufrieden gegeben, weil man uns erklärte, man wolle den Versuch unternehmen, nunmehr etwas Sinnvolles zu schaffen. Ich muß an dieser Stelle auf eins aufmerksam machen. Daß in der Begründung dieses Entwurfs darauf hingewiesen wird, daß die Wünsche der Verfolgten selbst in maßvoller und sachlicher Form zum Ausdruck gebracht wurden, spricht für diesen Personenkreis und sollte von dem Hohen Haus nicht übersehen werden, ({4}) besonders auch im Hinblick auf das Verhalten gewisser Kreise, die sich heute entrechtet fühlen. ({5}) Es ist hier nicht die Zeit und der Ort, auf noch vorhandene Änderungsvorschläge im einzelnen einzugehen. Das soll den Beratungen des Ausschusses für Wiedergutmachung vorbehalten bleiben. Ich hoffe, wir dürfen, so wie es bisher in den Vorbesprechungen auch schon der Fall war, die Auffassung vertreten, daß wir im Bundestagsausschuß für Wiedergutmachung zu einer weiteren sinnvollen Regelung kommen werden. Einige generelle Bemerkungen möchte ich mir jedoch gestatten. Die Präambel des Entwurfs bejahen wir im wesentlichen, doch wird damit keine Rechtsnorm aufgestellt und keine Rechtsverbindlichkeit geschaffen. Sie hat daher in der Praxis nur deklamatorischen Wert. Es muß der Versuch unternommen werden, durch Übernahme der Präambel als eines Paragraphen des Gesetzes auszuschließen, daß es künftig bei Inanspruchnahme des Rechtswegs dem einzelnen Richter vorbehalten bleibt, darüber zu befinden, ob das Verhalten der Verfolgten im Dritten Reich gesetzmäßig war oder nicht. Es liegen zwar Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vor. Ich darf an die Entscheidung vom 12. November 1954 erinnern, in der es heißt: Ziel und Zweck der Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzgebung ist, das verursachte Unrecht so bald und so weit als möglich wiedergutzumachen. Eine Auslegung des Gesetzes, die möglich ist und diesem Ziel entspricht, verdient daher den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht. Wir freuen uns über diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Sie dürfte zweifellos eine Leitentscheidung für viele untergeordnete Organe sein. Aber ich glaube trotzdem, daß auch diese Entscheidung nicht schlüssig genug die Feststellungen trifft, die notwendig sind, damit nicht noch 10 bis 23 Jahre nach der Zeit der Verfolgung immer wieder die Rechtmäßigkeit des Widerstandes durch irgendwelche Einzelrichter oder andere Instanzen in Frage gestellt wird. Es handelt sich doch neben dem Kreis von Personen, die aus religiösen und rassischen Gründen verfolgt wurden, um einen Kreis von Menschen, die unter Aufrechterhaltung der demokratischen Prinzipien im und gegen den Unrechtsstaat gewirkt haben. Bitte, es ist jetzt nicht die Zeit und nicht der Ort, das furchtbare Geschehen jener Tage, Wochen und Monate noch einmal in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen. Aber wir dürfen doch eines nicht vergessen: daß der Kreis der Menschen, die auf Grund der politischen Erkenntnis sich von vornherein gegen die Maßnahmen des Unrechtsstaates stellten, vor allen Dingen erweitert wurde ({6}) durch jene furchtbaren, unmenschlichen Maßnahmen, daß er weiterhin gefördert wurde - bitte, entsinnen Sie sich dessen noch einmal - durch die Hilfeschreie der Gefolterten, der Gequälten, die ihnen in den Ohren gellten. Es handelt sich hier also um einen Kreis von Menschen, die bewußt dem Unrecht entgegengetreten sind. Schließlich handelt es sich um einen Kreis von Menschen, die, wenn sie nicht zur Emigration gezwungen waren, soweit sie nicht physisch vernichtet waren, in der Zeit nach dem Zusammenbruch mit den Resten der nicht geflohenen Beamten und Angestellten in den Gemeinden und Landkreisen sich zusammenfanden, um den vollkommenen Verfall der Kommunalverwaltung zu verhüten und die Versorgung der Bevölkerung im Rahmen des Möglichen zu sichern, die sich, da ja keinerlei zentrale Spitze vorhanden war - ich bitte auch hier, sich an jene Tage zu erinnern -, bewußt oder unbewußt für das ganze Volk, ja schließlich für ganz Deutschland verantwortlich fühlten. Auch das sollten wir in dieser Stunde nicht vergessen. Wir erkennen die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Verbesserungen - ich denke besonders an die im Ersten Titel, §§ 1 bis 9, enthaltenen Verbesserungen - durchaus an und begrüßen die Einbeziehung eines in räumlicher Beziehung weiteren Kreises. In der Frage der Regelung des Schadens im beruflichen Fortkommen scheint uns der Entwurf noch nicht weit genug zu gehen, besonders im Hinblick auf weite Kreise der Angestellten und vor allen Dingen der freien Berufe. Auch der § 36 muß nach unserer Auffassung einer eingehenden Prüfung daraufhin unterzogen werden, ob er in der bisherigen Fassung aufrechterhalten bleiben soll. Ohne eine Sippenhaftung oder den Versuch, einen neuen Unrechtsstaat zu schaffen oder auch nur den Rechtsstaat, den wir aufzubauen uns bemühen, zu verlassen, sollte es, glaube ich, ein Akt der Gerechtigkeit sein - und das steht meiner Auffassung nach nicht im Widerspruch zu einem Rechtsstaat-, zu sagen: Die Verfolgten oder im Todesfall deren Hinterbliebene dürfen nicht schlechter gestellt sein als die geistigen Urheber von Verbrechen oder diejenigen, die Verbrechen begangen haben oder sich sonst mitschuldig gemacht haben. Darf ich zum Beweise dafür mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus der Zeitschrift der politisch Verfolgten einige solche Vergleiche bekanntgeben, um zu zeigen, was ich mit dieser ungleichmäßigen Behandlung meine? Der ehemalige nationalsozialistische Bürgermeister von Osnabrück und enge Mitarbeiter des nationalsozialistischen Gauleiters Florian, Herr Windgassen, erhielt ein monatliches Ruhegehalt von 950 Mark. Der bis 1945 amtierende Oberbürgermeister von Bielefeld, Budde, der zeitweilig auch Kreisleiter .war, bekam 21 000 Mark nachgezahlt. ({7}) Der ehemalige Bürgermeister von Dortmund, SAObersturmbannführer Dr. Pagenkopf, erhielt nach dem Beschluß des Landgerichts Dortmund 42 000 Mark nachgezahlt. ({8}) Ich glaube also, die Erfahrung zeigt uns, daß es einem Rechtsstaat durchaus ansteht, hier gleiches Recht für die Verfolgten zu schaffen. Dem steht die Entscheidung des Bundesrates gegenüber, unter keinen Umständen eine höhere Rente als 700 Mark (1 im Monat zu geben. In den letzten Tagen ist uns ein weiterer Fall bekanntgeworden. Ein Oberreichsanwalt des Volksgerichtshofs erhält seit mehreren Jahren eine monatliche Rente von mehr als 1300 Mark, ({9}) während die Frau eines von diesem Volksgerichtshof Verurteilten, der früher im öffentlichen Leben eine große Rolle gespielt hat und als Widerstandskämpfer anerkannt war, 250 DM im Monat bekommt. ({10}) Der § 72 bedürfte in seinem materiellen Inhalt ebenfalls noch einmal der Überprüfung. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es an einer Stelle: Die Bundesregierung hat sich dabei, und zwar schon nach der bisherigen Regelung, von dem Gedanken leiten lassen, daß es Humanitätserwägungen sind, die im Rahmen des innerdeutschen Entschädigungsrechtes Hilfsmaßnahmen auch für solche Personen notwendig machen, die sich wegen ihrer durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen ihnen zugefügte Schäden an keinen Schutzstaat oder keine zwischenstaatlichen Organisationen wenden können. Es handelt sich hier um die DP's, die sich nicht freiwillig ein Stelldichein in Deutschland gegeben haben. ({11}) Man spricht hier begrüßenswerterweise von Humanität. Dann sollte man aber auch bei der praktischen Durchführung dieses Gesetzes dazu übergehen, denjenigen, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht 25 DM von den allen anderen pro Monat der erlittenen Haft zustehenden 150 DM abzuziehen. ({12}) Es ist nicht zu bestreiten - das sollte von diesem Hohen Hause besonders bedacht werden -, daß diese zuungunsten der DP's vorgesehene Regelung im Ausland, besonders in den USA, außerordentlich stark beachtet worden ist. ({13}) In den Verfahrensvorschriften ist zwar wie im Ersten Bundesergänzungsgesetz vom 2. Juli 1953 auch in diesem Entwurf festgelegt, daß die Entschädigungsorgane von Amts wegen alle für die Entscheidung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und alle erforderlichen Beweise zu erheben haben. Der Text gleicht also dem anderer Gesetze, bei deren Durchführung Ermittlungen notwendig sind. Die Praxis bei den Entschädigungsbehörden hat leider vielfach andere Ergebnisse gezeigt; diejenigen, die in der Wiedergutmachung tätig sind, wissen darum. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich wiederum einige Fälle zitieren, die mein Parteifreund Möller im Landtag von Baden-Württemberg vorgetragen hat. Mein Parteifreund Möller war vor einiger Zeit in Amerika und ist dort von der amerikanischen Öffentlichkeit und von deutschen Stellen in Amerika auf diese Fragen hingewiesen worden. Er gab dem Landtag von ({14}) Baden-Württemberg einige Beispiele bekannt, die ich hier erwähnen möchte: Ein jetzt 17jähriges Mädel überlebte als einziges Familienmitglied Auschwitz. Die Nummer ist im Arm eingeätzt. Neben der eigenen eidesstattlichen Erklärung werden von diesem bei der Rettung damals siebenjährigen Mädchen heute noch zwei Zeugen mit zwei Erklärungen verlangt. ({15}) Ein anderer Fall: Ein Mann, der sich längere Zeit in Schutzhaft befunden hat, wird heute aufgefordert, die Namen der Gefängnisbeamten zu ermitteln. ({16}) Eine Arztwitwe aus Baden kommt seit 1950 mit ihrem Verfahren nicht weiter, obwohl ihr Mann 1938, weil er verfolgt wurde, Selbstmord verübt hat. Und schließlich noch ein anderer Fall: Ein früherer Regierungsrat im Polizeidienst in Nordbaden hat einen Rückerstattungsantrag vorgelegt mit einem Anspruch auf 2000 DM für Verlust der Bibliothek. Die Kammer erläßt einen Beweisbeschluß und verlangt ein Verzeichnis aller 900 Bücher mit Titel, Anschaffungsjahr und Anschaffungspreis ({17}) sowie Einkaufsbescheinigungen der Buchhandlungen. ({18}) - Wahrscheinlich. Ich könnte die Reihe solcher Fälle beliebig erweitern. Auf einen Fall gestatten Sie mir aber noch hinzuweisen. Mir liegt eine Abschrift der Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung Karlsruhe vor. Es heißt dort: Betrifft: Ihre Wiedergutmachung. Wir bedauern, Ihren über den ehemaligen öffentlichen Anwalt beim Amtsgericht Sinsheim eingereichten Antrag auf Auszahlung einer Haftentschädigung vom 9. 2. 1952 ablehnen zu müssen. Es folgt dann die Aufzählung der von dem Antragsteller benannten Beweismittel. Dann heißt es in der Begründung weiter - ich zitiere -: Für die Freiheitsentziehung fordern Sie Haftentschädigung. Daß Sie aus den obengenannten Gründen verfolgt wurden, ist nicht ausreichend nachgewiesen. - Es handelt sich um einen ungarischen Staatsangehörigen. Es ist zwar denkbar, daß Sie aus rassischen Gründen oder wegen Ihrer früheren Mitgliedschaft in der SPD festgenommen worden sind. Hiergegen spricht jedoch, daß Sie im Augenblick der Verfolgung Konsulatssekretär, d. h. Mitglied des ungarischen Konsulats Dresden waren und die ungarische Staatsangehörigkeit besaßen. Es ist zwar vorgekommen, daß die Polizei der nationalsozialistischen Gewalthaber auch „Exterritoriale" aus rassischen Gründen verhaftete. Bei der Behauptung einer derartigen Form einer von der üblichen Praxis abweichenden Inhaftierung obliegt es jedoch Ihnen, den Nachweis zu führen, daß Sie wegen Ihrer Rasse oder aus politischen Gründen in Haft genommen wurden. Was sollen solche Beweisanforderungen noch bedeuten, wenn man überhaupt von Wiedergutmachung reden will? Schließlich noch ein Fall - und damit möchte ich die Aufzählung solcher Fälle abschließen - aus dem „Aufbau", einer Veröffentlichung in New York. Darin heißt es an einer Stelle, Frau X sei 86mal das Experimentieropfer des berüchtigten Dr. Clauberg gewesen, dessen Name in Deutschland wieder bekanntgeworden ist. ({19}) - Ja, der ist berüchtigt. Er war, glaube ich, in Auschwitz. 86mal wurde ihr Körper zu Experimentierzwecken malträtiert, aber eine Rente wird dieser Frau abgelehnt, weil nach dem Urteil eines Obergutachters, der sie nie im Leben gesehen hat, die - zwar anerkannten - Experimentierversuche nicht zu dem gewünschten Sterilisierungserfolg geführt hätten und ihr Leiden „anlagebedingt" sei. ({20}) Die Scham sollte eigentlich den Menschen bei solcher Beweisführung ins Gesicht steigen. Ich möchte also dringend bitten, die Betroffenen nicht in eine Beweisnot zu bringen und damit das Gesetz zu einem großen Teil illusorisch zu machen. Ich gestatte mir hier den Vorschlag an die Regierung, von Amts und Staats wegen eine Zentralstelle zu schaffen -- am zweckmäßigsten beim Innenministerium -, bei der die in Frage kommenden Erlasse aus der NS-Zeit, vor allem die Geheimerlasse, sowie alle übrigen notwendigen Unterlagen gesammelt werden, auf Grund deren Maßnahmen gegen Organisationen und Einzelpersonen ergriffen wurden oder aus denen ersichtlich ist, daß eine Verfolgung bezweckt wurde, z. B. mit der Zuweisung zu Wehrmachtbewährungseinheiten wie der Einheit 999, was zum Teil trotz der Entscheidung des Landgerichts Bremen noch strittig ist. Ich denke auch an den Aufenthalt in Ghettos und verweise auf die aufgetauchte Zweifelsfrage Schanghai. Hier sollte das Material gesammelt werden, um den Nachweis führen zu können, daß es sich bei diesen Maßnahmen um einen echten Freiheitsentzug handelte. Ich darf hier auch an die „Sternträger" in Deutschland erinnern, die zeitweilig Ausgehverbot hatten. Dabei kam es sehr oft vor; daß während der Verbotszeiten im Falle akuter Erkrankung nicht sofort die notwendige Hilfe erreichbar war und der Tod eintrat. Alle diese Fragen werden wir noch gründlich zu überlegen haben. Wir müssen den Ermessensspielraum so eng wie möglich gestalten, um einmal zu einer sinnvollen und zügigen Wiedergutmachung zu kommen. Es ist bekannt, daß die alliierten Gerichte über solches Material verfügen. Sollte es der Bundesregierung unmöglich sein, solche Unterlagen zu beschaffen? Vielleicht können wir ihr dabei helfen, vielleicht auch die Kreise der Alliierten. Ich glaube jedenfalls, daß damit vielen Menschen in ihrer Beweisnot geholfen werden könnte. Nach zehn Jahren ist es zwar spät, aber, ich glaube, noch nicht zu spät. Der Begriff der Freiheitsentziehung darf in diesem Gesetz ({21}) keineswegs enger gefaßt werden als nach allgemeinen Rechtsbegriffen. Man sollte ihn eigentlich unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse weiter fassen. Ein Wort noch zu dem Zahlenspiel, mit dem in der Öffentlichkeit operiert wird. Ich möchte auch hier sagen: Der einfache Staatsbürger - ich habe es in den letzten Tagen und Wochen selbst oft erfahren können in meiner Tätigkeit draußen in der Öffentlichkeit - schaudert, wenn er von der Globalsumme von 14 Milliarden hört. Dabei ist doch fast die Hälfte der Summe eine Rückerstattung einfach gestohlenen Eigentums! Der Kriegsbeschädigte staunt ob solcher Zahlen bei Betrachtung seiner kärglichen Rente. Der Vertriebene, der Ausgebombte steht vor der Überlegung, mit welchen Mitteln er seine Existenz wiederaufbauen soll. Der in kein Wohnungsbauschwerpunktprogramm passende Wohnungsuchende wünscht sich neidvoll einen winzigen Teil einer solchen ungeheuren Summe, um eventuell durch einen verlorenen Baukostenzuschuß in den Besitz einer Wohnung zu kommen. Wenn ich das sage, so nicht darum, weil ich die Auffassung verträte, die politisch Verfolgten hätten sich irgendwie zu entschuldigen ob solcher Summen, sondern nur, weil draußen durch das Hantieren mit solchen Globalsummen sehr viel Unzufriedenheit gestiftet wird. Wie sieht denn die Praxis in der Wirklichkeit aus? In den sechs Jahren von 1948 bis 1954 sind nach den Angaben der Regierung - Bundestagsdrucksache 1611 - nur 1 014 914 787 DM ausgegeben worden. Das heißt, in zehn Ländern ist in sechs Jahren nicht der Betrag verbraucht worden, den der Bund in einem Jahr für die Ansprüche aus dem Bundesgesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes ausgibt. ({22}) Man sollte den staunenden Staatsbürgern draußen noch einmal sagen, daß der materielle Schaden, den das NS-Regime verursacht hat, ein Vielfaches selbst dieser global vorausgeschätzten Summe für die Wiedergutmachung beträgt. Das seelische Leid der Betroffenen und deren Angehörigen ist überhaupt nicht meßbar und kann gar nicht gutgemacht werden. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, was mein Parteifreund Schoettle in der vergangenen Woche anläßlich der Beratung des Etats von dieser Stelle aus zu der Frage der Wiedergutmachung gesagt hat. Um so bedauerlicher ist es, daß der Bundesrat durch die Vielzahl der Änderungsanträge, die der Herr Staatssekretär eben vorgetragen hat, jetzt noch Schwierigkeiten zu bereiten versucht. Ich habe mit Zufriedenheit und mit Freude zur Kenntnis genommen, daß der Staatssekretär erklärt hat, die Bundesregierung habe noch nicht endgültig zu den Änderungsvorschlägen Stellung genommen. Aber ich habe aus seinen Worten entnommen, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, diese Änderungsvorschläge im wesentlichen zu akzeptieren. Das Gesetz kann und darf an den Finanzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern weder scheitern noch in seiner Leistung irgendwie geschmälert werden. ({23}) Ich bitte also die Damen und Herren dieses Hohen Hauses: Lassen Sie, wenn wir an die Gestaltung dieses Gesetzes gehen, bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs noch einmal all das furchtbare Geschehen jener Zeit in Ihrer Erinnerung wach werden. Ich weiß, wenn das geschieht, dann wird, auch wenn nicht im Gesetzestext die Worte „Großherzigkeit und Menschlichkeit" stehen, der Geist des Gesetzes - dessen bin ich gewiß - die Begriffe Großherzigkeit und Menschlichkeit, die gerade in diesem Gesetz fundiert sein müssen, in sich bergen. Diesen Wunsch möchte ich auch bereits an dieser Stelle an die Länder und die Durchführungsbehörden richten, damit sie jetzt schon die Voraussetzungen sachlicher und personeller Art schaffen, daß das Gesetz, wenn es - was wir alle hoffen - zum 1. April wirksam wird, mit der gebotenen Eile und mit der gebotenen Flüssigkeit sinnvoll durchgeführt werden kann, besonders auch im Hinblick darauf, daß, wie wir aus den Feststellungen der Regierung in der Bundestagsdrucksache 1611 feststellen mußten, allein von den zehn Ländern von den in den sechs Jahren bewilligten Mitteln für die Wiedergutmachung 220 Millonen DM verplante Mittel nicht ausgegeben worden sind, ({24}) obwohl die Not bei dem Kreis der Verfolgten ungeheuer groß ist. Ist es nicht beschämend, wenn mein bereits hier erwähnter Parteifreund Möller bei seinen Reisen in den USA feststellen mußte, daß allein in New York noch 15 000 entschädigungsberechtigte Antragsteller im Alter von über 75 Jahren leben, oder wenn eine Entschädigungsbehörde einem Antragsteller, der im 78. Lebensjahr steht, mitteilt: „Wir bedauern, Ihrem Wunsche, Ihren Antrag durch Verrentung abschließend zu bearbeiten, vorerst nicht entsprechen zu können. Der durch den Aufruf der Bundesregierung begünstigte Personenkreis ist so groß, daß wir diese Anträge nur in bestimmter Reihenfolge bearbeiten können. Hierfür ist das Alter des Antragstellers und das Eingangsdatum des Antrags maßgebend. Zur Zeit werden im Berufsschadenreferat die Anträge der über achtzigjährigen Antragsteller bearbeitet." ({25}) Dieses Schreiben erhält ein Mann von achtundsiebzig Jahren! Es wird also für die Durchführungsbehörden zu überlegen sein, inwieweit man das Personal vermehren kann und muß, eventuell durch Einstellung von Ruhestandsbeamten - darüber müssen Überlegungen angestellt werden -, Ruhestandsbeamten, die sich für diese Tätigkeit interessieren. Auch sollte, glaube ich, Vorsorge getroffen werden, daß die in diesen Ämtern Beschäftig- ten nicht durch die jahrelange Spezialisierung auf dieses Gebiet später Schwierigkeiten in ihrem beruflichen Fortkomen haben oder irgendwie diskriminiert werden. Meine Damen und Herren! Ich sagte eingangs schon: dieses Gesetz hat nicht nur einen materiellen Wert für die Betroffenen; mit dem Gesetz selbst wird der Deutsche Bundestag beweisen müssen, daß er endgültig von jener furchtbaren Zeit abrückt, wo Menschenfreiheit und Menschenwürde ein nicht geachteter Faktor waren. Ich möchte darum sagen: Seien wir uns bewußt, daß neben der materiellen Lösung hier eine ungeheuer große moralische Frage zufriedenstellend gelöst wird. Seien wir uns bewußt, daß wir mit der Lösung dieses Problems einen Teil der Menschheitsaufgabe lösen, von der ein großer Deutscher einmal sagte: ({26}) Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie fällt mit euch, mit euch wird sie sich heben. ({27})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Bevor ich das Wort weiter erteile, habe ich bekanntzugeben: Der Ältestenrat tritt heute um 17 Uhr im Raum 119 P zusammen. Der Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit tritt heute um 16.30 Uhr im Raum 116 A zusammen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Böhm.

Dr. Franz Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000215, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Novelle, die heute Gegenstand unserer Beratungen ist, hat ihren Anlaß in einem Ereignis, das wir als das weitaus größte Unglück unseres Volkes im Laufe seiner Geschichte überhaupt bezeichnen dürfen. ({0}) Niemals im Laufe von zwei Jahrtausenden ist etwas geschehen, was den deutschen Namen, die Ehre unseres Volkes so furchtbar in Mitleidenschaft gezogen hat wie die Verfolgungsverbrechen des Dritten Reiches. ({1}) Das ist für ein Volk ein viel größeres Unglück als jede noch so schwere Niederlage in einem noch so großen Krieg, als ein noch so tiefes Sinken in seiner Macht, als der Verlust von Provinzen, als die Abspaltung, als die Teilung, als alles, was an Unglück und Unheil von außen ein Volk treffen kann. Denn hier ist das Furchtbare, daß dieses Unheil uns von innen her, aus uns selbst getroffen hat. Große Volksmassen haben eine politische Bewegung in den Sattel gesetzt und ihr zur Macht verholfen, die in ihrem Programm die Absicht, grausamste Mittel anzuwenden und jede Menschlichkeit beiseite zu setzen, offen angekündigt hat, die unter der Parole „Deutschland erwache! Juda verrecke!" in die Macht marschiert ist, die durch die beispiellose Roheit dieses Satzes „Juda verrecke!" schon deutlich machte und deutlich machen wollte, wes Geistes Kind sie war. ({2}) Sie wollte von vornherein zeigen, welche Sorte von Mitbürgern sie um ihre Fahnen zu scharen wünschte. ({3}) Ich erinnere mich dieser Zeiten noch durchaus. Niemand von uns, auch diejenigen nicht, die von tiefstem Abscheu gegen diese Bewegung ergriffen waren, haben jemals geglaubt, daß und in welchem Umfang diese Menschen mit ihrer Drohung „Juda verrecke!" und mit ihren Inhumanitätsparolen Ernst machen würden. Viele von uns haben geglaubt, es handle sich hier um eine wilde, blutrünstige Propaganda, um ein Großsprechertum. Die eisige Kälte, mit der nachher diese Massenverbrechen vollzogen worden sind, hat niemand vorhergesehen. Die Tatsache, daß wir eine Zeit so beispielloser Kollektiv- und Massenverbrechen, staatlich angeordneter und vollzogener Verbrechen von einem gewaltigen Massenumfang in unserem Volk haben erleben müssen, macht für uns die Frage der 'Wiedergutmachung, ich möchte sagen, zu einer innenpolitischen und verfassungspolitischen Lebensfrage. ({4}) Ich denke jetzt nicht so sehr daran, daß wir das verlorene oder erschütterte Ansehen in der Welt wieder gewinnen wollen, sondern ich denke an die Beseitigung der demoralisierenden Wirkungen, die das Mitansehen dieser Verbrechen, das jahrelange Umjubeln einer verbrecherischen Regierung und eines verbrecherischen Systems bei uns, unter uns selbst hervorgerufen haben. Diese Verwüstungen der politischen Moral, des politischen Geistes und der politischen Ehrenhaftigkeit gehen niemals ohne Spuren an einem Volk vorbei. ({5}) Diese Spuren durch einen politischen Gesundungsprozeß so schnell wie möglich zu beseitigen, muß unser erstes Anliegen sein. Von dem Erfolg, mit dem wir das tun, hängt das politische Gesicht unserer Bundesrepublik, unserer neuen Demokratie ab. ({6}) Wir haben uns nach einer furchtbaren Krankheit neu zu konstituieren. Es ist menschlich, wenn ein Volk wie das unsere ungern an diese Verbrechen denkt; es ist menschlich, daß die meisten Menschen nicht gerne davon sprechen; es ist menschlich, daß sie versuchen, es zu verdrängen. Aber gerade dies ist es, was wir unter gar keinen Umständen tun dürfen. Es handelt sich nicht darum, daß wir immer wieder in den eigenen Wunden wühlen, sozusagen eine Art von Flagellantismus betreiben, aber es handelt sich darum, daß I wir eine ganz klare Bilanz von dem Umfang des Unheils ziehen und daß wir uns ganz klar sind über das, was wir wollen. Wenn wir dieser Verpflichtung genügen, ist es unvermeidlich, daß wir nicht immer die äußerste Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen können. ({7}) Das ist völlig ausgeschlossen. Es ist auch unehrenhaft, ganz abgesehen davon, daß es uns vor der Welt und im Inland in ein völlig falsches Licht rückt. Eine der politischen Leistungen, die wir vollbringen müssen, um das politische Gesicht unseres Volkes wieder entscheidend zu ändern und den inneren Gesundungsprozeß vorwärtszutreiben, ist eine ausreichende Entschädigung des angerichteten materiellen Unheils. Ich spreche gar nicht - das ist ein noch schwierigeres Kapitel - von der Wiedergutmachung des nichtmateriellen Leides, die auch bewirkt werden kann, und zwar durch Güte, durch Liebe und durch freiwillige Hilfsbereitschaft. Ich möchte nicht verfehlen, zu sagen, daß es vielfach beschämend ist, wenn die Opfer dieser Verfolgung in weiten Kreisen unserer Mitbürger, darunter auch wirklich gutartiger und wohlgesinnter Mitbürger, mit scheelen Augen angesehen werden. ({8}) Das hängt auch damit zusammen, daß man die Zeugen des Unrechts, das aus dem eigenen Volk hervorgegangen ist, nicht gerne sieht. Aber man hätte doch erwarten sollen, daß nach dem Zusammenbruch des Nazistaates die Herzen von Millionen Deutschen den Opfern der Verfolgung viel ({9}) heißer entgegengeschlagen wären und daß das Renommieren mit dem eigenen Leid, mit den Bombennächten, mit der Ausbombung und mit dem Flüchtlingselend usw. nicht so in den Vordergrund getreten wäre, sondern vielmehr in allererster Linie unser Gefühl für diejenigen, die durch unsere Schuld, durch die Schuld eines deutschen Staates, auf verbrecherische Weise in das furchtbarste Unglück geraten sind. ({10}) Wir haben einige Aussprachen im Plenum gehabt, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich hier sage, daß im vergangenen Jahre das öffentliche Interesse, auch das Interesse der Presse, an Fragen der Wiedergutmachung sichtbar zugenommen hat. Eigentlich habe ich befürchtet - und viele andere auch -, daß, je mehr wir die ärgste eigene Notlage überwunden haben, je mehr wir wieder in den Kreis der geachteten Völker einrücken, desto mehr das Interesse an der Wiedergutmachung abnehmen wird. Aber es ist zum großen Glück - und daraus schöpfe ich große Hoffnungen - nicht so gewesen. Im letzten Jahr sind ganz zweifellos in der öffentlichen Meinung ein größeres Interesse an der Wiedergutmachung und ein größerer Wiedergutmachungsernst zu beobachten gewesen. Das betrifft auch die sehr vielen Personen, die in Bund und Ländern sowohl mit der gesetzgeberischen Arbeit als auch mit der Anwendung der Gesetze in den Wiedergutmachungsbehörden und mit der Auslegung der Gesetze bei den Gerichten befaßt sind. Bisher waren diese in dem Wiedergutmachungswerk tätigen Personen, viele, viele Tausende im Bund und in den Ländern, die einzigen, die unermüdlich an dem praktischen Werk der Wiedergutmachung gearbeitet haben. Sie haben von unserer Seite für Fehler, die hier unterlaufen sind, gelegentlich auch etwas skandalisierende Fehler, manches kritische und herbe Wort zu hören bekommen. Mir scheint aber, daß wir den heutigen Tag zum Anlaß nehmen sollten, diesen vortrefflichen Tausenden, die in allen möglichen Ämtern, teilweise mit mangelnder Vorschulung, sich um den praktischen Vollzug der Wiedergutmachung bemüht haben, unseren Dank und unsere Hochachtung zu erweisen; denn sie waren lange und streckenweise die einzigen, die diese wichtigste Aufgabe unserer Nachkriegspolitik wirklich vorwärtsgetragen haben. ({11}) Der Erfolg der Wiedergutmachung ist aber - das muß auch einmal festgestellt werden - nicht nur eine Frage des guten Willens und auch nicht nur eine Frage der Bereitstellung und Aufbringung der dazu notwendigen Mittel. Sehr viele Schwierigkeiten, namentlich die am meisten beklagte Schwierigkeit, die auch tragisch ist, nämlich das außerordentlich langsame Arbeiten der Wiedergutmachungsmaschine, hat ihre Hauptursache nicht in einem Mangel an gutem Willen, sondern in technischen Dingen, in der Schwierigkeit der Gesetzgebung, in der Schwierigkeit der Gesetzesanwendung, in der Schwierigkeit der Gesetzesauslegung, mit anderen Worten in der Sachschwierigkeit des Problems. Hier kann nun sehr vieles geschehen. Wir haben uns in den letzten Sitzungen hauptsächlich mit den Behörden, die das Gesetz anzuwenden haben, und mit den Gerichten befaßt. Wir müssen uns heute mit uns selbst als dem Gesetzgeber befassen. Denn ganz zweifellos haben viele der von uns beklagten Mißhelligkeiten bei der Gesetzesanwendung und bei der Gesetzesauslegung ihre Quelle in technischen Fehlern der Gesetzgebung. Das ist kein Vorwurf, den man der Moral oder dem Fleiß oder der Geschicklichkeit der Menschen machen dürfte, die an diesem Werk gearbeitet haben, sondern wir müssen uns hier vergegenwärtigen, daß noch niemals in der Geschichte ein Massenverbrechen eine Wiedergutmachung solchen Umfangs nach sich gezogen hat. Es gibt in der Geschichte keine Vorbilder dafür. Das, was in dem Verhältnis zwischen Schottland und England in der Zeit der Stuarts an Restitutionen gemacht worden ist, und das, was im Anschluß an die französische Revolution später an Wiedergutmachung für politische Enteignungen geschehen ist, ist ein Kinderspiel gegenüber dem, was uns heute als Aufgabe obliegt. Wir haben kein historisches Beispiel, und die Verschiedenheit der Schädigungstatbestände und der Schicksale ist enorm. Der Arbeitskreis, der zunächst einmal damit befaßt war, diesen Novellenentwurf vorzubereiten - den sich dann die Bundesregierung als Regierungsvorlage zu eigen gemacht hat -, stand nicht nur der Aufgabe gegenüber, die Wiedergutmachung in mancher Beziehung zu erweitern, die Personenkreise auszuweiten, mehr Entschädigungsleistungen zu gewähren und das Gesetz zu verfeinern, sondern auch vor der Aufgabe, das Gesetz technisch möglichst praktikabel zu machen. Auf diesem Gebiet wird nunmehr in unseren Ausschüssen ({12}) doch noch das eine oder andere zu leisten sein. Trotzdem bleibt alles in allem die bestürzende und beklemmende Bilanz bisher ein schmerzliches Zurückbleiben der Entschädigung hinter der Höhe des angerichteten Schadens und eine sehr große Langsamkeit der Wiedergutmachung. Was Herr Kollege Runge hier von den Achtzigjährigen und darüber gesagt hat, daß bei manchen Wiedergutmachungsämtern noch die Ansprüche von 78jährigen, 75jährigen, von über 70jährigen Wiedergutmachungsberechtigten befriedigt werden müssen und daß die vielen jahrelang schwebenden Ansprüche der Jüngeren und der gottlob Gesunden hintanstehen müssen, das ist eine schwere Sache. Auf der anderen Seite aber kommt es jetzt immer häufiger vor, daß man im Inland und im Ausland auch Wiedergutmachungsberechtigten begegnet, die ihre Entschädigung erhalten haben und die auch mit Worten des Dankes und der Anerkennung nicht zurückhalten, obwohl sie natürlich bei weitem nicht für das entschädigt worden sind, was sie erlitten haben. Ich war vor wenigen Tagen bei einer Weihnachtsfeier eines Verfolgtenverbandes, dessen Weihnachtsfeier ich auch vor einem Jahr miterlebt habe. Bei dieser Gelegenheit habe ich tatsächlich feststellen können, daß bei einem Teil, und zwar bei einem nicht ganz kleinen Teil der Teilnehmer inzwischen die Entschädigungsbescheide ergangen waren. ({13}) Ich habe bei dieser Feier auch einige glückliche Gesichter gesehen. Wir sind aber noch nicht über den Berg, auch nicht in bezug auf ein Nachlassen des Wiedergutmachungsernstes. Sogar das, was wir als den spe({14}) zifisch fiskalischen Geist in einigen unserer Sitzungen behandelt und gerügt haben, hat sich neuerdings trotz der im allgemeinen nicht schlechten Kassenlage unserer öffentlichen Stellen wieder gezeigt, allerdings nicht bei den Bundesstellen, aber bei den Beschlüssen des Bundesrats. Der Bundesrat hat mit Mehrheit eine Reihe der wesentlichsten Verbesserungen, der Kernstücke dieser Reform, die in der Novelle vorliegen, abgelehnt. ({15}) Er ist dabei dem Votum seines Finanzausschusses gefolgt. ({16}) In allen diesen Fällen haben der Wiedergutmachungsausschuß des Bundesrats und der Rechtsausschuß des Bundesrats den Vorschlägen des Finanzausschusses widersprochen und sich für die Regierungsvorlage eingesetzt. Trotzdem ist der Finanzausschuß mit seinem nicht zu verwerfenden -- dazu ist er da! -, aber betont fiskalischen Standpunkt bei der Mehrheit der Landesregierungen durchgedrungen. Das ist um so beunruhigender, als es ja in der Vergangenheit der Bundesrat war, der sozusagen als Bahnbrecher, Schrittmacher und Fackelträger einer fortschrittlichen und guten Wiedergutmachungsgesetzgebung tätig geworden ist. Ja selbst als der 1. Bundestag in seiner letzten Sitzung das Bundesentschädigungsgesetz angenommen hatte, hat am gleichen Tag der Bundesrat eine Kommission eingesetzt, um eine Novelle, eine Verbesserung zu diesem Gesetz zu beraten, weil er das Bundesentschädigungsgesetz für keine ausreichende Wiedergutmachung gehalten hat. Er hat diese Novellierungsarbeiten bis in den Mai des letzten Jahres hinein fortgesetzt. Dann hat er sie eingestellt, und seit dieser Zeit ist von seiten des Bundesrats keine Initiative mehr entfaltet worden, ({17}) jetzt neuerdings eine negative Initiative in Gestalt dieser Beschlüsse. Auch mancher Wermutstropfen ist in dem von unserem Arbeitskreis erarbeiteten und Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf enthalten. Vielen berechtigten Ansprüchen konnten wir einfach aus Gründen der begrenzten Leistungskraft nicht entsprechen. Ein Umstand, der mich mit am meisten bekümmert und bedrückt, ist der, daß wir im wesentlichen nur denjenigen eine Entschädigung gewähren, die sich an einem bestimmten Stichtag im Geltungsbereich des Gesetzes befunden haben, daß wir dagegen keine Entschädigung, namentlich keine Vermögensentschädigung, keine Wiedergutmachung für diejenigen Verbrechen leisten, die außerhalb des ehemaligen Reichsgebiets während des Krieges in den besetzten Zonen verübt worden sind. Das sind mengenmäßig die meisten der Verbrechen gewesen. Wir haben uns auf den Standpunkt gestellt, der völkerrechtlich korrekt ist, daß hier Wiedergutmachung nicht an die geschädigten Individuen zu zahlen sein sollte, sondern daß die betreffenden Staaten, in denen diese Personen wohnen, im Wege von Reparationsforderungen diese Entschädigung verlangen können. Aber es sind in der Welt zerstreut zahllose Unglückliche, die von ihren eigenen Regierungen keine Entschädigung erwarten können. Es gibt auch Regierungen, die wenig Aussicht darauf haben, von uns zu irgendeinem Zeitpunkt noch Reparationen zu erhalten, aus denen sie Unterstützungen, die sie bisher freiwillig geleistet haben, nachher abdecken können. Und doch war das, was außerhalb unserer Grenzen geschehen ist, verursacht von dem gleichen Täter, innerhalb des gleichen politischen Machtbereichs, und es war die gleiche Tat. Im übrigen sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen Verbesserungen richten, die uns möglich sind und die die Bundesregierung in ihrem Entwurf vorgeschlagen hat. Ich möchte hoffen, daß es uns bis zu der Verabschiedung dieses Gesetzes gelingen wird, auch in technischer Beziehung noch Verbesserungen in unserem Gesetz anzubringen, die auch eine Beschleunigung der Abwicklung und eine Erleichterung seiner Anwendung mit sich bringen. Es muß hier technische Filigranarbeit geleistet werden. Schließlich muß es unser Bestreben sein, dieses Gesetz so bald wie möglich in zweiter und dritter Lesung zu verabschieden; denn es soll am 1. April des kommenden Jahres in Kraft treten. ({18})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, ich habe bekanntzugeben: Im Hinblick auf die Sitzung des Altestenrats tritt der Kriegsopfer- und Heimkehrerausschuß nicht um 17 Uhr, sondern erst um 17 Uhr 30 im Saal 206 Süd zusammen. Sodann: Der 4. Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses, der mit der Erledigung aktueller Heimkehrerfragen befaßt ist, wird auf 16 Uhr 30 einberufen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reif.

Dr. Hans Reif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht um den Ausführungen meiner I beiden Herren Vorredner noch ein weiteres Bekenntnis zur Moral dessen, was vor uns steht, hinzuzufügen, habe ich mich zum Wort gemeldet, sondern weil ich ganz nüchtern feststellen möchte, daß die Arbeit, die der 1. Bundestag auf dem Gebiete der Wiedergutmachung in jener Eile, die wir alle kennen, geleistet hat, zu einem Ergebnis gekommen ist, das uns zwingt, jetzt im Grunde genommen erst ein wirkliches Gesetz zu machen. Wir haben aber dadurch, daß das Gesetz, wie es jetzt gilt, dem Ermessen einen weiten Spielraum ließ, Gelegenheit gehabt, zu beobachten, ob der Geist der Wiedergutmachung dort, wo das Gesetz angewandt wird, wirklich vorhanden ist. Das ist, glaube ich, die bitterste Enttäuschung, die ein Parlament, das den guten Willen gezeigt hat, erfahren kann, wenn nun aus Hunderten und Tausenden von Briefen uns immer wieder entgegenklingt, wie unlustig, lieblos, manchmal geradezu boshaft diejenigen behandelt werden, die wir im christlichen Abendland mit Liebe behandeln sollten. ({0}) Das Ergebnis der Arbeiten des Arbeitskreises, über das ich nicht sprechen darf, weil ich selbst beteiligt war, ist, glaube ich, eine Grundlage für eine sehr schnelle Verabschiedung in dem Ausschuß. Was noch fehlt, ist jener letzte Teil, über den meine beiden Herren Vorredner ebenfalls gesprochen haben, die Frage nämlich: Haben wir trotz aller Präzisierung und trotz aller Eindeutigkeit die Garantie, daß böser Wille, Unlust und Lieblosigkeit nicht wieder das zuschanden machen, was hier in guter Absicht gewollt wird? ({1}) Meine Damen und Herren, jeder Satz, der in einem Gesetz steht, ist eine Generalisierung. Das Leben und die Fälle, die uns entgegentreten, sind aber häufig höchst individuell, und ,deshalb wird immer Ermessensspielraum bleiben. Wenn wir heute anläßlich des Punktes 2 der Tagesordnung im Hause eine Erklärung beschließen, die den Geist der Anwendung jenes Gesetzes bestimmen soll, so werden wir Ähnliches auch bei der Verabschiedung der Vorlage tun müssen, die wir jetzt den Ausschüssen überweisen wollen; denn darauf kommt es doch wohl an, daß .der Gesetzgeber - und das sind wir - eindeutig erklärt, welche Art der Anwendung und Auslegung aller Bestimmungen er wünscht. ({2}) Niemand darf sich etwa mit dem Hinweis auf den Rechnungshof, d. h. damit herausreden können, daß er eine einschränkende Auslegung einfach deshalb für notwendig hält, weil er sonst bei der Revision aufgehängt werden könne. Diese Ausrede darf es nicht mehr geben. ({3}) Ein Zweites und Letztes, -meine Damen und Herren! Ich bitte, das nicht als ein allzu großes Mißtrauen gegen die Verwaltung aufzufassen. Ich habe vor längerer Zeit einmal von dieser Stelle aus den Wunsch ausgesprochen, daß wir bei diesem Gesetz und vielleicht auch noch in anderen Fällen im Gesetz der Regierung die Verpflichtung auferlegen, nach Ablauf je eines Jahres über die Erfahrungen zu berichten, die bei der Durchführung des Gesetzes gemacht werden. ({4}) I) Der Beamte muß wissen, daß sein Minister durch das Gesetz verpflichtet ist, diesen Bericht zu geben. Das darf nicht auf Grund einer Großen Anfrage oder ähnlich geschehen. Hier muß eine echte gesetzliche Verpflichtung geschaffen werden. Man muß in der Verwaltung wissen, daß eine gesetzliche Verpflichtung zur Rechenschaftslegung schon nach Ablauf eines Jahres und in gleichen Abständen vorliegt. Mir scheint das notwendig zu sein. Wir werden vielleicht im Ausschuß entsprechende Anträge stellen müssen. Nur möchte ich noch einmal sagen: die Erklärung allein schafft es nicht; denn den guten Willen des Bundestages, wiedergutzumachen, kennt man draußen, und trotzdem haben wir diese deplorablen Erfahrungen gemacht. Wir müssen echte Verpflichtungen schaffen, denen niemand ausweichen kann. Das ist das, was wir der Situation schuldig sind. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gille.

Dr. Alfred Gille (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000681, Fraktion: Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gaube, mich auf wenige Bemerkungen beschränken zu dürfen, nachdem meine Vorredner die sittliche Grundlage des gesetzgeberischen Vorhabens derart eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht haben, daß jedes andere Wort nur eine Wiederholung sein könnte. Der Enderfolg des neuen gesetzgeberischen Wegs, den wir mit diesem Gesetzeswerk beschreiten, ist noch nicht abzusehen. Etwas Wasser in den Wein geschüttet hat bereits der Bundesrat, der nämlich nach Fertigstellung der Arbeit im Arbeitskreis Dinge vorgebracht und Probleme aufgerollt hat, die er sehr gut innerhalb der Arbeit des Arbeitskreises im Laufe eines ganzen Jahres ausreichend mit uns hätte diskutieren können. ({0}) Das ist außerordentlich bedauerlich, zumal der Bundesrat mit einer Reihe ausgezeichneter Sachkenner vertreten war. Offenbar hat aber die politische Führung im Bundesrat die Bedeutung dieser Arbeit im Arbeitskreis nicht richtig erkannt. ({1}) - Ja, vielleicht hätten wir die auch einmal bei uns sehen wollen. - Das ist jedenfalls enttäuschend. Ich möchte hoffen, daß die eigentlich Sachkundigen aus dem Bereich der Wiedergutmachung selbst in Kürze die Überhand gegenüber allen fiskalischen Bedenken gewinnen, denn hier sehe ich im Augenblick die einzige ernste Schwierigkeit, die uns bei Fortsetzung der gesetzgeberischen Arbeit bevorstehen könnte. Im übrigen glaube ich, daß die Arbeit des Arbeitskreises auch für den Ausschuß des Bundestages schon deshalb eine ausgezeichnete Grundlage sein wird, weil diesem Gesetzgebungswerk eine so umfassende Begründung beigegeben warden ist, daß wir den Verfassern dieser Begründung sehr dankbar sein können. Wer, bevor er an die Ausschußarbeit herangeht, diese Begründung durchliest, stößt eigentlich auf sämtliche Probleme, auf sämtliche Lösungsmöglichkeiten, die im Rahmen der ganzen Materie überhaupt nur in Frage kommen. Diese ausgezeichnete Begründung wird uns die Arbeit wesentlich erleichtern. Ich möchte meiner Enttäuschung über den Bundesrat besonders deshalb Ausdruck geben, weil er ausgerechnet, und zwar aus rein fiskalischen Gründen, die Erweiterung des Personenkreises zur Hauptzielscheibe gemacht hat. Der Vorschlag, den Personenkreis zu erweitern, sollte doch von all denen begrüßt werden, die über dem Recht der Bundesrepublik, für Gesamtdeutschland zu sprechen und zu handeln, endlich auch einmal die Verpflichtung sehen sollten, für das gesamte deutsche Volk auch eine Last willig auf sich zu nehmen, wenn es darum geht, den Namen Deutschlands wieder zu Ansehen zu bringen. ({2}) Die finanziellen Möglichkeiten werden uns nicht sehr große Schwierigkeiten machen, weil wir in der glücklichen Lage sind, eine verbindliche Zusage des Herrn Bundesfinanzministers zu haben. Ob das nun die letzte Möglichkeit ist, darüber möchte ich mit dem Herrn Bundesfinanzminister nicht streiten; das sind ja keine absoluten Begriffe. Wenn hier oder da wirklich noch etwas fehlen sollte, wird auch das wahrscheinlich noch irgendwie zu verkraften sein. Nun ein letztes Wort, und da darf ich anknüpfen an das, was Herr Dr. Reif gesagt hat. Ich glaube, gerade die Geschichte dieser Wiedergutmachungsgesetzgebung zeigt, daß der gute Wille des Gesetzgebers allein leider nicht ausreicht. Zu dem guten Willen muß auch eine sehr sorgfältige, gesetzestechnisch einwandfreie Arbeit kommen. Wenn der gute Wille in der Kodifikation nicht so eindeutig stipuliert ist, daß keiner ausweichen kann, nützt der gute Wille, der hier wiederholt bekundet wor({3}) den ist, nichts. Deswegen möchte ich zum Schluß gegenüber der heute sehr häufig aufgetauchten Kritik, die in den vorgetragenen Einzelfällen zweifellos berechtigt ist, auch von mir aus bitten, daß wir als Gesetzgeber jetzt zunächst einmal die Hauptverpflichtung empfinden, ein in seinen Formulierungen so klares und unmißverständliches Gesetz zu schaffen, wie das nur möglich ist. Erst wenn wir diese Verpflichtung erfüllt haben, haben wir die Berechtigung, die schwere Verwaltungsarbeit und vielleicht auch die Auslegungsarbeit der Rechtsprechung dauernd zu kritisieren. Erst müssen wir eine saubere Arbeit leisten. Ich bin überzeugt, daß die Verwaltungsstellen und alle, die in dieser Materie arbeiten, dann wesentlich schneller, wesentlich richtiger und damit auch mit einem wesentlich besseren Erfolg zu arbeiten verstehen werden. Meine politischen Freunde werden mit dem festen Willen mitarbeiten, so schnell wie möglich die bestmögliche gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit die Wiedergutmachung vorankommt und die seit Jahren auf ihre Ansprüche wartenden Menschen im In- und Ausland bald befriedigt werden können. ({4})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Greve.

Dr. Otto Heinrich Greve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000724, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu meinen Vorrednern, die sich im wesentlichen mit den allgemeinen Fragen der Wiedergutmachung und der vor uns liegenden Gesetzgebung befaßt haben, möchte ich mich im Anschluß an das, was Herr Kollege Dr. Gille gesagt hat, noch einmal mit dem Bundesrat auseinandersetzen. Ich weiß, daß es zwar im allgemeinen nicht üblich ist, das zu tun. Aber hier liegt doch eine Entscheidung des Bundesrates auf Grund verschiedener Beschlüsse in seiner 149. Sitzung vor, die es mir angebracht erscheinen läßt, nicht nur einiges richtigzustellen, sondern auch einiges anzuprangern. Der Herr Berichterstatter des Finanzausschusses des Bundesrates, Herr Finanzminister Nowak aus Rheinland-Pfalz, hat insbesondere zu dem Vorschlag, das gegenwärtig geltende Bundesentschädigungsgesetz auf das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs in seinen Grenzen von 1937 auszudehnen, Ausführungen gemacht, die auch von mir nicht unwidersprochen bleiben können. Ich schließe mich dem voll an, was Herr Kollege Dr. Gille hier eben gesagt hat. Beispielsweise darauf hinzuweisen, daß die Mehrkosten allein durch die Ersetzung des „Geltungsbereichs des Bundesentschädigungsgesetzes" durch das „Gebiet des Deutschen Reichs nach dem Stande vom 31. 12. 1937" einen Mehraufwand von 700 Millionen DM zur Folge haben werde, ist objektiv falsch. Man müßte zumindest von einem Berichterstatter erwarten dürfen, daß er dann, wenn er Bericht erstattet, im Besitz der richtigen Zahl ist und auch in der Lage ist, diese richtige Zahl dem Parlament zur Kenntnis zu bringen. Am 16. September 1955 hat der Herr Bundesfinanzminister allen an dem Arbeitskreis Beteiligten, dem Finanzminister des Landes Rheinland-Pfalz ebenso wie allen anderen Länderfinanzministern, in einer Zusammenstellung mitgeteilt, welches die von den Ländern selbst vorgenommenen Schätzungen des finanziellen Mehraufwandes des Dritten Gesetzes, das jetzt vor uns liegt, sind. In diesen Schätzungen kommen die Länder selber auf Grund der von ihnen gemachten Angaben hinsichtlich des hier zur Erörterung stehenden Problems, nämlich der Ausweitung des Gesetzes auf das ehemalige Reichsgebiet in den Grenzen von 1937, auf den Betrag von 500 Millionen DM. Von dem Berichterstatter wurden also - ich weiß nicht, aus welchen Gründen - einfach 200 Millionen DM zu dem vom Bundesfinanzminister auf Grund der Schätzungen der Länderfinanzminister angegebenen Betrag hinzugesetzt. Wir waren im Arbeitskreis der Auffassung, daß schon der Betrag von 500 Millionen DM übersetzt ist und daß es sich wahrscheinlich nur um einen Betrag von 350 Millionen DM handeln wird. Aber diese Stimmungsmache, die durch die Erhöhung der Zahl von 500 Millionen DM auf 700 Millionen DM erfolgt ist, kommt meines Erachtens nicht von ungefähr. Sie ist auch bei anderen Gelegenheiten in den Beratungen der Haushaltsreferenten der einzelnen Länderfinanzministerien in dem entsprechenden Ausschuß des Bundesrates zum Ausdruck gekommen. Ich werde heute bei der Beratung des Punktes 2 noch Gelegenheit haben, Ihnen einiges aus der heutigen Sitzung desselben Ausschusses mitzuteilen. Ich nehme an, daß Ihnen dann allen klarwerden wird, wo die Schwierigkeiten beim Bundesrat liegen. Sie liegen meines Erachtens nicht bei den Ministern selbst, auch wenn beispielsweise in einem Lande der zuständige Minister aus seiner NS-Vergangenheit heraus kein allzu freudiger Befürworter der Wiedergutmachung sein dürfte. Die Schwierigkeiten liegen vor allem nicht bei dem Sonderausschuß für Fragen der Wiedergutmachung, der durch Herrn Senator Dr. Klein in der 149. Sitzung einen - sehr guten - Bericht zugunsten der Wiedergutmachung hat erstatten lassen, aber mit seiner Ansicht sich offenbar gegenüber den Haushaltsreferenten, die im Finanzausschuß vertreten waren, nicht hat durchsetzen können. Es wäre außerordentlich bedauerlich, wenn diese Verhärtung auf seiten des Bundesrates ihre Fortsetzung finden würde. Denn es handelt sich hier nicht um eine politische Stellungnahme des Bundesrates, wenn wir sie auch als eine solche entgegenzunehmen haben, sondern in Wirklichkeit um eine Entscheidung, die meines Erachtens nicht von den Ministern selbst, sondern den Haushaltsreferenten ausgeht. Wir können es als Parlament nicht ertragen, daß bei einer entscheidenden Mitwirkung in der Gesetzgebung nicht die Länderregierungen und die zuständigen Minister, sondern die Referenten dieser Minister den Ausschlag geben und damit etwas zunichte zu machen suchen, was der Bundestag als der immerhin wohl noch wichtigere Teil unseres Bundesparlaments beschlossen hat. Ich kann mich auch nicht damit einverstanden erklären, daß man hier in der Weise argumentiert - Herr Kollege Gille hat auch schon darauf hingewiesen -, daß, wie der Herr Berichterstatter im Bundestag gesagt hat, die Bundesrepublik weder über die Steuerkraft noch über das Reichsvermögen der sowjetisch besetzten Zone und in den unter fremder Verwaltung stehenden Ostgebieten verfügen kann und aus diesem Grunde eine Ausweitung und Erweiterung des Gesetzes auf das ehemalige Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 nicht vertretbar ist. ({0}) Herr Kollege Gille hat mit Recht gesagt: Wer hier in der Bundesrepublik die Rechtsnachfolge oder gar die Rechtsidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem ehemaligen Deutschen Reich behauptet, der darf dieses Prinzip nicht nur dann vertreten, wenn es sich um die Inanspruchnahme von Rechten handelt, sondern er muß es auch tun, wenn es darum geht, die entsprechenden Pf1ichten auf sich zu nehmen. ({1}) Hier liegt eine solche Pflicht vor, auch für den Bundesrat. Er kann sich nicht aus irgendwelchen finanzpolitischen Aspekten dieser Verpflichtung entziehen. Ich freue mich, in diesem Zusammenhang feststellen zu können, daß der Herr Staatssekretär im Bundesfinanzministerium heute gerade diesen Antrag des Bundesrates namens der Bundesregierung abgelehnt hat und nach wie vor auf dem Standpunkt des Entwurfs steht. Ich glaube nicht die Vertraulichkeit zu brechen, wenn ich aus dem Arbeitskreis sage, daß hier wohl Einmütigkeit bestanden hat und gerade dieser Punkt als ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem bisher geltenden Gesetz betrachtet worden ist. Herr Staatssekretär, ich darf mir auch erlauben, bei dieser Gelegenheit den Herren zu danken, die von seiten der verschiedenen Bundesministerien an den Beratungen des Arbeitskreises mitgewirkt haben. Für diese Herren möchte ich sagen, daß ihre Arbeit von dem Geist getragen war, von dem auch Herr Kollege Böhm, Herr Kollege Reif und die übrigen Redner heute hier gesprochen haben. Vielleicht liegt das daran, daß sie einmal mit Abgeordneten zusammen waren, die diesen Geist in sich zu haben glauben, und nicht mit ihren Kollegen aus der Haushaltsabteilung oder aus anderen Abteilungen des Bundesfinanzministeriums, über die nicht immer die gleiche Feststellung von uns aus zu treffen ist. Ich hoffe, daß jedenfalls die Arbeit im Ausschuß des Bundestages, der sich mit dem Gesetz nunmehr zu befassen haben wird, von dem gleichen Geiste getragen sein wird. Meine Damen und Herren, nun noch zu einem für meine Begriffe sehr traurigen Punkt in unserer wenn auch kurzen parlamentarischen Geschichte. Es handelt sich um den Antrag Nr. 11 auf der Bundesratsdrucksache 336 zu § 5 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung. Der Bundesrat hat beschlossen, § 5 wie folgt zu fassen: Ansprüche, die darauf beruhen, daß der Verfolgte durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reichs, eines Landes oder einer Gemeinde ({2}) oder der NSDAP oder ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbänden Schaden erlitten hat, können unbeschadet der in den §§ 3 und 104 Abs. 2 genannten Rechtsvorschriften nur nach diesem Gesetz geltend gemacht werden. Sonstige Ansprüche werden durch dieses Gesetz nicht berührt. Diese Bestimmung hat eine Vorgeschichte in der rechtsprechenden Gewalt unserer Bundesrepublik, nämlich in einem Prozeß, den Herr Wollheim gegen die IG-Farben-Industrie Aktiengesellschaft in Liquidation führt, also gegen die alte IG-FarbenIndustrie AG. In diesem Prozeß verlangt Herr Wollheim Schmerzensgeld als einer von denjenigen, die als Arbeitssklaven zur Zeit des Hitlerreichs in einem Betrieb der IG Farben in Monnowitz geschunden worden sind. Das Landgericht in Frankfurt hat den Anspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Der Prozeß schwebt zur Zeit infolge Einlegung der Berufung durch die IG Farben beim Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. In diesem Stadium eines Prozesses ist es nun möglich gewesen, daß uns - schon vor einem Jahr - ein Vertreter der IG-Farben-Industrie in einem Kreise von Verfolgten klarzumachen versuchte, daß die gegenwärtige Gesetzgebung nicht richtig sei, sondern daß hier etwas zugunsten der IG Farben und evtl. anderer Industrien - nicht etwa von Herrn Wollheim! - getan werden müsse. Damals ist der Arbeitskreis nicht darauf eingegangen, dem betreffenden Herrn Gehör zu schenken. In der Zwischenzeit hat sich nun etwas ereignet, was bisher, jedenfalls in dieser Weise, wohl einmalig ist. Unter dem 27. Juli 1955 ist einer Reihe von Dienststellen in der Bundesrepublik, zu denen das Bundesfinanzministerium und die Länderfinanzministerien gehören - welche weiteren noch dazu gehören, habe ich im einzelnen nicht erkundet, das halte ich auch nicht für meine Aufgabe; es genügt ja, daß diese Stellen es haben; ich komme aber auf diese Dinge noch in einem anderen Zusammenhang zurück -, ein Memorandum über die Tragweite des Prozesses Wollheim gegen die IG für die Belastung des öffentlichen Haushalts und der Wirtschaft im Bundesgebiet zugegangen. Dieses Memorandum ist von einer Reihe von Vorstellungen von seiten der Industrie bei dem Herrn Bundesfinanzminister persönlich, auch bei dem Herrn Staatssekretär, glaube ich, und wohl sogar bei dem Herrn Bundeskanzler begleitet gewesen. In allen diesen Vorstellungen ist darauf hingewiesen worden, daß es notwendig sei, durch eine gesetzliche Regelung zu verhindern, daß der Prozeß Wollheim gegen IG-Farben-Industrie auf dem ordentlichen Rechtsweg erledigt wird. ({3}) Denn das ist das Ziel dieses Memorandums, aus dem ich Ihnen gleich noch einiges vorlesen werde, um Sie auch mit seinem Geist vertraut zu machen. Dieses Memorandum trägt übrigens keinen Absender; es ist auch von niemandem unterschrieben. Auf meine Rückfrage hat mir Herr Ministerialdirektor Oeftering aus dem Bundesfinanzministerium mitgeteilt, daß er in den Besitz des Memorandums durch einen leitenden Herrn aus dem Bereich der Hoechster Farbwerke/ Anorgana gekommen sei, von wo ihm dieses Memorandum zur Kenntnis übergeben worden sei. ({4}) Hier tritt also eine Prozeßpartei auf und versucht, den Gesetzgeber vor ihren Karren zu spannen. Anders ist es doch nicht auszudrücken, meine Damen und Herren. Und wenn wir Gelegenheit haben könnten, alle diejenigen Herren aus den verschiedenen Bundesministerien, die Aufsichtsratsmitglieder großer und größter Gesellschaften in der Bundesrepublik sind, hier darüber zu hören, welche Versuche unternommen worden sind, auch sie dahingehend zu beeinflussen, bei den zuständigen Ministern Vorstellungen zu erheben, daß dieser § 5, wie er im Entwurf der Regierung enthalten ist, geändert wird, und zwar zugunsten derjenigen, die sich hier diese Mühe geben, -- ich glaube, dann ({5}) würden wir ein Bild davon bekommen, in welcher Weise hier das Bundesparlament und insbesondere der Bundestag zum Büttel von Interessentenhaufen degradiert werden soll. ({6}) Anders sind sie einfach nicht zu bezeichnen. Daß auch ein Bundestagsabgeordneter den Versuch unternommen hat, den Herrn Bundesfinanzminister oder gar den Herrn Bundeskanzler dazu zu bringen, diesem Wunsche Rechnung zu tragen, das ist eine Angelegenheit, die der betreffende Kollege mit sich selbst abzumachen hat. Ich glaube nicht, daß er in diesem Falle als völlig unabhängiger Abgeordneter nur seinem Gewissen verantwortlich gehandelt hat, vielmehr hat er hier versucht, sich für eine ganz bestimmte Gruppe - die dazu noch in einem einzelnen Falle als Prozeßpartei auftritt - einzusetzen und dem Prozeß den Faden abzuschneiden. ({7}) Was in diesem Memorandum zusammengetragen worden ist, das mögen Sie aus folgendem ersehen. Hier wird z. B. Herr Wollheim nicht als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, sondern als deutscher Staatsbürger jüdischer Abstammung - das ist bezeichnend! - hingestellt. Es wird weiter darauf hingewiesen, daß als besonderes Kuriosum ,des Gesetzes, das die Bundesregierung dem Bundestag zur Beschlußfassung vorgelegt hat, die verbesserte Rechtslage der Kommunisten zu betrachten sei, wenn nämlich die Gesetzgebung bei dem, was dort „Wollheim-Thesen" genannt wird, bliebe; denn diese „Wollheim-Thesen" - daß nämlich das Landgericht einen Schmerzensgeldanspruch des Herrn Wollheim dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hat - eröffnen ihnen - nämlich den Kommunisten - ,den einzigen Weg, aus ihrer politischen Verfolgung Kapital zu schlagen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so geht es doch einfach nicht! Hier wird in völlig unsachlicher Weise versucht, die allgemeine Kommunistenaversion zu dem Versuch zu benutzen, auf dem Gebiet der Wiedergutmachung einerseits einem anhängigen Verfahren den Garaus zu machen und auf der anderen Seite den Gesetzgeber dazu zu bestimmen, durch eine gesetzliche Maßnahme das zu tun, was ganz allgemein rechtsstaatlich einfach nicht möglich ist. Es wird auf die „erschreckende Devisenlage" hingewiesen, die eintreten würde, wenn auf Grund eines solchen rechtskräftigen Urteils die Bundesrepublik oder die industriellen. Unternehmen verpflichtet sein sollten, entsprechende Anträge aus dem Ausland zu befriedigen. Es wird von einer „nicht voraussehbaren inneren und äußeren. Belastung von Wirtschaft und Finanzen der Bundesrepublik" gesprochen, die dann eintrete, wenn der Gesetzgeber sich den Versuchen dieses Interessentenklüngels nicht gefügig zeige. Ich möchte wissen, was der Herr Bundeswirtschaftsminister dazu sagt, daß auf diese Weise „die Wirtschaft in 'einer geradezu nicht voraussehbaren Weise belastet werden würde". Es wird dann dem Herrn Bundesfinanzminister und den Herren Länderfinanzministern damit gedroht, daß sie in Zukunft nicht mehr mit den entsprechenden Steuereingängen, insbesondere aus der Körperschaftsteuer, wie ich annehme, zu rechnen hätten, da dann, wenn solche Verpflichtungen in großem Umfange zu erfüllen wären, steuerliche Rückstellungen einen radikalen Rückgang der Steuereinnahmen zur Folge haben würden. Meine Damen und Herren! Es wird nichts unversucht gelassen, um hier in geradezu unerhörter und ungehöriger Weise gegen ganz bestimmte gesetzliche Bestimmungen auf dem Gebiete der Wiedergutmachung Sturm zu laufen. Die rechtspolitischen Erwägungen sind derart, daß man sagt: Wenn erst einmal ein oberstgerichtliches Urteil im Sinne des Urteils des Landgerichts Frankfurt ergangen sein sollte, dann wäre eine Gesetzgebung, die „die sich daraus ergebenden, für die Gesamtheit untragbaren Konsequenzen" beseitigt, politisch und verfassungsrechtlich ungleich schwerer durchzuführen als jetzt. Man will kein Urteil des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, weil, wie man meint, es dann dem Bundesgesetzgeber schwerer fallen würde, etwas zu beseitigen, was diesem Interessentenhaufen politisch nicht gefällt. Als wenn der Bundestag das überhaupt wollte, wenn ein solches Urteil des höchsten deutschen Gerichts vorläge! Dabei sollten - so heißt es weiter - auch nicht die politischen Auswirkungen aus den Augen verloren werden, die - und nun bitte ich Sie, sehr genau zuzuhören - „eine Flut von Prozessen nach dem Wollheim-Muster erwarten läßt. Bereits jetzt besteht bei den großen Gruppen anderer Geschädigter, insbesondere der Vertriebenen und der Kriegsopfer, eine starke Animosität darüber, daß die staatlichen Entschädigungsgesetze für Verfolgte wesentlich günstiger sind und zum Teil ein Mehrfaches der Sätze für Vertriebene und Kriegsopfer betragen. Wenn darüber hinaus der Gruppe der Verfolgten es noch gelänge, Schmerzensgeldanspruch von mindestens DM 10 000 zu verwirklichen, so wäre eine feindselige Reaktion der anderen Geschädigtengruppen mit all ihren unerwünschten innen- und außenpolitischen Konsequenzen vorauszusehen." Im nächsten Absatz wird dem Bundesgesetzgeber für das, was er jetzt vorhat, der Vorwurf unmoralischer Maßstäbe gemacht. ({8}) Wir würden uns also dann, wenn wir das annähmen, was die Bundesregierung uns in ihrem Entwurf vorgelegt hat, dem Vorwurf unmoralischer Maßstäbe aussetzen. Das würde natürlich auf die Bundesregierung zurückfallen; denn sie verlangt mit ihrem Gesetzentwurf nach Auffassung dieses Interessentenhaufens von uns, daß wir es hinnehmen, uns dem Vorwurf unmoralischer Maßstäbe auszusetzen. ({9}) Damit würde die Bundesregierung natürlich nichts anderes tun, als sich selbst unmoralisch verhalten. Ich nehme aber nicht an, daß das auch nur einem einzigen Verantwortlichen auf seiten der Bundesregierung bisher in den Sinn gekommen ist, sich in diesem Fall unmoralisch zu verhalten. Ich möchte jedenfalls der Bundesregierung ausdrücklich das Gegenteil bescheinigen. Sie hat sich nämlich höchst moralisch verhalten, als sie uns diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat, und wir sind bereit, mit ihr diesen moralischen Weg weiter zu gehen, auch wenn wir uns damit dem Vorwurf aussetzen, für unmoralisch gehalten zu werden, unmoralisch allerdings im Sinne eines Interessentenhaufens, was, wie ich glaube, getrost von uns in Kauf genommen werden kann. Meine Damen und Herren, warum habe ich Ihnen das vorgetragen? Das habe ich Ihnen vorgetragen, weil dieser Vorgang zum Gegenstand der Bera({10}) tungen des Bundesrates gemacht worden ist, allerdings weniger im Bundesratsplenum selbst als in den berüchtigten Kreisen des Bundesrates, die die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik heute zu torpedieren versuchen; denn nach dem Protokoll des Bundesrates heißt es hinsichtlich des eben von mir vorgetragenen Fragenkomplexes auf Seite 323 einfach: Präsident von Hassel: . . . Nr. 11 a! - das ist nach der Drucksache, ,die dem Bundesrat vorgelegen hat, dieses Problem Das ist die Mehrheit. Damit ist der Antrag Hamburgs - der etwas anderes betrifft auf BR-Drucks. Nr. 336/4/55 erledigt. Im Bundesrat selbst ist über dieses Vorhaben, das er dem Bundestag zumutet, materiell überhaupt nichts gesagt worden. Der Bundesrat verlangt von uns schlechthin nur, daß wir den § 5 in der uns von ihm vorgelegten Fassung annehmen, die wortwörtlich dem entspricht, was in diesem anonymen Memorandum verlangt worden ist. ({11}) Ich glaube, das ist etwas, was nicht scharf genug angeprangert werden kann. ({12}) Ich bin jedenfalls der Auffassung, daß die Bundesregierung recht daran getan hat, wenn sie in der Drucksache 1949 empfiehlt, diesen Antrag des Bundesrates abzulehnen. Wenn sich die Bundesregierung darüber hinaus bereit erklärt, bei einer 1 Neuformulierung des entsprechenden Paragraphen, aber nur des gegenwärtigen Inhalts des entsprechenden Paragraphen, zur Klarstellung mitzuwirken, dann mag das hingenommen werden. Aber, Herr Staatssekretär, ich betone ausdrücklich: ich halte es nicht für angängig, daß hier auf dem Wege der Klarstellung versucht wird, eine materielle Änderung der Bestimmung in der gegenwärtigen Fassung zu erreichen. Ich werde mich jedenfalls - und ich glaube, hier für meine politischen Freunde sprechen zu können - mit allen Mitteln dagegen wenden, daß etwa durch die Hintertür der Eintritt in ein Zimmer versucht wird, das wir schlechthin nicht betreten wollen; denn der Weg, der hier beschritten werden soll, ist für das Parlament einfach nicht gangbar. Ich bedaure nur, daß in einzelnen Ministerien, auch in solchen der Länder, derartige Versuche auf einen fruchtbaren Boden gefallen sind und daß es überhaupt möglich gewesen ist, vom Bundesrat aus dem Bundestag zuzumuten, hier im Interesse eines Interessentenhaufens etwas zu tun, was auch aus anderen Gesichtspunkten nicht möglich ist, ganz abgesehen davon, daß ich die rechtliche Seite, die ich jetzt nicht erörtern will, für absolut eindeutig halte. Nach dem, was ich bisher feststellen konnte, sind alle Juristen der Auffassung, daß eine derartige Bestimmung, falls sie in das Gesetz hineinkäme, verfassungswidrig ist. Sie würde schon beim ersten Anhieb auf Grund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fallen. Aber vielleicht ist es Ihnen sympathischer, zu hören, daß die Bundesregierung nach dem Protokoll Nr. 1 der sogenannten Haager Protokolle, das von dem Herrn Bundeskanzler für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und für die Conference on Jewish Material Claims against Germany von Herrn Goldmann am 8. September 1952 in Den Haag unterzeichnet worden ist, erklärt hat: Es ist der Wille der Bundesregierung, die gegenwärtige Entschädigungsgesetzgebung durch ein Bundesergänzungs- und -rahmengesetz dahin zu erweitern und abzuändern, daß die Rechtslage für die Verfolgten im gesamten Bundesgebiet nicht weniger günstig gestaltet wird, als sie gegenwärtig in der amerikanischen Zone nach dem dort geltenden Entschädigungsgesetz ist. Es würde sich ein ganz klarer Fall von Verschlechterung der Rechtslage für die Verfolgten ergeben, wenn eine Bestimmung, so wie sie uns jetzt vom Bundesrat vorgelegt wird, in das Gesetz hineinkäme, da eine entsprechende Bestimmung im Entschädigungsgesetz für die amerikanische Zone nicht enthalten ist. Der Bundesrat hat sich über diese Dinge kurzerhand hinweggesetzt und wird wahrscheinlich erklären, daß darüber zwar Meinungsverschiedenheiten bestünden, daß es aber im Rahmen des Haager Protokolls Nr. 1 liege, wenn auch etwas Derartiges getan werde. Ich meine, eine entsprechende Bemerkung in den Ausführungen von Herrn Dr. Nowack gefunden zu haben. Das spielt aber in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Bundesrepublik würde, wenn wir eine solche Bestimmung in das Gesetz hineinnähmen, vertragsuntreu werden. Dem sollten wir uns gerade auf dem Gebiete der Wiedergutmachung, auf einem Gebiet, auf dem wir Verpflichtungen eingegangen sind, die wir nicht nur eingehen mußten, sondern die wir auch eingehen wollten, nicht aussetzen. Ich bedaure außerordentlich, daß der Bundesrat hier einen Geist hat erkennen lassen, der, wie es schon vom Herrn Kollegen Böhm gesagt worden ist, genau das Gegenteil von dem bedeutet, was dieser Geist des Bundesrates einst war. Wir sind jedenfalls am besten beraten, wenn wir den Weg, den wir jetzt noch für die Wiedergutmachung zu gehen haben, nicht mit dem Bundesrat, sondern in diesem Falle mit der Bundesregierung gehen. Ich möchte den Bundesrat nur bitten - wir selbst haben ja keine Gelegenheit, uns dort drüben bemerkbar zu machen -, im zweiten Durchgang dieses Gesetzes die Dinge nicht zu wiederholen, die sich in der ersten Beratung im Bundesrat abgespielt haben. ({13})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung der ersten Lesung des Gesetzes. Beantragt ist die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 1949 an den Ausschuß für Fragen der Wiedergutmachung - federführend - und an den Haushaltsausschuß zur Mitberatung. Erhebt sich Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist die Vorlage entsprechend überwiesen. Ich rufe auf Punkt 2 der heutigen Tagesordnung: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes ({0}); Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Fragen der Wiedergutmachung ({1}) ({2}). ({3}) ({4}) Ich erteile das Wort dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Dr. Böhm ({5}). Dr. Böhm ({6}) ({7}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes, Drucksache 1192, ist dem Bundestag am 14. Februar dieses Jahres zugeleitet worden. Er wurde in erster Lesung dem Wiedergutmachungsausschuß und dem Beamtenrechtsausschuß überwiesen. Der Wiedergutmachungsausschuß hat den Regierungsentwurf in einer großen Reihe von Sitzungen wesentlich erweitert und schlägt vor, das ganze Gesetz vom 11. Mai 1951 in neuer Fassung zu veröffentlichen. Diese Fassung finden Sie in dem Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Fragen der Wiedergutmachung in Drucksache 1937 auf den Seiten 10 ff. In dem von mir erstatteten Schriftlichen Bericht*) des Ausschusses für Fragen der Wiedergutmachung ist vor allem auf diejenigen Gesetzesbestimmungen eingegangen worden, die vom Wiedergutmachungsausschuß neu eingefügt oder geändert worden sind. Wenn man jedoch die Tragweite der gesamten Novelle zutreffend würdigen will, so kommt es vor allem darauf an, sich die Gesamtheit der Änderungen zu vergegenwärtigen, die das alte Gesetz vom 11. Mai 1951 erfahren hat. Ich darf einige der wichtigsten dieser Änderungen hier noch einmal besonders hervorheben, wobei ich im übrigen auf den Schriftlichen Bericht verweisen möchte. 1. Zum Personenkreis. Der Personenkreis ist zunächst einmal erweitert worden durch die im Vorbereitungsdienst für eine Beamtenlaufbahn stehenden Personen, die nicht die Rechtsstellung eines Beamten oder Angestellten hatten, ferner durch die geschädigten nichtbeamteten außerordentlichen Professoren und Privatdozenten an wissenschaftlichen Hochschulen. Außerdem sollen auch Ehefrauen und Kinder solcher Geschädigten, die sich in Kriegsgefangenschaft oder Gewahrsam einer ausländischen Macht befinden oder deren Ehegatten in einem Vertreibungsgebiet im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes gegen ihren Willen zurückgehalten werden, Zahlungen erhalten können. Sie finden diese Erweiterungen im § 2 Abs. 1 Ziffer 1 und Abs. 2 sowie im § 2 b. Ferner sind in den § 3 auch noch die Sowjetzonenflüchtlinge einbezogen worden. Dazu kommen noch weitere Personengruppen, die zwar nicht in den Personenkreis der Wiedergutmachungsberechtigten einbezogen worden sind, sei es, weil sie zur Zeit der Schädigung noch nicht dem öffentlichen Dienst angehört haben, sei es, weil sie weder aus politischen noch religiösen noch aus rassischen Gründen verfolgt worden sind. Dazu gehören z. B. die Personen, die aus Verfolgungsgründen am Abschluß ihrer Vorbildung gehindert oder von der Berufung in das Beamtenverhältnis nach abgeschlossener Vorbildung ausgeschlossen worden sind. Diese Personen werden allerdings nur dann entschädigt, wenn sie nach dem 8. Mai 1945 in das Beamtenverhältnis berufen worden sind oder berufen werden. Die Entschädigung besteht dann darin, daß ihnen die Zeit, um die ihre Einstellung durch die Verfolgung verzögert worden ist, als Dienstzeit im Sinne des Besoldungs- und Versorgungsrechts angerechnet werden muß. - Das ist der § 31 b. *) Siehe Anlage 2. Ähnliches gilt für Beamtinnen, die wegen ihres Geschlechtes entlassen worden sind. Auch diese erhalten nur dann Wiedergutmachung, wenn sie nach dem 8. Mai 1945 wieder in das Beamtenverhältnis berufen worden sind oder berufen werden. Auch bei ihnen wird in der Form wiedergutgemacht, daß ihnen die Zeit der Nichtverwendung oder, falls sie noch gar nicht im öffentlichen Dienst standen, aber infolge der die Frauen benachteiligenden Politik des „Dritten Reichs" am Abschluß ihrer Vorbildung gehindert oder von der Berufung in das Beamtenverhältnis ausgeschlossen worden sind, die Verzögerungszeit angerechnet werden muß. - Das ist der § 31 c. Ferner sind frühere Bedienstete jüdischer Gemeinden in die Entschädigung einbezogen worden. - Das ist § 31 d. - Um kenntlich zu machen, daß es sich hier um Gruppen von Geschädigten handelt, die an sich aus dem Rahmen des Personenkreises herausfallen, für deren Entschädigung das Gesetz sorgen will, sind die betreffenden Regelungen in die Übergangs- und Schlußvorschriften des Gesetzes - d. h. in den Siebenten Abschnitt - aufgenommen worden. 2. Die Anspruchsvoraussetzungen. Gegenüber dem Gesetz ist der Kreis der Schädigungen, für die Wiedergutmachung beansprucht werden kann, erweitert worden. So können nunmehr Beamte und Berufssoldaten Wiedergutmachung auch für unterbliebene planmäßige Anstellung oder, soweit es sich um Beamte auf Widerruf handelt, für unterbliebene Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit verlangen. Angestellte und Arbeiter können Wiedergutmachung auch dann erlangen, wenn sie aus Verfolgungsgründen in einer Tätigkeit mit geringerer Vergütung oder geringerem Lohn verwendet worden sind oder wenn aus den Verfolgungsgründen die Verwendung in einer Tätigkeit mit höherer Vergütung oder höherem Lohn unterblieben ist. Als wiedergutzumachender Schaden ist endlich bei nichtbeamteten außerordentlichen Professoren und Privatdozenten auch die Entziehung der Lehrbefugnis aufgenommen. Schließlich sind die Tatbestände erweitert worden, die als Entlassung, als vorzeitige Versetzung in den Ruhestand, als Entziehung der Versorgungsbezüge oder Entziehung der Lehrbefugnis gelten. Der nationalsozialistische Staat war im Ausdenken von Schädigungen sehr erfinderisch. In der Novelle wurde versucht, wenigstens die wichtigsten Verfolgungstechniken zu erfassen. Dann die Ausschließungsgründe. Viel umstritten war der § 8 des bisherigen Gesetzes, der Mitglieder der NSDAP, Förderer des Nationalsozialismus, gewisse kriminell bestrafte und solche Personen, die die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft haben, von der Wiedergutmachung ausschließt und eine Ausnahme nur für rein nominelle Mitglieder der NSDAP vorsieht, die entweder durch Verfolgungsmaßnahmen zum Eintritt in die Partei gezwungen oder wegen aktiver Bekämpfung des Nationalsozialismus verfolgt worden sind. Manchen Kritikern des Gesetzes erschien diese Regelung als zu mild, anderen als zu hart. Diejenigen, die sie für zu mild hielten, verwiesen darauf, daß das Bundesentschädigungsgesetz, das für alle gilt, strenger ist, während diejenigen, die die Vorschrift für zu streng halten, darauf aufmerksam gemacht haben, daß das 131er Gesetz nicht verfolgte Beamte nur 2. Deutscher Bundestag - 11. ({8}) dann von der Wiederverwendung ausschließt, wenn sie ihr Amt ihrer nationalsozialistischen Betätigung verdanken oder sich irgendwie schuldig gemacht haben, so daß also nicht verfolgte Parteimitglieder heute leichter eine Stelle erhalten können als - verfolgte Parteimitglieder. Der Wiedergutmachungsausschuß ist indessen einstimmig zur Überzeugung gelangt, daß die bisherige Regelung mit nur geringfügigen Änderungen beibehalten werden sollte. Die Änderungen sind etwa folgende: Kriminell Bestrafte sollen Wiedergutmachung nicht nur in denjenigen Fällen erhalten, in denen das Urteil entweder kraft Gesetzes oder im Wiedergutmachungsverfahren aufgehoben ist, sondern auch dann, wenn die beamten- oder versorgungsrechtlichen Folgen dieses Urteils im Gnadenwege beseitigt sind. Ferner soll die Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erst dann die Wiedergutmachung ausschließen, wenn sie nach dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes, also nach dem 23. Mai 1949 erfolgt ist. Des weiteren soll die Frage, ob z. B. eine Entlassung aus beamten- oder tarifrechtlichen Gründen gerechtfertigt gewesen wäre, nach heutiger Rechtsauffassung entschieden werden. Diese beamten- oder tarifrechtlichen Gründe dürfen zudem nicht mit nationalsozialistischen Verfolgungsgründen im Zusammenhang stehen. Ferner ist ausdrücklich bestimmt, daß die Verheiratung einer geschädigten Beamtin oder Angestellten des öffentlichen Dienstes kein beamten- oder tarifrechtlicher Grund im Sinne des Gesetzes ist. Die Härte, die darin liegt, daß das 131 er- Gesetz nicht unwesentlich liberaler ist als das BWGöD, hat der Wiedergutmachungsausschuß in der Weise abzumildern versucht, daß er in den Schluß- und Übergangsvorschriften eine Bestimmung eingefügt hat, die bloß nominellen Mitgliedern der NSDAP, deren Wiedergutmachungsanspruch eben wegen dieser nominellen Mitgliedschaft abgewiesen wird, die Rechtsstellung eines 131 ers einräumt. Ein solcher Geschädigter soll so gestellt werden, wie wenn er bis zum 8. Mai 1945 im Amt geblieben wäre. Der Wiedergutmachungsausschuß hat mit vollem Bewußtsein nur nominellen Parteimitgliedern diese Rechtswohltat der Gleichstellung mit den 131 ern gewährt. Er ist aber der Meinung, daß _die auslegenden Dienststellen und auch die Gerichte an das Merkmal der nominellen Mitgliedschaft keine schematischen Maßstäbe anlegen sollten. Da ist insbesondere neuerdings ein Urteil eines Gerichts in Münster bekanntgeworden, in dem steht, daß eine Mitgliedschaft vor 1933 unter gar keinen Umständen bloß nominell gewesen sei. Der Wiedergutmachungsausschuß ist der Meinung, daß die Frage, ob eine Mitgliedschaft nominell war oder nicht, in jedem Einzelfall und ohne Anklammern an äußere Umstände wie z. B. Jahrgänge individuell zu prüfen ist. Auch Mitglieder der NSDAP, die vor 1933 eingetreten sind, haben einen Anspruch darauf, daß von den Gerichten gewürdigt wird, ob sie bloß nominelle Mitglieder waren oder nicht. Ferner hat der Wiedergutmachungsausschuß bei der Frage der Regelung der Wiedergutmachungsgewährung dem berechtigten Anliegen der sogenannten Zeitbeamten Rechnung getragen, also der Bürgermeister und gewählten Gemeindebeamten, die nur auf vorübergehende Zeit gewählt waren. Nach dem bisherigen Gesetz war vorgesehen, daß sie noch als so lange im Dienst befindlich angesehen werden sollten, wie ihre Wahlperiode lief, während das jetzige Gesetz ihnen eine Vergütung und Wiedergutmachung bis zum 31. Dezember 1946 gibt, also bis zu dem Termin, an dem erstmals wieder echte neue Gemeindewahlen stattgefunden haben. Hier ist eine Beweisvermutung zugunsten dieser Gruppen von Geschädigten festgelegt worden. Ferner sieht die Novelle nicht unerhebliche Verbesserungen für Angestellte und Arbeiter vor. Auch hier werden Ansprüche gewährt, die in dem bisherigen Gesetz nicht vorgesehen sind. Bei diesen Beispielen möchte ich es bewenden lassen. Sie sollten im großen und ganzen die Richtung illustrieren, in der das alte Gesetz sowohl durch den Regierungsentwurf als auch durch die darüber hinausgehenden Beschlüsse des Wiedergutmachungsausschusses, denen der Beamtenrechtsausschuß beigetreten ist, geändert worden ist. Der Ausschuß bittet, das Gesetz in der vom Wiedergutmachungsausschuß und vom Beamtenrechtsausschuß gebilligten und beschlossenen Form anzunehmen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wir treten in die zweite Beratung des Gesetzes ein. Ich rufe auf Art. I und dazu die Anlage. Es ist etwas kompliziert: hier wird nämlich in einem Änderungsgesetz gleichzeitig ein ganzes Gesetz als Anlage neu gefaßt, und dazu liegen noch Änderungsanträge vor. Ich rufe also auf Art. I und dazu die Anlage, die auf Seite 10 des Ausschußberichts - Drucksache 1937 - beginnt, die den Damen und Herren vorliegt. Bevor ich über den Art. I abstimmen lassen kann, müssen wir diese Anlage verabschieden. Ich rufe also auf in zweiter Beratung die §§ 1, - 2, - 2 a, - 2 b, - 3, - 4 entf ällt, 5, - 6, - 7, - 8, - 9, - 10, - 11, -11a, - 12, - 13, - 14, - 15, - 16, - 17, -18, - 19, - 20, - 21, - 21 a, - 21 b, - 22, ---22a, -22b,-22c,-23,-24,-24a,-25,-26, - 27, - 27 a, - 28, - 29, - 30, - 31, -31 a, - 31 b, - 31 c, - 31 d. Wird das Wort zu den aufgerufenen Paragraphen gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache. Wer den aufgerufenen Paragraphen in der Fassung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Gegenstimme angenommen. Ich rufe nunmehr auf § 31 e, dazu den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 499*). Soli er begründet werden? - Bitte, Herr Abgeordneter Horn! ({0})

Peter Horn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000959, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! - Wie war die Präambel von Ihnen? ({0}) - So! In § 33 a der Regierungsvorlage ist die Beitragserstattungspflicht der Rentenversicherungen vorgesehen gewesen. Der Ausschuß hat in seiner Vorlage an Stelle dieses § 33 a der Regierungsvorlage nunmehr den § 31 e geschaffen, und darin ist die Beitragserstattungspflicht auch auf die Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherung ausgedehnt worden. Meine Fraktion ist der Auf- *) Siehe Anlage 3. ({1}) fassung, daß eine Gleichstellung dieser drei Versicherungsarten in dieser Weise nicht begründet und auch unberechtigt ist. Bei der Rentenversicherung ist die Beitragserstattungspflicht in dem Sinne, wie sie hier vorgesehen war und auch jetzt im § 31 e enthalten ist, durchaus begründet. Aber bei der Krankenversicherung beispielsweise handelt es sich ja auch dem Wesen nach um etwas völlig anderes als etwa bei der Rentenversicherung. Darauf ist auch der Ausschuß durch besondere Schreiben des Bundesarbeitsministeriums und, wenn ich nicht irre, auch des Bundesfinanzministers hingewiesen worden. Diese Hinweise haben aber eine Beachtung im Ausschuß nicht gefunden. Von der Krankenversicherung wird man sagen dürfen, daß sie doch im Gegensatz zur Rentenversicherung eine Schadensversicherung ist. Die Krankenversicherungen, in denen die betreffenden Personen seinerzeit versichert werden mußten, haben auch das vollständige Risiko für diese Versicherten getragen, und sie haben ganz ohne Zweifel auch in erheblichem Umfange Leistungen für diese Personen und ihre Familien aufgebracht. In der Vorlage ist vorgesehen, daß diese aufgebrachten Leistungen bei der Erstattung der Arbeitnehmeranteile in Abzug gebracht werden sollen. Ich erlaube mir, der Ansicht Ausdruck zu geben, daß, wenn das geschieht, wahrscheinlich eine Reihe von Anspruchsberechtigten eben wegen der Fülle der Leistungen, die sie erhalten haben - wenn man es einmal ganz formal ausdrücken wollte -, eigentlich noch eine Stange Geld mitbringen müßten, weil die Leistungen, die ihnen wurden, die eingezahlten Arbeitnehmerbeiträge um ein Erhebliches überschreiten. ({2}) Aber auch abgesehen davon sind wir der Sache nach der Meinung, daß man die Krankenversicherungen und in ähnlicher Weise auch die Arbeitslosenversicherung, weil sie eine andere Art von Versicherung als die Rentenversicherung sind. nicht erstattungspflichtig machen sollte. Noch etwas rein Technisches dazu - das hat mit dem Grundsätzlichen an sich nichts zu tun -: Auch die Feststellung der gewährten Leistungen aus der damaligen Zeit wird bei der Krankenversicherung wahrscheinlich in der Mehrzahl der Fälle einfach deshalb nicht mehr möglich sein, weil eine große Anzahl von Krankenversicherungen ihre Unterlagen durch den Bombenkrieg entweder verloren haben oder die Unterlagen nach zehnjähriger Aufbewahrung inzwischen ebenfalls nicht mehr vorhanden sind. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn hier schon von einer Erstattungspflicht gesprochen wird, dann kann man sehr wohl die Auffassung vertreten, daß für eine solche Erstattung nicht die Krankenversicherungsträger und die Träger der Arbeitslosenversicherung, die auch ihre Leistungen aufgebracht haben, in Frage kämen, sondern dann kann man sehr wohl darüber reden, ob für eine solche Erstattung nicht der Bund zuständig sein sollte. Wir sind jedenfalls der Meinung, daß eine Gleichstellung dieser drei Versicherungsarten in der Vorlage nicht berechtigt ist und daß man eine Erstattungspflicht der Krankenversicherung und ( der Arbeitslosenversicherung hier nicht aussprechen sollte. Ich darf deshalb das Hohe Haus bitten, unseren Änderungsvorschlag auf dem Umdruck 499 seine Zustimmung zu geben. ({4})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Das Wort hat der Abgeordnete Matzner.

Oskar Matzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Auftrage meiner Fraktion möchte ich zu dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU ebenso eindringlich wie kurz Stellung nehmen. Zuerst zur formalen Seite. Ich kann hier feststellen, daß der Wiedergutmachungsausschuß - und da nehme ich niemanden aus - im Geiste einer wirklichen Wiedergutmachung gearbeitet hat. Das drückte sich zum Schluß auch darin aus, daß die Mitglieder des Wiedergutmachungsausschusses beschlossen, an ihre Fraktionen heranzutreten, um sie zu veranlassen, zu diesem Gesetzentwurf im Plenum keine Änderungsanträge zu stellen. ({0}) Das möchte ich ausdrücklich feststellen. Das Ergebnis dieser Übereinkunft war dann auch, daß eine gemeinsame Entschließung verfaßt wurde, die vom Ausschußvorsitzenden im Namen aller Fraktionen hier vorgetragen werden soll. Wenn diese Entschließung nun dadurch etwas an Wert verliert, daß die Übereinkunft hinsichtlich der Änderungsanträge nicht eingehalten wurde, so ist das sehr zu bedauern. Das möchte ich in aller Eindringlichkeit feststellen. Außerdem haben wir alle sachlichen Einwendungen in zwei Sitzungen des Wiedergutmachungsausschusses geprüft. Ich möchte namens meiner Fraktion dazu noch einmal Stellung nehmen, weil der Begründer des Antrags die Debatte im Ausschuß nicht in allen Teilen wiedergegeben hat. Ich kann mich erinnern, daß Herr Kollege Horn in der Schlußsitzung, in der das Arbeitsministerium den Generalangriff auf diese Paragraphen unternahm, selbst anwesend war ({1}) und im Ausschuß nicht das Wort ergriffen hat. ({2}) - Zumindest waren Sie an diesem Tage im Ausschuß. ({3}) - Ich habe mich nicht umgesehen, ob Sie den Ausschuß vielleicht früher verlassen haben. ({4}) Zur Sache selbst! Es ist richtig, meine Damen und Herren, daß bei der Krankenversicherung und bei der Arbeitslosenversicherung etwas anderes vorliegt als bei der Rentenversicherung. Aber auch bei der Rentenversicherung erinnere ich mich, daß bei den Beratungen des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes das Arbeitsministerium damals schon erhebliche Einwendungen gemacht und gesagt hat, die Rentenversicherung habe ja das Risiko getragen, ({5}) und deswegen könne man diese Beiträge nicht erstatten. Es bedurfte eines einstimmigen Beschlusses sowohl des Ausschusses wie des Plenums, bei der Rentenversicherung bezüglich der 131 er so ({6}) zu verfahren. Wenn man das also hier bei den Wiedergutmachungsberechtigten tut, so ist das nichts anderes als eine selbstverständliche Wiedergutmachung gegenüber den 131 ern, die die Möglichkeit der Rückerstattung schon jahrelang für sich in Anspruch nehmen konnten. ({7}) - Ich- will nur feststellen, daß der eigentliche Initiator dieses Antrages das Arbeitsministerium ist. ({8}) Zurück zur Sache! Es ist klar, daß diese Versicherungen genau so wie die Rentenversicherung, wenn auch in einer anderen Art, ein Risiko getragen haben. Aber warum versäumt man es, zu erklären, daß dieses Risiko zum Teil schon durch die Arbeitgeberbeiträge abgedeckt ist, die ja nicht zurückgefordert werden, ({9}) bei der Rentenversicherung nicht, bei der Arbeitslosenversicherung nicht und bei der Krankenversicherung auch nicht? Nach dieser Feststellung möchte ich mich nun dem Einwand zuwenden, daß die technische Durchführung schwer sei. Das ist uns bekannt, und wir haben auch diesen Einwand im Ausschuß gründlich geprüft. Der Ausschuß hat trotzdem, auch in der letzten Phase seiner Beratungen, einen einstimmigen Beschluß gefaßt, den Beschluß, wie er Ihnen in Drucksache 1937 vorliegt. Ich möchte Sie deshalb bitten, den Antrag auf Umdruck 499 abzulehnen. Damit aber das Wiedergutmachungsgesetz auch in diesem Falle in einer Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen dieses Hauses über die Bühne geht, stelle ich hierzu einen Antrag. Auch wir waren nicht von allen Bestimmungen des Gesetzes befriedigt. Auch in meiner Fraktion war die Meinung vorhanden, man könnte zu diesem oder jenem Paragraphen noch Änderungsanträge stellen. Wir haben aber angesichts der Übereinkunft auf diese Anregung verzichtet. Um dieser Übereinstimmung des ganzen Hauses willen bitten wir, den Umdruck 499 abzulehnen, dafür aber einen Vermittlungsvorschlag anzunehmen, den ich bekanntgeben darf. Ich bitte, in der Drucksache 1937 in § 31 e Abs. 1 nach der achten Zeile, d. h. nach dem Wort „Beiträge", folgendermaßen fortzufahren: „zu den gesetzlichen Rentenversicherungen oder zur Arbeitslosenversicherung entrichtet worden . . . Das bedeutet, daß wir die Krankenversicherung fallenlassen. Wir glauben, das in diesem Falle tun zu können, weil die Feststellungen auch nach unserer Auffassung ungeheuer schwer zu treffen sind. Ich bitte Sie noch einmal, damit die volle Übereinstimmung über diesen Gesetzentwurf bis zum Schluß erhalten bleibt, unser en Antrag anzunehmen. ({10})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Herr Abgeordneter, ich bitte, mir den Antrag schriftlich heraufzureichen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider ({0}).

Georg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002043, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht gegen den Antrag meiner Fraktion sprechen, bin aber nicht mit der Begründung einverstanden, die mein Fraktionskollege Horn vorgebracht hat. An sich ist es ein Novum, daß man - das hat man aber schon beim 131 er-Gesetz getan - für eine Zeit, in der die Versicherung das Risiko getragen hat, Beiträge erstatten will. Aber dieses Unrecht ist nun einmal geschehen, und es bleibt uns nach Lage der Dinge nichts anderes übrig, als nunmehr dieses Unrecht - ein Unrecht ist es vom Standpunkt der Versicherung aus - auch gegenüber den Angehörigen des Personenkreises gelten zu lassen, der von dem Gesetz erfaßt wird, über das wir debattieren. Ein Unrecht liegt in jedem Falle vor, wenn man einer bestimmten Personengruppe Beiträge erstattet. Es gibt nämlich nicht nur diese Personengruppe, die versichert gewesen und dann ausgeschieden ist, sondern es gibt auch noch andere Personengruppen. Hunderttausende sind im Laufe der Jahrzehnte auf Grund der Pflichtversicherung vorübergehend in der Rentenversicherung versichert gewesen. Sie sind dann aus irgendeinem Grunde aus der Pflichtversicherung ausgeschieden und haben sich nicht freiwillig weiterversichern lassen. Auch sie hätten einen Anspruch, die Beiträge zurückzuerhalten. Meiner Meinung nach war es sogar ein Verstoß gegen das Grundgesetz, daß man seinerzeit im 131 er-Gesetz die Rückerstattung der Beiträge festgelegt hat. Wenn dieser Antrag angenommen wird - ich plädiere dafür -, wird diese Vergünstigung auch dem Personenkreis zugute kommen, der durch den uns vorliegenden Gesetzentwurf erfaßt werden soll. Das ist aber die einzige Begründung, die man überhaupt für diesen Antrag finden kann. Ich setze mich nur deshalb für den Antrag ein, weil ich realistisch genug bin, um zu wissen, daß das im 131 er-Gesetz gesetzlich festgelegte Unrecht im Augenblick - vielleicht auch auf die Dauer - nicht wiedergutgemacht werden kann, und weil ich nicht einen Personenkreis ausschließen möchte, der wahrscheinlich ein größeres Anrecht hat, begünstigt zu werden, als der Personenkreis, der vom 131 er-Gesetz erfaßt worden ist. Ich glaubte diese Ausführungen machen zu sollen, damit nicht hier im Hause etwa die Meinung bestehen bleibt, der Grundsatz sei an sich richtig, daß man Versicherten die Beiträge zurückerstattet, wenn sie eines schönen Tages aus der Pflichtversicherung ausgeschieden sind. Also in dem Gedanken an die Gleichziehung mit dem Kreis der 131 er liegt für mich die einzige Begründung, mich trotz größter Bedenken für die Annahme dieses Antrages einzusetzen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Das Wort hat der Herr Bundesarbeitsminister.

Anton Storch (Minister:in)

Politiker ID: 11002264

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen hier die Dinge doch so sehen, wie sie sind. In der Krankenversicherung haben wir es mit einer Gegenseitigkeitsversicherung zu tun, wo eben derjenige, der gesund ist, für den zahlt, der krank ist. Hier haben nunmehr auch die Herren von der Sozialdemokratischen Partei ihre Widerstände aufgegeben. Ich gebe gern zu, daß die Arbeitslosenversicherung in der nationalsozialistischen Zeit keine Versicherung gewesen ist. Sie war mehr oder weniger ({0}) eine Sondersteuer, die damals in der Höhe von 6 1/2 % des Arbeitslohnes eingezogen und nur zu ungefähr 17 oder 18 % für ihren eigentlichen, gesetzlichen Zweck verwandt wurde. Ich bin deshalb der Meinung, das Hohe Haus täte gut daran, auf diesem Gebiet dem Antrag der Sozialdemokratischen Partei zu entsprechen, um damit die Möglichkeit zu schaffen, daß das Gesetz möglichst einstimmig verabschiedet wird. ({1})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Das Wort hat der Abgeordnete Horn.

Peter Horn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000959, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß wir uns nun bezüglich der Krankenversicherung gefunden haben und übereinstimmend der Auffassung sind, es sei zweckmäßig, sie nicht einzubeziehen. Bezüglich der Arbeitslosenversicherung wollen wir dann von uns aus nicht weiter auf einer Herausnahme bestehen, so daß wir uns also in dieser Sache durchaus verständigt hätten. Ich möchte aber noch etwas aufgreifen. In § 31 e heißt es: „Beiträge abzüglich der gewährten Leistungen erstattet", während es in der ursprünglichen Vorlage hieß: „sofern Leistungen nicht gewährt worden sind". ({0}) - Ich bin aber der Auffassung, daß wir im Hinblick auf die technische Durchführung, da doch ein Antrag gestellt werden muß, mit der Formulierung „sofern Leistungen nicht gewährt worden sind" besser wegkämen; denn die Leute werden die Anträge wahrscheinlich gar nicht erst stellen, wenn sie Leistungen bekommen haben. Ich will das im Augenblick nur einmal zur Erwägung geben, ohne eine konkreten Antrag zu stellen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Das Wort hat der Abgeordnete Professor Böhm. ({0}) Abgeordneter Greve.

Dr. Otto Heinrich Greve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000724, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Zwischen der von Herrn Horn eben zitierten ursprünglichen Fassung und der jetzigen Fassung besteht ein sachlicher Unterschied. Wenn es heißt: „etwaige freiwillig entrichtete Beiträge abzüglich der gewährten Leistungen erstattet", dann ist immer noch derjenige Betrag zurückzuerstatten, der nach Abzug der gewährten Leistungen verbleibt, während bei der Formulierung „sofern Leistungen nicht gewährt worden sind" der gesamte Betrag nicht zurückerstattet wird, falls überhaupt Leistungen gewährt worden sind. Das ist ein sachlicher Unterschied, und die neue Fassung ist vom Ausschuß im Einvernehmen mit dem Beamtenrechtsausschuß absichtlich gewählt worden. Ich möchte Sie bitten, Herr Abgeordneter Horn, Ihren Einwand zurückzuziehen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich habe ja auch noch keinen entsprechenden schriftlichen Antrag hier vorliegen. Wird weiter das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung und komme zur Abstimmung. Darf ich das so verstehen, daß nunmehr der Änderungsantrag auf Umdruck 499 zurückgezogen wird? ({0}) - Das ist ein zweiter Punkt. - Der Antrag Umdruck 499 *) wird also nicht mehr als Antrag aufrechterhalten, sondern zurückgezogen. Nun liegt der Änderungsantrag zu § 31 e vor, der allerdings etwas unpräzise gefaßt ist. Ich habe mir das schnell einmal durchgelesen. Wir wollen uns ja nur darüber klar sein. Es ist natürlich für mich als Präsident etwas schwierig, da aus dem Handgelenk zu folgen. § 31 e Abs. 1 Zeilen 7 bis 10 sollen jetzt lauten: ,,. . . Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen oder zur Arbeitslosenversicherung entrichtet worden ...". In der Ausschußfassung heißt es: „. . . Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen, zur Arbeitslosenversicherung oder zur Krankenversicherung entrichtet worden . . .". Der materielle Inhalt des Antrages ist also, daß die drei Worte „oder zur Krankenversicherung" gestrichen werden sollen. Ist das klar? - Gut, dann lasse ich darüber abstimmen. Wer dem Antrag **) zuzustimmen wünscht, gebe ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich lasse dann abstimmen über § 31 e in dieser neuen Fassung. Wer ihm zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich rufe weiter auf §§ 32, - 33, - 34, - 35, -Einleitung und Überschrift der Anlage -; denn dabei sind wir ja immer noch. Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich diejenigen, die den aufgerufenen Paragraphen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünschen, das Handzeichen zu geben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich kehre nunmehr zurück zu dem Gesetz selbst und lasse abstimmen über den Art. I in der Ausschußfassung, nachdem wir die Anlage erledigt haben. Wer dem Art. I in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich rufe auf Art. II, - III, - IV, - V, - VI, - VII, - Einleitung und Überschrift. - Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall; dann schließe ich die Beratung. Wer den aufgerufenen Artikeln, der Einleitung und der Überschrift in der zweiten Beratung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Damit ist die zweite Beratung des Gesetzes beendet. Ich trete in die dritte Beratung ein und eröffne die allgemeine Aussprache. Ich frage: Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall; dann schließe ich die allgemeine Aussprache. *) Siehe Anlage 3. **) Umdruck 502. ({1}) Bevor ich zur Abstimmung schreite, erteile ich das Wort dem Abgeordneten Greve zu einer Erklärung.

Dr. Otto Heinrich Greve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000724, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Bevor ich hier die Erklärung für alle Fraktionen des Deutschen Bundestages verlese, möchte ich meinem Befremden darüber Ausdruck geben, daß in der heutigen Sitzung der Finanzreferenten des Bundesrates der Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen, der Haushaltsreferent des Finanzministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Ministerialdirigent Tapolski, erklärt hat, die Verabschiedung dieses Gesetzes habe keine Eile; man könne sich mit der Verabschiedung dieses Gesetzes Zeit lassen. Wenn es so lange gedauert habe, bis dieses Gesetz jetzt im Bundestag zustande komme, könne es auch noch länger dauern. ({0}) Was die Öffentlichkeit darüber denke, sei ganz egal; die würde sowieso verstehen, was sie von diesem Gesetz zu halten habe. ({1}) Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß das nicht der Geist ist, in dem ein Teil des deutschen Parlaments Wiedergutmachungsgesetze behandeln sollte. Ich bedauere außerordentlich, daß es im Bundesrat überhaupt möglich ist, etwas Derartiges zum Ausdruck zu bringen. Es war kein Minister, der so gesprochen hat und den man parlamentarisch in dem entsprechenden Landtag dafür verantwortlich machen könnte. Aber ich bin der Auffassung, daß der Deutsche Bundestag auch, wenn derartige Äußerungen in einem Ausschuß des Bundesrats getan werden, das Recht hat, sich dagegen zu wenden. Ich für meine Person möchte jedenfalls zum Ausdruck bringen, daß es überhaupt kein Gesetz auf dem Gebiet der Wiedergutmachung gibt, das nicht eilbedürftig wäre. ({2}) Wir haben mit derartigen Gesetzen schon lange genug gewartet. Das müssen auch diejenigen begreifen, die für ihre Ministerien in den entsprechenden Ausschüssen des Bundesrats an verantwortlicher Stelle auf dem Gebiete der Wiedergutmachung mitwirken. Für die Fraktionen des Deutschen Bundestages habe ich als Vorsitzender des Ausschusses für Fragen der Wiedergutmachung ({3}) folgende Erklärung zu dem Gesetz abzugeben. Der Deutsche Bundestag hat niemals einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß er die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts nicht nur für eine unabdingbare Rechtspflicht der Bundesrepublik hält, sondern für eine jener Aufgaben, denen im Bereich unseres politischen Lebens der höchste Rang zukommt und deren Lösung das Gesicht unseres neuen Staatswesens bestimmt. Das Bekenntnis zur Demokratie, zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und zu den besten Überlieferungen unserer eigenen Geschichte bleibt ein bloßes Lippenbekenntnis, wenn es nicht auf dem Gebiet der Wiedergutmachung durch die Tat bekräftigt wird. Der Entsetzen erregende Umfang der nationalsozialistischen Verbrechen, die ungemein großen sachlichen und organisatorischen Schwierigkeiten der Aufgabe, der Mangel an Vorbildern und praktischer Erfahrung, der Werdegang unseres staatlichen Neuaufbaus nach dem Zusammenbruch während der Besatzungszeit, der Mangel an geeigneten Kräften, die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit und Mittel, die Überforderung des uns zur Verfügung stehenden Apparates auf dem Gebiete der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Justiz durch die Fülle der andrängenden Aufgaben, die Zerstörungen, die Hitlerstaat, Krieg und Zusammenbruch im Gefüge von Staat, Gesellschaft und Überlieferung angerichtet haben, waren die Ursachen, die zu unserem Schmerz dazu beigetragen haben, daß die bisher erlassenen Gesetze und ihre Ausführung vielfach nicht den Erwartungen genügt haben, die wir selbst verpflichtet und die Verfolgten berechtigt sind an die deutsche Wiedergutmachung zu stellen. Unsere Wiedergutmachung ist zu langsam angelaufen, sie ist nicht umfassend, nicht praktisch, nicht gerecht genug. Inzwischen sind Erfahrungen gesammelt worden, und eine sorgfältige und sachkundige Kritik hat den Grund vieler Mängel aufgedeckt, die es dem Bundestag ermöglichen, die bestehenden Gesetze zu verbessern. Eines der Gesetze, deren Reform sich als unerläßlich erwiesen hat, ist das Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes vom 11. Mai 1951. Die Bundesregierung hat dem Bundestag schon vor längerer Zeit einen Gesetzentwurf zugeleitet. Der Wiedergutmachungsausschuß hat geglaubt, diesen Entwurf noch erheblich erweitern zu sollen, so daß es sich als notwendig erwiesen hat, das Gesetz in seinem ganzen Umfang neu zu fassen. Eine der wesentlichsten Änderungen des heute beratenen Entwurfs im Vergleich zum bisher geltenden Gesetz besteht darin, daß nicht nur solche Personen einbezogen werden, die zur Zeit der Schädigung bereits öffentliche Bedienstete waren, sondern auch solche, die gegen jedes Recht aus Verfolgungsgründen von der Laufbahn eines öffentlichen Bediensteten ausgeschlossen wurden. Zwar sind einer solchen Einbeziehung gewisse praktisch unübersteigbare Grenzen gezogen, so daß hier nur eine beschränkte Wiedergutmachung möglich ist. Es sollte aber der Rechtsgedanke zum Ausdruck gebracht werden, daß ein spezielles Wiedergutmachungsrecht für öffentliche Bedienstete seine gesetzliche Rechtfertigung nicht nur darin findet, daß der Staat oder eine Gemeinde ihre besondere Treupflicht als Dienstherren verletzt haben, sondern auch darin, daß sie ihre Verfügungsgewalt über Ämter und Arbeitsplätze dazu mißbraucht haben, das Volk in Klassen höheren und minderen Rechts zu spalten, die Entrechteten vom Dienst in Staat und Gemeinde auszuschließen und ihnen eine privilegierte Oberschicht von Aktivisten, Gleichgeschalteten und rassisch Ausgelesenen zu Herren zu setzen. Das Gesetz soll also hinfort kein Spezialgesetz zur Entschädigung für rechtswidrige Eingriffe in die Besitzstände einer Gruppe sein, sondern ein die Gesamtheit aller Bürger umfassendes demokratisches Gesetz zur Entschädigung für den rechtswidrigen Ausschluß verfolgter Kreise von der Möglichkeit, ihrem Staat oder ihrer Gemeinde als Beamte oder Angehörige des öffentlichen Dienstes zu dienen, wenn sie die sachlichen Voraussetzungen dafür erfüllen, und sich für solche Berufe vorzubereiten. ({4}) Des ferneren läßt es sich der Entwurf angelegen sein, den Besonderheiten solcher Gruppen öffentlicher Bediensteter oder ihnen gleich zu achtender Berufstätiger entschädigungsrechtlich Rechnung zu tragen, deren Rechtsstellung aus dem üblichen Beamtenschema herausfällt, also etwa der gewählten Bürgermeister, der Privatdozenten oder der nicht beamteten Hochschullehrer. Auch hier sollten die Türen des engen Besitzstandrechts gesprengt werden. Der Bundestag hofft, mit diesem Gesetz das Seinige dazu beizutragen, daß den ausführenden Stellen und den Gerichten die Anwendung leichter gemacht wird. Er hofft, daß auch da, wo das Gesetz die Praxis vor neue und nicht leichte Aufgaben stellt, der Zweck und die Tragweite der Vorschriften hinreichend klar zum Ausdruck gebracht worden sind. Um die noch bestehenden Auslegungsschwierigkeiten zu mildern, sind vorsorglich die Verhandlungen des Wiedergutmachungsausschusses stenographisch festgehalten worden. Der Bundestag gibt der Erwartung Ausdruck, daß auch die Verwaltung in Bund und Ländern das Ihrige tut, um die von diesem Gesetz 'eröffneten Möglichkeiten einer schleunigen, umfassenderen und gerechteren Wiedergutmachung voll auszuschöpfen, und fühlt sich in diesem Vertrauen dadurch gestärkt, daß eine Reihe von wichtigen Verbesserungen ihre Entstehung der Initiative der Verwaltung verdanken und daß der Rat der an den Beratungen des Ausschusses beteiligten Ressorts auch da von Gewicht war, wo der Ausschuß über den Regierungsentwurf hinausging und den Beistand der Ressorts für die gesetzliche Formulierung in Anspruch nahm. Der Bundestag ist sich bewußt, daß nicht so sehr im Bereich dieses Gesetzes, wohl aber im Bereich der gesamten Wiedergutmachung der Hauptteil der praktischen Wiedergutmachungsleistungen erst noch zu erfüllen ist. Sosehr wir das im Angesicht so vieler Unglücklicher beklagen müssen, so gibt es doch dem deutschen Volk in demjenigen Teil des Staatsgebietes, in dem es heute die Möglichkeit hat, seinen politischen Willen in demokraschen Formen frei zu bilden, die Gelegenheit, durch die Tat zu bekunden, daß sein Wiedergutmachungswille durch die Erweiterung der Souveränitätsrechte nicht geschwächt, sondern gekräftigt worden ist. Auch bloß materielle Wiedergutmachung kann, wenn ein Rückschluß auf den Wiedergutmachungswillen möglich sein soll, nur das Ergebnis freier politischer Selbstbestimmung eines Volkes sein. ({5})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Meine Damen und Herren, da zur dritten Lesung keine Änderungsanträge vorliegen, komme ich zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen in der Fassung der zweiten Lesung zuzustimmen wünscht, erhebe sich von seinem Platz. - Ich stelle einstimmige Annahme fest. Damit ist das Gesetz verabschiedet. ({0}) Ich rufe auf Punkt 3 der heutigen Tagesordnung: Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses ({1}) über den Antrag des Bundesministers der Finanzen betreffend Entlastung der Bundesregierung wegen der Bundeshaushaltsrechnung für das Rechnungsjahr 1951 auf Grund der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes ({2}). Ich erteile dem Berichterstatter, Herrn Abgeordneten Ohlig, das Wort. Ohlig ({3}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im wesentlichen verweise ich auf die gedruckte Vorlage 1889. Der Haushaltsausschuß hat beschlossen, ,daß lediglich in einem Punkt einige mündliche Ergänzungen gemacht werden sollen. Es handelt sich um Ziffer 5 der Anlage. Dort werden Bemerkungen des Bundesrechnungshofes erwähnt, die die außerplanmäßige Ausgabe von 464 Millionen DM zur teilweisen Deckung des kassenmäßigen Fehlbetrages beim außerordentlichen Haushalt betreffen. Diese außerplanmäßige Ausgabe wurde am 2. April 1953 unmittelbar vor dem Abschluß der Kassenbücher für das Rechnungsjahr 1951 vom Bundesminister der Finanzen angeordnet. Ohne diese Leistung an den außerordentlichen Haushalt hätte der ordentliche Haushalt für das Rechnungsjahr 1951 mit einem Überschuß von 207 Millionen DM abgeschlossen werden können. Durch diese Leistung entstand aber ein Fehlbetrag von rund 257 Millionen DM. Der § 75 der Reichshaushaltsordnung sieht vor, daß Überschüsse zur Verminderung des Anleihebedarfs verwendet werden. Das ist hier zwar geschehen, aber die Leistung hätte nach Auffassung des Bundesrechnungshofes erst nach Abschluß der Kassenbücher erfolgen dürfen. Der Herr Bundesminister der Finanzen hat in seinen Vorbericht zur Bundeshaushaltsrechnung 1951 einen Hinweis aufgenommen. Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, daß dieser Hinweis nicht genügt. Der Haushaltsausschuß hat sich im wesentlichen der Stellungnahme des Bundesrechnungshofes angeschlossen. Es wurde aber beschlossen, im Plenum solle auch die Auffassung des Herrn Bundesministers der Finanzen vorgetragen werden. Das will ich jetzt kurz tun. Der Herr Bundesminister der Finanzen ist der Auffassung, daß durch die Übernahme der Auslegung des § 75, wie sie durch den Bundesrechnungshof erfolgt ist, die vorhandenen Zweifelsfragen nicht geklärt seien. Die Auslegung des § 75 der Reichshaushaltsordnung ist umstritten. Im Gegensatz zu den Auffassungen des Herrn Bundesministers der Finanzen vertritt der Bundesrechnungshof die Ansicht, daß derartige außerplanmäßige Überweisungen an den außerordentlichen Haushalt nur bis zur Höhe eines Überschusses durchgeführt werden. dürfen. Der Bundesminister der Finanzen vertritt dagegen den Standpunkt, daß der außerordentliche Haushalt in jedem Fall, auch in der Rechnung, ausgeglichen sein muß. Ein Fehlbetrag im außerordentlichen Haushalt sei begrifflich nicht möglich. Grundsätzlich müßten alle Ausgaben des außerordentlichen Haushalts, die im laufenden Rechnungsjahr nicht durch Anleihen bestritten werden können, zu Lasten des ordentlichen Haushalts gehen. Der Haushaltsausschuß war der Auffassung, diese umstrittene Frage solle endgültig bei der kommen- den Haushaltsreform gelöst werden. Es ist beabsichtigt, die Trennung zwischen ordentlichem und außerordentlichem Haushalt fallenzulassen. An Stelle des außerordentlichen Haushalts soll ein Investitionshaushalt treten. Wenn dieser Vorschlag bei der Reform des Haushaltsrechts angenommen ({4}) wird, wird die strittige Buchungsfrage gegenstandslos. Im übrigen bittet der Haushaltsausschuß das Hohe Haus, seinem Antrag auf Drucksache 1889 zuzustimmen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Bevor ich die Aussprache zu Punkt 3 eröffne, gestatten Sie mir, noch einmal zu Punkt 2 der heutigen Tagesordnung zurückzukehren. Ich habe vergessen, über einen Antrag abzustimmen zu lassen, den Sie in dem Ausschußbericht auf Seite 6 unter Ziffer 2 finden. Er lautet: ... 2. die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer diesem Antrag des Ausschusses zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Nun eröffne ich die Aussprache zu Punkt 3 der Tagesordnung und erteile das Wort dem Abgeordneten Schoettle.

Erwin Schoettle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002061, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich namens meiner Fraktion zu Drucksache 1889 folgendes erkläre. Der Herr Bundesfinanzminister hat in seiner Haushaltsrede davon gesprochen, daß die Finanz-und sinngemäß auch die Haushaltspolitik zu dienen habe, d. h. der Durchführung der Politik der Regierung, die diese Haushalte vorlegt. Da wir diese These akzeptieren, müssen wir sie auch übertragen auf die außerordentlichen und überplanmäßigen Ausgaben, auf die Haushaltsüberschreitungen, die im Laufe eines Rechnungsjahres durch den Herrn Bundesfinanzminister vorgenommen und in den Haushaltsrechnungen dem Parlament zur nachträglichen Genehmigung vorgelegt worden sind. Wir sind deshalb nicht in der Lage, der Ziffer 1 der Vorlage, die der Haushaltsausschuß dem Hause unterbreitet hat, zuzustimmen. Ebensowenig sind wir in der Lage, dem Antrag des Haushaltsausschusses auf Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung für das Rechnungsjahr 1951 zuzustimmen. Dafür sind dieselben politischen Gründe maßgebend. Dagegen möchte ich dem Hause und jedem einzelnen Abgeordneten empfehlen, von den unter Ziffer 3 angeführten Bemerkungen des Präsidenten des Bundesrechnungshofs nicht nur dem Worte nach, sondern tatsächlich Kenntnis zu nehmen; denn in dieser Denkschrift des Präsidenten des Bundesrechnungshofs sind eine ganze Menge Dinge enthalten, die für die Beurteilung der Haushaltspraxis außerordentlich wichtig sind. Wir sind bereit, dem Antrag unter Ziffer 3 zuzustimmen. Ebenso wollen wir den Entschließungen zustimmen, die der Haushaltsausschuß vorgelegt hat, weil wir der Meinung sind, daß in diesen Entschließungen eine ganze Reihe von ausgezeichneten Vorschlägen gemacht sind. Im übrigen, meine Damen und Herren, bitte ich, über die Vorlage getrennt abzustimmen, und zwar nach den Punkten 1, 2, 3 und 4. Über Punkt 4 kann nach unserer Meinung insgesamt abgestimmt werden.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Wird weiter das (' Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung. Ich komme zur Abstimmung. Die Stellungnahme der SPD-Fraktion bedingt schon, daß über die einzelnen Punkte getrennt abgestimmt wird. Ich lasse also abstimmen über den Antrag des Ausschusses auf Drucksache 1889, und zwar zunächst über Ziffer 1. Wer der Ziffer 1 zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit Mehrheit angenommen. Ziffer 2. Wer zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit der gleichen Mehrheit angenommen. Ziffer 3. Wer zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ziffer 4 a, b, c und d. Wer zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung erledigt. Ich rufe auf Punkt 4: Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses ({0}) über den Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes betreffend Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Rechnungsjahr 1953 - Einzelplan 20 - ({1}). Ich erteile das Wort dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Dr. Conring. Dr. Conring ({2}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde zu dem gedruckt vorliegenden „Mündlichen Bericht" nicht das Wort ergreifen, wenn nicht ein ausdrücklicher Wunsch des Haushaltsausschusses und des Rechnungsprüfungsausschusses mich dazu veranlaßte. Der Grund dafür ist folgender: Normalerweise stellt der Rechnungsprüfungsausschuß bei der Prüfung der Rechnungen fest, daß die Behörden die Haushaltsvoranschläge voll ausschöpfen, daß sie mit anderen Worten alle ihnen zur Verfügung gestellten Geldmittel, insbesondere die für den personellen und sächlichen Aufwand bestimmten Geldbeträge, in jedem Jahr voll ausgeben. Es kommt auch vor, daß sie sogar die Ansätze für den personellen und sächlichen Verwaltungsaufwand überschreiten. Es kommt aber wesentlich seltener vor, daß man Behörden antrifft, die von der Ausgabeermächtigung nicht den vollen Gebrauch machen, die mit anderen Worten die Geldmittel, die ihnen etatmäßig zur Verfügung gestellt sind, um den Personal- und Sachaufwand einer Behörde zu bestreiten, nicht voll ausschöpfen, sondern mit ihren tatsächlichen Ausgaben hinter den Etatspositionen zurückbleiben. Wir haben - das darf ich namens des Rechnungsprüfungsausschusses und des Haushaltsausschusses sagen - Veranlassung, einmal der Behörde zu gedenken, die bei der Ausgabengestaltung für 1953 eine solche Ausnahme gemacht hat; das ist der Bundesrechnungshof. Der Bundesrechnungshof hat in der Rechnung für das Etatsjahr 1953 bei mehreren Ansätzen erhebliche Einsparungen erzielt. Bei dem persönlichen Verwaltungsaufwand sind allein etwa 90 000 DM eingespart. Bei dem sächlichen Aufwand sind bei der Position „Ge({3}) schäftsbedürfnisse" über 25 % eingespart. Bei dem in jedem Haushalt wiederkehrenden Titel „Unterhaltung und Ergänzung der Geräte und Ausstattungsgegenstände in den Diensträumen" sind über 50 % eingespart, bei der Bücherei über 10 %, und so könnte ich noch einige andere Einzelpositionen nennen; ich will mich aber auf diese wenigen beschränken. Auch die Etatsposition „Betrieb von Dienstfahrzeugen" ist nicht voll ausgeschöpft, sondern man hat über 10 % gespart. Selbst bei dem zu Versuchungen reizenden Etatstitel für die Auslandsreisen der Beamten ist man über 25 % hinter der veranschlagten Summe zurückgeblieben. Der Herr Präsident des Bundesrechnungshofes, dem für „außergewöhnlichen Aufwand aus dienstlicher Veranlassung" ein Betrag von 5000 DM zur Verfügung steht, hat davon insgesamt nur 10 % ausgegeben. Der Rechnungsprüfungsausschuß und der Haushaltsausschuß haben gemeint, daß wir dieser Tatsache hier öffentlich bei der Entlastungserteilung gedenken sollten, daß wir einmal darauf hinweisen sollten, daß der Bundesrechnungshof insoweit ein Vorbild für manche anderen Bundesbehörden sein könnte, die nicht alle den gleichen Willen zu Ersparnissen bei dem sächlichen und personellen Verwaltungsaufwand unter Beweis stellen, die vielmehr oft mehr dazu neigen, den personellen und sächlichen Verwaltungsaufwand, für den ihnen Ausgabeermächtigung zugestanden ist, auch tatsächlich bis zur Neige auszuschöpfen. ({4}) Es scheint so zu sein, daß beim Bundesrechnungshof noch etwas von dem rühmlichst bekannten Sparsamkeitswillen der Oberrechnungskammer vorhanden ist. Ich meine, da der Bundesrechnungshof bei der Erfüllung seiner Aufgaben die Sparsamkeit an den Tag gelegt hat, die wir bei allen Behörden des Bundes, der Länder und der Gemeinden gerne sehen, so sollten wir diesen Fall hier rühmend hervorheben, auch wenn Herr Professor Gülich vielleicht der Auffassung ist, daß das nun gerade bei dem Bundesrechnungshof eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Es ist aber eigentlich keine Selbstverständlichkeit, daß Behörden von den Ausgabeermächtigungen z. B. bei der Position „Auslandsreisen" und „Betrieb von Dienstfahrzeugen" so sparsam Gebrauch machen. ({5}) - Ich glaube, der „Appell an die Moral" findet doch immer noch ein Echo, selbst dann, wenn dieser Appell vom Bundesrechnungshof ausgeht. Der Bundesrechnungshof soll auch ein Vorbild sein. Wenn er hier im Plenum ides Bundestages hervorgehoben wird, müßten auch andere Verwaltungen - seien es zentrale Instanzen, seien es mittlere und nachgeordnete Behörden - den Wunsch haben, auch hier einmal im Plenum des Bundestages in gleicher Weise genannt zu werden. ({6}) Ich bitte Sie deshalb, den beiden Anträgen, die in der Drucksache 1888 niedergelegt sind - diesmal mit freudigem Herzen -, Ihre Zustimmung zu geben. ({7})

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? -- Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag Drucksache 1888 zuzustimmen wünscht, der gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung erledigt. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Kraftloserklärung von Hypotheken-, Grundschuld- und Rentenschuldbriefen in besonderen Fällen ({0}); Mündlicher Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht ({1}) ({2}). ({3}) Ich erteile das Wort dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Hoogen. Hoogen ({4}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Zweck der Abkürzung meiner Berichterstattung kann ich auf die Begründung der Regierungsvorlage in der Drucksache 1830 verweisen. Da aber der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht auf Anregung des Senats der Stadt Berlin eine Bestimmung in den Regierungsentwurf eingefügt hat, glaube ich einige Ausführungen machen zu müssen, um diese Bestimmung verständlich zu machen. Der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht hat in den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eine Bestimmung eingefügt, mit der § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 18. April 1950 neu gefaßt wird. Diese Neufassung erfolgt, wie ich eben schon sagte, auf Anregung der Stadt Berlin. Es hat sich eine Reihe von Fällen ergeben, in denen nicht der Tatbestand vorliegt, von dem das Gesetz ausgeht, sondern ein damit verwandter, nämlich der, daß jemand verurteilt worden ist, einen Hypothekenbrief herauszugeben, daß sich aber die Gerichte der Sowjetzone weigern, das Herausgabeurteil zu vollstrecken. Das Land Berlin wünscht, daß dieser Tatbestand einer Verweigerung der Vollstreckung des Herausgabeurteils aus politischen Gründen in das Gesetz aufgenommen wird, um damit auch in diesen Fällen die Kraftloserklärung in erleichterter Form zu ermöglichen. Der Ausschuß hat die Auffassung vertreten, daß die Vollstreckung eines rechtskräftigen Herausgabeurteils dann - und nun darf ich die Formulierung des Gesetzentwurfs anführen - „zu Unrecht" verweigert wird, wenn die Verweigerung der Vollstreckung auf Grund anderer als der Rechtsgrundsätze erfolgt, die in der Bundesrepublik gelten. Ich bitte, dem Gesetzentwurf in der aus Drucksache 1913 ersichtlichen, Ihnen vom Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht vorgeschlagenen Form zuzustimmen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wir treten in die zweite Beratung des Gesetzes ein. Ich rufe auf in der Einzelberatung - alles in der Ausschußfassung - § 1, - § 2, - § 3, - Einleitung und Überschrift. Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache. ({0}) Wer den aufgerufenen Paragraphen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Damit ist die zweite Beratung des Gesetzes erledigt. Wir treten in die dritte Beratung ein. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Ich frage: wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die allgemeine Aussprache. Da Änderungsanträge nicht vorliegen, komme ich zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, der erhebe sich vom Platz. - Gegenprobe! - Ich stelle einstimmige Annahme fest. Punkt 6 der Tagesordnung: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Hessischen Gesetzes zur Einführung der Rechtsanwaltsordnung ({1}); Mündlicher Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht ({2}) ({3}). ({4}) Der Ausschußberichterstatter bittet das Hohe Haus, auf mündliche Berichterstattung zu verzichten, da es sich nur um ein Verlängerungsgesetz handle. Ich darf unterstellen, daß das Haus damit einverstanden ist. Dann treten wir in die zweite Lesung ein. Ich rufe auf § 1, - § 2, - Einleitung und Überschrift. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wer den aufgerufenen Paragraphen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Wir treten in die dritte Beratung des Gesetzes ein. Ich. eröffne die allgemeine Aussprache und frage: wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die allgemeine Aussprache und komme zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, der erhebe sich bitte vom Platz. - Ich stelle einstimmige Annahme fest. Punkt 7 der Tagesordnung: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Naegel, Kurlbaum, Scheel und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die vorläufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken ({5}) ({6}); Mündlicher Bericht des Ausschusses für Fragen des Gesundheitswesens ({7}) ({8}). ({9}) Ich erteile das Wort der Berichterstatterin, der Frau Abgeordneten Dr. Hubert. Frau Dr. Hubert ({10}), Berichterstatterin: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesundheitsausschuß hat in seiner Sitzung vom 15. November den ihm vom Plenum überwiesenen Gesetzentwurf der Kollegen Naegel, Kurlbaum und Genossen über die vorläufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken - Drucksache 1841 - beraten. Er kam nach kurzer Debatte zu dem einstimmigen Beschluß, keine Änderungen an diesem Gesetzentwurf vorzunehmen. Am 14. Dezember hat sich der Ausschuß erneut mit der Vorlage beschäftigt, weil inzwischen der Rechtsausschuß mit 16 Stimmen bei einer Stimmenthaltung die Auffassung vertreten hatte, daß der Gesetzentwurf verfassungswidrig sei. ({11}) Der Rechtsausschuß hat seine Stellungnahme damit begründet, daß erstens z. B. in Oldenburg die Errichtung von Apotheken nur durch Gewohnheitsrecht geregelt sei und es fraglich sei, ob man durch die jetzige Fassung des § 1 die Anwendung dieses Rechts vorschreiben könne, daß zweitens der Entwurf die Anwendung des nach 1945 in einzelnen Ländern geschaffenen Landesrechts verhindern wolle und daß nun kraft Bundesrechts verschiedene landesgesetzliche Regelungen wieder in Kraft gesetzt würden, und daß drittens die Länder nach Art. 72 Abs. 1 des Grundgesetzes die Befugnis zur Gesetzgebung hätten, solange und soweit der Bund nicht von seinem Recht Gebrauch mache; der Bund müsse also materielles Recht setzen. Der Rechtsausschuß nimmt außerdem Bezug auf seine Stellungnahme vom 12. Juli 1954 anläßlich des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die vorläufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken. Er hat zu jenem Zeitpunkt keine Einwendungen erheben wollen. Im Rechtsausschuß ist damals, laut Protokoll, die Meinung vertreten worden, daß selbst wenn verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden könnten, sie nicht ausreichen könnten, um einen chaotischen Zustand eintreten zu lassen, wobei sich der „chaotische Zustand" nicht etwa auf die Arzneimittelversorgung bezieht, sondern auf eine sehr weitgehende Rechtsungleichheit in der Bundesrepublik bezüglich der Neuerrichtung von Apotheken. Der Gesundheitsausschuß war nun in seiner heutigen Sitzung der Meinung, daß die Situation heute noch die gleiche ist wie 1954. Nach eingehender Diskussion und Anhörung des Vertreters des Justizministeriums konnte sich der Ausschuß die wesentlichsten Einwendungen des Rechtsausschusses nicht zu eigen machen. Soweit es sich um das Gewohnheitsrecht in einzelnen Landesteilen wie z. B. in Oldenburg handelt, war der Vertreter des Justizministeriums der Ansicht, daß dieses Recht durch den Begriff „Bestimmungen" im § 1 mit umfaßt sei. Der Einwand, daß durch den vorliegenden Gesetzentwurf verschiedenes Landesrecht wieder in Kraft gesetzt werden solle, wurde vom Ausschuß nicht verstanden. Denn der Entwurf will ja gerade das am 1. Oktober 1945 geltende materiell einheitliche Recht in der Bundesrepublik erhalten, das durch die Gesetzgebung in der amerikanischen Zone in der Zeit vor 1953 durchbrochen worden war.- Gerade bei Nichtverabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs würden wir wieder in die Uneinheitlichkeit der Zeit vor 1953 zurückfallen. Schließlich war der Ausschuß der Ansicht, daß in § 1 auch materielles Recht insofern enthalten ist, als für die Neuerrichtung von Apotheken einheitlich im ganzen Bundesgebiet so lange die Personalkonzession anzuwenden ist - wie das bis 1945 einheitlich der Fall war -, bis eine Neuregelung des gesamten Apothekenwesens erfolgt. Es besteht nach Ansicht des Ausschusses auch weiterhin ein ({12}) Bedürfnis nach solch einheitlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes. Der Ausschuß empfiehlt daher einstimmig dem Plenum, den Gesetzentwurf Drucksache 1841 unverändert anzunehmen.

Dr. Ludwig Schneider (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002046

Ich danke der Frau Berichterstatterin. Wir treten in die zweite Lesung des Gesetzes ein. Ich rufe auf § 1, - § 2, - § 3, - Einleitung und Überschrift. - Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung. Wer den aufgerufenen Paragraphen, der Einleileitung und der 'Überschrift in der zweiten Lesung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit Mehrheit angenommen. Damit ist die zweite Lesung des Gesetzes beendet. Wir treten in die dritte Beratung ein. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die allgemeine Aussprache. Da Änderungsanträge zur dritten Lesung nicht vorliegen, komme ich zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, möge sich bitte vom Platz erheben. - Gegenprobe! -Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen und Enthaltungen mit Mehrheit verabschiedet. Ich rufe auf Punkt 8 und damit den letzten Punkt der heutigen Tagesordnung: Beratung des Antrags der Fraktion der DP betreffend Reform der Rentenversicherung ({0}). Ich unterstelle, daß die Frau Abgeordnete Kalinke diesen Antrag begründen will. ({1}) Ich erteile ihr das Wort. Frau Kalinke ({2}), Antragstellerin: Der Herr Präsident hat richtig unterstellt. Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist mir eine Ehre, den Antrag der Fraktion der Deutschen Partei, Drucksache 1822, begründen zu dürfen. In der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages in der vergangenen Woche ist der Sozialetat verhältnismäßig kurz gestreift worden, und über die Ausgaben, soweit sie für die Vorbereitung der Sozialreform und für Maßnahmen der Sozialreform bereits im Haushalt vorgesehen waren, wurde nicht gesprochen. Es bleibt anzunehmen, daß das der zweiten Lesung des Haushaltsplans vorbehalten bleiben soll. Um so mehr ist in der öffentlichen Diskussion auf die Höhe des Sozialetats hingewiesen worden, bei dessen Festsetzung der Bundesfinanzminister erklärt hat, daß der Bund eine Umschichtung von Einkommen von den sehr begünstigten Schichten der Bevölkerung vornimmt, uni den Sozialetat zu sichern. Bei der Betrachtung des Etats im Zusammenhang mit der Sozialreform wird es aber notwendig sein, immer vor Augen zu haben, daß die 21 Milliarden DM, die für soziale Leistungen ausgegeben werden, und die 8,1 Milliarden DM im Sozialetat nicht allein von hoch verdienenden Steuerzahlern aufgebracht, sondern zum großen Teil von Arbeitern, Angestellten und Angehörigen des Mittelstandes mit kleinen und mittleren Einkommen finanziert werden müssen. Es wird also eine der ersten Aufgaben sein, bei allen Reformen dafür Sorge zu tragen, daß unter dem Titel „sozial" nicht eine unsoziale Politik getrieben wird, in der gar der Arme oder Bedürftige für den Wohlhabenden zahlen muß, wie es das Experiment des englischen Wohlfahrtsstaates so erschreckend gelehrt hat. Daß die Höhe des Sozialetats keineswegs entscheidend für die Qualität der sozialen Leistungen ist, wurde inzwischen von allen Parteien festgestellt. Die öffentliche Diskussion des letzten Jahres hat unter Beteiligung vieler Fachleute in der Fachliteratur und der Tagespresse die Probleme der Sozialreform nach zwei Richtungen behandelt, einmal als die einer gesellschaftspolitischen Entscheidung und zum anderen als die einer Forderung nach weiteren Erhöhungen aller sozialen Leistungen. Die Voraussetzungen für eine Reform, zu der nach unserer Auffassung eine Reihe von Vorarbeiten mehr hätten geleistet werden können, sind leider bisher nicht geschaffen. Dazu gehören die Herstellung der Rechtseinheit, die längst überfällig ist, und eine Beschaffung gewisser statistischer Unterlagen, die zur Klärung von Zweifelsfragen unerläßlich sind. Alles, was bisher an wirtschaftlichem Aufstieg und Wohlstand erreicht ist, könnte aber - so erklärte der Wirtschaftsminister Professor Erhard in der Konjunkturdebatte in Berlin warnend - durch den Sieg einzelner Gruppeninteressen gefährdet werden. Eine gesunde, organische Entwicklung kann nicht durch zu revolutionäre Pläne, die noch dazu unklar und unausgereift sind, gestört werden. Sie würden das erreichte Maß an Sicherung gefährden. Das heißt nicht etwa, daß wir in der Änderung nur gewisser Paragraphen der Reichsversicherungsordnung und ihrer Anpassung an die gegenwärtigen Bedürfnisse eine ausreichende Reform sehen. In der geistigen Auseinandersetzung geht es um die Frage, nach welchen Grundsätzen unsere Sozialpolitik künftig ausgerichtet werden soll. Sie darf nicht mit den Mitteln der sozialen Reformen gesellschaftspolitische Fernziele oder gar parteipolitische Machtpolitik oder verborgene, indirekte Vorbereitungen auf dem Weg zum totalen Wohlfahrtsstaat beinhalten. Nachdem die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung die umfassende Sozialreform versprochen hat mit dem Anliegen, die wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden und Waisen zu verbessern, wird dieses Versprechen zwar immer wieder zitiert, allerdings ohne den Zusammenhang mit der Einleitung der Regierungserklärung, daß nur eine gesunde Wirtschaft eine gesunde Sozialpolitik garantieren kann, daß die Probleme und Aufgaben der Sozialpolitik, der Wirtschaft und der Finanzen unlösbar miteinander verbunden sind. Nach der Erklärung des Bundeskanzlers vorn 20. Oktober 1953 hat es nicht an Vorschlägen zur Reform gefehlt. Alle, die sich mit den Fragen der Reform gründlich beschäftigen müssen, können kaum die Fülle der Literatur bewältigen, und es ist verständlich, wenn unter den Vorschlägen auch solche auftauchen wie die, in einem großen Code social alles zu Reformierende zusammenzufassen und damit jene Vereinfachung zu schaffen, nach der so viele streben. Diejenigen, die eine derartige Auffassung vertreten, sind sich nicht immer klar darüber, daß solche sozialreformerischen Bestrebungen, auf Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und ({3}) Einfachheit beschränkt, zwangsläufig dazu führen könnten, daß die zweckmäßigsten und einfachsten Losungen in einem zentralstaatlichen Ordnungssystem landen und damit indirekt wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen Vorschub leisten. Die in so großer Zahl gemachten Vorschläge enthalten solche Lösungsversuche; sie erscheinen denen einleuchtend, die die gefahrvollen Zusammenhänge aus der Auseinandersetzung von Vergangenheit und Gegenwart nicht genügend erkennen. Daneben gibt es aber auch noch jene Gruppen, die nach Gesprächen über die Reform das Ziel durch die Lösung verschiedener Teilfragen durch eine Fülle einzelner Gesetze und Novellen zu erreichen suchen. Der Erfolg solcher Versuche, wie sie in den letzten Jahren gemacht worden sind, führt zu einer immer lauter werdenden Klage über immer größere Unübersichtlichkeit und Unklarheit unserer sozialen Gesetzgebung und zu der Feststellung, daß die hohen Sozialleistungen nicht gezielt seien und trotz der Höhe des Etats für viele nicht ausreichten. Nun hat sich dieses Haus bei der Einsetzung eines Beirates zur Reform der Sozialversicherung für die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen den Prinzipien Versicherung, Versorgung und Fürsorge entschlossen. Es hat diese politische Entscheidung sicherlich in Kenntnis der vollen Tragweite getroffen, auch wenn heute von einigen Gegnern einer solchen Trennung der Vorwurf erhoben wird, daß es sich um Schubkastendenken handle oder daß es bei dem Problem Versicherung oder Versorgung nicht um Grundsatzfragen, sondern lediglich um Zweckmäßigkeitsfragen gehe. Die Trennung von Versicherung und Versorgung beinhaltet bereits eine Grundsatzentscheidung, die meine politischen Freunde aufrechterhalten möchten. Was wir der Regierung nicht zum Vorwurf machen, ist, daß sie bis heute ein umfassendes Reformwerk aller sozialen Leistungen nicht vorgelegt hat. Denn wir wissen, daß eine solche Aufgabe die permanente Aufgabe vieler Jahre, niemals die einer Legislaturperiode, viel weniger aber die der Hälfte einer Legislaturperiode sein kann, die bereits unter den Vorzeichen des nahenden Wahlkampfes steht. Was wir aber mit großem Bedauern beklagen und der Regierung vorhalten müssen, ist, daß die einzelnen Kabinettsmitglieder in der Öffentlichkeit in Reden und Erklärungen zu Einzelfragen der Reform Stellung nehmen, während das Kabinett selbst eine einheitliche Konzeption noch nicht bekanntgegeben hat, und daß, soweit es sich um Teilprobleme der Sozialversicherung handelt, auch der zuständige Bundesarbeitsminister dringend notwendige Vorbereitungen noch nicht getroffen hat, während in einzelnen Gesetzesvorlagen schon präjudizierende Entscheidungen, die nur im Zusammenhang mit der Gesamtreform getroffen werden sollten, eingeleitet wurden. Dafür überraschte uns in diesen Tagen der Herr Vizekanzler mit neuen Erklärungen und Versprechungen. Dem Handwerk versprach er hier in Bonn die befriedigende Regelung der Altersversorgung im Jahre 1956. Allen Deutschen aber versprach er eine gesicherte Rente von 200 DM und damit de facto die allgemeine Staatsbürgerversorgung mit dem Zwang zur Vorsorge für alle, auch wenn darin die Wahlfreiheit beinhaltet ist. Woher diejenigen, die nun nicht mehr 40 Jahre Beiträge zahlen können, die neue Mindestrente von 200 DM erhalten sollen, hat Herr Blücher bisher noch nicht gesagt. Es geschah bei der Haushaltsdebatte, daß auf den Zusammenhang zwischen der Sozialgesetzgebung und der Steuergesetzgebung deutlich hingewiesen wurde. Denkschriften, wie sie der Finanzminister zur Ehegattenbesteuerung, der Minister für Familienfragen zu Familienproblemen und Referenten des Innenministeriums zu Fragen der Jugendhilfe vorgelegt haben, wären in ihrem Wert bedeutender gewesen, wenn sie vom Kabinett beraten und interministeriell abgestimmt worden wären. Sie hätten auch größeren Wert, wenn dazu Klarheit über die Realisierbarkeit und die entstehenden Kosten, sei es für den Steuerzahler, sei es für den Versicherten, bestünde. Die Vorarbeiten, die hinsichtlich der L-Statistik und repräsentativer Erhebungen getroffen sind, werden von uns in ihrem Wert nicht unterschätzt. Trotzdem hätten wir angesichts der Denkschriften und Forderungen, aber auch angesichts der vollkommen veränderten Sozialstruktur und angesichts des großen Reservoirs an weiblichen Arbeitskräften gern gesehen, wenn auch die Sozialstatistik Klarheit über wichtige Fragen gäbe, die unlängst von Herrn Professor Pfister bei der Tagung der Aktionsgemeinschaft „Soziale Marktwirtschaft" dankenswerterweise aufgeworfen wurden. Ich meine hier Fragen wie die besonders in der Arbeitslosenversicherung fortgeschrittene Sozialisierung des Risikos. In diesen Tagen konnte die Bundesanstalt keine Antwort auf die Frage geben, wieviel Alfu-Empfänger aus der Alu kommen. Ich meine auch Fragen wie die - sie wären sicherlich der Untersuchung wert -, wie groß der Teil der Unterschuß- und Überschuß-versicherten ist, der sich zwischen Pflicht- und Weiterversicherten in der Kranken- wie in der Rentenversicherung ergibt. Es ist notwendig, zu wissen, wie groß das Risiko der Frauen, aber auch wie groß das Risiko der kostenlosen Familienhilfeleistungen innerhalb unserer Sozialversicherung ist und wieweit durch die Ausdehnung der Personenkreise,' durch die laufende Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten die Solidarhaftung überbeansprucht, ja gefährdet ist. Die Zwangsversicherung ist, um mit Professor Pfister zu sprechen, ein Problem allerersten Ranges geworden, weil die Gewinner und Verlierer unterschiedslos durcheinandergeworfen sind. Ohne Kenntnis der Belastung, die sich für die einzelnen Personengruppen in den Zwangsversicherungen, die immer noch die Kernstücke der sozialen Sicherung sind, ergibt, wird es schwer sein, zu Fragen des Personenkreises und der Einengung oder Ausweitung der bisherigen Beitragsverpflichteten und Anspruchsberechtigten Stellung zu nehmen. Die Presse berichtete im August überraschend über Grundsatzentscheidungen des Ministerausschusses. Es ist geradezu peinlich, in diesen Tagen laufend Veröffentlichungen in den Tageszeitungen aus dem interministeriellen Ausschuß oder Beratungsergebnisse des Sozialkabinetts zu lesen, die weder allen Mitgliedern des Kabinetts noch den Fraktionen im Parlament bekannt sind. Auch der Bundesminister für Arbeit hat viele Reden gehalten und hat, nachdem er seine Grundgedanken als Vorschläge an das Kabinett gegeben und sie dann veröffentlicht hat, leider keine Vorschläge zur Realisierung dieser Grundgedanken dem Parlament unterbreitet. Wenn er zu Beginn dieses Monats vor der Evangelischen Akademie in Hamburg im Zusammenhang mit der Rentenversicherung festgestellt hat, daß für den einzelnen bei weitem noch keine Spitzenleistung erreicht sei ({4}) und daß die Rente die Lebensgrundlage des Rentners sichern solle, so erwartet von ihm nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das Parlament, daß er hinsichtlich seiner Absichten zur Reform der Rentenversicherung klarlegt, wie die von ihm und anderen Ministern gegebenen Versprechungen, die auch mit Forderungen verschiedener Organisationen übereinstimmen, nämlich, daß die Rente 75 % des in Betracht kommenden Arbeitseinkommens ausmachen soll, nun verwirklicht werden sollen. Alle Versprechungen und Erklärungen dieser Art lassen nämlich die eindeutige Antwort auf die Frage vermissen, ob es sich um 75 % eines im Verlaufe des gesamten Arbeitslebens erreichten Arbeits einkommens handeln soll oder ob es sich um 75 % des Durchschnittseinkommens einer bestimmten Anzahl von Jahren handelt oder um das Durchschnittseinkommen der letzten fünf Jahre, wie wir es bei der Versicherungsanstalt Berlin hatten und im österreichischen Rentengesetz haben. In der vergangenen Zeit hat der Herr Arbeitsminister einmal von einem Durchschnittsarbeitsleben mit einer Beitragszahlung von über 40 Jahren gesprochen. Davon sprach auch der Vizekanzler im Zusammenhang mit seiner Volkspension. Diese Erklärungen sind nicht eindeutig, da es bisher unterlassen wurde, dem Begriff „Lebensdurchschnittseinkommen" zu präzisieren. Schon jetzt würde bei dem geltenden System ohne jede Novellierung bei der Berücksichtigung der Abtrennung der vor der Währungsreform entstandenen Lasten und Verpflichtungen mindestens eine Rente von 60 % gesichert sein, wobei lediglich darauf zu achten wäre, daß die Fehler des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes in bezug auf die Steigerungsbeträge für die Angestellten revidiert werden. Ich hoffe, daß die heutige Debatte und unser Antrag dazu beitragen werden, zu klären, ob der Bundesminister für Arbeit die bisherige Rentenformel, die sich aus der RVO in Verbindung mit den verschiedenen nach 1949 verabschiedeten Gesetzen ergibt, beizubehalten gedenkt oder ob er gar von der derzeitigen Rentenformel ab- und zur Indexrente überzugehen beabsichtigt, weil in der Diskussion über seine Reden sehr oft damit operiert wird, daß eine auf der Grundlage zurückliegender Beiträge errechnete Rente wegen der sogenannten schleichenden Inflation immer weiter hinter dem geforderten Standardbetrag zurückbleiben müßte. Es gibt, wenn ich richtig informiert bin, außer Neuseeland, das eine Staatspension hat, keinen europäischen oder außereuropäischen Staat, der Renten gewährt, die auch nur annähernd dem Verlangen nach einer 75% igen Rente, bezogen auf das letzte Arbeitseinkommen oder auf den Durchschnitt der letzten Arbeitseinkommen, entsprechen. Diese Versprechungen einzelner Minister stehen offenbar im Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Bundesministers für Wirtschaft, wie aus Reden und Aufsätzen der letzten Monate erkennbar ist. Er hat erklärt, daß Sicherheit nicht in staatlicher Hilfe liegt, nach der in letzter Zeit trotz Hochkonjunktur so laut geschrien wird, und er hat im Bulletin in einem Bericht über den Weg zur sozialen Sicherung ernste Mahnworte vor dem „Zuviel an Staat" und vor dem Verlust der künftigen wirtschaftlichen und politischen Freiheit ausgesprochen. Wir stimmen seinen Warnungen zu. Der Innenminister selbst hat bisher geschwiegen; aber aus seinem Amt kam mancher Vorschlag und manche Idee, die sich bisher offiziell lediglich im Körperbehindertengesetz als neuem Modellversuch der Rehabilitation und in dem Plan eines Jugendhilfegesetzes niederschlugen. Der Bundesfinanzminister hat in seiner Haushaltsrede darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, endlich die Kaufkraft der Rente zu sichern; und im Zusammenhang mit der Forderung seines Minister- und Parteikollegen Storch auf Gewährung einer 75% igen Rente hat er warnend auf die Staatszuschüsse, auf den Mehraufwand usw. aufmerksam gemacht. Die reale Konstanz der Altersrente scheint auch uns entscheidend wichtig. Noch fehlt aber jeder Kabinettsbeschluß über Ziel, Weg und Leitbild der Reform, noch fehlt jede bindende Erklärung auch des zuständigen Ministers für den Teil der Sozialversicherung und der Sonderversorgungen, die wir als die Kernstücke unserer Versicherung ansehen. Der für den interministeriellen Ausschuß und das Generalsekretariat beim Beirat des Bundesministers für Arbeit ernannte Generalsekretär hat in letzter Zeit mehrfach in der Öffentlichkeit Stellung genommen. Soweit er in seinen Reden behutsam einen Blick hinter die Kulissen tun ließ, hat er versucht, zumindest vom Begriff der Sozialreform weg zu dem Begriff „Reform der sozialen Leistungen" zu kommen. Er hat damit den Vorwurf entkräftet, daß man im Arbeitsministerium nur eine „kleine" Sozialversicherungsreform plane. Die bisher aus dem Bundesministerium für Arbeit vorgeschlagenen Einzellösungen - ich erinnere nur an die Debatte um das Zweite Renten-Mehrbetrags-Gesetz - haben keine klare Zielsetzung erkennen lassen. Alle Einzellösungen, wie sie seit dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz beschlossen wurden, haben zu einer weiteren, fast chaotischen Häufung neuer Verpflichtungen ohne ausreichenden sozialen Erfolg geführt. Sie müssen, wie unlängst ein Journalist schrieb, „wie ein zu hoher Blutdruck auf das Gefäßsystem wirken", ohne daß sie das Problem Nr. 1 der Lösung näherbringen, nämlich den alten Menschen ausreichend zu helfen. Ich habe bei der Beratung des Sonderzulagengesetzes bereits erklärt, daß die Rentenversicherung dafür nur Teilmöglichkeiten bietet. Meine politischen Freunde haben mit großer Sorge die Entwicklung betrachtet und sind der Auffassung, daß das bisherige System der Pflaster auf nicht heilende Wunden immer nur neue Ansprüche an den Staat produziert und die Strömungen zum totalen Versorgungsstaat gefördert hat, wobei durch immer neue Einkommensübertragungen schließlich nicht das geleistet wurde, was von einer Reform erhofft werden muß, nämlich die soziale Befriedung der Menschen unserer Generation. Wir glauben daher bei Würdigung aller guten Absichten des Arbeitsministers, daß die Reform der Rentenversicherung das erste Teilstück sein muß. Die Fertigstellung dieses Teilstücks muß durch schnellste Vorbereitung der Gesetzesvorlagen vorangetrieben werden. Es muß erreicht werden, daß sich der Bundestag inmitten der Bewegung, die durch die öffentliche Diskussion entstanden ist, nicht länger passiv verhält, sondern wenigstens im Grundsätzlichen den Rahmen für die künftige Arbeit des Bundesarbeitsministeriums absteckt. Das ist das besondere Anliegen unseres Antrags zur Reform der Rentenversicherung. Es ist selbstverständlich, daß ein solch großes Werk wie die Reform der Rentenversicherung oder die Reform ({5}) der Sozialversicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgegesetze nicht etwa in einem totalen Stück oder in einem Initiativgesetzentwurf eingereicht werden kann. Es ist ebenso selbstverständlich, daß der Bundestag selbst keinen Initiativgesetzentwurf zur unmittelbaren Verkündung vorlegen kann. Diese Aufgabe, deren Lösung wir vom zuständigen Ministerium immer wieder versprochen erhalten haben, kann aber nur gelöst werden, wenn dem Ministerium bekannt ist, welche Haltung die Fraktionen zu den einzelnen wesentlichen und in der Regel besonders umstrittenen Fragen einnehmen. Wenn ich heute auf eine Reihe von Anliegen der Fraktion der Deutschen Partei hinweise, die im 1. und 2. Bundestag als Anträge zur Vorbereitung der Reform eingereicht wurden, die dem Bundesminister für Arbeit zugeleitet sind, so bedauere ich, daß sie nicht verwirklicht wurden. Ich meine die Herstellung der Rechtseinheit, die Überprüfung des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes und die Xnderung der zweiten Lohnabzugsverordnung. Mit unserem heutigen Antrag wollen wir dem Rat eines Bismarck-Wortes aus der Zeit der Sozialversicherungsgesetzgebung folgen: Wir müssen die Sache an einem Zipfel anfangen. Es gibt keinen Menschen, der imstande wäre, Ihnen einen vollen, fertigen Abschluß aller Reformen, deren wir bedürfen, auf einem Brett auf den Tisch zu legen. Solche Reformen sind die Frucht mühsamer Arbeiten und gegenseitigen Entgegenkommens, des schrittweisen Vorgehens. Aber sie springen nicht wie Minerva aus dem Haupte Jupiters fertig heraus. Wir stimmen dieser Ansicht zu. Wir wollen mit dem Antrag Drucksache 1822 zur Reform der Rentenversicherung diesen Zipfel packen, um zunächst einen termingebundenen Beschluß des Bundestages zu erreichen. Wenn wir über diesen Antrag „Reform der Rentenversicherung" und nicht „Neuordnung der sozialen Leistungen" geschrieben haben, dann möchten wir damit ausdrücken, daß wir verantwortungsbewußt genug sind, nicht nur von Wünschen und Leistungen zu sprechen, sondern auch von den finanziellen Voraussetzungen und Belastungen, die geklärt werden müssen, ehe über das Ausmaß und die Art der Leistungen Endgültiges beschlossen werden kann. Wir meinen, daß die Reform der Rentenversicherung als Teilstück nicht einfach in einer Aufstockung der Leistungen auf dem bisherigen System bestehen kann. Von den 20 Thesen unseres Antrags möchte ich jetzt wegen des Zeitdrucks nur einige begründen. Ich möchte die wesentlichen Punkte, in denen es wahrscheinlich um unterschiedliche Meinungen gehen wird, besonders begründen. Über die erste These unseres Antrags brauche ich sicherlich nichts zu sagen, weil in diesem Hause Einigkeit darüber bestehen dürfte, daß das Experiment einer Einheitsrentenversicherung nach den vielfältigen Erfahrungen und soziologischen Überlegungen nicht gemacht werden kann. Weil das Bekenntnis der Versicherten bei den Sozialwahlen zur Angestelltenversicherung in so überzeugender Erinnerung ist, brauchen wir über die Erhaltung einer besonderen Angestelltenversicherung, so hoffe ich, ebensowenig wie über die Erhaltung der knappschaftlichen Versicherung zu sprechen. Mit der zweiten These, die die Höhe der Altersrente betrifft, sind wir aber mitten in der Diskussion, die der Bundesminister für Arbeit eröffnet hat. Auch das scheint mir heute schon Allgemeingut zu sein, daß die Altersrente unter Berücksichtigung aller Beitragsleistungen - ich betone das ausdrücklich für diejenigen, die unsere These mißverstanden haben - so bemessen sein soll, daß sie auch unter Berücksichtigung der Dynamik des modernen Wirtschaftslebens den Rentner vor einem Absinken des Lebensstandards bewahrt, den er in einem stetig verlaufenden Arbeits- und Berufsleben erreicht hat. Mir liegt daran, zu betonen, daß jeder Versicherte das Recht und die moralische Pflicht hat, durch Dauer und Höhe der Beitragsleistung während seines Arbeitslebens den Wert seiner angestrebten Altersrente selbst zu bestimmen und zu erhöhen. Eine gesunde Wirtschafts- und Währungspolitik allein kann der Garant dafür sein, daß diese Rente während des Lebensabends auch konstant bleibt. Die anfangs von mir schon betonte Fragwürdigkeit der Bemessung einer Altersrente auf 75 % des Leistungslohns, den der Versicherte während des Arbeitslebens durchschnittlich verdient hat, ist mir besonders aus einer Zuschrift an die „Frankfurter Rundschau" deutlich geworden, in der darauf hingewiesen wurde, zu welchen Ungerechtigkeiten eine solche Regelung führen könnte. Der Schreiber hat ausgeführt: Sie würde weder die verschieden langen Ausbildungszeiten noch unverschuldete Arbeitslosigkeit noch den Wehrdienst berücksichtigen, der bei vielen Rentenberechtigten unserer Generation weit -mehr als zehn Jahre ausmacht. Das Resultat einer so berechneten Rente nach dem durchschnittlichen Lohn könnte dahin führen, daß ein akademisch vorgebildeter Angestellter, der erst mit 30 Jahren verdient, keine höhere Rente erhalten würde als eine ungeschulte Kraft, die bereits mit vierzehn Jahren ins Arbeitsleben eintritt, und ein Angestellter, der durch Berufsausbildung, Wehrpflicht und Kriegszeit besonders benachteiligt ist, würde dann immer weniger an Rente beziehen als der andere, der eine kürzere Ausbildung und vielleicht das Glück der Nichteinziehung zum Wehrdienst hatte. Wie tragisch sich eine Tabellenrente oder eine Berechnung nach dem Durchschnittseinkommen der letzten fünf Jahre auswirken kann, das hat im Zusammenhang mit den politischen Zeitläuften und Wechselfällen des Lebens gerade das Beispiel der Versicherungsanstalt Berlin gelehrt. Auch diejenigen, denen ein Vergleich mit der Beamtenpension so verlockend vorschwebt, würden bei einer solchen Anwendung zweifelsohne nicht zu dem gewünschten Ziel kommen. Uns liegt daher besonders daran, daß sich die Bemessung der Rente nach Zahl und Höhe der geleisteten Beiträge richtet. Wir sehen in dieser Regelung auch eine besondere sozialpädagogische Möglichkeit, das Versicherungsprinzip zu verteidigen. Die Frage des staatlichen Grundbetrages haben wir nicht angesprochen, weil wir glauben, daß die Frage des Staatszuschusses in der Rentenversicherung im Zusammenhang. mit der Invaliditätsrente gelöst werden sollte, so daß die Altersrente als reine Beitragsrente eine besondere Funktion erfüllen könnte. Wir hoffen, daß wir in dieser Frage bei den Ausschußberatungen einen gemeinsamen Weg finden werden, der zu dem Ziele führt, die ({6}) arbeitenden Menschen, die lange Jahre Pflichtbeiträge zahlten, bevorzugt gegenüber solchen zu behandeln, die durch kurze Versicherungszeiten und geringe Beitragsleistung mit Hilfe staatlicher Zuschüsse beim heutigen System höhere Leistungen erhalten können. Sollte bei der Reform eine Entscheidung über einen Staatsbeitrag in der Rentenversicherung fallen, so möchte ich heute schon darauf hinweisen, daß wir diesen Staatsbeitrag dann für alle Renten gleichermaßen fordern müssen und daß wir dann mit besonderem Nachdruck auch auf die Begrenzung der Personenkreise in der Rentenversicherung hinweisen müssen und auf die Gefahren, die der Plan einer Volkspension für alle beinhaltet. In einer besonderen These haben wir auf die Notwendigkeit der Neuordnung der Witwen- und Waisenrenten hingewiesen. Die Höhe der Waisenrente scheint uns in der jetzigen Regelung nicht ausreichend. Was die Witwenrente angeht, so ist durch die Novelle zum Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz nach unserer Auffassung eine bedauerliche Präjudizierung der Reform erfolgt. Wir werden auch zu entscheiden haben, ob es nicht richtig ist, den Witwenhaushalt als eine Einheit zu betrachten, wie es in der Knappschaft bis 1924 der Fall war. Da die Mutter die Kinder erzieht und auch für sie sorgt, liegt eine solche Reform mit der Erhöhung des Vomhundertsatzes für die Witwenrente nahe. Es wird auch zu prüfen sein, ob wir den sozialen Erfolg einer unbedingten Witwenrente in allen Rentenversicherungen verteidigen können, ohne daß die Versicherten für diese Ansprüche zusätzliche Beiträge zahlen, wobei es der Steuerpolitik überlassen bleiben soll, die entsprechenden Beitragsverpflichtungen für die Familie durch Steuerermäßigungen anzuerkennen. Eine Aufstockung der Witwenrente und die Einführung einer Pflichtleistung auch für geschiedene Ehefrauen in gleicher Höhe, wie sie der DAG-Plan vorsieht, kann im Hinblick auf die große kulturpolitische Bedeutung einer solchen sozialen Lösung nur mit großer Behutsamkeit angesprochen werden. Wir glauben aber, daß wir auch diesem Gespräch nicht ausweichen dürfen. Es erscheint mir viel problematischer als etwa die so viel diskutierte Frage der Onkelehen, für die bei der Reform der Witwenrente ebenfalls eine Lösung gefunden werden muß. In einem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ist in der vergangenen Woche auf das Problem der Ehemoral besonders hingewiesen worden. Es ist kein Zweifel, daß zu den Fragen der Rücksichtnahme auf eine veränderte Gesellschaftsordnung auch die Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse gehört, die, zwar nicht im Lichte der Öffentlichkeit, aber allen bekannt, Konsequenzen auslösen, vor denen man den Kopf nicht in den Sand stecken kann. Ich glaube, daß das Problem der Onkelehen keineswegs mit einer ewigen Witwenrente zu lösen ist, und bin der Auffassung, daß der Versuch, den Österreich in seinem Sozialversicherungsgesetz gemacht hat, auf seine Auswirkungen beobachtet werden sollte und auch ein brauchbares Modell für uns sein könnte. Das österreichische Rentengesetz bestimmt, daß die Witwe durch die Eingehung einer neuen Ehe, sofern sie nicht alleiniges oder überwiegendes Verschulden an der Auflösung dieser Ehe trifft oder bei Nichtigerklärung dieser Ehe als schuldig anzusehen ist, keinen Nachteil erleidet und die Rente wieder auflebt. Bei der Prüfung einer solchen Lösung wird von uns gemeinsam auch zu prüfen sein, wieweit eine zu großzügige Entscheidung zugunsten geschiedener Ehefrauen etwa Gefahren beinhaltet, leichtfertigen Scheidungen Vorschub zu leisten und die Unterhaltsverpflichtung eines Mannes auf die Solidarhaftung der Versichertengemeinschaft abzuwälzen. Auch hier wird sehr verantwortungsbewußt zu prüfen sein, wieweit Konflikte zwischen Ehemoral und Rentenmoral vermieden werden können. Die Forderung, die wir hinsichtlich der Einführung von Beihilfen zur Berufsausbildung erhoben haben, ist bereits in einem Pressedienst einer Partei kritisiert worden. Wir glauben diese Frage ansprechen zu müssen, weil im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung einer bedingten Witwenrente auch die Fragen der Berufsausbildungsbeihilfen und der Übergangshilfen für Witwen geprüft werden müssen. Soweit es sich um die Berufsausbildung der Waisen handelt, stehen diese Fragen in ursächlichem Zusammenhang. Ich setze voraus, daß diesem Hohen Hause bekannt ist, daß wir in unserer Gesetzgebung inzwischen zehn Gesetze mit zahlreichen Durchführungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften haben, die Ansprüche auf Berufsausbildungsbeihilfen beinhalten. Für die Durchführung der Gesetze sind fünf Bundesressorts zuständig. Daneben werden aber Berufsausbildungsbeihilfen auch von Ländern und Gemeinden, von Stiftungen und Organisationen, ja selbst von privater Seite gewährt. Bei den Berufsausbildungsbeihilfen, die auf gesetzlichen Regelungen beruhen, sind die Art und Höhe der Beihilfen, die Förderung der Ausbildungsarten, ja selbst die Voraussetzungen der Antragstellung unterschiedlich. Es besteht sicher kein Zweifel, daß Berufsausbildungsbeihilfen im Zusammenhang mit Versicherung, Versorgung und Fürsorge in erster Linie als vorbeugende Maßnahmen angesehen werden müssen. Sie sind aber darüber hinaus auch in starkem Maße sozialpädagogisch wichtig und schließlich als Mittel der Produktivitätssteigerung in den kommenden Jahren, insbesondere aber im Zusammenhang mit dem erheblichen Nachwuchsrückgang, dem Facharbeitermangel und dem notwendigen Einsatz der berufstätigen Frauen, von besonderer Bedeutung. Da das Schicksal unserer Witwen weitgehend davon abhängt, ob sie einen sozialen Abstieg oder Aufstieg im Beruf haben, ob ihre Lage mit Hilfe solcher fördernden Maßnahmen wesentlich gebessert werden kann, gehört dies mit zu den wichtigsten Aufgaben der Sozialreform. Sie sind sicherlich bedeutender als der Ruf nach einer totalen Versicherung und Versorgung der deutschen Hausfrauen, die in ihrer Mehrheit erfreulicherweise durch beamten- und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und durch individuelle Vorsorge ihrer Ehemänner, aber auch durch Rechtsansprüche aus der Weiterversicherung vielfältigen Schutz genießen. In unlösbarem Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf Familienhilfe in der Rentenversicherung steht der Rechtsanspruch der weiblichen Versicherten auf Hinterbliebenenrente für ihre Angehörigen. Die in der Öffentlichkeit erhobene Forderung einer Gewerkschaft, daß die Hinterbliebenenrente, wenn sie gewährt wird, davon abhängig gemacht werden muß, daß die Angehörigen der weiblichen Versicherten überwiegend unterhalten ({7}) werden, ist nur dann vertretbar, wenn das auch für die Angehörigen der männlichen Versicherten gilt und die Gewährung von Witwenrenten davon abhängig gemacht wird, daß die Witwen von dem Ehegatten wirklich überwiegend unterhalten worden sind. Ich glaube nicht, daß wir das tun sollten. Die seltsamen Entscheidungen, die zum Thema Gleichberechtigung sehr zuungunsten der Frauen getroffen worden sind, werden uns bei der Beratung dieses Teils der Reformgesetze immer vor Augen stehen. Im Interesse der Gleichberechtigung möchte ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß unsere Forderung in dieser vierten These selbstverständlich auch für die männlichen Versicherten zutrifft, die unverheiratet bleiben, Rechtsansprüche an die Versicherung haben und Ansprüche auf Eltern- oder Hinterbliebenenrente gleichermaßen erheben können. In der Öffentlichkeit ist viel von der Altersrente gesprochen worden, während die sehr viel schwierigeren Fragen der Invaliditätsrente und das Finden einer neuen Rentenformel sehr zurückhaltend diskutiert werden. Wir glauben, daß in all den Fällen, in denen eine Vollinvalidität so früh eintritt, daß die Leistungen durch Beiträge nicht genügend gedeckt sind, die subsidiäre Haftung der großen Gemeinschaft der Staatsbürger helfen muß und daß hier der staatliche Zuschuß in der Rentenversicherung einen sozial gerechten Platz findet. Ich habe in der Einleitung schon darauf hingewiesen, daß bei unseren bisherigen Beiträgen und bei dem bisherigen System die Renten wesentlich höher sein könnten, wenn nicht die ungeheure Belastung durch diejenigen Renten, die aus verhältnismäßig geringen Beitragsleistungen Ansprüche herleiten, die heutige Generation der Beitragszahler zwingen würde, durch ihre Beiträge jene Lasten zu tragen, die durch die Währungsreform und die Kriegsschäden entstanden sind. Die statistischen Grundlagen zur Reform der Rentenversicherung zeigen, daß der versicherungstechnisch notwendige Beitrag für die Gesamtheit der jetzigen und der künftigen Versicherten, wenn sie nur für ihre eigenen Anwartschaften aufzukommen hätten, nicht aber für die Last der anfallenden Aufwendungen für die Altrentner, in der Invalidenversicherung nur 9,04 v. H. und in der Angestelltenversicherung nur 7,47 v. H. betragen würde. Hier zeigt sich das Ausmaß der den Versicherten auferlegten Kriegsfolgelasten. Der Bundesminister der Finanzen hat in der Haushaltsdebatte darauf hingewiesen, daß die Mittel für die Durchführung des Kriegsfolgenschlußgesetzes im Haushalt veranschlagt sind. Leider ist in diesem Gesetzentwurf versäumt worden, im Zuge der Liquidierung des Krieges und seiner Folgen auch die Sozialversicherung als Gläubiger verbriefter und unverbriefter Forderungen gegen das Reich und die Länder zu entschädigen. Die Rentenversicherungen haben durch ihre ihnen vom Staat aufgezwungene Geldanlage in Reichstiteln nicht weniger als 18 Milliarden verloren. Wir hoffen, daß sich der Bundesminister für Arbeit, der so oft vom Sozialversicherungsbeitrag als Eigentum gesprochen hat, gegen dieses der Sozialversicherung zugefügte Unrecht mit allen Mitteln zur Wehr setzen und auch Unterstützung finden wird. Die Sozialversicherung hat nicht, wie in der Öffentlichkeit unzutreffend behauptet wird, bei der Währungsreform eine Wiedergutmachung erhalten. Der von uns allen sicherlich mit Sorge betrachtete Sog zur Staatspension und zur staatlich garantierten Sozialversicherungsrente wäre weniger groß, wenn die Forderung des § 23 des Umstellungsgesetzes, wonach die finanzielle Neuordnung der Sozialversicherung den gesetzgebenden Körperschaften ausdrücklich zur Pflicht gemacht worden ist, realisiert worden wäre. Statt dessen hat man durch die Bestimmungen des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes die Versicherten die Kapitalien aufbringen lassen, die notwendig waren, um laufend Renten und Rentenerhöhungen zu finanzieren, und die ohnehin schwer belasteten Versicherten der Nachkriegsgeneration für die Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen zum Lastenträger bestimmt. Die Wiedergutmachung dieser Vermögensverluste mit Hilfe staatlicher Mittel ist eine Forderung, die wir zur Verwirklichung einer ausreichenden Anpassung der alten Ansprüche und Renten für dringend notwendig halten. Die Deckung der Währungs- und Kriegsschäden durch den Bund braucht nicht durch eine Kapitalübertragung oder Kapitalansammlung großen Stils in den Händen der Sozialversicherungsträger unverzüglich verwirklicht zu werden. Eine gesetzliche Regelung, die eine angemessene Verzinsung und Amortisation garantiert, wäre absolut ausreichend und würde dazu beitragen, die berechtigte Forderung „Eigentum in Arbeiterhand" zu realisieren. Die Schaffung einer zusätzlichen Sozialrente zur Sozialversicherungsrente für die alten Menschen, deren Beitragsleistungen zu gering waren, ist ein weiterer Weg, der aber nicht im Rahmen der Rentenversicherungsreform beschritten werden kann. Über die einzelnen Punkte, die wahrscheinlich weniger Probleme beinhalten, möchte ich jetzt zu einem vieldiskutierten Kapitel, dem der Rehabilitierung oder zu deutsch: der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Versicherten, übergehen. Dieses Kapitel ist nicht etwa neu in der deutschen Sozialgesetzgebung. Wir bekennen, daß wir im Gegensatz zu mancher Veröffentlichung das Recht auf dem Gebiet der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung immer noch für vorbildlich halten. Wir empfinden es auch als ungut, wenn, wie aus einer Veröffentlichung der Rentenversicherungsträger hervorgeht, für die kostenlose Krankenversicherung der Rentner im Jahre 1954 500 Millionen DM ausgegeben wurden, während für das gesamte Heilverfahren der Rentenversicherungsträger zur Verhütung einer frühzeitigen Invalidität nur 360 Millionen DM zur Verfügung standen, die vor allem für die Tuberkulosebekämpfung verwandt wurden. ({8}) Die Forderung unserer Tage, die frühzeitige Invalidität durch Abnutzungskrankheiten zu verhindern, wird nur dann erfüllt werden, wenn das Heilverfahren der Rentenversicherungsträger in viel großzügigerer Weise ausgebaut und fortentwickelt wird. Wir gehören nicht zu den Illusionisten, die davon eine ungeheure Verminderung der Rentenlast erwarten. Wir glauben aber, daß bei der Situation unserer lebenden Generation unbedingt der Versuch gemacht werden muß, die guten Erfahrungen der Kriegsopferversorgung und der Unfallversicherung auf unsere Rentenversicherung zu übertragen und zum mindesten für bestimmte Krankheiten systematisch fortzuentwickeln. ({9}) Die Länderarbeitsminister haben in einer mehrtägigen Konferenz, die in diesen Tagen stattfand, ihre Sorgen über die drohende Lahmlegung der Sozialgerichtsbarkeit zum Ausdruck gebracht und darauf hingewiesen, daß jetzt schon durch die Belastung der Sozialgerichte Renten-, Versorgungs- und andere Versicherungsfälle bis zu drei Jahren dauern. Im Zusammenhang mit den Rehabilitierungsplänen möchte ich auch betonen, daß wir die Pläne zur Gewährung von Teilrenten und Stufenrenten für problematisch halten. Sie würde zu einer ungeheuren Zahl von Berufungsverfahren führen, von den großen Schwierigkeiten ganz zu schweigen, die sich für die Ärzte bei dem Ermessensbegriff der Stufeninvalidität ergeben würden. Auch hier möchte ich nicht versäumen, auf den Tatbestand hinzuweisen, daß von den versicherten Frauen in der Angestelltenversicherung 81,6 % das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit frühzeitig erhalten haben. Davon waren 62,6 % unter 60 Jahre alt und nur 29,9 % zwischen dem 60. und dem 64. Lebensjahr. Bei den Männern ist die Zahl derjenigen, denen wegen Berufsunfähigkeit ein Ruhegeld gewährt wird, annähernd 50 %. Das heißt also, daß die Hälfte aller Männer und drei Viertel aller Frauen vor Erreichung der Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Eine bessere Statistik würde sicherlich sehr aufschlußreich sein, wenn aus ihr hervorginge, wie groß die Zahl der weiterversicherten Ehefrauen und der weiterversicherten Selbständigen bei den Rentenversicherungsträgern ist, die die Zahl der Fälle frühzeitiger Invalidität maßgebend beeinflußt. Sämtliche Kapazitäten unter den Vertrauensärzten haben mir bestätigt, daß es in der Praxis sowohl bei einem Selbständigen als auch bei einer Hausfrau bei dem jetzt geltenden Invaliditätsbegriff kaum möglich ist, die Anerkennung der Invalidität abzulehnen. Selbstverständlich wird nach Überprüfung des Invaliditätsbegriffs dafür Sorge getragen werden müssen, daß dem Rehabilitierungsverfahren nicht erst die 50 % Arbeitsunfähigen zugeführt werden, sondern daß zu den notwendigen Maßnahmen besonders die Herz-, Gefäß-, Kreislauf- und Rheumakranken bevorzugt zu einem Wiederherstellungsverfahren kommen. Bei diesen Maßnahmen müssen das Heilverfahren, die Berufsfürsorge und die wirtschaftliche Hilfe eine Einheit sein. Bei der großen Zahl der weiblichen Arbeitskräfte, die seit 1948 laufend gestiegen ist, werden alle diese Maßnahmen nur erfolgreich sein, wenn gleichzeitig der besorgniserregenden Überforderung der Frauen durch eine Überprüfung des gesamten Arbeitsrechtes und Arbeitsschutzes Einhalt geboten wird. Daß die freiwillige Weiterversicherung beibehalten werden soll, ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil wir eine Zwangsrentenversicherung haben. Bei der Einbeziehung des Anwartschaftsrechts wird darauf geachtet werden müssen, daß die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung von einer bestimmten Anzahl und Dauer der Beitragszahlungen abhängig gemacht wird, wobei den Selbständig-Werdenden während ihrer Ausbildungszeit die Möglichkeit der freiwilligen Entscheidung über die Weiterversicherung oder über die Beitragsrückgewähr eröffnet werden sollte. Nur auf diesem Wege besteht für die ehemals berufstätige Ehefrau die Möglichkeit, sich durch eine eigene Altersrente eine zusätzliche Sicherung zu schaffen. Ein ganz Europa bewegendes Problem ist die Frage der Altersgrenze. Der Direktor des Hygiene-Instituts der Kieler Universität, Professor Dr. Klose, hat eine Heraufsetzung der Altersgrenze in der Sozialversicherung für diejenigen gefordert, die nach dem 65. Lebensjahr noch arbeitsfähig und auch arbeitswillig sind. Er hat dabei auf die gestiegene Lebensdauer in der Bundesrepublik hingewiesen, nach der 10 v. H. aller lebenden Menschen über 65 Jahre alt sind gegenüber nur 5 v. H. im Jahre 1910. Professor Klose kam in seinen viel diskutierten Ausführungen zu dem Schluß, daß die Pensionsgrenze von 65 Jahren willkürlich gezogen sei. Die öffentliche Diskussion der Heraufsetzung einer Altersgrenze hat in Deutschland besonders bei der gesundheitlich sehr stark strapazierten Kriegs- und Nachkriegsgeneration unseren alten Menschen gegenüber wie ein Schock gewirkt. Uns scheint, daß eine rigorose Maßnahme der Heraufsetzung der Altersgrenze zur Zeit unverantwortlich wäre, solange nicht eindeutiges Material über die Leistungsfähigkeit der alten Menschen vorliegt. Professor Klose hat nachgewiesen, daß von fast 2 Millionen Menschen über 65 Jahre noch 514 000 im vollen Erwerbsleben stehen, während andererseits die Bundesanstalt in Nürnberg nachweist, daß trotz aller Bemühungen noch 55 000 Angestellte schon nach dem 45. Lebensjahr nicht mehr zu vermitteln sind und als minderleistungsfähig angesehen werden. Mit Rücksicht auf diese Diskrepanz und ohne den Zusammenhang mit der Invaliditätsrente zu übersehen, glauben wir, daß eine Beibehaltung der Altersgrenze von 65 Jahren für Männer zu vertreten ist und daß, um den Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu entsprechen, für die aktiven Arbeitnehmer ein Anreiz geschaffen werden muß, über das 65. Lebensjahr hinaus Beiträge zu entrichten, wenn damit die Höhe des Altersruhegeldes entscheidend gesteigert werden kann. Wenn wir mit unserem Antrag nicht von einer für Männer und Frauen gleichbleibenden Altersgrenze ausgegangen sind - und ich persönlich bekenne, daß ich mich in dieser Frage zu denen rechne, die vom Irrtum zur Wahrheit reisten -, so deshalb, weil gerade die Praxis der Gleichberechtigungsdebatte gezeigt hat, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung nach der Bonner Kommentierung noch lange keine Gleichheit von Mann und Frau bedeuten darf, sondern nur eine Gleichwertigkeit. Dabei muß es ein besonderes Anliegen sein, darauf hinzuweisen, daß unsere Gesetzgebung gerade im Hinblick auf die Anerkennung der Familienfunktion und der ungeheuren Doppelbelastung der berufstätigen Ehefrauen und Mütter die unterschiedlichen Besonderheiten anerkannt sehen möchte. Wir glauben auch aus sehr realen Gründen, daß es besser ist, unseren versicherten Frauen bei erfüllten Voraussetzungen die Rente mit 60 Jahren zu gewähren, als die große Zahl der frühzeitigen Invalidisierungsfälle von Jahr zu Jahr ansteigen zu sehen. Die Möglichkeit der Weiterarbeit zum Zwecke des Erwerbs einer höheren Rente wird auch hier erzieherisch und bremsend zugleich wirken. Möglich ist eine solche Lösung natürlich nur, wenn sie nicht von Weiterversicherten und Selbstversicherten mißbraucht werden kann, die durch geringe Beitragszahlung auf Kosten der übrigen Versicherten Vorteile erlangen können. ({10}) Nach Einbringung unseres Antrags ist von einzelnen Abgeordneten des Bundestages am 12. November 1955 eine Kleine Anfrage gestellt worden, wonach die in Direkt-Hypotheken an Versicherte vergebenen Mittel der Rentenversicherungsträger in zu geringem Maß ausgegeben wurden. Es besteht kein Zweifel, daß, soweit Anträge von Versicherten gestellt worden sind, diese auch von den Rentenversicherungsträgern - wenn die Bedingungen erfüllt waren - bearbeitet und positiv entschieden worden sind. Für die Angestelltenversicherung kann ich das mit Gewißheit sagen. Mir scheint aber, daß die Vergabe erststelliger Hypotheken nicht der alleinige Weg ist, um den Versicherten zur Eigentumsbildung zu verhelfen. Sehr viel richtiger wäre die Verwirklichung unserer auch vom Bundesminister für Arbeit erfreulicherweise aufgegriffenen Forderung, aus dem Vermögen der Rentenversicherungsträger entsprechende Darlehen für die Versicherten zum Erwerb eines Grundstücks oder zur Finanzierung der Eigenmittel im Rahmen des Wohnungsbaues zur Verfügung zu stellen. Wir haben diese Forderung 1953 in der Öffentlichkeit mit aller Deutlichkeit erhoben, und wir freuen uns, daß sie im Interesse der Schaffung neuer Impulse zur individuellen Selbstvorsorge in so erfreulichem Maße beitragen wird. Wir sind mit all denen einig, die den Arbeitnehmer von morgen auch als Eigentümer, aber als den Besitzer eines individuellen Eigentums sehen wollen. Die Reform der Rentenversicherung und eine vernünftige Eigentumspolitik gehören daher notwendig zusammen. Wir wollen nicht, daß wie bisher die Schaffung von Eigentum für die große Masse der Erwerbstätigen unerreichbares Ideal ist. Alle Pläne, die zu einem totalen Umlagesystem in der Rentenversicherung oder zu einem Wirtschaften aus dem großen Topf des Sozialprodukts ohne Rücksicht und unter Verzicht auf Kapitalanlagen führen, können das berechtigte Anliegen unserer Zeit, Eigentum in Arbeitnehmerhand zu schaffen, nicht verwirklichen. Eine kollektive Kapitalbildung, die Kapitalgesellschaften durch Staatsmittel und Sozialversicherungsbeiträge festen Besitz und sicheres Einkommen verschafft und kein echtes Privateigentum sichert, kann daher nicht das Ziel der künftigen Anlagenpolitik der Rentenversicherungen sein. Wenn die Beitragsteile, die die Versicherten zwangsläufig sparen müssen, individuell gespart würden, stünden sie der persönlichen Vermögensbildung zur Verfügung. Das auch im größeren Ausmaß als bisher im Rahmen einer vernünftig begrenzten Reservenbildung bei den Rentenversicherungsträgern zu realisieren, scheint meinen Freunden eine Forderung der Stunde. Aus diesen Gründen lehnen wir auch das totale Umlageverfahren ab, weil es nicht nur einen ungedeckten Wechsel auf eine Zukunft ausstellt, von der niemand weiß, ob das Sozialprodukt in der angenommenen Weise über Jahrzehnte hinweg wachsen wird und ob alle Berechnungen und Schätzungen nicht durch eine Entwicklung von morgen, die wir noch nicht voraussehen können, über den Haufen geworfen werden. Mit unseren Thesen haben wir nur die hauptsächlichsten Probleme der Rentenversicherung ansprechen können. Eine Fülle von Zusatzfragen werden bei Beratung der Gesetzgebung mit gelöst werden müssen. Ich möchte nur auf einige hinweisen. Bei der zunehmenden Zahl zwischenstaatlicher Verträge in den europäischen Ländern scheint es mir auf die Dauer nicht vertretbar, daß für Beiträge, die in Deutschland entrichtet worden sind, Rentenzahlungen gesperrt werden, wenn die Rentenberechtigten ins Ausland verzogen sind. Seitdem in zwischenstaatlichen Verträgen auch Ausländern Rechtsansprüche in Deutschland garantiert werden, für die sie sehr oft unter ganz anderen Voraussetzungen in ihrem Mutterland Ansprüche erworben haben, halten wir es für unvereinbar mit dem Grundsatz des gleichen Anspruchs aller Versicherten und dem Grundsatz von Treu und Glauben, daß Gesetze eine Zahlung von Beiträgen zulassen, aber die Gewährung der Gegenleistung nicht ermöglichen. Der Staat kann nur Zuschläge, die als staatliche Fürsorgeleistung innerhalb der Rechtsansprüche gegeben werden, kürzen. Unmöglich ist es aber, daß deutsche Versicherungsträger noch zu einer Beitragsleistung für ins Ausland gezogene Versicherte auffordern, während sie andererseits den erworbenen Anspruch nicht realisieren. Daß wir in unserer Diskussion heute von dem bestehenden Recht ausgegangen sind und keine Forderung nach Ausdehnung der Personenkreise erhoben haben, entspricht unserer eindeutigen Haltung. Trotzdem möchte ich meine grundsätzlichen Ausführungen nicht schließen, ohne unsere ausdrückliche Warnung vor jeder direkten oder indirekten Ausweitung auszusprechen. Diejenigen, die bei der Mehrheitsabstimmung im Beirat des Herrn Bundesministers für Arbeit sich für die totale Versicherungspflicht für alle in abhängiger Stellung Befindlichen ausgesprochen haben - ohne Rücksicht auf die eigene Wirtschaftskraft derjenigen, die sehr wohl in der Lage sind, das Risiko auch des Alters durch individuellen Versicherungsschutz zu sichern -, werden nicht verhindern können, daß sie, wenn sie auf ihrem Standpunkt der Ausdehnung unserer Rentenversicherung auf alle beharren, dazu beitragen, daß die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf alle, also auch auf die freien Berufe, nach den Gedankengängen des Sozialkabinetts, wenn sie richtig berichtet wurden, und des Herrn Vizekanzlers Blücher der nächste Schritt sein würde. Die Vorschläge des Herrn Vizekanzlers könnten also nur ein Umweg dazu sein. Die falsche Behandlung der Sozialversicherung bei der Währungsreform und die unsoziale Verpflichtung der Versicherten zur Tragung der aus der Vergangenheit entstandenen Last haben den Sog in die Sozialversicherung sehr zum Schaden der Pflichtversicherten vermehrt. Es muß darauf hingewiesen werden, in welch eindeutiger Weise auch die leitenden Angestellten sich gegen die Versicherungspflicht wehren. Es ist nach unserer Auffassung mit einer demokratischen Ordnung nicht zu vereinbaren, Methoden des Zwanges da anzuwenden, wo eine soziale Ursache nicht gegeben ist und nicht bewiesen werden kann. Die Behauptung, daß eine Ausdehnung statt Einengung der Versicherungspflicht notwendig sei, weil sonst aus den Reihen der bisher versicherungsfreien Angestellten Anwärter auf spätere Fürsorgeansprüche entstehen könnten, ist mehr als fadenscheinig. Wie sehr die gleichen Fragen, die wir heute diskutieren, durch Jahrzehnte umstritten waren und wie unter dem Eindruck der Folgen eines Krieges immer eine Ausdehnung des Versicherungszwanges gefordert wird, zeigt die Literatur aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ich möchte in der Auseinandersetzung mit der auch damals ausgesprochenen fast wortwörtlich gleichen Forderung nach totaler Staatsfürsorge auf die im 1. Band der „Sozialversicherung" 1926 von Universitätsprofessor Dr. ({11}) Schmittmann gemachten Ausführungen hinweisen, die ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren möchte. Damals wandte sich Professor Dr. Schmittmann im Kampf für das Versicherungsprinzip gegen die Argumente für die totale Staatsfürsorge, und er sagte - vor 30 Jahren -: Das Versorgungsprinzip hingegen setzt an Stelle des selbstverantwortlichen Menschen den verantwortungslosen, der dem Staat alle Sorge für die Zukunft überläßt. Diese Gesinnung ist leider schon allzu tief in das deutsche Volk eingedrungen; fast alle wollen aus der Staatskrippe essen; dies ist der tiefste und eigentliche Grund der deutschen Verelendung. Die Staatsfürsorge führt zur Schematisierung und Erstarrung: Sie will den Zentralismus der Versicherungsträger und die Vereinheitlichung der Versicherungsfälle; sie will nicht erkennen, daß diese im einzelnen auf ganz verschiedenen und wesentlich andersartigen Risiken beruhen und die Berufsgefahren bei ihnen verschieden sind, daß die vorübergehende Krankheit andere Maßnahmen verlangt als die lang andauernde Erwerbsunfähigkeit, der Betriebsunfall anders zu werten ist als die aus anderen Gründen entstehende Erwerbsunfähigkeit. Das Versicherungsprinzip hingegen individualisiert und differenziert; bei ihm richten sich die Leistungen nach der Höhe der Beiträge - Anpassung an die verschiedenen Beitragsklassen -, die Höhe der Beiträge hängt ab von der Höhe des Lohnes, der Versicherte, der es durch Fleiß und Geschick zu einem höheren Lohn bringt, erhält auch höhere Leistungen. Zu diesen Ausführungen können wir uns auch heute noch bekennen. Sie finden in der modernen Auseinandersetzung um die Probleme des Wohlfahrtsstaats ihre Bestätigung in den Warnungen, die Professor Dr. Röpke im Sommer dieses Jahres in einer Artikelserie in der „Neuen Zürcher Zeitung" ausgesprochen hat.

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Frau Abgeordnete, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen! Nach § 39 der Geschäftsordnung soll nicht länger als eine Stunde gesprochen werden. Der Ältestenrat hat mich ausdrücklich gebeten, Sie darauf aufmerksam zu machen. ({0}) Frau Kalinke ({1}), Antragstellerin: Gestatten Sie mir, noch den Schlußsatz vorzutragen. Den Rest gebe ich schriftlich zu Protokoll. Röpke nennt die staatlich organisierte Massenfürsorge einen Notbehelf und beweist, daß der totale Wohlfahrtsstaat mit einer moralischen Unmündigkeit seiner Bürger rechnet. In dem Maße, als in fortgeschritten zu betrachtenden Ländern die materielle Lage der Lohnbezieher und damit ihre Fähigkeit - nicht unbedingt ihre Willigkeit - zur Selbstvorsorge feststeht, stellen einzelne und organisierte Gruppen immer wieder Hilfs- und Sicherheitsansprüche, die nur auf Kosten anderer zu erfüllen sind. Diese Forderung wird ihnen durch die als geistiger Kurzschluß wirkende Gewohnheit erleichtert, im Staat eine Art von vierter Dimension zu sehen und nicht darüber nachzudenken, daß es die Steuerzahler sind, die die Kassen des modernen Sicherheitsstaates füllen. Das schwer Begreifliche ist - so sagt Röpke -, daß jetzt, nachdem die Not an Dringlichkeit abgenommen hat, der Wohlfahrtsstaat aufs üppigste ins Kraut schießt. Es liegt eine ganze Welt zwischen einem Staat, der Unglückliche davor bewahrt, unter ein Existenzminium zu sinken, und einem anderen, in dem im Namen der wirtschaftlichen Gleichheit und unter der zunehmenden Abstumpfung der Einzelverantwortung ein immer wachsender Teil des Privateinkommens fortgesetzt unter beträchtlichen Leistungsverlusten vom Staate umgeleitet wird in das Pumpwerk der sozialen Leistungen. Aus dem alten konservativen Grundsatz, daß „auch der Ärmste Boden unter den Füßen spüren soll", ist die um sich greifende Sozialisierung der Einkommensverwendung geworden, getragen von der gleichmacherischen und staatsvergottenden Theorie, daß jede Ausdehnung der staatlichen Massenversorgung ein Meilenstein des Fortschritts ist, wobei - das ist das Tragische dieser Entwicklung - gerade die Ärmsten und Schwächsten nur zu oft den kürzeren ziehen. Messner hat in seiner Untersuchung über das englische Experiment des Wohlfahrtsstaates darauf hingewiesen, daß es die Ärmsten sind, die die Perfektion des totalen Sicherungssystems für alle bezahlen müssen. Es sind nicht die Massen, die dabei gewinnen, sondern der Staat, dem entsprechend mehr Macht und Einfluß zuwächst, während die abgezapfte Kaufkraft Beträge entzieht, die dem Sparsinn und der Eigentumsbildung zugute kommen könnten. Wir wollen es an dem notwendigen Mut nicht fehlen lassen, auch auf den Preis des Verlusts der Freiheit hinzuweisen, der durch die fortgesetzte Umlenkung der Einkommen, die der staatliche Zwang bewirkt, zu zahlen ist, wobei wir in unserer Abwehr gegen diese Entwicklung nicht nur auf die starke Konzentration der Macht in den Händen der großen Sozialverwaltungen und des Staates hinweisen wollen, sondern auch auf die Gefährdung, in der sich der einzelne durch die Unterwerfung unter den Staat und den Apparat befindet. Hier sollten wir gemeinsam in diesem Hause Entscheidungen treffen, die die Freiheit des Menschen - von der so viel gesprochen und um die zu schützen so wenig getan wird - sichern. Noch heute gilt; was Franz Hermann SchulzeDeletzsch 1863 - also schon vor fast 100 Jahren - in der Auseinandersetzung mit Lassalle gesagt hat; das ist besonders für Mittelständler außerordentlich interessant: Wer von einem anderen, und sei es der Staat, Unterstützung annimmt, der räumt diesem die Obmacht, die Aufsicht über sich ein und verzichtet auf seine Selbständigkeit. Das wäre ein Aufgeben seines Selbst, ein Zweifeln an der eigenen Kraft, um so verkehrter, um so grundloser, als ja die Beweise geführt sind., daß sie sich selbst zu helfen vermögen, wenn sie es nur recht angreifen, und daß sie der fremden Unterstützung nicht bedürfen. Der Geist der Selbsthilfe, dieser echte deutsche Geist, der die freie Arbeit eingeführt hat in die Geschichte, ist eine der größten, erlösendsten Taten. Es wird ein Abfall vom Geist der Vorfahren, ein Verrat an den Nachkommen, der verdiente Lohn würde nicht ausbleiben! Mögen wir gemeinsam in diesem Hause den Mut und die Kraft und, meine Herren von der Opposition, auch den Ernst finden, in den Anstrengungen des Kampfes um die Freiheit des Menschen selbst dem verlockenden Versprechen totaler Sicherheit zu widerstehen, um der Freiheit willen. ({2}) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dem Antrag der Deutschen Partei, dessen Überweisung an den Sozialpolitischen Ausschuß Sie sicher beantragen werden zumindest im ersten Satz schon heute zustimmten, in dem die Bundesregierung ersucht wird, spätestens bis zum 1. Mai 1956 einen Gesetzentwurf über die Reform der Rentenversicherung vorzulegen mit dem Ziel, die verschiedenen Zweige der deutschen Rentenversicherungen im Interesse der individuellen Bedürfnisse der deutschen Arbeitnehmer zu erhalten, fortzuentwickeln und zu sichern. ({3})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Meine Damen und Herren, ehe ich das Wort zur allgemeinen Aussprache erteile, eine Bekanntmachung: Im Ältestenrat hat man heute nachmittag Übereinstimmung darüber erzielt, daß dem Hause empfohlen werden soll, die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes von der morgigen Tagesordnung abzusetzen, da die Deckungsfrage für die nach den Beschlüssen des federführenden Ausschusses erforderlichen Mittel noch nicht voll geklärt werden konnte. Alle Fraktionen waren sich darüber einig, daß sich diese Maßnahme empfiehlt. Erhebt sich Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dieser Punkt von der morgigen Tagesordnung abgesetzt. Weiter habe ich Ihnen mitzuteilen - und das betrifft die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes -, daß eine große Fraktion dieses Hauses, die Fraktion der CDU/CSU, heute abend ihre Weihnachtsfeier abhält. Ich glaube, es wäre nicht fair, wenn wir die sozialpolitisch interessierten Mitglieder dieser Fraktion zwängen, dieser Weihnachtsfeier fernzubleiben oder dort erst nach dem Auftreten des Niklas zu erscheinen. ({0}) Sie können Ihren Kollegen das ersparen, wenn Sie sich in Ihren Reden ein wenig kürzer fassen, als Sie es vielleicht vorgehabt haben. Ich werde auf jeden Fall die heutige Sitzung mit Rücksicht auf diese Weihnachtsfeier spätestens 19 Uhr 30 schließen. Das Wort hat der Abgeordnete Preller.

Dr. Ludwig Preller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden der Anregung des Herrn Präsidenten und dem Wunsche der CDU/CSU- Fraktion gern Rechnung tragen. Wir hatten vor, hier eine Erklärung abzugeben. Aber ich glaube, da auch die Begründerin des Antrags der Fraktion der Deutschen Partei ihre vorbereitete Rede nicht bis zu Ende hat halten können und in dem bisherigen Teil nach unserer Auffassung wesentlich Neues nicht enthalten war, ({0}) kann ich darauf verzichten, diese Erklärung abzugeben. Sie ist der Presse und damit der Öffentlichkeit übergeben worden. Ich beantrage, daß der Antrag der Fraktion der Deutschen Partei dem Sozialpolitischen Ausschuß überwiesen wird. ({1})

Dr. Carlo Schmid (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001993

Weitere Wortmeldungen? - Offenbar wünscht niemand mehr das Wort. Dann schließe ich die Aussprache und lasse über den Antrag, die Drucksache 1822 dem Sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen, abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle einstimmige Annahme fest. Damit, meine Damen und Herren, sind sämtliche Punkte der Tagesordnung erledigt. Ich habe noch mitzuteilen: Der Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit beginnt seine morgige Sitzung nicht erst um 9 Uhr 30, sondern schon um 9 Uhr. Ich berufe die 120. Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Donnerstag, den 15. Dezember, 9 Uhr, und schließe die heutige Sitzung des Bundestages.